Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8 - 11 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention: Dargestellt anhand von Beispielsfällen aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane und nationaler Gerichte [1 ed.] 9783428435722, 9783428035724


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German Pages 215 Year 1976

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Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8 - 11 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention: Dargestellt anhand von Beispielsfällen aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane und nationaler Gerichte [1 ed.]
 9783428435722, 9783428035724

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Schriften zum Völkerrecht Band 49

Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8 – 11 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention Dargestellt anhand von Beispielsfällen aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane und nationaler Gerichte

Von

Ulrich Hoffmann-Remy

Duncker & Humblot · Berlin

ULRICH

HOFFMANN-REMY

Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8-11 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention

Schriften zum

Völkerrecht

Band 49

Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8-11 Abs. 2 D a r g e s t e l l t a n h a n d von B e i s p i e l s i ä l l e n aus der R e c h t s p r e c h u n g der K o n v e n t i o n s o r g a n e u n d n a t i o n a l e r G e r i c h t e

Von Dr. Ulrich Hoffmann-Remy

D U N C K E R

&

H Ü M B L O T / B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Buchdruckerei A. Sayifaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03572 0

Vorwort A u f den ersten Blick scheint der i n den A r t . 8 - 1 1 enthaltene Katalog klassischer liberaler Grundrechte nicht mehr zu sein als eine bloße Bestätigung des nationalen Verfassungsstandards der demokratischen M i t gliedsstaaten auf „supranationaler" Ebene. I n der Tat liegen die Besonderheiten dieser Bestimmungen weniger i m „Tatbestandsbereich" des jeweiligen Abs. 1 dieser Artikel, i n dem die garantierten Rechte benannt werden, als vielmehr i n der vom Hergebrachten abweichenden Formulierung der Grundrechtsschranken. Da Inhalt und Bedeutung von Grundrechten aber wesentlich davon abhängen, ob und i n welchem U m fang staatliche Einschränkungen für zulässig erklärt werden, können die besonderen, i n dieser Form i m nationalen Verfassungsrecht unbekannten Einschränkungsregeln der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 dazu führen, daß der Grundrechtsschutz der M R K trotz gleicher oder ähnlicher Formulierung der Grundrechtsschutzbereiche nicht nur i n Nuancen von der Garantie dieser Rechte i n den nationalen Rechtsordnungen abweicht. Eine Arbeit, die sich mit den Voraussetzungen für zulässige Grundrechtseinschränkungen befaßt, kann allerdings die logisch vorrangige Frage des durch Auslegung zu ermittelnden Grundrechtsschutzbereichs nicht völlig außer acht lassen: Erst aus dem Zusammenwirken von Grundrechtsgewährleistung einerseits und Gewährleistungsschranken bzw. Eingriffsermächtigung und Eingriffsschranken andererseits ergibt sich, welche Rechte der einzelne der Staatsgewalt entgegenhalten kann. Es liegt auf der Hand, daß bei einer solchen Aufgabenstellung nicht einmal der Versuch gemacht werden kann, abschließend alle denkbaren Probleme i m Zusammenhang m i t Inhalt und Grenzen der i n den A r t . 8 - 1 1 garantierten Rechte zu erörtern. Ziel dieser Arbeit kann es allenfalls sein, anhand von Beispielsfällen, die zweckmäßigerweise aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane 1 und der die Konvention betreffenden Rechtsprechung nationaler Gerichte 2 entnommen wurden, deut-

1 Die Entscheidungen der Kommission w u r d e n berücksichtigt, soweit sie i n den Jahrbüchern (YB I 1955/56/57 — X I I I 1970) bzw. i n der Entscheidungssammlung (bis CoD 43 Oktober 1973) veröffentlicht wurden. 2 Die Rspr. nationaler Gerichte konnte dabei n u r insoweit berücksichtigt werden, als sie dem Verfasser (bei ungenügender eigener Nachforschung) bekannt u n d zugänglich w a r (Hinweise geben die i n einem T e i l der Jahrbücher auszugsweise abgedruckten nationalen Gerichtsentscheidungen sowie die v o m

6

Vorwort

lieh zu machen, nach welchen Kriterien die Konventionskonformität belastender, den Schutzbereich der A r t . 8 - 1 1 betreffender staatlicher Maßnahmen zu beurteilen ist. Für die Gliederung dieser Arbeit bot sich dabei eine Zweiteilung an: I n einem allgemeinen Teil sollen neben grundsätzlichen Fragen vor allem die generellen, also auch i m Rahmen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 zusätzlich zu berücksichtigenden Einschränkungsregeln der M R K und die gemeinsamen Grundsätze der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 selbst erörtert werden, soweit es zweckmäßig schien, sie zur Vermeidung von Wiederholungen „vor die Klammer" zu ziehen. Anhand von konkreten Beispielsfällen sollen dann i m besonderen Teil die Wechselwirkungen von Grundrechtsgewährleistung und Grundrechtsschranken und damit auch Inhalt und Grenzen der einzelnen i n den A r t . 8 - 1 1 garantierten Rechte aufgezeigt werden. Angesichts der fast unüberschaubar gewordenen Literatur zur M R K wurde eine Beschränkung notwendig, die aber keinesfalls eine Wertung beinhalten soll: Es konnte nur auf die Arbeiten Bezug genommen werden, die grundlegende Bedeutung für das hier besprochene Thema haben oder m i t Stellungnahmen zu speziellen Einzelfragen Hilfen für die Erörterung bestimmter Probleme und ihrer möglichen Lösungen geben können. Wegen der nach überwiegender Ansicht 3 ungenauen, teilweise sogar falschen und irreführenden deutschen (amtlichen) Ubersetzung wurde hier zugunsten der authentischen englischen und französischen Fassungen auf die Wiedergabe der amtlichen deutschen Übersetzung völlig verzichtet. Ohnedies soll diese Arbeit nicht als Vergleich m i t dem deutschen Recht verstanden werden, auch wenn die Berücksichtigung von Regelungen, Fällen und Stellungnahmen aus dieser Rechtsordnung für den Verfasser naturgemäß am naheliegendsten war, sondern allgemein den Umfang der aus den A r t . 8 - 1 1 resultierenden und für die Mitgliedsstaaten gleichermaßen geltenden Verpflichtungen unter besonderer Berücksichtigung der i n den Abs. 2 dieser A r t i k e l enthaltenen Einschränkungsregeln aufzeigen. Der Verfasser

Europarat (Directorate of H u m a n Rights) hrsg. „Collection of Decisions öf National Courts referring to the Convention" — Loseblattsammlung, seit 1969, letzte berücksichtigte Ergänzung 1.1.1973). 3 Vgl. z. B. Partsch S. 318 A n m . 278; Köhler, Diss. S. 108; eine eigene T e x t übersetzung findet sich bei Wiebringhaus; Schorn legt dagegen i n seinem K o m mentar n u r die deutsche Übersetzung zugrunde.

Inhaltsverzeichnis

ALLGEMEINER TEIL

Allgemeine Fragen, gemeinsame Grundsätze der Art. 8 - 1 1 Abs. 2 und generelle Einschränkungsregeln der M R K Kapitel I: Grundrechtsgewährleistung u n d Grundrechtsschranken i n der MRK

13

§ 1 F u n k t i o n der Grundrechtsschranken

13

§ 2 Gewährleistungsschranken

14

§ 3 Eingriffs- bzw. Vorbehaltsschranken

15

Kapitel

II: Die Auslegung der M R K

15

§ 1 Historische Auslegung

16

§ 2 Sprachliche Auslegung

16

§ 3 I n d i z w i r k u n g der Staatenpraxis

17

§ 4 Subjektive oder objektive Auslegung?

17

§ 5 Teleologische Auslegung

18

§ 6 Systematische Auslegung

18

§ 7 V e r m u t u n g zugunsten der Grundrechtsträger?

18

Kapitel III: Die Definitionsmethodik der M R K § 1 Absolut gewährleistete Redite

19 20

§ 2 Tatbestandlich eng definierte Rechte

20

§ 3 A b s t r a k t benannte Rechte

20

§ 4 Allgemeine Grundsätze der Grundrechts- u n d Schrankendefinition

20

§ 5 Methodik der M R K — Gründe u n d E n t w i c k l u n g

22

§ 6 Die Besonderheiten der A r t . 8 - 1 1

26

Kapitel IV: Vorbehalt, Außerkraftsetzung u n d Einschränkung — Abgrenzung der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 v o n den A r t . 15 u n d 64

26

§ 1 F u n k t i o n der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2, 15 u n d 64

26

§ 2 Besonderheiten der A r t . 15 u n d 64

27

§ 3 Ist A r t . 15 angesichts der A r t . 8 - .11 Abs. 2 überflüssig? ,

28

8

nsverzeichnis

Kapitel V: F u n k t i o n u n d Bedeutung der Eingriffsziele i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 29 Kapitel

VI: Die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 als Generalvorbehalte zugunsten des

öffentlichen Interesses?

32

§ 1 Generalvorbehalt des Allgemeinwohls?

32

§ 2 Unterscheidung zwischen K o l l e k t i v - u n d Individualinteressen . . .

33

Kapitel

VII: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

34

§ 1 Die Bedingung der Notwendigkeit einer Einschränkung

34

§ 2 I n h a l t u n d Geltung dieses Erfordernisses

35

Kapitel

VIII:

Der Gesetzesvorbehalt i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2

36

§ 1 Gesetz i m formellen oder i m materiellen Sinn?

36

§ 2 Formen gesetzlich vorgesehener Einschränkungen

40

Kapitel

IX: Die generellen Einschränkungsregeln der M R K

41

§ 1 Generelle Eingriffs- u n d Gewährleistungsschranken

41

§ 2 A r t i k e l 14 a) „Akzessorietät" des Gleichheitssatzes b) K r i t e r i e n der verbotenen Diskriminierung c) A n w e n d u n g des A r t . 14 auf „ a n sich" zulässige Einschränkungen

41 41 42 45

§ 3 A r t i k e l 16

48

§ 4 A r t i k e l 17 a) Das Mißbrauchsverbot als Gewährleistungsschranke b) Das Mißbrauchsverbot als Eingriffsschranke

49 49 52

§ 5 A r t i k e l 18 a) Zweckbindung u n d Verbot des Austausches der Eingriffsziele . . b) A r t . 18 als deklaratorische Ergänzung der A r t . 8 - 1 1

52 52 53

Kapitel X: Die Wechselwirkung zwischen den Eingriffsschranken der M R K u n d den nicht konventionsgeschützten Grundrechten — Prinzip „ i m p l i zierter Rechte u n d Freiheiten' 1 ?

54

Kapitel

56

XI: Das L e i t b i l d „demokratische Gesellschaft"

§ 1 Verwendung des Begriffs i n der M R K u n d den Protokollen

56

§ 2 H e r k u n f t des Begriffs

57

§ 3 Auslegung i m Rahmen der M R K

58

§ 4 L e i t m o t i v f ü r die Rechtsvereinheitlichung

60

§ 5 F u n k t i o n i n anderen internationalen A b k o m m e n

60

§ 6 F u n k t i o n des Begriffs i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2

62

nsverzeichnis Kapitel XII: Abs. 2

Ermessen u n d Ermessenskontrolle i m Rahmen der A r t . 8 - 1 1

70

§ 1 Die Rechtsprechung der Kommission zu dieser Frage — I n h a l t u n d H e r k u n f t dieser Ermessenstheorie 70 § 2 Beurteilungsspielraum bei unbestimmten Rechtsbegriffen?

76

§ 3 Einheitlichkeit des Ermessensbegriffs

77

Kapitel

XIII:

Die „demokratische Gesellschaft" als Wesensgehaltsgarantie

78

Kapitel XIV: Die Bedeutung des Begriffs der „demokratischen Gesellschaft" (Zusammenfassung)

80

Kapitel

82

XV: Das Problem der sog. „ D r i t t w i r k u n g " bei den A r t . 8 - 1 1

§ 1 Überblick über den Meinungsstand

82

§ 2 Die A r t . 8 - 1 1 als „staatsgerichtete" Abwehrrechte

84

§ 3 Die Wertordnung der M R K als Auslegungsrichtlinie f ü r alle unbestimmten Rechtsbegriffe Kapitel XVI: hältnis"

'

Die Geltung der A r t . 8 - 1 1 i m sog. „besonderen Gewaltver-

85 85

§ 1 „Ipso iure" eingeschränkter Grundrechtsschutz i m besonderen Gewaltverhältnis?

86

§ 2 Stellungnahmen aus der deutschen Rechtsprechung u n d Lehre

87

§ 3 Ermächtigt A r t . 5 zur Einschränkung der A r t . 8 - 1 1 ?

90

§ 4 Uneingeschränkte Geltung der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 auch i m besonderen Gewaltverhältnis

91

§ 5 Die Rechtsprechung der Kommission zu dieser Frage

92

§ 6 Die A n w e n d u n g der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 i m besonderen Gewaltverhältnis (Zusammenfassung)

95

BESONDERER T E I L

Inhalt und Grenzen der in den Art. 8 - 1 1 gewährleisteten Grundrechte, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Einschränkungsregeln Kapitel

I: A r t i k e l 8

§ 1 Das Recht auf Achtung des Privatlebens

97 97

§ 2 Das Recht auf Achtung des Familienlebens

108

§ 3 Das Recht auf Achtung der Wohnung

130

§ 4 Das Recht auf Achtung des Nachrichtenverkehrs

131

nsverzeichnis

10 Kapitel

II: A r t i k e l 9

142

§ 1 Das Recht auf Gedankenfreiheit

142

§ 2 Das Recht auf Gewissensfreiheit

144

§ 3 Das Recht auf Religionsfreiheit

145

§ 4 Einheitliches Recht auf Gedanken-, Gewissens- u n d Religionsfreiheit 146 Kapitel

III:

A r t i k e l 10

161

§ 1 Innere u n d äußere Meinungsfreiheit, aktive u n d passive I n f o r m a tionsfreiheit 163 § 2 Das Genehmigungsverfahren nach A r t 10 Abs. 1 S. 3

166

§ 3 Die Schranken der Meinungsfreiheit

173

Kapitel

IV: A r t i k e l 11

190

§ 1 Die Versammlungsfreiheit

190

§ 2 Die Vereinigungsfreiheit

193

§ 3 Die besondere Einschränkungsregel des A r t . 11 Abs. 2 S. 2

203

Anhang A . Verzeichnis der zitierten Kommissionsentscheidungen

208

B. Zitierte Kommissionsberichte

211

C. Zitierte Entscheidung des Ministerrats

211

D. Zitierte Entscheidungen des E G H

211

Literaturverzeichnis

213

Abkürzungsverzeichnis A r c h i v f ü r die civilistische Praxis (Band, Seite) A r c h i v des öffentlichen Rechts (Band, Seite) Administratieve en Rechterlijke Beslissingen Seite) Allgemeiner T e i l Ausländerpolizeiverordnung

(Jahr,

Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verwaltungsgerichtshof / Verfassungsgerichtshof f ü r den Freistaat Bayern Bundesentschädigungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Strafsachen (Band, Seite) Entscheidungen des Bundesgerichtshof i n Zivilsachen (Band, Seite) Bundes j ustizministerium Bundesrechtsanwaltsordnung Bundessozialgericht Besonderer T e i l Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Band, Seite) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite) Cour Européenne des Droits de l'Homme Collection of Décisions of the European Commission of H u m a n Rights (Council of Europe), Strasbourg Distribution of the General Assembly Die öffentliche V e r w a l t u n g (Jahr, Seite) Deutsches Verwaltungsblatt (Jahr, Seite) Dienst- u n d Vollzugsordnung European Court of H u m a n Rights Europäischer Gerichtshof f ü r Menschenrechte (Entscheidungen des E G H — i n dt. Übersetzung — hrsg. von Golsong, Petzold, Furrer (Bd. 1:1970; Bd. 2:1972) Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft f ü r Kohle u n d Stahl (Montan-Union) v o m 18.4.1951 Grundgesetz für die B R Deutschland Die Grundrechte — Handbuch der Theorie u n d Praxis der Grundrechte, hrsg. von Bettermann, Neumann, N i p perdey, Scheuner (Band, Seite)

12 HHG HR

Abkürzungsverzeichnis Häftlingshilfegesetz Höge Raad

ILO

International Labour Organisation

J. d. Trib. JR

Journal des T r i b u n a u x (Jahr, Seite) Juristische Rundschau (Jahr, Seite)

KB KG

K o n i n k l i j k e Besluit Berliner Kammergericht Europäische Kommission für Menschenrechte

Komm. LG Menschenrechtsdeklaration MRK

Landgericht Allgemeine E r k l ä r u n g der Menschenrechte v o m 10.12. 1948 — vgl. Yearbook of the U n i t e d Nations 1948/49 S. 535 ff. Konvention zum Schutz der Menschenrechte u n d G r u n d freiheiten v o m 4.11.1950 / Convention de sauvegarde des Droits de l'Homme et des Libertés fondamentales/ Convention for the Protection of H u m a n Rights and Fundamental Freedoms — vgl. European Treaty Series Nr. 5; Y B I, 4 ff.; B G B L I I 686, 953; deutsche Übersetzung z. B. i n Sartorius I I (Europarecht)

NJ NJbl NJW

Nederlandse Jurisprudentie (Jahr, Seite bzw. Nummer) Nederlands Juristenblad (Jahr, Seite) Neue Juristische Wochenschrift (Jahr, Seite)

Oestr. J Z OLG

österreichische Juristenzeitung (Jahr, Seite) Oberlandesgericht

Protokoll Nr. 4

Protokoll Nr. 4 v o m 16.9.1963 — vgl. European Treaty Series Nr. 46; Y B V I , 14 ff.

SNW StGB StVO VersG VerwRspr VG VGH VN YB ZP

zstw

Sammel- u n d Nachschlagewerke der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, hrsg. v o n K . Buchholz, Berl i n seit 1957 Strafgesetzbuch Straßenverkehrsordnung Versammlungsgesetz Verwaltungsrechtsprechung i n Deutschland — seit 1949 hrsg. von G. Ziegler, seit 1964 hrsg. von O. Gross (Band, Seite) Verwaltungsgericht (österreichischer) Verfassungsgerichtshof Vereinte Nationen Yearbook of the. European Commission and Court of H u m a n Rights (Band, Seite) Zusatzprotokoll I v o m 20.3.1952 — vgl. European Treaty Series Nr. 9; Y B I, 36 ff.; B G B L I I S. 1879, B G B L 1956 S.1880 Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (Band, Seite)

ALLGEMEINER TEIL

Allgemeine Fragen, gemeinsame Grundsätze der Art. 8—11 Abs. 2 und generelle Einschränkungsregeln der M R K Kapitel I

Grundrechtsgewährleistung und Grundrechtsschranken in der MRK § 1 Funktion der Grundrechtsschranken

Grundrechte stehen auch i n einer freiheitlich-demokratischen Gemeinschaft i n einem nie vollständig auflösbaren Widerspruch zwischen „Garantie und Nichtrealisierbarkeit" 1 , zwischen der Illusion uneingeschränkter Geltung, (die speziell auch beim Lesen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 1 M R K 2 geweckt wird) und der Notwendigkeit, ihre unbeschränkte Ausübung den Bedingungen eines geordneten Zusammenlebens da unterzuordnen, wo dies unvermeidbar ist. Es gilt also, Grundrechte i n Form und Umfang so zu garantieren, daß damit ein gerechter Ausgleich zwischen der vollen Freiheit des einzelnen und den damit kollidierenden Interessen der Gemeinschaft geschaffen wird. Diese Grenze zwischen individueller Freiheit und Allgemeinwohl w i r d durch die Grundrechtsschranken markiert. Natürlich gibt es rein logisch gesehen keine Grundrechtsschranken, sondern lediglich Begriffe von Grundrechten, die durch diese Schranken festgelegt und konkretisiert werden 3 . Wenn hier also i m folgenden von Grundrechtsschranken gesprochen wird, so ist darunter nur ein technischer, kein streng logischer Begriff zu verstehen. Mangels einer allgemein anerkannten Begriffssystematik 4 soll vorab kurz erläutert werden, was m i t den hier verwendeten Bezeichnungen für die verschiedenen Grundrechtsschranken der M R K gemeint ist. 1

M. - Klein, Vorbem. X V 1 a. Die A r t i k e l der M R K werden i m folgenden ohne diesen Zusatz genannt. 3 M. - Klein, Vorbem. X V 1 b. 4 Vgl. z. B. die etwas komplizierten Begriffe bei M. - Klein , Vorbem. X V 1, die hier deshalb n u r teilweise übernommen werden. 2

14

AT — Kap. I : Grandrechtsgewährleistung und -schranken § 2 Gewährleistungsschranken

1. „Begriffsimmanente

Grundrechtsschranken"

Eine Grundrechtsschranke i. w. S. bildet zunächst einmal schon der durch Auslegung zu ermittelnde Begriff des betr. Grundrechts, m i t h i n seine soziale Bedeutung: so gilt z. B. die Garantie der Versammlungsfreiheit i n A r t . 11 nur für solche Versammlungen, die die Erörterung öffentlicher Angelegenheiten zum Gegenstand haben; die Gewissensfreiheit des A r t . 9 nicht i m Bezug auf den Kriegs- und Ersatzdienst 5 . 2. „Spezielle Grundrechtsschranken" Sie begrenzen nur die Ausübung des Grundrechts, i n dem sie genannt sind, so z. B. die A r t . 2,4 Abs. 2 und 5 - 12. 3. „Generelle Grundrechtsschranken" Sie gelten für alle oder doch zumindest mehrere Grundrechte und sind i n einem gesonderten A r t i k e l ohne eigenen Schutzbereich aufgeführt, vgl. A r t . 15,16,17 und 64«. 4. „ Unmittelb are Grundrechtsschranken" Die Grenze der Grundrechtsausübung ergibt sich i n diesem Fall schon unmittelbar aus der M R K selbst, vgl. die A r t . 2 Abs. 2, 4 Abs. 3 und 5 Abs. l a - f . 5. „Mittelbare Grundrechtsschranken" Sie beschränken die Grundrechtsausübung zwar nicht selbst, ermächtigen die Mitgliedsstaaten aber zum Erlaß grundrechtseinschränkender Maßnahmen, vgl. die A r t . 6 Abs. 1 S. 2, 8 - 11 Abs. 2,12,15 - 17, 64. 6. „Systematische

Schranken

u

Sie resultieren aus dem Verhältnis der Grundrechte zueinander: so gilt bei gleichzeitiger Inanspruchnahme zweier oder mehrerer Grundrechte durch den Grundrechtsträger die weitergehende Schranke des einen Grundrechts auch für das andere, an sich weniger oder gar nicht einschränkbare (sog. Schrankenkollision), wobei dessen „Wesensgeh a l t " 7 jedoch immer die unterste Grenze bildet. Eine weitergehende begriffliche Unterteilung ist zwar möglich, erscheint aber zumindest i m Hinblick auf die M R K nicht sinnvoll. 5

Vgl. unten bei A r t . 9 u n d 11. A r t . 64 ist dabei n u r noch i m weitesten Sinn Gewährleistungsschranke, da hier nicht I n h a l t u n d Umfang von Grundrechten dem Vorbehalt staatlicher Regelung unterworfen w i r d , sondern ihre Geltung überhaupt. 7 Vgl. unten A T Kap. X I I I . 6

§ 3 Eingriffs- bzw. Vorbehaltsschranken

15

§ 3 Eingriffs- bzw. Vorbehaltsscfaranken

Von diesen „Gewährleistungsoder Geltungsschranken", die die Grundrechtsausübung beschränken, sind begrifflich diejenigen Schranken zu unterscheiden, die die staatliche Eingriffskompetenz i m Bereich der mittelbaren Gewährleistungsschranken begrenzen: sie sollen hier als „Vorbehalts- bzw. Eingriffsschranken" bezeichnet werden. „Formelle Eingriffs- bzw. Vorbehaltsschranken" lassen grundrechtseinschränkende Maßnahmen der Staaten nur unter der Bedingung zu, daß dabei bestimmten Formerfordernissen Genüge getan w i r d : Beispiele sind der Gesetzesvorbehalt i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 und die Unterrichtungspflicht i n A r t . 15 Abs. 3. „Materielle Eingriffs- bzw. Vorbehaltsschranken" begrenzen dagegen die staatliche Eingriffskompetenz auch inhaltlich: so die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 oder auch die „generellen Eingriffsschranken" der A r t . 14, 17® und 18. (Mittelbare) Grundrechtsschranken und Eingriffsschranken bedingen sich wechselseitig: Inhalt und Umfang der der Grundrechtsausübung gesetzten Schranken (Gewährleistungsschranken) stehen i n untrennbarem Zusammenhang m i t den die staatliche Eingriffskompetenz begrenzenden Eingriffsschranken. Beide „Schranken" bezeichnen die Grenze zwischen individueller Freiheit und kollektiver Bindung und unterscheiden sich nur dadurch, daß sie einmal das Individuum, zum anderen die Staaten i n der Ausübungs- bzw. Einschränkungsfreiheit beschränken 9 .

Kapitel I I

Die Auslegung der MRK Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge bringt eine Vielzahl von Problemen m i t sich, deren Erörterung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Es soll hier deshalb nur auf einige Besonderheiten eingegangen werden, die sich speziell bei der M R K ergeben.

8 A r t . 17 hat nicht n u r die F u n k t i o n einer Gewährleistungsschranke, sondern enthält auch ein „staatsgerichtetes" Mißbrauchsverbot (vgl. unten A T Kap. I X §4b). 9 Diese Eingriffsschranken verbieten selbstverständlich nicht geringere E i n schränkungen u n d damit, positiv ausgedrückt, einen weitergehenden G r u n d reditsschutz als i n der M R K vorgesehen (vgl. A r t . 60).

16

AT — Kap. I I : Die

se

der MRK

9 1 Historische Auslegung

So ist die Heranziehung der Entstehungsgeschichte für die M R K nur selten ein taugliches Auslegungsmittel 1 . Die wichtigsten Protokolle sind entweder immer noch nicht zugänglich oder aber, wie die veröffentlichten Erörterungen der Beratenden Versammlung, ohne direkten Bezug auf die endgültige Fasung der MRK. Vergleichsmöglichkeiten bieten allerdings ältere internationale Grundrechtskataloge und insbesondere die Menschenrechtsdeklaration der VN, auf die sich die M R K ausweislich ihrer Präambel ausdrücklich stützt. § 2 Sprachliche Auslegung

Eine am Wortlaut orientierte Auslegung muß ebenfalls auf Schwierigkeiten stoßen, da sowohl die französische als auch die englische Textfassung authentisch ist 2 und beide Texte vor allem i n Nuancen häufig divergieren. Bei derartigen Textabweichungen soll nach Guradze 8 das gemeinsame M i n i m u m als das von den Parteien Gewollte gelten. Wendet man diesen Grundsatz aber i n seiner Allgemeinheit an, so bedeutet das, daß dieses M i n i m u m entweder den Grundrechtsschutz des einzelnen einengen und damit die Eingriffsgewalt der Staaten erweitern oder aber diese Eingriffsgewalt begrenzen und damit die Grundrechtsträger begünstigen würde, je nach dem, ob sich der auszulegende Begriff i m Bereich der Grundrechtsgewährleistung bzw. der Eingriffsschranken befindet oder aber die Funktion einer Gewährleistungsschranke hat. Da bei der Auslegung der M R K nicht grundsätzlich von einer Vermutung zugunsten der staatlichen Regelungsfreiheit ausgegangen werden kann 4 , kann auch nicht ohne weiteres der Begriffsinhalt zugrunde gelegt werden, der den Staaten die geringsten Verpflichtungen auferlegt. Das gemeinsame sprachliche M i n i m u m beider Texte kann demnach zwar i n jedem Fall als Begriffsinhalt vorausgesetzt werden, muß es aber nicht: Letztlich entscheidet dann eine Gesamtwürdigung aller übrigen Auslegungskriterien, ob nicht doch ein diesem Gewährleistungsminimum gegenüber erweiterter Grundrechtsschutz zugrunde gelegt werden kann. Dies ist einmal dann möglich, wenn eindeutig feststeht, welches die Arbeitssprache bei der Formulierung des auszulegenden Begriffs war, und der einzelne danach mehr Rechte erhalten sollte 5 . 1

Vgl. dazu Herzog S. 194 ff., 196.

2

Vgl. A r t . 66 am Ende.

3 4

5

Guradze, Konv. S. 34. Vgl. unten A T Kap. I I A n m . 15.

Vgl. dazu Partsch S. 317.

§ 4 Subjektive oder objektive Auslegung?

17

§ 3 Indizwirkung der Staatenpraxis

Ist ein Begriff aus einer nationalen Hechtsordnung übernommen worden, so kann man i. d. R. von der Bedeutung ausgehen, die i h m Rechtsprechung und Lehre des betr. Landes gegeben haben. Andererseits zwingt die i n einem oder mehreren Mitgliedsstaaten als rechtsgültig anerkannte Praxis nicht dazu, für die M R K i m gleichen Sinn zu entscheiden: da nicht grundsätzlich von der Vereinbarkeit nationaler Rechtsordnungen m i t der M R K ausgegangen werden kann 6 , ist die Praxis der Mitgliedsstaaten nur Indiz für eine damit übereinstimmende Auslegung der MRK. § 4 Subjektive oder objektive Auslegung?

Eine weitere Frage ist es, ob für die M R K eine subjektive, am Willen der ursprünglichen Vertragspartner orientierte Auslegung einer objektiven Auslegung vorzuziehen ist. Wegen des „quasilegislativen" Charakters der Konvention, aber auch i m Interesse der nachträglich beigetretenen Staaten scheint eine überwiegend objektive Sinndeutung, also ähnlich wie bei nationalen Gesetzen, vorzugswürdig 7 . Die Grenze w i r d dabei an der Stelle zu ziehen sein, wo eine objektive Auslegung zu einer tiefgreifenden Änderung der nationalen Rechtsordnungen zwingen w ü r de, da dies den Rahmen dessen sprengen würde, wozu die Vertragspartner erkennbar sich haben verpflichten wollen 8 . Eine Änderung i n Einzelfragen ist damit allerdings nicht ausgeschlossen, da die Staaten damit rechnen konnten und mußten, daß die Anpassung einzelner Rechtsregeln an die M R K notwendig werden kann, wenn sich Widersprüche ergeben sollten. Aufgabe der Kontrollorgane der M R K ist es dabei, durch konkretisierende Auslegung die garantierten Menschenrechte i. S. d. Präambel autonom fortzuentwickeln, ohne dabei die Grenzen vertraglicher Bindung zu sprengen 9 und außerdem durch rechtsvergleichende Untersuchungen eine progressive Angleichung der nationalen Rechtsordnungen herbeizuführen 10 . Diese Rechtsvereinheitlichung darf sich aber nicht nur am gemeinsamen M i n i m u m der nationalen Grundrechtsgarantien orientieren: die Präambel 1 1 gibt den Auftrag, zur Entwicklung der 6 7

Vgl. Herzog S. 198. Vgl. Huber S. 375.

8

Scheuner S. 242: die M R K solle die nationalen Rechtsordnungen sichern u n d ergänzen, aber nicht ersetzen. 9

10

Vgl. Huber S. 375. Vgl. Scheuner S. 232.

11 Vgl. auch die E. des E G H v o m 21.2.1975 (Fall Golder), „en d r o i t " para. 34: danach gebietet es der Grundsatz von Treu u n d Glauben, bei der Auslegung der M R K auf die i n der Präambel feierlich verkündeten Beweggründe Bedacht zu nehmen.

2 Hoffmann-Remy

18

AT — Kap. I I : Die

se

der MRK

Menschenrechte beizutragen; diese „dynamische" Zielsetzung fordert nicht nur Rechtseinheit durch Angleichung der Grundrechtsminima, sondern eine „echte Nivellierung 1 2 ", d. h. eine Rechtsangleichung, die einem Staat auch einmal eine Rechtsänderung zumutet. § 5 Teleologische Auslegung

Eine teleologische Auslegung hat sich i n erster Linie an den drei i n der Präambel ausdrücklich oder implizit enthaltenen Hauptzwecken der M R K 1 3 zu orientieren: 1. Förderung der europäischen Einheit durch Wahrung und Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung i n Europa, 3. kollektive Garantie eines Mindestfreiheitsbereichs für jedermann. § 6 Systematische Auslegung

Systematisch ist die M R K so auszulegen, daß keine ihrer Bestimmungen eine andere überflüssig macht oder gar i n unauflöslichen Widerspruch zu i h r t r i t t 1 4 . Der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz, daß Einschränkungen der staatlichen Unabhängigkeit i m Zweifel nicht vermutet werden dürfen und die Auslegung m i t den geringsten Verpflichtungen für die Vertragspartner vorzuziehen ist, bedarf für die M R K der Einschränkung: § 7 Vermutung zugunsten der Grundrechtsträger?

Einschränkungen der staatlichen Souveränität i n dem von der M R K erfaßten Bereich sind ja gerade der Zweck des Vertrags und nicht nur die unvermeidliche Folge anderer Zielsetzungen 15 . Es wäre deshalb falsch, bei Zweifeln über die Tragweite eines Grundrechts bzw. über den Umfang der Grundrechtsschranken grundsätzlich die den Staaten günstigere 12

Vgl. Herzog S. 198. Vgl. Herzog S. 199. 14 So untersucht (und verneint) der E G H i m F a l l Golder (para. 33), ob die angestrebte Auslegung des A r t . 6 Abs. 1 S. 1 i. S. e. Rechts auf Zugang zu den Gerichten m i t den A r t . 5 Abs. 4 u n d 13 kollidieren oder diese Rechte sogar gegenstandslos machen könnte. 15 So auch der E G H i m F a l l Wemhoff (E. v o m 27. 6.1968, CEDH Série A S. 23): " G i v e n that i t is a l a w m a k i n g treaty, i t is also necessary to seek the interpretation that is most appropriate in order to realize the aim and achieve the object of the treaty , not that which w o u l d restrict to the greatest possible degree the obligations undertaken b y the parties" (Hervorhebungen v o m Verfasser). 13

§ 7 V e r m u t u n g zugunsten der Grundrechtsträger?

19

Auslegung vorzuziehen. Herzog sieht dagegen i n den Gesetzesvorbehalten der M R K keine unter allen Umständen eng auszulegenden Ausnahmen 1 6 : die M R K enthalte keine Generalklausel des Grundrechtsschutzes wie z. B. A r t . 2 Abs. 1 GG, sondern gehe von der grundsätzlichen Ungeschütztheit des Individualbereichs aus. Das Fehlen eines umfassenden Grundrechtsschutzes i n der M R K bedeutet aber nicht, daß auch der von ihr geschützte Ausschnitt aus dem allgemeinen Grundrechtskatalog als grundsätzlich ungeschützt angesehen werden muß 1 7 : vor allem aus Aufbau und Formulierung der A r t . 8 - 1 1 ergibt sich, daß der Schutz dieser Grundrechte die Regel, ihre Einschränkung aber prinzipiell, wenn auch vielleicht nicht immer i m praktischen Ergebnis, die Ausnahme sein soll. Aus diesem Regel-Ausnahmeverhältnis und aus dem Zweck der MRK, bestimmte, für unabdingbar gehaltene Grundrechte zu garantieren, muß konsequenterweise eine grundsätzlich enge Auslegung der Einschränkungsvorbehalte resultieren, sofern dies nicht den anderen Auslegungskriterien widerspricht. Insgesamt ist der Prozeß der Auslegung der M R K als ein einheitliches Ganzes zu sehen, d. h. als ein einziges, allerdings komplexes Verfahren: alle i n Betracht kommenden Auslegungsgrundsätze 18 sind dabei i n einer Gesamtschau zu würdigen und gegeneinander abzuwägen.

Kapitel I I I

Die Definitionsmethodik der MRK 1 Betrachtet man sich die i m ersten Abschnitt der M R K garantierten Rechte und Freiheiten m i t eigenem materiellen Schutzbereich, also die A r t . 2 - 122, unter dem speziellen Aspekt der Definition von Grundrecht 16

Herzog S. 200; ebenso Guradze, Konv. S. 36 speziell für die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2. 17 Auch der E G H bestreitet nicht den „Auswahlcharakter" der Konvention, sieht aber i n der i n der Präambel berufenen „prééminence d u d r o i t " mehr als n u r eine rhetorische Mahnung, die einer engen Auslegung der konventionsgeschützten Grundrechte entgegenstehen k a n n („en d r o i t " para. 34 des „ G o l der-Urteils" v o m 21. 2.1975). 18 EGH, F a l l Golder, „en d r o i t " para. 29/30: danach können die A r t . 31 - 3 3 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge allgemein als L e i t l i n i e für die Auslegung der M R K dienen, da diese (noch nicht i n K r a f t befindliche) Wiener Konvention v o m 23. 5.1969 n u r allgemeine Regeln des Völkerrechts wiedergebe. 1 Vgl. Cassin, L a Déclaration; Monconduit S. 363 ff. (ebd. u. S. 72 A n m . 1). 2 A r t . 14 hat zwar ebenfalls materielle, also nicht n u r verfahrensrechtliche Bedeutung (so aber i r r i g B V G 6, 389 ff.), ist aber „akzessorisch" zu den Rechten der M R K (vgl. u. S. 35).

2*

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AT — Kap. I I I : Die Definitionsmethodik der MRK

und Grundrechtsschranke, so w i r d schon anhand des äußeren Aufbaus eine Dreiteilung deutlich: § 1 Absolut gewährleistete Rechte

Es finden sich hier einmal Grundrechte,, die absolut gewährleistet sind, also keinerlei Einschränkungen unterworfen sind. Dazu zählen das Folterverbot des A r t . 3, das Verbot von Sklaverei und Leibeigenschaft i n A r t . 4 und das Recht auf Sicherheit i n A r t . 5 Abs. 1. § 2 Tatbestandlich eng definierte Rechte

Eine zweite Gruppe bilden die A r t . 2, 4 Abs. 2 und 5 (Recht auf Freiheit), i n denen die zulässigen Ausnahmen, Vorbehalte und Einschränkungen i n streng kasuistischer Aufzählung an die Formulierung der jeweils tatbestandlich eng umrissenen Grundrechte angeschlossen sind. § 3 Abstrakt benannte Rechte

Die A r t . 6 Abs. 1 und 7 - 1 2 schließlich enthalten Vorbehalte zugunsten staatlicher Eingriffe i n den Schutzbereich des jeweiligen nur abstrakt definierten Grundrechts, wobei Umfang und Grenzen dieser Eingriffsgewalt durch Verwendung generalklauselartiger Begriffe bestimmt werden 3 . Schon anhand dieser Verschiedenheiten i m äußeren Aufbau w i r d eine Problematik deutlich, mit der sich jeder Verfassungsgeber und Autor internationaler grundrechtssichernder Abkommen konfrontiert sieht: es gilt, bei der Definition von Grundrechten dem Bedürfnis gerecht zu werden, die Ausnahmen vorzusehen, die notwendig sind, um den Grundrechtsträger an einer „mißbräuchlichen", d. h. gemeinschaftswidrigen Inanspruchnahme seiner Rechte zu hindern 4 . § 4 Allgemeine Grundsätze der Grundrechts- und Schrankendefinition

Bei der Abfassung internationaler grundrechtsschützender Verträge bieten sich dabei grundsätzlich zwei Möglichkeiten an: Man kann erstens versuchen, einen Katalog von Grundrechten und Freiheiten aufzustellen, deren Schutzbereich tatbestandlich exakt definiert wird, und i n dem gleichzeitig alle Einschränkungen, Bedingungen 3 A r t . 12 n i m m t insofern eine Sonderstellung ein, als das Recht auf E i n gehung einer Ehe u n d zur Familiengründung n u r einem materiell unbeschränkten Vorbehalt gesetzlicher Regelung unterworfen ist. 4 Vgl. z. B. die Vorarbeiten zum „Covenant on Economic, Social and Cultural Rights", Distr. Gen. A/2929 S. 71.

§ 4 Allgemeine Grundsätze der Grundrechts- u n d Schrankendefinition

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und Ausnahmen enthalten sind, die zum Schutz der öffentlichen Ordnung und des Allgemeinwohls i n den Mitgliedsstaaten unter Berücksichtigung ihrer Traditionen und allgemeinen Hechtsprinzipien für notwendig gehalten werden. Zweitens ergibt sich die Möglichkeit, jedes Recht und jede Freiheit zunächst nur m i t allgemeinen Begriffen zu umschreiben und es dann den nationalen Gesetzgebern zu überlassen, wann sie Anwendung finden sollen und welchen Bedingungen ihre Ausübung unterworfen ist. Besonders durch Modifizierungen bei der Definition der Grundrechtsschranken lassen sich allerdings beide Systeme einander annähern. So besteht z. B. bei der zweiten, „abstrakten" Methode die Möglichkeit, nicht alle Grundrechte des betreffenden Vertragswerks lediglich einer gemeinsamen Vorbehaltsgeneralklausel zu unterwerfen, sondern i n A n näherung an die „Tatbestandsmethode" zwar ebenfalls generalklauselartige, aber doch speziell auf das entsprechende Grundrecht abgestimmte Vorbehalte und Ausnahmen aufzustellen und i m Anschluß an die jeweilige Grundrechtsdefinition zu nennen. Vor- und Nachteile beider Methoden liegen auf der Hand: Definiert man abschließend und exakt sowohl den Tatbestand eines Grundrechts als auch die Sachverhalte, die seine Einschränkung rechtfertigen, so entzieht man damit den Staaten weitgehend die Regelungskompetenz auf diesem Gebiet. Das hat den Vorteil, die Staaten bei Vertragsabschluß am wenigsten über den Umfang ihrer Verpflichtungen i m Unklaren zu lassen. Wie bei jeder kasuistischen Regelung steht dem der schwerwiegende Nachteil gegenüber, daß dabei Bedürfnisse zur Grundrechtseinschränkung zwangsläufig unberücksichtigt bleiben, die bei Vertragsschluß entweder nicht erkannt wurden oder aber durch die Veränderung der Umstände erst i n Zukunft entstehen und deshalb von noch so phantasiebegabten Autoren noch gar nicht erkannt werden konnten. Das starre Schema der Kasuistik verhindert außerdem auch die Rücksichtnahme auf die von Land zu Land, bedingt durch andere Nationalität, Religion, K u l t u r usw. verschiedenen Verhältnisse. Diese mangelnde Flexibilität kann aber genauso zur Folge haben, daß zum Zeitpunkt der Vertragsschöpfung noch für notwendig gehaltene Einschränkungen, die später infolge der allgemeinen politischen Entwicklung hinfällig werden, weiterhin bestehen bleiben und den Grundrechtsschutz nunmehr unnötigerweise beschneiden. Die Erfahrung zeigt, daß die Staaten i n solchen Fällen i m allgemeinen nicht bereit sind, einmal abgeschlossene Verträge nachträglich den veränderten Gegebenheiten anzupassen. Dagegen läßt die zweite Methode, die die Kompetenz der Mitgliedsstaaten zur Regelung der Grundrechtsausübung nicht überlagert und i n wesentlichen Teilen verdrängt, sondern i h r lediglich einen begren-

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AT — Kap. I I I : Die Definitionsmethodik der MRK

zenden Rahmen steckt, den nationalen Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsorganen die notwendige Freiheit, den nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen und sich den wechselnden Erfordernissen anzupassen. Andererseits birgt die Zubilligung eines nur abstraktgenerell begrenzten Spielraums zur Regelung der Grundrechtsausübung die Gefahr i n sich, daß diese generalklauselartigen, unbestimmten und damit auch unterschiedlichen Auslegungen zugänglichen Formulierungen 5 ihrer Funktion als wirksame Eingriffsschranke nicht mehr oder doch nur noch i n sehr begrenztem Umfang gerecht werden können. Wenn die der staatlichen Regelungskompetenz gesetzten Schranken so unbestimmt und weit sind, daß der Erlaß grundrechtseinschränkender Maßnahmen und damit auch die Gewährung von Grundrechtsschutz i m Ergebnis völl i g dem Ermessen der Staaten anheimgestellt wird, so würde damit ein Vertragswerk, das wie die M R K die Sicherung eines Mindeststandards von Grundrechtsgarantien zum Ziel hat, seiner eigentlichen Bedeutung beraubt. § 5 Methodik der M R K — Gründe und Entwicklung

I n den Vorarbeiten zur M R K w i r d das Bemühen erkennbar, eine Lösung zu finden, die die Vorteile beider Methoden i n sich vereint und die Nachteile möglichst gering hält. Die endgültige Fassung der M R K beruht auf einem Kompromiß zwischen der „Tatbestandstheorie", die i m wesentlichen von den Vertretern des angelsächsischen „common l a w " vertreten wurde, und der „Katalogtheorie", die an kontinentaleuropäische Rechtstraditionen anknüpft 6 . Die Bemühungen der Autoren der M R K u m eine politisch mögliche, aber auch sachgerechte Lösung i n der Frage der Definition von Grundrechten und der für sie zulässigen Einschränkungen sind vor dem Hintergrund der beiden Hauptmotive zu sehen, die, wie es der französische Delegierte Teitgen i n der ersten Sitzung der Beratenden Versammlung zum Ausdruck brachte, Anlaß zur Schaffung der M R K waren: Einmal galt es nach seiner Auffassung, sich gegen die Versuchungen der Staatsraison („raison d'état") zu wappnen, da auch parlamentarisch zustande gekommene Mehrheiten i n demokratischen Staaten immer wieder dazu neigten, die ihnen anvertraute Macht zu mißbrauchen. Die zweite Bedrohung für die Grundordnung der westeuropäischen Demokratien sah Teitgen i n den Gefahren des Rassismus, „Hitlerismus" und Kommunismus, wobei die Furcht vor letzterem i n den ersten Nachkriegs jähr en angesichts der beginnenden Konfrontation zwischen Ost und West wohl am akutesten gewesen sein dürfte 7 . 5 Dieser Gefahr unterschiedlicher Auslegung i n den Mitgliedsstaaten steht allerdings der V o r t e i l gegenüber, daß die Konventionsorgane die Grenzen der Ermessenstatbestände einheitlich definieren können. 6 Vgl. z. B. Hodler, Diss. S. 40; Trav. prép. Doc. H (61) 4 Bd. 2 S. 404. 7 Vgl. Trav. prép. Doc. H (61) 4 Bd. 1 S. 62.

§ 5 Methodik der MRK — Gründe und Entwicklung

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Aus einem etwas anderen Blickwinkel sieht Merle 8 zwei, wenn auch unausgesprochen gebliebene Hauptgründe für die gewählte Definitionsmethodik: Einmal hätten die Autoren m i t der Garantie der Prinzipien des politischen Liberalismus keinesfalls radikalen Minderheiten die Waffen an die Hand geben wollen, m i t denen sie die Intervention der demokratischen Regierungen verhindern könnten: „ L e spectre des régimes totalitaires a plané incontestablement sur les travaux de Strasbourg." Andererseits sollte die A r t der Festlegung der zulässigen Einschränkungen diese Eingriffe justiziabel machen, d. h. den Kontrollinstanzen feste Beurteilungsmaßstäbe an die Hand geben. U m diesen Zielen gerecht zu werden, hielt man es offenbar für opportun, den Vertragsstaaten nicht jede Regelungskompetenz i m Bereich der von der M R K garantierten Rechte und Freiheiten zu nehmen, sondern die Modalitäten und Bedingungen für ihre Ausübung zur Disposition der Staaten zu stellen, für diese Einschränkungskompetenz aber gewisse Regeln und allgemeine Prinzipien festzulegen 9 . Dadurch sollen einerseits mißbräuchliche Grundrechtseinschränkungen durch die Staatsgewalt verhindert werden, den Staaten aber andererseits auch ein Instrumentar i u m an die Hand gegeben werden, das sie i n die Lage versetzt, die der Demokratie von Seiten radikaler Kräfte drohenden Gefahren m i t den geeigneten Maßnahmen abzuwehren. Von der Grenzziehung zwischen staatlicher Eingriffsfreiheit und Konventionsgebundenheit hängt es letztlich ab, ob ein Vertragswerk wie die M R K ihrer grundrechts- und damit auch demokratiesichernden A u f gabe gerecht werden kann. I n dem von der Juristenkommission der „Europäischen Bewegung" i m Februar 1949 ausgearbeiteten Vorentwurf für die M R K hatte man noch versucht, diese Trennungslinie zwischen der Konvention und den Eigenbefugnissen der Staaten m i t dem i m internationalen Recht klassischen Begriff „principes généraux du droit reconnus par les nations civilisées" zu ziehen 10 . A r t . 3 dieses Vorentwurfs lautete: "Les droits spécifiés aux articles 1 et 2 ne pourront avoir comme limitations que celles conformes aux principes généraux de droit reconnus par les nations civilisées et préscites par la loi en vue: a) du maintien des droits légaux cfautrui b) de la satisfaction des justes exigences de la moralité, de l'ordre public (y compris la sécurité publique) et du bien — être général."

« Merle S. 714. 9 Vgl. Vasak , Konv. Section V I I Nr. 124 S. 67 ff.: Die Aufgabe des Systems der Enumeration zugunsten der Definition der garantierten Rechte „devait amener les auteurs de la Conventions à devenir de véritables législateurs . . . " .

10

Vgl. Vegleris S. 229 Anm. 19.

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AT — Kap. I I I : Die Definitionsmethodik der MRK

Dieses K r i t e r i u m der „principes généraux" findet sich i n der endgültigen Fassung der M R K nur noch i n A r t . 7 Abs. 2. I n A r t . 6 des Vorentwurfs zur M R K vom 15. 2.1950 waren ebenfalls noch i n Form einer Generalklausel i n Anlehnung an A r t . 29 der Menschenrechtsdeklaration der V N die Möglichkeiten zur Grundrechtseinschränkung geregelt 11 . A r t . 6 lautete: "Dans l'exercice des droits et dans la juissance des libertés garanties par la Convention chacun ne sera soumis qu'aux limitations établies par la loi exclusivement en vue d'assurer la reconnaissance et le respect des droits et libertés d'autrui et anfin de satisfaire aux justes exigences de la morale, de l'ordre public, de la sécurité (et de la solidarité) nationales, aussi que de l'exercice de l'administration et de la justice dans une société démocratique."

Auch i n der endgültigen Fassung ist man, was die A r t . 6 Abs. 1, 7 und 8 - 1 1 betrifft, bei diesem Prinzip der Aufstellung von Vorbehaltsschranken geblieben, hat die Vorentwürfe jedoch insofern modifiziert, als nun nicht mehr eine einzige Bestimmung die Zulässigkeit der Einschränkung aller Rechte regelt, sondern i m Anschluß an die Formulierung des jeweiligen Grundrechts staatliche Einschränkungen i n dem Umfang und m i t den Schranken zugelassen werden, die die Autoren mit Rücksicht auf die Natur des betr. Rechts für erforderlich hielten. I n den vorstehend genannten Bestimmungen wurde, genau wie i n A r t . 1 ZP und A r t . 2 des 4. Protokolls der Schutzbereich der Grundrechte beschrieben und i m Anschluß daran ihre wesentlichen Elemente dadurch zu garantieren versucht, daß die Grenzen für die staatliche Eingriffsfreiheit festgelegt wurden. Dagegen wurde i n den A r t . 2 - 5, 6 Abs. 3 der Schutzbereich der Grundrechte tatbestandlich genauer umrissen: teilweise, wie bei dem Recht auf Leben, Freiheit und dem Verbot der Sklaverei, wurde das Recht nur benannt, weil der Inhalt dieser Begriffe als feststehend gilt, teils wurde es positiv (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung i n A r t . 3), teils negativ (Art. 4 Abs. 3: Als Zwangs- und Pfiichta r b e i t . . . gilt n i c h t : . . . ) definiert. Die Kompetenz zur Einschränkung dieser Rechte ist den Staaten bei diesen Rechten somit weitgehend entzogen worden, w e i l auch bei den einschränkbaren Rechten die M R K selbst die Voraussetzungen und Bedingungen für die Grundrechtseinschränkung nennt. Die Gesetzgebungskompetenz der Staaten ist damit i n diesem Bereich zwar nicht völlig abgeschafft, der M R K aber untergeordnet 12 . 11 A r t . 29 Abs. 2 der V N Dekl. lautet: "Dans l'exercice de ses droits et dans la juissance de ses libertés, chacun n'est soumis qu'aux limitations établies par la loi exclusivement en vue d'assurer la reconnaissance et le respect des droits et libertés d'autrui et afin de satisfaire aux justes exigences de la morale, de l'ordre public et d u bien — être général dans une société démocratique."

12

Vgl. Vegleris S. 219/220.

§ 5 Methodik der MRK — Gründe und Entwicklung

25

Die i n der M R K getroffene Unterscheidung zwischen Rechten, die der staatlichen Regelungskompetenz entzogen sind, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, läßt sich nur aus der Natur dieser Rechte erklären und rechtfertigen. Diejenigen Rechte, bei denen die Autoren der M R K eine Beibehaltung der staatlichen Regelungskompetenz für geboten hielten, beinhalten i m Gegensatz zu den von der Konvention abschließend geregelten Rechten vielschichtige soziale Sachverhalte und haben deshalb eine Tendenz zur Ausweitung und eine Eigendynamik, die es nicht zweckmäßig erscheinen läßt, sie einer kasuistischen und abschließenden Regelung i n der M R K zu unterwerfen. Gerade dieser soziale Bezug der Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des Nachrichtenverkehrs (Art. 8), der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9), der Meinungsfreiheit (Art. 10) und der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 11), aber auch des Rechts auf Eigentum (Art. 1 ZP) und auf freie Wahl des Wohnsitzes und auf Freizügigkeit (Art. 2 des 4. Protokolls) macht es unmöglich, zu einem bestimmten Zeitpunkt alle diejenigen Regelungen i n erschöpfender Weise zu treffen, die erforderlich sind, um auch i n der Zukunft den Erfordernissen der sich verändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten gerecht werden zu können. Dieser soziale Bezug steht bei den anderen, der nationalen Gesetzgebungskompetenz entzogenen Rechten weniger i m Vordergrund oder fehlt sogar völlig. Die einschränkungslos garantierten Rechte auf Sicherheit und Freiheit von Sklaverei, Leibeigenschaft und Folter dürften kaum geeignet sein, i m Gemeinschaftleben m i t berechtigten Interessen anderer oder der Allgemeinheit überhaupt i n Konflikt zu geraten; bei den Rechten auf Achtung des Lebens, der persönlichen Freiheit und auf Achtung verfahrensmäßiger Rechte (Art. 2, 5 und 6) sowie bei dem Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit (Art. 4 Abs. 2) ist zumindest nicht eine solche Vielfalt unvorhersehbarer Sachverhalte denkbar, daß eine abschließende und sich die nationale Gesetzgebungskompetenz völlig unterordnende Regelung der Einschränkungsmöglichkeiten i n der M R K selbst nicht für ausreichend gehalten werden könnte. Letzteres gilt auch für A r t . 7 Abs. 2, der zwar m i t der Verweisung auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zivilisierter Völker 1 3 den Staaten einen gewissen Einschränkungsspielraum einzuräumen scheint, demnach also i n eine Reihe m i t den A r t . 6 Abs. 1 und 8 - 1 2 gestellt werden müßte, inhaltlich gesehen jedoch einen so eng umrissenen Bereich betrifft, daß die nationale Regelungskompetenz hier nicht weniger untergeordnet ist als bei den A r t . 2, 4 13 Schorn S. 242 hält diese Verweisung für so unbestimmt, daß keine V e r urteilung darauf gestützt werden könne. Dies bedeutet aber nicht, daß den Staaten bei den Ausnahmen v o m strafrechtlichen Rückwirkungsverbot durch A r t . 7 ein Ermessensspielräum eingeräumt wäre.

26

AT — Kap. IV: Art. 8 - 1 1 Abs. 2, Art. 15 und 64

und 5. Ebenso nimmt A r t . 6 Abs. 1 eine Sonderstellung i n der zweiten Gruppe ein, da er nur den speziellen Fall des Ausschlusses der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen und damit nur Individualmaßnahmen betrifft. § 6 Die Besonderheiten der Art. 8 - 1 1

Die A r t . 8 - 1 1 bilden deshalb einen einheitlichen Block innerhalb des ersten Abschnitts der MRK, der sich i n mehrfacher Hinsicht von den übrigen dort garantierten Rechten und Freiheiten unterscheidet: 1. von den A r t . 3, 4 Abs. 1 und 5 Abs. 1 durch die Einschränkbarkeit, 2. von den einschränkbaren, aber „tatbestandlich" definierten Rechten (Art. 2, 4 Abs. 2, 5 und 6 Abs. 3) durch die abstrakte Formulierung von Grundrecht und Grundrechtsschranken, die eine nicht nur untergeordnete staatliche Regelungskompetenz bedingt, 3. von A r t . 12 durch die nicht nur formelle (Gesetzesvorbehält), sondern auch inhaltliche Begrenzung der eingeräumten Einschränkungsbzw. Regelungskompetenz, 4. von A r t . 7 Abs. 2 durch die Einräumung einer nicht nur völlig untergeordneten Eingriffskompetenz, 5. von A r t . 6 Abs. 1 durch den Umfang der Eingriffsermächtigung, die nicht nur auf konkrete Individualmaßnahmen beschränkt ist. Auch i n ihrem äußeren Aufbau gleichen sich die A r t . 8 - 1 1 insofern, als sie i m jeweiligen Absatz 1 den Schutzbereich eines oder mehrerer Grundrechte bezeichnen, während i n dem jeweiligen Absatz 2 den M i t gliedsstaaten Eingriffe i n die Rechte des Absatzes 1 m i t zwar nuancierten, aber grundsätzlich gleichartigen Formulierungen gestattet werden: grundrechtseinschränkende Maßnahmen sind danach zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind zum Schutz bestimmter, einzeln aufgeführter Rechtsgüter.

Kapitel I V

Vorbehalt, Außerkraftsetzung und Einschränkung — Abgrenzung der Art. 8 - 1 1 Abs. 2 von den Art. 15 und 64 § 1 Funktion der Art. 8 - 1 1 Abs. 2,15 und 64

Die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 sind nicht die einzigen, die die Konstruktion einer überstaatlichen europäischen Rechtsordnung nach der Konvention m i t der rechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten zu vereinbaren

§ 2 Besonderheiten der A r t . 15 u n d 64

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suchen. Die A r t . 15 und 64 geben den Staaten die Möglichkeit, sich zumindest teilweise der Verpflichtung zum Schutz der i n der M R K garantierten Rechte und Freiheiten zu entziehen. Während A r t . 15 den Staaten die Möglichkeit zur Außerkraftsetzung der i n der M R K vorgesehenen Verpflichtungen i n Kriegs- und bestimmten anderen Notfällen gibt, können nach dem i n A r t . 64 vorgesehenen Verfahren darüber hinaus Vorbehalte bezüglich bestimmter Vorschriften der M R K gemacht werden: bereits i n K r a f t befindliche nationale Gesetze müssen dann trotz ihrer Unvereinbarkeit m i t der vom Vorbehalt erfaßten Bestimmung der M R K nicht geändert werden. Diese Möglichkeit eines Vorbehalts gem. A r t . 64 ist allerdings i m Gegensatz zu A r t . 15 auf den Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung bzw. der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde durch den betr. Staat beschränkt. Die A r t . 15 und 64 können noch als Gewährleistungsschranken bezeichnet werden, auch wenn sie die Staaten nicht nur ermächtigen, Grundrechte einzuschränken, wie die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2, sondern sie für eine bestimmte Zeit außer K r a f t zu setzen oder sie sogar völlig auszuklammern. Umgekehrt haben die A r t . 15 und 64 aber auch die Funktion von Eingriffsschranken, da sie die Ermächtigung zu Außerkraftsetzungen und Vorbehalten von der Einhaltung bestimmter Verfahrensweisen (Art. 15 Abs. 3, 64 Abs. 2) und auch dem Vorliegen materieller Voraussetzungen abhängig machen. § 2 Besonderheiten der Art. 15 und 64

Dennoch unterscheiden sich die A r t . 15 und 64 grundlegend von den übrigen Einschränkungsvorbehalten der M R K und insbesondere von den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2. Bei den A r t . 15 und 64 geht es nämlich nicht mehr darum, die Koexistenz von Maßnahmen, die i m Rahmen der innerstaatlichen Ordnung erlassen werden, m i t den Prinzipien der M R K und den sich aus i h r ergebenden Verpflichtungen sicherzustellen, sondern u m die Möglichkeit, von diesen Prinzipien abweichen und sich damit den Verpflichtungen der M R K entziehen zu können 1 . Verdeutlicht w i r d dies schon durch die unterschiedlichen Begriffe: „ingérences" (Art. 8) bzw. „réstrictions" (Art. 9 - 1 1 ) liegen noch innerhalb des von der Konvention gezogenen Rahmens; „dérogations" (Art. 15) und „réserves" (Art. 64) liegen dagegen bereits außerhalb. A r t . 64 ist i n dieser Hinsicht sicherlich die weitergehende Vorschrift: die Zulässigkeit von Vorbehalten ist danach lediglich davon abhängig, daß sie ein bestimmtes, i n dem betr. Staat i n Geltung befindliches Gesetz betreffen und m i t einer kurzen Inhalts1

Vegleris S. 224.

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AT — Kap. IV: Art. 8 - 1 1 Abs. 2, Art. 15 und 64

angabe dieses Gesetzes verbunden sind. Hinzu kommt allerdings, daß die Erklärung des Vorbehalts an den Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung bzw. der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde gebunden ist. Trotz ihrer geringen juristischen Bedeutung haben diese Bedingungen einen nicht zu unterschätzenden psychologischen Effekt, zwingen sie doch den Staat gewissermaßen zur „Selbstanprangerung" 2 , d. h. zur Darstellung ihrer Rechtslage und damit indirekt auch zu der Aussage, daß einzelne Bestimmungen der nationalen Rechtsordnung nicht mit den i n der M R K festgelegten demokratischen Rechtsgrundsätzen vereinbar sind. A r t . 15 kann ein Mitgliedsstaat dagegen zwar jederzeit i n Anspruch nehmen, doch ist er dabei an engere formelle und auch materielle Voraussetzungen gebunden. Jeder Mitgliedsstaat kann danach nämlich die i n der M R K festgelegten Verpflichtungen nur i n dem Umfang außer K r a f t setzen, den die Lage i m Fall eines Krieges oder eines anderen, das Leben der Nation bedrohenden öffentlichen Notstands unbedingt erfordert. Die Maßnahmen dürfen außerdem nicht i n Widerspruch zu sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen. Abs. 3 sieht zusätzlich noch eine Unterrichtungspflicht über A r t und Gründe der getroffenen Maßnahmen vor. § 3 Ist Art. 15 angesichts der Art. 8 - 1 1 Abs. 2 überflüssig?

Die i n A r t . 15 vorausgesetzte Kriegs- und Notstandssituation entspricht i m Grunde den auch i n A r t . 8 - 11 Abs. 2 genannten Vorbehalten zugunsten des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Verteidigung der öffentlichen Ordnung, bleibt aber insofern hinter diesen Vorbehalten zurück, als danach Grundrechtseinschränkungen unabhängig davon zulässig sind, ob es sich u m einen Notstand oder u m „normale" Zeiten handelt. Auch wenn außergewöhnliche Krisen- und Notsituationen sicher nicht der Regelfall sind, an den bei Schaffung der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 gedacht wurde, so sind diese Bestimmungen, wie noch zu zeigen sein wird, doch flexibel und anpassungsfähig genug, u m allen Situationen gerecht werden zu können. Aus der Beschränkung des Art. 15 auf Kriegs- und Notstandsfälle ergibt sich außerdem, daß die Außerkraftsetzungen nur vorübergehender Natur sein dürfen 3 , also bei Wegfall dieser Voraussetzungen wieder aufgehoben und damit die Rechte und Freiheiten der M R K wieder i n Geltung gesetzt werden müssen. Gleiches gilt auch für die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 4 . Die weitere Voraussetzung des A r t . 15, wonach die i n der M R K vorgesehenen Verpflichtungen nur i n dem nach der Lage 2 3

Partsch S. 305 Vgl. Vegleris S. 224.

4 Hier ergibt es sich aus dem Begriff der Notwendigkeit, vgl. dazu unten A T Kap. V I I §1.

§ 3 Ist A r t . 15 angesichts der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 überflüssig?

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unbedingt erforderlichen Umfang 5 außer K r a f t gesetzt werden dürfen, findet ebenfalls, allerdings i n einer weniger deutlichen Formulierung, eine Parallele i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2: auch dort müssen die getroffenen Maßnahmen „notwendig" sein zum Schutz bestimmter Rechtsgüter. Den zusätzlichen Maßstab der Erforderlichkeit der getroffenen Maßnahmen legt A r t . 15 zwar nicht ausdrücklich an, doch w i r d man das Leitprinzip der demokratischen Rechtsstaatlichkeit auch auf A r t . 15 anwenden müssen 6 . Angesichts dieser Überlegungen könnte man i n der Tat zu dem Ergebnis kommen, daß die Notstandsklausel des A r t . 15 eigentlich überflüssig ist 7 . Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Möglichkeiten zu Grundrechtseinschränkungen, zur Außerkraftsetzung und zu Vorbehalten trotz grundsätzlicher Verschiedenheiten i n Ausgangsposition und Zielsetzung Verfahrensweisen sind, die alle auf eine Schonung der Kompetenz der Mitgliedsstaaten auf einem Gebiet abzielen, das eigentlich von der M R K geregelt werden soll 8 .

Kapitel V

Funktion und Bedeutung der Eingriffsziele in den Art. 8 - 11 Abs. 2 U m die Sphäre abzugrenzen, innerhalb deren die Staaten einschränkende Maßnahmen („ingérences" bzw. „réstrictions/restrictions") erlassen können, bedient sich die M R K zunächst der Methode, bestimmte Ziele aufzuzählen, denen die Eingriffe der Staatsmacht i n die Rechtssphäre des einzelnen dienen müssen. Der Katalog dieser Eingriffsziele ist dabei von A r t i k e l zu A r t i k e l variiert und damit offenbar auf die besondere Natur eines jeden Rechts zugeschnitten 1 . 5 „ . . . m e a s u r e s . . . to the extent strictly required by the exigencies of the situation" bzw. „ . . . des mesures . . . dans la stricte mesure ou la situation l'exige". 6 Vgl. dazu unten A T Kap. X I V a. E. 7 Merle S. 705 ff.; Vegleris S. 225 A n m . 10. 8 Vegleris S. 225 A n m . 11. 1 I n A r t . 4 des Covenant on Economic, Social and C u l t u r a l Rights heißt es sogar ausdrücklich: . . . " t h e State may subject such rights only to such l i m i t a t i o n s . . . only i n so far as they may be compatible w i t h the nature of theses rights ..

30

AT — Kap. V: Eingriffsziele: Funktion und Bedeutung

Die A r t . 9 und 10 Abs. 2 unterscheiden sich dabei am deutlichsten, was die Zahl und Vielfalt der zulässigen Eingriffsziele anbetrifft. Während A r t . 10 die Meinungs- und Informationsfreiheit dem ausführlichsten Katalog von insgesamt 11 Einschränkungsmotiven unterstellt, scheint die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des A r t . 9 mit lediglich 4 Eingriffszielen am knappsten beschränkt zu sein. Der Umfang der i n A r t . 10 Abs. 2 aufgezählten Eingriffsziele w i r d noch dadurch zusätzlich unterstrichen und begründet, daß dieser Absatz m i t dem Appell an das Verantwortungs- und Pflichtbewußtsein der Grundrechtsträger beginnt 2 . Ebenfalls i m Gegensatz zu den A r t . 8, 9 und 11 w i r d dort der Begriff der Einschränkung noch weiter unterteilt i n „Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen". Daran w i r d deutlich, daß die Aufnahme der Meinungsfreiheit i n den Grundrechtskatalog der M R K wohl auf den größten Widerstand stieß und nur durchgesetzt werden konnte, weil man den Bedenken der Staaten gegen eine relativ großzügige Gewährleistung dieses zusammen mit A r t . 11 wohl politischsten Grundrechts m i t einem zumindest dem Wortlaut nach sehr weitgehenden Katalog von Eingriffsermächtigungen Rechnung getragen hat 8 . Die Abstimmung der Eingriffsziele auf die besondere Natur der einzelnen Grundrechte kommt auch darin zum Ausdruck, daß einige A r t i k e l Motive nennen, die ihnen eigentümlich sind und i n anderen Bestimmungen nicht wiederkehren: So finden sich allein i n A r t . 10 die Begriffe „nationale Unversehrtheit / Schutz des guten Rufs / Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Nachrichten / Ansehen und Unparteilichkeit der Rechtsprechung". Nur A r t . 8 läßt Maßnahmen für das wirtschaftliche Wohl des Landes zu 4 . Schon aus der bewußt und zweckgerichtet differenzierenden Enumeration der zulässigen Eingriffsziele 5 i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 ergibt sich 2 W o h l i m Anschluß an A r t . 29 Abs. 1 der Deklaration der V N : " L ' i n d i v i d u a des devoirs envers la communauté dans laquelle seule le libre et plein développement de sa personnalité est possible." 3 Eine andere Frage ist es, ob die Einschränkungsermächtigung des A r t . 10 auch i m Ergebnis inhaltlich weiter ist als bei den A r t . 8,9 u n d 11 (Abs. 2). 4 Eine weitere Besonderheit findet sich i n A r t . 6 Abs. 1, der auch die Interessen der Jugendlichen u n d das Privatleben der Prozeßparteien als Schutzobjekte n e n n t . 5 Z u r Veranschaulichung vgl. die folgende Tabelle. Die redaktionellen Abweichungen (sûreté / sécurité; défense de l'ordre / protection de l'ordre; prévention des infractions pénales / prévention d u crime) auch innerhalb einer Textfassung dürften ebensowenig einen materiellen H i n t e r g r u n d haben wie z. B. die Nichterwähnung der „Freiheiten anderer" i n A r t . 10. A u f die inhaltliche Bedeutung der einzelnen Eingriffsziele soll i m Rahmen der Besprechung der Einschränkungsmöglichkeiten nach den jeweiligen Absätzen 2 der A r t . 8 - 1 1 (vgl. unten BT) eingegangen werden.

A T — Kap. V : Eingriffsziele: F u n k t i o n u n d Bedeutung außerdem, w a s A r t . 18 sogar noch e i n m a l a u s d r ü c k l i c h b e s t ä t i g t 6 : Diese M o t i v e h a b e n n i c h t e t w a d e n C h a r a k t e r b l o ß e r „ R e g e l b e i s p i e l e " , sondern s i n d abschließend g e n a n n t u n d n i c h t austauschbar.

Eingriffsmotive le bien être économique d u pays the economic w e l l — being of the country

Artikel 8

intégrité territoriale / t e r r i t o r i a l integrity

10

protéction de la réputation d a u t r u i protection of the reputation of others

10

pour empêcher la divulgation dinformations confidentielles 10 for preventing the disclosure of information received i n confidence pour garantir l'autorité et l'impartialité d u pouvoir judiciaire for maintaining the authority and i m p a r t i a l i t y of the judiciary

10

sécurité nationale / national security

8,10,11

sûreté publique / public safety

8,10,11

sécurité publique

9

/ public safety

défense de l'ordre et prévention des infractions pénales prevention of disorder or crime

8

protection de l'ordre public protection of public order

9

défense de l'ordre et prévention du crime prevention of disorder or crime

10,11

protection de la santé ou de la morale protection of health or morals

8-11

protection des droits et libertés d a u t r u i protection of the rights and freedoms of others

8, 9,11

protection de la réputation ou des droits cfautrui protection of the reputation or rights of others 6

Vgl. unten Kap. I X §5.

10

32

AT — Kap. V I : Generalvorbehalt des öffentlichen Interesses? Kapitel V I

Die Art. 8 - 1 1 Abs. 2 als Generalvorbehalte zugunsten des öffentlichen Interesses? § 1 Generalvorbehalt des Allgemeinwohls?

Auch i n ihrer eingeschränktesten Form, also i n A r t . 9, der i n seinem Abs. 2 nur die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Gesundheit und Moral und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer nennt, scheint die Aufzählung dieser Eingriffsziele i n ihrer Gesamtheit nichts anderes zu sein als ein Generalvorbehalt zugunsten des allgemeinen öffentlichen Interesses1. Die Kasuistik ausgewählter Begriffe wäre dann tatsächlich nur eine A r t Deckmantel 2 . Ausdrücklich findet sich dieser Begriff des öffentlichen Interesses („intérêt public") i n A r t . 2 Abs. 4 des vierten Protokolls, aber auch dort nur zusätzlich zu den bereits i m Abs. 3 genannten und i n Anlehnung an die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 formulierten Eingriffsmotive. Auch A r t . 1 Abs. 1 ZP erlaubt den Entzug des Eigentums, wenn das öffentliche Interesse es verlangt 3 . I n der Literatur w i r d teilweise die Ansicht vertreten, der Katalog der Einschränkungsziele i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 habe nur die Bedeutung von „Wiederholungen oder Verdeutlichungen der allgemeinen Generalklausel zugunsten der öffentlichen Ruhe und Ordnung 4 , fülle nur einen Dachvorbehalt aus und habe m i t „spezieller Blickrichtung letztlich ausnahmslos die öffentliche Sicherheit und Ordnung i m Auge 5 " oder enthalte sogar nur „Beispiele für den einzig zulässigen Einschränkungsgrund: die Menschenrechte anderer Menschen" 6 . Schon aus A r t . 18 ergibt sich aber eindeutig, daß die verschiedenen Eingriffsmotive i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 keinen lediglich exemplarischen Charakter haben, sondern abschließend genannt und nicht austauschbar sind 7 . 1 Vgl. dazu auch das U r t e i l des E G H i n den „belgischen Sprachenfällen" (EGHE Bd. 2 S. 92): Nach dem Geist der Konvention u n d insbesondere der A r t . 8 - 1 1 , 18 könne jeder Vertragsstaat aus Gründen des allgemeinen I n t e r esses die Maßnahmen ergreifen, die i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, u m das Allgemeininteresse zu schützen. 2 So Vegleris S. 226. 3 A r t . 1 Abs. 2 Z P (Regelung der Eigentumsnutzung) spricht dagegen etwas nuanciert von „intérêt général". 4 R. Herzog, Grundrechtsbeschränkungen nach dem Grundgesetz u n d Europäische Menschenrechtskonvention, Diss. München 1958 (unveröffentlicht) S. 196/197. 5 Wollweber, Diss. S. 114. 6 Horvarth S. 187. 7 Vgl. auch oben Kap. V (Tabelle) u n d unten A T Kap. I X § 5.

§ 2 Unterscheidung zwischen K o l l e k t i v - u n d Individualinteressen

33

fi 2 Unterscheidung zwischen Kollektiv- und Individualinteressen

Außerdem sind grundrechtseinschränkende Maßnahmen nach diesen Bestimmungen nicht nur dann zulässig, wenn sie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und damit dem Allgemeinwohl dienen: die Ausübung dieser Grundrechte kann vielmehr auch i n den „Rechten und Freiheiten anderer" ihre Grenze finden 8 . Die Eingriffsziele der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 können demnach nur i n zwei Kategorien eingeordnet werden: 1. Schutz von Kollektivinteressen, z. B. öffentliche Sicherheit und Ordnung, Gesundheit und Moral, wirtschaftliches Wohlergehen des Landes, nationale Integrität, nationale Sicherheit, Verhinderung strafbarer Handlungen. 2. Schutz von Individualinteressen, z. B. Rechte und Freiheiten anderer, guter Ruf, Vertraulichkeit von Nachrichten, individuelle 9 Gesundheit und Moral. Allerdings dient der Schutz von Kollektivinteressen regelmäßig zumindest mittelbar auch den Individualinteressen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft, ebenso wie umgekehrt der Schutz grundlegender Rechte des einzelnen auch i m allgemeinen Interesse liegt 1 0 . Bedeutsam bleibt diese Unterscheidung aber insofern, als der Schutz der öffentlichen Ordnung i m weitesten Sinn zwar dem Interesse der Gesamtheit der Individuen 1 1 und damit objektiv gesehen auch jedem einzelnen dient, der die Gemeinschaftsordnung ja als Basis für seine Grundrechtsausübimg benötigt, diesem Individuum dabei aber u. U. Einschränkungen i n seiner freien Rechtsausübung abverlangt werden müssen, die er subjektiv als nicht i n seinem Interesse stehend empfindet. Schließlich sind auch nicht alle berechtigten Individualinteressen für die Gemeinschaft so bedeutsam, daß ihr Schutz zugleich auch i m Interesse des Gemeinwohls geboten wäre. 6

Aber nicht n u r i n den Menschenrechten anderer Menschen, wie Horvath S. 187 meint. 9 Die K o m m , sieht Gesundheit u n d M o r a l nicht n u r als kollektive, sondern auch als individuelle Rechtsgüter an, vgl. unten B T A r t . I A n m . 73. 10 Aus diesem G r u n d k a n n i n der B R D auch gegen die Bedrohung höchstpersönlicher Rechtsgüter w i e Leben, Gesundheit, Freiheit u n d Ehre einzelner aufgrund der allgemeinen polizeilichen Generalklausel zum Schutz der öffentlichen Sicherheit u n d Ordnung eingeschritten werden. 11 Die Verfolgung überindividueller Zwecke w i e nationale Macht u n d Größe — von Teitgen als Gefahr der Staatsraison bezeichnet (vgl. oben Kap. I I I § 5) — k a n n i n einer demokratischen Gesellschaft keinesfalls G r u n d rechtseinschränkungen rechtfertigen. 3 Hoffmann-Rem?

34

AT — Kap. V I I : Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Dennoch w i r d man sagen können, daß die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 einem Generalvorbehalt zugunsten aller i n einer demokratischen Gesellschaftsordnung schutzwürdigen Rechtsgüter zumindest sehr nahe kommen, lassen sich doch praktisch alle i n einer Demokratie als berechtigt anzuerkennenden privaten und öffentlichen Interessen unter eines der dort aufgeführten Eingriffsziele subsumieren. Der Unterschied i n Umfang und Inhalt der Einschränkungskataloge der einzelnen A r t i k e l behält aber insofern seine Bedeutung, als die mehr oder weniger weitgehende Aufzählung der zulässigen Eingriffsziele die Wertung impliziert, welche öffentlichen und privaten Interessen i n einer Demokratie gegenüber dem jeweiligen Grundrecht einen so hohen Stellenwert haben, daß eine Einschränkung dieses Grundrechts geboten sein kann 1 2 . Die eigentliche Bedeutung der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 dürfte aber insgesamt weniger i n der beschränkten Enumeration der zulässigen Eingriffsziele als i n dem K r i t e r i u m der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft liegen 13 .

Kapitel V I I

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit § 1 Die Bedingung der Notwendigkeit einer Einschränkung

Es genügt aber nicht, daß der Erlaß einer grundrechtseinschränkenden Maßnahme nur überhaupt mit dem Schutz eines der genannten individuellen oder kollektiven Rechtsgüter zu begründen ist, um i n Übereinstimmung m i t den A r t . 8 - 1 1 zu stehen. Eine derartige Maßnahme ist m. a. W. nicht schon dann rechtmäßig i. S. d. MRK, wenn sie einem dieser Ziele lediglich dient: erforderlich ist vielmehr, daß sie auch notwendig ist zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Gesundheit und Moral usw. 1 . Die deutsche Übersetzung bringt dies i n A r t . 10 Abs. 2 gegenüber den authentischen Texten sogar noch deutlicher zum Ausdruck 2 : danach müssen die Form Vorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen sogar unentbehrlich sein i m Interesse der nationalen Sicherheit usw. 12 Ob sie i m Einzelfall geboten ist, entscheidet sich dann nach den anderen K r i t e r i e n dieser Einschränkungsvorbehalte. 13 Vgl. unten A T Kap. X I . 1 Also nicht n u r wünschenswert oder nützlich ist, vgl. Pinto S. 79. 2 Der englische u n d französische T e x t spricht einheitlich i n allen A r t i k e l n von „necessary / nécessaire".

§ 2 I n h a l t u n d Geltung dieses Erfordernisses

35

Dieser Grundsatz der Notwendigkeit findet sich nicht nur i n den A r t . 8 bis 11, sondern m i t gleichen 3 oder ähnlichen Formulierungen auch i n anderen Bestimmungen der M R K und ihrer Protokolle. So ist nach A r t . 2 Abs. 2 eine Tötung nur dann zulässig, wenn sie sich aus einer „unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung" 4 ergibt zur Verteidigung eines Menschen gegen rechtswidrige Gewaltanwendung usw. Nach A r t . 5 Abs. 1 c muß eine Freiheitsentziehung notwendig erscheinen, u m den Betreffenden an der Begehung strafbarer Handlungen usw. zu hindern 5 . I n A r t . 6 Abs. 1 ist eine derartige Formulierung zwar nicht enthalten, doch ist Vegleris 6 darin zuzustimmen, daß die Formel „dans l'intérêt de la moralité, de l'ordre public ou de la sécurité nationale dans une société démocratique" eine Würdigung dessen beinhaltet, was ein geordnetes Gerichtsverfahren erfordert. Auch für diese Bestimmung gilt demnach das Erfordernis der Notwendigkeit. A r t . 2 Abs. 4 des vierten Protokolls spricht seinerseits von „restrictions . . . justifiées par l'intérêt public". Gerechtfertigt i m öffentlichen Interesse sind Grundrechtseinschränkungen aber nur, wenn sie mindestens auch notwendig sind zum Schutz dieses öffentlichen Interesses. A r t . 1 Abs. 1 ZP erklärt eine Enteignung für zulässig, wenn das öffentliche Interesse es verlangt. Der englische Text lautet hier zwar: „ i n the interest of the public interest", doch dürfte die deutsche Ubersetzung hier sachlich richtig wiedergeben, was auch i n den authentischen Texten gemeint ist. Seine stärkste Ausprägung findet der Grundsatz der Notwendigkeit wohl i n A r t . 15, der Maßnahmen nur i n dem Umfang zuläßt, den die Lage unbedingt erfordert 7 . § 2 Inhalt und Geltung dieses Erfordernisses

Dieses Erfordernis der Notwendigkeit hat eine dreifache Bedeutung: Es verbietet den öffentlichen Behörden einmal, Maßnahmen zu ergreifen, die gar nicht geeignet sind, den angestrebten Zweck zu erreichen (Geeignetheit der Maßnahme). Denn eine Maßnahme, die zwar sub3

A r t . 3 u n d 4 des Protokolls Nr. 4. „ . . . absolument nécessaire / absolutely necessary...". 5 „ . . . q u ' i l y a des motifs raisonnables de croire à la nécessité de l'empêcher de commettre une infraction . . . / w h e n i t ist reasonably considered necessary to prevent his committing an offence . . . " 4

3*

6

Vegleris S. 228 Anm. 16.

7

Vgl. oben Kap. I V § 3 A n m . 5.

36

AT — Kap. V I I I : Der Gesetzesvorbehalt der Art. 8 - 1 1 Abs. 2

jektiv zum Schutz z. B. der öffentlichen Ordnung erlassen wird, objektiv aber ungeeignet ist, kann niemals notwendig sein zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Zweitens dürfen die Behörden, wenn sie mehrere (in gleicher Weise geeignete) Maßnahmen zur Auswahl haben, nur diejenige treffen, die die geringsten Nachteile i m Gefolge hat. Eine Maßnahme ist daher auch dann nicht notwendig zur Erreichung eines zulässigerweise angestrebten Zwecks, wenn andere Maßnahmen zur Verfügung stehen, die den Grundrechtsträger weniger i n seinen Rechten einschränken (Erforderlichkeit der Maßnahme). Schließlich hat auch eine an sich geeignete und erforderliche Maßnahme zu unterbleiben, wenn die m i t i h r verbundenen Nachteile die Vorteile insgesamt überwiegen. (Verhältnismäßigkeit der Maßnahme) 9. Dieses Abwägen von Vor- und Nachteilen erfordert natürlich eine Wertung, deren Ergebnis entscheidend von dem dabei angelegten Bewertungsmaßstab abhängt. Die Bewertungsgrundlage liefern, wie noch zu zeigen sein wird, die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats westeuropäischer Prägung 9 . Das Erfordernis der Notwendigkeit entspricht somit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er zieht sich wie ein roter Faden durch die MRK, so daß nicht anzunehmen ist, daß er auf die Bestimmungen beschränkt bleiben sollte, i n denen er ausdrücklich erwähnt wird. Das Gebot zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit hat als wesentlicher Bestandteil materieller Rechtsstaatlichkeit i. S. d. von Abs. 5 der Präambel postulierten Vorherrschaft des Rechts 10 allgemeine Bedeutung für die MRK. Kapitel V I I I

Der Gesetzes vorbehält in den Art. 8-11 Abs. 2 Die Ermächtigung zur Grundrechtseinschränkung w i r d i n diesen A r t i k e l n weiter dadurch begrenzt, daß es sich dabei u m vom Gesetz vorgesehene Maßnahmen handeln muß. § 1 Gesetz i m formellen oder im materiellen Sinn?

Umstritten ist, welchen Inhalt dieser Gesetzesbegriff der M R K hat. I m deutschen Recht w i r d herkömmlicherweise zwischen Gesetz i m formellen und Gesetz i m materiellen Sinn unterschieden. 8

Vgl. Wolff § 30 I I b 1 m.w.N. Vgl. unten A T Kap. X I , X I V . 10 Vgl. Herzog S. 210.

9

§ 1 Gesetz im formellen oder im materiellen Sinn?

37

Gesetz im formellen Sinn ist danach jede i m nationalen Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß zustande gekommene Rechtsnorm, gleich ob sie eine unbestimmte Vielzahl von Einzelfällen regeln soll, also abstrakt-generell ist, oder nur für einen oder mehrere bestimmte Einzelfälle gelten soll (konkret — individuelle Regelung, Einzelfall-, Maßnahmegesetz). Entscheidend ist hier also allein das Verfahren der Rechtserzeugung. Gesetz im materiellen Sinn ist demgegenüber einerseits weiter, da darunter jede Rechtsnorm verstanden wird, also auch nicht i m förmlichen Gesetzgebungsverfahren erzeugtes Recht wie z. B. Rechtsverordnungen der unteren Behörden oder auch Gewohnheitsrecht, andererseits aber auch insofern enger, als es sich immer u m abstrakt-generelle Regelungen handeln muß. Die i m englischen und französischen Urtext verwendeten Begriffe „ l a w " bzw. „ l o i " sind genauso vieldeutig wie der deutsche Ausdruck „Gesetz" und führen deshalb nicht zu einer Klärung der Frage 1 . Das englische „ l a w " kann sicherlich nicht m i t der Beschränkung auf den formellen Gesetzesbegriff ausgelegt werden. Es bedeutet Gesetz, aber außerdem auch Recht i m weitesten Sinn und kann i n einer weiteren Bedeutung auch m i t Vorschrift, Gebot übersetzt werden. Aber auch aus dem französischen „ l o i " kann ein formelles Gesetzeserfordernis für die A r t . 8 bis 11 Abs. 2 nicht hergeleitet werden. Der Gesetzesbegriff der V. französischen Republik ist wesentlich enger als derjenige der früheren Verfassungen und deshalb für die Auslegung des Gesetzesvorbehalts i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 kaum zu verwerten 2 , zumal keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die Konventionsautoren gerade den Gesetzesbegriff aus dem derzeit geltenden oder auch aus dem älteren französischen Staatsrecht übernehmen und damit die ebenfalls authentische, weitergehende englische Fassung 3 einschränken wollten 4 . Rein sprachlich gesehen hat der Begriff „ l o i " ohnehin keinen sich von dem englischen „ l a w " wesentlich unterscheidenden Inhalt: auch „ l o i " kann außer Gesetz auch Recht, Satzung, Vorschrift, Regel, Gebot usw. bedeuten, steht also einer weiten Auslegung des Gesetzesbegriffs nicht entgegen. Das von Guradze 5 als Alternative verstandene „droit" meint dagegen mehr Recht i. S. v. Gerechtigkeit, ist also keineswegs auf den 1 Gesetz i. S. d. G G ist, anders als zur Zeit der WRV, n u r noch das formelle Gesetz (vgl. M. - K l e i n A n m . 5 zu A r t . 2). 2 „Gesetze" sind i n der V. französischen Republik n u r noch die i n der V e r fassung ausdrücklich genannten Zuständigkeiten des Parlaments, während der Regierung das autonome Recht der Regelungshoheit zusteht. 8 A u f keinen F a l l k a n n diese Fassung einfach ausgeklammert werden, w i e dies offenbar Herzog S. 211 A n m . 69 tut. 4 Vgl. oben Kap. I I §2. 5 Vgl. Guradze , Stand S. 179 ff. (181).

38

AT — Kap. V I I I : Der Gesetzesvorbehalt der Art. 8 - 1 1 Abs. 2

materiellen Gesetzesbegriff festgelegt, sondern kann darüber hinaus auch i n einem viel allgemeineren Sinn verstanden werden 6 . Eine differenzierende Auffassung glaubt dagegen Partsch 7 vertreten zu können. Er stützt sich dabei i m Anschluß an Röling und Schermers 8 auf die Tatsache, daß die französische Fassung i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 einheitlich die Formel „prevue(s) par la loi" verwendet, der englische Text dagegen i n A r t . 8 Abs. 2 den Terminus „ i n accordance w i t h the l a w " gebraucht, i n den A r t . 9 - 1 1 Abs. 2 dann aber wieder i n Übereinstimmung m i t der französischen Fassung den Ausdruck „prescribed by l a w " verwendet. Jedenfalls bei A r t . 8 könne man deshalb davon ausgehen, daß ein Gesetz i m formellen Sinn nicht erforderlich ist. Dagegen spreche einiges dafür, daß bei den A r t . 9 - 1 1 Abs. 2 die deutsche Fassung zutreffe 9 und ein formelles Gesetz notwendig sei. Die unterschiedlichen englischen Ausdrücke „ i n accordance w i t h the l a w " (Art. 8 und 2 des vierten Protokolls) und „prescribed by l a w " (Art. 9 - 1 1 Abs. 2) ließen auf eine Wertung der einzelnen Grundrechte durch Differenzierung schließen. Eine derartige „Wertung" wäre aber einigermaßen erstaunlich: es sind keine vernünftigen Gründe dafür ersichtlich, w a r u m die Autoren der M R K ausgerechnet das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des Nachrichtenverkehrs über die doch gleichermaßen „klassischen liberalen Grundrechte" der A r t . 9 - 1 1 hätten hinausheben wollen, indem sie mit dem Erfordernis eines formellen Gesetzes A r t . 8 1 0 einem stärkeren Schutz unterstellten. Wie gerade die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 zeigen, sind redaktionelle Verschiedenheiten i n der M R K so an der Tagesordnung, daß sich daraus nicht auch ohne weiteres inhaltliche Unterscheidungen herleiten lassen. Ähnliche sprachliche Divergenzen finden sich auch i n anderen internationalen Verträgen, ohne daß ihnen auch materielle Bedeutung beigemessen werden könnte: So heißt es z. B. i n A r t . 20 des Covenant on Civil and Political Rights (freedom of assembly) „ . . . restrictions . . . imposed i n conformity w i t h the law . . . " , während die A r t . 18, 19 und 21 den Ausdruck „prescribed by l a w " verwenden. Aus den Vorarbeiten 1 1 6 Dies könnte die Bevorzugung des insofern klareren Begriffs „ l o i " i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 erklären. 7 Partsch S. 415 A n m . 602. 8 Röling N J 1964 S. 599; Schermers N J b l 1964 S. 393 ff., 3951396 (zu dem gleichen Begriff i n A r t . 2 Abs. 3 des 4. Protokolls). 9 Gemeint ist w o h l der deutsche Gesetzesbegriff, w i e er unter der Geltung des GG verstanden w i r d (vgl. oben A n m . 1). 10 Erst recht fehlt es an einem G r u n d für eine angebliche Bevorzugung des sogar n u r i n ein Protokoll aufgenommenen Rechts auf Freizügigkeit u n d freie W a h l des Wohnsitzes (Art. 2 des vierten Protokolls). 11 Distr. Gen. A/2929 §§ 141 - 143 S. 155 ff.

§ 1 Gesetz im formellen oder im materiellen Sinn?

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ergibt sich eindeutig, daß damit nur klargestellt werden sollte, daß kein formelles Gesetz erforderlich ist, m i t dieser Klarstellung aber kein inhaltlicher Unterschied zu dem Gesetzesvorbehalt der A r t . 18, 19 und 21 gemacht werden sollte. A r t . 4 des Covenant on Economic, Social and Cultural Rights spricht i m gleichen Zusammenhang von „limitations as are determined by law", was sicher nichts anderes bedeuten soll als das „prescribed by l a w " i n den A r t . 9 - 1 1 Abs. 2, aber w o h l noch deutlicher zum Ausdruck bringt, daß kein formelles Gesetz gefordert wird. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß auch der Gesetzesvorbehalt des großen Vorbilds der MRK, der Menschenrechtsdeklaration der VN, weit ausgelegt w i r d 1 2 . Es ist demnach davon auszugehen, daß die M R K unterschiedslos bei den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 nur ein materielles Gesetz als Grundlage grundrechtseinschränkender Maßnahmen verlangt. Die Ausdrücke „ i n accordance w i t h / prescribed by (the) l a w " bzw. „prévue(s) par la loi" haben eine zu allgemeine Bedeutung, als daß sie i m Sinne von Einschränkungen auf das Erfordernis formellgesetzlicher Ermächtigung verstanden werden könnten: dazu hätte es i n der Tat eines deutlicheren Ausdrucks bedurft 1 3 . I m übrigen bleibt die M R K auch nur bei dieser weiten Auslegung für den Beitritt der Staaten Europas offen, die i n ihren nationalen Rechtsordnungen einen Gesetzesvorbehalt zur Grundrechtseinschränkung nur i m materiellen Sinn kennen: dessen dürften sich die Autoren der M R K auch bewußt gewesen sein. Zu diesem Ergebnis kommt auch der HR 1 4 , der m i t eingehender Begründung die Gültigkeit einer Polizeiverordnung bestätigte, die i n Den Haag die Teilnahme an Massenansammlungen auf öffentlichen Straßen ohne Genehmigung unter Strafandrohung verbot. Der Berufungsführer hatte 1962 an einer nicht genehmigten Demonstration von Atomgegnern teilgenommen und war daraufhin i n erster Instanz zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er begründete seine Berufung damit, daß die Art. 9 und 10 15 zumindest i n den Niederlanden nur durch Gesetz i m formellen Sinn, nicht aber auch durch Verordnungen der Lokalbehörden eingeschränkt werden dürften. Der HR war demgegenüber der Ansicht, die Begriffe „prescribed by law / prévue par la loi" 12 Vgl. Verdoodt S. 270 Ziff. 2 zu der Formel „limitations établies par la l o i " i n A r t . 29 Abs. 2 der Deklaration der Vereinten Nationen: " A l'exercice de ses droits et à la juissance de ses libertés l ' i n d i v i d u n'est soumis qu'aux limitations établies par une loi, à laquelle on peut sans doute assimiler les mesures de caractère législative que peuvent prendre les autorités régionales ou municipales 18 Vgl. Scheuner S. 232. 14 H R N J 1964 S. 595 ff. 15 A r t . 11 ließ der H R dabei offenbar unberücksichtigt.

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AT — Kap. V I I I : Der Gesetzesvorbehalt der Art. 8 - 1 1 Abs. 2

seien nicht auf Gesetze i m formellen Sinn beschränkt, sondern hätten darüber hinaus auch allgemeinere Bedeutung, umfaßten also auch alle gesetzlichen Bestimmungen und alles geltende Recht: i n diesem Sinn spreche man auch von „English, British, South-African L a w " . Was das niederländische und das französische Rechtssystem betreffe, so könne man an Bestimmungen wie A r t . 6 des Code Civil denken: "On ne peut déroger, par des conventions particulières, aux lois qui intéressent Tordre public et les bonnes moers." Einen gleichen Sinn habe auch der Gesetzesbegriff i n § 11 des niederländischen Gesetzes vom 15. 5. 1829, wonach die Gerichte nach dem Gesetz („wet") zu entscheiden haben. I n diesem Zusammenhang würden die Begriffe „loi, law, wet" eindeutig auch die von den unteren Gesetzsgebungsorganen erlassenen Bestimmungen umfassen. Es erscheine deshalb undenkbar, daß die M R K m i t diesen Begriffen nur ein formelles Gesetz meine. Verordnungen wie i m vorliegenden Fall würden nicht nur i n den Niederlanden, sondern auch i n anderen Ländern üblicherweise von lokalen oder regionalen Behörden erlassen, u m lokale oder regionale Bedürfnisse zu befriedigen 16 .

§ 2 Formen gesetzlich vorgesehener Einschränkungen

Gesetzlich vorgesehene grundrechtseinschränkende Maßnahmen können nach der hier vertretenen Auffassung demnach sein: 1. Jeder i m förmlichen Gesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß zustande gekommene Willensakt der Gesetzgebungsorgane ohne Rücksicht auf seinen materiellen Charakter 1 7 . 2. Jeder innerstaatlich gültige abstrakt-generelle Rechtssatz, dessen Subjekte Rechtspersonen sind 1 8 , gleich ob es sich u m geschriebenes oder ungeschriebenes Recht (Gewohnheitsrecht) handelt. 3. Sonstige Maßnahmen der Exekutive oder der Judikative, die ihre Ermächtigungsgrundlage i n einem materiellen oder formellen Rechtssatz i. S. d. Ziff. 1 und 2 haben.

" I n diesem Sinne auch H R N J 1967,760 ff. 17 Vgl. die Definition von Wolff § 24 I I e) 1. Gesetze i m formellen sind demnach auch Individualmaßnahmen des Gesetzgebers (Maßnahmegesetze, I n d i vidualgesetze). 18 Vgl. Wolff % 2411c).

§ 2 Artikel 14

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Kapitel I X

Die generellen Einschränkungsregeln der MRK § 1 Generelle Eingriffs- und Gewährleistungsschranken

Neben den bereits erwähnten Art. 15 und 641 enthalten auch die A r t . 14 und 16-18 generelle Einschränkungsregeln 2 : Es lassen sich hierbei zwei Kategorien unterscheiden. 1. Wie die A r t . 15 und 64 erweitern auch die Art. 16 (Beschränkung der politischen Tätigkeit von Ausländern) und 17 (Verbot des Mißbrauchs der garantierten Hechte)3 den bereits i n den einzelnen Grundrechten, vor allem auch i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 festgelegten Rahmen, innerhalb dessen die Staaten i n zulässiger Weise Grundrechte einschränken können. Es handelt sich bei diesen A r t i k e l n u m generelle Gewährleistungsschranken. 2. Dagegen setzen die Art. 14 (Diskriminierungsverbot), 17 (in seiner Funktion als staatsgerichtetes Mißbrauchs verbot) und 18 (détournement de pouvoir) der staatlichen Eingriffs- und Regelungskompetenz zusätzliche Schranken, die die speziellen Eingriffsschranken ergänzen oder sogar noch über sie hinausgehen. Diese A r t i k e l haben somit die Funktion von generellen Eingriffsschranken. § 2 Artikel 14«

a) „ Akzessorietät"

des Gleichheitssatzes

Nach seinem eindeutigen Wortlaut entspricht Art. 14 zumindest nicht insofern dem aus dem nationalen Verfassungsrecht bekannten und auch i n einige internationale grundrechtssichernde Abkommen aufgenommenen allgemeinen Gleichheitssatz, als er die Staaten lediglich verpflichtet, den „Genuß der i n der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten" ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe usw. zu gewährleisten. Ein derartiger, nur für bestimmte Rechte geltender, „akzessorischer" Gleichheitssatz findet sich z. B. auch schon i n A r t . 1 i) des Entwurfs der 1 Vgl. oben Kap. I V . « Vgl. dazu Partsch S. 302/303. 3 Vgl. oben Kap. I § 3 A n m . 8. 4 Die englische Fassung lautet: " T h e enjoyment of the rights and freedoms set f o r t h i n this Convention shall be secured w i t h o u t discrimination on any ground such as sex, race, colour, language, religion, political or other opinion, national or social origin, association w i t h a national m i n o r i t y , property, b i r t h or other status."

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Europäischen Bewegung und i n Art. 2 Abs. 1 der Menschenrechtsdeklaration der VN. I m Gegensatz zur M R K wurde dieser akzessorische Gleichheitssatz i n beiden Fällen aber noch durch einen allgemeinen Gleichheitssatz ergänzt 5 . Die Gründe für die Nichtaufnahme eines solchen i n die M R K dürften auf der Hand liegen: man hätte sich dadurch zu der beschränkten Zielsetzung der MRK, nur einige für besonders wichtig gehaltene Grundrechte zu garantieren, i n Widerspruch gesetzt 6 . Von dieser Akzessorietät des A r t . 14 gehen auch der EGH und die Kommission i n ständiger Rechtsprechung aus. So hat die Komm. A r t . 14 des öfteren dann für unanwendbar erklärt, wenn von den Beschwerdeführern eine Ungleichbehandlung i n einem Bereich gerügt wurde, der von der M R K nicht geschützt wird, z. B. i n den Fällen der Berufsfreiheit, der Ausübung öffentlicher Ämter, der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen oder sogar eines Anspruchs auf bezahlten Urlaub 7 . I m übrigen verpflichtet A r t . 14 die Staaten aber nicht nur zur formellen Rechtsanwendungsgleichheit 8 , fordert also nicht nur die gleiche A n wendung der Rechtssätze durch die Staatsgewalt, sondern darüber hinaus auch schon die inhaltliche Gleichbehandlung, also die am Gleichheitssatz orientierte Ausgestaltung der Rechtssätze selbst: Der gesetzliche Tatbestand muß also einmal die daran geknüpfte Rechtsfolge sachlich rechtfertigen, darf, m. a. W., nicht w i l l k ü r l i c h sein 9 . Darüber hinaus verbietet das materielle Gleichbehandlungsgebot aber auch die ungleiche Behandlung von Trägern wesentlich gleicher Interessen 10 . b) Kriterien

der verbotenen

Diskriminierung

Somit bleibt die Frage zu beantworten, welches die von A r t . 14 verbotenen Unterscheidungen bei der Rechtsgestaltung und der Rechtsanwendung sind. Die deutsche Textfassung legt fälschlicherweise den Gedanken nahe, als zähle Art. 14 abschließend alle unzulässigen Unterscheidungsmerkmale auf 1 1 . Angesichts der authentischen Textfassungen 12 dürfte aber 5

A r t . 1 j) des E n t w u r f s ; A r t . 7 der Deklaration des V N . Vgl. Partsch S. 324 (Anm. 295). 7 Vgl. Y B 1,198; I, 251; I, 205; I I 386. 8 Also der Gleichheit „ v o r dem Gesetz" i m eigentlichen Sinn. 9 V o n Wolff als formeller, gesetzesimmanenter Gleichheitssatz bezeichnet (Wolff § 60 I b 3). 10 Vgl. Wolff §60 I b ) 3: Gleichheitssatz i n materieller, „gesetzestranszendenter" Hinsicht. 11 „Der Genuß d e r . . . Rechte . . . muß ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse usw gewährleistet werden." Diesem I r r t u m unterliegt offenbar auch Schorn S. 282. 6

§ 2 Artikel 14

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außer Zweifel stehen, daß die aufgeführten Kriterien nur Beispielscharakter haben, also nur „Hegelbeispiele" von Unterscheidungsmerkmalen sind, bei denen der Verdacht diskriminierender Behandlung besteht. Dieser Katalog steht deshalb nicht der Annahme entgegen, daß auch eine unterschiedliche Behandlung auf Grund anderer, darin nicht aufgeführter Kriterien einen Verstoß gegen A r t . 14 darstellen kann. Umgekehrt darf die Vorschrift aber auch nicht so verstanden werden, als stelle jede Unterscheidung nach den genannten Kriterien grundsätzlich eine Diskriminierung dar: aus Sinn und Zweck des A r t . 14 ist also zu schließen, daß eine Unterscheidung nur dann, aber auch immer dann gegen das Diskriminierungsverbot verstößt, wenn sie i m Hinblick auf die geregelte Materie unvernünftig, sachfremd oder kurz willkürlich erscheint. So kann es i m Einzelfall durchaus legitim sein, z. B. nach dem Geschlecht, also einem von Art. 14 erwähnten Kriterium, zu unterscheiden, wenn dies sachgerecht ist 1 3 . Die gleichen Grundsätze gelten natürlich auch umgekehrt für die Gleichbehandlung von Trägern wesentlich verschiedener Interessen, d. h. also auch für die Fälle, wo die Verschiedenheit der Interessen auch eine unterschiedliche Behandlung gebietet. Der Katalog der i n A r t . 14 aufgezählten Unterscheidungsmerkmale ist deshalb i m Grunde überflüssig, besagt doch die Unterscheidung nach einem dieser Merkmale für sich gesehen noch gar nichts darüber, ob es sich dabei auch u m eine verbotene Ungleichbehandlung handelt. Diese Aufzählung kann deshalb allenfalls eine A r t „Signalfunktion" haben, also bedeuten, daß die Verwendung eines der genannten Kriterien i m allgemeinen eine (verbotene) Diskriminierung indiziert. Letztlich entscheidend ist aber allein das Verhältnis des Unterscheidungsmerkmals zu dem Sachverhalt, auf den es angewendet wird. Eine Verletzung des A r t . 14 liegt einmal dann vor, wenn die Andersbehandlung „ w i l l k ü r l i c h " erscheint. „ W i l l k ü r " bedeutet i n diesem Zusammenhang das Fehlen eines vernünftigen, sich aus der Natur der Sache ergebenden oder sonst sachlich einleuchtenden Grundes für die unterschiedliche Behandlung wesentlich gleicher Sachverhalte 14 . Dieser Begriff ist also i n erster Linie objektiv zu verstehen und bezeichnet nicht nur die subjektive Einstellung des Gesetzgebers oder eines Organs der Rechtsprechung oder Verwaltung. Uber den Maßstab, anhand dessen das Vorliegen einer sachgerechten oder sachfremden, willkürlichen Unterscheidung beurteilt werden soll, sagt A r t . 14 selbst nichts. Aus anderen Bestimmungen der M R K ergibt 12 „ . . . on any ground such as . . d e u t l i c h e r w o h l noch das franz. „notammentZum Vergleich beider Texte siehe auch C E D H série A, 1968 S. 34 (Belg. Sprachenfälle). 13 Z. B. bei der auf Männer beschränkten allg. Wehrpflicht. 14 Vgl. dazu z. B. B V G 17, 319 zu A r t . 3 GG.

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sich dies allenfalls mittelbar und auch nur i n einigen speziellen Fällen. So muß z. B. aus A r t . 5 Abs. 1 d (Haft eines Minderjährigen), aus A r t . 11 Abs. 2 S. 2 (Einschränkungen für Mitglieder der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung) und Art. 12 (Heiratsalter) geschlossen werden, daß Einschränkungen nach den i n diesen A r t i k e l n genannten K r i terien keine verbotene Andersbehandlung wegen eines „anderen Status" i. S. d. Art. 14 sein können 1 5 . Es ist kaum anzunehmen, daß A r t . 14 einen von dem traditionellen Gleichheitssatz, wie er auch i n den nationalen Verfassungen der M i t gliedsstaaten zu finden ist, abweichenden Inhalt hat. M i t der Kommission ist deshalb davon auszugehen, daß A r t . 14 m i t Ausnahme seiner beschränkten, nur akzessorischen Geltung i m wesentlichen m i t A r t . 3 des GG übereinstimmt 1 6 . Es kann hier deshalb ohne Bedenken auf die Rechtsprechung des B V G hinsichtlich der Frage, wann Sachverhalte wesentlich gleich sind, wann sie ungleich behandelt werden, und wann diese Ungleichbehandlung willkürlich ist, zurückgegriffen werden. Für die erste Frage hat danach als Richtschnur zu gelten, ob für eine am Gerechtigkeitsdenken orientierte Betrachtungsweise die tatsächlichen Ungleichheiten i n dem jeweiligen Zusammenhang so bedeutsam sind, daß der Gesetzgeber sie bei seiner Regelung beachten muß 1 7 . Die Ungleichbehandlung muß nicht notwendig bereits am Wortlaut des Gesetzestextes oder der Behördenentscheidung erkennbar sein; auch wenn sich erst aus der praktischen Anwendung eine offenbare Ungleichheit ergibt, die gerade auf die rechtliche Gestaltung zurückzuführen ist, kann ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vorliegen 1 8 . Allerdings kommt es auch auf die Intensität der Ungleichbehandlung an: so ist eine nur unbeträchtliche Benachteiligung als Nebenfolge einer an sich unbedenklichen Regelung noch nicht erheblich unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgebots. Ebenso sind i. d. R. nicht erhebliche Ungleichbehandlungen hinzunehmen, wenn sie die Folge einer notwendigerweise generalisierenden gesetzlichen Regelung sind 1 9 . Die Kommission sucht die Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Unterscheidungen m i t den Begriffen der erlaubten Differenzierung und der verbotenen Diskriminierung vorzunehmen: "Considérant en outre que l'article 14 de la Convention, relatif à la discrimination quant au sexe, n'exclut pas la possibilité, pour une Haute Partie Contractante, cT opérer une différençation entre les sexes dans la mesure 15

Vgl. Partsch, S. 326 A n m . 302. Vgl. Y B I, 229 ff . 17 Vgl. B V G 1, 264 ff., (276). 18 Vgl. B V G 8,51 ff. (64). 19 Vgl. zur Grenzziehung B V G 17,1,23 ff.

§ 2 Artikel 14

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qu'elle prend à l'égard de l'homosexualité pour la protection de la santé ou de la morale conformément à l'article 8 para. 2 de la Convention 2 0 ."

Was eine Differenzierung von einer Diskriminierung unterscheidet, w i r d später i n dem Bericht i m Falle Grandrath/BRD an den Ministerrat 2 1 erläutert: Eine Diskriminierung liege dann vor, wenn von zwei vergleichbaren Gruppen oder Kategorien von Individuen eine unterschiedlich und schlechter behandelt werde, und die Gründe für die Andersbehandlung nicht akzeptabel seien 22 . Auch der E G H 2 3 geht zutreffenderweise davon aus, daß A r t . 14 nicht jede unterschiedliche Behandlung bei der Ausübung der i n der M R K garantierten Rechte und Freiheiten verbietet. Der Grundsatz der Gleichbehandlung sei nur dann verletzt, wenn die Unterscheidung (distinction) keine objektiv vernünftige Rechtfertigung hat. Das Vorliegen einer solchen Rechtfertigung sei nach den Grundsätzen und Zielsetzungen zu beurteilen, die normalerweise i n demokratischen Staaten anzutreffen sind 2 4 . c)Anwendung des Art

14 auf „an sich " zulässige Einschränkungen

Diese Begründung scheint i n gewisser Hinsicht einer weiteren These zu widersprechen, die der EGH zuvor i n demselben U r t e i l aufstellt: danach soll die Tatsache, daß A r t . 14 keine selbständige Bedeutung hat und sich nur auf die i n der M R K garantierten Rechte und Freiheiten bezieht, nicht auch bedeuten, daß man erst eine Verletzung dieser Rechte und Freiheiten feststellen müsse, bevor A r t . 14 zur Anwendung kommen kann. Vielmehr widerspreche eine Maßnahme dann A r t . 14, wenn sie zwar für sich betrachtet den Erfordernissen des Artikels entspricht, der das fragliche Recht festlegt, i n Verbindung m i t Art. 14 betrachtet aber diskriminierend ist: " . . . a measure which i n itself is i n conformity w i t h the requirements of the A r t i c l e enshrining the r i g h t or freedom i n question may . . . infringe this A r t i c l e w h e n read i n conjunction w i t h A r t i c l e 14 for the reason that i t is of discriminatory nature."

Nun finden aber Grundrechtseinschränkungen nach den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 doch ebenfalls, auf einen Nenner gebracht, ihre Rechtfertigung „ i n the aim and principles which normally prevail i n democratic so20

Vgl. Y B 1,229. Y B X , 627 ff. 22 Der franz. T e x t spricht zwar i n Anlehnung an die M R - D e k l a r a t i o n der V N von „distinction", doch w u r d e i n der endgültigen englischen Fassung das entsprechende „ w i t h o u t any distinction" des Entwurfs der Beratenden V e r sammlung durch das deutlichere, aus dem allg. Völkerrecht bekannte W o r t „discrimination" ersetzt. 23 „Belgian Linguistic Cases" ECHR1968 Sect. I B para. 9. 24 "The existence of such justification must be assessed i n relation to the a i m and principles which normally prevail i n democratic societies." 21

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cieties" 25 , wären demnach also nach denselben Grundsätzen zu beurteilen wie die Frage, ob es sich u m eine differenzierende oder aber eine (verbotene) diskriminierende Unterscheidung handelt. Eine Grundrechtseinschränkung kann aber durchaus für sich betrachtet „ i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein und dennoch gegen den weiteren rechtsstaatlichen Grundsatz des Gebots der Gleichbehandlung verstoßen: i n den Art. 8 - 1 1 Abs. 2 ist ja nur die Frage angesprochen, ob eine konkrete Maßnahme für sich betrachtet demokratischen Grundsätzen entspricht. Bei dieser gewissermaßen „isolierten" Prüfimg w i r d aber noch nicht berücksichtigt, ob sich ein Staat, der eine solche Maßnahme i m öffentlichen Interesse für erforderlich hält, nicht deshalb dem V o r w u r f der Diskriminierung aussetzt, weil er bei anderen Trägern wesentlich gleicher Interessen derartige Beschränkungen der Grundrechtsausübung nicht für geboten erachtet. Eine grundrechtseinschränk^nde Maßnahme kann demnach gegen A r t . 14 verstoßen, auch wenn sie sich i n dem von dem eingeschränkten Grundrecht selbst gesteckten Rahmein zulässiger Einschränkungen hält 2 6 . Diese Eigenständigkeit des A r t . 14 hat natürlich vor allem für die A r t i k e l der M R K Bedeutung, die, wie z. B. A r t . 12, keine materiellen Eingriffsschranken aufstellen, sondern lediglich die Gesetzesbegründetheit der Regelung oder Einschränkung fordern 2 7 . Aber auch den speziellen Eingriffsschranken der Grundrechte, die die staatliche Eingriffskompetenz auch materiell beschränken, gibt A r t . 14 eine zusätzliche rechtliche Qualität. Zwar kann sich eine verbotene Diskriminierung nach A r t . 14 m i t der Unzulässigkeit der Maßnahme auch schon nach den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 überschneiden, doch folgt dann die Konventionswidrigkeit der Maßnahme nicht erst aus A r t . 14, sondern bereits aus den Abs. 2 dieser A r t i k e l 2 8 . Gerade der Fall Grandrath hat aber gezeigt, daß das Diskriminierungsverbot auch selbständige Bedeutung erlangen kann: Die Kommission war hier zu Recht der Ansicht 2 9 , daß die Mitgliedsstaaten durch keine Bestim25

Vgl. unten A T Kap. X I . Auch die K o m m , bejahte i n ihrem Bericht i m F a l l Grandrath (YB X , 630 ff., 678 ff.) erstmals die Möglichkeit eines Verstoßes gegen A r t . 14 auch i m Rahmen an sich zulässiger Grundrechtseinschränkungen, nachdem sie zuvor, soweit ersichtlich, immer die Meinung vertreten hatte, daß innerhalb der E i n schränkungsklauseln differenziert werden darf (vgl. dazu auch Partsch S. 326). 27 So würde z. B. ein Eheverbot für Mitglieder des öffentlichen Dienstes noch nicht gegen Art. 12 als solchen verstoßen (so aber Pfeifer S. 442), w o h l aber gegen Art. 12 i. V. m. Art. 14. 28 Unrichtig deshalb Hodler S. 40, der A r t . 14 als juristisches N u l l u m bezeichnet u n d i h m n u r eine deklaratorische F u n k t i o n zugestehen w i l l , da er n u r Diskriminierungen verbiete, die ohnehin m i t den Menschenrechten unvereinbar seien. 20 Wegen A r t . 4 Abs. 3 ist die Kriegs- u n d Ersatzdienstpflicht aus dem Schutzbereich des A r t . 9 Abs. 1 auszuklammern (vgl. unten B T Kap. I I § 4 26

§ 2 Artikel 14

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mung der Konvention gehalten sind, bei Aufstellung einer allgemeinen Wehrpflicht Ausnahmen für Kriegsdienstverweigerer aus religiösen-oder Gewissensgründen vorzusehen oder diese Personen gar darüber hinaus von der Ableistung auch des zivilen Ersatzdienstes zu befreien. Auch die Ersatzdienstpflicht für Geistliche steht demnach i n Einklang m i t den A r t . 4 Abs. 3 und 9. Eine weitere Frage war es aber, ob ein Staat, der f r e i w i l l i g 3 0 Geistliche auch von der Ersatzdienstpflicht freistellt, wegen A r t . 14 i. V. m. A r t . 4 Abs. 3 verpflichtet ist, dieses Recht auf Freistellung auch ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Konfessionen oder religiösen Richtungen zu gewähren. Die Kommission geht offensichtlich davon aus, daß eine derartige Unterscheidung nach der Religionszugehörigkeit nicht sachgerecht und deshalb diskriminierend wäre, verneint aber ausdrücklich die Frage, ob die Gesetzgebungsorgane der BRD i n diesem Fall auch tatsächlich von dieser Unterscheidung ausgegangen sind. Vielmehr sei nach dem betr. Gesetz das entscheidende Kriterium, ob der Geistliche hauptamtlich tätig ist oder nicht. Es sei eine zulässige Differenzierung, derart zwischen verschiedenen Kategorien von Geistlichen zu unterscheiden, u m unter Abwägung gegen das Erfordernis der Aufrechterhaltung des Gottesdienstes i n den Gemeinden die Aushöhlung der allgemeinen Wehrpflicht zu vermeiden. Die Ersatzdienstpflicht für den Beschwerdeführer war demnach sowohl nach A r t . 4 Abs. 3 als auch i. V. m. Art. 14 rechtmäßig. Der EGH scheint A r t . 14 aber noch eine über das bisher Erörterte hinausgehende Bedeutung geben zu wollen: eine differenzierende, d. h. an sich zulässige Regelung müsse nicht nur eine objektiv vernünftige Rechtfertigung haben und ein legitimes Ziel verfolgen, sondern verstoße auch dann gegen A r t 14, wenn es offenkundig ist, daß das eingesetzte M i t t e l außer Verhältnis steht zu dem angestrebten Zweck ( " . . . i f i t is clearly established that there is no reasonable relationship of proportionality between the means employed and the aim sought to be realized") 31 . Eine solche Auslegung des Art. 14 scheint aber weder vertretbar noch überhaupt erforderlich zu sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat zwar allgemeine Bedeutung für die M R K 3 2 , doch kann das Diskriminierungsverbot kaum als „Sitz" dieses Prinzips angesehen werden: unverhältnismäßige Maßnahmen, die i n durch die Art. 8 - 1 1 garantierte Rechte eingreifen, verstoßen i. d. R. schon gegen die Absätze 2 dieser BeA n m . 33). Da ein Recht auf Achtung seiner Gewissens- u n d Religionsfreiheit i m Bezug auf den Kriegs- u n d Ersatzdienst v o n der M R K somit nicht garantiert w i r d , scheidet auch eine A n w e n d u n g des A r t . 9 i. V. m. A r t . 14 aus. 80 Vgl. A r t . 60: auch f ü r gegenüber der M R K günstigere nationale Regelungen gilt A r t . 14, sofern sie n u r den Schutzbereich eines der Rechte der K o n v e n t i o n betreffen. 31 E G H (vgl. oben Kap. I X § 2 c) A n m . 23) para. 10 of The L a w . 32 Vgl. oben Kap. V I I .

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Stimmungen, so daß eine weitere Prüfung i n diesem Punkt anhand der Kriterien des A r t . 14 überflüssig ist. Aber auch bei den Rechten, deren positiver Inhalt sich nicht aus dem Verhältnis detaillierter Einschränkungsregeln zu dem Schutzbereich der Grundrechtsnorm ergibt, sondern erst durch komplizierte Auslegung ermittelt werden muß 3 3 , dürfte der auch hier von den Behörden zu beachtende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eher aus dem für die M R K und ihre Zusatzprotokolle allgemein gültigen Prinzip der „demokratischen Gesellschaft" herzuleiten sein als aus A r t . 14 34 . § 3 Artikel 1635

A r t . 16 ist nicht, wie man nach dem deutschen Text annehmen könnte 3 6 , eine bloße Auslegungsregel, sondern eine echte materielle Einschränkung 3 7 der Grundrechtsausübung der A r t . 10, 11 und 14, ein „Vorbehalt"38. Die i n den authentischen Texten verwendeten Begriffe „regarded/ considéré" bringen diese Funktion des A r t . 16 als Gewährleistungsschranke besser zum Ausdruck. Nach dieser Bestimmung können die Staaten die Meinungs- und Informationsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit von Ausländern ohne Bindung an die Voraussetzungen des jeweiligen Absatzes 2 dieser A r t i k e l einschränken, sofern es sich u m die politische Tätigkeit von Ausländern handelt: es bedarf dazu also nicht einmal einer gesetzlichen Grundlage 39 . Außerdem ist es nach dieser Bestimmung zulässig, die Ausübung der i n der M R K garantierten Rechte bei Ausländern anders zu regeln als bei Inländern, obwohl A r t . 14 Unterscheidungen nach der nationalen Herkunft verbietet. A r t . 16 ist auf alle Personen anwendbar, die nicht Staatsangehörige des betreffenden Staates sind, gilt also sowohl für Personen m i t fremder Staatsangehörigkeit als auch für Staatenlose 40 . K r a f t A r t . 16 könnten die Staaten sogar verhindern, daß sich Ausländer, also auch Angehörige eines 33

Z. B. A r t . 2 des 1. ZP (Recht auf Eigentum). Vgl. unten A T Kap. X I . 35 A r t . 16 lautet i n der englischen Fassung: " N o t h i n g i n A r t . 10, 11 and 14 shall be regarded as preventing the H i g h Contracting States from imposing restrictions on the political activity of aliens." 38 „ K e i n e . . . B e s t i m m u n g . . . darf so ausgelegt werden ..." 87 Guradze, K o n v . S. 199 ff., 200. 38 Partsch S. 312. 39 A . M. Pfeifer S. 441 : die Beschränkung der politischen Tätigkeit von Ausländern „könne freilich mangels einer anderen Ermächtigung n u r durch ein auf A r t . 11 Abs. 2 E K gestütztes einfaches Gesetz geschehen". 40 Die Ausdrücke „étrangers / aliens" umfassen alle sich i m I n l a n d aufhaltenden, nicht naturalisierten Personen. 34

§ Artikel 1

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anderen Mitgliedsstaats der MRK, für die europäische Einigung oder die Verwirklichung anderer, i n der Präambel der Konvention genannter Ziele einsetzen. Auch wenn dies m i t dem Geist der M R K schwerlich vereinbar ist 4 1 , so dürfte die Grenze des Zulässigen doch erst i n A r t . 17 zu suchen sein 42 . § 4 Artikel 1743

A r t . 17 hat sowohl die Funktion einer generellen Gewährleistungsschranke 44 als auch die einer Eingriffschranke. a) Das Mißbrauchsverbot

als Gewährleistungsschranke

Indem diese Bestimmung einmal die Voraussetzungen nennt, unter denen die Staaten die Grundrechte der M R K einschränken können, ohne an die speziellen oder die sonstigen generellen Eingriffsschranken der Konvention gebunden zu sein, scheint sie den individuellen Rechtsschutz weiter zugunsten der staatlichen Allmacht zu verkürzen. Seinem Sinn und Zweck nach dient A r t . 17 aber m i t dem Motto: keine Freiheit den Feinden der Freiheit! — nicht, wie es formal gesehen scheinen mag, den Souveränitätsinteressen der Staaten, sondern dem Schutz der Grundrechtsträger selbst. Das Verbot jeglicher irgendwie auf Abschaffung oder unzulässige Beschränkung der i n der M R K garantierten Rechte und Freiheiten gerichteter Betätigung soll eine zusätzliche Sicherung dafür darstellen, daß der Grundrechtsschutz für die Mehrheit derer, die verantwortungsvoll von diesen Rechten Gebrauch macht, erhalten bleibt, auch wenn dies nur u m den Preis von Grundrechtsbeschränkungen für diejenigen möglich sein sollte, die diese Grundrechte zu einer konventionsfeindlichen und damit auch freiheitsfeindlichen Tätigkeit mißbrauchen wollen. Seinem Sinn und Zweck nach darf Art. 17 nicht, wie es nach dem Wortlaut zunächst geboten scheint, auf ein Verbot des Mißbrauchs nur der i n der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten beschränkt werden: sein Schutz gilt vielmehr zugunsten der freiheitlich demokratischen Grundordnung insgesamt. 41

Vgl. Partsch S. 313. Vgl. unten A T Kap. I X § 4. 43 Die englische Fassung lautet: " N o t h i n g i n this Convention may be i n t e r preted as i m p l y i n g for any State, group or person any right to engage i n any activity or perform any act aimed at the destruction of any of these rights and freedoms set forth herein or at their l i m i t a t i o n to a greater extent than is provided for i n the Convention." 44 Wollweber , Diss. S. 117 bezeichnet A r t . 17 als potentielle Grundrechtsschranke, da sie (für A r t . 8) n u r a k u t werde, w e n n der Grundrechtsträger die Voraussetzungen dieser Bestimmung e r f ü l l t : so gesehen sind aber alle G r u n d rechtsschranken „potentiell". 42

4 Hoffmann-Remy

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Auch die Kommission hat i n ihrer ersten Entscheidung zu A r t 17 45 die Notwendigkeit einer insofern extensiven Auslegung erkannt. Nach ihrer Ansicht hat A r t . 17 das Ziel, die Rechte der M R K durch „protection du libre fonctionnement des institutions démocratiques" zu schützen. Damit ist der entscheidende Gesichtspunkt angesprochen: der Bestand der i n der M R K garantierten Rechte und Freiheiten hängt wesentlich auch von dem Erhalt und dem Funktionieren derjenigen demokratischen Institutionen ab, die weder i n der M R K noch i n den Protokollen ausdrücklich garantiert sind 4 6 . Die demokratische Komponente läßt sich, auch sofern sie nicht oder nicht ausdrücklich i n der Konvention enthalten ist, eben nicht von der freiheitlichen trennen 4 7 . Die demokratische Grundordnung ist Voraussetzung für den Bestand der von der M R K garantierten Individualrechte. Ihre Beseitigung hat meist auch den Verlust dieser Rechte unmittelbar i m Gefolge; beide gilt es demnach auf der Grundlage des A r t . 17 gegen die Feinde der Demokratie zu schützen 48 . Der sehr allgemein gehaltene Wortlaut des A r t . 17 läßt offen, von welcher Qualität die Tätigkeit oder Handlung 4 9 sein muß, die auf A b schaffung bzw. Verkürzung der i n der M R K garantierten Rechte und Freiheiten gerichtet ist, u m „mißbräuchlich" i. S. d. Bestimmung zu sein. Pinto 5 0 meint deshalb, die Autoren hätten es nicht gewagt, klar und deutlich zu sagen, welche Partei, politische A k t i v i t ä t oder subversive Meinung danach unzulässig sein soll. Den Begriff der Handlung bzw. Tätigkeit w i l l er deshalb offenbar eng verstanden wissen: die Kommission hätte bei der gebotenen restriktiven Auslegung i n der KPD-Entscheidung zwischen „actes" bzw. „activités" einerseits und bloßer (Meinungs-) Propaganda andererseits, sei sie auch subversiv, unterscheiden müssen 51 . Es fragt sich also, ob eine aktiv-kämpferische Betätigung m i t dem Ziel, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu untergraben, vorliegen muß oder ob es ausreicht, daß sich dieser „ K a m p f " auf den verbalen Bereich beschränkt. 45 Y B I, 222 (KPD-Entscheidung). Die Kommission weist hierbei auch auf die Protokolle der ersten Sitzung der Beratenden Versammlung h i n : " I l s'agit d'empêcher que les courants totalitaires puissent exploiter en leur faveur les principes posés par la Convention, c'est à dire invoquer les droits de liberté pour supprimer les Droits de l'Homme." 46 Auch A r t . 3 Z P (freie u n d geheime Wahlen) betrifft n u r einen Teilaspekt einer solchen Institutsgarantie. 47 Vgl. Herzog, S. 205. 48 Auch aus den Vorarbeiten ergibt sich, daß die A u t o r e n der M R K ganz allgemein den „ordre public interne" der Mitgliedstaaten vor radikalen K r ä f ten schützen wollten. 49 „une activité ou . . . u n acte / any activity o r . . . any act". 50 Pinto S. 108. 51 Pinto S. 109.

§ 4 Artikel 17

51

Auch Hodler 5 2 hat gegenüber einer wörtlichen Auslegung des A r t . 17 insofern gewisse Bedenken, als i n dieser Bestimmung keinerlei Verhältnismäßigkeit zwischen den mißbrauchten und den angegriffenen Grundrechten vorgesehen sei: auch Bestrebungen, die den Grundrechtskatalog i m wesentlichen unangetastet lassen wollten und nur geringfügige Ä n derungen beabsichtigten, seien danach von vornherein konventionswidrig. Er glaubt deshalb, A r t . 17 einschränkend dahingehend interpretieren zu müssen, daß seine Anwendbarkeit auf die Abwehr der „Usurpationsversuche radikaler Minderheiten", m i t h i n von Angriffen auf die Grundlagen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, den Verfassungskern also, beschränkt bleibt. Bloße Vorschläge einer akademischen oder politischen Versammlung zur Abänderung irgendwelcher Grundrechtsnormen könnten dagegen nicht die Verwirkung des „mißbrauchten" Grundrechts zur Folge haben. A r t . 17 schütze nicht jeden Buchstaben der Konvention, sondern nur die tragenden Grundsätze. Angesichts des englischen Textes scheint zumindest letztere These kaum noch vertretbar zu sein, heißt es dort doch ausdrücklich: " . . . the destruction of any of these rights . . . or . .their limitation . E s erscheint aber auch i n Anbetracht der Konsequenzen, die eine konventionsfeindliche Tätigkeit nach sich zieht, keineswegs zu weitgehend, A r t . 17 auf der Grundlage einer dem Wortlaut folgenden Auslegung 5 3 auch auf die Personen oder Gruppen Anwendung finden zu lassen, die sich lediglich verbal durch Meinungsäußerung und Übermittlung von Gedanken und I n formationen für die Abschaffung oder Verkürzung der Rechte und Freiheiten der M R K einsetzen. A r t . 17 geht ja nicht so weit, demjenigen, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung untergraben w i l l , die allgemeine Garantie der Rechte und Freiheiten der M R K zu entziehen, sondern w i l l nur verhindern, daß Personen oder Gruppen unter Berufung auf ein oder mehrere bestimmte Rechte der Konvention Handlungen begehen können, die auf Verkürzung oder Vernichtung dieser Rechte und Freiheiten gerichtet sind. Es gelten also nur die jeweils „mißbräuchlich" i n Anspruch genommenen Rechte als v e r w i r k t und auch sie nicht absolut, sondern nur i m konkreten Bezug zu einer konventionsfeindlichen Tätigkeit: dies bedeutet nichts anderes als die Konkretisierung des als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannten Verbots mißbräuchlicher Rechtsausübung 54 . 52

Hodler S. 47. Der französische Text ist m i t der Verwendung des unbestimmten A r t i k e l s („une activité / un acte") zwar weniger deutlich als die englische Fassung, widerspricht i h r aber nicht. 54 A r t . 17 impliziert deshalb eigentlich weniger die Möglichkeit, ein G r u n d recht einzuschränken, als vielmehr den Verlust des Rechts, es geltend zu machen. Nach Vasak, Konv. § 4 Nr. 134 S. 71 ff. soll die Kommission sogar niemals gehindert sein, die Einhaltung der verfassungsmäßigen Rechte der A r t . 5 u n d 6 zu kontrollieren, da A r t . 17 n u r f ü r „ d r o i t positif " gelte. 53

4*

52

AT — Kap. I X : Die generellen Einschränkungsregeln der MRK

Es entspricht auch durchaus der auf aktive Verteidigung der Demokratie ausgerichteten Gesamtkonzeption der MRK, daß demokratiefeindlichen Betätigungen jeder A r t der Schutz der Konvention versagt werden muß 5 6 ; eine Ausklammerung des Bereichs bloßer Propaganda ist deshalb nicht angebracht. Eine unbillige Ausweitung des Anwendungsbereichs des A r t . 17 w i r d i m übrigen schon dadurch verhindert, daß die konventionswidrige Betätigung auf die Abschaffung oder Verkürzung der Rechte und Freiheiten der M R K hinzielen muß: bloße theoretische „akademische" Erörterungen genügen also keinesfalls, der Grundrechtsträger muß auch tatsächlich und ernsthaft das Ziel verfolgen, den Rechtsschutz der Konvention zu schmälern 56 . Zusammenfassend kann demnach gesagt werden, daß A r t . 17 i n seiner Funktion als Gewährleistungsschranke es den Staaten gestattet, Tätigkeiten jeder A r t und Form zu bekämpfen, die auf die Untergrabung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerichtet sind, ohne bei den dabei für erforderlich gehaltenen Maßnahmen an die Verpflichtung zur Achtung der dabei mißbräuchlich i n Anspruch genommenen Rechte gebunden zu sein. b) Das Mißbrauchsverbot

als Eingriffsschranke

Das „Mißbrauchsverbot" des A r t . 17 gilt aber nicht nur für Individuen oder Gruppen von Individuen, sondern richtet sich auch an die Staatsgewalt. Ein Mißbrauch der Bestimmungen der Konvention durch den Staat kann natürlich nur i n dem Bereich i n Frage kommen, i n dem er nicht nur Adressat der negativen Abwehrrechte des Bürgers ist, sondern eine eigene Handlungskompetenz hat: i m Rahmen der den Staaten eingeräumten Kompetenz zur Einschränkung dieser Grundrechte. I n dieser Hinsicht unterscheidet sich A r t . 17 aber sachlich nicht von A r t . 18. Er enthält, soweit er sich an die Staaten wendet, ebenfalls, wenn auch i n anderer Fassung, das Verbot des „détournement de pouvoir" 5 7 . § 5 Artikel 18"

a) Zweckbindung und Verbot des Austausches der Eingriffsziele M i t dem Verbot, die nach der Konvention gestatteten Einschränkungen der darin garantierten Rechte und Freiheiten für andere als die vorgesehenen Zwecke anzuwenden, errichtet Art. 18 einmal eine „ M o t i v sperre" 59 . 55 Diesem Zweck hätte auch schon der Grundsatz der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft" i. V. m. der Präambel genügt. Vgl. auch Merle S. 714, der von dem „caractère superfétatoire" des A r t . 17 spricht. 56 any activity o r . . . any act aimed at..." 57 Vgl. Pinto S. 108 u n d unten A T Kap. I X § 5.

§

Artikel 1

53

Damit w i r d aber eigentlich nur noch einmal unterstrichen, was ohneh i n schon dem Aufbau und der Formulierung der einzelnen Grundrechte 60 zu entnehmen ist: die enge Zweckbestimmung 6 1 der bei den A r t . 2,4, 5 und 6, besonders aber auch den A r t . 8 - 1 1 jeweils zugelassenen Einschränkungen 62 . Diese Zweckbindung verbietet nicht nur den Austausch 68 der Einschränkungsziele, sondern erst recht auch die Einführung neuer, i n keiner Bestimmung der M R K enthaltener Eingriffsmotive. Einschränkungszweck ist i n diesem Zusammenhang nicht nur das subjektive Motiv des nationalen Rechtssetzungs- oder Rechtsanwendungsorgans: damit soll vielmehr auch und gerade eine objektive Zweckverfolgung angesprochen sein. Deshalb ist letztlich immer anhand einer objektiven Auslegung zu prüfen, welchem Zweck eine Einschränkung dient. A r t . 18 entspricht zwar dem aus dem französischen Verfassungsrecht bekannten Begriff „détournement de pouvoir", stellt aber i m Bereich internationaler Verträge wohl eine Neuerung dar 6 4 . b) Art. 18 als deklaratorische

Ergänzung

der Art.

8-12

66

Der Kommission obliegt dabei eine zweifache Aufgabe bei ihrer K o n trolle staatlicher Maßnahmen anhand der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2. Sie hat zu prüfen, ob sich 1. die Grundrechtseinschränkung i m Rahmen des Abs. 2 dieser A r t i k e l hält, also notwendig ist i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz eines der dort genannten Rechtsgüter (von der Kommission als „motif de l'ingérence bezeichnet) und ob 2. die Einschränkung auch einem der i n dieser Bestimmung vorgesehenen Zwecke dient, wie es A r t . 18 vorschreibt (hier spricht die K o m mission von „mobiles de l'ingérence"). Deutlicher als i n dem feinen Unterschied der Begriffe „motif-mobile" kommt i n der englischen Übersetzung der Kommissionsentscheidung zum Ausdruck, was gemeint ist 6 6 : Anhand der Kriterien der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 ist i n erster 58 A r t . 18 lautet i n der englischen Fassung: "The restrictions permitted under this Convention to the said rights and freedoms shall not be applied for any purpose other than those for which they have been prescribed."

69 60

61 62

Vgl. Herzog S. 209.

Vgl. dazu oben Kap. V.

Vgl. Herzog S. 209 Anm. 62.

I m Gegensatz zu Schorn, S. 297, sollen nach Guradze, Konv. S. 205 die A r t . 2 und 4 - 7 für A r t . 18 nicht i n Frage kommen. „Einschränkungen" i. S. d. A r t . 18 sind aber alle die „den Formulierungen beigefügten Schranken der Freiheitsrechte" (Partsch S. 304), also nicht nur die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2. 63 64

Vgl. Partsch S. 304.

Vgl. Vasak, Konv. S. 75. ' 6 5 Vgl. Y B I I I , 311 ff. 86 ". . .whereas i n exercising supervision the Commission must always bear i n m i n d not only the extent of such limits, which must not exceed the margin

54

AT — Kap. X : Implizierte Hechte und Freiheiten? Linie Umfang und Ausmaß der grundrechtseinschränkenden Maßnahme auf ihre Zulässigkeit hin zu überprüfen, anhand des A r t . 18 die Frage, welchem Ziel diese Maßnahme dient.

Diese letztere Frage muß allerdings zwangsläufig schon bei der Prüfung der Notwendigkeit der Maßnahme zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts, also i m Rahmen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2, beantwortet werden. I n dieser Hinsicht ist A r t . 18 tatsächlich nur deklaratorisch 67 . Die für die Schrankenkollision geltenden Grundsätze 68 werden durch Art. 18 selbstverständlich nicht beeinflußt, da das Verbot der Austauschbarkeit noch nicht einmal berührt wird, wenn z. B. die an sich unbeschränkbar gewährleistete Gedankenfreiheit des A r t . 9 m i t der Religionsausübung zusammentrifft und damit auch deren Schranken unterliegt 6 9 . Nach Ansicht Herzogs (aaO) bedarf A r t . 18 zur Sicherung seiner Effektivität darüber hinaus einer erweiternden Auslegung: auch der Erlaß völlig ungeeigneter oder völlig unnötiger Maßnahmen bzw. solcher, deren Zweck auch m i t milderen Mitteln erreicht werden könnte, sei m i t der betont ausgesprochenen Zweckbindung des Art. 18 unvereinbar. A r t . 18 dürfte aber genausowenig als Sitz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i n Frage kommen wie A r t . 14 70 .

Kapitel X

Die Wechselwirkung zwischen den Eingriffsschranken der MRK und den nicht konventionsgeschützten Grundrechten — Prinzip „implizierter Rechte und Freiheiten"? 1 Findet sich i n der M R K noch ein weiterer, ungeschriebener Grundsatz, der besagt, ob und i n welchem Umfang die Eingriffsschranken der M R K auch für solche Rechte und Freiheiten gelten, hinsichtlich deren die of appreciation granted to the States, but also the aim of the said limits, since under A r t . 18 of the Convention such restrictions shall not be applied for any purpose other than those for which they have been prescribed." (Hervorhebungen v o m Verf.) 67 Vgl. Herzog S. 209 A n m . 62. 08 Vgl. oben Kap. I § 2 Ziff. 6). 69 Vgl. Guradze, Konv. S. 205. 70 Vgl. oben Kap. I X (Anm. 34) u n d Guradze, Konv. S. 205: das Gebot der Verhältnismäßigkeit ergibt sich schon aus der Formulierung der Spezialschranken u n d der „Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft". Dagegen läßt sich m i t Herzog, S. 210, „guten Gewissens behaupten, daß die Prinzipien der Geeignetheit u n d Erforderlichkeit des Mittels allgemein der Vorbehaltssystematik der M R K zugrundeliegen". 1 Vgl. Pinto S. 107. Vegleris S. 239 A n m . 36 stellt die Frage, welche W i r k u n g ein Vorbehalt nach A r t . 64 auf die Einschränkungskompetenz bei anderen, nicht v o m Vorbehalt erfaßten Rechten hat, w e n n sich Überschneidungen ergeben.

A T — Kap. X : Implizierte Rechte u n d Freiheiten?

55

Staaten i n der Konvention keine Verpflichtungen übernommen haben 2 ? Oder gelten i m Falle des Zusammentreffens dieser beiden Gruppen von Rechten umgekehrt sogar die weitergehenden Eingriffsvorbehalte der von der Konvention nicht geschützten Rechte? I n einer Entscheidung der Kommission 3 heißt es, man müsse davon ausgehen, daß jeder Mitgliedsstaat sich verpflichtet hat, die freie Ausübung der i h m vom allgemeinen Völkerrecht gegebenen Rechte nach Maßgabe und i m Rahmen der von i h m i m Hinblick auf die M R K übernommenen Verpflichtungen zu beschränken. Zu dieser Äußerung meint Pinto (aaO), die Kommission scheine damit ein Prinzip implizierter Rechte und Freiheiten („principe des droits et libertés implicites") aufstellen zu wollen. Die an sich nur durch die Regeln des allgemeinen Völkerrechts begrenzte Freiheit der Mitgliedsstaaten zur Einschränkung der nicht konventionsgeschützten Rechte kann aber nur dann zusätzlich den Schranken der M R K unterliegen, wenn die Einschränkung dieser nicht geschützten Rechte zugleich auch i n ihrer Wirkung einen Eingriff i n andere Rechte darstellt, die von der Konvention geschützt werden. Nur i n einem solchen Fall der Kollision zwischen den Eingriffsschranken der M R K und der „freien", d. h. nur durch das allgemeine Völkerrecht begrenzten Einschränkungskompetenz bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von konventionsgeschützten und konventionsungeschützten Grundrechten durch die Grundrechtsträger kann man von „implizierten Rechten und Freiheiten" der M R K sprechen. Umgekehrt kann dies aber keinesfalls bedeuten, daß bei gleichzeitiger Ausübung bestimmter Rechte der M R K und anderer, nicht oder i n geringerem Umfang geschützter Rechte die Staaten bei dem Erlaß grundrechtseinschränkender Maßnahmen von der Bindung an die M R K befreit wären: Die bei der Einschränkung von Rechten und Freiheiten der M R K zu beachtenden Grenzen gelten immer und ungeachtet dessen, ob davon auch andere Rechte betroffen werden. Anders als i n den Fällen einer „echten" Schrankenkollision kann hier, wenn es sich nicht mehr u m die, wenn auch verschieden weitgehenden Einschränkungsvorbehalten unterworfenen Rechte derselben Konvention handelt, nicht 4 die weitergehende Einschränkungsmöglichkeit zugelassen werden. 2 Sei es, w e i l sie i n der M R K nicht enthalten sind, sei es, w e i l sie unter einen Vorbehalt i. S. d. A r t . 64 fallen. 3 Y B I I , 355 ff., 373: (Jeder Mitgliedsstaat) . . . "doit être réputé avoir accepté de restreindre le libre exercice des droits que l u i accorde le droit international général, dans la mesure et dans les limites des obligations q u ' i l a assumées en vertue de cette Convention." 4 Vgl. oben Kap. I § 2 Ziff. 6). Dementsprechend k a n n nach ständiger Rechtsprechung der K o m m , auch ein E i n g r i f f i n Rechte, die i n der M R K als solche nicht geschützt werden, gegen die Konvention verstoßen, w e n n dieser E i n g r i f f

56

AT — Kap. X I : Das Leitbild „demokratische Gesellschaft" Kapitel X I

Das Leitbild „demokratische Gesellschaft" Hätte sich die M R K i n den Art. 8 - 1 1 auf die bisher beschriebene Methode der Regelung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten beschränkt, wäre der sachliche Gehalt dieser A r t i k e l beschränkt auf die Festlegung des Legalitätsprinzips und das Erfordernis der Rechtfertigung der grundrechtseinschränkenden Maßnahme auf der Grundlage eines zu verteidigenden öffentlichen oder privaten Interesses, ergänzt durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Gebot der Zweckbindung und das Verbot der Diskriminierung. Damit wäre auch die Kontrolle staatlicher Grundrechtseinschränkungen durch die zuständigen Organe der M R K auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob eine staatliche Maßnahme ihre Grundlage i m Gesetz hat, einem der i n dem jeweils einschlägigen A r t i k e l aufgeführten Ziele dient und außerdem i n einem vernünftigen Verhältnis dazu steht. Darauf scheinen auch einige Kommissionsentscheidungen den Sinn und die Bedeutung der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 reduzieren zu wollen 1 . Dabei w i r d jedoch außer acht gelassen, daß nach den Einschränkungsregeln dieser Bestimmungen jede einschränkende Maßnahme zur Erreichung des damit verfolgten Ziels nur unter der zusätzlichen Bedingung konventionskonform ist, daß es sich auch u m eine zur Erreichung dieses an sich zulässigerweise angestrebten Ziels „ i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme" handelt. § 1 Verwendung des Begriffs in der M R K und den Protokollen

Dieser Begriff der demokratischen Gesellschaft findet sich i n der M R K außer i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 noch i n A r t . 6 Abs. 1, wo allerdings der Zusatz „nécessaire (dans une société démocratique)" fehlt 2 . Die gleiche Formulierung wie die A r t . 8 - 1 1 enthalten auch die A r t . 3 und 4 des vierten Protokolls, während A r t . 2 Abs. 4 dieses Protokolls etwas abweichend lautet: " . . restrictions qui sont justifiées par l ' i n térêt public dans une société démocratique 3 . Dieser Begriff der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft ist jeweils m i t den sonstigen Eingriffsregeln organisch verbunden. Gewiß nur den Zufälligkeiten i n das konventionsungeschützte Recht „ i n seiner W i r k u n g " (vgl. z . B . Y B I, 211 ff.) auch ein i m Grundrechtskatalog der M R K enthaltenes Recht verletzt. 1 Vgl. Vegleris S. 228 A n m . 15; z. B. Y B I, 229; 1,235; I, 255. 2 Vgl. oben Kap. V I I §1. 3 Inhaltlich dürften sich die Begriffe „justifié" u n d „nécessaire" i n diesem Zusammenhang entsprechen.

§ 2 H e r k u n f t des Begriffs

57

der Redaktion 4 zuzuschreiben und ohne inhaltliche Bedeutung ist die unterschiedliche Stellung dieses Begriffs i m Satzbau dieser Bestimmungen 5 . Es fragt sich nun, ob dieser i m klassischen Verfassungsrecht unbekannte Ausdruck dem Gesetzesvorbehalt i n seiner oben beschriebenen Ausprägung auch eine zusätzliche rechtliche Qualität gibt und, worauf die grammatikalische Stellung hinzudeuten scheint, die Funktion einer übergeordneten Eingriffsschranke m i t eigener materieller Bedeutung hat oder aber nur eine Floskel ist, die lediglich die schon i n der Präambel enthaltene Beschwörung des gemeinsamen Demokratieverständnisses der Mitgliedsstaaten noch einmal i n Erinnerung ruft. § 2 Herkunft des Begriffs

Aufschluß geben über die Bedeutung dieser Formel könnte einmal ihre Herkunft Soweit ersichtlich, findet sich der Begriff „dans une société démocratique" erstmals i n A r t . 29 Abs. 2 der Menschenrechtsdeklaration der VN 6 . Wegbereitend hierfür scheint wiederum der von Panama vorgelegte Entwurf des „American L a w Institute" gewesen zu sein, dessen A r t . 18 lautete 7 : "Dans l'exercice de ces droits, chacun est l i m i t é par les droits d ' a u t r u i et par les justes exigences de l'Etat démocratique."

Gegen den starken Widerstand des Delegierten der UdSSR wurde schließlich auf Vorschlag des „Comité de Travail" 8 der Begriff „Etat démocratique" nicht nur, wie zunächst geplant, durch das Wort „société" ergänzt, sondern sogar völlig ersetzt. Zweifellos gibt aber der m i t eher vordergründigen Argumenten geführte Streit u m die Verwendung der Begriffe Staat oder Gesellschaft nicht allzuviel Aufschluß über die eigentliche Problematik, u m die es wirklich ging 9 . Von Seiten der Befürworter des Begriffs „Gesellschaft" wurde vor allem vorgebracht, daß damit zweifelsfrei auch die kommunale Gemeinschaft i n den Schutzbereich dieser Klausel einbezogen werde, während bei der Verwendung des Wortes „Staat" die Gefahr einer restriktiven, auf den eigentlichen „staatlichen" Bereich beschränkten Auslegung bestehe. Z u Recht sieht Vegleris 1 0 den eigentlichen, wenn auch 4

Vgl. Vegleris S. 228. I n A r t . 8 Abs. 2 steht er am Anfang, i n den A r t . 9 - 1 1 Abs. 2 u n d 3 des vierten Protokolls nach „nécessaire" u n d außerdem m i t Ausnahme der A r t . 6 Abs. 1 u n d 2 Abs. 4 dieses Protokolls i n K o m m a t a u n d zwischen die übrigen Einschränkungsbedingungen geschoben (vgl. Vegleris S. 228 A n m . 17). 6 Vgl. oben Kap. I I I A n m . 10. 7 Vgl. Verdoodt S. 264. 8 Unterausschuß der Menschenrechtskommission der VN. 9 Vgl. Partsch S. 322; Vegleris S. 230. 10 Vegleris S. 230. 5

58

AT — Kap. X I : Das Leitbild „demokratische Gesellschaft"

nicht ausgesprochenen Gegenstand der Kontroverse weniger i n dem Streit u m das Substantiv als u m das Adjektiv. Angedeutet wurde dies auch i n der Diskussion u m einen von den Vertretern Indiens und Großbritanniens eingebrachten Text, nach dem die Einschränkung individueller Freiheitsrechte auf die Sorge u m das Gemeinwohl („le bien — être de tous") und nicht u m den demokratischen Staat gestützt werden sollte, weil es keine für alle Staaten verbindliche Definition des Begriffs „Demokratie" gebe. Die Vertreter Weißrußlands und Jugoslawiens unterstrichen dagegen die Notwendigkeit der Verwendung des Ausdrucks „demokratisch" zur Abwehr des Faschismus. Der australische Delegierte glaubte seinerseits, die Verbindung des Wortes „demokratisch" m i t „Gesellschaft" würde einen der Notwendigkeit entheben, den Begriff des demokratischen Staats zu definieren, ohne dabei den wesentlichen Gesichtspunkt dieser Bestimmung unberücksichtigt lassen zu müssen: die Tatsache nämlich, daß jedes Recht auch Verpflichtungen gegenüber der nationalen und internationalen Gemeinschaft m i t sich bringt 1 1 . Diese Argumentation ist aber nur ein Spiel mit Worten: Auch der Begriff der Gesellschaft meint ja i n diesem Zusammenhang nichts anderes als „Staat", nämlich eine Gemeinschaft von Individuen i m Rahmen einer staatlichen Ordnung 12. M i t dem Austausch der Substantive kommt man deshalb nicht u m das Problem herum, den schillernden Begriff der Demokratie zu definieren, der ja bekanntlich sowohl „Herrschaft des Volkes" i. S. d. westlichen Demokratieverständnisses als auch der „Herrschaft für das V o l k " i. S. d. östlichen Volksdemokratie bedeuten kann. Eine Definition dessen, was demokratisch ist, ist deshalb nur i m Rahmen des Gesamtzusammenhangs möglich, i n den dieser Ausdruck gestellt ist. Obwohl die Menschenrechtsdeklaration der V N einen Katalog klassischer liberaler Freiheitsrechte enthält, so ist doch nicht ganz unzweifelhaft, ob der i n ihr enthaltene Demokratiebegriff nur i. S. dieser liberalen Demokratie westlicher Prägung verstanden werden kann, ist die Deklaration doch auf universelle Geltung zugeschnitten und deshalb zumindest nicht i n grundsätzlicher Negation zu den sozialistischen Volksdemokratien zu sehen. § 3 Auslegung im Rahmen der M R K

Bei der M R K ergeben sich diese Schwierigkeiten dagegen nicht, da bei ihr allein das den Mitgliedsstaaten des Europarats gemeinsame Demo11

Vgl. zu dieser Diskussion Verdoodt S. 266/67. Wiebringhaus (S. 89 A n m . 1 zu A r t . 8) hält den Ausdruck „demokratische Gesellschaft" nicht für glücklich u n d ersetzt i h n durch den deutlicheren Begriff „demokratische Gesellschaftsordnung". 12

§ 3 Auslegung i m Rahmen der M R K

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kratieverständnis, wie es i n der Präambel der Konvention zum Ausdruck gebracht wird, zugrunde zu legen ist. Trotz dieser Eingrenzung auf die Demokratie westeuropäischer Prägung hat dieser Begriff aber noch keinen absolut feststehenden Inhalt. Der Begriff „Demokratie" beinhaltet zwei sich ergänzende Elemente, die aber ihrerseits genauso vielschichtig und schillernd sind: 1. Die Freiheit i m politischen Sinn, d. h. die Beteiligung des Volkes an der Macht, und 2. die Freiheiten des einzelnen, die er der Staatsgewalt entgegenhalten kann 1 3 . Nur m i t diesem zweiten Element befaßt sich die M R K selbst, indem sie einen allerdings nur beschränkten Katalog von Freiheitsrechten aufstellt. Auch A r t . 3 ZP erwähnt nur einige Voraussetzungen des ersten Elements 14 . Sowohl der Grundrechtskatalog der M R K als auch die i n A r t . 3 ZP angedeuteten politischen Freiheiten können und wollen wohl auch nicht abschließend das definieren, was unter „demokratisch" zu verstehen ist. Der Garantiebestand der M R K ist somit zwar ein Teil dessen, was i n Westeuropa unter Demokratie verstanden wird, ist aber nicht identisch damit. Damit liegt der Gedanke nahe, daß die Formel der „demokratischen Gesellschaft" gewissermaßen als Auffangtatbestand auch diejenigen Rechte und Freiheiten und auch diejenigen demokratischen politischen Institutionen einschließen sollte, deren Einbeziehung i n den Schutzbereich der M R K oder ihrer Protokolle politisch nicht praktikabel schien, wenn auch nur i n der speziellen Funktion einer Schranke für staatliche Eingriffe i n den von der M R K geschützten Bereich. Aber auch m i t dieser Zerlegung des Demokratiebegriffs i n einen institutionellen und einen grundrechtlichen Bereich ist nicht viel gewonnen: Das Demokratieverständnis war und ist einem steten Wandel unterworfen. M i t der steigenden Zahl von Abkommen, die die Sicherung eines Grundbestands an Menschenrechten zum Ziel haben, w i r d der Begriff der Demokratie auch i m internationalen Bereich zunehmend konkretisiert, nuanciert und erweitert; zudem hat auch die Veränderung der weltpolitischen Szenerie von den ersten Nachkriegs jähren bis heute gewandelte Auffassungen hinsichtlich dessen, was zum Wesen der Demokratie gehört, i m Gefolge. Bei aller Schwierigkeit einer exakten Definition liegt darin aber auch eine große Chance 15 , weil die Eigendynamik demokratischer Tendenzen 13 Vgl. auch Abs. 4 der Präambel, die das „demokratische politische Regime" einerseits u n d die „Menschenrechte" andererseits getrennt aufführt. 14 Dort ist zwar das freie u n d geheime, nicht aber auch das allgemeine u n d gleiche Wahlrecht erwähnt, während sich das für Westeuropa charakteristische Mehrparteiensystem allenfalls daraus ableiten ließe (vgl. Vegleris S. 238). 15 Vgl. Vegleris S. 239.

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AT — Kap. X I : Das Leitbild „demokratische Gesellschaft"

dadurch nicht nur nicht gehemmt wird, sondern darüber hinaus diese gewandelten Auffassungen zum Bestandteil der M R K werden können, ohne daß dafür eine Änderung des Vertragstextes erforderlich wäre. I m nationalen Bereich w i r d andererseits die Ermittlung eines einheitlichen europäischen Demokratiestandards durch die regionalen Verschiedenheiten erschwert, über die auch der Appell der Präambel an den gleichen Geist und das gemeinsame Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Rechts nicht hinwegtäuschen kann. „Demokratie" muß z. B. i n Großbritannien nicht das bedeuten, was man i n Frankreich darunter versteht, auch wenn es sich dabei nicht u m Gegensätze, sondern eher u m Nuancen handelt. § 4 Leitmotiv für die Rechtsvereinheitlichung

Die Lösung ist i n Abs. 3 der Präambel aber bereits angedeutet: Ziel bleibt die Herbeiführung einer größeren Einigkeit unter den Mitgliedsstaaten, was auch die Vereinheitlichung des Rechts einschließt. Die demokratische Gesellschaft kann dabei als „ L e i t m o t i v " 1 6 verstanden werden, das den Staaten als Orientierungshilfe auf dem Weg der Angleichung ihrer Demokratien dienen soll. Angleichung bedeutet i n diesem Zusammenhang nicht, daß auch eine Nivellierung der Demokratieformen unbedingt erstrebenswert wäre, auch wenn dies einen politischen Zusammenschluß der Staaten Westeuropas sicher erleichtern würde: wesentlich ist allein, daß dieser Prozeß der (inhaltlichen) Angleichung dazu führt, daß alle Mitgliedsstaaten am Ende freiheitlich-demokratische Grundordnungen haben, die die gleichen materiellen rechtsstaatlichen Garantien enthalten. § 5 Funktion in anderen internationalen Abkommen

Die Beantwortung der Frage nach der konkreten Funktion der „demokratischen Gesellschaft" i n den A r t . 8 - 1 1 w i r d ebenfalls erleichtert durch einen Vergleich m i t dem Stellenwert, den dieser Begriff i n der Menschenrechtsdeklaration der V N und i n anderen internationalen Regelwerken hat, die ihn neben der M R K aus dieser Deklaration übernommen haben. Verdoodt 1 7 legt den Schwerpunkt auf die Rückbindung des einzelnen an die Gemeinschaft, wie es Art. 29 Abs. 1 der Deklaration 1 8 vorsieht. Eine Gesellschaft, d. h. die lokale, staatliche und internationale Gemeinschaft, sei dann demokratisch, wenn sich jedermann wirklich dessen be16 17 18

Vegleris S. 239. Verdoodt S. 271. Vgl. auch A r t . 10 Abs. 2 S. 1 (oben Kap. V A n m . 2).

§ 5 F u n k t i o n i n anderen internationalen A b k o m m e n

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wüßt ist, was jedes Recht an Verpflichtungen gegenüber dieser Gemeinschaft mit sich bringt. Dieser Art. 29 begnügt sich aber nicht m i t dem Appell an das Verantwortungsbewußtsein des einzelnen der Gemeinschaft gegenüber, sondern regelt i n seinem Abs. 2 zusätzlich die Voraussetzungen, unter denen der individuellen Grundrechtsausübung auch zwangsweise Grenzen gesetzt werden können. Eine Gesellschaft ist demnach auch dann demokratisch, wenn sie auf der Grundlage einer gerechten Interessenabwägung den notwendigen Schutz öffentlicher und privater Interessen auch gegenüber denjenigen ihrer Mitglieder gewährleistet, denen das nötige Verantwortungs- und Gemeinschaftsbewußtsein abgeht. Nach dem Wortlaut scheint dabei der Begriff der demokratischen Gesellschaft zu erläutern und zu präzisieren, was unter den gerechten Forderungen („justes exigences") der Moral, der öffentlichen Ordnung und des Gemeinwohls zu verstehen ist, und hinter welchen berechtigten Interessen Dritter die Grundrechtsausübung zurückzutreten hat. Ähnlich verhält es sich auch m i t Art. 4 des Paktes wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte 19 : auch danach sind gesetzlich vorgesehene Einschränkungen insoweit zulässig, als sie mit der Natur dieser Rechte vereinbar sind und ausschließlich der Förderung des Allgemeinwohls i n einer demokratischen Gesellschaft dienen. Auch hier liefert die demokratische Gesellschaft den Maßstab dafür, was m i t der Natur des jeweils eingeschränkten Rechts vereinbar ist und außerdem als „Allgemeinwohl" Vorrang hat. Auch i n Art. 20 des „Convenant on Civil and Political Rights" wurde eine ähnliche Formulierung wie i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 für notwendig gehalten, da ein wirksamer Schutz der Versammlungsfreiheit nur gewährleistet sei, wenn die Staaten die Einschränkungsklauseln gemäß den i n einer demokratischen Gesellschaft anerkannten Grundsätzen anwenden würden 2 0 . Interessant ist auch ein Vergleich zwischen A r t . 15 Abs. 1 des „Pro jet de Santiago" 2 1 und A r t . 18 Abs. 3 des „Projet de la Commission" 22 , die 19 „Covenant on Economic, Social and C u l t u r a l Rights" der GV der V N vom 16.12.1966, A r t . 4.: " . . . the State may subject such rights only to such l i m i t a t i o n s . . . i n so far as they may be compatible w i t h the nature of these rights and solely for the purpose of promoting the general welfare i n a democratic society 20 A r t . 20 dieses Pakts: " . . . N o restrictions may be placed on the exercice of this right other than t h o s e . . . which are necessary in a democratic society i n the interests of national security or public safety, public order, the protection of public health or morals or the protection of the rights and freedoms of others." Vgl. die Vorarbeiten hierzu i n Distr. Gen. A/2929 §§ 141 - 143 S. 155 ff. 21 „Projet de Convention sur les Droits de l'Homme" von 1959. 22 „Projet de la Commission Interamericaine des Droits de 1'Homme" von 1966/67; vgl. Vasak , K., L a Commission Interamericaine des Droits de l'Homme, 1968 S. 236 ff.

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AT — Kap. X I : Das Leitbild „demokratische Gesellschaft"

beide die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit regeln: Während es sich bei A r t . 18 Abs. 3 des Kommissionsentwurfs u m i n einer demokratischen Gesellschaft unerläßliche Maßnahmen zur Grundrechtseinschränkung handeln muß ( „ . . . des mesures indispensables dans une société démocratique "), ist nach dem entsprechenden A r t . 15 Abs. 1 des „Projet de Santiago" lediglich erforderlich, daß die Einschränkungen mit den anderen i n dieser Konvention definierten Rechten vereinbar sind („ ... compatibles avec les autres droits définis dans la présente Convention . . "). Auch wenn die i n einem derartigen Pakt garantierten Rechte sicherlich einen wesentlichen Teil des m i t dem Begriff der demokratischen Gesellschaft angesprochenen Bereichs erfassen, so bleiben sie doch inhaltlich hinter dieser Formel zurück 23 . § 6 Funktion des Begriffs in den Art. 8 - 1 1 Abs. 2

Schließlich gibt aber auch die Entstehungsgeschichte der M R K selbst einigen Aufschluß über Funktion und Bedeutung der „demokratischen Gesellschaft". I n dem bereits erwähnten 2 4 A r t . 3 des Entwurfs der Europäischen Bewegung war die Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen u. a. davon abhängig, daß diese Einschränkungen i n Übereinstimmung m i t den allgemeinen, von den zivilisierten Nationen anerkannten Rechtsprinzipien stehen. M i t der Verwendung dieses klassischen völkerrechtlichen Begriffs sollte zweifellos der Eingriffskompetenz der Staaten eine zusätzliche, allgemeinere und übergeordnete Schranke gesetzt werden. I n der endgültigen Fassung der M R K wurde dieser Begriff dann 2 5 abgelöst und ersetzt durch die Formel der „demokratischen Gesellschaft", der somit ebenfalls die Funktion einer echten Eingriffsschranke i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 zukommt 2 6 . Die Vereinbarkeit grundrechtseinschränkender Maßnahmen m i t demokratischen Prinzipien ist somit eine Bedingung, die die Einschränkungsmöglichkeit nach den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 einer gemeinsamen, übergeordneten Regel unterwirft. Der Text dieser Bestimmungen beschränkt sich aber nicht darauf, den Begriff der demokratischen Gesellschaft lediglich an die Aufzählung der zulässigen Eingriffsziele anzuhängen, sondern be23 Vgl. auch Vegleris S. 231 A n m . 22 zu einer ähnlichen Bestimmung des „Covenant on C i v i l and Political Rights". 24 Vgl. oben Kap. I I I § 5 (Anm. 9). 25 M i t Ausnahme des A r t . 7 Abs. 2. 26 So auch Vegleris S. 230 und, für die VN-Deklaration, Verdoodt S. 271: . . . l'expression . . . veut „ressortir la nécessité d'imposer des bornes aux l i m i tations prévues plus haut, nonobstant la diversité des interprétations qu'on peut l u i donner".

§ 6 Funktion des Begriffs in den Art. 8 - 1 1 Abs. 2

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tont dieses Element noch dadurch, daß es sich u m „ i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige" Maßnahmen handeln muß. Damit w i r d auch dem Grundsatz der Notwendigkeit, der schon als solcher rechtliche Bedeutung hat, eine zusätzliche Qualität verliehen: Eine grundrechtseinschränkende Maßnahme muß danach nicht nur geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein, sondern auch nach den i n einer demokratisch konstituierten und regierten Gesellschaft geltenden Maßstäben notwendig erscheinen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, zum Schutz von Gesundheit und Moral usw. Damit ist auch eine weitere Funktion des Elements „demokratische Gesellschaft" angedeutet: Ziel staatlicher Maßnahmen i n dem von der M R K geschützten Grundrechtsbereich darf nicht nur eine öffentliche Ordnung, Gesundheit und Moral schlechthin sein, sondern lediglich die öffentliche Ordnung usw., wie sie i n einer demokratischen Gesellschaft besteht. Auch die Auslegung der einzelnen Einschränkungsziele hat sich demnach an dem Leitbild der „demokratischen Gesellschaft" zu orientieren. Die demokratische Gesellschaft liefert damit einmal den Bewertungsmaßstab für die i m Rahmen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 vorzunehmende Güterabwägung zwischen den Interessen des einzelnen und der Allgemeinheit, ist zum anderen aber auch Auslegungsrichtlinie für die i n diesen Bestimmungen enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe. Sie gibt den Rahmen, innerhalb dessen die Mitgliedsstaaten nach den vor allem durch die übrigen Voraussetzungen der Art. 8 - 1 1 Abs. 2 konkretisierten rechtsstaatlichen Grundsätzen den durch diese Bestimmungen garantierten Freiheitsbereich des einzelnen einschränken können. Negativ abgrenzen läßt sich dies von den Eingriffsmöglichkeiten i n totalitären, autoritären oder theokratischen Staaten 27 . Positiv bedeutet die „Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft" das Gebot zur Wahrung materieller Rechtsstaatlichkeit i. S. d. Demokratieverständnisses der Staaten des Europarats. Damit steht aber auch fest, daß sich eine Überprüfung staatlicher Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit m i t den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 nicht auf die Feststellung beschränken kann, daß diese Maßnahmen gesetzlich vorgesehen sind und notwendig sind zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Gesundheit und Moral usw. Oberster und letzter Prüfungsmaßstab bleibt, ob dabei die Grundsätze eines demokratischen Rechtsstaats beachtet und eingehalten wurden. I n der Rechtsprechung der Kommission und des EGH w i r d diese eigenständige Bedeutung der „demokratischen Gesellschaft" zwar nicht be27 I m Rahmen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 — also abgesehen von A r t . 15 — k a n n auch die Verteidigung der Demokratie niemals die A n w e n d u n g diktatorischer Maßnahmen rechtfertigen (vgl. Vegleris S. 240).

6 4 A T

— Kap. X I :

e t d „demokratische Gesellschaft"

stritten, doch findet sich eine ausdrückliche Prüfung dieses Elements nur i n wenigen Entscheidungen. I n den meisten Entscheidungen der Kommission w i r d es nur formelhaft und ohne Begründung angeführt. Vor allem beim Lesen älterer Entscheidungen drängt sich der Eindruck auf, als identifiziere die Kommission die Qualität der einschränkenden Maßnahme als notwendig für eines der genannten Eingriffsziele m i t dem Merkmal der „demokratischen Gesellschaft" 28 . Oft werden dabei Begründung und Ergebnis miteinander vermengt und die Gültigkeit einer beanstandeten Maßnahme schlicht m i t einem Zitat des entsprechenden Abs. 2 dieser A r t i k e l festgestellt. Pinto 2 9 rügt zu Recht, daß die Kommission i n den sog. „Homosexualitätsbeschwerden" den Text offensichtlich so interpretiert hat, als stelle er lediglich fest, daß das anerkannte Recht auf Privatleben i n einer demokratischen Gesellschaft Gegenstand eines gesetzlich vorgesehenen Eingriffs sein könne. Richtigerweise hätte dort geprüft werden müssen, welche „Moral" m i t den Grundsätzen einer Demokratie, die auch die grundsätzliche Achtung einer „Andersartigkeit" einschließt, vereinbar ist und welche Maßnahmen dann auch notwendig sind. Die wohl klarsten und ausgedehntesten Untersuchungen der Kommission zu diesem Punkt finden sich i n der „de Becker" Entscheidung 30 . Die zentrale Frage dieses Falles lautete, ob an die Bestrafung wegen Kollaboration m i t dem Feind i n Kriegszeiten auch, wie es A r t . 123 sexies des belgischen Strafgesetzbuches vorsah, die weitere Folge geknüpft werden konnte, daß dem Verurteilten auf Dauer die Ausübung der wesentlichsten Rechte des A r t . 10 untersagt wird. Gemäß dieser Strafbestimmung war jede nach dem 27. 8. 1939 erfolgte Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als 5 Jahren wegen eines Verbrechens gegen die äußere Sicherheit des Landes m i t dem zeitlich unbegrenzten Ausschluß des Betreffenden von jeder Tätigkeit i m öffentlichen Leben verbunden, bei der auch nur die Möglichkeit einer erneuten Gefährdung der staatlichen Sicherheit gegeben war: So hatte der Verurteilte nach A r t . 123 sexies Buchstabe e) das Recht verwirkt, sich i n irgendeiner Form an der Nutzung, Verwaltung, Redaktion, Druck oder Vertrieb einer Zeitung oder einer sonstigen Veröffentlichung zu beteiligen; an der Leitung oder Verwaltung irgendeiner, sei es auch sportlichen 28

Vgl. Vegleris S. 231. Vgl. Pinto S. 80 u n d oben Kap. X I A n m . 1. 30 Y B I I , 215 ff.; vgl. auch den parallelen F a l l Y B V I , 151 ff. Die K o m m , scheint ihre ausführlichen Erörterungen damit begründen zu wollen, daß es sich u m „sanctions and preventive measures of an unusual k i n d " handelte, deren Rechtfertigung m i t besonderer Sorgfalt geprüft werden müsse. Scheuner S. 231 hält den F a l l wegen seiner speziellen Problematik sogar für ungeeignet, u m generelle Schlüsse daraus ziehen zu können. Vgl. besonders den Bericht der K o m m . (CEDH serie B 1962 S. 11 ff.), der auch i n Y B V I , 151 ff. teilweise wörtlich zitiert w i r d . 29

§ 6 Funktion des Begriffs in den Art. 8 - 1 1 Abs. 2

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oder kulturellen Veranstaltung mitzuwirken (Buchst, f); sich i n irgendeiner Weise an Theater-, Rundfunk- oder Filmunternehmen zu beteiligen (Buchst, g). Gegen diese Bestimmung wandte sich de Becker u. a. m i t der Begründung, sie verletze sein Recht auf Meinungsfreiheit gem. A r t . 10 und habe für i h n als Journalist und Autor die Wirkung eines Berufsverbots. Für auf Bewährung entlassene Strafgefangene gelte A r t . 10 aber genauso wie für jeden anderen Bürger auch. A r t . 123 sexies des belgischen StGB beinhalte aber keine nach A r t . 10 Abs. 2 zulässige Einschränkimg, sondern die völlige Abschaffung dieses Rechts: i n keiner westlichen Rechtsordnung sei an eine Verurteilung die Verwirkung des Rechts auf Meinungsfreiheit geknüpft. I h m sei nur noch die private Unterhaltung und Korrespondenz gestattet; dies sei ein Zustand, wie er i n Diktaturen herrsche, die die M R K gerade verhindern wolle. Die belgische Regierung sah dagegen i n der Person de Beckers nach wie vor eine Gefahr für die nationale Sicherheit, territoriale Integrität und öffentliche Ordnung, der vorbeugend entgegengetreten werden müsse. Nach ihrer Ansicht stellt Art. 123 sexies auch keine Abschaffung des Rechts auf Meinungsfreiheit dar, da die Freiheit, eine Meinung zu haben, und die (passive) Informationsfreiheit nicht betroffen seien, und auch die Freiheit, Gedanken und Informationen zu verbreiten, nur insoweit eingeschränkt sei, als man es aus nationalen Gründen i n der belgischen demokratischen Gesellschaft für notwendig gehalten habe. Der wesentliche Gesichtspunkt war, und das hat die Komm, auch erkannt, ob das einem völligen Verlust des Rechts auf freie Meinungsäußerung fast gleichkommende, zwingende und auf Lebenszeit vorgeschriebene Verbot, Meinungen und Informationen gleich welcher A r t schriftlich oder mündlich, direkt oder mittels irgendwelcher Medien i n der Öffentlichkeit zu verbreiten, noch als „ i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung notwendige Maßnahme" angesehen werden kann. Die Kommission billigte den Autoren der Strafbestimmung 3 1 zwar zu, zunächst an Bedingungen, Einschränkungen und Sanktionen gedacht zu haben, die ohne weiteres m i t den Voraussetzungen des A r t . 10 Abs. 2 vereinbar wären, z. B. also an die Verhinderung von aufrührerischen, beleidigenden oder pornographischen Veröffentlichungen. Die Einschränkungen nach den Buchstaben e), f) und g) gehen aber ersichtlich darüber hinaus: nach ihrem Wortlaut t r i t t der Verlust wesentlicher Teile des Rechts auf freie Meinungsäußerung unabhängig davon ein, ob der i n Kriegszeiten Verurteilte dieses Recht auch tatsächlich zur Untergrabung der staatlichen Sicherheit mißbraucht hat. Dies steht aber i n Widerspruch zu dem allgemeinen Grundsatz, daß Grundrechts81

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Sie ist daneben auch vorbeugende Sicherungsmaßnahme.

Hoffmann-Remy

6 6 A T

— Kap. X I :

e t d „demokratische Gesellschaft"

einschränkungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn die Ausübung gerade dieses Rechts berechtigten Interessen Dritter oder der Allgemeinheit widerspricht. Natürlich kann auch schon die bloße Gefahr eines solchen Mißbrauchs ausreichen, um den Erlaß grundrechtseinschränkender Maßnahmen zu rechtfertigen. Das Vorliegen einer solchen Gefahr muß aber i n jedem Einzelfall sorgfältig geprüft werden: es geht nicht an, aus jeder die staatliche Sicherheit gefährdenden Betätigung auch generell die Gefahr eines Mißbrauchs gerade der Meinungsfreiheit herzuleiten, wie es bei A r t . 123 sexies, der keine Ausnahmen zuließ, offenbar der Fall war. Z u Recht stützte die Kommission ihre Hauptbedenken auf die Tatsache, daß A r t . 123 sexies eine allgemeine Regel darstellt, die auch für Verurteilte gilt, die m i t A r t . 10 überhaupt nicht i n Zusammenhang stehende Verbrechen begangen haben. Zudem seien die Sanktionen, wie es der Zielrichtung dieser Bestimmung entsprochen hätte, nicht auf Meinungsäußerungen mit politischem Charakter beschränkt, sondern gelten für jede A r t von Äußerung und Verbreitung von Meinungen und Informationen. Die belgische Regierung suchte diese Einwände m i t dem Argument zu entkräften, daß i n der Gesellschaft von heute die Ideologien keine Grenzen achteten und die subversive Propaganda ein Charakteristikum moderner Kriege sei. Daraus ergäbe sich die Notwendigkeit, rigorose Sicherheitsmaßnahmen einzuführen, u m die Gemeinschaft vor Verbrechen wie denen de Beckers zu schützen. Die Komm, hielt dem entgegen, Einschränkungen der Meinungsfreiheit seien nur zulässig, wenn dies wegen des Charakters der Tat offensichtlich notwendig sei: so könne es nach A r t . 10 Abs. 2 gerechtfertigt sein, für Kriegsverräter ein absolutes und lebenslanges Verbot der Veröffentlichung politischer Meinungen zu verhängen. Die Komm, ging sogar noch weiter und deutete an, daß u. U. auch ein Rechtsverlust, der wegen seines unpolitischen Bezugs nichts mit der begangenen Tat zu t u n hat, i n Kriegszeiten und i n der unmittelbaren Nachkriegszeit gerechtfertigt sein könne. Aus Gründen der Moral der Nation und der öffentlichen Ordnung könne der Staat berechtigt sein, Landesverräter völlig oder fast völlig des Rechts auf freie Meinungsäußerung zu berauben. Da es einige Zeit dauere, bis i n einem längere Zeit vom Feind besetzten Land die nationale Moral wiederhergestellt und die Gefahr für die öffentliche Ordnung völlig beseitigt sei, gelte dies auch für einige Zeit nach Einstellung der Feindseligkeiten. Die Komm, hält ein Gesetz jedoch dann nicht mehr für vereinbar mit der Bestimmung des A r t . 10 Abs. 2, wenn es auf Dauer und ohne die Möglichkeit, Ausnahmen zu machen, den Betroffenen jede Veröffentlichung verbietet, gleich ob sie politischen Inhalts ist oder nicht, und damit den sich ändernden Verhältnissen und ihren Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung keine Rechnung trägt.

§ 6 Funktion des Begriffs in den Art. 8 - 1 1 Abs. 2

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Die Komm, verkannte zwar nicht die Notwendigkeit rigoroser Maßnahmen zur Verhinderung der i n A r t . 123 sexies angeführten Verbrechen, doch erlaube die M R K (insbesondere die A r t . 2, 4, 5 und 10) ein ausreichendes Maß an Präventivmaßnahmen, ohne daß man auf eine dauernde Aberkennung der Meinungsfreiheit selbst für unpolitische Schriften zurückgreifen müsse. Ein derartiger lebenslanger und allumfassender Entzug des Rechts auf Meinungsfreiheit erschien der K o m mission kaum m i t den Idealen und Traditionen der Demokratien des Europarats vereinbar und überschritt ihrer Ansicht nach das Maß dessen, was i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist i m Interesse der nationalen Sicherheit usw. Zur Bestätigung dieses Verstoßes gegen den Geist der Demokratie wies die Kommission noch zusätzlich darauf hin, daß die übrigen Staaten des Europarats keinen derartigen absoluten Rechtsverlust für notwendig erachtet oder doch zumindest eine derartige Regelung nicht zeitlich unbegrenzt aufrechterhalten hätten. Die Komm, hielt A r t . 123 sexies also insofern für konventionswidrig, als der Entzug des Rechts auf Meinungsfreiheit auch i n unpolitischen Bereichen auf Dauer galt, und keine Ausnahmemöglichkeiten für den Fall vorgesehen waren, daß die öffentliche Ordnung und Moral sich m i t dem Ablauf der Zeit wieder festigen würden, und dieser Rechtsverlust somit aufhören würde, eine i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme zu sein. Z u einer Sachentscheidung durch den EGH kam es aber nicht: der belgische Gesetzgeber hatte A r t . 123 sexies noch rechtzeitig 32 i n den von der Kommission gerügten Punkten abgeändert. I n ihrer Schlußentscheidung bestätigte die Komm, dann auch, daß die Einschränkung der Meinungsfreiheit i n der geänderten Gesetzesfassung nicht den Rahmen des A r t . 10 Abs. 2 verläßt und der belgischen Regierung auch keine mißbräuchliche Verzögerung des Falls vorgeworfen werden kann. Auch wenn die Komm, darauf verzichtet hat, ausdrücklich zu sagen, welche Elemente sie i n einer demokratischen Gesellschaft für unabdingbar hält, so lassen sich doch aus der Gesamtheit der Argumente einige Schlüsse ziehen. Einmal gelten die Voraussetzungen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 unabhängig davon, ob der Staat derartige Maßnahmen i n normalen Zeiten erläßt oder ob er damit außergewöhnlichen Umständen gerecht werden w i l l , ob er Regelungen m i t Dauerwirkung erläßt oder zeitlich begrenzte Maßnahmen 33 . Die Qualifikation einer Einschränkung als außergewöhnlich bedeutet noch nicht ihre Rechtfertigung 34 . Andererseits ge32 Durch Gesetz v. 30. 6.1961 wurde die Aberkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung zeitlich begrenzt u n d auf politische Angelegenheiten beschränkt. Außerdem wurde den Betr. die Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsmittels zur völligen oder teilweisen Wiederherstellung der abgesprochenen Rechte gegeben. Die Beschwerde w u r d e daraufhin zurückgezogen u n d i m Register gestrichen. 33 Vgl. oben Kap. I V § 3.

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6 8 A T

— Kap. X I :

e t d „demokratische Gesellschaft"

bietet es der Grundsatz der auf Selbsterhaltung bedachten „kämpferischen" Demokratie 3 5 , daß i n Zeiten der Bedrohung des Lebens der Nation oder wichtiger Gemeinschaftsgüter auch i n einer Demokratie zu schärferen Mitteln gegriffen werden kann, u m wieder Herr der Lage zu werden. I n einer öffentlichen Notstandssituation können also Maßnahmen zulässig sein, die i n normalen Zeiten den Rahmen dessen, was i n einer demokratischen Gesellschaft noch als notwendig angesehen werden kann, überschreiten würden 3 6 . Die Notwendigkeit einer Maßnahme ist deshalb nie abstrakt, sondern immer i m Hinblick auf die konkrete Situation zu beurteilen, i n die sie gestellt ist. Das bedeutet aber auch, daß es bei Maßnahmen mit Dauerwirkung wie i m Fall de Becker nicht ausreichen kann, daß diese Maßnahmen zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßig waren, weil besondere Umstände vorlagen: sie müssen vielmehr zu jedem Zeitpunkt ihrer Geltung m i t den Voraussetzungen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 übereinstimmen. Die Notwendigkeiten i n einer demokratischen Gesellschaft wandeln sich somit nicht nur m i t der allgemeinen Anschauung dessen, was demokratisch 37 ist, sondern auch m i t den tatsächlichen Gegebenheiten i n den Staaten. I n der Sache „de Becker" hat die Komm, der „demokratischen Gesellschaft" zum ersten Mal die Bedeutung zuerkannt, die ihr i m Rahmen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 zukommt: ihre Funktion als eigenständiges Merkmal und echte Schranke für die staatliche Eingriffsgewalt 3 8 . Zugleich hat sie dabei auch angedeutet, wie sie den Begriff inhaltlich verstanden wissen w i l l . M i t dem Hinweis auf die Ideale und Traditionen der Demokratien des Europarats 39 stellt sie die Verbindung zu der Präambel der M R K her und bezieht i n einer rechtsvergleichenden Betrachtung die Rechtspraxis der übrigen Staaten des Europarats i n die Würdigung des Falls m i t ein. Der EGH hat dagegen bisher offenbar noch keinen Anlaß gesehen, i n einer seiner Entscheidungen näher auf die Vereinbarkeit einer grundrechtseinschränkenden Maßnahme mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft einzugehen. I n der Lawless-Entscheidung 40 findet 34

Vgl. Vegleris S. 223,240. Dieser Grundsatz ergibt sich bereits aus den A r t . 15 u n d 17. 36 D a m i t ist aber nicht gesagt, daß außergewöhnliche Umstände jede Maßnahme rechtfertigen können (vgl. oben Kap. X I A n m . 27). 37 Vgl. oben Kap. X I (Anm. 15). 38 Bestätigt hat die K o m m , dies i n ihrem Bericht i m F a l l Grandrath (vgl. oben K a p I X A n m . 26): danach habe die K o m m , die volle Freiheit, i n jedem Einzelfall u n d ohne Rücksicht auf die Praxis i n den Staaten zu prüfen, ob die „demokratische Gesellschaft" mehr als die bloße Feststellung erfordere, daß eine der Vorbehaltsklauseln der M R K eingreift. 39 Die K o m m , beschränkt ihren Rechtsvergleich zu Recht nicht auf die M i t gliedsstaaten der M R K selbst. 40 „Affaire Lawless" C E D H série A1960/61 (E. v. 14.11.1960). 35

§ 6 Funktion des Begriffs in den Art. 8 - 1 1 Abs. 2

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sich allerdings eine Stelle, die darauf hindeutet, daß der EGH i n diesem Begriff einen Grundsatz sieht, der für alle der M R K unterfallenden staatlichen Maßnahmen gilt, also auch für die Bestimmungen der Konvention, i n denen die „demokratische Gesellschaft" gar nicht erwähnt w i r d 4 1 : obwohl i n A r t . 6 dieser Hinweis auf die „demokratische Gesellschaft" fehlt 4 2 , kam der EGH zu dem Schluß, daß i n jeder demokratischen Gesellschaft i. S. d. Präambel und der anderen Bestimmungen der Konvention gerichtsförmige Verfahren öffentlich und kontradiktorisch sein müssen, und diese Grundsätze i n A r t . 6 ihre Bestätigung finden. I n der Tat läßt sich aus der Verbindung des „Glaubensbekenntnisses" 43 der Präambel an ein „wahrhaft demokratisches politisches Regime" m i t dem Grundsatz der „demokratischen Gesellschaft" i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 ein oberstes Prinzip ableiten, wonach diese „demokratischen", also materiell rechtsstaatlichen Grundsätze für die M R K i m Ganzen 44 Geltung beanspruchen. I m Zusammenhang mit der inhaltlichen Bedeutung des Begriffs der demokratischen Gesellschaft stellt sich auch die Frage, i n welchem Umfang die Kontrollorgane der M R K und die zuständigen nationalen Gerichte die Einhaltung der darin enthaltenen Gebote beim Erlaß staatlicher Einschränkungsmaßnahmen überprüfen können. Seinen von der Mehrheitsmeinung der Kommission 4 5 abweichenden Standpunkt i n dieser Frage vertrat das Kommissionsmitglied Faber i m Fall de Becker i n einer „dissenting opinion" 4 8 . Faber rügte vor allem, die Komm, hätte bei ihrer Entscheidung ihre Uberprüfungskompetenz überschritten. Die belgische Regierung habe eine Begrenzung des A r t . 123 sexies auf ein Verbot lediglich politischer Meinungsäußerungen deshalb nicht für zweckmäßig gehalten, weil u. a. die Schwierigkeiten bei der Definition dessen, was „politisch" ist, eine wirksame Bekämpfung des Landesverrats i n Kriegszeiten behindert hätten. Das Ziel der Maßnahmen sei es gewesen, diese Kriegsverräter für alle Zukunft aus den Augen der Öffentlichkeit zu verbannen, da jedes öffentliche Auftreten dieser Personen m i t der Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung verbunden sei. Die belgische Regierung habe als Verantwortliche für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung diese Maßnahmen auch i n ihrem absoluten Umfang für notwendig gehalten. Der Kommissionsmehrheit, 41

Vgl. Vegleris S. 237. E r fehlt zumindest i m Bezug auf die Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens (vgl. aber oben Kap. V I I [Anm. 6]). 48 Vegleris S. 236: " . . . la profession de foi d u Préambule . . 44 V o r allem auch f ü r alle Einschränkungsregeln der M R K . 45 Die K o m m , bejahte m i t 11 gegen 1 Stimmen einen Verstoß gegen A r t . 10 Abs. 2. 46 „ A f f a i r e de Becker" C E D H série A 1962 S. 129. 42

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AT — Kap. X I I : Ermessen und Ermessenskontrolle

die mangels einer zeitlichen Begrenzung dieser Maßnahmen die Grenzen des Notwendigen für überschritten hielt, stellte Faber die Frage, wo diese zeitliche Grenze liegen solle: bei 30, 20 oder noch weniger Jahren? Jedenfalls sah er keinen Grund, eine Verletzung der M R K zu rügen: das Recht der Komm, auf Kontrolle dessen, was notwendig ist, müsse auf eine theoretische Prüfung beschränkt bleiben, und auch diese theoretische Prüfung müsse von einer Vermutung zugunsten des beschuldigten demokratischen Staats ausgehen 47 . Mangels eines Mißbrauchs oder offensichtlichen Fehlgebrauchs („abus ou méprise manifeste") könne keine Verletzung der M R K beanstandet werden. Damit w i r d die Frage nach

Kapitel X I I

Ermessen und Ermessenskontrolle im Rahmen der Art. 8 - 1 1 Abs. 2 1 angeschnitten: Steht den Staaten bei der Prüfung der Notwendigkeit einer Maßnahme i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der i n diesen Bestimmungen genannten Rechtsgüter ein „freier" Ermessensspielraum zu, der der Kontrolle durch die Organe der M R K nicht oder nur i n begrenztem Umfang zugänglich ist? § 1 Die Rechtsprechung der Kommission zu dieser Frage — Inhalt und Herkunft dieser Ermessenstheorie

Die Komm, ist i n der Beurteilung ihrer Prüfungskompetenz und damit auch des Umfangs des staatlichen Ermessens dieser extrem souveränitätsfreundlichen These Fabers nicht gefolgt. Sie hält sich für berechtigt und verpflichtet, grundrechtseinschränkende Maßnahmen nicht nur theoretisch und auf der Grundlage der Vermutung für die Gültigkeit des staatlichen Eingriffs zu überprüfen, sondern ohne grundsätzliche Beschränkung auch inhaltlich 2 nachzuprüfen, ob die Staaten von der Eingriffsermächtigung i n nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht haben. I n gleicher oder nur leicht modifizierter Form findet sich i n fast 47

„présomption en faveur de l'Etat démocratique accusé". Vgl. allg. zur F u n k t i o n der Kontrollorgane der M R K H. Mosler, Kritische Bemerkungen zum Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention, i n : Festschrift H. Jahrreiss 1965 S. 289 ff. u n d speziell zur Aufgabe der K o m m . : Fr. Monconduit, L a Commission Européenne des Droits de l'Homme 1965. 2 Gerade diese inhaltliche Nachprüfung gibt dem M e r k m a l der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft seine Bedeutung u n d macht die Kontrolle durch die Organe der M R K effektiv (vgl. Partsch S. 441). 1

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§ 1 Rechtsprechung der Kommission zu dieser Frage

allen Kommissionsentscheidungen, die sich m i t Maßnahmen nach den Art. 8 - 1 1 Abs. 2 beschäftigen, folgende Formulierung: " . . . whereas a close study of a l l its provisions shows that A r t . 10 leaves Contracting Parties a certain margin of appreciation i n determining the l i m i t s that may be placed on freedom of expression, whereas i n exercising supervision the Commission must always bear i n m i n d not only the extent of such limits, which must not exceed the m a r g i n of appreciation granted to the States, but also the aim of the said l i m i t s . . A "

Wollte man die Kommission beim Wort nehmen, so müßte man, auch angesichts einiger anderer Entscheidungen, annehmen, sie billige den Staaten beim Erlaß von Maßnahmen i. S. d. A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 einen Ermessensspielraum zu, dessen Grenzen weit und unklar sind und sähe ihre Kontrollaufgabe darauf beschränkt, einer mißbräuchlichen oder sonst völlig unvernünftigen Ermessenshandhabung nachzuspüren, ansonsten aber die beanstandete Maßnahme für konventionskonform zu erklären, wenn sie nur gesetzlich vorgesehen ist und einem der zulässigen Eingriffsziele dient 4 . So stellt die Komm, i n einer Entscheidung nicht die objektive Notwendigkeit der Maßnahme fest, sondern begnügt sich mit ihrer subjektiven Rechtfertigung aus der Sicht der Behörde 5 : "There is no other element i n the present case which m i g h t indicate that the prison authorities d i d not have sufficient reason to believe that i t was necessary to impose this r e s t r i c t i o n . .

I n einem anderen Fall 6 wurde das Fehlen einer Ermessensüberschreitung von ihr sogar lediglich damit begründet, daß die Behördenentscheidung nicht w i l l k ü r l i c h oder (offensichtlich) fehlerhaft, sondern durchaus vernünftig gewesen sei: " . . . the decision was in no way arbitrary

or illfounded

b u t , o n t h e c o n t r a r y , . . . w a s completely

reasonable

I n zahlreichen Fällen w i r d überdies die Nichtzulassung der Beschwerde gem. A r t . 27 Abs. 2 nicht, wie es doch bei einer Abweisung als „offensichtlich unbegründet" der Fall sein sollte, positiv m i t der Gültigkeit der Maßnahme, sondern nur negativ damit begründet, daß eine Überschreitung des den Staaten zustehenden Ermessensspielraums nicht ersichtlich sei 7 . 3 Y B I I I , 311 ff., 319; i n dieser Entscheidung, die als erste i m Zusammenhang m i t Grundrechtseinschränkungen das Problem des „Ermessensspielraums" anspricht, sieht Partsch S. 441 zu Recht so etwas w i e eine A n t w o r t auf die These Fabers. 4 Wenn sie also die überwiegend objektiven Bedingungen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 erfüllt. 5 CoD 39, 63 ff. ; eine ähnliche Formulierung findet sich auch i n dem U r t e i l des E G H v. 18. 6.1971 (Affaires de Vagabondage) CEDH série A para. 93 S. 45 (vgl. auch unten B T Kap. I A n m . 178). 6 Y B V, 200 ff. 7 Vgl. z. B. CoD, 39, 63 ff.: " . . . the prison authorities d i d not transgress the l i m i t s of the power of appreciation which A r t . 8 (2) leaves to them."

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AT — Kap. X I I : Ermessen und Ermessenskontrolle

Dagegen findet sich auch eine ganze Reihe von Entscheidungen, i n denen ein Ermessensspielraum m i t keinem Wort erwähnt w i r d und lediglich festgestellt wird, daß alle Voraussetzungen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 objektiv erfüllt sind, wobei offensichtlich alle Umstände des Falls i n tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüft wurden. Interessanterweise waren aber nicht die Grundrechtseinschränkungen nach den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 der Anlaß für die Kommission, erstmalig auf die Frage des „marge d'appréciation / margin of appreciation" bzw. „measure of discretion" einzugehen, sondern die Außerkraftsetzungen i. S. d. A r t . 15: "The Commission also considered that i t was competent to decide whether measures taken b y a Party under A r t i c l e 15 of the Convention had been taken to the extent strictly required by the exigencies of the situation. The Government should be able to exercise a certain measure of discretion i n assessing the extent strictly required b y the exigencies of the situation 8 ."

Der Begriff des „marge d'appréciation" ist von der Komm, anscheinend aus der französischen Rechtsprechung und Lehre zur Frage der Ermessensfreiheit („pouvoir discrétionnaire") der Behörden entlehnt worden 9 . Danach gibt es nie Fälle völliger Ermessensfreiheit oder völliger Bindung, sondern nur einen von gesetzlichen Bestimmungen mehr oder weniger eingeengten Ermessensspielraum der Behörden. I n diesem Sinn enthält auch A r t . 15 eine Mischung aus „pouvoir discrétionnaire" und „compétence liée" 1 0 : Zwar sind die Staaten bei Maßnahmen i. S. d. A r t . 15 insofern gebunden, als i n dieser Bestimmung Anlaß, Gegenstand und Ziel der Maßnahme sowie die notwendigen Formalitäten festgelegt sind 1 1 , doch enthält z. B. die Frage, welches M i t t e l zum Schutz der Nation notwendig ist, Elemente der Zweckmäßigkeit („opportunité"), die i m allgemeinen der auf die Uberprüfung der Rechtmäßigkeit („légalité") beschränkten richterlichen Kontrolle entzogen sind. Die i n der Theorie klare Trennung zwischen Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit läßt sich i n der Praxis nicht immer durchhalten. So ist es nichts ungewöhnliches, wenn bestimmte Aspekte der Zweckmäßigkeit rechtlich bindend definiert werden. Sind Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte aber solchermaßen i n Rechtmäßigkeitsgesichtspunkte integriert, so unterliegen auch sie der richterlichen Kontrolle 1 2 . Die bei A r t . 15 anzustellenden Zweckmäßigkeitserwägungen sind so eng mit den objektiv 8

Y B I I , 1974 ff., 175. Vgl. dazu Vélu S. 462 ff., 465 u n d Heumann, Les droits garantis par la Convention; Etudes des limitations de ces droits (Colloque Strasbourg 1961) i n : Annales de la Faculté de D r o i t et des Sciences Politiques et Economiques à Strasbourg Bd. 10 (1961) S. 143 ff., der die Möglichkeit zur Grundrechtseinschränkung anhand dieser französischen Ermessenstheorie untersucht. 10 Vgl. Vélu S. 465. 11 Vgl. oben Kap. I V . 12 Vgl. Vélu S. 467. 9

§ 1 Rechtsprechung der Kommission zu dieser Frage

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feststehenden 13 oder rechtliche Wertungen erfordernden 14 Voraussetzungen dieser Bestimmung verknüpft, daß auch sie der (Rechts-)Kontrolle der M R K Organe unterliegen. Auch die an rechtlich nachprüfbare Kriterien gebundenen Zweckmäßigkeitserwägungen sind Bestandteil der Verpflichtungen der Staaten, deren Einhaltung diese Organe zu überwachen haben. Damit ist aber noch nichts über das Ausmaß dieser Kontrolle gesagt. Über die von der Mehrheit der Kommissionsmitglieder i n dieser Frage eingenommene Haltung kann eine Äußerung Waldocks i m Fall Lawless Aufschluß geben, auf die Vélu 15 hinweist 1 6 : die Komm, halte sich für zuständig zu überprüfen, wie eine Regierung das Vorliegen einer öffentlichen Gefahr i. S. d. A r t . 15 bestimmt hat, u m dann auf der Grundlage einer selbständigen Prüfung zu einer eigenen Entscheidung zu kommen. Gleiches gelte auch für die Frage der Notwendigkeit der Maßnahme. Die Mehrheit der Komm, habe dabei den Staaten aber eine gewisse Ermessensfreiheit (une certaine „latitude" et une „marge d'appréciation") zugebilligt, allerdings i n unterschiedlichem Maß. Wohl einstimmig sei man aber der Auffassung gewesen, daß ein objektiver Maßstab anzulegen ist. Der Grundsatz des „marge d'appréciation" greife, m. a. W., erst dann ein, wenn gewisse objektive Mindesterfordernisse erfüllt sind. Die Komm, folgte also weder der von der irischen Regierung hilfsweise 17 vorgebrachten Theorie der Gültigkeitsvermutung noch der A u f fassung des Beschwerdeführers, der sich allerdings einige Kommissionsmitglieder anschlossen: danach soll den Staaten kein oder doch nur ein sehr begrenzter Ermessensspielraum zustehen. Wohl nicht zu Unrecht glaubte die irische Regierung, daß ihre Ansicht nicht allzu weit von der Kommissionsmeinung entfernt sei: wenn sich die Komm, bei der Uberprüfung der korrekten Handhabung des den Staaten eingeräumten Ermessens auf die Erfüllung gewisser objektiver Mindesterfordernisse beschränkt, so läuft das i m Ergebnis wegen der Unbestimmtheit und Weite der Kriterien des A r t . 15 auf eine bloße Mißbrauchskontrolle hinaus 1 8 . 13

z. B. „ K r i e g " oder „das Leben der Nation bedrohender Notstand". So z. B. die Bedingung, daß es sich u m eine nach der Lage unbedingt erforderliche Maßnahme handelt: von Partsch S. 311 als „Adäquanz der N o t standsmaßnahme" bezeichnet. 15 Vélu S. 474. 16 Vgl. Compte rendue sténographique de l'audience tenue par la Chambre de la Cour les 7, 8,10 et 11 a v r i l 1961 C E D H série A (1960/61) S. 43. 17 Diese „théorie de la présomption en faveur" gelte, w e n n feststeht, daß der Staat gutgläubig („de bonne foi") handelte. I n ihrem Hauptvorbringen hatte sie der K o m m , jede Kontrollbefugnis f ü r die Beweggründe, die zum Erlaß der Maßnahme gem. A r t . 15 geführt haben, abgesprochen. 18 Vgl. Partsch S. 311: „Eine nachträgliche Prüfung der von einem Vertragsstaat getroffenen Entscheidungen w i r d k a u m über die Prüfung der Frage 14

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AT — Kap. X I I : Ermessen und Ermessenskontrolle

Der EGH nahm i n seiner Lawless-Entscheidung auf keine dieser Meinungen Bezug, sondern suchte den Begriff des Notstands i. S. d. A r t . 15 auf der Grundlage einer vollen Tatsachenüberprüfung objektiv zu bestimmen: nach der Lage „unbedingt erforderlich" sei eine Maßnahme dann, wenn keine andere Maßnahme die Gefahr beseitigt hätte. Die Kontrollorgane der M R K überprüfen also nicht nur die Tatsachen, auf die eine Maßnahme gestützt wurde, sondern kontrollieren auch die richtige Würdigung und Einschätzung dieser Tatsachen durch den betreffenden Staat 19 . Neben diesen Fragen der Rechtmäßigkeits- bzw. Zweckmäßigkeitskontrolle kann i m Ermessensbereich noch eine weitere Unterscheidung getroffen werden: Jede Entscheidung enthält Erkennen und Wollen 2 0 . Ermessen ist demnach begrifflich zu unterteilen i n ein kognitives Beurteilungsermessen und ein Verhaltensermessen (d. h. Handlungs- oder Unterlassungsermessen) 21 . Das Verhaltensermessen betrifft die sachgebundene 22 Freiheit der Behörde, bei gegebenem Tatbestand eine Rechtsfolge zu setzen. Das Beurteilungsermessen dagegen bezieht sich auf die Beurteilung eines Begriffs, gleichgültig, ob er auf der Tatbestandsoder der Rechtsfolgeseite der Norm steht 23 . I n der Rechtsprechung der Kommission w i r d nirgends erkennbar, daß sie ihre Ermessenstheorie auf das Verhaltensermessen beschränken w i l l oder aber unterschiedliche Maßstäbe bei der Beurteilung der Ermessensausübung anlegen w i l l , je nach dem, ob es sich u m die Kontrolle von Verhaltens- oder Beurteilungsermessen handelt 2 4 . Die Kommission hat ihre Ermessenstheorie auf die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 übertragen, ohne dafür eine Begründung zu geben, wie es angesichts der doch beträchtlichen Unterschiede zwischen „dérogations" und „restrictions" 2 5 eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Bedeutet dies, daß die Komm, auch i m Bereich der Grundrechtseinschränkungen ihre Aufgabe lediglich darin sieht, die Erfüllung gewisser objektiver Mindesterfordernisse zu überprüfen, ansonsten aber mangels einer willkürlichen oder hinausgehen dürfen, ob vertretbare Anhaltspunkte dafür vorlagen, so zu handeln, wie gehandelt wurde." 19 Vgl. Velu S. 476. 20 Stein, Die Wirtschaftsaufsicht 1967 S. 98 ff., 105. 21 N u r i n dem Sinn der gesetzlichen Unbestimmtheit der Rechtsfolge, also des „ v o l i t i v e n Verhaltensermessens", w i l l Wolff § 31 I I a von Ermessen sprechen. Hier ist m i t Ermessen aber ein Oberbegriff m i t allgemeiner Bedeutung gemeint. 22 Vgl. oben Kap. X I I (Anm. 9). 23 Vgl. dazu Wolff § 311. 24 Auch i n den die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 betreffenden Entscheidungen w i r d eine derartige Unterscheidung, soweit ersichtlich, zumindest nie ausdrücklich gemacht. 25 Vgl. Vegleris S. 235 A n m . 31 u n d oben Kap. I V .

§ 1 Rechtsprechung der Kommission zu dieser Frage

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offensichtlich mißbräuchlichen Ermessenshandhabung und vorbehaltlich eines Verstoßes gegen die A r t . 14 und 18 die Gültigkeit der Maßnahme i. S. d. A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 festzustellen? Eine derartige, auf Mißbrauch und offensichtlichen Fehlgebrauch beschränkte Ermessenskontrolle würde den ohnehin relativ weitgehenden Einschränkungsregeln der Art. 8 - 1 1 Abs. 2 aber einen wesentlichen Teil der Bedeutung nehmen, die ihnen i m Rahmen der M R K zukommen soll: die Sicherung eines i n einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbaren Mindestbestands klassischer „bürgerlicher" Freiheitsrechte. Für A r t . 15 mag dies eher angemessen sein, verfolgt diese Bestimmung doch wesentlich andere Zwecke als die A r t . 8 - 1 1 . Sie läßt den Staaten die „Hintertür" offen, sich i n bestimmten Krisensituationen zumindest teilweise außerhalb des Rahmens der M R K zu stellen. Die Inanspruchnahme dieser Außerkraftsetzungsmöglichkeit ist zwar nicht i n das „freie" Belieben der Staaten gestellt, doch läßt ihnen Art. 15 einen außerordentlich weiten Spielraum. Anders bei den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2: hier w i r d die Möglichkeit zur Grundrechtseinschränkung i n normalen Zeiten oder auch i n Phasen eines nicht existenzbedrohenden Notstands, immer aber innerhalb des Rahmens der M R K gegeben. Ihrer Garantiefunktion können diese A r t i k e l nur dann gerecht werden, wenn die Notwendigkeit einer grundrechtseinschränkenden Maßnahme zum Schutz bestimmter Rechtsgüter i n einer demokratischen Gesellschaft als objektive Voraussetzung ernst genommen w i r d und i n vollem Umfang der Kontrolle der Organe der M R K unterliegt. Betrachtet man sich die Rechtsprechung der Komm, insgesamt, so deutet auch einiges darauf hin, daß sich die Komm, dieser ihrer Aufgabe auch durchaus bewußt ist und ungeachtet der fast wörtlichen Übernahme der zunächst i m Bezug auf A r t . 15 formulierten Theorie des Ermessensspielraums die Grundrechtseinschränkungen einer wesentlich weitergehenden Uberprüfung unterzieht als die Außerkraftsetzungen. Sogar Formulierungen wie „ i n no way arbitrary or illfounded . . . but completely reasonable" 26 scheinen weniger, wie man zunächst glauben könnte, die theoretischen Grenzen des den Staaten eingeräumten Ermessensspielraums zu bezeichnen, sondern eher eine zusammenfassende W ü r digung aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände des Falls darzustellen. Auch i n anderen Entscheidungen werden die beanstandeten Maßnahmen global als „reasonable" bezeichnet, obwohl zuvor alle einschlägigen Probleme des Falls eingehend erörtert worden waren 2 7 . Z u beanstanden wäre also lediglich, daß nicht immer klar gesagt wird, welche Tatsachen welche Bedingungen der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 26 27

Vgl. oben Kap. X I I A n m . 6. Vgl. z. B. CoD 35,102 ff.

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AT — Kap. X I I : Ermessen und Ermessenskontrolle

erfüllen, nicht aber auch der Umfang der Prüfung selbst: die Zubilligung eines Ermessenspielraums ist als solche unbedenklich. Die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 sind sogar typische Fälle von Ermessensnormen, da sie es den Staaten grundsätzlich freistellen, ob und i n welchem Umfang sie grundrechtseinschränkende Maßnahmen erlassen wollen, auch wenn sie diesen Freiheitsraum durch die Formulierung von Eingriffsschranken begrenzen. Den Kontrollorganen der M R K obliegt es dann zu überprüfen, ob die Staaten bei der Handhabung dieses Ermessens die Einschränkungsregeln der A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 beachtet haben und auf der Grundlage einer eigenen Prüfung zu entscheiden, ob eine Maßnahme objektiv den Voraussetzungen dieser A r t i k e l entsprach oder nicht. § 2 Beurteilungsspielraum bei unbestimmten Rechtsbegriffen?

Eine andere Frage ist es dann* inwieweit die Staaten auch i n der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe dieser Einschränkungsregeln wie z. B. der Begriffe „demokratische Gesellschaft", „öffentliche Sicherheit und Ordnung" oder „Gesundheit und Moral" frei sind, und i n welchem Umfang diese Auslegung objektiv nachprüfbar ist. „Unbestimmt" sind diese Begriffe insofern, als sie zwar i n den westeuropäischen Demokratien des Europarats einen festumrissenen „Begriffskern" 2 8 haben, i n den u. U. fließenden Ubergangszonen, ihrem „Begriffshof", aber zunehmend unbestimmter werden. Können die Kontrollorgane der MRK, die i m Bereich des den Staaten zustehenden Verhaltensermessens darauf beschränkt sind, auf der Grundlage einer vollen Tatsachenüberprüfung einem eventuellen Ermessensmißbrauch oder Ermessensfehlgebrauch 29 nachzuspüren, guten Gewissens bei der Beurteilung der unbestimmten Rechtsbegriffe ihre Auffassung an die Stelle der möglicherweise ebenso richtigen, „vertretbaren" 3 0 staatlichen Auslegung setzen? Dabei darf man die praktischen Probleme nicht übersehen, vor die sich die Kontrollorgane der M R K bei ihrer Tätigkeit gestellt sehen: Bei aller von der Präambel beschworenen Gemeinsamkeit 31 sind die Mitglieds28

Vgl. Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff u n d Ermessen i n rechtstheoretischer u n d verfassungsrechtlicher Sicht, i n : AöR 1957 S. 163-249; Heck AcP 112 S. 173. 29 Ermessensmißbrauch soll dabei die Überschreitung der inneren Grenzen des Ermessens (konkreter Ermessensfehler), Ermessensfehlgebrauch die Überschreitung der äußeren Grenzen des Ermessens (Setzen einer von der N o r m unter keinen Umständen gedeckten Rechtsfolge) bezeichnen (ähnl. Wolff § 31 I I : „Ermessensüberschreitung" u n d „Ermessensmißbrauch"). 30 Vgl. Ule, Gedächtnisschrift f ü r Walter Jellinek (1955) S. 309 - 330, der die Gerichte auf die Überprüfung der „Vertretbarkeit" der Behördenentscheidung beschränken w i l l . 31 Vgl. oben Kap. X I § 3.

§ 3 Einheitlichkeit des Ermessensbegriffs

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Staaten der M R K noch weit davon entfernt, einen derart einheitlichen Rechtsstandard aufzuweisen, daß eine volle und objektive Kontrolle auch der Auslegung von Rechtsbegriffen sinnvoll und überhaupt möglich wäre. § 3 Einheitlichkeit des Ermessensbegriffs

Die Lehre von der zumindest theoretisch einzig richtigen Lösung dürfte i n diesem internationalen Bereich noch viel mehr eine Fiktion darstellen, als sie es schon i m Rahmen einer einzigen innerstaatlichen Rechtsordnung ist 3 2 . Die Beurteilung eines unbestimmten Rechtsbegriffs der M R K durch die Staaten w i r d man deshalb dann nicht als konventionswidrig bezeichnen können, wenn sie m i t demokratischen Grundsätzen vereinbar ist und auch sonst gute Argumente für sie sprechen, sie also m. a. W. „vertretbar" ist. Da diese Vertretbarkeitstheorie bei unbestimmten Rechtsbegriffen sich zumindest vom praktischen Ergebnis her gesehen nicht von der Ermessenstheorie i m Bereich des Verhaltensermessens unterscheidet, erscheint es wenig sinnvoll, diese theoretische Trennung bei den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 überhaupt beizubehalten. Das Zusammenwirken von Beurteilungs- und Verhaltensermessen bedeutet für die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 demnach, daß die darin enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe die Leitlinie abgeben für die Ausübung des (Verhaltens-)Ermessens, dessen Inhalt und Grenzen am Maßstab der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Gesundheit und Moral usw. zu bestimmen sind 3 8 . Von einem solchen einheitlichen Ermessensbegriff scheint auch die Kommission auszugehen, wie sie i n einer Entscheidung zu A r t . 10 34 andeutete: die Definition der „Rechte anderer" sei zwar den Mitgliedsstaaten überlassen, doch gäben die weiteren Bestimmungen des A r t . 10 Abs. 2 die Grenzen der gesetzgeberischen Befugnisse an, die darin lägen, daß nicht unter dem Vorwand, die Rechte anderer schützen zu wollen, die Meinungsfreiheit entgegen den Erfordernissen der demokratischen Gesellschaft eingeschränkt werden darf.

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I n diesem Sinne auch B V e r w G N J W 1972 S. 596. Vgl. auch den Beschluß des gemeinsamen Senats der obersten Bundesgerichte v. 19.10.1971 N J W 1972, 1411 ff. zu einer Bestimmung der AO, nach der Steuern aus Billigkeitsgründen erlassen werden können. 34 Y B I X , 512 ff. 33

78 AT—Kap. X I I I : Demokratische Gesellschaft als Wesensgehaltsgarantie Kapitel X I I I

Die „demokratische Gesellschah ' als Wesensgehaltsgarantie1 Durchaus naheliegend ist die Annahme, daß die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 und insbesondere der Begriff der „Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft" über die inhaltliche Begrenzung der staatlichen Eingriffsgewalt hinaus auch einen absoluten und unantastbaren Wesenskern der garantierten Grundrechte sichern wollen. § 1 Einschränkung — Außerkraftsetzung — Abschaffung

Schon die Verwendung des Begriffs „restriction", der i n Abgrenzung zur Außerkraftsetzung („dérogation") oder gar Abschaffung („abolition") der A r t . 15 bzw. 17 zu sehen ist, bedeutet, daß eine einschränkende Maßnahme niemals den völligen Verlust eines Grundrechts, d. h. seine A b schaffung, sondern nur seine Einschränkung i m Einzelfall zur Folge haben darf 2 . Verdeutlicht w i r d dies durch die Eingriffsschranke „demokratische Gesellschaft": es widerspräche rechtsstaatlichen demokratischen Grundsätzen, wenn staatliche Maßnahmen einen völligen Verlust eines Grundrechts bewirken könnten, ohne daß der Grundrechtsträger dieses Recht i. S. d. Art. 17 mißbraucht hätte. Der einem Rechtsverlust gleichzustellende Eingriff i n den Wesenskern eines Grundrechts kann niemals eine i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme sein. § 2 Relativität des Erfordernisses der „Notwendigkeit" — absoluter Schutz des Grundrechtskerns

Es fragt sich aber, ob dieser Grundrechtskern i. S. d. M R K der Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG entspricht oder sogar noch eine über sie hinausgehende Bedeutung 3 hat. Während die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG den Grundrechtskatalog des GG, der vorwiegend inhaltlich unbegrenzte oder allenfalls sehr allgemein begrenzte Eingriffsermächtigungen enthält, lediglich ergänzt, setzt jeder der A r t . 8 - 1 1 i n seinem Abs. 2 der staatlichen Ein1 Vgl. zum Begriff des Wesensgehalts (Art. 19 Abs. 2 GG) bzw. Wesenskerns z. B. K . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der B R D (1968) S. 132, 190. 2 Nach M. - Klein V 7 a) zu A r t . 19 Abs. 2 (S. 564) ist A r t . 19 Abs. 2 GG rechtstheoretisch sogar überflüssig, w e i l ein Eingriff i n den Wesensgehalt keine Einschränkung mehr ist, sondern eine Aufhebung. 3 Vgl. Wollweber, Diss. S. 120: Die „undeutliche Beschränkung" (des A r t . 19 Abs. 2 GG) falle gegenüber den strengen materiellen Anforderungen des A r t . 8 Abs. 2 nicht nennenswert ins Gewicht. Ä h n l i c h Schorn S. 65.

§ 2 Grundrechtskern: relativ oder absolut?

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griffsgewalt selbst schon dadurch detaillierte Schranken, daß er die zulässigen Eingriffsziele abschließend aufzählt und die Zulässigkeit von Einschränkungen außerdem davon abhängig macht, daß sie gesetzlich vorgesehen und i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Trotz dieses formalen Unterschieds darf aber angenommen werden, daß damit das gleiche Ziel verfolgt werden soll: dem einzelnen nicht nur quantitativ, d. h. innerhalb des von der M R K bzw. dem GG garantierten Schutzbereichs, sondern auch qualitativ ein unantastbares Grundrechtsm i n i m u m zu sichern. Der Begriff des Wesensgehalts kann also auch für die Art. 8 - 1 1 übernommen werden 4 . Soll dieser Wesensgehalt i. S. d. M R K etwas absolut Feststehendes bezeichnen oder aber mit den Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalls variieren? Da i n dem Begriff der Notwendigkeit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 5 enthalten ist, läge es nahe, diesen Wesensgehalt für die A r t . 8 - 1 1 relativ (proportional) zu bestimmen 6 , d. h. i n Abhängigkeit von dem sachlichen Anlaß und dem Zweck der Maßnahme. Ein Grundrecht würde demnach durch eine gesetzlich vorgesehene Maßnahme dann i n seinem Wesensgehalt angetastet, wenn durch den Eingriff die wesensmäßige Geltung des Grundrechts stärker eingeschränkt würde als dies der sachliche Anlaß und der Grund, der zu diesem Eingriff geführt hat, unbedingt und zwingend gebietet. Eingriffe i n Grundrechte wären danach nur zulässig bei zwingender Notwendigkeit, i m geringstmöglichen Umfang und i n dem Bestreben, dem Grundrecht gleichwohl grundsätzlich und i n weitmöglichstem Umfang Raum zu lassen7. Zwar hat i n einer Demokratie jede Staatstätigkeit, besonders, wenn sie i n Rechte des einzelnen eingreift, die Gebote des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beachten, doch ist der Wesensgehalt eines Grundrechts etwas anderes, das nicht damit verwechselt werden darf. Wenn eine Maßnahme den Grundrechtsträger i n seinen Rechten übermäßig und unverhältnismäßig beschneidet, so verstößt sie schon deshalb gegen die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2, weil sie nicht mehr von der Eingriffsermächtigung dieser Bestimmungen gedeckt ist, die die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme ja gerade „relativ" bestimmt, d. h. von dem Verhältnis des gegebenen Anlasses zu dem verfolgten Zweck abhängig macht. Würde man den Wesensgehalt ebenfalls relativ definieren, so hätte er demgegenüber keine eigene Bedeutung mehr. Der Wesensgehalt muß deshalb etwas absolutes sein, das unabhängig ist von Grund und Zweck der jeweiligen Einschränkung: er bezeichnet den Kernbereich des Grundrechts, i n den i n einer demokratischen Gesellschaft unter keinen Umständen eingegriffen werden darf 8 . Er ist jene 4 5 6 7

Davon geht offensichtlich auch Vegleris S. 221 aus. Vgl. dazu oben Kap. V I I . Vgl. M. - Klein V 4 a) zu A r t . 19 S. 557. So BGHSt 4, 377.

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AT — Kap. X I V : Bedeutung der „demokratischen Gesellschaft"

Eigenschaft, die die Natur und Grundsubstanz des einzelnen Grundrechts, m. a. W. seine typischen Grundzüge ausmacht 9 . Quantitativ ließe er sich dahingehend bestimmen, daß er bereits angetastet wird, wenn auch nur eine der als wesentlich erkannten Eigenschaften des Grundrechts beinträchtigt w i r d ; qualitativ gesehen wäre zu fragen, ob nach der Einschränkung von dem Grundrecht noch etwas „übrig bleibt" 1 0 . Dieser absolute Wesensgehalt w i r d auch nicht dadurch „immanent" relativiert, daß er nicht zur Gefährdung der Grundrechte Dritter oder wichtiger Gemeinschaftsgüter führen dürfe 1 1 . Zwar ist es richtig, daß jedes Grundrecht den Bestand der staatlichen Gemeinschaft vorausetzt, weil es erst durch sie gewährleistet wird, doch rechtfertigt diese Überlegung nicht jede beliebige Grundrechtseinschränkung. Gerade wegen der Wechselwirkung von Grundrechtsschutz durch die staatliche Gemeinschaft und Schutz vor der Staatsgewalt kann eine Gesellschaft, die sich als demokratisch versteht, nicht auf die Garantie eines durch keine gesellschaftlichen oder individuellen Interessen relativierten Grundrechtsminimums verzichten. Nur so ist sichergestellt, daß das Recht des einzelnen auf Ausübung der Grundrechte nicht unter Berufung auf irgendwelche angeblich übergeordnete Interessen nicht nur eingeschränkt, sondern sogar aberkannt werden kann. Andererseits bedeutet die absolute Bestimmung des Wesensgehalts auch nicht, daß eine allgemeingültige Definition dieses Begriffs geliefert werden könnte. Vielmehr ist i n jedem Einzelfall zu entscheiden, ob von dem Grundrecht nach der Einschränkung noch so viel übrig bleibt, daß noch von einer „Einschränkung" gesprochen werden kann. Auch für die dabei erforderliche Beurteilung der Natur und sozialen Bedeutung des Grundrechts, seiner „typischen Grundzüge" 1 2 , liefert die Rechtsüberzeugung der „demokratischen Gesellschaft" den Maßstab.

Kapitel X I V

Die Bedeutung des Begriffs „demokratische Gesellschaft" (Zusammenfassung) Zusammenfassend kann demnach gesagt werden, daß die „demokratische Gesellschaft" i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 eine übergeordnete, echte 8 Vgl. zum Unterschied zwischen Wesensgehalt u n d Verhältnismäßigkeit H. Krüger, DöV 1955 S. 598. 9 Vgl. M. - Klein, V 4 a zu A r t . 19 S. 557. 10 Ob es noch Bedeutung für das soziale Leben i m ganzen besitzt (vgl. M. - Klein V 5 zu A r t . 19 S. 560). 11 So aber f ü r das GG B V e r w G Vorlagebeschluß v. 29.11.1955 DVB1 1956,198; vgl. auch Dürig AöR Bd. 79 (1953/54) S. 57 ff., 80/81. 12 M. - Klein V 4 a) zu A r t . 19 S. 557.

AT — Kap. X I V : Bedeutung der „demokratischen Gesellschaft" Eingriffsschranke inhaltlicher A r t mit objektivem Charakter für alle dort vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten ist. Sie beinhaltet die i n diesen Bestimmungen genannten Voraussetzungen für die Einschränkung der Grundrechte unter Einschluß der i n den A r t . 14, 17 und 18 enthaltenen, geht aber noch weit darüber hinaus und umfaßt alle i n einer demokratisch geführten Gesellschaft unverzichtbaren Rechtsgrundsätze, auch soweit sie nicht oder nicht ausdrücklich i n der M R K Aufnahme gefunden haben. Sie verbietet den Staaten die Errichtung eines auf W i l l k ü r , Gewalt und Ungerechtigkeit beruhenden Herrschaftssystems und den Erlaß diktatorischer Maßnahmen, auch wenn sie unter dem Vorwand, gerade die Demokratie schützen zu wollen, getroffen werden. Ungeachtet des Satzes: „keine Freiheit den Feinden der Freiheit" darf auch die auf Selbsterhaltung bedachte Demokratie nicht zu Maßnahmen greifen, die ihrerseits undemokratisch sind. Sie liefert den Bewertungsmaßstab dafür, welche öffentliche Ordnung, welche Moral, welche Rechte anderer usw. auch dann geschützt werden können, wenn dies auf Kosten der Freiheit des einzelnen geschieht. Darüber hinaus verbietet sie die Zurücksetzung der Rechte des einzelnen zugunsten der „Staatsraison", die keinem echten Gemeinschaftsinteresse entspricht. Sie gebietet die Sorge u m einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des einzelnen an der Ausübung und dem Genuß der jedermann zustehenden Freiheitsrechte und den damit i n Konflikt geratenen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit. Sie liefert den Maßstab für die Entscheidung, welches dieser kollidierenden Interessen i m Einzelfall höherwertig ist und damit geschützt werden muß. Sie sichert dem einzelnen ein absolutes M i n i m u m an Grundrechtsgarantie, das außer i m Fall der Verwirkung (Art. 17) niemals angetastet werden darf („Wesensgehalt"). Sie entspricht somit dem Prinzip materieller Rechtsstaatlichkeit, wie es den Mitgliedsstaaten gemeinsam ist, und hat i n Verbindung m i t den Postulaten der Präambel als solches Gültigkeit für die M R K insgesamt. A u f dem Weg der progressiven Angleichung der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten kommt ihr die Funktion einer Leitlinie zu. Die Kontrollorgane der M R K sind berechtigt und verpflichtet, die Entscheidung der Staaten über das, was notwendig ist i n einer demokratischen Gesellschaft, daraufhin zu überprüfen, ob dieses von den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 eingeräumte Ermessen fehlerhaft gehandhabt worden ist 1 . 1 Entgegen den v o n Monconduit (vgl. oben Kap. X I I A n m . 1) S. 166 geäußerten Bedenken k a n n die Kontrolle, ob Grundrechtseinschränkungen der demokratischen Ideologie entsprechen, die K o m m , k a u m zur Kontrolle des

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Hoffmann-Remy

82 AT — Kap. XV: Das Problem der sog. „Drittwirkung" bei den Art. 8 - 1 1 Kapitel X V

Das Problem der sog. „Drittwirkung" bei den Art 8 - 1 1 § 1 Überblick über den Meinungsstand

Die Frage nach der Schutzrichtung der Rechte und Freiheiten der M R K ist zu vielschichtig, als daß sie i m Rahmen dieser Arbeit auch nur annähernd abschließend behandelt werden könnte. Es soll hier deshalb nur insoweit auf das Problem der D r i t t w i r k u n g eingegangen werden, als dies zum Verständnis einiger i m „Besonderen Teil" besprochener Fälle notwendig erscheint. Die Kommission vertritt i n ständiger Rechtsprechung die Ansicht, daß die M R K nur vor Eingriffen der Staatsgewalt i n die Rechtssphäre des einzelnen schützt 1 . Sie trennt dabei allerdings nicht immer scharf zwischen passiver Parteifähigkeit (gegen wen kann eine Beschwerde eingebracht werden) und materieller Drittwirkung (Schutzrichtung der Normen) 2 . I n der Literatur 3 w i r d teilweise eine unmittelbare 4 , von anderen auch eine nur mittelbare D r i t t w i r k u n g 5 befürwortet. Neuerdings w i r d darüber hinaus vor allem die Frage diskutiert, ob die M R K an die Mitgliedsstaaten nicht nur das Verbot der Verletzung der garantierten Menschenrechte durch die eigene Staatsgewalt, sondern auch das Gebot richtet, den einzelnen durch wirksame gesetzgeberische Maßnahmen (Schutzgesetzgebung) vor Angriffen von privater Seite zu schützen 6 . Nach Hahne sind einige Rechte der MRK, so neben den A r t . 6 I S. 2 und 17 sowie 2 Abs. 3 des Vierten Protokolls auch die Art. 8 - 1 1 , nicht auf das Verhältnis Staat Individuum beschränkt, sondern begrenzen als Ordnungsprinzipien für das soziale Leben auch die Freiheit des einzelnen 7 . Diese Rechte seien Maßes an Demokratie der staatlichen Institutionen u n d der staatlichen P o l i t i k überhaupt verführen: Objekt der Kontrolle ist immer n u r die konkret beanstandete Maßnahme. 1 z. B. i n Y B I, 154 ff.; Y B I, 188 ff.; Y B I, 211, 215; Y B I V , 346 ff., 352; Y B V I , 349 ff., 357. 2 Vgl. Guradze, Konv. S. 22. 3 Vgl. z. B. Glatzel, Diss. m i t ausführlichen Nachweisen. 4 z. B. Nipperdey GR I I S. 21; v. Weber ZStW Bd. 65 S. 341. 5 Danach soll der Staat zumindest verpflichtet sein, dem einzelnen auch Schutz vor A n g r i f f e n von privater Seite zu gewähren, vgl. z. B. Echterhölter JZ 1956 S. 142 ff.; Golsong, Rechtsschutzsystem S. 18; Erdsiek N J W 1959 S. 1216; Weiß S. 31; Schorn S. 68. Die K o m m , verneint dagegen i n Y B X I I I , 708 ff. ausdrücklich, daß behördlicher Schutz vor Entlassungen durch Private gewährt werden müsse. 8 Vgl. Hahne, Diss. 7 Vgl. HahneS. 80.

§ 1 Überblick über den Meinungsstand

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auch für den einzelnen verbindlich, obwohl die M R K an die Verletzung ihrer Grundrechte durch „Drittangriffe" keine Rechtsfolgen knüpfe, und das Individuum auch nicht passivlegitimiert sei. Ausreichend sei, daß das Achtungsgebot für Individuen vor innerstaatlichen Rechtsanwendungsorganen geltend gemacht werden könne 8 . Die Staaten seien nach den A r t . 1 und 13 verpflichtet, die Grundrechte der M R K auch gegenüber A n griffen privater Dritter zu gewährleisten, wobei es ihnen überlassen sei, ob sie die konventionsgeschützten Grundrechte innerstaatlich für unmittelbar anwendbar erklären oder nur entsprechende Schutznormen aufstellen. Erfülle der Staat seine Verpflichtung aus Art. 1 zur materiellen Gewährleistung der Grundrechte auch gegenüber Drittangriffen nicht oder versäume er es, den Rechtsweg hierfür zu eröffnen (Art. 13), so könne der von privaten Dritten i n der Ausübung seiner Grundrechte Verletzte nach A r t . 25 gegen den Staat Beschwerde wegen Verletzung der A r t . 1 bzw. 13 erheben. Demgegenüber scheint m i r aber doch Zurückhaltung nötig, so w ü n schenswert dieses Ergebnis auch sein mag. Es ist kaum anzunehmen, daß die i m wesentlichen konservative M R K 9 ausgerechnet i n dieser Frage eine wegbereitende Funktion einnehmen sollte 10 . Zudem ist die Problematik der D r i t t w i r k u n g von Grundrechten wohl eine spezifisch deutsche Frage, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der M R K i n Europa zwar nicht mehr völlig, aber doch weitgehend unbekannt war. Durch die Konvention selbst dürfte sich kaum eindeutig belegen lassen, daß die Grundrechte gegenüber jedermann garantiert werden. So zwingt auch A r t . 13 nicht zu dem Schluß auf eine D r i t t w i r k u n g : die Formulierung dieser Bestimmung „selbst wenn 1 1 die Verletzung von Personen begangen worden ist, die i n amtlicher Eigenschaft gehandelt haben" ist irreführend 1 2 . Dam i t sollte sicher 13 nicht gesagt werden, daß die Verletzung der Rechte und Freiheiten der M R K durch Privatpersonen die Regel, die durch Träger öffentlicher Ämter aber die Ausnahme wäre 1 4 . I n der Literatur w i r d überwiegend angenommen, daß dieser Satz nur m i t Rücksicht auf das englische Rechtssystem aufgenommen wurde, das keinen allgemeinen Grundsatz der Amtshaftung kennt. Aber auch wenn man der A n sicht ist, daß der Hauptsatz des A r t . 13 ausgereicht hätte, u m England 8

Vgl. Hahne S. 82. Vgl. Guradze , Stand S. 179. 10 Hahne S. 66 stellt demgegenüber mehr auf eine objektive Auslegung (z. B. des A r t . 8) ab. 11 Französisch „alors même que", neutraler allerdings das englische „ n o t withstanding" (trotzdem, ungeachtet). 12 Vgl. Partsch S. 298 A n m . 211; Guradze , K o n v . Einl. § 7 I (3) S. 21; Köhler , Diss. S. 34; Glatze 1, Diss. S. 61/62; Morvay S. 319 ff. 13 A. M. Hahne S. 75, da dieser Nebensatz sonst sinnlos sei. 14 Allenfalls k a n n darauf die Annahme gestützt werden, daß A r t . 13 von privaten und von hoheitlichen A n g r i f f e n ausgeht. 9

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84 AT — Kap. XV: Das Problem der sog. „Drittwirkung" bei den Art. 8 - 1 1 und andere Staaten, die keinen lückenlosen Rechtsschutz gegen hoheitliche Tätigkeit kennen, zur Eröffnung des innerstaatlichen Beschwerdeweges hiergegen zu verpflichten, darf A r t . 13 nicht überbewertet werden, da er kein materielles Recht enthält 1 5 . Der das Recht auf Leben gewährleistende A r t . 2 betrifft nur einen Sonderfall und läßt außerdem mehrere Auslegungen zu 1 6 . A r t . 1 schließlich betrifft nur den durch die M R K geschützten Personenkreis, sagt aber nichts darüber aus, wer zur Achtung der Rechte und Freiheiten verpflichtet sein soll. Allerdings ist auch die Berufung der Kommission auf die A r t . 19 und 25 nur ein Zirkelschluß: aus dem Begriff der Verpflichtungen kann nicht auch deren Inhalt hergeleitet werden. § 2 Die Art. 8 - 1 1 als „staatsgerichtete" Abwehrrechte

Speziell für die A r t . 8 - 1 1 dürfte die Problematik aber ohnehin entschärft sein. Die Art. 8, 10 und 11 enthalten eindeutige Hinweise darauf, daß sie nur staatsgerichtet sind. So läßt A r t . 8 Abs. 2 nur Einschränkungen „öffentlicher Behörden" zu, woraus zwingend folgt, daß auch der Abs. 1 nur von der Staatsgewalt zu beachten ist 1 7 : andernfalls käme man zu dem kuriosen Ergebnis, daß Art. 8 Abs. 1 i n seiner „ D r i t t w i r k u n g " völlig einschränkungslos garantiert wäre 1 8 . I n ähnlichem Sinn garantiert auch A r t . 10 Abs. 1 S. 2 die Meinungs- und Informationsfreiheit ohne Eingriffe öffentlicher Behörden, während Abs. 1 S. 3 dieses Artikels den Staaten die Möglichkeit gibt, Genehmigungsverfahren einzuführen. Auch aus A r t . 11 Abs. 2 S. 2, der gesetzliche Einschränkungen für bestimmte A r t e n „besonderer" Gewaltverhältnisse zuläßt, kann e contrario gefolgert werden, daß auch Abs. 1 keine Privatpersonen verpflichten w i l l 1 9 . Die Tatsache, daß allein A r t . 9 seinem Wortlaut nach „richtungsneutral" zu sein scheint, dürfte kaum den Schluß rechtfertigen, daß ausgerechnet die Gedanken-, Religions- und Gewissensfreiheit i m Gegensatz zu den Rechten der A r t i k e l 8, 10 und 11 auch vor Eingriffen von 15 Vgl. auch Hahne S. 76: zum Nachweis einer D r i t t w i r k u n g bedarf es einer Entsprechung i n den materiellen Menschenrechtsbestimmungen, die die Verf. auch bejaht. 16 Vgl. z. B. das Gutachten des B J M i n , Niederschrift der Großen Strafrechtskommission Bd. 2 S. 231; Krüger N J W 1970 S. 1483. 17 A . M. Hahne S. 67/68: durch die Aufnahme des Behördeneingriffs nicht, w i e urspr. von Großbritannien vorgeschlagen, i n Abs. 1, sondern i n Abs. 2 des A r t . 8 habe m a n aus A r t . 8 Abs. 1 i n Abs. 2 einen bestimmten Fallbereich ausgegliedert. Danach soll also A r t . 8 Abs. 2 n u r die „staatsgerichtete" Seite dieses an sich auch gegenüber D r i t t e n wirkenden Rechts betreffen. 18 Diese Konsequenz zieht Hahne S. 67/68 dagegen nicht. 19 Die A r t . 10 u n d 11 sind also keineswegs, w i e Hahne S. 70 meint, i m H i n blick auf ihre Adressaten neutral formuliert.

§ 3 Die Wertordnung der MRK als Auslegungsrichtlinie

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privater Seite geschützt sein soll 2 0 . Jedenfalls den Art. 8 - 1 1 dürfte demnach keine D r i t t w i r k u n g zukommen. § 3 Die Wertordnung der M R K als Auslegungsrichtlinie für alle unbestimmten Rechtsbegriffe

Eine andere Frage ist es aber, ob die M R K nicht durch die Gesamtheit der von i h r garantierten Individualrechte auch eine objektive Wertordnung verkörpert, deren Wertentscheidungen für die Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten insgesamt, also unter Einschluß der privaten Rechtsbeziehungen, Gültigkeit hat. Geht man davon aus, daß es der Zweck der Konvention ist, auf dem Weg über eine mittelbare, d. h. die parallele Entwicklung der nationalen Rechtsordnungen fördernde Integration eine objektive Ordnung für Europa zu errichten, so kann man i n den Rechten und Freiheiten der M R K i n der Tat Grundentscheidungen sehen, die für alle Rechtsbeziehungen verbindlich sind. Dies bedeutet, daß die nationalen Rechtsanwendungsorgane bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe auch des Privatrechts die Grundrechte der MRK, insbesondere auch die Art. 8 - 1 1 , mit zu berücksichtigen haben: die Generalklauseln werden damit zu Einbruchstellen der M R K i n das private Recht 21 .

Kapitel X V I

Die Geltung der Art. 8 - 1 1 im sog. „besonderen Gewaltverhältnis"1 A u f den ersten Blick könnte man glauben, zumindest die A r t . 8 - 1 0 seien, ähnlich wie die meisten Grundrechte i n den nationalen Verfassungen, nur auf das allgemeine Gewaltverhältnis zugeschnitten, i n dem jeder Bürger zu seinem Staat steht. 20 Vgl. Guradze, Konv. Einl. § 7 I V S. 22. Auch der Gesetzesvorbehalt zugunsten der „Rechte anderer" i n den Abs. 2 der A r t . 8 - 1 1 bedeutet keinen A u f t r a g zum staatlichen Schutz der Grundrechte vor privaten Eingriffen i. S. d. „mittelbaren D r i t t w i r k u n g " (vgl. oben S. 88 A n m . 5): „Rechte anderer" können durchaus auch nicht unter den Schutz der Konvention fallende Rechte sein (vgl. Partsch S. 298 A n m . 211). 21 So Glatzel, Diss. S. 101 i m Anschluß an Partsch S. 285; zustimmend auch Guradze, Konv. Einl. § 7 V S. 23. 1 „Besonderes Gewalt Verhältnis" ist ein entweder k r a f t gesetzlichen Zwangs (Grundschüler, Wehrpflichtige, Gefangene) oder freiwillig (Höhere Schüler, Studenten, Beamte, Berufssoldaten) begründetes öffentlich-, insbesondere verwaltungsrechtliches Sonderverhältnis, das den allgemeinen Status zwar nicht aufhebt, aber die Rechte aus dem allgemeinen Status teils extensiv, teils

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AT — Kap. XVI: Die Art. 8 - 11 im „besonderen Gewalterhältnis"

Lediglich i n A r t . 11 Abs. 2 S. 2 scheinen die Autoren der M R K das Bedürfnis erkannt zu haben, der Ausübung von Grundrechten i m Rahmen intensiverer, „besonderer" Gewaltverhältnisse auch ausdrücklich besondere, weitergehende Schranken zu setzen. Zumindest nach dem Wortlaut dieser Bestimmung beschränkt sich dies aber auf die Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit durch Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung. § 1 „Ipso iure" eingeschränkter Grundrechtsschutz im besonderen Gewaltverhältnis?

Teilweise w i r d deshalb die Ansicht vertreten 2 , auch darüber hinaus könne allgemein i m Rahmen sog. „besonderer Gewaltverhältnisse" die volle Grundrechtsfreiheit 8 insofern nicht i n dem gleichen Ausmaß garantiert sein wie i m allgemeinen Gewaltverhältnis, als durch die Zuerkennung des vollen Rechts die das Gewaltverhältnis tragende Institution gefährdet wäre. Es fragt sich somit, ob derartige besondere Gewaltverhältnisse ihrer Natur nach der Grundrechtsausübung zusätzliche, allgemeine und ungeschriebene Schranken setzen, ob also speziell auch die Art. 8 - 1 1 nur einen insoweit schon „ipso iure" eingeschränkten Grundrechtsschutz gewährleisten. Kann, m. a. W., i m Rahmen besonderer Gewaltverhältnisse, seien sie freiwillig eingegangen oder zwangsweise durch Hoheitsakt begründet, von der Beachtung der Eingriffsregeln, wie sie i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 enthalten sind, insgesamt abgesehen oder wenigstens auf einzelne ihrer Elemente verzichtet werden? Immer ist dabei natürlich vorauszusetzen, daß sowohl die Institution des besonderen Gewaltverhältnisses als solche als auch die Eingliederung des Betroffenen i m Einzelfall mit den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaats zu vereinbaren sind 4 , oder, wie es die Komm. 5 ausdrückt, der allgemeinen Übung i n demokratischen Staaten entsprechen: ein rechtsstaatswidriger Sonderstatus kann nach Sinn und Zweck der M R K niemals eine Grundrechtseinschränkung rechtfertigen. Genügt es aber, wenn diese Grundrechtseinschränkung m i t „Wesen und Zweck" eines an sich rechtmäßig begründeten besonderen Gewaltverhältnisses vereinbar, aus einer „ N a t u r " gerechtfertigt sind, ohne daß restriktiv verändert, insbesondere die Ausübung der Grundrechte einschränkt u n die Pflichten erhöht, soweit der Sinn des Sonderstatus dies erfordert (vgl. W o l f f § 32 I V 3; bay V f G E 4, 39; 5,195). 2 Vgl. zum Stand der Meinungen z.B. Guradze, K o n v . Einl. § 3 I V S. 9/10; Ermacora S. 289. 3 D. h. die Grundrechtsfreiheit, wie sie durch die „allgemeinen" Grundrechtsschranken negativ bestimmt w i r d . 4 Vgl. oben Kap. X I V . 5 " . . . the measure commonly adopted i n the l a w of democratic societies . . (YB I I I , 272 ff. 278).

§ 2 Stellungnahmen aus der deutschen Rechtsprechung und Lehre

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z. B. dem Gesetzesvorbehalt Genüge getan oder eines der abschließend aufgezählten Eingriffsziele einschlägig sein müßte 6 ? I n jedem Fall richtig ist es, derartige Grundrechtseinschränkungen nach denselben von der M R K festgelegten Kriterien zu messen wie i m Rahmen des „allgemeinen" Gewaltverhältnisses. Diesen Weg ist die Komm. 7 richtigerweise immer dann gegangen, wenn sich eine Subsumtion des Sachverhalts unter die Voraussetzungen des jeweligen Abs. 2 der A r t . 8 - 1 1 geradezu aufdrängte 8 . Problematisch w i r d es dann, wenn eines der Merkmale dieser Bestimmungen nicht erfüllt ist oder jedenfalls die Begründung schwerfällt. § 2 Stellungnahmen aus der deutschen Rechtsprechung und Lehre

I n der deutschen Rechtsprechung 9 wurden die Grundrechtseinschränkungen bei Strafgefangenen trotz fehlender gesetzlicher Grundlage zumindest bisher meist schon dann für verfassungs- bzw. konventionskonform gehalten, wenn diese Einschränkungen nur nach dem Wesen und Zweck des Strafvollzugs sachnotwendig schienen. Nach einheitlicher Rechtsprechung der Strafsenate sind Strafgefangene zwar grundrechtsberechtigt, doch können ihre Grundrechte Einschränkungen unterliegen. Diese generelle Einschränkbarkeit der Grundrechte i n dem durch den Strafvollzug begründeten besonderen Gewaltverhältnis folgerten die Oberlandesgerichte 10 aus dem Wesen und Zweck des Strafvollzugs und dem Erfordernis der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung i n der Strafanstalt 11 . Die Gerichte stützten sich dabei offensichtlich auf die Lehre vom sog. „besonderen Gewaltverhältnis". 6 So existiert i n der B R D für die Grundrechtseinschränkung bei Strafgefangenen bis heute keine gesetzliche Grundlage (die DVollzO ist als Vereinbahrung der Innenminister der Länder nicht einmal Gesetz i m materiellen Sinn). Zudem k a n n zweifelhaft sein, ob derartige Einschränkungen nicht n u r der Anstaltsordnung dienen, die als solche i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 nicht genannt ist. 7 Z. B. i m F a l l der Briefkontrolle bei einem internierten Nordiren, CoD 40, 75 ff. 8 I n der Hauptsache hatte sich die K o m m , bisher m i t der Situation von Strafbzw. Untersuchungsgefangenen u n d anderer Anstaltsinternierter zu befassen; auf diese Fälle soll hier deshalb besonders eingegangen werden. 9 Vgl. dazu Altenhain J Z 1966 S. 19 ff. 10 Vgl. O L G Celle N J W 1961, 692; O L G H a m b u r g N J W 1963, 1790; O L G Bremen N J W 1963, 1465; O L G Oldenburg N J W 1964, 2070; O L G F r a n k f u r t N W 1964, 2073. 11 Ä h n l i c h auch die E. des östr. V G H v. 17. 6.1971 (östr. J Z 1972 S. 306): Wenn i m Interesse der Sicherheit u n d der Disziplin Maßnahmen getroffen würden, die auf die Regelung des Empfangs von Radiosendungen i m Gefängnis abzielen, so seien dies normale Bedingungen der Urteilsvollstreckung, die nicht i m Widerspruch zur M R K stünden.

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AT — Kap. X V I : Die Art. 8 - 11 im „besonderen Gewalterhältnis"

Obwohl das Grundgesetz insofern keine ausdrückliche Regelung t r i f f t , soll nach dieser Lehre die eingeschränkte Geltung der Grundrechte i n dem besonderen Gewaltverhältnis, i n dem sich der Gefangene befindet, verfassungsrechtlich anerkannt sein, da das Grundgesetz den Strafvollzug i n den A r t . 12 Abs. 4 und 104 institutionalisiere: diese Institutionalisierung könne sich aber nicht i n ihrer „papierenen Existenz" erschöpfen, sondern müsse auch insoweit materiellen Gehalt haben, als sie das Funktionieren des besonderen Gewaltverhältnisses voraussetze 12 . Die Funktionsfähigkeit sei aber das absolute M i n i m u m für ein sinnvolles Bestehen des besonderen Gewaltverhältnisses. Überdies müsse das Grundgesetz als einheitliches Ganzes gesehen werden, weshalb nicht einzelne Bestimmungen Rechte i n einem Umfang gewähren könnten, der andere A r t i k e l illusorisch machen würde. Die Rechtsprechung läßt es dagegen offen, ob die Konstruktion des besonderen Gewaltverhältnisses aus der Natur der auf Richterspruch beruhenden Freiheitsentziehung 1 3 oder unmittelbar aus A r t . 104 GG herzuleiten sei 14 , ob der Zweck des Strafvollzugs sich an den Grundrechten auszurichten habe oder umgekehrt Grundrechte n u r nach Maßgabe dieses Zwecks gelten. Das Kammergericht B e r l i n geht sogar noch einen Schritt w e i t e r 1 5 : es kommt zu dem Ergebnis, daß die DVollzO die Grundrechte der Strafgefangenen gar nicht einschränke, sondern i m Gegenteil i m Interesse einer möglichst gleichartigen Handhabung Erleichterungen und Vergünstigungen ordnend regle, da die Grundrechtseinschränkung bereits m i t der Freiheitsentziehung als Strafe naturgemäß verbunden sei. Infolge dieses Machtverhältnisses verliere der Gefangene i m Prinzip alle diejenigen Grundrechte, zu deren uneingeschränkter Ausübung er der persönlichen Freiheit bedürfe; uneingeschränkt sei nur noch sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Grundsätzlich sei es m i t dem Sinn einer Freiheitsstrafe und dem damit verbundenen rechtspolitischen Ziel der Abschreckung unvereinbar, daß einem Gefangenen eine Lebensweise erlaubt werde, die der freier Bürger gleich oder doch zumindest nahe komme. Vergünstigungen seien n u r nach dem Ermessen u n d durch die V e r m i t t l u n g des Gewalthabers möglich. Durchgesetzt hat sich diese extreme Auffassung allerdings nicht. Eine vertretbarere Grenzziehung zwischen dem, was noch zum Strafübel der Freiheitsstrafe gehören und damit gerechtfertigt sein soll und dem, was andererseits m i t der Würde des Menschen unvereinbar ist, versucht Altenhain 16: Danach müsse, was den Verkehr des Gefangenen m i t der 12 13 14 15 16

Vgl. von Münch JZ 1958 S. 73 ff. So Röhl N J W 1960 S. 413. Vgl. von Münch a.a.O.; Maunz-Dürig A r t . 104 Rdnr. 4. N J W 1966 S. 1088 ff. I m Anschluß an Tiedemann N J W 1963 S. 1841.

§ 2 Stellungnahmen aus der deutschen Rechtsprechung und Lehre

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Außenwelt angehe, zwischen Einsperrung und Absperrung unterschieden werden 1 7 . Bei uneingeschränktem Außenkontakt habe die Freiheitsstrafe nur noch geringen Übelcharakter, der sich dann auf die Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit reduzieren würde. Die völlige Absperrung taste dagegen die Menschenwürde an. So sei z. B. die nach Nr. 147 DVollzO vorgegesehene Auswahl der Korrespondenzpartner durch die Behörden unbedenklich, da damit der erzieherischen Aufgabe des Strafvollzugs Rechnung getragen werde, indem der Schriftverkehr des Gefangenen m i t Mittätern und Personen zweifelhaften Rufs (Dirnen, Zuhälter) verhindert werde. Die i n erster Linie i m Hinblick auf die Verfassung herangezogene Theorie des besonderen Gewaltverhältnisses wollen die deutschen Gerichte offenbar ohne weiteres auch auf die M R K übertragen, sofern sie überhaupt auf diese Bezug nehmen 18 . Nach dem Beschluß des B V G vom 14. 3. 197219 dürfte diese Rechtsprechung aber wohl keine Zukunft mehr haben. Das B V G kam zu dem Ergebnis, daß die Einschränkung der Grundrechte Strafgefangener auf der Grundlage der DVollzO ohne gesetzliche Grundlage und somit verfassungswidrig ist. Auch die Grundrechte Strafgefangener seien nur durch oder aufgrund eines Gesetzes einschränkbar. Da die A r t . 104 Abs. 1 und Abs. 2 sowie 2 Abs. 2 GG keine grundsätzliche Aussage über die A r t und Weise des Strafvollzugs enthielten, sei damit dem Gesetzesvorbehalt nicht Genüge getan. Eine Einschränkung käme nur dann i n Betracht, wenn sie zur Erreichung eines von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zwecks unerläßlich sei und i n den dafür verfassungsrechtlich vorgesehenen Formen geschehe. A u f den zu entscheidenden Fall eingehend, führte das Gericht weiter aus, die Kontrolle des Briefverkehrs, wie sie i m Gefängnis praktiziert werde, stelle einen Eingriff i n das Grundrecht des Briefgeheimnisses dar, das den brieflichen Verkehr des einzelnen gegen eine Kenntnisnahme der öffentlichen Gewalt von dem Inhalt der Briefe schütze. Die Rechtsfigur des „besonderen Gewalt Verhältnisses" lehnte das Gericht ab: das Grundgesetz lasse als objektive Wertordnung m i t umfassendem Grundrechtsschutz, den zu verwirklichen die gesamte öffentliche Gewalt verpflichtet sei, einen ipso iure eingeschränkten Grundrechtsschutz für bestimmte Personengruppen nicht zu. 17 Nach O L G Bremen N J W 1963 S. 1465 soll dagegen die Freiheitsentziehung die allseitige Beschränkung der Freiheit bedeuten. 18 Nach K G B e r l i n N J W 1966,1088 ff. soll die M R K „gleichartige Grundsätze" enthalten. Auch nach A r t . 10 soll danach k e i n besonderes, die Meinungsfreiheit einschränkendes Gesetz notwendig sein, da sich die Einschränkung bei der Strafhaft schon aus ihrer Natur, insbesondere ihrer praktischen Durchführung ergebe. 19 N J W 1972 S. 811 ff.

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AT — Kap. X V I : Die Art. 8 - 11 im „besonderen Gewalterhältnis"

Offenbar i n der Absicht, dem Gesetzgeber Richtlinien für die erforderlichen Gesetze an die Hand zu geben, w i r d weiter gesagt, die Einschränkungen müßten unerläßlich sein, u m den Strafvollzug aufrechtzuerhalten und geordnet durchzuführen, wobei sein Sinn und Zweck zu berücksichtigen sei. So stelle es eine potentielle Gefahr für den Vollzug der Freiheitsstrafe dar, daß die Gefangenen zu entweichen trachten oder kriminelle Pläne schmieden. U m dies zu verhindern, könne, eine gesetzliche Ermächtigung vorausgesetzt, das Grundrecht des Briefgeheimnisses Strafgefangener eingeschränkt werden. Dagegen verstoße es gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit, Briefe nur wegen ihres teilweise beleidigenden Inhalts anzuhalten. Werturteile seien notwendig subjektiv, und A r t . 5 GG schütze nicht nur wertvolle Meinungen. Ein sinnvoller Vollzug der Freiheitsstrafe verlange nicht zwingend, daß Strafgefangene daran gehindert werden, ihre naturgemäß oftmals abwertende und feindselige Meinung über Anstaltsverhältnisse und — Personen Dritten gegenüber zu äußern. Es gäbe kein Gesetz, das es den Staatsorganen erlauben würde, Briefe, von deren beleidigendem Inhalt sie lediglich anläßlich einer Kontrolle Kenntnis nehmen, die vor allem Flucht und k r i m i nelle Aktionen verhindern soll, wegen dieses Inhalts anzuhalten 20 . Können diese vom B V G aufgestellten Grundsätze ohne weiteres auf die M R K übertragen werden? Oder lassen sich hier die Einschränkungen der Art. 8 - 1 1 schon aus A r t . 5 rechtfertigen? § 3 Ermächtigt Art. 5 zur Einschränkung der Art. 8 - 11?

Art. 5 garantiert die Freiheit und Sicherheit des Menschen und regelt i m Anschluß daran, unter welchen Voraussetzungen die Freiheit entzogen werden kann. Eine sprachliche Interpretation gibt hier keinen Aufschluß über den Inhalt dieses Freiheitsbegriffs, da die Begriffe „liberty/liberte/Freiheit" gleichermaßen mehrdeutig sind. Aus den Unterabsätzen des A r t . 5 muß aber der Schluß gezogen werden, daß „Freiheit" i n diesem Zusammenhang weder die Entschlußfreiheit (Freiheit i m weitesten Sinn) noch die allgemeine Handlungsfreiheit (Freiheit i m engeren Sinn) m e i n t 2 1 und auch keinen Oberbegriff für alle i n der MRK, besonders also auch i n den A r t . 8 - 1 1 garantierten Freiheitsrechte darstellt. Aus der Zusammenstellung der Begriffe „liberty and security" i n A r t . 5 Abs. 1, vor allem aber aus der Tatsache, daß die i n Art. 5 vorgesehenen Einschränkungen dieses Rechts auf Freiheit eindeutig nur die 20 Offen bleibt bei dieser Formulierung allerdings, ob das A n h a l t e n von Briefen m i t beleidigendem I n h a l t dann verfassungsmäßig wäre, w e n n eine formellgesetzliche Ermächtigung dafür vorhanden wäre. 21 Vgl. zu diesem Freiheitsbegriff Herzog S. 200 ff.

§ 4 Generelle Geltung der Art. 8 - 1 1 Abs. 2

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körperliche Bewegungsfreiheit betreffen 22 , ergibt sich vielmehr, daß hier nur der körperbezogene Freiheitsbegriff gemeint sein kann 2 3 . Nach A r t . 18 dürfen aber von der M R K gestattete Einschränkungen von Rechten und Freiheiten nicht für andere als die vorgesehenen Zwecke angewendet werden: daraus folgt, daß es unzulässig ist, die i n den Abs. a - f) des A r t . 5 aufgeführten Einschränkungen des Rechts auf körperliche Bewegungsfreiheit auch zur Einschränkung der i n den A r t . 8 - 1 1 garantierten Grundrechte heranzuziehen. § 4 Uneingeschränkte Geltung der Art. 8 - 1 1 Abs. 2 auch im besonderen Gewaltverhältnis

Aber auch ein „ipso iure" eingeschränkter Grundrechtsschutz ist für die M R K genauso abzulehnen wie für das Grundgesetz: auch wenn die M R K keinen umfassenden Grundrechtsschutz gewährt 2 4 , so ist doch jede Ausübung von Staatsgewalt ungeachtet der Intensität des „GewaltVerhältnisses" an die Beachtung derjenigen Rechte und Freiheiten gebunden, die die M R K garantiert. Auch das Gegenargument, bei der Schaffung der M R K sei nicht an eine Grundrechtsregelung i m besonderen Gewaltverhältnis gedacht worden, weshalb eine Lücke bestehe, die genauso wie für das Grundgesetz zu füllen sei 25 , muß sich schon bei einer bloßen Textstudie als falsch erweisen: Aus A r t . 11 Abs. 2 S. 2, der Einschränkungen der Versammlungsund Vereinigungsfreiheit bei Mitgliedern der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung unter der erleichterten Voraussetzung zuläßt, daß sie nur allgemein rechtmäßig 26 sein müssen, ergibt sich eindeutig, daß die Autoren die Problematik der Grundrechtsgeltung i m besonderen Gewaltverhältnis erkannt haben. Die Tatsache, daß dieser weitergehende Einschränkungsvorbehalt nur bei A r t . 11 und auch da nur für bestimmte Arten besonderer Gewaltverhältnisse gemacht wurde, zwingt darüber hinaus zu dem Schluß, daß i m übrigen die Grundrechtsausübung nach den A r t . 8 - 11 i m besonderen Gewaltverhältnis den gleichen 22 A r t . 5 a) Strafhaft; b) Beugehaft; c) Untersuchungshaft; d) Fürsorgeerziehungshaft; e) Internierung wegen der Gefahr der Verbreitung ansteckender K r a n k h e i t e n usw.; f) Abschiebehaft. 23 Partsch S. 357/358 macht dabei zutreffend die Einschränkung, daß nicht jede Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit (so aber Herzog S. 203) w i e z. B. der Zwang, i n einem L a n d zu bleiben u n d kein anderes aufsuchen zu können oder auch ein „de facto" E x i l w i e i m F a l l de Becker als Freiheitsbeschränkung i. S. d. A r t . 5 anzusehen ist, sondern n u r sehr v i e l w e i tergehende Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, wie sie z. B. m i t der Einweisung i n eine Anstalt verbunden sind. 24 Vgl. oben Kap. I I (Anm. 16). 25 Vgl. Köhler , Diss. S. 78 u n d oben Kap. X V I § 2. 26 Vgl. dazu unten B T Kap. I V § 3.

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AT — Kap. X V I : Die Art. 8 - 11 im „besonderen Gewalt Verhältnis"

Einschränkungsregeln unterstellt werden sollte wie i m allgemeinen Gewaltverhältnis. Eine analoge Anwendung des A r t . 11 Abs. 2 S. 2 auf die A r t . 8 - 1 0 Abs. 2 und 11 Abs. 2 S. 1 verbietet zudem schon die abschließende und bindende Aufzählung aller zulässigen Einschränkungsziele i n den jeweiligen Artikeln. Z u demselben Ergebnis kommt man, wenn man A r t . 18 als Begründung heranzieht 2 7 : das Verbot der Austauschbarkeit der nach der Konvention gestatteten Einschränkungen betrifft auch A r t . 11 Abs. 2 S. 2. Damit kann es also weder genügen, daß Einschränkungen der Grundrechte der A r t . 8 - 1 0 bei Mitgliedern der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nur allgemein „rechtmäßig" sind, noch kann aus A r t . 11 Abs. 2 S. 2 gar ein allgemeiner Grundsatz hergeleitet werden, wonach die A r t . 8 - 1 1 i m besonderen Gewaltverhältnis nur unter dem Vorbehalt lediglich „rechtmäßiger" Einschränkungen gewährleistet wären. Es wäre m i t dem Ziel der MRK, ein unabdingbares Grundrechtsminim u m zu gewährleisten, unvereinbar, wenn sich die Staaten durch die Begründung besonderer Gewaltverhältnisse auch nur teilweise von den i n der Konvention eingegangenen Verpflichtungen befreien könnten. Die Grundrechte der A r t . 8 - 1 1 können deshalb auch i m Rahmen besonderer Gewaltverhältnisse nur unter den i m jeweiligen Abs. 2 genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden. Es ist dabei auch nicht zu besorgen, daß sich die auch von der M R K anerkannten 28 Institutionen besonderer Gewaltverhältnisse i n ihrer „papierenen Existenz" erschöpfen könnten. Die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 geben den Staaten einen genügend weiten Spielraum, u m alle diejenigen Maßnahmen treffen zu können, die erforderlich sind, u m die Erfüllung des mit dem besonderen Gewaltverhältnis zulässigerweise verfolgten Zwecks sicherzustellen. § 5 Die Rechtsprechung der Kommission zu dieser Frage

Die Rechtsprechung der Komm, zu diesem Problemkreis ist zwar i m Ergebnis einheitlich, scheint aber i n den Begründungen vieldeutig und ambivalent zu sein. I n den betr. Beschwerden ging es hauptsächlich um die Zulässigkeit von Einschränkungen des Rechts auf Achtung des Nachrichtenverkehrs, des Familienlebens, der Meinungsfreiheit und der Religionsausübung bei Personen, denen die Freiheit entzogen worden war, während die Rechte des A r t . 11 insofern bisher keine Rolle gespielt zu haben scheinen 29 . 27

Vgl. Partsch S. 446. Z . B . die verschiedenen Formen der Freiheitsentziehung i n A r t . 5 oder die W e h r - bzw. Ersatzdienstpflicht i n A r t . 4. 28

§ 5 Die Rechtsprechung der Kommission zu dieser Frage

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I n der Mehrzahl der Fälle geht die Komm, so vor, daß sie anhand des Abs. 2 des für einschlägig gehaltenen Artikels die Zulässigkeit der Einschränkung prüft, was gewiß nicht zu beanstanden ist. Andererseits finden sich auch häufig Formulierungen, die stark an die auch von deutschen Gerichten 30 aufgegriffene Konstruktion des besonderen Gewaltverhältnisses erinnert, wobei dies zum Teil zusätzlich die bereits auf die Art. 8 - 1 1 Abs. 2 gestützte Begründung untermauern soll, teilweise aber auch isoliert angeführt wird, u m eine Verletzung des i m Abs. 1 garantierten Rechts zu verneinen. So heißt es regelmäßig mit geringen Abweichungen i n der Formulierung, die Einschränkung der Grundrechte Strafgefangener sei e i n d e m Wesen wohnendes Merkmal* 1.

rechtmäßiger

Freiheitsentziehung

inne-

Vor allem i n den Fällen, i n denen die Komm, auf eine Heranziehung des Abs. 2 der A r t . 8 - 1 1 verzichtet, beschränkt sie sich darauf, festzustellen, daß keine Tatsachen ersichtlich seien, die auf einen Mißbrauch des den Gefängnisbehörden zustehenden Ermessens 32 bei derartigen, der Freiheitsstrafe „wesensimmanenten" Grundrechtseinschränkungen schließen ließen 33 . Trotz der ständigen Wiederholung der Formel vom Wesensmerkmal („inherent feature") der Freiheitsentziehung scheint die Komm, aber zumindest i n materieller Hinsicht 3 4 nicht auf die Erfüllung der i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 genannten Bedingungen verzichten und von einem i m Rahmen sog. „besonderer Gewaltverhältnisse" schon „ipso iure" eingeschränkten Grundrechtsschutz ausgehen zu wollen. Betrachtet man ihre diesbez. Entscheidungen insgesamt, so scheint vielmehr die Berufung auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen Freiheitsentzug und Einschränkung anderer Grundrechte lediglich eine pauschale Begründung für die Notwendigkeit derartiger Einschränkungen i n einer demokratischen Gesellschaft zu sein. Die von der Komm, des öfteren noch zusätzlich angeführte „ständige Übung i n den Mitgliedsstaaten" wäre dann ein diese Argumentation ergänzendes Indiz für die Zulässigkeit dieser Maßnahmen i. S. d. Art. 8 - 1 1 Abs. 2. 29 Nach Guradze, K o n v . S. 174 k o m m t f ü r Strafgefangene aus sachlichen Gründen das Versammlungsrecht nicht i n Frage. Zumindest der B e i t r i t t zu einem Verein u n d die Beibehaltung der Mitgliedschaft seien dagegen zulässig. 80 Vgl. oben Kap. X V I §2. 31 CoD 35, 140 ff.: "the Commission observes that i t is an inherent feature of a l a w f u l detention that the person detained should be restricted i n his personal liberty including, as i n the present case, seperation f r o m his f a m i l y and his household." Oder CoD 36, 64/65 unter Bezugnahme auf CoD 24, 98: " . . . w h e r e a s the Commission has held i n past cases that the l i m i t a t i o n of the r i g h t of a detained person to conduct correspondence is a necessary part of his deprivation of liberty which is inherent i n the punishment of imprisonment." 32 Vgl. oben Kap. X I I § 1. 33 Vgl. z. B. CoD 37,119 ff. 34 Die fehlende gesetzliche Grundlage, z. B. i m deutschen Strafvollzug (vgl. oben S. 94), bleibt dagegen unerwähnt.

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AT — Kap. X V I : Die Art. 8 - 11 im „besonderen Gewalt Verhältnis"

Die Komm, hat auch darauf verzichtet, die Zulässigkeit derartiger Einschränkungen aus A r t . 5 abzuleiten, obwohl die irische Regierung i n ihrer Stellungnahme zu der Beschwerde Nr. 3717/6835 ausdrücklich die Ansicht vertreten hatte, die Bestimmungen des A r t . 8 dürften, soweit sie die Rechte von Straf- und Untersuchungsgefangenen beträfen, nicht isoliert, sondern nur i m Zusammenhang mit A r t . 5 interpretiert werden: insoweit dürfe A r t . 8 Abs. 2 nicht als abschließende Regelung betrachtet werden. Nach Auffassung dieser Regierung soll A r t . 8 nur das Privat- und Familienleben derjenigen Personen schützen, die unter „normalen" Umständen leben, nicht aber auch i m gleichen Umfang für diejenigen gelten, die sich i n einer der verschiedenen, von A r t . 5 als rechtmäßig anerkannten Formen der Freiheitsentziehung befinden. Die Komm, ging auf diese Argumentation überhaupt nicht ein, sondern beschränkte sich auf die Prüfung des A r t . 8 Abs. 2 3 6 . Bereits i n ihrem Bericht i m Fall de Becker 37 hatte sie die Ansicht vertreten, daß Einschränkungen der Meinungsfreiheit als selbständige Strafe nicht ihre Rechtfertigung i n den A r t . 2, 4 und 5 finden könnten: "Capital punishment, i t is true, deprives the person concerned of any further possibility of exercising the r i g h t to freedom of speech. S i m i l a r l y imprisonment , whether w i t h or w i t h o u t forced labour, necessarily places some restrictions upon the exercise of that right . B u t the incapacities i n regard to freedom of expression which result f r o m capital punishment and imprisonment are inevitable incidents of those forms of penal sanctions. The fact that Articles 2 and 5 authorise those forms of sanction w i t h a l l their automatic consequences cannot be interpreted as i m p l y i n g that these Articles at the same time authorise deprivation or restriction of the right of freedom of expression as an independent penal sanction regardless of the provisions of A r t i c l e 10."

M i t der Beschränkung ihrer Prüfung auf A r t . 8 Abs. 2 i n der Entscheidung über die Beschwerde Nr. 3717/68 hat die Komm, nun auch zum Ausdruck gebracht, daß auch Grundrechtseinschränkungen, die notwendige Folge der Freiheitsentziehung sind und somit „unselbständigen" Strafcharakter haben, nicht mit der Rechtmäßigkeit der Haft i. S. d. Art. 5 begründet werden können. Auch der EGH rechtfertigte Einschränkungen des freien Briefverkehrs bei Personen, die wegen Landstreicherei inhaftiert sind, allein damit, daß die zuständigen Behörden die Bestimmungen des A r t . 8 Abs. 2 unter Beachtung der A r t . 14 und 18 eingehalten haben 38 . I m Fall Golder 3 9 hat der Hof nun auch ausdrücklich erklärt, daß ein rechtmäßiger 35

Y B X I I I , 528 ff., 536 ff. Danach hielt sie das A n h a l t e n des Briefes eines Gefangenen, der schwerwiegende Beleidigungen gegen alle Prozeßbeteiligten enthielt, i m Interesse des Schutzes der „Rechte anderer" für gerechtfertigt. 37 CEDH série B 1962, S. 128 (Hervorhebungen v o m Verf.). 38 Affaires de Wilde, Ooms et Versyp (Vagabondage), C E D H série A , E. v o m 18. 6.1971 S. 45 ff. 36

§ 6 Zusammenfassung

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Freiheitsentzug i. S. d. A r t . 5 nur insofern Rückwirkungen auf die A n wendung des A r t . 8 haben kann, als es u m die Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs i n das Recht des Strafgefangenen auf Achtung seines Brief Verkehrs geht: bei Gefangenen könne die Verteidigung der Ordnung bzw. die Verhinderung strafbarer Handlungen weitergehende Eingriffe rechtfertigen als bei i n Freiheit befindlichen Personen 40 . Auch wenn der EGH sich i n diesen Entscheidungen nicht grundsätzlich m i t der Figur des „besonderen Gewaltverhältnisses" auseinandersetzt, so dürfte daraus doch klar hervorgehen, daß der Gerichtshof — über die A r t . 8 und die Strafhaft betreffenden Fälle hinaus — Einschränkungen der A r t . 8 - 1 1 auch i m Rahmen öffentlich-rechtlicher Sonderverhältnisse nur dann für gerechtfertigt erachtet, wenn sie i n vollem Umfang den Voraussetzungen der Absätze 2 dieser A r t i k e l entsprechen. Nichts anderes kann gelten, wenn der Betroffene sich freiwillig (z. B. als Beamter, Richter oder Berufssoldat) i n das besondere Gewaltverhältnis begeben hat. Diese Fälle sind aber ohnehin weniger problematisch als die zwangsweise begründeten Sonderverhältnisse: wenn Grundrechte auch ihrem Wesen nach unverzichtbar sind, so ist doch anerkannt, daß der Verzicht auf die Geltendmachung einzelner aus ihnen fließender Befugnisse möglich ist 4 1 . Wenn die Auslegung ergibt, daß m i t dem E i n t r i t t i n das besondere Gewaltverhältnis auf die Ausübung bestimmter Rechte wirksam verzichtet worden ist, dann ist insofern schon die Berufung auf die Art. 8 - 1 1 Abs. 1 ausgeschlossen. § 6 Die Anwendung der Art. 8 - 1 1 Abs. 2 i m besonderen Gewaltverhältnis (Zusammenfassung)

Zusammenfassend ist festzustellen, daß sich für Grundrechtseinschränkungen i m sog. „besonderen Gewaltverhältnis" keine Besonderheiten ergeben, die A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 also auch hier uneingeschränkt anwendbar sind. Zweckmäßigerweise sind aber i n diesen Fällen hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeit der Einschränkungen 42 folgende Vorfragen zu stellen: 1. Ist das Sonderverhältnis rechtmäßig begründet? Andernfalls kann es keine i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme sein, Grundrechte weitergehend einzuschränken als i m allgemeinen Gewaltverhältnis. 39

Affaire Golder, E. v o m 21. 2.1975, „ E n d r o i t " para. 44/45. I m konkreten F a l l hat der E G H eine solche Rechtfertigung aber verneint (vgl. unten B T Kap. I [Anm. 198]). 41 Vgl. Köhler , Diss. S. 74. 42 Vorauszusetzen ist natürlich auch hier die E r f ü l l u n g der formellen V o r aussetzungen des Gesetzesvorbehalts (vgl. oben Kap. V I I I . 40

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AT — Kap. X V I : Die Art. 8 - 11 im „besonderen Gewalterhältnis"

2. Verfolgt die Institution des Sonderverhältnisses also solche einen von den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 gedeckten Zweck? I n diesem Fall dient auch jede einzelne grundrechtseinschränkende Maßnahme (mittelbar) einem nach dem jeweils einschlägigen A r t i k e l zulässigen Eingriffsziel, wenn sie auch unmittelbar nur das Funktionieren der Institution sicherstellen soll. Anschließend wäre dann zu prüfen, ob diese einem zulässigen Zweck dienende Maßnahme auch i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, insbesondere also verhältnismäßig ist und nicht gegen A r t . 14 verstößt.

BESONDERER T E I L

Inhalt und Grenzen der in den Art. 8 - 1 1 gewährleisteten Grundrechte, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Einschränkungsregeln Kapitel

I

Artikel 8 A r t . 8 l a u t e t i n d e n a u t h e n t i s c h e n Fassungen: 1. Toute personne a droit au respect de la vie privée et familiale, de son d o m i cile et de sa correspondance. 2. I l ne peut y avoir ingérence d'une autorité publique dans l'exercice de ce droit que pour autant que cette ingérence est prévue par l a l o i et qu'elle constitue une mesure qui, dans une société démocratique, est nécessaire à la sécurité nationale, à la sûreté publique, au bienêtre économique d u pays, à la défense de l'ordre et à la prévention des infractions pénales, à la protection de la santé ou de la morale, ou à la protection des droits et libertés d'autrui. 1. Everyone has the r i g h t to respect for his private and f a m i l y life, his home and his correspondence. 2. There shall be no interference b y a public authority w i t h the exercise of this r i g h t except such as is i n accordance w i t h the l a w and is necessary i n a democratic society i n the interests of national security, public safety or the economic well-being of the country, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, or for the protection of the rights and freedoms of others. § 1 Das Recht auf Achtung des Privatlebens A r t . 8 g i b t d e m e i n z e l n e n a n erster S t e l l e e i n e n A n s p r u c h a u f A c h t u n g seines Privatlebens . Dieser Schutz g i l t aber n u r gegenüber s t a a t l i c h e n E i n g r i f f e n , n i c h t auch g e g e n ü b e r e i n e r s e n s a t i o n s h u n g r i g e n Presse, n e u g i e r i g e n N a c h b a r n , S p i t z e l n u n d D e n u n z i a n t e n 1 . D e r W o r t l a u t des A r t . 8 l ä ß t offen, w i e w e i t d e r Schutzbereich dieses Rechts a u f A c h t u n g des 1 Vgl. Guradze , Stand S. 202; Shawcross, The United K i n g d o m and the ECoHR i n : Revue Beige de D r o i t international 1965 S. 297 ff., 303 (vgl. auch oben A T Kap. X V .

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Hoffmann-Remy

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BT —Kap. I : Artikel 8

Privatlebens zu ziehen ist. Soll damit nur die Sicherung einer privaten häuslichen Sphäre bezweckt sein 2 oder aber allgemein ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit garantiert werden? Scheuner 3 ist der Auffassung, daß die Anführung des Art. 8 als Grundlage der personalen Sphäre des Lebens die erkennbaren Grenzen dieser Bestimmung überschreitet 4 . I n der Frage der Sicherung des intimen Bereichs des menschlichen Lebens gegen äußere Einwirkungen habe sich kaum schon eine feste Auffassung gebildet, eine so weite Auslegung könne sich nicht auf gemeinsame rechtliche Traditionen stützen 5 . Die Konvention habe die Aufgabe, die nationalen Rechtsordnungen zu sichern, sie allenfalls zu ergänzen, nicht aber zu ersetzen 6. I n der Tat kann nicht angenommen werden, daß die M R K i n A r t . 8 eine m i t A r t . 2 Abs. 1 GG übereinstimmende Rechtsgarantie auf freie Entfaltung der Persönlichkeit enthält: Die Garantie eines solchen „Oberund Auffanggrundrechts" wäre schwerlich mit der Konzeption der M R K i n Einklang zu bringen, die ja nur einen Katalog ganz bestimmter Einzelgrundrechte enthält 7 . Dennoch dürfte die Ansicht Scheuners zu eng sein: das Recht auf Respektierung der privaten Sphäre 8 betrifft zwar i n erster Linie den häuslichen Bereich, das „ m y home is my Castle", beschränkt sich aber nicht darauf, sondern umfaßt darüber hinaus allgemein die private Lebensführung des Menschen, wozu natürlich insbesondere seine häuslichen und familiären Angelegenheiten zu zählen sind 9 . I n seinem K e r n schützt A r t . 8 vor der unbefugten (staatlichen) Kenntnisnahme sowohl aus dem Bereich einer m i t anderen geteilten Vertrauenssphäre als auch erst recht aus einer vor allen verborgenen Geheimsphäre 10 . Dennoch dürfen die Begriffe „privee/private" nicht als Synonyma zu „secret" verstanden werden: auch ein Verhalten i n der Öffentlichkeit kann Teil der privaten Lebensführung sein, auf deren freie Gestaltung nach A r t . 8 ein Anspruch besteht, wobei es eine Frage der Wertung i m Einzelfall ist, was noch dem Bereich des Privatlebens zugerechnet werden kann und was andererseits nur unter die von der M R K nicht geschützte allgemeine Handlungsfreiheit fällt. Wenn man den Schutz 2

Scheuner S. 242. Scheuner S. 223. 4 I n diesem Sinne aber B G H S t 14, 358; 27, 286 ff., wo allerdings A r t . 8 n u r kurz neben A r t . 1 GG erwähnt w i r d . 5 Gegen dieses Argument Scheuners Prof. Unger S. 237 (ebenda). 6 Scheuner S. 242 i n der Diskussion m i t Prof. Unger. 7 Vgl. Köhler, Diss. S. 63. 8 Vgl. Nipperdey GR IV/2 S. 849. 9 Vgl. B G H Z 36, 77 ff., 80; Guradze, Konv. S. 118 rechnet auch die Freiheit der Willensentschließung zu A r t . 8, woraus sich auch das Verbot gewisser Vernehmungsmethoden ableiten lasse. 10 Vgl. Glatzel, Diss. S. 111. 3

§ 1 Das Recht auf Achtung des Privatlebens

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des Privatlebens m i t dem Schutz der Intimsphäre als Ausschnitt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 11 gleichsetzt, müßte z. B. auch die Gestaltung des Sexuallebens grundsätzlich von A r t . 8 Abs. 1 geschützt sein, gleich ob es sich i n der Öffentlichkeit oder i n einem vor dieser verborgenen Bereich auswirkt. Allein die Tatsache, daß ein Verhalten i n der Öffentlichkeit naturgemäß eher m i t Interessen Dritter oder der Allgemeinheit kollidieren und damit auch eher Einschränkungen notwendig machen kann, rechtfertigt nicht die Einengung des Schutzbereiches des A r t . 8 Abs. 1 auf die sich i m verborgenen haltende private Lebensführung 1 2 . Der EGH scheint i n den belgischen Sprachenfällen 13 einen i n Richtung auf ein allgemeines Persönlichkeitsrecht erweiterten Schutzbereich des Privatlebens zumindest i n Erwägung gezogen zu haben. Soweit dort die Verletzung des Privatlebens gerügt wurde, kann es nach Ansicht des EGH nicht als „Entpersönlichung" des Kindes bezeichnet werden, wenn es zur gründlichen Erlernung der Landessprache, die nicht seine Muttersprache ist, angehalten wird. Die Weigerung, dem K i n d einen Schulunterricht i n seiner Muttersprache zu ermöglichen, sei deshalb kein Eingriff i n sein Privatleben. Danach bleibt offen, ob der Gerichtshof eine Entpersönlichung, also gewissermaßen einen Eingriff i n den Wesensgehalt des an sich nicht unter A r t . 8 fallenden Persönlichkeitsrechts, auch als Eingriff i n das Privatleben ansehen würde. Schon zu Beginn ihrer Tätigkeit hatte sich die Komm, m i t der Frage zu befassen, ob die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Beziehungen unter Männern einen unzulässigen Eingriff i n das Privatleben der Betroffenen darstellt 1 4 . Ohne nähere Begründung bejahte sie einen Eingriff i n das Recht aus Art. 8 Abs. 1, u m dann dessen Rechtfertigung nach Abs. 2 zu prüfen. Sie war dabei der Auffassung, daß es A r t . 8 Abs. 2 den Staaten freistellt, die Homosexualität unter Strafe zu stellen, da i n einer demokratischen Gesellschaft i n das Recht auf Privat- und Familienleben eingegriffen werden könne, sofern dies gesetzlich vorgesehen sei 15 . 11 Vgl. Guradze, K o n v . S. 118; Nipperdey GR I I , 40 ff. u n d I V , 849 ff.; a. M. Scheuner S. 223: eine so weite Auslegung könne sich nicht auf eine gemeinsame rechtliche T r a d i t i o n stützen, da sich i n der Frage der Sicherung des i n t i m e n Bereichs des menschlichen Lebens i m Kreis der Vertragsstaaten k a u m schon eine feste Auffassung gebildet habe. 12 Die K o m m , verzichtete i n den „Homosexualitätsbeschwerden" auch auf eine derartige Unterscheidung. 13 ECHR series A 1968 (E. v. 23. 7.1968) S. 56: " T o require a child to study i n depth that national language which is not his own, cannot be characterized as an act of depersonalisation (Hervorhebung v o m Verf.) 14 Y B I, 229 ff.; I, 235 ff.; I, 255 ff. 15 Die Bedingung der Notwendigkeit w i r d v o n der K o m m , nicht einmal erwähnt (vgl. auch oben A T Kap. X I A n m . 29).

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BT —Kap. I : Artikel 8

Zuvor hatte bereits das B V G 1 6 die Verfassungsmäßigkeit der §§ 175 ff. StGB damit begründet, daß homosexuelle Beziehungen gegen das Sittengesetz verstoßen und nicht festgestellt werden kann, daß jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehlt. Die freie geschlechtliche Betätigung werde zwar von A r t . 2 Abs. 1 GG umfaßt, aber auch durch die verfassungsmäßige Ordnung begrenzt. Zwar gebe es auch hier einen letzten, unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen sei, doch werde dieser Bereich verlassen, wenn Handlungen des Menschen i n den Bereich eines anderen einwirken, ohne daß besondere Umstände wie etwa familienrechtliche Beziehungen diese Gemeinschaftlichkeit des Handelns als noch i n den engsten Intimbereich fallend erscheinen lassen. Grundsätzlich gebe schon die Berührung m i t dem Persönlichkeitsrecht anderer den Bezug auf das Soziale, der sie dem Recht zugänglich mache. Die Zulässigkeit eines Eingriffs nach A r t . 2 Abs. 1 GG hinge von der Intensität des Sozialbezugs ab. Die Homosexualität verstoße gegen das Sittengesetz, weil dieses auf dem Gebiet des geschlechtlichen Lebens die Einhaltung bestimmter Regeln fordere. Auch die Aufhebung der Strafbarkeit der Homosexualität i n einigen anderen europäischen Ländern bedeute nicht ihre sittliche Billigung. Unter Bezug auf A r t . 8 Abs. 2 führte das B V G weiter aus, die Strafbarkeit der Homosexualität diene der Verhinderung strafbarer Handlungen, dem Schutz von Gesundheit und Moral sowie der Rechte anderer. Ein Strafgesetz, das den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaats entspricht, werde durch diesen Vorbehalt jedenfalls gedeckt 17 . A r t . 14 ist nach Ansicht des B V G nur eine das materielle Recht nicht betreffende Verfahrensvorschrift 18 . Die Beschränkung der Strafbarkeit auf die männliche Homosexualität verstoße aber auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG: angesichts der Verschiedenheit des Sozialbildes und der Eigenart von Mann und Frau als männliche und weibliche Geschlechtswesen handle es sich nicht u m vergleichbare Tatbestände und damit auch nicht u m eine grundrechtswidrige Ungleichbehandlung. Dies deckt sich m i t der Feststellung der Komm., es handle sich hier u m eine erlaubte Unterscheidung zwischen den Geschlechtern und nicht u m eine verbotene Diskriminierung 1 9 . Diese Rechtsprechung ist nicht ohne K r i t i k geblieben: Zunächst hätte geklärt werden müssen, welche „Moral" m i t den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar ist 2 0 . Es fragt sich dabei, ob zur 16 17 18 19 20

B V G E 6, 389 ff. B V G E 6,441. Vgl. aber oben A T Kap. I X § 2 a). Vgl. oben A T Kap. I X (Anm. 20). Vgl. Pinto S. 80.

§ Das e t auf Achtung des

ilebens

101

Wertausfüllung des Begriffs Moral die Sitten- und Rechtsauffassungen Deutschlands, der Mitgliedsstaaten der M R K oder gar der ganzen Menschheit 21 heranzuziehen sind. Zwar ist Morvay 2 2 darin zuzustimmen, daß die Staaten m i t dem Abschluß der M R K nicht „die für sie gültigen moralischen Maßstäbe einer internationalen Durchschnittsmoral" opfern wollten, doch hindert dies nicht daran, den „moralischen Standard" der demokratischen Mitgliedsstaaten zur Auslegung heranzuziehen. So war zum Zeitpunkt der Kommissionsentscheidung die Strafbarkeit der sog. einfachen Homosexualität z. B. i n Schweden, Dänemark und Holland bereits aufgehoben. Dies dürfte zwar weniger auf die sittliche Billigung der Homosexualität als vielmehr auf die Einsicht zurückzuführen sein, daß die Kriminalisierung des sich i m „privaten" Rahmen haltenden sexuellen Verhaltens nicht das geeignete M i t t e l ist, u m der öffentlichen Moral zur Durchsetzung zu verhelfen, doch genügt auch dieser Gesichtspunkt, u m erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidungen des B V G und der Komm, zu wecken: Die Einschränkung muß nach A r t . 8 Abs. 2 nicht nur einem i n einer demokratischen Gesellschaft als berechtigt anzuerkennenden Interesse dienen, sondern auch unter Abwägung des Rechts auf Privatleben und der damit kollidierenden Interessen als unabdingbar notwendig erscheinen. Da es sich bei der sog. einfachen Homosexualität u m ein freiwilliges und ein verständliches Verhalten Erwachsener handelt, scheint seine Poenalisierung keine i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Moral notwendige Maßnahme zu sein; jedenfalls hätte die Komm, die Beschwerden wegen dieser Bedenken nicht als „offensichtlich unbegründet" abweisen dürfen 2 3 . Ein Bezug auf das zusätzlich angeführte Eingriffsziel „Gesundheit" ist nicht ersichtlich 24 . Ebensowenig kann der vom B V G angeführte Gesichtspunkt der Verbrechensverhütung überzeugen: die Straf barkeit der Homosexualität scheint vielmehr umgekehrt sogar die Gefahr von Erpressungen u. ä. i n diesem Milieu noch zu erhöhen, wie die Erfahrung gezeigt hat. Die „Rechte anderer" sind dann nicht zu schützen, wenn die Beteiligten einverständlich handeln und Dritte lediglich Anstoß nehmen: letzteres ist kein Recht, hinter dem i n einer demokratischen Gesellschaft die Ausübung von Grundrechten zurücktreten müßte. Ebenfalls m i t der Reglementierung des Sexuallebens hatte sich der östr. Oberste Gerichtshof zu befassen 25 . Er war der Ansicht, § 515 des 21 So das L G Essen i m U r t e i l v. 23. 9.1957 (6 K L s 19/54) unter Hinweis auf den anglo-amerikanischen Raum u n d Rußland (Nachweis bei Morvay S. 342). 22 Morvay S. 342. 23 Vgl. Pinto S. 80. 24 Auch dann nicht, w e n n man damit die psychische Gesundheit der Beteiligten oder D r i t t e r meint (vgl. unten A n m . 73); vgl. Pinto S. 80. 25 E. v. 8. 6.1970, östr. J Z 1971 S. 158 ff.

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BT —Kap. I: Artikel 8

östr. StGB müsse i m Hinblick auf A r t . 8 so ausgelegt werden, daß ein Hotelbesitzer nicht schon dadurch den Tatbestand der Kuppelei erfüllt, daß er Zimmer an unverheiratete Paare vermietet. Bei einer anderen Auslegung wäre der Hotelbesitzer gezwungen, die Intimbeziehungen seiner Gäste zu überwachen, was m i t dem i n A r t . 8 garantierten Schutz des Privatlebens nicht zu vereinbaren sei. A u f die Frage einer möglichen Rechtfertigung dieser (bei einer weiten Auslegung) mittelbar über die Person des Hotelbesitzers i n das Privatleben seiner Gäste eingreifenden Strafbestimmung gem. A r t . 8 Abs. 2 ging das Gericht zumindest ausdrücklich nicht ein. Eine niederländische Entscheidung 26 befaßt sich m i t der Frage, ob die gesetzlich vorgeschriebene Fluoridierung des Trinkwassers i n das Recht auf Privatleben eingreift. I n der Entscheidung w i r d schon ein Eingriff i n ein Recht aus A r t . 8 Abs. 1 verneint, weil die Zusammensetzung des Trinkwassers nicht i n den Schutzbereich dieser Bestimmung eingeordnet werden könne. Lediglich hilfsweise wurde auch eine Verletzung des A r t . 8 mit der nach Abs. 2 allerdings unvollständigen Begründung verneint, die Fluoridierung des Trinkwassers habe eine gesetzliche Grundlage i m „Waterleidungbesluit" und sei damit nach A r t . 8 Abs. 2 i n jedem Fall zulässig.. Auch bei einer weiten Auslegung des A r t . 8 Abs. 1 ist hier schon ein Eingriff i n den Schutzbereich des Privatlebens zu verneinen: allenfalls die von der M R K nicht geschützte allgemeine Handlungsfreiheit könnte hier berührt sein. Deutsche Gerichte hatten sich wiederholt m i t der Verwertbarkeit heimlich aufgenommener Tonbandaufnahmen als Beweismittel vor Gericht zu befassen 27 . Übereinstimmend w i r d die Entscheidung dabei grundsätzlich von dem Ergebnis der Güterabwägung zwischen dem vom GG geschützten Persönlichkeitsrecht des einzelnen und den Interessen desjenigen abhängig gemacht, zugunsten dessen die Verwertung des Tonbands als Beweismittel i m Prozeß erfolgen soll. Es ist davon auszugehen, daß der Staat, d. h. die Gerichte als seine Organe, i n das Recht des Betroffenen auf Achtung seiner Intimsphäre auch dann eingreift, wenn i m Prozeß die Verwertung von Tonbandaufnahmen gestattet wird, die i n unzulässiger Weise, d. h. ohne Zustimmung des Betroffenen aufgenommen wurden: der staatliche Eingriff liegt hier i n der Aufrechterhaltung und Verwertung der durch private D r i t t e 2 8 geschaffenen Beeinträchtigung der Privatsphäre. 26

K B Ars A e q u i 1971 S. 31. Die K o m m , machte i n einem solchen F a l l (YB X I , 322 ff.) die Entscheidung i m Hinblick auf eine mögliche Verletzung der A r t . 6 u n d 8 von einer weiteren Sachaufklärung abhängig. 28 Erst recht g i l t dies f ü r Aufnahmen der Strafverfolgungsbehörden. 27

§ Das e t auf Achtung des

ilebens

103

Das OLG Celle 20 hielt die Verwertung jedoch dann i m Hinblick auf die A r t . 1 und 2 GG und 8 M R K für zulässig, wenn die Aufnahme des Gesprächs selbst nicht widerrechtlich war, weil sie i n Notwehr oder i n Wahrnehmung überwiegender berechtigter Interessen erfolgte. Diese Interessenabwägung stützte das Gericht i n einem anderen Verfahren m i t einer vergleichbaren Problematik dann vor allem auf A r t . 2 Abs. 1 S. 2 GG 3 0 : Hier hatte ein Angeklagter, der einen tödlichen Unfall bei der Bundeswehr verursacht hatte, sich zu seiner Entlastung darauf berufen, daß ein Kunstfehler des behandelnden Arztes die eigentliche Todesursache gewesen sei. Somit stellte sich die Frage, ob aus den Art. 1 und 2 GG und Art. 8 M R K ein Verbot der Beschlagnahme der Krankengeschichte abzuleiten war. Nach Ansicht des Gerichts hat der Patient das höchstpersönliche und unvererbliche Recht auf Schweigen des behandelnden Arztes, das auch m i t dem Tod nicht erlischt. Dieses Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen müsse hier aber hinter dem berechtigten Interesse des Angeklagten an seiner Entlastung zurücktreten. Auch nach A r t . 8 Abs. 2 war die Beschlagnahme ein i n einer demokratischen Gesellschaft notwendiger Eingriff zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer; das Recht, nicht unschuldig bestraft zu werden, hat Vorrang vor dem Recht auf Achtung des Privatlebens Verstorbener. Eine entsprechende Güterabwägung muß i n den „Tonbandfällen" zu dem Ergebnis führen, daß die Verwertung heimlicher Aufnahmen vor allem dann zulässig ist, wenn sie von dem Opfer einer Erpressung oder schwerwiegenden Beleidigung als oft einzige Möglichkeit des Beweises gemacht wurde. Die Verwertung dient dann zugleich auch der Verhinderung strafbarer Handlungen i. S. d. A r t . 8 Abs. 2, da damit die Fortsetzung der Erpressungen, Beleidigungen usw. verhindert werden kann, während das öffentliche Interesse an der Bestrafung dem Vorbehalt des Schutzes der öffentlichen Ordnung zugerechnet werden kann. Vor ähnliche Fragen sah sich auch der östr. V G H 3 1 gestellt, der sich mit der Zulässigkeit der Herstellung von erkennungsdienstlichem Material bei Personen, die verdächtigt werden, strafbare Handlungen begangen zu haben, und ihrem eventuellen Anspruch auf Vernichtung dieser Unterlagen i m Fall eines späteren Freispruchs zu befassen hatte. Der V G H verneinte schon einen Eingriff i n das Recht auf Achtung des Privatlebens: andernfalls hätte er mangels einer gesetzlichen Grundlage für die Herstellung erkennungsdienstlichen Materials i n Österreich die Maßnahmen für unvereinbar m i t A r t . 8 halten müssen 32 . 29

N J W 1965 S. 1677; vgl. auch B G H Z 27, 284; ein rechtswidrig heimlich aufgenommenes Tonband ist dagegen unverwertbar, vgl. B G H S t 14, 358; ähnl. B G H S t 19,325 (Tagebuchfall). 30 N J W 1965 S. 362. 31 ö s t r . J Z 1966 S. 409.

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BT —Kap. I: Artikel 8

Auch unter Zugrundelegung einer engen Auslegung muß es aber als eine Verkennung des Schutzbereichs des Privatlebens bezeichnet werden, wenn man durch die Sammlung von Informationen über die bisherige Lebensführung Art. 8 Abs. 1 nicht einmal für tangiert hält. Die Komm, hat die Problematik korrekter beurteilt 3 8 . Sie ging davon aus, daß ein Eingriff i n das Recht aus A r t . 8 Abs. 1 gegeben war, unterschied dabei aber zwischen der Zulässigkeit der Anfertigung und Aufbewahrung von erkennungsdienstlichem Material einerseits und einem Anspruch auf deren Vernichtung andererseits. Die Aufbewahrung von Photos, Fingerabdrücken und Dokumenten, die sich auf i n der Vergangenheit liegende Kriminalfälle beziehen, hielt die Komm, i m Interesse der öffentlichen Sicherheit und der Verbrechensverhütung für eine i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige und damit nach A r t . 8 Abs. 2 zulässige Maßnahme. Die Bestrafung des Beschwerdeführers wegen Homosexualität war zwar 1940 wieder aufgehoben worden, weil der E i n t r i t t der Verfolgungsverjährung nicht auszuschließen war, doch wurde der Antrag auf Vernichtung der Strafakten und erkennungsdienstlichen Unterlagen abgelehnt. Das i n letzter Instanz zur Entscheidung angerufene B V e r w G 3 4 war der Auffassung, die Unterlagen seien notwendig zum Schutz der Gesellschaft: gerade bei der Homosexualität sei die Rückfallgefahr nach kriminologischer Erfahrung sehr groß, die Aufbewahrung der Akten diene demnach der Verbrechensverhütung. I n der Tat erleichtern Kriminalregister nicht nur die Verfolgung begangener Straftaten, sondern tragen auch zur Verbrechensverhinderung bei, indem sie das Risiko für den Täter erheblich vergrößern und außerdem vorbeugende Maßnahmen ermöglichen 35 . Dennoch kann i m Einzelfall ein Anspruch des Betroffenen auf Vernichtung des erkennungsdienstlichen Materials bestehen. Die Führung i m Kriminalregister kann nur solange legitim sein, wie sie von dem Motiv der Verhinderung strafbarer Handlungen gedeckt ist. Es handelt sich dabei dann nicht mehr u m eine i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme, wenn i m konkreten Fall praktisch keine Rückfallgefahr mehr besteht oder aus den Umständen m i t an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu schließen ist, daß die strafbare Handlung von vornherein nur eine einmalige „Entgleisung" des Täters war. Ein nur wegen des Eintritts der 32 Schantl /Welan, Die Rspr. des V G H zu A r t . 8 M R K (JZ 1970 S. 652) sehen darin ein Zeichen f ü r die allgemein ablehnende H a l t u n g des V G H gegenüber der M R K , der nie bereit sei, staatliche Maßnahmen auch bei offensichtlichen Verstößen f ü r konventionswidrig zu erklären. 33 Y B V, 230 ff. 34 Vgl. Y B V, 230 ff. (unveröffentlicht). 35 H i e r überschneiden sich also „prevention of disorder" (Verbrechensverfolgung) u n d „prevention of crime" (Verbrechensverhütung), vgl. zu dieser Unterscheidung Guradze, K o n v . S. 117,122.

§ Das Redit auf Achtung des

ilebens

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Verjährung oder aus Mangel an Beweisen erfolgter Freispruch dürfte dazu aber noch nicht ausreichen. I n diesem Sinn führt auch die Komm, aus: " W h e r e a s , . . . these considerations justify, under para. 2 of that Article, refusals i n general on the part of the authorities to destroy such c a s e - f i l e s . . . ; whereas the Applicant has failed to show that the r e f u s a l s . . . were not dictated b y legitimate interests of the society and b y the necessity to prevent crimes and to protect the health and morals of others 3 «."

Bei Sittlichkeitsdelikten dient die Verbrechensverhütung zugleich auch der Gesundheit und Moral anderer. Dies zeigt auch ein anderer von der Komm, entschiedener F a l l 3 7 : es ging dort u m die Vorlage „ i n t i m e r " Photos zu Beweiszwecken vor Gericht. Der Beschwerdeführer war verhaftet worden, als er zum wiederholten M a l Liebespaare i n einem öffentlichen Park belästigte. Die Staatsanwaltschaft legte dem Gericht dann Photos vor, die den Angeklagten zusammen m i t verschiedenen Frauen i n intimen Situationen zeigten. Zur Rechtfertigung dieses Eingriffs i n das Privatleben des Angeklagten nannte die Komm, hier allerdings nur den Vorbehalt der „prevention of crime", während das B V G 3 8 zuvor die Vorlage dieses wichtigen Beweismittels sogar nur allgemein m i t dem „öffentlichen Interesse" begründet hatte. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist eine Entscheidung des östr. V G H 3 9 , nach der der Alkoholtest bei Kraftfahrern von der Eingriffsermächtigung des A r t . 8 Abs. 2 gedeckt ist. Diese gesetzlich vorgesehene Maßnahme dient i n zulässiger Weise dem Schutz der Allgemeinheit vor betrunkenen Kraftfahrern, ist also notwendig zum Schutz der Gesundheit und der Rechte anderer. Zweifelhafter ist aber ein anderes Urteil desselben Gerichts 40 , i n dem Disziplinarmaßnahmen gegen einen Rechtsanwalt wegen dessen außerberuflichen Verhaltens für zulässig erklärt wurden. Das Gericht meinte, das außerberufliche Verhalten des Rechtsanwalts gehöre nicht zu seinem Privat- und Familienleben. Dem halten Schantl/Welan aaO zu Recht entgegen, daß es keinen dritten Bereich neben dem Berufs- und Privatleben geben kann: berufliche Sanktionen für ein außerberufliches Verhalten sind Eingriffe i n das Privatleben. Daran zeigt sich, daß beide Bereiche aufeinander einwirken können, weshalb sogar ein Eingriff i n die berufliche Stellung das Recht auf Privatleben verletzen kann 4 1 . 38 Y B V, 234; „legitimate interests of the society" sind hier offenbar als Oberbegriff zu den anschließend genannten Eingriffszielen gemeint. 37 CoD 43 S. 156. 38 Vgl. CoD 43,156 (unveröffentlicht). 39 Vgl. Schantl/Welan, ö s t r . J Z 1970 S. 652. 40 V g l . ö s t r . J Z 1970S.652. 41 Vgl. auch zur gesetzlichen Festlegung der Ladenschlußzeiten unten A n m . 47.

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BT — Kap. I : Artikel 8

Dieser i n der Disziplinarmaßnahme liegende Eingriff i n das Privatleben könnte allenfalls i m Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nach A r t . 8 Abs. 2 gerechtfertigt sein: ob diese öffentliche Ordnung durch den hier beanstandeten, nicht i n beruflicher Eigenschaft verfaßten Brief des Rechtsanwalts aber überhaupt gefährdet war, scheint doch mehr als fraglich. Ebenfalls m i t dem Konflikt zwischen beruflicher und privater Sphäre beschäftigt sich eine belgische Gerichtsentscheidung 42 . Es ging hier u m die Schadensersatzklage einer weiblichen Angestellten, der, ihrer A n sicht nach zu unrecht, fristlos von ihrem Arbeitgeber gekündigt worden war, weil sie sich i n der Nähe ihres Arbeitsplatzes nach Feierabend als Prostituierte betätigt hatte. Nach Ansicht der Klägerin schließt das i n A r t . 8 Abs. 1 garantierte Recht auf Privatleben ein, daß jedermann nach seinem Gutdünken sein Leben gestalten kann und auch vor jeder Beeinträchtigung seiner moralischen Freiheit geschützt ist. Das Gericht wies die Krage, i m Ergebnis sicher zu Recht, jedoch m i t teilweise problematischer Begründung ab. Die Klägerin sei i n der Nähe des sie beschäftigenden Unternehmens öffentlich der Prostitution nachgegangen. Auch wenn sie dies nicht während der Arbeitszeit oder unmittelbar vor ihrem Arbeitsplatz getan habe, so stelle dies doch eine schwere, die fristlose Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses rechtfertigende Verletzung ihrer Pflichten aus dem Arbeitsvertrag dar, w e i l sowohl ihre Kollegen als auch ihre Kunden sie dort sehen konnten. Dieses Verhalten i n der Öffentlichkeit könne nicht mehr ausschließlich dem Bereich des Privatlebens der betroffenen Person zugerechnet werden 4 3 . Die von der belgischen Verfassung und der M R K garantierte Freiheit (des Privatlebens) stehe nicht der Annahme entgegen, daß dieses freiwillige Verhalten 4 4 einen gewichtigen, die Auflösung des Arbeitsvertrags rechtfertigenden Grund darstellt. Nicht zu beanstanden ist, daß das Gericht die Kündigung durch den privaten Arbeitgeber überhaupt anhand der M R K auf ihre Rechtfertigung h i n überprüfte: ein „wichtiger Kündigungsgrund" ist ein typisches Beispiel für einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dessen Auslegung der nationale Richter die Wertentscheidungen der M R K zu berücksichtigen hat 4 5 . Dagegen kann die Entscheidung, ob das Privatleben des A r t . 8 überhaupt berührt ist, nicht davon abhängig gemacht werden, ob es sich u m ein Verhalten i n der Öffentlichkeit oder i n den „eigenen vier Wänden" handelt 4 6 . Das Gericht hätte diesen Gesichtspunkt der öffentlich42

Cour Prud. A p p e l Bruxelles J. d. Trib. 1968, 387. "Des actes aussi publics ne peuvent pas être considérés comme continuant à appartenir exclusivement à la vie privée." 44 "les actes posés librement." 45 Vgl. oben A T Kap. X V § 3. 46 Vgl. oben B T Kap. I (Anm. 12). 43

§ Das R e t auf Achtung des

ilebens

107

keit des an sich dem Bereich der privaten Lebensführung angehörenden sexuellen Verhaltens allerdings insofern berücksichtigen müssen, als erst dadurch berechtigte Interessen des Arbeitgebers, also „Rechte anderer", verletzt wurden. Die vom Gericht gebilligte Kündigung stand also i m Hinblick auf A r t . 8 Abs. 2 nicht i m Widerspruch zu der Wertentscheidung der M R K hinsichtlich des Schutzes des Privatlebens. Die Gültigkeit des Ladenschlußgesetzes der BRD wurde i n einer bei der Komm, eingebrachten Beschwerde 47 gerügt. Die Komm, bestätigte die Gültigkeit dieser Gesetzgebung sowohl nach Art. 8 als auch nach Art. 1 ZP. Sie sei i n vollem Umfang gerechtfertigt aus Gründen des wirtschaftlichen Wohlergehens des Landes (Art. 8 Abs. 2) und der Notwendigkeit, die Benutzung des Eigentums i m Einklang m i t dem Allgemeinwohl (Art. 1 Abs. 2 ZP) zu regeln. Da das Ladenschlußgesetz auch das Ziel hat, dem i m Einzelhandel tätigen Personal eine geregelte A r beitszeit zu sichern und außerdem Konkurrenzkämpfe der Unternehmer zu verhindern, die die einzelnen Ladeninhaber zwingen würden, ihr Geschäft praktisch rund u m die Uhr offen zu halten, ließe sich dieses Gesetz außerdem noch m i t dem Vorbehalt zugunsten der „Rechte anderer" rechtfertigen 48 . Der niederländische Höge Raad 4 9 schränkte den Schutzbereich des P r i vatlebens dahin ein, daß ein Ausländer nicht geltend machen könne, durch seine Ausweisung i n seinem Recht auf Achtung seines Privatlebens verletzt zu sein. Das Gericht begründete dies damit, daß A r t . 5 Abs. 1 f) die Freiheitsentziehung bei Personen zuläßt, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren läuft. Daraus folge, daß die Ausweisung von Ausländern von der M R K zugelassen w i r d und somit auch nicht als rechtswidrige Beeinträchtigung des Privatlebens angesehen werden kann. Partsch 50 sieht i n dieser Argumentation einen Verstoß gegen A r t 18, weil das Gericht aus der Zulässigkeit der Durchbrechung eines Grundrechts (Art. 5) auch die Zulässigkeit, ein anderes (Art. 8) einzuschränken, hergeleitet habe. Da A r t . 18 aber nur die Übertragung von Einschränkungen von Rechten und Freiheiten auf andere Rechte verbietet, kann es zulässig und richtig sein, bei der Auslegung von Bestimmungen der Konvention andere, den betreffenden Fall eindeutiger, wenn auch unter einem anderen Aspekt regelnde A r t i k e l der M R K heranzuziehen 51 . 47

Y B V, 230 ff., 236. Vgl. auch H R N J 1961 Nr. 272 (vgl. unten B T Kap. I I I A n m . 77). 49 N J 1963 Nr. 509 S. 1181 ff.; umgekehrt fällt auch die Ausreisefreiheit nicht unter A r t . 8, sondern n u r unter A r t . 2 des 4. Protokolls, vgl. dazu Y B X I I I , 680 ff. 50 Partsch S. 420/421 A n m . 626. 51 Vgl. oben A T Kap. I I § 6; ein Beispiel liefert auch die Auslegung des A r t . 9 Abs. 1 i. V. m. A r t . 4 Abs. 3 b) (vgl. unten B T Kap. I I [Anm. 27]). 48

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BT —Kap. I : Artikel 8

Aber auch ohne die Bezugnahme auf A r t . 5 w i r d davon auszugehen sein, daß der Schutz des Privatlebens nicht auch die Freiheit des Aufenthaltsbestimmungsrechts sogar i m Ausland umfaßt: A r t . 8 hat eben nicht, wie z. B. A r t . 2 Abs. 1 GG, die Bedeutung eines Ober- und Auffanggrundrechts, unter das alle i n der M R K nicht genannten subjektiven Freiheitsrechte subsumiert werden können 5 2 . § 2 Das Recht auf Achtung des Familienlebens

A r t . 8 beschränkt sich nicht auf das Bekenntnis zur Freiheit der I n timsphäre des Menschen, sondern bezieht die Familie m i t i n seinen Schutzbereich ein 5 3 . Aus der Zusammenstellung der Begriffe „private and family life" w i r d deutlich, daß neben der individuellen Freiheit auch die Familie ein Grundpfeiler der abendländischen demokratischen Rechtsordnung ist. Der Intimbereich muß von unberechtigten staatlichen Eingriffen genauso freigehalten werden wie die Sphäre der engeren verwandtschaftlichen Beziehungen, damit das Individuum seine Persönlichkeit gemäß dem Menschenbild demokratischer Staaten frei entfalten kann. Gerade totalitäre Staaten sind geneigt, nicht nur i n die persönliche Sphäre des einzelnen einzudringen, sondern i h n auch aus seinen natürlichen Bindungen und Gemeinschaften herauszulösen 54 : i m Gegensatz zum Brüssler Entw u r f der Europäischen Bewegung ist der Schutz der Familie nicht mehr als Institutionsgarantie, sondern als Individualrecht ausgestaltet. Allerdings dürfte A r t . 8 i. V. m. A r t . 12 einer derartigen Institutsgarantie zumindest nahekommen 55 . Der Text selbst läßt nicht erkennen, wie weit der Bereich des geschützten Familienlebens zu ziehen ist. Die Komm, rechnet die Beziehungen der Mutter zu ihrem 5 6 unehelichen K i n d ebenso dazu wie das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern i m Fall der Scheidung oder des gerichtlich gestatteten Getrenntlebens der Ehegatten 57 . Andererseits läßt sie auch engere verwandtschaftliche Beziehungen alleine nicht ausreichen: zusätzlich müßten auch tatsächlich enge Bindungen („a close l i n k " ) zwischen den Betroffenen bestehen. So hat die Komm, entschieden, die Behörden hätten durch die Verweigerung der Einreiseerlaubnis Art. 8 nicht verletzt, w e i l der schon erwachsene Sohn bereits so lange von seinem Vater getrennt lebte, daß man von Familienleben nicht mehr sprechen könne 58 . 52 53 54 55 68 57 58

Vgl. oben B T Kap. I (Anm. 7). Vgl. Schorn S. 243. Vgl. Partsch S. 414. Vgl. Hodler, Diss. S. 113; Scheuner S. 222: Objekt. Grundsatz. Y B I I I , 196 ff., 204. Y B X I , 366 (vgl. auch unten B T Kap. I A n m . 116). Y B X , ,478; vgl. auch CoD 39,104 ff.

§ 2 Das Redit auf Achtung des Familienlebens

109

Es dürfte aber doch etwas zu weitgehend sein, auch i m Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern das Vorliegen eines Familienlebens i. S. d. A r t . 8 davon abhängig zu machen, daß sie auch konkret enge Beziehungen unterhalten 5 9 . Vielmehr ist u m so stärker auf diese tatsächlichen Bindungen abzustellen, je geringer der Verwandtschaftsgrad ist. So ist der Komm, beizupflichten, daß die Beziehungen eines Onkels zu seinem Neffen und seiner Nichte nicht so eng sind, daß von einem Familienleben gesprochen werden kann, zumal sie nicht einmal i m selben Hausstand lebten 6 0 . U m die Frage der Rechtfertigung des Eingriffs i n das Familienleben ging es i n einer Reihe von Beschwerden, die sich gegen Entscheidungen nationaler Behörden oder Gerichte über die Zuteilung des Sorgerechts für die Kinder geschiedener oder getrennt lebender Ehegatten und über die Regelung des Besuchsrechts für den nicht sorgeberechtigten Ehegatten richteten. I n sich widersprüchlich scheinen dabei die Aussagen der Komm, darüber zu sein, ob der m i t der Zusprechung an den einen Elternteil notwendigerweise verbundene Entzug des Sorgerechts für den anderen Teil i n jedem Fall i n den Schutzbereich des Familienlebens eingreift und ob damit, positiv ausgedrückt, ein Anspruch auf Zuteilung des Sorgerechts aus A r t . 8 abgeleitet werden kann. I n der Beschwerde Nr. 172/56 61 führte sie zunächst aus, das Sorgerecht sei als solches kein i n der M R K aufgeführtes Recht und bliebe somit der Regelung durch die nationalen Rechtsordnungen vorbehalten. I n den nicht das Sorgerecht („custody"), sondern das Besuchsrecht („access to the child") betreffenden Fällen 6 2 ging die Komm, dagegen offensichtlich davon aus, daß die Verweigerung des Besuchsrechts vorbehaltlich einer Rechtfertigung nach A r t . 8 Abs. 2 unzulässig ist. Der Anspruch darauf, seine Kinder sehen zu können, ergibt sich danach unmittelbar aus A r t . 8 Abs. 1. I n einer weiteren Sorgerechtsentscheidung 63 wollte die Komm, dann aber m i t einem „erst recht Schluß" (argumentum a minori) die für das Besuchsrecht entwickelten Grundsätze auch auf die Zuteilung des Sorgerechts übertragen, obwohl sie i n derselben Entscheidung auf ihre Ausführungen i n YB I, 211 ff. Bezug nimmt. 59 Die Intensität dieser Beziehungen wäre dann aber insofern zu berücksichtigen, als es bei der Güterabwängung i m Rahmen des A r t . 8 Abs. 2 u m die Schutzwürdigkeit des Familienlebens geht. 80 Y B X I , 494 ff. 61 Y B 1,211 ff. 62 Vgl. CoD 7,7; Y B V, 200 ff. 83 Y B V I , 262 ff.: "Whereas such considerations recognized b y the Commission w h e n deciding questions of access to children apply w i t h even greater force to the question of deciding upon the custody of the children of divorced parents" (Hervorhebung v o m Verf.)

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BT —Kap. I: Artikel 8

Wenn i n beiden Fällen aber die behördlichen oder gerichtlichen Entscheidungen anhand des A r t . 8 Abs. 2 überprüft werden sollen, dann muß es sich entgegen der i n Y B I, 211 ff. vertretenen These sowohl bei der Verweigerung des Sorgerechts als auch des Besuchsrechts u m einen Eingriff i n das durch A r t . 8 Abs. 1 garantierte Recht auf Achtung des Familienlebens handeln. Die Ausführungen der Komm, i n Y B I, 211 ff. stoßen aber ohnehin auf Bedenken: ihre Feststellung, das Sorgerecht sei kein von der M R K garantiertes Recht, schränkt die Komm, i n dieser Entscheidung wieder dahingehend ein, daß der Entzug des Sorgerechts zwar nicht als solcher, aber doch i n seinen Wirkungen eine Verletzung des A r t . 8 bedeuten könne. Bei der Prüfung, ob eine Maßnahme i n ein von den A r t . 8 - 1 1 garantiertes Recht eingreift, kann aber doch sicherlich nicht zwischen der Maßnahme als solcher und den von i h r ausgehenden Wirkungen unterschieden werden: denn wonach soll man einen Eingriff i n ein Grundrecht beurteilen, wenn nicht nach den Wirkungen der Maßnahme? Offensichtlich w i l l die Komm, das Vorliegen eines solchen Eingriffs davon abhängig machen, ob besondere Umstände gegeben sind. Anders als i n den „Ausweisungsfällen" 6 4 , bei denen nur unter besonderen Umständen, d. h. nur bei verheirateten oder sonst i m Inland familiär gebundenen Ausländern ein Eingriff i n das Familienleben vorliegt, kann es beim Entzug des Sorgerechts nicht von den „besonderen Umständen" abhängen, ob damit i n den Schutzbereich des A r t . 8 Abs. 1 eingegriffen wird. Das Sorgerecht für die Kinder ist ein wesentlicher Bestandteil des Familienlebens, sein Entzug somit i n jedem Fall ein Eingriff i n A r t . 8 Abs. 1. Die besonderen Umstände sind i n diesen Fällen lediglich i m Rahmen der Beurteilung nach Art. 8 Abs. 2 zu berücksichtigen. Die Komm, wies i n Y B V I , 262 ff. selbst auf den entscheidenden Gesichtspunkt hin: A r t . 8 gibt keinem der Ehepartner einen Anspruch darauf, bei der Zuteilung des Sorgerechts bevorzugt zu werden, womit nicht ausgeschlossen ist, daß dennoch jeder Teil grundsätzlich einen A n spruch auf das Sorgerecht für seine Kinder aus A r t . 8 ableiten kann. Diese Ansprüche beider Elternteile heben sich nur gegenseitig auf, neutralisieren sich also gewissermaßen. Anläßlich einer Scheidung oder sonstigen Trennung muß die Entscheidung über das Sorgerecht ganz zwangsläufig zugunsten einer Partei getroffen werden, da dieses eigentlich beiden Eltern zustehende Sorgerecht nur bei bestehender Ehe auch gemeinsam ausgeübt werden kann. Der Gesetzgeber muß für die Situation nach einer Scheidung oder Trennung eben andere Regeln aufstellen als für eine bestehende Ehe 6 5 . Die Entscheidung darüber, welchem Teil dann i m Einzelfall das Sorgerecht zuzusprechen ist, hat dann, da sie einen Eingriff 64 65

Vgl. unten B T Kap. I § 2 (Anm. 95). So auch die K o m m , i n Y B X I , 366 ff. u n d CoD 36, 88 ff.

§ 2 Das R e t auf Achtung des Familienlebens

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i n das Recht des dabei nicht berücksichtigten Ehegatten darstellt, nach den Kriterien des A r t . 8 Abs. 2 unter Berücksichtigung der Umstände des Falls zu erfolgen. I n einer neueren Entscheidung, i n der es allerdings nicht u m die Verteilung des Sorgerechts unter den Ehepartnern, sondern um dessen Übertragung auf das Jugendamt ging 6 6 , legte sich auch die Komm, unter Berufung auf frühere Entscheidungen 67 darauf fest, daß die Regelung des Sorgerechts i m Fall einer Scheidung oder sonstigen Trennung der Familie ausschließlich nach A r t . 8 Abs. 2 zu beurteilen ist. Hier war dem Beschwerdeführer nach der Scheidung das Sorgerecht über den kurz zuvor geborenen Sohn entzogen und dieser zu Pflegeeltern gebracht und unter die Vormundschaft des Jugendamts gestellt worden. Die Rückübertragung des Sorgerechts wurde i h m auch nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe und der Wiederheirat m i t seiner Frau verweigert. Die Behörden wiesen dabei auf die Qualifikation der Ziehfamilie und auf die Notwendigkeit hin, dem K i n d eine stabile Umgebung zu erhalten. Auch befürchteten sie Konflikte und Spannungen für das inzwischen 5 Jahre alte Kind, da die Frau einen „bewegten" Lebenswandel führte. Die Komm, war deshalb der Ansicht, die Behörden seien bei der Ausübung des ihnen zustehenden Ermessens von den Interessen des Kindes ausgegangen 68 und somit i m Rahmen der Eingriffsermächtigung des A r t . 8 Abs. 2 geblieben. I m Gegensatz zu den Sorgerechtsfällen steht man bei der Frage des Besuchsrechts nicht vor der Schwierigkeit, notwendigerweise zu Lasten eines Elternteils entscheiden zu müssen: das Besuchsrecht für den nicht sorgeberechtigten Teil bedeutet keinen Eingriff i n das Familienleben des Sorgeberechtigten. Daraus folgt, daß für die Verweigerung bzw. den Entzug des Besuchsrechts ganz andere Grundsätze gelten müssen, obwohl i n beiden Fällen ein Eingriff i n das Recht auf Familienleben gegeben ist. Die Verweigerung des Besuchsrechts w i r d nur unter außergewöhnlichen Umständen 69 den Voraussetzungen des A r t . 8 Abs. 2 entsprechen, während umgekehrt der Entzug des Sorgerechts, der ja notwendige Konsequenz der Scheidung bzw. des Getrenntlebens ist, nur unter außergewöhnlichen Umständen keine i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Gesundheit und Moral und der Rechte der Kinder notwendige Maßnahme sein wird. Allerdings müssen auch dann gewichtige Gründe vorliegen, wenn das Sorgerecht beiden Elternteilen entzogen w i r d und die Kinder unter die Vormundschaft Dritter (Jugendamt, Pflegeeltern) gestellt werden: diese 66 67 88 89

CoD 36, 88 ff. Y B V I , 262 ff.; CoD 26, 33 ff. Die K o m m , wies hierbei auf § 1671 B G B hin. Vgl. auch Y B I V , 198 ff., 218.

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BT —Kap. I : Artikel 8

Maßnahme ist dann nicht mehr die logische Konsequenz einer v o n den Eltern geschaffenen Situation, sondern ein darüber hinausgehender E i n g r i f f i n das Familienleben, der i m Einzelfall durch 7 0 besondere I n t e r essen der K i n d e r zu rechtfertigen sein muß. Es fragt sich nun, welchen Eingriffszielen des A r t . 8 Abs. 2 dieser den Entzug des Sorgerechts oder auch des Besuchsrechts notwendig machende Schutz der Interessen der K i n d e r zuzuordnen ist. Die K o m m , stand hier vor der Schwierigkeit, daß die i n A r t . 8 Abs. 2 aufgeführten Rechtsgüter „Gesundheit u n d M o r a l " nicht so recht auf die Fälle anwendbar sind, i n denen Individualinteressen, nämlich die Interessen der E l t e r n einerseits, die der K i n d e r andererseits, miteinander kollidieren. Den Ausweg über die „Rechte anderer" beschritt die K o m m , richtigerweise 7 1 nicht, denn diese „anderen" wären j a Mitglieder derselben Familie, deren Zusammenhalt die Eltern unter Berufung auf A r t . 8 Abs. 1 erreichen wollen. Deshalb deutete die K o m m , die w o h l als Gemeinschaftsw e r t e 7 2 konzipierten Rechtsgüter Gesundheit und M o r a l i n I n d i v i d u a l werte u m : " . . . i n the opinion of the Commission the t e r m 'the protection of health or morals' i n this paragraph covers not only the protection of the health or morals of the community as a whole but also the protection of the health or morals of i n d i v i d u a l members of the c o m m u n i t y 7 3 ; "

Zwischen den i n Kollision geratenen Interessen der Eltern u n d der K i n d e r hat dann eine Güterabwägung zu erfolgen 7 4 . Der „Gesundheit u n d M o r a l " der K i n d e r ist dabei regelmäßig der Vorrang zu geben, w e n n ein Besuchs- oder Sorgerecht f ü r einen oder beide Elternteile sie i n nicht ganz unerheblicher Weise gefährden würde. N u r konsequent ist es, w e n n die K o m m , die als individuelle Rechtsgüter verstandenen Begriffe „Gesundheit u n d M o r a l " so auslegt, daß damit sowohl i h r psychisches als auch i h r physisches Wohlbefinden gemeint ist75: " . . . whereas, furthermore, i t appears to the Commission that the t e r m 'health or morals' necessarily includes the psychological as w e l l as physical w e l l — being of individuals and, i n the present case, a child's mental stability and freedom from psychic disturbance."

Aus der individuellen N a t u r der Streitigkeiten u m das Erziehungsrecht w i l l Scheuner 76 darüber hinaus den Schluß ziehen, die Konvention werde 70

Vgl. Y B X I , 406 ff. Vgl. Partsch S. 419. 72 I n A r t . 9 Abs. 2 („for the protection of public order, health or morals") w i r d dies deutlicher zum Ausdruck gebracht. 78 Y B IV, 198 ff, 216. 74 Auch dann, w e n n man m i t Scheuner S. 223 i n A r t . 8 eher einen objektiven Grundsatz als ein subjektives Recht sieht, vgl. auch Partsch S. 419. 75 Y B IV, 198 ff., 216. 78 Scheuner S. 222. 71

§ 2 Das R e t auf Achtung des Familienlebens

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dadurch überhaupt nicht berührt. Es sei daher nicht Aufgabe der Komm, zu prüfen, ob das Wohl des Kindes, also seine Gesundheit, Moral usw., es berechtigt erscheinen lassen, dem einen Ehegatten den Zugang zu dem K i n d zu verwehren. Die Komm, geht dagegen offenbar davon aus, daß es sich nicht nur dann u m einen staatlichen und somit am Maßstab der Konvention zu messenden Eingriff i n das Familienleben handelt, wenn das Sorgerecht beiden Eltern entzogen wird, sondern auch i n den übrigen Fällen, i n denen Gerichte und Behörden über die Zusprechung des Sorgerechts und über das Besuchsrecht entscheiden, ein hoheitlicher Eingriff vorliegt. Wann dagegen eine Beschwerde i n diesen Fällen unzulässig ist, weil sie sich gegen eine Privatperson richtet, zeigt die Entscheidung der Komm, über die Beschwerde Nr. 172/56 77 : Der katholische Vater rügte dort i m Hinblick auf Art. 9, daß die sorgeberechtigte Mutter den gemeinsamen Sohn i m evangelischen Glauben aufzog. Dies ist nach Ansicht der Komm, aber allein der Frau zuzurechnen, der mit dem Sorgerecht auch das Erziehungsrecht zusteht, nicht aber dem das Sorgerecht zusprechenden Gerichtsurteil und damit auch nicht der Regierung. Die Zulässigkeit des Sorgerechtsentzugs oder der Verweigerung des Besuchsrechts hat die Komm, i n mehreren Fällen m i t der Gefahr schwerer seelischer Störungen für das K i n d begründet. I n einem F a l l 7 8 war einem ehemaligen polnischen Offizier die Einreise nach Schweden verweigert worden, weil er dort durchsetzen wollte, daß sein von der Mutter i m lutherischen Glauben erzogener und nur schwedisch sprechender Sohn als Katholik und Pole erzogen werde. Nach A n sicht der Komm, befürchtete das Gericht zu Recht, daß die Einreise und der Besuch bei dem Sohn emotionale Konflikte hervorrufen würden, die zu seelischer Spannung und zur Einschüchterung des Kindes führen und es i h m erschweren würden, sich dem schwedischen „ w a y of life" anzupassen. Dabei wurde besonders die i n der Phase der Pubertät erfahrungsgemäß bestehende seelische Labilität berücksichtigt. Bei der Beurteilung der eine ernsthafte Gefährdung des Wohlbefindens der Kinder indizierenden Fakten räumt die Komm, i m Einklang m i t ihrer sonstigen Rechtsprechung zu den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 7 9 den zuständigen nationalen Instanzen einen weiten Ermessensspielraum ein, dessen Uberprüfung sie sich vorbehält. I n einer anderen Entscheidung begnügte sie sich sogar m i t einer allgemein vernünftigen Begründung der Behörden für die Verweigerung des Besuchsrechts 80 . Hier hatte eine Dänin das Recht erhalten, an bestimm77 78 79 80

8

Y B 1,211 ff., 218. Y B I V , 198 ff. Vgl. oben A T Kap. X I I § 1. Y B V, 200 ff., vgl. auch oben A T Kap. X I I (Anm. 8), (ähnlich Y B X I , 354 ff.).

Hoffmann-Remy

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BT —Kap. I: Artikel 8

ten Tagen ihre beiden Kinder zu sehen, die bei ihrem nunmehr i n wilder Ehe lebenden geschiedenen Mann zusammen m i t weiteren 5 Kindern wohnten. Nachdem dies einige Jahre ohne Zwischenfälle gut gegangen war, weigerten sich die inzwischen 12 und 14 Jahre alten Kinder, auch weiterhin den Besuch ihrer Mutter zu empfangen. Die Polizei nahm i m Interesse des Wohlergehens der Kinder davon Abstand, das Besuchsrecht zwangsweise durchzusetzen. Bei einem schließlich doch zustande gekommenen Treffen zeigten sich die Kinder, möglicherweise auch auf Veranlassung des Vaters, höchst aggressiv und undiszipliniert, beschädigten Möbel und provozierten die Mutter und die Großeltern. Die Komm, führte hierzu aus, die fortgesetzte Ausübung des Besuchsrechts gegen den ausdrücklichen Willen der K i n der würde m i t großer Wahrscheinlichkeit ernsthafte seelische Konflikte bei den Kindern hervorrufen und sich auf ihre normale Entwicklung schädlich auswirken. Andererseits würde die Annullierung des Besuchsrechts auch i n starkem Maß dem verständlichen Wunsch der Mutter w i dersprechen, ihre Kinder zu sehen. Aus diesem Grund hatte auch das oberste nationale Gericht den Entzug des Besuchsrechts nicht für notwendig gehalten. Das zuständige Ministerium war aber dann doch der Meinung, daß dem Wohlergehen der Kinder der Vorrang einzuräumen sei. Das Besuchsrecht wurde deshalb bis auf weiteres ausgesetzt. Die Komm, hielt diese Entscheidung für keinesfalls willkürlich oder unbegründet, sie spiegle vielmehr die Erkenntnis der unglücklichen Entwicklung des Falls wider und sei unter den gegebenen Umständen vollkommen vernünftig. I n den der Entscheidung des Ministeriums zugrunde liegenden Überlegungen sah die Komm, einen außergewöhnlichen Umstand 8 1 , der eine Einschränkung des Besuchsrechts nach Art. 8 Abs. 2 gestatte. Ausdrücklich m i t dem Eingriffsvorbehalt zugunsten der Gesundheit und Moral rechtfertigte die Komm, i n einer weiteren Entscheidung das Verbot, den Besuch des dreijährigen Sohnes i m Gefängnis zu empfangen 82 . Die Behörden könnten i m Interesse des Schutzes des Kindes vor ernsten psychischen Schäden das Recht eines Elternteils, mit seinem K i n d zusammenzukommen, einschränken. Hier bliebe aber zu fragen, ob ein K i n d i n diesem Alter sich der Situation des i n Haft befindlichen Vaters bereits so bewußt wird, daß daraus irgendwelche schädlichen Folgen für sein seelisches Wohlbefinden resultieren könnten. Eindeutiger war die Wahrscheinlichkeit einer des Kinds dagegen i m Fall der Beschwerde Gericht die Verweigerung des Besuchsrechts für sorgeberechtigten Vater auf ein psychiatrisches 81 82 83

„exceptional circumstance". Y B I X , 436 ff. Y B I X , 556 ff.

derartigen Gefährdung Nr. 2792/6603, wo das den geschiedenen, nicht Gutachten stützte, nach

§ 2 Das

e t auf Achtung des Familienlebens

115

dem die psychische Verfassung des Vaters und die Spannungen zwischen den Geschiedenen das seelische Wohlbefinden des Kindes beeinträchtigen würden. Bei mehreren Kindern kann sogar die Aufteilung des Sorgerechts geboten sein 84 . Nach der Scheidung einer Ehe aus überwiegendem Verschulden der Frau gab das Vormundschaftsgericht zunächst alle 5 Kinder i n die Obhut des Mannes, bestellte aber das Jugendamt zusätzlich als Pfleger. A u f die Berufung beider Elternteile hin erhielt der Mann dann das volle Sorgerecht für 3 Kinder, die Mutter für die anderen zwei. Dabei wurde berücksichtigt, daß i m Gegensatz zu früher inzwischen beide Eltern berufstätig waren und eine feste Wohnung hatten, somit also angemessene Bedingungen für die Kindererziehung boten. Der Mann wäre bei der Übertragung des vollen Sorgerechts für alle 5 Kinder wegen seines Berufs überlastet gewesen, die zwei der Mutter zugesprochenen Kinder hingen außerdem besonders an ihr. Die durch die Trennung für die Kinder mögliche seelische Belastung wurde für weniger schwerwiegend gehalten als die Nachteile, die entstehen würden, wenn alle Kinder zu einem Elternteil kämen. Auch hier führte die Komm, aus, die Verleihung des Sorgerechts an einen Elternteil greife unvermeidlich i n das Recht des anderen Teils auf Ausübung seines durch die Scheidung nicht beendeten Familienlebens mit den Kindern ein. Das Gericht habe bei der Ausübung des i h m zustehenden Ermessens seine Entscheidung über die unter den gegebenen Umständen zum Schutz der Gesundheit und Moral der Kinder notwendigen Maßnahmen aber auf vernünftige Gründe gestützt: ein Ermessensmißbrauch und eine Verletzung des Art. 8 seien damit ausgeschlossen. Eine Verletzung i n seinem Recht auf Familienleben kann derjenige nicht behaupten, der freiwillig Entscheidungen trifft, die eine Trennung von der Familie zur Folge haben. Die Komm, wies deshalb zu Recht die Beschwerde von 15- bis 16jährigen britischen Armeefreiwilligen ab, die die Verweigerung ihrer beantragten Entlassung aus der Armee unter anderem als Verstoß gegen Art. 8 rügten 8 5 . Nach Ansicht der Komm, kann das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vernünftigerweise nicht so weit ausgelegt werden, daß es dem einzelnen, auch wenn er minderjährig ist, gestattet, sich von den freiwillig eingegangenen Verpflichtungen des Militärdienstes zu lösen, weil er mit Ausnahme des Urlaubs die Trennung von der Familie m i t sich bringt. Dies sei die normale Lage eines jeden Armeeangehörigen und sogar vieler privat Beschäftigter. Trotz der Minderjährigkeit könne diese Trennung für eine bestimmte Zeit und m i t Zustimmung der Eltern für das Recht auf Familienleben aus A r t . 8 Abs. 1 nicht relevant sein. I n der Tat liegt bei einem wirksamen Verzicht auf die Ausübung einzelner, sich aus 84 85

S*

CoD 37,74 ff. Y B X I , 562 ff.

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BT —Kap. I : Artikel 8

einem Grundrecht ergebender Befugnisse 86 schon kein Eingriff i n den Schutzbereich dieses Rechts vor; eine Prüfung nach A r t . 8 Abs. 2 erübrigte sich hier deshalb. I n den „belgischen Sprachenfällen" 87 stellte sich die Frage, ob die belgische Gesetzgebung, die die Unterrichtssprache i n den Grund- und Mittelschulen vorschreibt, u. a. mit A r t . 8 vereinbar ist. Die Sprachfreiheit als solche garantieren weder die M R K noch ihre Protokolle 8 8 . Ein Eingriff i n das Familienleben könnte aber darin liegen, daß diese Gesetzgebung diejenigen Eltern, die als Angehörige einer sprachlichen Minderheit i n einem der Sprachgebiete Belgiens leben, vor die Alternative stellt, ihre schulpflichtigen Kinder entweder i n einer für sie fremden Sprache an der Schule des Heimatortes unterrichten zu lassen oder sich von ihnen zu trennen und sie i n ein Gebiet zu schicken, i n dem ihre Muttersprache auch Schulsprache ist. So brachten die Eltern vor 8 9 , sie müßten ihre Kinder entweder i n die flämisch sprechende Schule am Ort oder i n das wallonische Gebiet schicken. Neben den dabei i n Kauf zu nehmenden Nachteilen wie Reisedauer, Gefahren des Verkehrs, überfüllte öffentliche Verkehrsmittel und die fehlende Möglichkeit für die Eltern, die Hausaufgaben zu überwachen, würde dies auch i n erheblichem Maß das Familienleben beeinträchtigen. Der EGH hat dazu entschieden 90 , daß Art. 8 an sich kein besonderes elterliches Erziehungsrecht garantiert und daß auch dann, wenn die Eltern ihre Kinder von zu Hause weg i n ein anderes Sprachgebiet schikken, diese Trennung nicht durch einen Eingriff öffentlicher Behörden, sondern durch die Entscheidung der Eltern selbst verursacht wird. Diese von der Komm, übernommene 91 Rechtsprechung scheint den Anspruch auf Schutz des Familienlebens nur i. S. d. „Betätigungsfreiheit" 92 verstehen zu wollen, also nur Maßnahmen als Eingriff i n dieses Recht zu betrachten, die seine Ausübung unmittelbar beschränken, nicht aber auch solche, die nur mittelbar auf die Motivation des Grundrechtsträgers einwirken, der vor die Wahl gestellt wird, entweder von der Grundrechtsausübung Abstand zu nehmen — hier also die Kinder auf auswärtige Schulen zu schicken und das Familienleben einzuschränken — oder das Grundrecht auszuüben und dafür andere Nachteile — hier die Unterrichtung der Kinder i n der fremden Sprache — i n Kauf zu nehmen. 86

Vgl. oben A T Kap. X V I § 6. Vgl. oben B T Kap. I A n m . 13 u n d unten B T Kap. I I A n m . 8; Kap. I I I A n m . 40. 88 Vgl. Y B V I , 333 ff.; Y B V I , 445 ff. 89 Y B V I , 333 ff. 90 Decision of the ECHR „relating to certain aspects of the laws of the use of languages i n education i n Belgium" (23. 7.1968), The L a w I B para. 7, I I para. 7. 91 Vgl. Y B X I , 412 ff.; CoD 37,101 ff. 92 Vgl. auch unten B T Kap. I (Anm. 108). 87

§ 2 Das R e t auf Achtung des Familienlebens

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I n einer ebenfalls das Familienleben betreffenden Entscheidung überprüfte der italienische Kassationshof 93 das staatsamvaltschaftliche Eheanfechtungsrecht i n Italien auf seine Vereinbarkeit m i t A r t . 8. Nach Ansicht des Gerichts ist dieser Eingriff der Staatsgewalt i n Gestalt der Staatsanwaltschaft nach der Eheschließung eine Ausnahme von dem Verbot des Eingriffs öffentlicher Behörden i n das (Privat- und Familien-) Leben des einzelnen, die i m Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der vorrangigen Interessen der Allgemeinheit gerechtfertigt sei. Diese der Staatsanwaltschaft gegebene besondere prozessuale Möglichkeit sei die notwendige Folge der diesem Organ übertragenen A u f gabe, den vom Gesetz gewollten Zielen i n einer Sphäre zur Durchsetzimg zu verhelfen, die der privaten Verfügungsbefugnis entzogen ist. Es dürften keine Bedenken bestehen, das öffentliche Interesse am Zustandekommen gültiger Ehen dem Vorbehalt zugunsten des Schutzes der öffentlichen Ordnung i. S. d. A r t . 8 Abs. 2 zuzurechnen, wie es der Gerichtshof getan hat: das behördliche Recht zur Überwachung des legalen Zustandekommens von Ehen ist darüber hinaus ebenso eine für diesen Zweck i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme wie z. B. das Gebot der Ziviltrauung 9 4 . Die aus A r t . 8 folgende Pflicht zur Achtung des Familienlebens kann außerdem auch zu einer Einschränkung der ansonsten nur durch das allgemeine Völkerrecht begrenzten Freiheit der Vertragsstaaten beim Erlaß ausländerpolizeilicher

Maßnahmen

führen.

Schwierigkeiten bereitet hier schon die Frage, unter welchen Umständen eine Ausweisung oder ein Einreise- und Aufenthaltsverbot auch einen Eingriff i n das Familienleben eines Ausländers m i t familiären B i n dungen i m Inland darstellt. Die Komm, geht zu Recht davon aus, daß die M R K dem Ausländer kein Recht gibt, seinen Wohnsitz i m Inland zu begründen 95 . Unter gewissen Umständen könne ein derartiges Verbot der Behörden allerdings A r t . 8 verletzen, weil die Maßnahme die Trennung der Familie zur Folge hat. I n dem zu entscheidenden Fall wurde dies aber verneint, weil dem Beschwerdeführer gestattet worden war, i n regelmäßigen Abständen seine Eltern für die Dauer von bis zu 3 Monaten i n Dänemark zu besuchen. Die Komm, wollte hier offenbar einen Eingriff i n A r t . 8 Abs. 1 nicht schon dann annehmen, wenn das Familienleben durch die Maßnahme lediglich beeinträchtigt wird, sondern erst bei einer dauernden Trennung der Familienmitglieder. Immerhin läßt sich dieser Begründung entnehmen, daß der Sohn nach Ansicht der Komm, auf das i h m zugestan98 Cassatione (16.11.1967 n. 2762) R D I S. 709; A r t . 72 der italienischen Z i v i l prozeßordnung gibt der Staatsanwaltschaft das Recht, Ehen gerichtlich anzufechten. 94 Vgl. unten Kap. I I A n m . 49. 95 Y B V I I I , 200 ff.

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BT — Kap. I: Artikel 8

dene Besuchsrecht auch einen Anspruch hatte nach A r t . 8, daß also ein „Familienleben" vorlag, obwohl der Sohn unabhängig und getrennt von den Eltern lebte. Nach neueren Entscheidungen der Komm, soll dagegen nur noch unter besonderen Umständen eine so enge Bindung zwischen den bereits erwachsenen Kindern und deren Eltern anzunehmen sein, daß überhaupt von einem Familienleben i. S. d. A r t . 8 gesprochen werden kann. So ließ sie z. B. 9 6 allein das Verwandtschaftsverhältnis zwischen der 26jährigen verheirateten, berufstätigen und auch sonst finanziell unabhängigen Tochter und ihren Eltern nicht mehr genügen. Offen bleibt danach, ob trotz des Fehlens einer engen persönlichen Bindung zwischen den Eltern und den Kindern auch dann der Schutz des Familienlebens eingreift, wenn besondere Umstände wie Alter oder finanzielle Not eines Teils die zwangsweise Aufrechterhaltung einer bestehenden Trennung für die Betroffenen unzumutbar machen w ü r den 97 . Handelt es sich dagegen u m ausländerpolizeiliche Maßnahmen gegen verheiratete Ausländer, so w i r d regelmäßig nicht problematisch sein, ob überhaupt ein Familienleben i. S. d. A r t . 8 vorliegt, wohl aber kann sich hier die Frage stellen, ob die behördliche Maßnahme ein Eingriff i n dieses Familienleben war. Zumindest eine Bedrohung der Familieneinheit ist i. d. R. dann anzunehmen, wenn die Ausweisung oder Einreise- bzw. Aufenthaltserlaubnisverweigerung nur einen der Ehepartner trifft, während sich der andere m i t Billigung der Behörden weiter i m Inland aufhält 9 8 . Die erste zu dieser Frage veröffentlichte Entscheidung 99 der Komm, gab über diese Problematik nur wenig Aufschluß. Hier hatte eine m i t einem Deutschen verheiratete Dänin vergeblich versucht, für ihren Mann eine A u f enthalts» und Arbeitserlaubnis i n Dänemark zu bekommen. U m die eheliche Lebensgemeinschaft aufrechterhalten zu können, ließen sich beide schließlich i n Deutschland nieder. Da sich dies jedoch vor Inkrafttreten der M R K i n Dänemark ereignet hatte, war die Komm, an einer Überprüfung dieser behördlichen Maßnahmen am Maßstab des A r t . 8 gehindert. Später wollten die Ehegatten dann wegen des schlechten Gesundheitszustandes der Frau zurück nach Dänemark. Dem Mann wurde jedoch erneut die Einreise- und Aufenthaltserlaubnis verweigert, w e i l er 98

CoD 39, 104 ff.; vgl. auch Y B X , 478 ff., 500, u n d oben B T Kap. I (Anm. 56). I n CoD 43, 119 ff. verneinte die K o m m , eine ausreichende B i n d u n g („close l i n k " ) zwischen einem britischen Staatsangehörigen u n d seinen i n Indien lebenden Verwandten (Mutter, Bruder u n d Schwester), die zwar finanziell von i h m unterstützt wurden, aber insgesamt 19 Jahre getrennt waren. 98 Keine Probleme ergeben sich bez. A r t . 8 dann, w e n n beide Ehegatten ausgewiesen werden bzw. nicht einreisen dürfen oder der nicht ausgewiesene T e i l dem anderen ins Ausland f r e i w i l l i g folgt. 99 Y B I, 205 ff. 97

§ 2 Das R e t auf Achtung des Familienlebens

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keine ausreichend engen Bindungen an Dänemark gehabt habe, w i e sie üblicherweise bei Deutschen gefordert würden. Obwohl die Konvention zu diesem Zeitpunkt für Dänemark schon i n K r a f t getreten war, verneinte die Komm, hier schon einen E i n g r i f f i n A r t . 8 Abs. 1. Weder sei i n das Recht auf Achtung der j a i n Deutschland gelegenen Wohnung noch i n das Recht auf Familienleben eingegriffen worden, da j a beide weiterhin i n Deutschland zusammenleben könnten. Auch die auf A r t . 14 gestützte Beschwerde wegen der Andersbehandlung deutscher, m i t Dänen verheirateter Frauen u n d der damit gegebenen Diskriminierung des Mannes wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit wurde abgewiesen, da A r t . 8 nicht verletzt sei u n d A r t . 14 kein selbständiges Diskriminierungsverbot enthalte 1 0 0 . F ü r die Frage eines Eingriffs i n das Familienleben Verheirateter hält es die K o m m , i n nunmehr ständiger Rechtsprechung 101 f ü r allein entscheidend, ob der andere Ehepartner die Möglichkeit hat, m i t dem von der behördlichen Maßnahme betroffenen i m Ausland weiter zusammenzuleben. Dabei soll es ausreichen, daß der Fortsetzung des Ehelebens i m Ausland keine rechtlichen Hindernisse 102 i m Weg stehen. Wenn es der eine Ehepartner i n einem solchen F a l l vorzieht, von seiner Aufenthaltsberechtigung i m I n l a n d Gebrauch zu machen u n d dem anderen nicht ins Ausland zu folgen 1 0 3 , so w i l l die Komm, die sich aus diesem Verhalten für das Familienleben ergebenden Konsequenzen nicht den Behörden, sondern diesem Ehepartner selbst zurechnen. I n den Fällen der „East African A s i a n s " 1 0 4 hatte die K o m m , allerdings Zweifel, ob die Beschwerdeführer i n Uganda auch tatsächlich ein Eheund Familienleben hätten führen können, u n d ließ deshalb die Beschwerden i m Hinblick auf eine mögliche Verletzung der A r t . 8 bzw. 8 i. V. m. 14 zu. Später modifizierte die K o m m , ihren Standpunkt auch ausdrücklich dahingehend, daß eine Fortsetzung des Ehelebens n u r i m Heimatland eines Ehegatten verlangt werden kann. Zumindest sei eine Verletzung des A r t . 8 nicht auszuschließen, wenn ein Familienleben n u r i n einem d r i t t e n L a n d (rechtlich) möglich ist: 100 Diese These hat die K o m m , zwar inzwischen aufgegeben (vgl. oben A T Kap. I X Anm. 26), doch würde sie auch heute w o h l zu demselben Ergebnis kommen, da sie i n diesen Fällen regelmäßig nicht geneigt ist, einen wenn auch nach A r t . 8 Abs. 2 zulässigen Eingriff i n das Familienleben anzunehmen, was sicherlich Mindestvoraussetzung für die Anwendbarkeit des „akzessorischen" Art. 14 ist (vgl. oben A T Kap. I X § 2 a). 101 Vgl. z. B. Y B X I I I , 928 ff. unter Hinweis auf CoD 17,28 ff. 102 „no legal obstacles" (vgl. CoD 39,104 ff., 108). los V g l . Y B x , 528 ff. 104

CoD 36, 92 ff.

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BT —Kap. I: Artikel 8

"The Commission w o u l d not suggest that, where a couple is refused residence i n a country of which one of t h e m is a national, there is no violation of A r t . 8 simply because they can find some legal residence elsewhere. I f the only legal residence which they can f i n d is a country unconnected w i t h either of them the exclusion from residence i n the 'home' country of one of them might constitute a violation of A r t . 8 1 0 5 " .

I m konkreten Fall wurde die Beschwerde dennoch abgewiesen: Die Frau, eine britische Staatsangehörige, die i n Kenia einen Inder geheiratet hatte und danach i n London lebte, sei an einer legalen Fortsetzung ihres Familienlebens m i t ihrem i n Großbritannien nicht aufenthaltsberechtigten Mann i n Indien nicht gehindert, so daß auch A r t . 8 nicht verletzt sei. Die Frage der Zumutbarkeit einer Fortsetzung des Ehelebens i m Ausland scheint für die Komm, keine Rolle zu spielen, sofern es sich dabei nur um das Heimatland eines der Ehegatten handelt. So berief sich eine m i t einem Zyprioten verheiratete britische Staatsangehörige ebenfalls zypriotischer Herkunft vergebens darauf, daß es für sie wegen ihrer emotionalen Bindungen an ihre i n England lebenden Verwandten und wegen ihrer Gewöhnung an Arbeit und Leben i n Großbritannien eine besondere Härte bedeuten würde, weit entfernt von ihrer Familie und bei viel geringerem Lebensstandard i n Zypern zu leben 1 0 6 . Insgesamt zieht die Komm, m i t dieser Rechtsprechung den Schutzbereich des von A r t . 8 geschützten Familienlebens so eng, daß nur noch i n Ausnahmefällen überhaupt ein Eingriff i n dieses Recht vorliegt, der dann anhand der Kriterien des Art. 8 Abs. 2 auf seine Zulässigkeit überprüft werden muß. Dies erscheint nicht unbedenklich, wenn man berücksichtigt, daß die A r t . 8 - 1 1 Abs. 1 jeweils einen nur allgemein definierten Grundrechtsschutzbereich bezeichnen, der erst durch A r t und Umfang der nach dem jeweiligen Abs. 2 zulässigen Grundrechtseinschränkungen näher konkretisiert w i r d 1 0 7 . Allerdings ist auf den ersten Blick oft nur schwer zu erkennen, ob ein Grundrecht lediglich tangiert oder aber eingeschränkt wird, ob, m. a. W., eine staatliche Maßnahme einen nur unter den Voraussetzungen des jeweiligen Abs. 2 zulässigen Eingriff i n ein Recht der A r t . 8 - 1 1 darstellt oder aber nur den Wertgehalt eines dieser Rechte berührt, ohne es einzuschränken. So läßt z. B. eine Steuer, die Verheiratete besonders belastet, doch jedem die Möglichkeit, eine Ehe einzugehen oder weiterzuführen, wenn er nur bereit ist, dafür diese steuerlichen Nachteile i n Kauf zu nehmen. Wie aber besonders das Beispiel der i n Art. 9 geschützten Gedanken- und Gewissensfreiheit zeigt, soll der Schutz der M R K nicht auf die freie Betätigung der garantierten Grundrechte beschränkt 105 106 107

CoD 42,146 (vgl. auch CoD 43, 82 ff.). CoD 39,104 ff. Vgl. oben A T Kap. I I I .

§ 2 Das R e t auf Achtung des Familienlebens

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bleiben, sondern grundsätzlich auch die freie Motivation rechtsausübung gewährleisten.

zur Grund-

Die freie Betätigung des Rechts auf Führung eines Ehe- und Familienlebens w i r d i n den Ausweisungsfällen sicherlich nur dann eingeschränkt, wenn sich den Ehegatten i n keinem anderen Land die Möglichkeit für ein legales Zusammenleben bietet. I n die Freiheit der Motivation w i r d aber bereits dann eingegriffen, wenn die Fortsetzung des Ehelebens i m Ausland zwar noch tatsächlich und rechtlich möglich ist, die Betroffenen aber dazu zwingt, nicht ganz unerhebliche Nachteile i n Kauf zu nehmen. Entgegen der Ansicht der Komm., die die Gefährdung oder das Scheitern der Ehe der negativen Entscheidung des nicht ausgewiesenen Ehepartners, nicht aber der dafür genauso kausalen Maßnahme der Ausländerpolizeibehörde zurechnen w i l l 1 0 8 , w i r d die Motivationsfreiheit der Grundrechtsträger auch dann beeinträchtigt, wenn dem nicht ausgewiesenen Teil „ n u r " die Ausreise i n ein Land des europäischen oder angelsächsischen Raums m i t vergleichbarer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Struktur zugemutet w i r d : auch i n diesen Fällen bedeutet die Ausweisung einen Eingriff i n den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1. Fragen der Zumutbarkeit können demnach bei der Ausweisung i m Inland verheirateter Ausländer grundsätzlich nur i m Rahmen der nach Abs. 2 erforderlichen Güter- und Interessenabwägung von Bedeutung sein. Es erscheint deshalb inkonsequent und unrichtig, wenn die Komm, i n ihrer neueren Rechtsprechung schon bei der Frage, ob ein Eingriff i n das Recht aus A r t . 8 Abs. 1 vorliegt, einen Teilaspekt dieser Zumutbarkeitserwägungen berücksichtigt, indem sie die Möglichkeit der Fortsetzung der Ehe i m Heimatland eines der Ehegatten prüft, dann aber i m Rahmen des Abs. 2 völlig unberücksichtigt läßt, ob ein Eheleben i m Ausland auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zumutbar ist. Offenbar ist die Komm, bestrebt, den i n der M R K als solchen nicht garantierten Schutz der Ausländer vor Ausweisungen nicht doch auf dem Umweg über den Schutz des Familienlebens verheirateter oder sonst i m Inland familiär gebundener Ausländer einzuführen 1 0 9 . Diesem Bemühen u m eine einschränkende Interpretation des Rechts auf Achtung des Familienlebens entspricht auch die weitere These der Komm., von einem Eingriff i n dieses Recht könne auch deshalb nicht die Rede sein, weil beide zu einer Zeit geheiratet und ein Familienleben gegründet hätten, zu der sie sich v o l l darüber i m klaren gewesen seien, daß sie möglicherweise nicht i n Großbritannien zusammenleben können 1 1 0 . 108

Vgl. oben B T Kap. I (Anm. 92). A u d i A r t . 3 des 4. Protokolls schützt n u r v o r Ausweisung durch den eigenen Staat, während A r t . 4 dieses Protokolls Ausländer lediglich vor K o l lektivausweisungen schützt. Vgl. auch Partsch S. 420. 110 CoD 42,146. Vgl. dagegen B V e r w G N J W 1973, 2077 ff. 109

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BT —Kap. I: Artikel 8

Nach der allerdings auf A r t . 6 Abs. 1 bezogenen Rechtsprechung des B V G spielt es dagegen keine Rolle, ob die Betroffenen bei der Eheschließung mit dem Aufenthaltsverbot oder der Ausweisung gerechnet haben oder gar davon wußten: der Schutz der Familie sei auch i n diesem Fall zu berücksichtigen 111 . Die unterschiedliche Ausgestaltung der Grundrechte der A r t . 6 Abs. 1 GG und Art. 8 M R K als i n erster Linie objektive Garantie des Instituts von Ehe und Familie einerseits und als Individualrecht andererseits kann die divergierenden Auffassungen zu dieser Frage kaum erklären. Vor allem unter Mitberücksichtigung des A r t . 12 soll auch Art. 8 jede gültige, bestehende Ehe unabhängig von den beim Eheschluß verfolgten Absichten grundsätzlich vor staatlichen Eingriffen schützen. Von der i m Rahmen des A r t . 8 Abs. 2 vorzunehmenden Güter- und Interessenabwägung zwischen dem Interesse des einzelnen an der Fortsetzung seines Familienlebens und den entgegenstehenden öffentlichen Interessen hängt es dann ab, ob dieser Schutzanspruch i m Einzelfall die ausländerpolizeiliche Maßnahme verbietet. Die Komm, kommt nur i n sehr wenigen Fällen zu einer Prüfung des Art. 8 Abs. 2 und offenbar nur dann, wenn sich die Rechtfertigung der staatlichen Maßnahme ohneh i n anbietet. So unterstellte sie z. B. i m Fall der Beschwerde Nr. 312/57 112 ohne nähere Begründung und offensichtlich i m Anschluß an den belgischen „Conseil de Guerre", daß die Ausweisung eines m i t einer Belgierin verheirateten Italieners ein Eingriff i n sein Familienleben w a r 1 1 3 , wies die Beschwerde aber dann unter Hinweis auf Art. 8 Abs. 2 ab. Die Komm, übernahm hier einfach die behördliche Begründung der Ausweisungsverfügung, i n der die weitere Anwesenheit des Beschwerdeführers i n Belgien als eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bezeichnet wurde. Die Ausweisung war deshalb nach Ansicht der Komm, ohne Zweifel von A r t . 8 Abs. 2 gedeckt und damit rechtmäßig. Der Ausgewiesene hatte zwar während der Besetzung Belgiens i m 2. Weltkrieg i n der deutschen Wehrmacht als Feldjäger gedient, weshalb er 1947 wegen Kollaboration zum Tode verurteilt worden war, dann aber 1957 nach seiner Begnadigung zu lebenslanger Zwangsarbeit wegen guter Führung entlassen wurde, doch w i r d aus der Kommisisonsentscheidung nicht ersichtlich, warum er auch noch 12 Jahre nach Kriegsende 1 1 4 eine solche Gefahr für die öffentliche Ordnung Belgiens darstellte, daß seine Ausweisung und der darin liegende Eingriff i n sein Familienleben die i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme war. 111

N J W 1966 S. 771. Y B I I , 352 ff.; vgl. dazu auch Pinto S. 82. 113 Er machte geltend, seine i n Belgien lebende Frau müsse nunmehr von i h m getrennt leben, da sie i n ihrer Heimat arbeite u n d f ü r ihren Sohn sorge u n d es für sie unzumutbar sei, i h m nach I t a l i e n zu folgen. 114 H i e r i n liegt eine gewisse Parallele zum F a l l de Becker (vgl. oben A T Kap. X I [Anm. 30]). 112

§ 2 Das R e t auf Achtung des Familienlebens

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Auch i n der Entscheidung über die Beschwerde Nr. 3898/68 116 unterstellte die Komm, ohne nähere Begründung einen Eingriff i n das Recht auf Achtung des Familienlebens. Hier war ein Pakistani i n Großbritannien wegen eines Sittlichkeitsdelikts zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und eineinhalb Jahre später deportiert worden. I n dem ersten Beschwerdepunkt, der angeblichen Verweigerung der Erlaubnis für einen letzten Besuch seines unehelichen Sohnes vor seiner Deportation und zur Heirat der Mutter dieses Kindes, sah die Komm, keine Verletzung des A r t . 8, weil der Beschwerdeführer hierfür keinen formellen Antrag bei den Behörden gestellt hatte. Die Behörden hätten außerdem, was die Ausweisung selbst betrifft, angesichts der Schwere der begangenen Straftat durchaus vernünftig und keineswegs ermessensfehlerhaft gehandelt, so daß diese Maßnahme auch dann nach Art. 8 Abs. 2 zulässig sei, wenn man davon ausgehe, daß hier überhaupt ein Familienleben zwischen den Betroffenen vorlag 1 1 6 . Gericht und Behörden hätten sich bei ihrer Entscheidung von der Notwendigkeit leiten lassen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und Verbrechen zu verhüten und damit rechtmäßig gehandelt. Diese Beispiele zeigen, daß die Komm, auch i n den Fällen, in denen sie überhaupt zu einer (ausdrücklichen) Prüfung der Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 kommt, auf eine Abwägung zwischen den Familien- und den Staatsinteressen verzichtet, wenn dieser Schutz des A r t . 8 auch über die Landesgrenzen hinaus zu berücksichtigen ist 1 1 7 . Sie scheint sich dann m i t der Feststellung begnügen zu wollen, daß der Eingriff der Ausländerpolizeibehörde i n das Familienleben einem zulässigen Eingriffsziel dient. Eine weit größere Einschränkung des den Ausländerpolizeibehörden zustehenden Ermessens leiten deutsche Gerichte aus dem i n den A r t . 6 GG und 8 M R K statuierten Schutz der Familie her. Ursprünglich sah die deutsche Rechtsprechung den, was die M R K anbetrifft, entscheidenden Gesichtspunkt bei der Ausweisung i m Inland verheirateter Ausländer i n einer Kombination der A r t . 3 und 8 1 1 8 . Nach dieser Ansicht soll die Ausweisung eines Ausländers u. U. eine unmenschliche Behandlung i. S. d. Art. 3 darstellen kennen, wenn dadurch eine bestehende Ehe getrennt wird. Unmenschlich sei die Behandlung jedoch dann nicht, wenn die Frau ihrem Mann folgen kann, weil sie z. B. durch die Heirat die ausländische Staatsangehörigkeit er115

CoD, 35,102 ff., 106. Die K o m m , läßt damit offen, ob auch zwischen Vater u n d unehelichem K i n d (vgl. auch oben [BT Kap. I A n m . 56] u n d Y B X I I I , 276 ff., 300, wo die Beschwerde angesichts der Ä n d e r u n g des Nichtehelichenrechts i n der B R D von der Liste gestrichen wurde) u n d zwischen Verlobten (vgl. dazu auch CoD 43,111 ff.) ein Familienleben i. S. d. A r t . 8 vorliegt. 117 Vgl. Partsch S. 420. 118 Vgl. Morvay S. 324. 116

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worben hat 1 1 9 . Das B V e r w G 1 2 0 hat diese Rechtsprechung bestätigt: es sei nicht unmenschlich, von der Frau zu verlangen, daß sie ihrem Mann nach Italien folgt, da Italien eine der deutschen durchaus gleichwertige Rechtsordnung habe, deren vollen Schutz die Frau durch ihre Heirat genieße. Es sei daher nicht ersichtlich, inwieweit der Ausweisungsbefehl gegen Art. 8 verstoßen soll. Das i n A r t . 3 genannte Verbot „unmenschlicher Behandlung" hat aber sicherlich eine andere Zielrichtung und paßt nicht für die hier i n Frage stehenden Fälle: richtigerweise suchen die deutschen Gerichte deshalb inzwischen auch die Lösung i n den A r t . 8 M R K und 6 GG selbst. Richtungsweisend war dafür das sog. Familienurteil des B V e r w G 1 2 1 . Danach hat die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung zu prüfen, welche Wirkungen sich für die betroffene Familie ergeben. Auch wenn die Art. 6 GG und 8 M R K die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellen, so bedeute dies nicht, daß schon allein die Tatsache des Bestehens einer Ehe m i t einer Deutschen die Ausweisung und Abschiebung von Ausländern verbietet. Vielmehr sei zu prüfen, ob die Familie durch die Ausweisung tatsächlich i n ihrem Zusammenhalt und Bestand gefährdet wird, und ob diese Gefährdung auch bei Ausschöpfung aller den Eheleuten gegebenen Möglichkeiten und bei A n spannung aller eigenen Kräfte nicht abgewendet werden kann. Erst wenn diese Voraussetzungen gegeben sind und der Bestand der Familie ernsthaft bedroht ist, habe die Behörde abzuwägen, ob der Schutz der Familie das staatliche Interesse an der Ausweisung überwiegt. Die Ehefrau müsse aber bei der Eheschließung damit rechnen, daß ihr ausländischer Ehegatte möglicherweise nicht auf Dauer i n der BRD bleiben kann und sei deshalb grundsätzlich verpflichtet, i h m i n dessen Heimat zu folgen. Sie müsse gewichtige Gründe nennen, wenn die Behörden auf ihre Weigerung, die BRD zu verlassen, Rücksicht nehmen sollen. Der bayerische V G H 1 2 2 hob dennoch die gegen einen verheirateten, staatenlosen Ausländer erlassene Ausweisungsverfügung wieder auf, weil die von i h m begangenen, relativ geringfügigen Straftaten i n Anbetracht der günstigen Täterprognose die voraussichtlich dauernde Trennung der Ehegatten nicht rechtfertigen. Auch das V G B e r l i n 1 2 3 ging davon aus, daß A r t . 6 Abs. 1 GG es nicht schlechthin verbietet, zu einer Strafe verurteilte und gegen paß- und ausländerpolizeiliche Vorschriften verstoßende Ausländer auszuweisen, nur weil sie m i t einer Deutschen verheiratet sind. Das Gericht gab aber i n diesem Fall dem Sicherheitsinteresse des Staates den Vorzug vor dem 119

V G H Stuttgart DÖV1954, 223. 120 B V e r w G E 3, 58 ff., 61. 121 122 123

SNW 402.20 Nr. 4 zu § 5 AuslPolVO = DVBL1957, 57. Bay VBL1959, 256. JR 1962, 395.

§ 2 Das R e t auf Achtung des Familienlebens

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Individualinteresse, nicht von seiner Frau getrennt zu werden, w e i l es der Frau zugemutet werden könne, ihrem Mann i n das deutschsprachige Österreich zu folgen. Ähnlich w i l l auch das OVG Münster 1 2 4 die Frage, ob es der deutschen Ehefrau zuzumuten ist, m i t ihrem ausgewiesenen Mann ins Ausland zu gehen, dann bejahen, wenn dies die Frau schon zuvor getan hat. Dasselbe Gericht hatte sich auch mit der Ausweisung eines i n bigamischer Zweitehe m i t einer Deutschen i n der BRD lebenden Belgiers zu befassen. Weder i n Deutschland noch i n Belgien war seine Strafverfolgung weiter betrieben worden, weil nicht aufzuklären war, ob er bei der zweiten Eheschließung wußte, daß seine erste Ehe noch nicht rechtskräftig geschieden worden war. Das Gericht hielt sowohl A r t . 6 GG als auch A r t . 8 M R K für anwendbar, da die Zweitehe zwar nichtig sei, sich jedoch weder Behörden noch sonstige Dritte bis zur rechtskräftigen A u f lösimg der Ehe auf diese Nichtigkeit berufen könnten. Die Ausweisung des Mannes würde der Frau Schwierigkeiten bereiten, da sie Deutsche geblieben war. Auch sei die erste Ehe faktisch nicht wiederherzustellen, während die zweite Ehe harmonisch sei, und der Mann gut für seine Familie sorge. Schließlich sei auch zu berücksichtigen, daß die Familie i m Fall der Ausweisung des Mannes der Sozialhilfe zur Last fallen würde. Unter Bezug auf die Rechtsprechung des B V e r w G gab das Gericht deshalb bei der Interessenabwägung der Einheit der Familie den Vorzug, wobei interessanterweise nicht nur private gegen öffentliche Interessen abgewogen wurden, sondern auch verschiedene Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses (Sicherheitsinteresse gegen Gefahr der Sozialhilfebedürftigkeit) 1 2 5 . Das BVerwG hat neuerdings 1 2 6 seine bisherige Rechtsprechung dahingehend abgeändert, daß nur noch schwerwiegende Gründe die Ausweisung i m Inland verheirateter Ausländer rechtfertigen sollen: die Ehe mit Deutschen steht demnach grundsätzlich einer Ausweisung von Ausländern entgegen, darf andererseits aber auch nicht zur Erreichung eines gesicherten Aufenthalts mißbraucht werden. Das BVerwG hält es aus Gründen der Gleichberechtigung nicht mehr für vertretbar, daß die deutsche Frau m i t der Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland rechnen muß, während dies für den deutschen Mann ohnehin nicht anzunehmen sei. Auch widerspreche es der Lebenswirklichkeit, eine Gefährdung der Ehe durch die Ausweisung zu verneinen und von der Frau grundsätzlich zu erwarten, daß sie dem Mann ohne weiteres ins Ausland folgt. Dem ist zuzustimmen: sowohl nach A r t . 6 GG als auch nach A r t . 8 M R K ist auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung zu entscheiden, ob i m Einzelfall das staatliche Interesse an der Ausweisung des 124 VerwRspr. Bd. 20,330. 125 VerwRspr. Bd. 13,199/200. 126

N J W 1973, 2077 ff.

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Ausländers bzw. der Ausländerin eine Zurückstellung des Schutzes des Familienlebens zwingend gebietet. Da Art. 6 Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, diese Garantie aber nicht näher konkretisiert, ist hier schon bei der Frage, wann dieser Schutz eingreift, unter Einbeziehung von Zumutbarkeitserwägungen eine Güterabwägung zwischen den i n Konflikt geratenen privaten Interessen einerseits und den staatlichen (Sicherheits-)Interessen andererseits vorzunehmen. Der als Individualrecht formulierte und durch die Gewährleistungsschranken des Abs. 2 inhaltlich näher bestimmte A r t . 8 dagegen gibt i n seinem Abs. 1 einen grundsätzlichen Anspruch auf Achtung seines Familienlebens, wobei sich dann erst nach Abs. 2 entscheidet, ob dieser Anspruch i m Einzelfall auch durchgreift: der „Sitz" der auch hier gebotenen Güter- und Interessenabwägung ist bei Art. 8 i n seinem Abs. 2 zu suchen. Für diese sowohl i m Rahmen des A r t . 6 GG als auch bei Art. 8 M R K vorzunehmende Güterabwägung gelten dieselben rechtsstaatlichen Grundsätze, auch wenn man i n A r t . 8 wegen der detaillierten Aufzählung zulässiger Eingriffsmotive die gegenüber A r t . 6 GG speziellere Vorschrift sieht 1 2 7 . Eine Entscheidung des belgischen Cour de Cassation 128 läßt eine derartige Güter- und Interessenabwägung dagegen vollständig vermissen. I n dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall war eine Deutsche zunächst aus Belgien ausgewiesen worden, dann aber wieder unerlaubt zu ihrem Mann zurückgekehrt, nachdem diesem seinerseits die Aufenthaltserlaubnis i n Deutschland verweigert worden war. Ihre daraufhin erfolgte strafgerichtliche Verurteilung hatte das Gericht u. a. an A r t . 8 zu messen. Das Gericht begnügte sich aber m i t der Feststellung, die Angeklagte sei eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, und sowohl ihre Ausweisung als auch die Bestrafung für ihre unerlaubte Rückkehr seien aus diesem Grund eine für die öffentliche Sicherheit i n Belgien notwendige Maßnahme gewesen. Auch stelle die Befolgung der Ausweisung für sie nichts Unmögliches dar, da sie ja i n das Land gehen könne, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Die Situation war also so, daß die Frau nach Deutschland durfte, nicht aber ihr Mann, während diesem wiederum der Aufenthalt i n Belgien gestattet war, was seiner Frau versagt wurde: Damit wurde zwar nicht die Befolgung der Ausweisung unmöglich, wohl aber die Fortsetzung ihres Ehe- und Familienlebens 129 , worauf es für A r t . 8 allein ankommt. Zwar kann auch ein derartig schwerwiegender Eingriff i n das Recht auf Achtung des Familienlebens unter besonderen Umständen rechtmäßig, d. h. i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen 127

So Morvay S. 327. Vgl. auch oben A T Kap. V I u n d Kap. X I V . J. d. Trib. 1960, 573 = Y B I I I , 624. 129 Die Ausweisung erschwerte hier also nicht n u r das Familienleben, sondern zerstörte es sogar. 128

§ 2 Das Recht auf Achtung des Familienlebens

127

Sicherheit und Ordnung notwendig sein, doch geht aus den Urteilsgründen nicht hervor, ob die Betroffene auch tatsächlich eine solche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellte, daß ihre Ausweisung auch angesichts der daraus resultierenden Folgen für ihr Familienleben „notwendig" war. A u f diese Güterabwägung ging das Gericht fälschlicherweise überhaupt nicht ein 1 3 0 . Die besondere Situation strafrechtlich verurteilter Personen kann eine Einschränkung des auch ihnen zustehenden Rechts 131 auf Achtung ihres Familienlebens erforderlich machen. Der einem Urteil des Cour d'Appel de Bruxelles aus dem Jahre 1970 zugrunde liegende F a l l 1 3 2 zeigt, wo die Grenze für Bewährungsauflagen liegt, die i n das Familienleben des Betroffenen eingreifen. Das Gericht hob eine Bewährungsauflage auf, mit der dem wegen mehrfacher K ö r perverletzung an seiner Frau Verurteilten die Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft verboten worden war. Die Rechtswidrigkeit dieser Auflage begründete das Gericht allerdings i n erster Linie m i t dem Fehlen einer nach A r t . 8 Abs. 2 erforderlichen, hier aber fehlenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Aber auch mit den materiellen Voraussetzungen des A r t . 8 Abs. 2 dürfte ein derartiges absolutes Verbot der Fortsetzung des Ehelebens kaum zu vereinbaren sein. Auch wenn diese Maßnahme zulässigen Zielen, nämlich der Verhinderung strafbarer Handlungen und dem Schutz der Rechte anderer dient, so dürfte es doch nicht notwendig, weil unverhältnismäßig sein, u. U. auch gegen den Willen der Frau die Fortsetzung der ehelichen Beziehungen zu untersagen. Wenn schon die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, dann muß auch die i m Falle weiterer Körperverletzungen u. ä. gegenüber seiner Frau ohnehin drohende Vollstreckung der Strafe für ausreichend gehalten werden, u m den Verurteilten an der Begehung erneuter strafbarer Handlungen zu hindern. I n diesem Sinn bestätigte dasselbe Gericht auch i n einer späteren Entscheidung 133 , daß die Bewährungsauflage, unter keinem Vorwand die Frau aufzusuchen, m i t A r t . 8 unvereinbar ist. Für die Dauer einer rechtmäßigen Freiheitsentziehung können derartige Einschränkungen des Familienlebens dagegen rechtmäßig sein, wenn die Ausübung dieses Rechts dem Sicherungs- oder Sühnezweck der Freiheitsentziehung zuwiderlaufen würde. Deshalb rügte ein Deutscher, der sich i n Sicherungsverwahrung befand, vor der Komm, vergeblich, daß die Anstaltsbehörde i h m den Besuch seiner Frau zur Fortsetzung des Ehelebens verweigerte 1 3 4 . Zwar gebe es begrüßenswerte Reformbestre130 131 132 133 134

Vgl. dazu auch Partsch S. 421 A n m . 627; Morvay S. 328. Vgl. oben A T Kap. X V I . E. v. 13. 2.1970 No 330 — No 1168 W du Parquet. E. v. 26. 6.1970 No 1655 —1433 W d u Parquet. Y B X I I I , 332 ff.

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bungen i n den Mitgliedsstaaten, die darauf hinausliefen, Strafgefangenen und Anstaltsinternierten ein Eheleben i n begrenztem Umfang zu ermöglichen, doch könne die bestehende Regelung i n Deutschland nicht als Verstoß gegen A r t . 8 Abs. 2 gewertet werden, da sie dem Schutz der öffentlichen Sicherheit diene 1 3 5 . Auch wenn dieser Hinweis der Komm, auf die sich wandelnden Auffassungen i n den Mitgliedsstaaten eher dafür zu sprechen scheint, daß es sich bei derartigen Beschränkungen des Familienlebens nicht mehr u m i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen handelt, so bestehen doch zu den zuvor besprochenen Fällen, i n denen verurteilten, sich aber i n Freiheit befindlichen Personen die Fortsetzung ihres Ehelebens untersagt worden ist, Unterschiede, die die Entscheidung der Komm, i m Ergebnis rechtfertigen: zum einen wurde hier dem Beschwerdeführer nicht jeder Besuch seiner Frau, sondern nur der zur Fortsetzung des Ehelebens untersagt, zum anderen kann eine derartige Grundrechtseinschränkung notwendig sein, u m die Allgemeinheit vor Personen zu schützen, die i n Sicherungsverwahrung genommen werden mußten. Die Trennung von Heim und Familie rechtfertigt sich nach Ansicht der Komm, auch dann, wenn ein Ehegatte zwar wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen worden ist, dann aber i n eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde 1 3 6 . Diese Trennung sei ein Wesensmerkmal rechtmäßiger Freiheitsentziehung, weshalb kein Anhaltspunkt für eine Verletzung des A r t . 8 gegeben sei 1 3 7 . Bereits erwähnt wurde 1 3 8 , daß die Komm, es nach A r t . 8 Abs. 2 für zulässig hielt, daß die Gefängnisbehörde einem Gefangenen das Recht verweigert, den Besuch seines dreijährigen Sohnes zu empfangen. Von Sonderfällen abgesehen haben aber auch Gefangene grundsätzlich einen Anspruch darauf, ihre Angehörigen i n regelmäßigen Abständen sehen zu dürfen, da weder der Sicherungs- und Abschreckungszweck noch der Sühnezweck der Freiheitsentziehung ein derartiges Verbot i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig erscheinen lassen. Auch i n der Be135 A u f die (fehlende) gesetzliche Ermächtigungsgrundlage geht die K o m m , nicht ein. 136 Die Beschwerde w a r hier von der Ehefrau eingelegt worden, die aber nach Ansicht der K o m m . Verletzte i.S.d. A r t . 25 war, da sie vorbrachte, unter der Abwesenheit ihres Mannes moralisch (Art. 8) u n d finanziell (Art. 1 ZP) zu leiden. 137 CoD 35 S. 140 ff.; die Voraussetzungen des A r t . 8 Abs. 2 prüfte die K o m m , hier n u r bei der als zweiter Beschwerdepunkt gerügten Entziehung des Sorgerechts beider E l t e r n u n d dessen Übertragung auf das Jugendamt als Pfleger: dieser Eingriff i n das Familienleben der Beschwerdeführerin sei gesetzlich vorgesehen ( „ l a w f u l l y taken") u n d notwendig zum Schutz der Gesundheit u n d M o r a l der Kinder, da die unstabile familiäre Situation f ü r deren Erziehung v o n Nachteil sei. 138 Vgl. oben B T Kap. I A n m . 82, Y B I X , 436 ff.

§ 2 Das R e t auf Achtung des Familienlebens

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schwerde Nr. 5239/71 189 wurde es von den Behörden und der Komm, nur m i t der Sorge u m den Schutz der Interessen Minderjähriger, nicht aber m i t dem Wesensmerkmal der Freiheitsstrafe begründet, daß einem Strafgefangenen nicht gestattet wurde, Kontakt m i t seinen Kindern aufzunehmen. Das Justizministerium hatte sich geweigert, einen Besuch des mehrfach wegen Aussetzung und Verführung Minderjähriger bestraften Gefangenen bei seinen auf richterliche Anordnimg i n einem Heim untergebrachten Kindern zu ermöglichen. Z u Recht hielt die Komm, dies i m Hinblick auf A r t . 8 Abs. 2, insbesondere zum Schutz der Moral der Kinder, für rechtmäßig. Ebenso zulässig können Einschränkungen des Rechts auf Achtung des Familienlebens bei Strafgefangenen und anderen der Freiheit beraubten Personen dann sein, wenn die Ausübung dieses Rechts eine vorübergehende Aufhebung der Freiheitsbeschränkung notwendig machen w ü r de. So hatten die Behörden einem Strafgefangenen das Recht auf Teilnahme an der Beerdigung seiner gleich nach der Geburt verstorbenen Tochter verweigert 1 4 0 . Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Beschwerdeführer die während seiner Inhaftierung geborene Tochter nie selbst gesehen hatte, kam die Komm, zu dem Ergebnis, daß die Behörden den ihnen nach A r t . 8 Abs. 2 zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten haben, w e i l sie zu Recht davon ausgehen konnten, daß dieser Eingriff i n das Familienleben notwendig war zum Schutz der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit und Moral, der Rechte und Freiheiten anderer und zur Verbrechensverhütung. Auch eine später ergangene Kommissionsentscheidung zeigt, daß Gefangene grundsätzlich keinen Anspruch darauf haben, sich zur Ausübung ihrer Grundrechte außerhalb der Anstaltsmauern aufhalten zu können, da dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit i. d. R. der Vorzug zu geben ist. Die Behörden hatten h i e r 1 4 1 einem zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen die Erlaubnis verweigert, an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen, w e i l nach Ansicht der Behörden keine ausreichenden Gründe vorlagen, die die Einleitung der dafür notwendigen besonderen Sicherungsmaßnahmen gerechtfertigt hätten. Da der Beschwerdeführer die Notwendigkeit derartiger Sicherungsmaßnahmen nicht bestritt, war die Weigerung der Gefängnisleitung nach A n sicht der Komm, i n vollem Umfang zum Schutz der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt. Dagegen kann der Schutz des Familienlebens nicht so weit gehen, daß damit schon die strafrechtliche Verfolgung der Verletzung von Unterhaltsverpflichtungen gegenüber den Familienangehörigen unzulässig 189 140 141

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CoD 42,142 ff. CoD 39,63 ff. CoD 42,140 ff.

Hoffmann-Remy

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wäre 1 4 2 . Das Familienleben ist kein Bereich, der regelnden Eingriffen der Staatsgewalt vollständig entzogen ist, wenn diese notwendig erscheinen, um grundlegende Interessen der Familienmitglieder und die öffentliche Ordnung zu schützen 143 . § 3 Das Recht auf Achtung der Wohnung

M i t dem i n A r t . 8 Abs. 1 garantierten Recht auf Achtung seiner Wohnung sichert die M R K dem einzelnen i n Ergänzung zu dem Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens auch den räumlich-gegenständlichen Bereich der Individualsphäre 1 4 4 . Dieses Recht auf Achtung der Wohnung ist, ähnlich wie das i n A r t . 1 ZP garantierte Eigentumsrecht, ein sachbezogenes Grundrecht, da es an das Vorhandensein einer Wohnung geknüpft ist. Als negatorisches A b wehrrecht schützt es nur vor staatlichen Eingriffen i n die vom Grundrechtsträger bewohnten Räume und gibt ebensowenig wie die anderen Grundrechte der M R K einen positiven Leistungsanspruch gegen den Staat auf Zuteilung einer Wohnung 1 4 5 . Die maßgebliche englische Fassung spricht von „home", der gleichberechtigte französische Text von „domicile". Das englische „home" bedeutet i n erster Linie „Heim, Wohnung", deckt sich also insofern m i t der deutschen Übersetzung, kann aber i n einer weiteren Bedeutung auch mit „ständiger Wohnort, Aufenthaltsort" übersetzt werden. Das französische „domicile" meint sogar i n erster Linie „Wohnort, Aufenthaltsort" und erst i n der zweiten Bedeutung „Wohnung, Heim". Besonders angesichts dieser französischen Fassung 146 könnte man deshalb der Auffassung sein, daß A r t . 8 auch den Schutz des Wohnsitzes gewährleistet, z. B. also vor Auslands Verweisungen schützt. M i t K ö h l e r 1 4 7 ist aber aus der Zusammenstellung mit den anderen, die Individualsphäre betreffenden Freiheitsrechten i n Art. 8 zu schließen, daß auch das Wohnungsrecht auf diesen Bereich beschränkt 148 sein soll. A r t . 8 sichert dem einzelnen demnach auch einen räumlich-gegenständlichen Bereich der Privatsphäre, i n dem er frei von Angst vor Überwachung und Bespitze142

Cour d'Appel de Bruxelles Dec. No. 1417 (21. 6.1968) d u Parquet No. 523 W. Vgl. dazu auch die Entscheidung des ital. Kassationshofs oben B T Kap. I A n m . 93. 144 Vgl. Köhler, Diss. S. 47. 145 V g l . Y B 202; ebenso für A r t . 13 GG B V G E 7, 238. 143

146 vgL Wiebringhaus S. 89. 147 Köhler S. 48 unter Hinweis darauf, daß A r t . 184 Abs. 1 u n d 2 des franz. Code Pénal (Hausfriedensbruch) die Wohnung als rechtliches Schutzobjekt m i t „domicile" umschreiben. 148 Vgl. auch Y B I, 205, 206: A r t . 8 gibt k e i n Recht auf Einwanderung und Begründung eines Wohnsitzes f ü r Ausländer.

§ 4 Das Recht auf Achtung des Nachrichtenverkehrs

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lung sein Privat- und Familienleben gestalten kann. Von der Privatwohnung getrennte Geschäfts- und Lagerräume dürften deshalb nicht unter den Schutz des A r t . 8 fallen 1 4 9 . Nur wenige Entscheidungen der Komm, betreffen diesen Schutz der Wohnung, was auch daran liegen mag, daß die meisten nationalen Verfassungen inhaltsgleiche Garantien enthalten. Nach der Entscheidung über die Beschwerde Nr. 662/59 150 gilt A r t . 8 nur für rechtmäßig begründete Wohnungen: wer, wie hier der Beschwerdeführer, ohne Genehmigung des Eigentümers auf einem gepachteten Grundstück ein festes Haus baut, der könne sich nicht auf A r t . 8 berufen. Wenig Aufschluß gibt auch der Fall eines verurteilten Straftäters, der seine Wohnung verlassen hatte, u m sich der Verbüßung seiner Freiheitsstrafe zu entziehen 151 . Die Komm, hielt i h m zu Recht entgegen, er sei erstens freiwillig aus seiner Wohnung gegangen und hätte zweitens die i m Rahmen des A r t . 8 Abs. 2 vorbehaltlich eines Ermessensmißbrauchs zulässigen Einschränkungen auch dann hinnehmen müssen, wenn er sich der Haftverbüßung nicht entzogen, sondern sein Strafe abgesessen hätte. I n einer anderen Beschwerde erklärte es die Komm, ohne nähere Begründung für zulässig, daß sich ein Gerichtsvollzieher zur Zwangsvollstreckung Z u t r i t t zu der Wohnung des Vollstreckungsschuldners verschafft 152 . Diese Maßnahme w i r d man ohne weiteres dem Eingriffsvorbehalt der öffentlichen Ordnung und der Rechte anderer zuordnen können. § 4 Das Recht auf Achtung des Nachrichtenverkehrs

Schließlich garantiert A r t . 8 Abs. 1 als letztes der dort aufgeführten Rechte „the right to respect for .. .his correspondence". Die Begriffe „correspondence/correspondance" umfassen nicht nur, wie es die deutsche Ubersetzung m i t „Briefverkehr" nahelegen w i l l , den privaten und geschäftlichen Austausch von Schriftstücken, den „Briefwechsel" i m eigentlichen Sinn, sondern können auch „Wechselwirkung" i. w. S., also allgemein die Übermittlung und den Austausch von Gedankenerklärungen bedeuten. Die authentischen Texte gehen also über die deutsche Fassung hinaus, sind aber auch weiter als das deutsche Syno149

Vgl. Guradze, K o n v . S. 121; a. M. Köhler S. 49: auch die berufliche Tätigkeit sei ein Ausschnitt der i n A r t . 8 geschützten Privatsphäre (vgl. aber oben A n m . 40). 160 CoD 2 (vgl. Partsch S. 422). Guradze, K o n v . S. 121 h ä l t es dagegen f ü r unerheblich, ob der Raum legal erworben wurde. 151 Y B V I , 591 ff., 629. 152 Y B I, 251.

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n y m „Korrespondenz". „Correspondence/correspondance" sind die Oberbegriffe für jeden einseitigen oder mehrseitigen Nachrichten- oder Meinungsaustausch, der über irgendwelche sachlichen M i t t e l wie z. B. Telephon, Fernschreiber, Postkarte, Telegramm oder Brief erfolgt 1 5 3 . Die Komm, hat bisher, soweit ersichtlich, noch nicht ausdrücklich zu dieser Frage Stellung genommen. Allerdings führte sie i n einer Entscheidung 154 aus, es seien keine Anhaltspunkte für eine Zensur durch die Anstaltsbehörden i n dem Sinne ersichtlich, " . . . that any communications have been allegedly stopped or their contents, w h o l l y or partly, deleted or otherwise tampered w i t h . . . " ,

was darauf hindeuten könnte, daß sie allgemein den Nachrichtenverkehr dem Schutzbereich des A r t . 8 zuordnen w i l l . Die hier befürwortete weite Wortinterpretation läßt sich auch durch eine funktionelle Auslegung stützen: A r t . 8 Abs. 1 wäre dann die notwendige Ergänzung zu der i n A r t . 10 geschützten Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen, da es der Staatsgewalt dann nicht nur untersagt wäre, die Nachrichtenübermittlung durch Beschlagnahme oder ähnliche Maßnahmen zu behindern oder gar zu unterbinden, sondern auch Zensur und Kontrolle dieser Nachrichten sowohl auf der „aktiven" als auch auf der Empfängerseite verboten wären. Auch die Tatsache, daß ein Teil der Mitgliedsstaaten bei Vertragsunterzeichnung verfassungsrechtlich nur Briefe vor Beschlagnahme und Kontrolle schützte 155 , steht einer am Wortlaut orientierten Auslegung nicht entgegen, da die M R K nicht nur den Minimalbestand der i n den Mitgliedsstaaten bereits vorhandenen Rechtsgarantien schützen soll 1 5 6 . A r t . 8 Abs. 1 schützt demnach nicht nur das Brief-, sondern allgemein auch das Post- und Fernmeldegeheimnis 157 . Schon einen Eingriff i n das Recht auf Achtung des Nachrichtenverkehrs verneinte die Komm, i n einem Fall, i n dem eine Behörde ein an sie gerichtetes Schreiben an eine andere Behörde weiterleitete bzw. ihr von dessen Inhalt Mitteilung machte 1 5 8 : "Whereas, however, the provisions of A r t . 8 as to respect for correspondence cannot be taken to i m p l y that a public authority to w h i c h a letter has been submitted should be prevented f r o m communicating this letter, or disclosing its contents, to another authority." 153 So auch Partsch S. 422/423; Ermacora S. 267; Herzog Diss. S. 192/193; a. M . Wollweber Diss. S. 60 ff. unter Hinweis auf die Verfassungssituation i n den Mitgliedsstaaten; Jeschek N J W 1954 S. 784; Franz N J W 1965 S. 25; Schorn zu A r t . 8 S. 247 A n m . 10. 154 CoD 40, 75 ff. 155 Vgl. Wollweber, Diss. S. 61. 156 Vgl. oben A T Kap. I I § 4. 157 Partsch S. 422 spricht deshalb zutreffend v o m Schutz des „Nachrichtenverkehrs". 158 CoD 35, 56 ff., 71 = Y B X I I I , 548 ff.

§ 4 Das Recht auf Achtung des Nachrichtenverkehrs

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Hier war ein schwedischer Gerichtsassessor entlassen worden, weil das Gericht, dem er angehörte, offenbar von einem an das Erziehungsministerium gerichteten Schreiben des Richters Kenntnis erlangt hatte. Dari n hatte er u m Befreiung von der Verpflichtung zur Rückzahlung eines staatlichen Darlehens nachgesucht, da die auszahlende Bank i m Lager des Kapitalismus stehe, der den schrecklichen Krieg i n Vietnam führe und gegen die Interessen der Arbeiter wirke. Da die M R K kein Recht gibt, ein A m t i m öffentlichen Dienst einzunehmen, hinsichtlich einer möglichen Verletzung des Rechts auf politische Meinungsfreiheit nach Art. 10 dagegen der Rechtsweg nicht erschöpft war (Art. 13), konnte eine Verletzung der M R K nur noch i n der Weitergabe des Briefes bzw. seines Inhalts bestehen. Zutreffend zog die Komm, hier den Schutzbereich des A r t . 8 Abs. 1 nicht so weit, daß er den Adressaten, auch wenn es sich u m öffentliche Behörden handelt 1 5 9 , i n der Verfügungsbefugnis über den Brief beschränkt. Sinn des A r t . 8 ist es, eine ungehinderte und unkontrollierte Nachrichtenübermittlung sicherzustellen, wobei die Rechtsinhaberschaft aber m i t der Verfügungsbefugnis über die Nachricht bzw. das sie vermittelnde Medium wechselt: nach ordnungsgemäßer Zustellung kann sich der Absender nicht mehr auf A r t . 8 berufen. Auch die Öffnung unzustellbarer Briefe u. ä. durch die Post kann man nicht als Eingriff i n das Recht aus Art. 8 bewerten, da dies die einzige Möglichkeit ist, Absender oder Adressat zu ermitteln: diese Maßnahme dient also sogar der Nachrichtenübermittlung 1 6 0 . Dementsprechend wies die Komm, auch eine Beschwerde ab, mit der das Verhalten der Post beanstandet worden war, die ein Paket, auf dem weder Absender noch Adressat, sondern nur der Name eines Ministeriums vermerkt waren, an dieses Ministerium weitergeleitet hatte 1 6 1 : "Whereas the Commission finds that this was a reasonable course to be adopted b y the post office and that there was thereby no interference w i t h the Applicants r i g h t under A r t . 8."

Die Mehrzahl der den Schutz des Nachrichtenverkehrs betreffenden Kommissionsentscheidungen befaßt sich m i t Einschränkungen dieses Rechts, die Strafgefangene und sonstige Anstaltsinternierte hinzunehmen hatten 1 6 2 . Die Skala der von den Beschwerdeführern beanstandeten Maßnahmen reicht von der Aufstellung einer Erlaubnispflicht zum Führen einer K o r 150 Das Verhalten privater Adressaten fällt ohnehin nicht unter A r t . 8 (vgl. oben A T Kap. X V ) . 160 Wollweber, Diss. S. 131 w i l l dagegen Maßnahmen, die der reibungslosen Briefbeförderung dienen, dem Eingriffsziel der öffentlichen Ordnung i m w e i testen Sinn zuordnen. 161 CoD 35, 37 ff., 51. 162 Vgl. dazu oben A T Kap. X V I .

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respondenz über deren quantitative Beschränkung bis h i n zur Beschlagnahme und Zensur von Briefen und Mitteilungen. Da auch Personen, denen die Freiheit rechtmäßig entzogen wurde, grundsätzlich grundrechtsberechtigt sind, sind alle diese Maßnahmen Eingriffe i n das Recht aus A r t . 8 Abs. 1. Davon geht auch die Komm, aus 1 6 3 , die aber bisher, soweit ersichtlich, ausnahmslos die Rechtmäßigkeit dieser Eingriffe bejahte, wenn sie i m Rahmen einer Strafhaft erfolgt sind 1 6 4 . Sie geht davon aus, daß Beschränkungen der persönlichen Freiheit, also nicht nur der körperlichen Bewegungsfreiheit ein dem Wesen rechtmäßiger Freiheitsentziehung innewohnendes Merkmal sind 1 6 5 . Beschränkungen des Nachrichtenverkehrs sollen deshalb ohne weiteres m i t A r t . 8 Abs. 2 vereinbar sein, wenn sie sich i m Rahmen des Üblichen halten: So hält sie die Zensur der Gefangenenpost grundsätzlich dann für zulässig, wenn damit keine ungebührliche Verzögerung der Briefzustellung verbunden ist 1 6 6 . Sofern derartige Eingriffe nicht nur pauschal als „inherent feature of (his) lawful imprisonment" 1 6 7 gerechtfertigt werden, nennt die Komm, meist die Interessen der nationalen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung 168 . Die Komm, w i l l dabei keine Unterschiede machen, ob es sich u m einen Untersuchungsgefangenen 1 6 0 , einen Strafgefangenen 170 , den Insassen einer Heil- und Pflegeanstalt 1 7 1 oder u m Personen handelt, die sich i n Abschiebe- bzw. Auslieferungshaft befinden 1 7 2 . Diese pauschale Beurteilung muß aber schon deshalb auf K r i t i k stoßen, weil jede dieser Formen der Freiheitsentziehung unterschiedlichen Zwecken und damit auch verschiedenen „öffentlichen Interessen" i. S. d. A r t . 8 Abs. 2 dient. Die Untersuchungshaft dient als solche allein der Verhinderung von Flucht und Verdunklung i m Hinblick auf das gerichtliche Verfahren, nicht aber darüber hinaus auch dem Schutz der Allgemeinheit oder der Resozialisierung des Häftlings wie die Strafhaft. Die vorläufige Unterbringung soll nur die Erstellung eines Gutachtens ermöglichen und u. U., ähnlich wie die Sicherungsverwahrung, dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dienen. 163

Vgl. z. B. CoD 36, 61 ff., 64/65 i m Anschluß an CoD 24, 98. Ihre i n den „Affaires de Vagabondage" abweichende Meinung wurde v o m E G H nicht bestätigt, vgl. unten A n m . 178. 185 Vgl. z. B. CoD 24, 98 ff. 186 yb I I I , 445 ff., 449: " . . . la censure dénoncée par X n'a entraîné par conséquent aucun retard anormal ..." 187 Vgl. oben A T X V I A n m . 31. 188 Vgl. z. B. CoD 40,15 ff.; CoD 40, 75 ff.; CoD 42, 49 ff. 169 y b vill, 228 ff.; vgl. aber oben A n m . 164. 170 Z. B. CoD 40,15 ff.; CoD 37,119 ff.; Y B I X , 436 ff. 171 CoD 35, 140 ff. : diese Entscheidung b e t r i f f t zwar n u r das Familienleben, ist aber allgemein formuliert (vgl. oben A T Kap. X V I A n m . 31). 172 Darauf weist die K o m m , i n Y B V I I I , 228 ff. hin. 184

§ 4 Das Recht auf Achtung des Nachrichtenverkehrs

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Die zwangsweise Unterbringung i n einer Heil- und Pflegeanstalt soll die Erforschung des Krankheitsbildes, die Behandlung des Betroffenen und u. U. auch den Schutz der Allgemeinheit ermöglichen. Entsprechend soll die Ausweisungshaft nur die Ausweisung sicherstellen 173 . Werden die Betroffenen an der freien Ausübung ihres Rechts auf Nachrichtenverkehr durch die Anstaltsleitung gehindert, so kann es sich nach den Grundsätzen des A r t . 8 Abs. 2 nur dann u m i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen handeln, wenn damit Zwecke verfolgt werden, zu deren Erreichung auch die körperliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde. Dies hat nichts m i t einer immanenten, durch den Zweck des jeweiligen „besonderen Gewaltverhältnisses" bestimmten Grundrechtseinschränkung zu tun, sondern folgt aus dem Erfordernis der Notwendigkeit der Maßnahme: Während einer U n tersuchungshaft dürfen danach z. B. keine Zwecke verfolgt werden, die sich nur aus Sinn und Zweck der Strafe rechtskräftig verurteilter Strafgefangener rechtfertigen lassen. Es kommt deshalb nicht mehr darauf an, ob die i n diesen Fällen gegebene Gleichbehandlung wesentlich verschiedener Sachverhalte zusätzlich gegen A r t . 14 i. V. m. A r t . 8 verstoßen würde. I m einzelnen bedeutet dies, daß die Überwachung der Korrespondenz Untersuchungsgefangener unbeschränkt zulässig ist, da dies i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, u m Flucht und Verdunklung zu verhindern und damit die öffentliche Ordnung zu verteidigen. Eine Ausnahme w i r d man allerdings für die Korrespondenz des Gefangenen m i t seinem Verteidiger machen müssen, sofern nicht konkrete Anhaltspunkte darauf hindeuten, daß dieser seine Vertrauensstellung, die grundsätzlich eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht erwarten läßt, mißbraucht. Bei Strafgefangenen ist dagegen nur eine beschränkte Kontrolle zulässig. Zwar soll die Allgemeinheit und die öffentliche Ordnung während der Strafhaft vor dem Gefangenen geschützt werden, doch dürften mangels besonderer Anhaltspunkte i m Einzelfall grundsätzlich Stichproben ausreichen 174 , u m die öffentliche Sicherheit und Ordnung vor den Gefahren zu schützen, die u. U. von der Korrespondenz des Gefangenen ausgehen. Unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung erscheint nur die Kontrolle durch Psychologen, Psychiater und andere zu diesem Zweck eingesetzte Personen 176 „notwendig". Auch bei dem Anhalten und der Beschlagnahme von Briefen muß nach der Funktion der Freiheitsentziehung differenziert werden. So ist es bedenklich, wenn Gefängnisbehörden Briefe eines Untersuchungsgefangenen anhalten oder beschlagnahmen, weil die darin enthaltenen Äußerun173 174 175

Vgl. zum Ganzen Guradze, K o n v . S. 126/127. Guradze Konv. S. 127. Guradze Konv. S. 127.

BT — Kap. I : Artikel gen z. B. beleidigend sind und damit die Rechte anderer verletzen. Die Kenntnisnahme erfolgt hier ja nur anläßlich einer aus ganz anderen Gründen, nämlich der Verhinderung von Flucht und Verdunklung und somit zum Schutz der öffentlichen Ordnung gerechtfertigten Kontrolle. I n einem Rechtsstaat ist es grundsätzlich nicht die Aufgabe der Anstaltsbehörden, die allgemeine Lebensführung eines Untersuchungsgefangenen zu überwachen und Dritte gegebenenfalls vor Beleidigungen durch i h n zu schützen, so daß derartige Maßnahmen nicht dem Erfordernis der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft i. S. d. A r t . 8 Abs. 2 genügen. Z u einem anderen Ergebnis kann eine Güterabwägung allerdings dann führen, wenn von der Korrespondenz eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder auch den einzelnen ausgeht: das Anhalten von Briefen dürfte demnach regelmäßig dann zulässig sein, wenn die Behörde anläßlich ihrer Kontrolle von beabsichtigten Verbrechen oder Vergehen schwererer A r t Kenntnis erhält, die es zu verhindern gilt. Bei der Strafhaft ist dies ohne Einschränkung zulässig, also z. B. auch bei lediglich beleidigenden Briefen des Gefangenen, da die Allgemeinheit durch den Freiheitsentzug vor dem Gefangenen geschützt werden soll, und hier deshalb schon die Briefkontrolle dem Schutz der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung strafbarer Handlungen dient. Entsprechend sind Einschränkungen des freien Nachrichtenverkehrs auch i n den anderen Fällen der Freiheitsentziehung nur dann notwendig i n einer demokratischen Gesellschaft, wenn sie erforderlich sind, u m die Erreichung des m i t der Freiheitsentziehung verfolgten Ziels sicherzustellen. Nach diesen Grundsätzen kann der Rechtsprechung der Komm, und des EGH auch i m Ergebnis nur teilweise zugestimmt werden. I n den „Vagrancy Cases" 1™ war auch die Komm, der Ansicht, daß die i m Fall der Strafhaft von ihr für zulässig gehaltenen Einschränkungen der Freiheit des Nachrichtenverkehrs nicht ohne weiteres auch auf den bloßen Gewahrsam von Landstreichern übertragen werden können 1 7 7 . Sie hielt deshalb Art. 8 durch die Überwachung der Korrespondenz dieser Personen auch dann für verletzt, wenn die Freiheitsentziehung als solche i m H i n blick auf A r t . 5 Abs. 4 rechtmäßig sein sollte. Der EGH folgte dem nicht, sondern rechtfertigte diesen gesetzlich vorgesehenen Eingriff i n das i n Art. 8 verbürgte Recht m i t einer subjektiv richtigen Ermessenshandhabung durch die Behörden 1 7 8 . 176

ECHR Series A (18. 6.1971) para. 91 S. 45 (Urteil des EGH). . . ordinary detention for vagrancy cannot entail the restrictions on the freedom of correspondence which are permissible i n c r i m i n a l matters" (vgl. Z i t a t i m „Landstreicherei"-Urteil des EGH). 178 . . the authorities had sufficient reason to believe that i t was necessary to impose restrictions for the purpose of the prevention of disorder or crime, 177

§ 4 Das Redit auf Achtung des Nachrichtenverkehrs

137

Es scheint aber zweifelhaft, ob die Korrespondenzüberwachung bei Personen, die nicht straffällig geworden, sondern lediglich wegen Landstreicherei i n Gewahrsam genommen worden sind, i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist: diese Maßnahme scheint weder verhältnismäßig noch überhaupt erforderlich zu sein zum Schutz der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit, Moral und Rechte und Freiheiten anderer oder zur Verbrechensverhütung, wie der EGH meint 1 7 9 . Z u Recht wies die Komm, die Beschwerde 180 eines i n Nordirland internierten Iren ab, der die Zensur seiner Korrespondenz m i t seinem A n walt gerügt hatte 1 8 1 . Da er als Angehöriger der I R A eine Gefahr für die innere Sicherheit des Landes 1 8 2 darstellte und die bei i h m gefundenen Briefe darauf schließen ließen, daß er auch weiterhin die auf gewaltsamen Umsturz gerichteten Bestrebungen dieser verbotenen revolutionären Vereinigung fördern wollte, war dieser Eingriff i n sein Recht aus A r t . 8 die i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme zur Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung strafbarer Handlungen: auch eine nicht nur auf Stichproben beschränkte Kontrolle verstößt hier nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da anders als bei der Strafhaft der Schutz der öffentlichen Ordnung der Hauptzweck der Internierung ist 1 8 8 . I n der Beschwerde Nr. 1983/63 begründete die 1 8 4 verantwortliche Regierung die Kontrolle der Korrespondenz eines Gefangenen m i t seinem Rechtsanwalt auch schon während der Untersuchungshaft und speziell die durch diese Kontrolle verursachte Verzögerung eines Eilbriefs damit, daß durch diese Maßnahme Informationen über die Kontakte des Gefangenen zu anderen Rauschgifthändlern beschafft und eine Fortsetzung des Rauschgifthandels verhindert werden sollte. Die Komm, war auch hier der Ansicht, daß die Überwachung des Briefverkehrs bei Vorliegen ausreichender Gründe von A r t . 8 Abs. 2 gedeckt und sogar i n den Fällen der Abschiebe- oder Auslieferungshaft möglich sei. the protection of health or morals, and the protection of the rights and freedoms of others . . ( E C H R [1971] S. 45 para. 93). 179 Bezeichnenderweise fehlt i n der Begründung des E G H der Begriff der „demokratischen Gesellschaft" u n d die Feststellung der objektiven Rechtmäßigkeit der Einschränkung (vgl. auch oben A T Kap. X I I A n m . 5). 180 CoD 40,75 ff. 181 § 13 Abs. 2 des „Special Powers A c t " von 1922 macht die Beförderung u n d Aushändigung von Briefen v o n u n d an Internierte von der vorherigen behördlichen Prüfung u n d Zulassung abhängig. 182 Der von der K o m m , genannte Vorbehalt der nationalen Sicherheit bet r i f f t dagegen n u r die Sicherheit des Landes „nach außen". iss Voraussetzung ist allerdings, daß man auch die Internierung als solche ohne Verurteilung u n d bei bloßem Verdacht staatsgefährdender Umtriebe f ü r rechtmäßig hält. 184 y b v i l i , 228 ff.

138

BT — Kap. I: Artikel

Während die Komm, die Kontrolle des Nachrichtenverkehrs bei Personen, denen die Freiheit entzogen worden ist, i n ständiger Rechtsprechung, wenn auch mit wechselnden Begründungen 1 8 5 , ohne weiteres für zulässig hält, scheint sie dann einen schärferen Maßstab anlegen zu wollen, wenn es u m das Anhalten von Briefen geht: dies soll nur unter bestimmten Umständen zulässig sein 1 8 6 . Dennoch hat sie, soweit ersichtlich, bisher auch alle gegen die Beschlagnahme bzw. das Anhalten von Gefangenenpost gerichteten Beschwerden mit Ausnahme der m i t A r t . 6 i n Verbindung stehenden Fälle 1 8 7 als offensichtlich unbegründet abgewiesen. I n der Entscheidung über die Beschwerde Nr. 1753/63 188 begründete die Komm, die Abweisung sogar damit, daß die Kommunikation eines Gefangenen m i t der Presse grundsätzlich nicht so wichtig sei, daß ihre Verhinderung nicht von den Absätzen 2 der Art. 8 und 10 („prevention of disorder or crime") gedeckt wäre, wenn die Behörden Einwände dagegen haben. Demnach scheint sie eine Güterabwägung zwischen den Interessen des Grundrechtsträgers und den i n A r t . 8 Abs. 2 genannten Rechtsgütern auch i m Einzelfall zumindest dann für notwendig zu halten, wenn es sich nicht nur u m die Kontrolle, sondern darüber hinaus u m die Verhinderung eines Nachrichtenaustauschs des Gefangenen handelt 1 8 9 . Die Gefängnisbehörden haben die Pflicht, Dritte vor Beleidigungen und Verleumdungen durch den Strafgefangenen notfalls auch dadurch zu schützen, daß seine Briefe nicht zur Weiterbeförderung freigegeben werden. Die Komm, bestätigte deshalb richtigerweise die Entscheidung der Behörden, den Brief eines Gefangenen nicht zu befördern, weil er beleidigende und schwerwiegende Unterstellungen gegenüber dem Gericht, der Staatsanwaltschaft, dem Verteidiger und den Zeugen enthielt: die Freigabe hätte das Recht des Richters und der übrigen Betroffenen verletzt, nicht Angriffen auf ihre Ehre und ihren Ruf von Seiten des Gefangenen ausgesetzt zu sein 1 9 0 . I n einem anderen F a l l 1 9 1 war die Korrespondenz eines Gefangenen, sofern sie nicht m i t dem Anwalt, der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht geführt wurde, auf einen Brief pro Woche beschränkt worden; 185

Vgl. oben A T Kap. X V I (Anm. 31). Vgl. CoD 40, 75 ff. unter Hinweis auf Y B I I I , 444, 448; Y B X , 388, 412; CoD 37, 119, 122 u n d das U r t e i l des E G H i n den „Vagrancy Cases" (vgl. oben A n m . 176/177). 187 Vgl. auch das Golder-Urteil unten A n m . 198/199. iss y B V I I I , 174 ff. 189 D e r mitgeteilte Sachverhalt läßt nicht erkennen, ob die Korrespondenz des Gefangenen überhaupt dazu geeignet war, die öffentliche Ordnung zu gefährden. 190 y B x i l l , 528 ff., 544; vgl. auch oben A T Kap. X V I A n m . 38. 186

191

Y B I X , 436 ff.

§ 4 Das Recht auf Achtung des Nachrichtenverkehrs

139

außerdem wurden einige Briefe nicht befördert, weil sie entweder beleidigende und entstellende Äußerungen enthielten oder an Zeugen adressiert waren, so daß die Gefahr der Zeugenbeeinflussung bestand. Alle Maßnahmen waren nach Ansicht der Komm, von A r t . 8 Abs. 2 gedeckt. Die zahlenmäßige Beschränkung der Gefangenenkorrespondenz ist jedenfalls dann noch eine zulässige, weil zum Schutz der öffentlichen Ordnung notwendige Maßnahme, wenn sie dazu dient, eine Kontrolle dieser Korrespondenz durch die Behörden nicht unmöglich werden zu lassen. Bei einer Beschränkung auf lediglich einen Brief pro Woche w i r d den Ordnungsinteressen der Anstalt aber ein kaum zu rechtfertigender Vorzug gegeben. Das Anhalten der Briefe rechtfertigte sich i n diesem Fall dagegen aus dem Eingriffsvorbehalt zugunsten der Verhinderung strafbarer Handlungen, der Verteidigung der Ordnung und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer. M i t dem pauschalen Hinweis auf den mißbräuchlichen Inhalt der Briefe und die dem Vollzug rechtmäßiger Freiheitsstrafen wesensimmanenten Grundrechtseinschränkungen begründete die Komm, die Abweisung der Beschwerde Nr. 4133/69 192 . Der englische Gefangene hatte i n seinen Schreiben an den Zuständen i n der Anstalt K r i t i k geübt und seinem Rechtsanwalt die Weisung erteilt, seine an die Komm, gerichtete Beschwerde auch an die Presse weiterzugeben. Ohne auf die Voraussetzungen der A r t . 8 und 10 Abs. 2 einzugehen, verneinte die Komm, hier schon das Vorliegen einer Verletzung der Abs. 1 dieser A r t i k e l 1 9 3 . Zusätzliche rechtliche Aspekte können sich dann ergeben, wenn die Anstaltsbehörden i n die Korrespondenz des Häftlings m i t der Komm. regelnd oder kontrollierend eingreifen: dies könnte nicht nur gegen die Art. 8 und 10, sondern auch gegen das i n A r t . 25 garantierte Recht, sich wegen jeder Verletzung eines i n der M R K anerkannten Rechts an die Komm, zu wenden, verstoßen. Der Komm, ist aber zuzustimmen, daß eine bloße Kontrolle dieser Korrespondenz noch keine Beeinträchtigung des Rechts auf wirksame Ausübung des Beschwerderechts darstellt und somit auch nicht gegen den auf diese Garantie beschränkten A r t . 25 verstößt 1 9 4 . Die Beschlagnahme der Briefe Gefangener an die Komm, wäre dagegen weder i m Hinblick auf A r t . 8 noch, wenn dadurch die Einlegung einer wirksamen Beschwerde behindert wird, nach A r t . 25 zulässig, auch 192

CoD 36,61 ff. Vgl. oben A T Kap. X V I § 5. 194 yb I I I , 429 ff., 443: zumindest, solange weder die K o n t r o l l e selbst noch die von i h r ausgehenden W i r k u n g e n unangemessen, w i l l k ü r l i c h oder m i ß bräuchlich sind. I n CoD 36, 83 ff., 86 verweist die K o m m , noch unterstützend auf A r t . 3 Abs. 2 d des „European Agreement relating to persons participating i n proceedings before the European Commission and Court of H u m a n Rights", der eine gewöhnliche K o n t r o l l e der Korrespondenz m i t der K o m m , durch die Gefängnisbehörden zuläßt. Vgl. auch CoD 42,99 ff. 193

140

BT —Kap. I : Artikel

wenn sie einen „mißbräuchlichen" Inhalt haben und z. B. Rechte anderer verletzen: Die Zulässigkeitsprüfung bei eingehenden Beschwerden i s t 1 9 5 allein Aufgabe der Komm., eine A r t „Vorprüfung", sei es auch nur i m Hinblick auf die Form der Äußerungen, steht den nationalen Behörden nicht zu. I n Anbetracht dieser Kompetenzverteilung wäre es keine i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme, wenn die Behörden die öffentliche Ordnung oder die Rechte anderer auf Kosten des Beschwerderechts des Gefangenen schützen. Dagegen verbieten weder A r t . 8 noch A r t . 25 eine Bestrafung des Beschwerdeführers, falls die i n dem Beschwerdeschreiben gemachten Äußerungen den Tatbestand strafbarer Handlungen erfüllen 1 9 6 . Ausnahmsweise nicht für offensichtlich unbegründet hielt die Kommission die Beschwerden Inhaftierter, i n denen die Verhinderung oder Beschränkung ihres Schriftverkehrs speziell m i t Rechtsanwälten, Justizbehörden oder Gerichten gerügt wurde. I n Großbritannien bedarf die Korrespondenz Strafgefangener i n rechtlichen und geschäftlichen Angelegenheiten nach A r t . 38 Abs. 8 der „ P r i son Rules" von 1964 der behördlichen Erlaubnis. Diese Erlaubnis w i r d nach Auskunft der britischen Regierung 1 9 7 i n den Fällen, i n denen der Schriftverkehr des Gefangenen einen Schadensersatzprozeß gegen die Gefängnisbehörde einleiten soll, grundsätzlich nur dann erteilt, wenn ein „prima facie" Fall von (fahrlässigem) Verschulden vorliegt. W i r d i n diesen Fällen der Schriftverkehr wegen mangelnder Erfolgsaussichten der beabsichtigten Klage von der Gefängnisbehörde untersagt, so ist neben A r t . 8, wie der EGH i m „Golder-Urteil" 1 9 8 i m Anschluß an die Kommission bestätigt, auch das i n Art. 6 Abs. 1 S. 1 enthaltene Recht auf Zugang zu den Gerichten einschlägig. I n Würdigung der „Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft" kam der EGH zu dem Ergebnis, daß keiner der i n A r t . 8 Abs. 2 genannten Belange (öffentliche Ordnung, Verhinderung strafbarer Handlungen) den zuständigen Minister berechtigte, den Gefangenen Golder daran zu hindern, m i t seinem Rechtsanwalt zur Vorbereitung einer Schadensersatzklage gegen einen Gefängnisbeamten brieflichen Kontakt aufzunehmen, da die Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage allein Sache des zuständigen Gerichts sei. Der EGH sieht dabei die Frage einer möglichen Verletzung der A r t . 6 1 9 9 und 195 Vgl. auch A r t . 27 Abs. 2, der der K o m m , die Möglichkeit gibt, „ m i ß bräuchliche" Beschwerden zurückzuweisen. 196 Sofern die Bestrafung nicht für, sondern nur anläßlich der Einlegung der Beschwerde erfolgt: vgl. Y B I I I , 429 ff. 197 Vgl. CoD 36,43 ff. 196 Vgl. oben A T Kap. I I A n m . 14. 199 Der E G H sieht i n dem „ d r o i t d'accès", das die M R K zwar anerkenne, aber nicht i. e. S. definiere, k e i n absolutes Recht (so auch schon die K o m m , i n CoD 36, 55). Eine der deshalb möglichen immanenten Schranken dieses Rechts hielt der E G H i m F a l l Golder aber zu Recht nicht für einschlägig, da die Beurteilung

§ 4 Das Recht auf Achtung des Nachrichtenverkehrs

141

8 nicht isoliert, sondern i n engem Zusammenhang 200 . Bei der Prüfung der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft müsse auch die Tatsache berücksichtigt werden, daß der Schriftverkehr m i t dem A n w a l t die Wahrnehmung des i n einem anderen A r t i k e l der M R K — A r t . 6 — garantierten Rechts auf Zugang zu den Gerichten i n einem zivilrechtlichen Streitfall vorbereitet hätte. I n der Tat ist die Frage der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft i. S. d. A r t . 8 Abs. 2 nicht nur nach allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien zu beurteilen, sondern auch und i n erster Linie nach den i n den übrigen Bestimmungen der M R K garantierten Rechten. Die Aufstellung der Erlaubnispflicht i n A r t . 34 Abs. 8 der „Prison Rules" hält die Komm, als solche wohl noch für unbedenklich, da sie eine Beschwerde m i t der Begründung zurückwies, der Gefangene habe keinen entsprechenden Antrag gestellt und somit den Rechtsweg nicht erschöpft 201 . Diese Beispiele zeigen, daß die Vorschriften des A r t . 8 Abs. 2 flexibel genug sind, u m ohne Rückgriff auf die Rechtsfigur immanenter Grundrechtseinschränkungen den Nachrichtenverkehr von Personen, die sich i n Haft befinden, i n dem Maß überwachen und reglementieren zu können, wie der Schutz der Allgemeinheit oder ihrer Mitglieder es i n einem Rechtsstaat erfordert. Andererseits gebietet der Grundsatz der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft auch eine strenge Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, so daß i n jedem Einzelfall zu fragen ist, welche Gefahr für die i n A r t . 8 Abs. 2 genannten Rechtsgüter von dem Inhaftierten ausgeht und inwieweit der Schutz dieser Rechtsgüter auch Aufgabe der jeweiligen Anstaltsbehörde ist, was sich nicht zuletzt aus der A r t der Freiheitsentziehung und dem m i t ihr zulässigerweise verfolgten Zweck ergibt.

der Erfolgsaussichten der Klage i n einem demokratischen Rechtsstaat allein den Gerichten u n d nicht der Behörde obliegt (EGH a.a.O. „ E n d r o i t " para. 40). 200 Unter Hinweis auf diesen Zusammenhang hat die K o m m , auch schon die Beschwerde Nr. 4115/69 für zulässig erklärt. 201 Da auch das Antragserfordernis (dessen Zulässigkeit die Konventionsorgane natürlich nicht i n abstracto nachzuprüfen haben — vgl. „GolderU r t e i l " , „ E n d r o i t " para. 39) einen Eingriff i n das Recht aus A r t . 8 darstellt — A r t . 10 Abs. 2 S. 1 macht dies deutlich — hätte die K o m m , andernfalls auch i n dieser Hinsicht die Rechtswegerschöpfung prüfen müssen (CoD 39, 47 ff.).

142

BT —Kap. I I : Artikel Kapitel I I

Artikel 9 A r t . 9 lautet i n den authentischen Fassungen: 1. Toute personne a droit à la liberté de pensée, de conscience et de religion; ce droit implique la liberté de changer de religion ou de conviction, ainsi que la liberté de manifester sa religion ou sa conviction individuellement ou collectivement, en public ou en privé, par le culte, l'enseignement, les pratiques et l'accomplissement des rites. 2. L a liberté de manifester sa religion ou ses convictions ne peut faire l'object d'autres restrictions que celles qui, prévues par la loi, constituent des mesures nécessaires, dans une société démocratique, à la sécurité publique, à la protection de l'ordre, de la santé ou de la morale publique, ou à la protection des droits et libertés dautrui. 1. Everyone has the r i g h t to freedom of thought, conscience and religion; this right includes freedom to change his religion or belief and freedom, either alone or i n community w i t h others and i n public or private, to manifest his religion or belief, i n worship, practice and observance. 2. Freedom to manifest one's religion or beliefs shall be subject only to such limitations as are prescribed by l a w and are necessary i n a democratic society i n the interests of public safety, for the protection of public order, health or morals, or for the protection of the rights and freedoms of others.

Während A r t . 8 mehr die Freiheit des einzelnen i m Auge hat, sein Leben innerhalb der „privaten" Sphäre frei gestalten zu können, soll durch A r t . 9 sichergestellt werden, daß auch der innere Bereich der Gedanken und Überzeugungen grundsätzlich von staatlichen Zwängen frei bleibt und der einzelne sein Gewissen als Richtschnur seines Handelns nehmen kann. § 1 Das Recht auf Gedankenfreiheit

Der Anspruch auf Gedankenfreiheit w i r d zwar an erster Stelle genannt, doch w i r d i m weiteren Text des A r t . 9 zumindest ausdrücklich kein Bezug mehr darauf genommen. Dies ist einmal damit zu erklären, daß die zusätzlich genannte Gewissens- und Religionsfreiheit eigentlich schon Ausprägungen des allgemeinen Begriffs der Gedankenfreiheit sind, die nur wegen ihrer besonderen Bedeutung erwähnt wurden 1 . Zum anderen ist die Gedankenfreiheit i n engem Zusammenhang mit dem i n Art. 10 garantierten Recht auf freie Meinungsäußerimg zu sehen 2 : Die Freiheit, seine Gedanken äußern zu können, w i r d also ohnehin 1

Vgl. Verdoodt S. 128 zu dem entspr. A r t . 18 der V N Dekl. Auch die K o m m , spricht i n Y B V I , 424 ff., 442 pauschal von „rights to freedom of thought and expression, as guaranteed i n A r t . 9 and 10 of the Convention". 2

§ 1 Das Recht auf Gedankenfreiheit

143

schon durch A r t . 10 geschützt. Nur dieses äußere Verhalten kann aber auch rechtlicher Normierung unterliegen 3 : staatliche Eingriffe auch i n die „innere" Gedankenfreiheit, d. h. i n den Bereich, i n dem Gedanken erst gebildet werden, können i n einer demokratischen Gesellschaft unter keinem Gesichtspunkt rechtmäßig sein 4 . Auch aus den Vorarbeiten zu A r t . 18 der Menschenrechtsdeklaration der VN, der bei der Formulierung des A r t . 9 Abs. 1 fast wörtlich übernommen wurde, ergibt sich, daß die Autoren die innere Gedanken-, Gewissens« und Religionsfreiheit absolut, d. h. gegen jede Einschränkung geschützt wissen wollten 5 . Da somit die innere Gedankenfreiheit einschränkungslos gewährleistet ist, die äußere Gedankenfreiheit aber ohnehin den Schranken des A r t . 10 Abs. 2 unterliegt, konnte bei der Aufzählung der Einschränkungsmöglichkeiten i n A r t . 9 Abs. 2 auch auf die Erwähnung der Gedankenfreiheit verzichtet werden. Das Recht aus A r t . 9, Gedanken zu haben und sie frei zu bilden, ist Grundlage für das Recht aus A r t . 10 auf freie Kundgabe dieser Gedanken 6 , behält aber insofern selbständige Bedeutung, als es auch verbietet, jemanden zum Bekenntnis von Gedanken oder Überzeugungen zu zwingen, die er nicht hat 7 . Demgemäß ist die Bedeutung des Rechts auf Gedankenfreiheit i n der Praxis der Rechtsprechung gering. Teilweise wurde versucht, aus diesem Recht eine „Sprachfreiheit" abzuleiten. So hatte ein belgisches Gericht 8 darüber zu entscheiden, ob der Angeklagte, der bei einer Volksbefragung die Auskunft verweigert hatte, bestraft werden durfte, obwohl dem Fragebogen keine Übersetzung i n der Muttersprache des Betroffenen beilag. Das Gericht verneinte zwar seine Kompetenz zur Überprüfung von Gesetzen anhand von i n ternationalen Verträgen, weil dies der vom Cour de Cassation abgelehnten Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen gleichkäme, sprach den 9 Angeklagten aber dennoch m i t der etwas kuriosen Begründung frei, er habe unter unwiderstehlichem Zwang gehandelt (Art. 71 Code Pénal), weil er sich moralisch für verpflichtet hielt, der vermeintlichen Bedrohung von Grundrechten entgegenzutreten. 3

Vgl. Guradze, Stand S. 206. Deshalb wären eine Gehirnwäsche u. ä. Maßnahmen genauso (unzulässige) Eingriffe i n den Wesensgehalt des A r t . 9 wie z.B. ein erzwungener Lügendetektortest. 6 Vgl. Verdoodt S. 183. A r t . 29 Abs. 2 der V N Deklaration (vgl. oben A T Kap. I I I A n m . 10) gilt deshalb n u r für die Ausübung dieser Freiheiten, d. h. n u r i m Rahmen eines äußeren Verhaltens. 6 Pfeifer S. 439. 7 Vgl. die „dissenting opinion" des Richters Maridakis i m F a l l „Lawless", die auch f ü r A r t . 9 gelten k a n n (vgl. unten B T Kap. I I I A n m . 7 u n d Partsch S. 435 A n m . 671). 8 T r i b u n a l de Police d'Aubel (21. 6.1962) Y B V, 368 ff. 9 Der Angekl. hatte die Verletzung der A r t . 9,10,14 gerügt. 4

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BT —Kap. I I : Artikel

Gedankenfreiheit bedeutet aber sicher nicht, daß daraus das Hecht abgeleitet werden kann, irgendwelche Auskünfte tatsächlicher A r t , sei es auch i m Rahmen einer Volksbefragung, zu verweigern. „Gedanken" sind i n diesem Zusammenhang 10 Schlußfolgerungen und Überzeugungen philosophischer, moralischer, kultureller, wissenschaftlicher und politischer A r t , nicht aber die Fakten selbst, die diesen Gedanken zugrunde liegen. I m übrigen gibt auch A r t . 9 kein Recht, nur i n einer bestimmten Sprache denken oder sich äußern zu können 1 1 . § 2 Das Recht auf Gewissensfreiheit

Schwierigere Fragen stellen sich bei der Gewissensfreiheit. Problematisch ist hier nicht nur die Definition des Begriffs „Gewissen" als solche, sondern auch die Tatsache, daß Art. 9 Abs. 2 Einschränkungen nur für die Religions- und Bekenntnisfreiheit vorsieht, die Gewissensfreiheit somit einschränkungslos gewährleistet zu sein scheint. Nach der Definition des B V G 1 2 ist Gewissen ein real erfahrbares seelisches Phänomen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbare evidente Gebote unbedingten Sollens sind. Gewissensentscheidung ist danach jede ernste, sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung, die der einzelne für sich bindend und imbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte 1 8 . Letztlich entzieht sich dieses „Phänomen Gewissen" aber einer normativen Festlegung; derartige Formulierungen können allenfalls A n haltspunkte geben für die i n jedem Einzelfall vorzunehmende Bewertung. Die Entscheidung des einzelnen, sich unter Berufung auf sein Gewissen gegen staatliche Maßnahmen zu wenden, die von i h m ein bestimmtes Verhalten verlangen, steht dann unter dem Schutz des A r t . 9, wenn sie den Charakter eines die ganze Persönlichkeit ergreifenden sittlichen Gebots hat, also aus einer unabweisbaren inneren Warnung vor dem „Bösen" oder einem unmittelbaren Appell zum „Guten" resultiert. Vor allem niederländische Gerichte haben die These aufgestellt, der Bürger könne sich nicht unter Berufung auf sein Gewissen den i h m durch 10 Vgl. Verdoodt S. 182: mangels einer klaren Definition durch die Textautoren ist dieser Begriff i n seiner allgemein üblichen Bedeutung zu verstehen. 11 Vgl. dazu ausführlicher zu A r t . 10 unten Kap. I I I A n m . 40. 12 B V G E 12,24, 54 ff. 13 Anlaß f ü r diese Entscheidung können auch Anstöße von außen sein (BVerwGE 12, 271, 272). Gewissenmotivationen können religiöser oder ethischer, aber auch gefühlsmäßiger, weltanschaulicher oder politischer N a t u r sein (BVerwGE 7, 242, 246) u n d müssen nicht auf einer vernunftmäßigen Abwägung des F ü r u n d Wider beruhen (BVerwGE 12, 271, 272).

§ 3 Das Recht auf Religionsfreiheit

145

allgemeine Gesetze auferlegten Verpflichtungen entziehen 14 . Unter „allgemeinen Gesetzen" sind i n diesem Zusammenhang solche zu verstehen, die nicht gezielt die Beschränkung des Grundrechts der Gewissensfreiheit i m Auge haben, aber i n ihren Wirkungen den Bereich dieses Grundrechts tangieren. Sie sollen dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf dieses Grundrecht zu schützenden Gemeinschaftswertes dienen, der gegenüber der Betätigung des tangierten Grundrechts Vorrang hat 1 5 . Das kann aber nicht bedeuten, daß diese Gesetze grundsätzlich nicht unter A r t . 9 fallen können, nur weil sie „allgemeiner" Natur sind: ob ein Gesetz oder eine andere staatliche Maßnahme i n ein Grundrecht eingreift, beurteilt sich nicht nach den beim Erlaß verfolgten Zielen, sondern allein nach den Wirkungen i m Einzelfall 1 6 . Allerdings werden die Verpflichtungen aus „allgemeinen Gesetzen" regelmäßig nicht von solchem sittlichen Gewicht sein, daß sie dem einzelnen eine echte Gewissensentscheidung i n dem oben beschriebenen Sinn abverlangen können. Ist dies aber doch der Fall, so wäre nach dem allgemeinen Prinzip der A r t . 8 - 1 1 i m Wege der Güterabwägung nach den Regeln des Abs. 2 zu entscheiden, ob diese Gewissensentscheidung Vorrang hat vor dem m i t dem „allgemeinen Gesetz" verfolgten Schutz des Gemeinschaftsinteresses. Bei A r t . 9 steht man aber vor der Schwierigkeit, daß i m Abs. 2 nur Einschränkungen der Religions- und Überzeugungsfreiheit, nicht aber der Gewissensfreiheit vorgesehen sind. Da nicht angenommen werden kann, daß die Gewissensfreiheit des Art. 9 einschränkungslos, oder, als anderes Extrem, nur unter dem Vorbehalt inhaltlich unbegrenzter Eingriffsmöglichkeiten der Staatsgewalt garantiert werden sollte, fragt sich, ob die Ausübung der Gewissensfreiheit den Begriffen „religion o u . . . convictions" bzw. „religion or beliefs" zugeordnet werden kann. § 3 Das Recht auf Religionsfreiheit

Die Gewissensfreiheit läßt sich aber genau wie die Gedanken- und Religionsfreiheit i n einen inneren, unantastbaren Bereich und einen äußeren Bereich der Ausübung unterteilen. Innere Gewissensfreiheit wäre demnach die Freiheit, sich über das Erlaubte oder Unerlaubte eines Verhaltens ein Urteil zu bilden, äußere Gewissenfreiheit die Freiheit, sich auch dieser Einsicht gemäß zu verhalten. 14 Vgl. z. B. die Entsch. des Gerichts Leeuwarden v o m 13. 4.1961 (NJ 1964 S. 955 ff.) u n d v o m 1.11.1962 (NJ 1964 S. 957 ff.) u n d des H R i m „ A l t e r s v e r sicherungsfair (vgl. unten B T Kap. I I (Anm. 35/36). 15 Vgl. B V G E 7, 198 ff., 209 zum Begriff der allgemeinen Gesetze i n A r t . 5 Abs. 2 GG. 18 Vgl. auch Prins, A r s A e q u i Bd. 10 1960/61 S. 72.

10 Hoffmann-Remy

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BT — Kap. I I : Artikel

Da die Religions- und Uberzeugungs- bzw. Weltanschauungsfreiheit anerkanntermaßen 17 nicht nur Religionen i. e. S. umfaßt, sondern auch jede A r t von Weltanschauung, Überzeugung oder geistiger Einstellung einschließt, gleich ob sie religionsfeindlich (Atheismus, Materialismus, Monismus) oder areligiös bzw. religionsfrei (Skeptizismus, Pantheismus) ist, überschneidet sich die äußere Gewissensfreiheit mit der Betätigung der Überzeugungsfreiheit („liberté de manifester ses convictions/ freedom to manifest one's beliefs") und unterliegt somit auch den Einschränkungsregeln des A r t . 9 Abs. 2. § 4 Einheitliches Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

Daraus ergibt sich außerdem, daß die Formulierung i n A r t . 9 Abs. 1 S. 2 1 8 zutrifft und die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit einschließlich der Bekenntnisfreiheit Ausprägungen eines einheitlichen Grundrechts sind, wobei die Prüfung einer möglichen Verletzung dieses Rechts aber zweckmäßigerweise unter dem begrifflichen Gesichtspunkt erfolgt, bei dem der Schwerpunkt des Einwands liegt. Schon einen Eingriff i n das Recht aus Art. 9 verneinte die Komm, zu Recht i n den Beschwerden Nr. 1718/6210 und 4982/71 20, i n denen die Pflicht, bei Strafandrohung zu wählen, beanstandet worden war. Das angegriffene Gesetz beinhaltete nur die Pflicht zur Stimmabgabe, zwang aber nicht dazu, wie der Beschwerdeführer i n der Beschwerde Nr. 4982/71 meinte, die Stimme seines Gewissens zum Schweigen zu bringen und einen der beiden auf dem offiziellen Stimmzettel aufgeführten Kandidaten zu wählen, auch wenn man beide für ungeeignet hält. Den Wahlpflichtigen war es freigestellt, einen leeren oder ungültigen Stimmzettel abzugeben. A l l e i n die Pflicht, zur Wahlurne zu gehen, verletzt aber sicherlich nicht die Gewissensfreiheit. I n einem vom niederländischen Höge Raad 2 1 entschiedenen Fall hatte sich ein Niederländer geweigert, seiner Pflicht zur Ableistung des Z i v i l schutzdienstes („wet op de noodwachten") nachzukommen und sich zur Begründung auf seine Religionsfreiheit berufen. Das Gericht war aber der Meinung, aus A r t . 9 könne niemand das Recht herleiten, gesetzliche Verpflichtungen unter Berufung auf seine religiöse Gewissensfreiheit nicht zu erfüllen, wenn diese Verpflichtung nichts mit der Ausübung der Religion zu t u n hat. Der nationale Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, bei 17 18 19 20 21

Vgl. auch N J W 66, 31, 34 ff. (Hessischer Staatsgerichtshof). . . ; ce droit / this r i g h t " Y B V I I I , 168 ff. CoD 40, 50 ff. N J 1968 S. 214 Nr. 64.

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jeder gesetzlichen Regelung Ausnahmen für Einwände aus Gewissensgründen vorzusehen. Wer sich aber nach seiner religiösen Überzeugung richten w i l l , die i h m gebietet, sein Schicksal ganz i n die Hand Gottes zu geben und jeden Versuch zu unterlassen, es durch zukunftssichernde Maßnahmen zu beeinflussen, der kann auch durch ein solches auf den ersten Blick „neutral" erscheinendes, weil die Gewissensfreiheit scheinbar nicht betreffendes Gesetz über den Zivilschutz i n eine Konfliktsituation gebracht werden, vor der ihn A r t . 9 schützen w i l l . Ob die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit hier die höherwertigen Rechtsgüter sind, die diese Einschränkung der Religions- und Gewissensfreiheit rechtfertigen i. S. d. Art. 9 Abs. 2, erscheint zumindest dann zweifelhaft, wenn es sich u m Einzelfälle handelt, die die Erreichung des mit dem „allgemeinen" Gesetz verfolgten Zwecks nicht vereiteln. Bei der allgemeinen Wehrpflicht ist es dagegen wesentlich naheliegender, daß die davon betroffenen Bürger i n echte Gewissenskonflikte geraten können. Das gilt nicht nur für die Pflicht zur Teilnahme an einer kriegerischen Auseinandersetzung, sondern auch schon für die Ableistung des Wehrdienstes i n Friedenszeiten, da auch dies einzig dazu dient, die Wehrpflichtigen darauf vorzubereiten, Menschen i m Krieg mit Waffen zu vernichten 22 . Angesichts der modernen Arbeitsteilung i n der Armee kann es auch nicht darauf ankommen, ob der Wehrpflichtige i m eigentlichen Kriegshandwerk an der Waffe ausgebildet w i r d oder lediglich i m Nachschub u. ä. eingesetzt w i r d : i n beiden Fällen handelt es sich um eine M i t w i r k u n g an kriegerischen oder kriegsvorbereitenden Handlungen, die den Betroffenen vor die gleiche Gewissensentscheidung stellen. Andererseits kann es hier aber nicht allein u m die Frage der Kausalität gehen, da sonst jeder Steuerzahler die Zahlung seiner Steuern verweigern könnte, da sie zumindest teilweise auch der Unterhaltung der Armee und somit einem Zweck dienen, dessen Unterstützung eine Gewissensentscheidung erfordert. Hier ist deshalb die Einschränkung zu machen, daß es sich dann u m so weniger u m eine echte Gewissensentscheidung i. S. d. A r t . 9 handelt, je weiter das gesetzlich vorgeschriebene Verhalten i n der Kausalkette von dem letztlich aus Gewissensgründen abgelehnten Erfolg entfernt ist. I n jedem Fall fragt sich aber, ob die Wehrgesetzgebung der Mitgliedsstaaten, die die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nicht anerkennen, mit A r t . 9 vereinbar ist. Man könnte zunächst daran denken, die Rechtfertigung i n Art. 9 Abs. 2 zu suchen. Auffälligerweise nennt diese Bestimmung aber i m Gegensatz zu den A r t . 8, 10 und 11 nicht das Eingriffsziel der nationalen Sicherheit 23 , dem eine sich auch über Gewis22

10*

Vgl. B V G E 12, 45 ff., 56.

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sensentscheidungen hinwegsetzende Wehrpflicht i n erster Linie zuzuordnen wäre. Zwar ist auch der i n Art. 9 Abs. 2 erwähnte Schutz der (inneren) öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine der Aufgaben der Armee, doch dürfte für diesen Aufgabenbereich eine uneingeschränkte allgemeine Wehrpflicht keine i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme mehr sein, weil die innere Ordnung des Landes auch m i t einer Berufsarmee oder mit Hilfe der Polizei ausreichend gesichert werden kann. Die zweite Möglichkeit wäre die Annahme einer i m Bezug auf die Wehrgesetzgebung eingeschränkten Garantie des A r t . 9 Abs. 1. Nicht nur die Entstehungsgeschichte, sondern auch der Text der M R K scheinen darauf hinzuweisen, daß die Autoren der Konvention den Bereich des Kriegsdienstes i n Ubereinstimmung m i t der Auslegung, wie sie bei m i t A r t . 9 vergleichbaren Bestimmungen der nationalen Verfassungen praktiziert w i r d 2 4 , aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit völlig ausklammern wollten: A r t . 4 Abs. 3 b) geht nämlich ausdrücklich davon aus, daß es den M i t gliedsstaaten freigestellt ist, ob sie die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkennen oder nicht: A r t . 4 Abs. 3: "Forced or compulsory labour shall not include: b) any service of a m i l i t a r y character or, i n cases of conscientious objectors, i n countries where they are recognised, service exacted instead of compulsory m i l i t a r y service.' ,

Z u Hecht schließt die Komm, aus dieser Bestimmung, daß die Staaten nicht nur die Wahl haben, ob sie K d V aus Gewissensgründen anerkennen, sondern darüber hinaus i m Falle dieser Anerkennung auch berechtigt sind, einen zivilen Ersatzdienst an die Stelle des Wehrdienstes treten zu lassen 25 . Somit bleibt das Verhältnis dieser Bestimmung zu Art. 9 zu klären. Grundsätzlich darf keine Bestimmung der Konvention so ausgelegt werden, daß sie eine andere Bestimmung überflüssig macht oder gar i n offenen Widerspruch zu ihr t r i t t 2 6 . Da aber Art. 4 Abs. 3 b) zwar indirekt, aber doch eindeutig das Recht der Staaten anerkennt, eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen, die auf „conscientious objectors" keine Rücksicht nimmt, muß dies auch bei der Auslegung des diesen Bereich nicht ausdrücklich regelnden A r t . 9 berücksichtigt werden 2 7 . 23 „national security / sécurité nationale" betreffen ausschließlich die Sicherheit des Landes nach außen. 24 Vgl. zum Verhältnis von A r t . 4 Abs. 1 zu Abs. 3 G G z. B. B V G E 19, 135, 138; 23,127,132 ff. 25 Vgl. CoD 43,161. 26 Vgl. oben A T Kap. I I § 6. 27 So auch K B Nr. 50 v. 14.11.1968, A R B 1969 S. 123.

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Man muß demnach zu dem Ergebnis kommen, daß A r t . 9 Abs. 1 die Staaten nicht zwingt, bei der Wehrgesetzgebung auf Gewissensentscheidungen der Wehrpflichtigen Rücksicht zu nehmen. Dabei handelt es sich auch nicht u m eine nach A r t . 18 verbotene Verwendung von Einschränkungen für andere als die vorgesehenen Zwecke. Auch wenn man davon ausgeht, daß Art. 4 Abs. 3 nicht nur eine den Wehr- und Ersatzdienst aus dem Schutzbereich des Art. 4 ausklammernde Klarstellung i m negativen Sinn 2 8 , sondern eine echte Einschränkung ist, so w i r d diese Einschränkung doch nicht zur Einschränkung eines anderen Grundrechts (Art. 9), sondern lediglich zu dessen Auslegung herangezogen 29 . Entsprechend verbietet Art. 9 auch nicht die Bestrafung eines anerkannten Kriegsdienstverweigerers , der auch die Ersatzdienstleistung aus Gewissensgründen ablehnt. Dieser von der Komm, vertretenen Ansicht hat sich auch der Ministerrat i n dem Fall Grandrath/BRD 3 0 angeschlossen. Der Beschwerdeführer war Buchstudienleiter bei den Zeugen Jehovas, die auch den Ersatzdienst als indirekte Begünstigung des Krieges ablehnen. Seine Bestrafung wegen der Nichtleistung des Ersatzdienstes rügte er als Verletzung der Art. 4, 9 und 14. Nach seiner Ansicht gilt das Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit so lange, wie nicht die Rechte anderer verletzt werden. Durch seine Weigerung werde aber nicht einmal ein Recht des Staates verletzt, da i n einer westlichen Demokratie die Gewissensfreiheit grundsätzlich vor öffentlichen Interessen Vorrang haben müsse. Außerdem seien Geistliche i n allen zivilisierten Staaten von dieser Pflicht befreit. Die Bundesregierung war dagegen der Auffassung, aus A r t . 9 folge keine Pflicht zur Freistellung vom Kriegs- oder Ersatzdienst, so daß es sich auch bei Geistlichen um ein Privileg i. S. d. Art. 60 handle. Auch wenn dieser Bereich trotz Art. 4 Abs. 3 b) unter Art. 9 Abs. 1 fiele, so sei doch i n jedem Fall Art. 9 Abs. 2 erfüllt. Die Komm, stellte sich hier zunächst die Frage, ob die Ableistung des Zivildienstes das Recht des Beschwerdeführers auf Ausübung seiner Religionsfreiheit verletzt hätte. Nach seinem eigenen Vorbringen wäre er aber i n seiner privaten Religionsausübung nicht behindert gewesen und hätte auch genügend Freizeit gehabt, sich seiner Gemeinde zu widmen; die Komm, verneinte deshalb eine Einschränkung seiner Religionsausübungsfreiheit. Aber auch die strafbewehrte Pflicht zur Ableistung eines 28 So aber das K o m m . m i t g l i e d Eustathiades (vgl. unten A n m . 32). Die K o m m , weist demgegenüber auf die I L O Convention v. 1930 über Zwangs- u n d Pflichtarbeit hin, aus der A r t . 4 übernommen wurde (YB X , 627 ff.) u. zieht die Analogie zu den A r t . 8 - 11 I I . 20 Streng genommen w i r d sogar n u r eine i n der Einschränkung des A r t . 4 Abs. 3 b) implizierte Voraussetzung auf A r t . 9 übertragen, nicht aber die eigentliche Einschränkung selbst. 30 Y B X , 627 ff., 694 ff. (Entscheidung v o m 29. 6.1967).

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aus religiösen Gewissensgründen abgelehnten Dienstes als solche verstieß nach Ansicht der Komm, nicht gegen Art. 9 3 1 . Zum selben Ergebnis, wenn auch mit anderer Begründung, kam das Kommissionsmitglied Eustathiades 32 i n seiner „dissenting opinion". Nach seiner Ansicht soll hier A r t . 9 anwendbar sein, weil das religiöse Gewissen sowohl den Kriegs- als auch den Ersatzdienst verbietet. Auch Art. 4 Abs. 3 b), der i m übrigen keine Einschränkung, sondern eine Definition der Zwangs- und Pflichtarbeit und eine Klarstellung i m negativen Sinn sei, bedeute nicht, daß A r t . 9 unanwendbar sei, obwohl Religions- oder Gewissensfreiheit betroffen sind. Dies bedeute aber nicht, daß A r t . 9 auch verletzt sei. Zwar wäre der Hinweis auf die Minderheit der Staaten, die keine Kriegsdienstverweigerer anerkennen, ohne A r t . 4 Abs. 3 b) nicht ausreichend, u m ein Optionsrecht der Staaten auch i m Hinblick auf Art. 9 zu bejahen. Außerdem falle es schwer zu sagen, daß die i n den betreffenden deutschen Gesetzen vorgesehenen Maßnahmen, die von Motiven der öffentlichen Sicherheit inspiriert sind, auch i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. A r t . 4 Abs. 3 b) erweitere aber den Ermessensspielraum der Staaten bei A r t . 9 Abs. 2. Wegen der sich aus Art. 18 gegen diese These ergebenden 33 Bedenken ist aber die Begründung der Komm, vorzuziehen. Da somit die Kriegsund Ersatzdienstpflicht aus dem Schutzbereich des A r t . 9 Abs. 1 ausgeklammert ist, kann auch der nur „akzessorische" A r t . 14 insofern nicht eingreifen. Aber auch eine Verletzung der A r t . 4 Abs. 3 b) i. V. m. 14 34 verneinte die Komm, zu Recht: die Regelung, außer evangelischen und katholischen nur hauptberufliche Geistliche vom Kriegs- und Ersatzdienst freizustellen, ist nicht diskriminierend, weil sie das Ergebnis einer sachgerechten Abwägung zwischen der Effektivität der allgemeinen Wehrpflicht und der Aufrechterhaltung des Gottesdienstes i n den Gemeinden ist. Außerdem w i r d dadurch nur zwischen verschiedenen Kategorien von Geistlichen differenziert, nicht aber wegen der Zugehörigkeit zu bestimmten Religionsgruppen diskriminiert. Anlaß zur Diskussion gab der die Religionsfreiheit betreffende, von niederländischen Gerichten und auch von der Komm, entschiedene sog. „Altersversicherungsfall". Nach dem niederländischen Altersversicherungsgesetz (Algemene Ouderdomswet) war jeder Bürger verpflichtet, Beiträge zu dieser gesetzlichen Altersversicherung zu leisten. A r t . 36 dieses Gesetzes sieht vor, daß derjenige, der diese Beiträge aus Gewissensgründen verweigert, verpflichtet ist, als Ersatz Steuern i n gleicher 31 Sie begründete dies w i e später i n CoD 43, 161: „ . . . A r t . 9 as qualified A r t . 4 (3) (b)" (vgl. oben A n m . 25). 32 Y B X , 688 ff. Ziff. 47. 33 Vgl. oben A n m . 28 u n d A T Kap. I X § 5. 34 Vgl. auch oben A T Kap. I X A n m . 29.

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Höhe zu zahlen, die i n den allgemeinen Haushalt fallen und nicht dem Versicherungsfond zugute kommen. Ein der Reformierten Kirche angehörender Geistlicher wandte sich gegen den auf der Grundlage dieses Art. 36 erlassenen Steuerbescheid mit der Begründung, dadurch werde sein Recht auf Religionsfreiheit verletzt. Nach der Bibel müßten die Prediger des Wortes Gottes allein vom Predigen leben; sie dürften keine Einkommen oder Bezüge haben, und ihre Versorgung obliege allein der Kirchengemeinde. Durch diese Steuer werde er aber gezwungen, die staatliche Sozialhilfe i n Anspruch zu nehmen und damit daran gehindert, nach den göttlichen Regeln zu leben. Die Gemeindemitglieder trugen ihrerseits vor, es sei ein wesentlicher Bestandteil ihres Glaubens, frei, ungehindert und unabhängig für den Lebensunterhalt ihrer Pastoren zu sorgen. Auch ihr Recht auf freie Religionsausübung werde durch den Steuerbescheid beeinträchtigt, da nun die Sozialhilfe i m Alter für ihren Pastor sorgen würde. Das mit dem Fall befaßte Berufungsgericht Leeuwarden 3 5 bestätigte nach einer historischen Interpretation des Begriffs der Religionsfreiheit i n A r t . 9 die bereits von dem erstinstanzlichen Gericht vertretene A u f fassung, daß sich niemand unter Berufung auf seine religiösen Überzeugungen gesetzlichen Verpflichtungen entziehen könne, die für alle Bürger gelten und keinen Bezug zur Religionsausübung haben. Der Höge Raad 3 6 untersuchte seinerseits den Begriff der Freiheit der Religionsausübung: der englische Begriff „practice" meine nicht die A n wendung religiöser Regeln i m Alltagsleben , sondern, wie auch der französische Plural „les practiques" und der Textzusammenhang zeigen w ü r den, nur Handlungen, die i n jeder Form Ausdruck eines Glaubens oder einer Weltanschauung sind. A r t . 9 gebe deshalb nicht das Recht, allgemeinen gesetzlichen Verpflichtungen, die nichts mit der Glaubensausübung zu t u n haben, seine religiösen Überzeugungen entgegenzustellen, nur weil sie angeblich nicht damit übereinstimmen. Auch die Ausnahmeregelung des Art. 36 des Altersversicherungsgesetzes sei nur ein Zugeständnis i. S. d. A r t . 60. Nach dieser Rechtsprechung fällt nur die Ausübung der Religionsfreiheit i. e. S., also nur die eigentlichen religiösen Kulthandlungen, unter den Schutz des A r t . 9, während das Recht, seine religiösen Überzeugungen auch i n der Praxis des täglichen Lebens zu befolgen, schlichtweg außerhalb des Rahmens des Art. 9 gestellt w i r d 3 7 . Diese Grenzziehung w i r d allgemein als zu eng empfunden 38 . Die meisten Religionen und Weltanschauungen fordern auch und gerade i m A l l 35

I m gleichen Sinn w i e später i n N J 1964 Nr. 401 u n d Nr. 402. N J 1960 Nr. 436 S. 993 (vgl. auch Y B V, 191 u n d 648 ff.). 37 Vgl. Scheuner S. 229; Röling N J 1960 Nr. 436. 38 Vgl. Scheuner S. 229; Boas S. 239; Röling N J 1960 Nr. 436; Prins , Ars Aequi Bd. 10 1960/61 S. 72; Partsch S. 428/429. 36

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tagsleben von ihren Anhängern die Befolgung und Beachtung gewisser Regeln. Würde man diesen Bereich des Alltagslebens ausklammern und nur noch solche Verhaltensweisen unter den Schutz des A r t . 9 fallen lassen, die von Natur aus und i n jeder Form als Ausübung einer Religion oder Weltanschauung anzusehen sind, dann hätte A r t . 9 einen ganz wesentlichen Teil seines Gehalts eingebüßt. Gerade der Textzusammenhang, auf den sich auch der Höge Raad berief, zeigt aber, daß diese A u f fassung falsch ist. Einmal ist die Religionsfreiheit i n engem Zusammenhang mit der Gewissensfreiheit zu sehen 39 : demnach muß sich auch derjenige auf A r t . 9 Abs. 1 berufen können, dem die religiöse (Gewissens-) Überzeugung die Erfüllung bestimmter gesetzlicher Verpflichtungen verbietet, gleich ob sie „allgemeiner" Natur sind oder direkten Bezug zur Ausübung der Religionsfreiheit i. e. S. haben. Zum anderen geht aus der Formulierung des A r t . 9 Abs. 1 S. 2 „ce droit implique / this right includes" eindeutig hervor, daß die Religionsausübung i. e. S. durch Gottesdienst, Unterricht und die Ausübung und Beachtung religiöser Bräuche zwar ein besonders hervorgehobener Teil des Rechts aus A r t . 9 Abs. 1 S. 1 ist, aber nicht mit der Religionsfreiheit gleichgesetzt werden kann. Die Religionsfreiheit umfaßt vielmehr auch das Recht, sein gesamtes Leben nach seinen religiösen oder weltanschaulichen Uberzeugungen frei gestalten zu können. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß der Bürger sich auch gegenüber den allgemeinen Rechtsgeboten des Staates immer m i t Erfolg auf A r t . 9 berufen kann: die Beantwortung dieser Frage entscheidet sich nach A r t . 9 Abs. 2. I m „Altersversicherungsfall" wäre demnach abzuwägen gewesen zwischen der Sphäre der kirchlichen Autonomie, zu der sicher auch die Sorge für die Geistlichen gehört, und dem Bereich der allgemeinen Rechtsordnung des Staates 40 . Die K o m m . 4 1 hat sich zumindest i m Ergebnis dem HR angeschlossen und die Abweisung der Beschwerde Nr. 1497/62 nur sehr knapp damit begründet, daß der Gesetzgeber i n A r t . 36 des Altersversicherungsgesetzes ausdrücklich darauf Rücksicht genommen habe, daß manche B ü r ger es nicht m i t ihrem Glauben und ihrer moralischen Verpflichtung, das Wort Gottes zu achten, vereinbaren können, Beitragszahlungen zur Altersversicherung zu leisten. Diese Personen hätten die Möglichkeit, die Beiträge i n Form einer allgemeinen Steuer zu zahlen. Nur m i t Bezug auf A r t . 1 ZP fügte die Komm, noch hinzu, daß auch diese Steuer i m öffentlichen Interesse zur Wahrung der Gleichheit und der Verhinderung von Gesetzesumgehungen gerechtfertigt sei. 89

40 41

Vgl. oben A n m . 2 u n d A n m . 18.

Vgl. Röling NJ 1960 Nr. 436 S. 999 ff. Y B V, 286 ff., 298.

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Diese Beurteilung w i r d der Situation der Betroffenen aber nicht ganz gerecht: Zwar gibt diese Regelung jedem die Möglichkeit, sich so zu verhalten, daß er weder m i t dem Gesetz noch m i t seinem religiösen Gewissen i n Konflikt kommt, doch muß er dann finanzielle Nachteile i n Kauf nehmen: er kann entweder Beiträge entrichten, dann aber die Versicherungsleistungen nicht i n Anspruch nehmen, oder aber eine allgemeine Steuer entrichten, die für ihn verloren ist. Damit w i r d zwar nicht die Ausübung der Religionsfreiheit (Betätigungsfreiheit), w o h l aber die Motivationsfreiheit 4 2 eingeschränkt und damit auch i n den Schutzbereich des A r t . 9 eingegriffen. Die Komm, trennte hier aber diese die freie Motivation für die Grundrechtsausübung beeinflussenden finanziellen Nachteile von der Frage der freien Religionsausübung und beurteilte sie nur unter dem Gesichtspunkt des Eigentumsschutzes nach A r t . 1 ZP. Dennoch w i r d man ihr i m Ergebnis zustimmen können. Es gehört sicherlich zu den legitimen Interessen der öffentlichen Ordnung, daß die Versorgung der Bevölkerung i m Alter sichergestellt wird, sei es auch m i t Hilfe einer Zwangsversicherung, damit vermieden wird, daß alte Menschen der Sozialfürsorge zur Last fallen. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß das Pflichtversicherungsgesetz, das i n erster Linie diese legitimen Interessen der Allgemeinheit verfolgt, die Religionsfreiheit hier nur i n einer Randzone, nicht aber i n ihrem Kern betrifft. Es handelt sich deshalb u m eine i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Ordnung notwendige Maßnahme 43 . Eine vergleichbare Problematik findet sich i n der Beschwerde eines niederländischen Rinderzüchters, der ebenfalls Mitglied der Reformierten Kirche war 4 4 . Unter Berufung auf sein religiöses Gewissen 45 verweigerte er den Beitritt zum nationalen Gesundheitsdienst, zu dem nach dem Gesetz zur Verhütung der Rindertuberkulose alle milcherzeugenden Bauern verpflichtet waren. Ein holländisches Gericht verurteilte i h n daraufhin zu einer Geldstrafe und ordnete die Beschlagnahme seines Viehs an. Die Komm, hielt die Beschwerde für offensichtlich unbegründet, w e i l das Gesetz von A r t . 9 Abs. 2 gedeckt sei. Die Begriffe „health or morals" seien vernünftigerweise auch auf Rinderkrankheiten auszudehnen. Es liege i m Interesse der Gemeinschaft und sei deshalb auch notwendig i n 42

Vgl. auch oben B T Kap. I § 2 (Anm. 107/108). Boas S. 239 A n m . 5 hält i m Anschluß an Hazewinkel-Suringa, Ars Aequi Bd. 11 1961/62 S. 85 diese gesetzliche Maßnahme der Sozial Vorsorge für gerechtfertigt aus dem Gesichtspunkt des Schutzes der öffentlichen Ordnung u n d der Gesundheit u n d Moral. 44 Y B V, 278 ff. 45 Dieses Gewissen verbietet i h m offenbar, i n die göttliche Vorsehung einzugreifen. 48

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einer modernen 46 Gesellschaft, daß für diese Zwecke angemessene Maßnahmen einschließlich der Zwangsmitgliedschaft i n einer Gesundheitsorganisation getroffen werden. Es erscheint zwar mehr als zweifelhaft, ob Art. 9 Abs. 2 auch Grundrechtseinschränkungen zum Schutz der Gesundheit von Tieren zuläßt, doch soll hier die Produktion einwandfreier Milch gesichert und damit mittelbar auch die Gesundheit der Verbraucher geschützt werden, was sicherlich ein nach Art. 9 Abs. 2 zulässiges Motiv ist. I m übrigen gilt auch hier der Grundsatz, daß legitime Interessen der Allgemeinheit der Freiheitsausübung des einzelnen dann Grenzen setzen können, wenn diese Freiheit nicht i n ihrem Kern, sondern nur i n einer Randzone betroffen ist 4 7 . Dies gilt auch für die Beschwerde Nr. 298Ö/6648, i n der sich der Beschwerdeführer unter Berufung auf seine Religionsfreiheit gegen die Beitragspflicht zur Haftpflichtversicherung für Autofahrer bzw. -halter wandte. Nach seiner Uberzeugung sorge allein Gott für Wohl und Wehe der Menschen, deshalb dürften diese nicht versuchen, durch Vorsorgemaßnahmen wie z. B. Versicherungen ihrem vorbestimmten Schicksal zu entgehen. Die Komm, sah richtigerweise i n der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung die zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendige Maßnahme, da sie dazu dient, die Ersatzansprüche potentieller Unfallopfer zu sichern. Nach einer Entscheidung des H R 4 9 verstößt das Gebot der Ziviltrauung vor dem Standesamt als Voraussetzung für die kirchliche Eheschließung nicht gegen Art. 9. Diese Verpflichtung stellt zwar sicherlich einen Eingriff i n den Bereich der kirchlichen Autonomie dar, doch ist diese Regelung notwendig zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, da Klarheit bestehen muß, ob eine rechtsgültige Ehe besteht oder nicht 5 0 . Ein Beispiel dafür, daß sich die Religonsfreiheit auch i m Bereich des Alltagslebens durchzusetzen vermag, bietet der von belgischen Gerichten entschiedene Fall eines praktizierenden Juden, der sich geweigert hatte, am Sabbath auf dem Arbeitsamt zu erscheinen, u m seine Arbeitslosigkeit feststellen zu lassen. Arbeitslosenunterstützung wurde aber nur dem gewährt, der nachweislich an mindestens 6 aufeinanderfolgenden Werktagen arbeitslos 46 Die K o m m , spricht hier interessanterweise von „modern" statt von „democratic society". 47 Dies entspricht dem i n der deutschen Rspr. (BVGE 7, 207; 12, 124) anerkannten Grundsatz, daß auch bei der Beurteilung von Grundrechtseinschränkungen i m m e r der fundamentale Sinn des Grundrechts m i t berücksichtigt werden muß. 48 Y B X , 472 ff. 49 N J 1970 Nr. 422. 50 Vgl. auch oben B T Kap. I I (Anm. 93).

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war. Da sich der Jude wegen der Sabbathruhe aber nur an 5 Wochentagen meldete, erhielt er keine Unterstützung. Er führte an, das Arbeitsamt übe einen unzulässigen moralischen Druck auf sein Gewissen aus, weil es i h n zwingt, zwischen den kategorischen Verpflichtungen seiner Religion und dem Verlust der Arbeitslosenunterstützung zu wählen. Für einen orthodoxen Juden sei am Sabbath selbst die Meldung auf dem Arbeitsamt verboten. M i t seiner Weigerung mache er nur von seinem Recht Gebrauch, ohne jede direkte oder indirekte Behinderung seinen Glauben auszuüben. Die belgischen Gerichte 51 halfen i h m mit einer grundrechtsbzw. konventionskonformen Auslegung der gesetzlichen Bestimmung, die gesetzliche Feiertage und Sonntage von der vorgeschriebenen 6-TagePeriode ausnahm. Da bei orthodoxen Juden der Sabbath den Platz des Sonntags einnimmt, müsse i n diesem Fall der Sonntag als Arbeitstag i. S. dieser Bestimmung betrachtet werden, so daß die 6 Tage von Sonntag bis Freitag als Werktage anzuerkennen seien: bei dieser Auslegung mußte der Jude die Befolgung seiner religiösen Uberzeugung nicht m i t dem Verlust der Arbeitslosenunterstützung bezahlen, so daß ein Konflikt mit A r t . 9 vermieden wurde 5 2 . Ebenfalls i n den Bereich der Religionsausübung fällt das rituelle Ziegenopfer. Der H R 5 3 hat aber die gesetzliche Verpflichtung, dies der Verwaltungsbehörde vorher anzuzeigen, nicht als Verstoß gegen A r t . 9 bewertet, weil die Pflicht zur Beachtung dieser Formalität keine Einschränkung der freien Religionsausübung darstelle. Wie der Vergleich mit A r t . 10 Abs. 2 S. 1 zeigt, sind aber auch derartige Formvorschriften und Bedingungen Einschränkungen der garantierten Grundrechte. Da diese Einschränkung hier aber nur geringfügig ist, w i r d man sie für zulässig halten können i m Hinblick auf den Schutz der öffentlichen Ordnung und Gesundheit. Eine gegenüber dieser nur formalen Anzeigepflicht weitergehende Einschränkung bedeutet aber ein Verbot mit Genehmigungsvorbehalt: so war i n Griechenland eine vorherige behördliche Erlaubnis notwendig für den Bau von kirchlichen Gebäuden oder für die Verwendung von Gebäuden für Gottesdienste jeder Art. Bei Zuwiderhandlungen wurden die Gebäude verschlossen und versiegelt und die Verantwortlichen bestraft. Der Areos Pagos 54 hat sich aber offenbar darauf beschränkt, A r t . 9 Abs. 2 zu zitieren, um damit die Vereinbarkeit dieser Regelung mit A r t . 9 festzustellen 55 . 51

Vgl. J. d. Trib. 1963 S. 285 u n d Y B V, 365 (Commission — d'Appel — de réclamation de l'Office National de l'Emploi de Bruxelles). 52 Scheuner S. 227 weist dagegen darauf hin, daß nach amerikanischer Rechtsprechung auch jüdische Geschäftsleute zur Einhaltung der Sonntagsruhe v e r pflichtet sind u n d dann, bei Einhaltung der Sabbathruhe, Einkommensminderungen gegenüber nichtjüdischen Geschäftsleuten hinnehmen müssen. 53 N J 1970 Nr. 127. 54 Revue Hellénique de D r o i t International 1956, 206,207.

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M i t Inhalt und Grenzen der Religonsfreiheit hatten sich niederländische Gerichte i m sog. Prozessionsverbotsfall zu befassen. Ein niederländisches Gesetz aus dem Jahre 1853 verbietet unter Strafe, gottesdienstliche Handlungen i n der Öffentlichkeit an anderen als den nach A r t . 184 Abs. 2 der Verfassung zugelassenen Stellen vorzunehmen. Diese Verfassungsbestimmung verweist ihrerseits wieder auf die zur Zeit der Verfassungsgebung (1848) i n K r a f t befindlichen Gesetze und Vorschriften, die regeln, auf welchen öffentlichen Straßen und Plätzen Gottesdienste abgehalten werden dürfen. I n Geertruidenberg (Brabant) war ein katholischer Priester bestraft worden, weil er eine Prozession unter freiem Himmel an einer Stelle organisiert hatte, an der dies nach der geltenden Regelung nicht gestattet war. Die Verurteilung war vom Berufungsgericht 56 zunächst wieder aufgehoben, dann aber vom H R 5 7 bestätigt worden. Strittig war dabei zunächst der Begriff der öffentlichen Religonsausübung („to manifest i n public"). Während das Berufungsgericht damit auch die Religionsausübung i n der Öffentlichkeit, d. h. auch außerhalb von Gebäuden und umschlossenen Räumen garantiert sah, wollte der Vertreter der Staatsanwaltschaft das „ i n public" als Synonym zu „not secretly" verstehen. Damit sei gemeint, daß z. B. Kirchen nicht vor der Öffentlichkeit verborgen werden müssen, nach der Auslegung des Berufungsgerichts könne aber auch eine öffentliche Straße i n eine „Freiluftkirche" verwandelt werden, was die Religionsfreiheit Andersgläubiger ernsthaft tangieren würde. Weder aus den Vorarbeiten noch aus dem Text selbst ist aber ersichtlich, daß eine derartige Einschränkung des Schutzbereichs des Art. 9 beabsichtigt war. Richtigerweise muß das Gegensatzpaar lauten „ i n public — private" 5 8 und nicht „ i n public — secretly". Gottesdienste dürfen demnach gem. A r t . 9 Abs. 1 S. 2 sowohl privat, d. h. i m „stillen Kämmerlein", als auch i n der Öffentlichkeit, also i n jederman zugänglichen Gebäuden oder auch unter freiem Himmel auf öffentlichen Straßen und Plätzen abgehalten werden. Der HR ging deshalb zutreffenderweise von einem Eingriff in A r t . 9 aus und prüfte, ebenso wie das Berufungsgericht, ob die Beschränkung der Religionsausübung i n der Öffentlichkeit auf bestimmte Straßen und Plätze mit A r t . 9 Abs. 2 zu vereinbaren ist. 55 Der i n der Veröffentlichung mitgeteilte Sachverhalt ist nicht ausreichend für eine abschließende Stellungnahme, doch scheint schon zweifelhaft, ob die Regelung überhaupt einem legitimen öffentlichen Interesse auch n u r dient, geschweige denn, ob sie dafür notwendig ist (vgl. Morvay S. 346). 56 Gericht A r n h e m N J 1961 S. 923. 67 N J 1962 S. 417. 58 Daß demgegenüber das „private life" i n A r t . 8 nicht als Gegensatz zu „life i n public" zu verstehen ist (vgl. oben B T Kap. I § 1), ergibt sich aus dem Sinn dieser Vorschrift.

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Während das Berufungsgericht noch der Ansicht war, daß Prozessionen keine Einschränkungen der Rechte und Freiheiten anderer oder der Gesundheit und Moral m i t sich bringen, so daß Art. 184 Abs. 2 der Verfassung allenfalls zum Schutz der öffentlichen Ordnung notwendig sein könnte, sieht Boas59 auch die Rechte und Freiheiten anderer gefährdet: Die öffentliche Religionsausübung w i r k e tiefgreifend i n das Alltagsleben ein, weil die Monstranz an die Öffentlichkeit gebracht w i r d und somit der betreffende Platz als heiliger Ort gelte. Dies verletze die geistigen Rechte und Freiheiten anderer, nicht gegen ihren Willen i n die Religionsausübung anderer hineingezogen zu werden, die ihrer religiösen Überzeugung widerspricht 6 0 . Der HR kam dagegen unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des Art. 184 zu dem Ergebnis, daß diese Vorschrift hauptsächlich den Schutz der öffentlichen Ordnung i m Auge hat. Zur Zeit der Verfassungsgebung hätten gottesdienstliche Handlungen, die nicht i n Gebäuden oder abgeschlossenen Räumen, sondern i n der öfentlichkeit vorgenommen wurden, häufig Anlaß zu Unruhe und Spannungen gegeben, was durch diese Regelung verhindert werden sollte. Auch i m Hinblick auf A r t . 18 sei nicht anzunehmen, daß die Aufrechterhaltung dieser Regelung bis heute anderen als den vorgesehenen Zwecken dient 6 1 . Diese Einschränkung der öffentlichen Religionsausübung sei auch notwendig zum Schutz der öffentlichen Ordnung, wobei es den Gerichten aber verwehrt sei, die generelle Entscheidung des Gesetzgebers hinsichtlich der Frage der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft auch i m Einzelfall auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, sofern es nicht völlig unhaltbar sei, daß der Gesetzgeber eine solche Bestimmung zum Schutz der öffentlichen Ordnung erläßt. Das Berufungsgericht hatte diese Frage noch i m entgegengesetzten Sinn entschieden 62 . Ob eine Maßnahme i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist oder nicht, müsse nach den heutigen Verhältnissen beurteilt werden. I n den über 100 Jahren seit der Entstehung des A r t . 184 habe sich die Auffassung darüber, was notwendig ist für die öffentliche Ordnung, tiefgreifend gewandelt. Da A r t . 184 Abs. 2 der Verfassung keine Möglichkeit gab, diesen gewandelten Auffassungen Rechnung zu tragen, hielt das Gericht diese Maßnahme nicht mehr für notwendig zum Schutz der öffentlichen Ordnung und sprach den Priester frei. 59

Boas S. 241 A n m . 2. Vgl. aber Ermacora S. 366: w e r sich f r e i w i l l i g an einen Ort religiöser Feierlichkeiten begibt, muß sich so verhalten, w i e es bei den Anhängern der betr. Religion üblich ist. Dieser Grundsatz k a n n entsprechend auch für den Bereich der inneren Religionsfreiheit der Außenstehenden gelten. 61 Der H R mißversteht hier den Begriff der „Einschränkung" i n A r t . 18 als die konkrete einschränkende Maßnahme (vgl. Partsch S. 304 A n m . 234; vgl. auch oben A T Kap. I X A n m . 62). 62 Dem schloß sich auch der Generalstaatsanwalt beim H R an (vgl. dazu Boas S. 244). 60

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BT — Kap. I I : Artikel

Rein inhaltlich gesehen 63 ist diese Beurteilung zutreffend. Gerade i n religiösen Dingen kann man heute von der Bevölkerung weit mehr Toleranz erwarten als noch vor 100 Jahren. Die öffentliche Ordnung ist deshalb durch die öffentliche Religionsausübung heute, wenn überhaupt noch, i n weit geringerem Maß gefährdet als damals, so daß diese einschneidende Beschränkung der Religionsfreiheit nicht mehr notwendig ist i. S. d. A r t . 9 Abs. 2. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt: Die Begründung des HR läuft darauf hinaus, das Prozessionsverbot m i t der Rücksicht auf Andersgläubige zu rechtfertigen. Die Religionsfreiheit w i r d aber i n ihrem Wesenskern berührt, wenn die Ausübung der Religion m i t Rücksicht auf die religiösen Gefühle anderer eingeschränkt w i r d 6 4 , da m i t dieser Begründung jede öffentliche Religionsausübung unterbunden werden könnte; von dem Grundrecht bliebe dann „nichts mehr übrig". Die Freiheit der Religionsausübung kann nur da an den Rechten und Freiheiten Dritter oder an der öffentlichen Ordnung ihre Grenze finden, wo sie die Ausübung dieses oder eines anderen Rechts durch andere beeinträchtigt 65 , nicht aber schon i m Hinblick auf bloße innere Gefühle, Überzeugungen und Anschauungen Dritter. Die Teilnahme an einer Demonstration von Gegnern des Vietnamkrieges sah der H R 6 6 nicht als Ausübung der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit i. S. d. A r t . 9 an. Die Verfolgung solcher tagespolitischer Ziele w i r d man i n der Tat nicht als Manifestation einer Weltanschauung bezeichnen können 6 7 ; die hier demnach allein einschlägigen Einschränkungsmöglichkeiten der A r t . 10 und 11 Abs. 2 prüfte der HR aber offenbar nicht. Der belgische Staatsgerichtshof hatte zu entscheiden, nach welchen Grundsätzen bei der Zuteilung von Sendezeit i n Funk und Fernsehen an religiöse Gruppen verfahren werden muß, wenn an diesen Medien ein öffentlich-rechtliches Monopol besteht 68 . Die Klägerin, eine protestantische Vereinigung, rügte einen Verstoß gegen die A r t . 14 der Verfassung und 9 i. V. m. 14 der MRK, weil die beklagte Radio- und Fernsehgesellschaft der Klägerin weniger und zeitlich ungünstiger liegende Sendezeiten zur Ausstrahlung religiöser Sendungen zur Verfügung gestellt hatte als der entsprechenden katholischen Vereinigung. Die Beklagte begründete dieses Verfahren m i t der größeren Zahl von Anhän63

Unter Außerachtlassung der Frage der richterlichen Prüfungskompetenz. Vgl. Scheuner S. 230. 65 Z . B . aus verkehrspolizeilichen Gesichtspunkten (vgl. Guradze, Stand S. 207: Gebetsteppich auf dem Stacchus). 66 N J 1968 S. 266 Nr. 75. 67 Vgl. B V G E 12,1, 4. 68 J. d. Trib. 1966 S. 399 ff.; die Verteilung der Sendezeit regelte ein Gesetz v o m 18. 5.1960. 64

§ 4 Einheitliches Recht aus Art. 9

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gern und Mitgliedern der katholischen Kirche i n Belgien. Nach Ansicht der Klägerin beschneidet die Beklagte auf diese Weise m i t Hilfe ihres Sendemonopols das Recht der protestantischen Zuhörer und Zuschauer, von denen manche wegen Alter oder Gebrechlichkeit nicht i n der Lage seien, am Gottesdienst teilzunehmen, auf freie und gleiche Religionsausübung, indem sie Unterscheidungen insbesondere nach der Religion und der Zugehörigkeit zu Minderheiten träfe. Das Gericht war aber der Auffassung, daß weder A r t . 9 i. V. m. A r t . 14 M R K noch Art. 14 der Verfassung den Inhalt haben, daß i n dieser H i n sicht für alle Religionen die gleiche Regelung getroffen werden muß. Auch der religiöse Inhalt der Sendungen mache aus ihnen keine „actes de culte", vielmehr müßten die Verantwortlichen genau wie i m allgemeinen Programm die Bedeutung, das Bedürfnis und die Verbreitung dieser Sendungen zur Grundlage ihrer Überlegungen machen. Die unterschiedliche Verteilung der Sendezeit rechtfertige sich insbesondere angesichts der verschiedenen Mitgliedsstärke der Religionen. I m Ergebnis ist der Entscheidung zuzustimmen. Zwar sind auch religiöse Sendungen Formen der Religionsausübung, wie sie i n A r t . 9 Abs. 1 S. 2 näher beschrieben sind, doch gibt auch Art. 9 als negatives Abwehrrecht keinen positiven Leistungsanspruch gegen den Staat. Es kann also niemand verlangen, daß i h m der Staat die technischen M i t t e l zur Religionsausübung zur Verfügung stellt oder i n diesem Sinn z. B. auf die staatlich lizenzierten (Monopol-)Rundfunk- und Fernsehunternehmen einwirkt. Wenn der Staat aber freiwillig dafür sorgt, daß Sendezeiten für religiöse Sendungen zur Verfügung gestellt werden, dann ist er bei dieser Regelung der Religionsausübung an A r t . 14 gebunden. Die hier getroffene Unterscheidung nach Mitgliedsstärke und Bedeutung der einzelnen Religonen ist aber sachgerecht und keine gegen die A r t . 9 i. V. m. 14 verstoßende Diskriminierung. Wie bei jedem Grundrecht, so fragt sich auch bei A r t . 9, insbesondere i m Hinblick auf die Freiheit der Religionsausübung, inwieweit die besondere Situation Strafgefangener und Anstaltsinternierter Einschränkungen rechtfertigt. Während die Beschwerde eines Lichtanbeters 69 gegen die angebliche Weigerung der Gefängnisbehörde, i h m die Ausübung seiner Religion zu gestatten, wegen des unsubstantiierten Sachvortrags abgewiesen wurde, bot die Beschwerde Nr. 1753/63 der Komm, bessere Gelegenheit, sich mit diesen Fragen sachlich auseinanderzusetzen 70 . Der Beschwerdeführer, ein zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilter und zum Buddhismus konvertierter Jude rügte zunächst, er dürfe sich i m Gefängnis keinen 69

CoD 37,119 ff. Y B V I I I , 174 ff.; die K o m m , verzichtete hier auf eine Begründung der Entsch. m i t dem Wesensmerkmal rechtmäßiger Freiheitsentziehung u n d prüfte expressis verbis die Voraussetzungen des A r t . 9 Abs. 2. 70

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BT —Kap. I I : Artikel

Bart wachsen lassen, wie es i h m seine Religion vorschreibt. Die Komm, sah darin aber eine zum Schutz der öffentlichen Ordnung gem. A r t . 9 Abs. 2 zulässige Einschränkung der Religionsausübung, weil der Bartwuchs die Identifizierung des Gefangenen erschweren würde. Zwar beschränkte die Komm, hier richtigerweise den Bereich der von A r t . 9 geschützten Religionsausübung nicht auf solche Handlungen, die schon ihrer Natur nach Kulthandlungen sind 7 1 , doch ist nicht ganz einzusehen, warum der Bart eines rechtskräftig verurteilten und inhaftierten Strafgefangenen seine Identifizierung erschweren und eine Gefahr für die allgemeine öffentliche Ordnung oder auch nur die Anstaltsordnung darstellen soll. Dagegen nannte die Komm, zu Recht den Vorbehalt zugunsten der öffentlichen Ordnung hinsichtlich der weiteren Rüge des Gefangenen, die Gefängnisbehörde habe i h m zu unrecht seine Gebetskette abgenommen: auch wenn diese Gebetskette zur Religionsausübung notwendig ist, kann ihre Beschlagnahme nach Ansicht der Komm, i m vorrangigen Interesse der Sicherheit der Mitgefangenen und damit auch der öffentlichen Ordnung erforderlich sein. Sogar die Verhinderung eines möglichen Selbstmords eines Gefangenen durch derartige Maßnahmen wäre zulässig, da das höchste Rechtsgut Leben i n einer demokratischen Gesellschaft notfalls auch gegen den Willen des Betroffenen und auf Kosten seiner Grundrechtsausübung zu schützen ist. Hinsichtlich des angeblichen Verbots, i m Gefängnis Yogaübungen abzuhalten, bezog sich die Komm, lediglich auf das Vorbringen der Gefängnisverwaltung: er habe derartige Übungen machen dürfen, sofern dadurch die Anstaltsordnung nicht gestört würde 7 2 . Schließlich rügte der Beschwerdeführer noch, er dürfe die Zeitschrift „Weltmission" nicht abonnieren, obwohl er sich moralisch dazu verpflichtet fühle, und außerdem auch keine Bücher entleihen, u m seine Weltanschauung zu fördern. Die Komm, meinte hierzu, die „Weltmission" werde von einer römisch-katholischen Organisation herausgegeben, der Gefangene werde somit nicht i n der Ausübung seines 73 buddhistischen Glaubens behindert. I m übrigen gebe A r t . 9 keinen Anspruch darauf, daß dem Gefangenen Bücher zur Verfügung gestellt werden, die er für seine Religion für notwendig hält 7 4 . Ebenfalls m i t Grundrechtseinschränkungen i m sog. besonderen, hier allerdings freiwillig eingegangenen Gewaltverhältnis hatte sich der 71

So aber der H R i m „Altersversicherungsfall" (oben A n m . 36). Eine Maßnahme zum Schutz der Anstaltsordnung dient n u r dann auch der allg. öffentlichen Ordnung, w e n n sie notwendig ist, u m das Funktionieren des Strafvollzugs zu gewährleisten. 73 Die K o m m , faßt den T e x t des A r t . 9 Abs. 2 S. 1 („manifester sa religion") also wörtlich auf. 74 Gleiches g i l t für den von der K o m m , nicht geprüften A r t . 10 („freedom to receive information"). 72

BT — Kap. I I I : Artikel 10

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bayerische V G H zu befassen 75 . Eine an einer bayerischen Bekenntnisschule tätige Lehrerin war gegen ihren Willen an eine Gemeinschaftsschule versetzt worden, weil sie einen zivilrechtlich geschiedenen, nach katholischem Kirchenrecht aber noch als verheiratet geltenden Mann geheiratet hatte. M i t Bezug auf das GG führte das Gericht zunächst aus, eine Beamtin müsse alle diejenigen Einschränkungen ihrer Grundrechte hinnehmen, die sich aus Natur und Zweck des Beamtenverhältnisses i n Verbindung m i t der Freiwilligkeit seines Eingangs ergeben. Eine Versetzung ohne ihr Einverständnis sei zwar ein Eingriff i n Grundrechte, der jedoch von allen Beamten und ihren Ehegatten hingenommen werden müsse. Die dienstlichen, d. h. sachlichen Bedürfnisse hätten Vorrang vor den persönlichen Interessen, die allerdings wiederum i m Rahmen der Fürsorgepflicht vom Dienstherrn berücksichtigt werden müßten. Die Konfessionsschule entspreche der verfassungsmäßigen Ordnung und stelle außerdem die Rechte der Eltern aus A r t . 2 ZP sicher. Eine Berufung auf Grund- oder Menschenrechte sei somit nicht möglich, da sie ihre Grenzen i n den Rechten anderer und der verfassungsmäßigen Ordnung fänden. Das Gericht verneinte hier pauschal einen Verstoß gegen die MRK, ohne die i n Frage kommenden A r t . 8, 9 und 12 näher zu prüfen oder auch nur zu erwähnen 76 . Die Berufung auf diese Grundrechte ist weder wegen eines i n Beamtenverhältnis ipso iure eingeschränkten Grundrechtsschutzes 77 noch wegen eines i m konkreten Fall i n der Freiwilligkeit des Eintritts liegenden Verzichts auf diese Rechte ausgeschlossen; die Rechtmäßigkeit der Versetzung wäre demnach anhand der A r t . 8 und 9 Abs. 2 zu prüfen gewesen. Ob die Lehrerin durch ihre i m kirchenrechtlichen Sinn „bigamische" Ehe für den Unterricht i n der Konfessionsschule so ungeeignet war, daß ihre Versetzung zum Schutz des religiösen Erziehungsrechts der Eltern notwendig war, muß aber bezweifelt werden 7 8 .

Kapitel I I I

Artikel 10 A r t . 10 lautet i n den authentischen Fassungen: 1. Toute personne a droit à la liberté dexpression. Ce droit comprend la liberté d'opinion et la liberté de recevoir ou de communiquer des i n f o r 75

Bay V B L 1958, 58 ff. Vgl. Morvay S. 343: das G G sagt nichts über Umfang u n d Grenzen der Rechte der M R K . 77 Vgl. oben A T Kap. X V I (Anm. 41). 78 Das B V e r w G (BverwGE 17, 267) hat die Frage verneint (vgl. dazu auch 78

Guradze, Konv. S. 183). 11 Hoffmann-Remy

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B T — K a p . I I I : A r t i k e l 10

mations ou idées sans q u ' i l puisse y avoir ingérence d'autorités publiques et sans considération de frontière. Le présent article n'empêche pas les Etats de soumettre les entreprises de radiodiffusion, de cinéma ou de télévision à u n régime d'autorisations. 2. L'exercice de ces libertés comportant des devoirs et des responsabilités peut être soumis à certains formalités, conditions, restrictions ou sanctions, prévues par la loi, q u i constituent des mesures nécessaires, dans une société démocratique, à la sécurité nationale, à l'intégrité territoriale ou à la sûreté publique, à la défense de l'ordre et à la prévention d u crime, à la protection de la santé ou de la morale, à la protection de la réputation ou des droits dautrui, pour empêcher la divulgation d'informations confidentielles ou pour garantir l'autorité et l'impartialité d u pouvoir judiciaire. 1. Everyone has the r i g h t to freedom of expression. This right shall include freedom to hold opinions and to receive and impart information and ideas w i t h o u t interference by a public authority and regardless to frontiers. This article shall not prevent States from requiring the licensing of broadcasting, television or cinema enterprises. 2. The exercise of these freedoms, since i t carries w i t h i t duties and responsabilities, may be subject to such formalities, conditions, restrictions or penalties as are prescribed by l a w and are necessary i n a democratic society, i n the interests of national security, t e r r i t o r i a l integrity or public safety, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, for the protection of the reputation or rights of others, for preventing the disclosure of information received i n confidence, or for maintaining the authority and i m p a r t i a l i t y of the judiciary. S i c h e r l i c h eines der f ü r d e n B e s t a n d der f r e i h e i t l i c h e n D e m o k r a t i e b e d e u t s a m s t e n G r u n d r e c h t e ist die F r e i h e i t der M e i n u n g , b i l d e t sie doch d i e u n a b d i n g b a r e V o r a u s s e t z u n g f ü r die K o n t r o l l e der p o l i t i s c h e n M a c h t h a b e r d u r c h das V o l k u n d d a m i t f ü r d e n d e m o k r a t i s c h e n Rechtsstaat überhaupt1. N u r ein V o l k v o n m ü n d i g e n Bürgern, die i n Freiheit ihre M e i n u n g b i l d e n u n d sie auch u n g e h i n d e r t ä u ß e r n k ö n n e n , v e r m a g d e r S t a a t s g e w a l t das z u r S i c h e r u n g dieses Rechtsstaats n o t w e n d i g e G e g e n g e w i c h t e n t gegenzusetzen. D i e H a u p t b e d e u t u n g dieser „ p o l i t i s c h e n " M e i n u n g s f r e i h e i t l i e g t aber w e n i g e r i n d e r i n d i v i d u e l l e n F r e i h e i t z u r M e i n u n g s ä u ß e r u n g als i n der „ ö f f e n t l i c h e n " M e i n u n g s ä u ß e r u n g d u r c h d i e M a s senmedien. G e r a d e f ü r diese ö f f e n t l i c h e M e i n u n g s ä u ß e r u n g d u r c h R u n d f u n k , F e r n s e h e n u n d Presse g i l t , w i e es i n A r t . 10 A b s . 2 S. 1 heißt, daß die A u s ü b u n g dieses Rechts P f l i c h t e n u n d V e r a n t w o r t u n g m i t sich bringt2. D i e V i e l z a h l d e r E i n g r i f f s z i e l e , die b e i A r t . 10 A b s . 2 f ü r e r f o r d e r l i c h g e h a l t e n w u r d e n u n d z u d e r e n R e c h t f e r t i g u n g dieser e i n l e i t e n d e Satz 1 Vgl. B V G E 7, 208: die Meinungsfreiheit ist schlechthin konstituierend für die freiheitlich demokratische Grundordnung (vgl. Partsch S. 433/434). 2 F ü r die individuelle Ausübung der Meinungsfreiheit gilt dies dagegen nicht i n stärkerem Maß als f ü r die A r t . 8,9,11.

§ 1 Meinungsfreiheit — Informationsfreiheit

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des Abs. 2 offenbar dienen soll, macht aber auch eine besonders sorgfältige Güterabwägung zwischen den beteiligten Rechten und Interessen notwendig, u m diesem Art. 10 die Funktion zu erhalten, die er für die Festlegung des Mindeststandards der freiheitlich demokratischen Grundordnung haben muß 3 . § 1 Innere und äußere Meinungsfreiheit, aktive und passive Informationsfreiheit

Nach dem Wortlaut des A r t . 10 Abs. 1 scheint die Freiheit der Meinungsäußerung der Oberbegriff zu sein, dem auch die Freiheit, eine Meinung zu haben und die Informationsfreiheit zuzuordnen wäre 4 . I n Wahrheit ist das Verhältnis jedoch gerade umgekehrt. Die Freiheit, eine Meinung zu äußern, setzt zwar die Freiheit, sich eine Meinung ungehindert bilden und auch daran festhalten zu können, voraus, beinhaltet sie aber nicht. Die Erwähnung der Freiheit der Meinung soll deshalb wohl nur deutlich machen, daß sie die Grundlage für die Freiheit der Meinungsäußerung ist. Besonders die französische Fassung „liberté d'opinion" läßt keinen Unterschied zur „liberté de pensée" i n A r t . 9 erkennen 5 : beide Begriffe bezeichnen demnach den inneren Bereich der Meinungsfreiheit (i. e. S.), der zusammen m i t der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 ausmacht, den man mit Meinungsfreiheit i. w. S. bezeichnen kann. Der innere Bereich der Meinungsfreiheit beinhaltet i n erster Linie, wie es A r t . 19 der Menschenrechtsdeklaration ausdrückt, „le droit de ne pas être inquiété pour ses opinions". Neben dem Verbot von Gehirnwäsche, Zwangshypnose u. ä. Manipulationen bedeutet dies z. B. auch, daß niemand vor Gericht unter Strafandrohung gezwungen werden kann, seine innersten Gedanken und Meinungen offenzulegen 6 . Auch i n dem Sondervotum des Richters Maridakis i m Fall Lawless 7 kommt zum Ausdruck, daß ein sich als freiheitlich verstehender Staat niemals die innerste Gedankenwelt seiner Bürger für sich i n Anspruch nehmen darf: allenfalls ein äußeres Verhalten des Grundrechtsträgers kann i n einer demokratischen Gesellschaft Grundrechtseinschränkungen m i t Rücksicht auf höherwertige Interessen Dritter oder der Allgemeinheit rechtfertigen. Maridakis sah es zu Recht als einen Verstoß gegen 3

Vgl. Partsch S. 432. „This r i g h t includes / ce droit comprend" (vgl. dazu Guradze, Konv. S. 142). 5 Die „liberté de pensée" w a r i n der urspr. Fassung des A r t . 10 noch enthalten, wurde aber wegen der Uberschneidung m i t A r t . 9 gestrichen (vgl. Partsch S. 435 A n m . 670). 6 Vgl. Verdoodt S. 190 zu A r t . 19 der V N Deklaration. 7 Vgl. B G H E Bd. 1 S. 57. 4

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BT — Kap. I I I : Artikel 10

A r t . 10 an, wenn jemand gezwungen werde, seiner politischen Überzeugung abzuschwören. Möglich sei nur die Verpflichtung, sich bei der Betätigung dieser politischen Überzeugung an die Verfassung zu halten. A r t . 10 Abs. 1 garantiert außerdem noch die als „freedom to receive and impart information and ideas" definierte Informationsfreiheit, gibt also nicht nur die Möglichkeit, eine Meinung zu haben, sondern berechtigt auch zur Entgegennahme von Meinungen und Ideen, die eine Meinungsbildung erst ermöglichen. Dagegen kann die aktive Unterrichtungsfreiheit nicht unter Art. 10 subsumiert werden: die Freiheit, sich durch aktives Handeln Informationen und Meinungen zu verschaffen, ist zwar i n Art. 19 der Menschenrechtsdeklaration garantiert 8 , jedoch i n A r t . 10 bewußt nicht übernommen worden: andernfalls hätten sich die Autoren nicht darauf beschränken könen, i n Art. 10 Abs. 2 vertrauliche Nachrichten gegen Verbreitung zu schützen, sondern hätten die Staaten auch zur Verhinderung ihrer Ausforschung ermächtigen müssen 9 . Die Begriffe „to receive / recevoir" bedeuten demnach 10 eine Beschränkung der Informationsfreiheit auf die passive Entgegennahme von I n formationen, die folglich auch allgemein zugänglich sein müssen. M i t der Gewährleistung der Informationsfreiheit ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ist aber sichergestellt, daß auch der freie Empfang von Rundfunk- und Fernsehsendungen sowie der Bezug von Presse- und Druckerzeugnissen aus dem Ausland, soweit sie allgemein zugänglich sind, innerstaatlich nicht beeinträchtigt werden dürfen. Die i n A r t . 10 Abs. 1 gewährleistete Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten ist ebensowenig wie die Freiheit, eine .Meinung zu haben, ein Unterfall der „freedom of expression", sondern beinhaltet eine zusätzliche Rechtsgarantie: Unter Meinungsäußerung ist grundsätzlich nur eine wertende Stellungnahme zu verstehen 11 . Die M i t teilung von Nachrichten ohne wertenden Charakter fiele demnach ohne ausdrückliche Erwähnung nicht unter A r t . 10. Allerdings läßt sich diese strenge Unterscheidung zwischen Tatsachenmitteilung (Nachrichten) und wertender Äußerung (Meinung) ohnehin nicht immer aufrechterhalten: sogar i n der Auswahl der wiedergegebenen Tatsachen kann eine Wertung liegen 12 . Eigentlich überflüssig ist der i n A r t . 10 Abs. 1 enthaltene Zusatz „ohne Eingriffe öffentlicher Behörden", da die M R K ohnehin keine „ D r i t t w i r 8

"freedom to seek, receive and i m p a r t information . . . " Vgl. Partsch S. 436 A n m . 674. 10 Guradze, Konv. S. 143, v e r t r i t t zwar eine weitere Auslegung, verneint aber den hier allein möglichen Auskunftsanspruch gegen Behörden m i t der Begründung, sie seien keine allg. zugänglichen Informationsquellen. 11 Vgl. B V e r w G E 7,125. 12 Vgl. B G H N J W 1966, 245: stichwortartige Darstellung von Leben u n d Werk eines Schriftstellers. 9

§ 1 Meinungsfreiheit — Informationsfreiheit

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kung" entfaltet 1 3 . I r r i g ist deshalb auch die Ansicht des L G Mannheim 1 4 , das aus A r t . 10 einen Anspruch auf Gegendarstellung gegenüber einem privaten Presseunternehmen ableiten wollte. Die Pressefreiheit w i r d als solche i n A r t . 10 überraschenderweise nicht erwähnt. Während teilweise versucht wird, aus A r t . 10 Abs. 1 S. 3 nicht nur eine Garantie von Hundfunk, Fernsehen und Film, sondern auch des Instituts der Presse abzuleiten 15 , sehen andere die Pressefreiheit i n A r t . 10 Abs. 1 zumindest als Individualrecht impliziert 1 6 . Es dürfte aber sicherlich zu weitgehend sein, ungeachtet der Nichterwähnung der Pressefreiheit diese sogar i n Form einer Institutsgarantie garantiert zu sehen: die Grundrechte der M R K sind grundsätzlich nur als Individualrechte ausgestaltet und nähern sich allenfalls i n A r t . 8 (Schutz des Familienlebens) und auch dort nur i. V. m. A r t . 12 einer Institutsgarantie. Die Pressefreiheit ist aber durch A r t . 10 insoweit geschützt, als sich diese Freiheit m i t dem Recht überschneidet, seine Meinung frei zu äußern und Nachrichten und Ideen zu verbreiten und zu empfangen. Da sich nicht nur Individuen, sondern auch juristische Personen und sogar nicht rechtsfähige Vereinigungen auf die Rechte der M R K berufen können 1 7 , steht das Recht aus A r t . 10 nicht nur den i m Pressewesen tätigen Personen, sondern auch den Presseunternehmen selbst zu. Das ebenfalls nicht ausdrücklich erwähnte Zensurverbot ergibt sich aus dem Verbot des Behördeneingriffs 18 . Die Meinungsfreiheit der Presseunternehmen findet auf der „Passivseite" ihre Ergänzung i n der Informationsfreiheit der Bürger („freedom to receive information and ideas"). I n diese Informationsfreiheit w i r d nicht erst dann eingegriffen, wenn die Grundrechtsträger von der Informationsquelle abgeschnitten werden, sondern bereits dann, wenn schon die Entstehung einer Informationsquelle verhindert w i r d 1 9 . Trotz der Beschränkung des A r t . 10 auf die Garantie der freien Information aus allgemein zugänglichen Quellen 2 0 darf der Staat nach Sinn und Zweck dieser Bestimmung nicht bereits das Entstehen solcher allgemein zugänglicher 21 Informationsquellen verhindern. Andererseits 13 14

15 16

Vgl. oben A T Kap. X V . N J W 1956, 384.

Schorn S. 254.

Kyriakopoulos S. 297; Guradze, Konv. S. 146: die Verfasser der M R K hätten n u r noch nicht die Fortentwicklung v o m Individualrecht zur Einrichtungsgarantie erkannt. 17 Vgl. z. B. Y B I I I , 394; I V , 384 ff. 18 Vgl. Guradze , K o n v . S. 146. 19 Vgl. B V G E 21, 271, 292 zu A r t . 5 GG. 20 Vgl. oben § 1 (Anm. 8). 21 Auch ein Genehmigungserfordernis für Presseunternehmen wäre ein nach A r t . 10 Abs. 2 unzulässiger E i n g r i f f ( Guradze , Konv. S. 147 schließt auf ein solches Verbot bereits e contrario aus A r t . 10 Abs. 1 S. 3).

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BT — Kap. I I I : Artikel 10

kann aus A r t . 10 angesichts des Fehlens einer objektiv-rechtlichen Institutsgarantie nicht der Schluß gezogen werden, daß der Staat nicht nur die Entstehung von Presseunternehmen nicht behindern dürfte, sondern darüber hinaus auch bei der Aufstellung aller die Presse irgendwie tangierenden Normen dieser Freiheit des Art. 10 Rechnung tragen müßte. Der Staat ist i n dieser Hinsicht i n seinen Entscheidungen frei, solange er nicht i n die Rechte des A r t . 10 eingreift. Nach einer vom HR bestätigten 22 Entscheidung eines niederländischen Gerichts umfaßt die Pressefreiheit nach Art. 10 M R K und 7 der Verfassung auch die Verbreitung von Geisteswerken, also auch den Vertrieb von Taschenbüchern oder sonstiger Druckerzeugnisse. Den Schutz der Freiheit zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen genießt also auch derjenige, der allein aus wirtschaftlichen Interessen ein Verlagsgeschäft betreibt: dies zeigt, daß die M R K die Berufsfreiheit zwar nicht als solche schützt, andererseits aber auch demjenigen den Schutz der i n ihr garantierten Grundrechte zukommen läßt, der lediglich beruflich diese Rechte i n Anspruch nimmt. Ohne auf A r t . 10 einzugehen, hielt der HR auch das Erfordernis einer Betriebslizenz für Buchhandlungen 23 für verfassungswidrig. Der Generalanwalt beim HR sah darin zwar keinen Verstoß gegen Art. 7 der Verfassung, wohl aber gegen A r t . 10, der alle Arten der Verbreitung von Druckerzeugnissen umfasse und eine Lizenzierung nur für Rundfunk, Fernseh- und Filmunternehmen gestatte: da Einschränkungen zum w i r t schaftlichen Wohl des Landes nicht unter A r t . 10 Abs. 2 fielen, könne die betreffende Verordnung nicht angewendet werden 2 4 .

§ 2 Das Genehmigungsverfahren nach Art. 10 Abs. 1 S. 3

Auch Rundfunk-, Lichtspiel- und Fernsehunternehmen nehmen mit der Einschränkung an den Garantien des Art. 10 teil, daß sie einem staatlichen Genehmigungsverfahren unterworfen werden können 25 . Die Komm, legt A r t . 10 Abs. 1 S. 3 unter Hinweis auf die Praxis i n den europäischen Mtigliedsstaaten so aus, daß den Staaten mit dieser Bestimmung nicht verboten werden sollte, z. B. auch ein öffentlich-rechtliches Fernsehmonopol zu errichten, (private) Konkurrenzunternehmen also völlig auszuschließen. So war i m Fall der Beschwerde Nr. 4750/71 einem Briten ohne nähere Begründung die Erteilung der 22

H R N J 1960 S. 707 ff. Voraussetzung für diese Erlaubnis w a r der Nachweis beruflicher Fähigkeiten u n d Kenntnisse u n d der Zahlungsfähigkeit. Vgl. N J 1960 Nr. 274; Boas S. 247. 24 H i e r gilt das bereits oben (Anm. 21) Gesagte entsprechend. 25 Vgl. Guradze, Konv. S. 146. 23

§ 2 Das Genehmigungsverfahren nach Art. 10 Abs. 1 S. 3

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Lizenz für den Betrieb eines kommerziellen Radiosenders i m Vereinigten Königreich versagt worden, während auf der Ilse of Man eine solche Lizenz erteilt worden war. Der Beschwerdeführer rügte unter Hinweis auf die A r t . 10 und 14, der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs werde damit das Recht verweigert, kommerzielle Radiosendungen zu empfangen und i h m selbst das Recht, eine derartige Station zu errichten, u m damit Nachrichten und Ideen mitzuteilen. Die Komm, führte dazu aus, zwar seien die Staaten, abgesehen von den Einschränkungsmöglichkeiten des A r t . 10 Abs. 2, nach A r t . 10 Abs. 1 S. 3 nicht gehindert, ein Genehmigungsverfahren für Radiosender aufzustellen, doch sei diese Bestimmung so auszulegen, daß das Vereinigte Königreich auch berechtigt ist, keinerlei private Rundfunkunternehmen zuzulassen, da dies der Praxis einiger Mitgliedsstaaten entspreche, die Sendungen an die Öffentlichkeit durch private Individuen oder Unternehmen völlig verbieten 2 6 . A r t . 14 war hier nach Ansicht der Komm, schon deshalb nicht verletzt, weil auf der Isle of Man eine andere Rechtsordnung gilt, die auch ein anderes Lizenzvergabesystem gestatte. Art. 10 überläßt es demnach den Staaten, ob sie für Rundfunk, Fernsehen und F i l m nur öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Organisationsformen oder beides zulassen. Die Komm, lehnt es zu Recht ab, aus dem i n den authentischen Texten verwendeten Plural „entreprises / enterprises" den Schluß zu ziehen, daß die Staaten kraft dieser Bestimmung verpflichtet sind, ihre Genehmigungsverfahren für eine Mehrheit konkurrierender Unternehmen offenzuhalten 27 . Die Verwendung dieses Plurals hat allein grammatikalische Gründe, da auch das Subjekt „Etats / States" i m Plural steht. Auch die Errichtung eines Rundfunk-, Fernsehoder Filmmonopols ist demnach konventionsgemäß. „Genehmigung" kann aber i n diesem Zusammenhang nicht auch die Zulässigkeit einer staatlichen Reglementierung oder Steuerung der genannten Kommunikationsmittel bedeuten 28 . Der Begriff „licensing" kann nach dem Wortsinn nur so ausgelegt werden, daß damit die Betriebsaufnahme genehmigungspflichtig gemacht werden kann, nicht aber jede einzelne Sendung einer Vorzensur unterworfen werden darf. Das Genehmigungsverfahren kann die sachlichen (z. B. technische Mittel) und persönlichen (z. B. Verläßlichkeit) Voraussetzungen für eine Konzessionserteilung festlegen, dagegen ist die Verpflichtung zur Einhaltung z. B. gewerberechtlicher oder feuerpolizeilicher Bestimmungen kein Fall des A r t . 10 Abs. 1 S. 3, da dies ohnehin von Art. 10 Abs. 2 gedeckt wäre 2 9 . 26 27

28 29

CoD 40,29 ff. Y B X I , 456 ff.

Schorn S. 255. Hodler, Diss. S. 105.

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BT —Kap. I I I : Artikel 10

Es fragt sich aber, ob die Staaten mit der Erteilung der Genehmigung wenn auch nicht für jede einzelne Sendung, so doch für die Programmgestaltung insgesamt bestimmte Richtlinien als Auflage oder gar Bedingung verbinden können. Nach Auffassung der Komm, beinhaltet der Begriff „licensing" auch das Recht der Mitgliedsstaaten, bei der Lizenzvergabe an private Fernsehgesellschaften bestimmte Auflagen 30 zu machen. I n der Beschwerde Nr. 4515/70 rügte ein Brite sowie eine von i h m gegründete und auch eigenverantwortlich geleitete Vereinigung das gesetzliche Verbot, politische oder religiöse Werbung i m Rahmen des Werbefernsehens auszustrahlen 31 . Aufgrund dieses Gesetzes mußte eine private Fernsehgesellschaft die Überlassung von Sendezeit zur Werbung für das politische Progrartim der Beschwerdeführer verweigern. Aber auch bei der (staatlichen) BBC, für die das Gesetz nicht galt, kamen sie nicht zum Ziel. Die BBC begründete ihre Weigerung damit, daß Vereinigungen, die weder Parlamentarier noch Kandidaten für die Parlamentswahlen stellen, grundsätzlich von der Zuteilung von Sendezeit für ihre Zwecke ausgeschlossen sind. Die Vereinigung des Beschwerdeführers hatte sich aber gerade die Abschaffung des Systems der parlamentarischen Demokratie zum Ziel gesetzt, stellte deshalb auch keine Parlamentskandidaten, sondern versuchte, über das Fernsehen für die Einführung der unmittelbaren Demokratie zu werben. Das gesetzliche Verbot politischer Werbung i m privaten Fernsehen wurde von der britischen Regierung damit begründet, daß m i t dieser Regelung verhindert werden sollte, daß diejenigen Exponenten politischer Meinungen mit den „dicksten Geldbeuteln" sich durch den Kauf von Fernsehsendungen einen Propagandavorsprung verschaffen können. Finanziell schlechter gestellte Parteien oder Bewegungen hätten dann angesichts des massiven Kaufs von Sendezeit durch ihre finanzkräftigeren politischen Gegner große Schwierigkeiten, ihren Standpunkt vor der Öffentlichkeit zu vertreten. Die Komm, wies die Beschwerde ab, unterschied dabei aber zwischen der Verweigerung von Sendezeit durch die BBC einerseits und die gesetzlich gebundene private Fernsehgesellschaft andererseits. Zunächst unterstellte sie die Verantwortlichkeit der Regierung für das BBC, hielt es aber für offenkundig, daß nicht jeder Bürger oder jede Organisation ein generelles und unbeschränktes Recht auf Zuteilung von Sendezeit i m Radio oder Fernsehen zur Verbreitung seiner Meinung aus der „freedom to impart information and ideas" ableiten kann. Das ist richtig: A r t . 10 schützt nur vor staatlichen Eingriffen, gibt aber keinen positiven Leistungsanspruch gegen den Staat, der diesen zwingen würde, dem ein30 31

„certain regulations" CoD 38,86 ff., 88/89. CoD 38,86 ff.

§ 2 Das Genehmigungsverfahren nach Art. 10 Abs. 1 S. 3

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zelnen auch die technischen M i t t e l zur Verfügung zu stellen, die er benötigt, u m seine Meinung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Komm, machte aber die Einschränkung, daß unter besonderen Umständen auch die Verweigerung von Sendezeit A r t . 10 allein oder i. V. m. A r t . 14 verletzen kann. Dies sei z. B. dann der Fall, wenn eine bestimmte politische Partei von Sendemöglichkeiten ausgeschlossen wird, die anderen Parteien zur Verfügung stehen. Der Beschwerdeführer habe es aber versäumt, Tatsachen für die Annahme solcher besonderer Umstände vorzutragen. Die von der Komm, angeführten „besonderen Umstände" können aber i n diesem Zusammenhang nur für A r t . 14 von Bedeutung sein: die Staaten sind nach den A r t . 10 i. V. m. 14 zur Gleichbehandlung verpflichtet, wenn sie (freiwillig) 3 2 bestimmten Personen oder Personengruppen technische M i t t e l zur Verfügung stellen, die ihnen eine Übermittlung ihrer Nachrichten und Ideen ermöglichen. Für eine i n dieser Hinsicht diskriminierende Behandlung fehlen i n der Beschwerde Nr. 4515/70 aber die Anhaltspunkte. Hinsichtlich des an private Fernsehgesellschaften gerichteten Verbots der Ausstrahlung politischer Werbung stützte die Komm, die Abweisung der Beschwerde auf A r t . 10 Abs. 1 S. 3. Der Begriff „license" schließe auch die Möglichkeit ein, bei der Lizenzvergabe bestimmte A u f lagen zu machen. Sie beruft sich dabei 33 auch auf die Praxis i n den M i t gliedsstaaten, die teilweise jede Werbung verbieten, teilweise Werbung nur i n beschränktem Umfang zulassen. Dies rechtfertige es, A r t . 10 Abs. 1 S. 3 so auszulegen, daß es den Staaten gestattet ist, bei der Lizenzvergabe bestimmte Arten von Werbung auszuschließen 34 . Die Komm, folgte damit nicht der britischen Regierung, die sich auf Art. 10 Abs. 2 berufen hatte. Würde man die Zulässigkeit von derartigen Auflagen aber generell aus A r t . 10 Abs. 1 S. 3 herleiten, müßte man z. B. auch die Verpflichtung, i n den Sendungen ausschließlich die Regierungspolitik zu unterstützen, ohne weiteres für rechtmäßig halten. Dieser Schluß „a maiore ad minus" von der unbestrittenen Möglichkeit, nach Art. 10 Abs. 1 S. 3 private Rundfunk- und Fernsehsender ganz zu verbieten, auf die Zulässigkeit, die Genehmigung privater Sender mit A u f lagen jeder A r t zu verbinden, scheint aber sowohl dem Zweck dieser Bestimmung als auch der Wortinterpretation zu widersprechen: Genehmigung umfaßt i m üblicherweise verstandenen Wortsinn nur solche A u f lagen und Bedingungen, die die Meinungsfreiheit des Unternehmens 32

Vgl. oben B T Kap. I I (Anm. 68). Dieses A r g u m e n t findet sich auch i n CoD 40, 29 ff. 34 Diese Praxis der Mitgliedstaaten, die j a ohnehin n u r Indiz f ü r die Rechtmäßigkeit derartiger Maßnahmen sein k a n n (vgl. oben A T Kap. I I § 3), könnte genauso bedeuten, daß diese Auflagen sich nicht aus Art. 10 Abs. 1 S. 3, sondern aus Abs. 2 rechtfertigen. 33

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BT — Kap. I I I : Artikel 10

und der darin beschäftigten Personen nicht unmittelbar betreffen, sondern i n erster Linie die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen für den Sendebetrieb festlegen. I m übrigen ist es auch etwas wesentlich anderes, ob private Sender ganz verboten sind oder ob sie zwar genehmigt, dabei aber mit so weitgehenden Auflagen bedacht werden, daß dies letztlich einer Vorzensur gleichkommt: es dürfte kaum die Absicht der Autoren gewesen sein, diese letztere Möglichkeit den Staaten mit Art. 10 Abs. 1 S. 3 einzuräumen. Auch die Ausstrahlung von Werbesendungen politischer oder religiöser A r t kann demnach nicht mehr durch das 35 Genehmigungsverfahren i. S. d. Art. 10 Abs. 1 S. 3 geregelt werden, da es sich hierbei nicht mehr u m sachliche oder persönliche Vorausetzungen für den Sendebetrieb, sondern u m einen Eingriff i n die Freiheit zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen selbst handelt, der nicht, wie das Genehmigungsverfahren i n der hier vertretenen engeren Auslegung, aus dem Schutzbereich des A r t . 10 ausgeklammert ist, sondern anhand von Art. 10 Abs. 2 auf seine Rechtmäßigkeit überprüft werden muß. I n Ubereinstimmung mit der Ansicht der britischen Regierung ist aber das Verbot politischer Werbung i m privaten Fernsehen eine zulässige, weil zum Schutz der Rechte anderer und der öffentlichen Ordnung i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme 36 . Zu weitgehend ist allerdings die i n der niederländischen Rechtsprechung vertretene Ansicht 3 7 , nach der das Genehmigungsverfahren generell nur durch Gesetz und i n Ubereinstimmung m i t den übrigen Voraussetzungen des A r t . 10 Abs. 2 eingeführt werden darf: Art. 10 Abs. 1 S. 3 ist eine Definition der Meinungsfreiheit i m negativen Sinn, das Genehmigungsverfahren somit auch kein Eingriff i n ein von A r t . 10 garantiertes Recht, der nach Art. 10 Abs. 2 zu beurteilen wäre. Die Funktion des Art. 10 als reines Abwehrrecht bestätigte die Komm, auch i n der Beschwerde Nr. 2834/6630, indem sie es ablehnte, aus dieser Bestimmung einen Anspruch auf die staatliche Subventionierung von Theateraufführungen herzuleiten. Die Behörden hatten sich geweigert, dem Inhaber eines Puppentheaters finanzielle Unterstützung zu gewähren und i h m außerdem die Aufführung seiner Stücke i n Volksschulen nicht gestattet. Die Komm, wies darauf hin, daß er nicht generell daran gehindert sei, seine Stücke i n Deutschland aufzuführen und i h m eine offizielle Unterstützung nur wegen der mangelnden Qualität seiner 35

Gleiches gilt auch für die Regelung der Ausstrahlung kommerzieller Werbung durch private Sender (vgl. oben A n m . 31). Zweifelnd zu diesem Ergebnis Partsch S. 436 (Anm. 679). 36 Sie dient der Chancengleichheit finanziell schwächerer politischer Parteien. 37 Gerecht i n eerste aanleg (Curaçao) N J 1965 S. 412 K B , A R B 1966 S. 10. 38 CoD 35,29 ff. (verbunden m i t Beschwerde Nr. 4038/69).

§ 2 Das Genehmigungsverfahren nach Art. 10 Abs. 1 S. 3

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Stücke versagt worden war. A u f staatliche Unterstützung irgendwelcher A r t besteht nach A r t . 10 auch i m Bereich der künstlerischen Meinungsäußerung kein Anspruch, wenn andere Künstler unterstützt werden, so ist die Unterscheidung nach dem künstlerischen Wert der Stücke sachgerecht und verstößt nicht gegen Art. 10 i. V. m. Art. 14 39 . I n mehreren Fällen hatte die Komm, zu prüfen, ob die sog. Sprachenfreiheit wenn schon nicht unter den Schutzbereich der A r t . 8 und 9 4 0 , so doch wenigstens des Art. 10 fällt 4 1 . M i t dem Ziel, die Kinder kulturell der Mehrheit der Region anzupassen, i n der sie lebten, hatte Belgien m i t Gesetz vom 14. 7. 1932 das Land i n vier Sprachregionen aufgeteilt: i n drei Regionen wurde Flämisch, Französisch oder Deutsch je nach der dort überwiegend gesprochenen Sprache zur offiziellen Schulsprache für Volks- und Mittelschulen erklärt, i n der vierten Region (Brüssel) wurden die schulpflichtigen Kinder nach ihrer Muttersprache den entsprechenden Schulen zugeteilt, ohne aber ein Optionsrecht für anderssprachige Schulen zu haben. Anders als i n bezug auf die A r t . 8 und 14 M R K bzw. 2 Z P 4 2 wies die Komm, die gegen diese Regelung gerichteten Beschwerden insofern ab, als darin die Verletzung der Art. 9 und 10 behauptet wurde 4 3 . Sie begründete diese Entscheidung mit der Feststellung, daß die Meinungsfreiheit der beschwerdeführenden Eltern durch diese Sprachgesetzgebung i n keinem Fall eingeschränkt w i r d und auch die Kinder selbst nach den A r t . 9 und 10 keinen Anspruch haben, i n einer bestimmten Sprache erzogen zu werden 4 4 : Die A r t und Weise, i n der menschliche Gedanken gebildet (Art. 9) und ausgedrückt (Art. 10) werden, sei von einer Reihe mehr oder weniger zufälliger Umstände wie Zeit, Ort und sozialer Umgebung abhängig, auf die der einzelne keinen Einfluß habe, ohne daß schon darin eine Beeinträchtigung der Gedanken- oder Meinungsfreiheit gesehen werden könne 4 5 . Die Komm, wies auch die Beschwerde eines irischen Kirchenbeamten ab, der die Verletzung seines Rechts, sich auch gegenüber Behörden i n einer bestimmten Sprache äußern zu können, gerügt hatte 4 6 . Die Behörden hatten sich geweigert, i h m für den Antrag auf Bewilligung 39

Vgl. auch oben B T Kap. I I (Anm. 68). Vgl. oben A T Kap. X V I A n m . 13; B T Kap. I A n m . 87; B T Kap. I I A n m . 8. 41 Vgl. Y B V I , 333; V I , 445; X I , 228; X I , 412 ff. 42 Vgl. Y B V I , 333; V I , 445 ff.; nach der Entscheidung des E G H i n den belgischen Sprachenfällen wies die K o m m , vergleichbare Beschwerden (vgl. Y B X I , 412; CoD 37,101 ff.) dann auch insofern als offensichtlich unbegründet ab. 43 Vgl. z. B. Y B V I , 333 ff.; V I , 445 ff. 44 Y B V I , 445 ff. 45 Y B V I , 445 ff., 457. 46 CoD 35,137 ff. 40

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von Kindergeld das verlangte Formular i n englischer Sprache auszuhändigen, da die Regierung zur allmählichen Ausbreitung der Landessprache Irisch für den innerbehördlichen Verkehr vorgeschrieben hatte. Da sich der Beschwerdeführer weigerte, das Formular i n Irisch auszufüllen, erhielt er auch kein Kindergeld. Die Komm, sah darin ohne nähere Begründung keinen Eingriff i n ein Recht des Art. 10. I m Gegensatz dazu sah ein belgisches Gericht 4 7 i n Art. 41 des Gesetzes vom 2. 8. 1963 über die Verwendung von Sprachen i n Verwaltungsangelegenheiten einen Verstoß gegen die Art. 10 und 14 48 . Nach dieser Bestimmung mußten sämtliche für den amtlichen Gebrauch bestimmten Dokumente von Industrie-, Wirtschafts- und Finanzunternehmen i n der offiziellen Sprache der Region verfaßt werden, i n der das betreffende Unternehmen seinen Sitz hat. Das Gericht erklärte diese Bestimmung für unanwendbar und bestätigte einer Gesellschaft m i t Sitz i n Brüssel, daß sie berechtigt ist, die Sprache zur Abfassung der vom Gesellschaftsrecht geforderten Register und Dokumente frei zu wählen und außerdem zu verlangen, daß die i n französischer Sprache beim Handelsgericht eingereichten Dokumente auch in französischer Sprache veröffentlicht werden 4 9 . Der gegenteiligen Ansicht der Komm, ist aber zuzustimmen: Das belgische Gesetz über die Verwendung von Sprachen i n Verwaltungsangelegenheiten verstößt nicht gegen die MRK, da diese kein Recht auf freie Wahl einer bestimmten Sprache enthält 5 0 und auch die i n den A r t . 5 Abs. 2 und 6 Abs. 3 genannten Sonderfälle eng auszulegende Ausnahmen sind: " . . . the only clauses i n the Convention that deal w i t h the use of languages, that is to say Articles 5 (2) and 6 (3) (a) and (e), are l i m i t e d i n scope and irrelevant to the case i n p o i n t . . . ; . . . theire existence w o u l d be incomprehensible i f the Convention were intended to afford much w i d e r protection to the r i g h t which the Applicants allege to have been v i o l a t e d . . . 5 1 ."

Die gesetzliche Pflicht zur Verwendung einer bestimmten Sprache kann nur dann auch einen Eingriff i n den Schutzbereich des A r t . 10 darstellen, wenn durch diese Pflicht auch die Freiheit, seine Meinung zu äußern und Gedanken und Informationen weiterzugeben, beeinträchtigt wird, etwa, weil der Betroffene die vorgeschriebene Sprache nicht beherrscht und aus diesem Grund gehindert ist, seine Rechte aus Art. 10 wahrzunehmen. Derartige besondere Umstände lagen aber i n keinem der besprochenen Fälle vor. " i2me Chambre Civile Bruxelles, J. d. Trib. 1966, 685 ff. 48 Die K o m m , entschied i n Y B V I I I , 338 ff., 360 i m gegenteiligen Sinn. 49 Vgl. auch oben B T Kap. I I A n m . 8 (Trib. de Police d'Aubel). 50 . . there is no article i n the Convention or First Protocol that expressly guarantees 'linguistic freedom' as such" (vgl. auch Y B V I , 340 - 342; 454). 61 Y B V I , 338 ff ., 360.

§ 3 Die Schranken der Meinungsfreiheit

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§ 3 Die Schranken der Meinungsfreiheit

Art. 10 Abs. 2 enthält den umfassendsten Katalog von Eingriffszielen i n der Gruppe der A r t . 8 - 1 1 . Die deutsche Übersetzung ist insofern mißverständlich, als man danach glauben könnte, daß nach A r t . 10 Abs. 2 die Ausübung der i n Abs. 1 genannten Rechte vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unter verschiedenen i n einer demokratischen Gesellschaft zulässigen Gesichtspunkten nur für folgende zwei Zwecke unterworfen werden kann: 1. U m die Verbreitung vertraulicher Nachrichten zu verhindern, 2. u m Ansehen und Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten 52 . Aus dem authentischen englischen Text ergibt sich aber eindeutig, daß alle i n Art. 10 Abs. 2 genannten Rechtsgüter selbständige Eingriffsmotive sind, nicht nur die letzten zwei 5 8 . Auch i m französischen Text t r i t t die Präposition „pour" („empêcher . . . , garantir . . . " ) nur aus grammatikalischen Gründen an die Stelle des „à la" („sécurité . . . " ) , ohne daß damit i n der Finalität eine Abstufung vorgenommen werden sollte. Die zusätzlich zu den Einschränkungen genannten Formvorschriften, Bedingungen oder Strafdrohungen haben hier nur den Charakter einer Klarstellung 5 4 . Auch die Hinzufügung, daß die Ausübung dieser Freiheiten „bestimmten" 5 5 Formvorschriften usw. unterworfen werden kann, bedeutet nicht, daß hier nur bestimmte Gesetze i. S. d. „lex certa" zulässig sind 5 6 . Sehr weitgehend sind die Möglichkeiten der Mitgliedsstaaten, die politische Meinungsfreiheit einzuschränken 57 , wenn es sich u m Ausländer handelt: A r t . 16 58 gestattet die Beschränkung der politischen Meinungsfreiheit von Ausländern ungeachtet des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Nationalität und ohne Bindung an die Einschränkungsregeln des A r t . 10 Abs. 2. 52

Diesem I r r t u m unterliegt Pfeifer S. 439,440. " for the prevention . . . , for preventing the disclosure of information . . . , for m a i n t a i n i n g . . 54 „Einschränkung" ist hier der Oberbegriff. 55 Dies stellt der engl. W o r t l a u t „such as . . . are prescribed" gegenüber dem unklareren franz. „certaines" k l a r ; vgl. auch Guradze, Stand S. 210. 58 So auch die K o m m , i n Y B V I , 424 ff. (vgl. unten A n m . 66). 57 Da der Schwerpunkt der Problematik i m F a l l de Becker u n d dem v e r gleichbaren F a l l i n Y B V I , 151 ff. w o h l mehr i n der Bedeutung der „ N o t w e n digkeit i n einer demokratischen Gesellschaft" lag, w u r d e n sie bereits i m A T Kap. X I (Anm. 30) besprochen. 58 Vgl. oben A T Kap. I X § 3. 53

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Zu Recht schloß deshalb der östr. V G H 5 9 aus Art. 16, daß Art. 10 es nicht verbietet, die politische Betätigung von Ausländern Beschränkungen zu unterwerfen. Der Erlaß eines befristeten Aufenthaltsverbots gegen einen Ausländer, der gehässige K r i t i k an den Einrichtungen der österreichischen Demokratie geübt und nationalsozialistische Äußerungen gemacht hatte, war deshalb nach der M R K zulässig. Der belgische Conseil d'Etat 8 0 rechtfertigte die Beschränkung der Meinungsfreiheit eines der F L N angehörenden Algeriers damit, daß er die öffentliche Ordnung gefährdet. Wegen A r t . 16 muß eine solche Maßnahme aber nicht einmal einem der Eingriffsziele des A r t . 10 Abs. 2 dienen. Nach einer Entscheidung eines anderen belgischen Gerichts 61 soll dagegen die öffentliche Meinungsäußerung eines Bewerbers u m die belgische Staatsangehörigkeit, der seine Sympathie für ein ausländisches Regime mit einer der belgischen Grundordnung widersprechenden ideologischen Basis öffentlich bekundet hatte, sowohl von A r t . 14 der Verfassung als auch von Art. 10 gedeckt sein. Die belgische Staatsangehörigkeit dürfe i h m deshalb jedenfalls nicht verweigert werden. Auch für Bewerber u m die Staatsangehörigkeit gilt aber noch A r t . 16, der hier offenbar nicht berücksichtigt wurde. Da für die BRD die Bewohner der DDR nach wie vor keine Ausländer sind, gilt für sie Art. 16 nicht. Das B V e r w G 6 2 hatte zu entscheiden, ob einem später i n die BRD geflüchteten Volkspolizisten der DDR, der von einem sowjetischen Militärtribunal wegen politischer Äußerungen verurteilt worde war, eine Entschädigung nach dem H H G zusteht. Unter Berücksichtigung der A r t . 5 GG und 10 M R K führte das Gericht aus, die Meinungsfreiheit finde zwar ihre Grenze i n den allgemeinen Gesetzen, doch könne man nicht auch diejenigen Vorschriften der DDR bzw. der UdSSR m i t einbeziehen, die dieses Grundrecht stärker einschränken als i n der BRD. Zwar könne die Ehre anderer der Meinungsfreiheit Schranken setzen, doch sei die Verurteilung nicht wegen eines Angriffs auf die Ehre bestimmter Politiker erfolgt, sondern wegen der i n den Äußerungen zu Tage tretenden politischen Gesinnung. Derartige Äußerungen i m Freundeskreis könnten auch nicht als Verletzung der allen Beamten, Offizieren und Inhabern sonstiger staatlich gebundener Berufe obliegenden Pflicht, sich i n ihrer politischen Betätigung die gebotene Zurückhaltung aufzuerlegen, angesehen werden. Der Betroffene habe deshalb seine Zwangslage nicht durch aufreizendes oder herausforderndes Verhalten bzw. durch Leichtsinn oder Unüberlegtheit verursacht und sei somit anspruchsberechtigt nach dem HHG. Diese allerdings 59

Östr. J Z 1966, 249. Conseil d'Etat, Recueil des arrêts 1961 S. 293. 61 T r i b u n a l de I r e Instance de Bruxelles, Entsch. v o m 30.1.1970 (unveröffentlicht). 62 N J W 1960, 356. 80

§ 3 Die Schranken der Meinungsfreiheit

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mehr an Art. 5 GG orientierte Entscheidung ist ein weiteres Beispiel dafür 6 3 , daß schon durch verfassungs- bzw. konventionskonforme Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe vermieden werden muß, daß jemand für eine sich i n zulässigen Grenzen haltende Grundrechtsausübung vom Staat benachteiligt wird. Dies gilt natürlich nicht bei einer unzulässigen oder gar (i. S. d. A r t . 17) „mißbräuchlichen" Grundrechtsausübung. So hatten deutsche Gerichte einem Beschwerdeführer 64 zunächst eine Entschädigung als Verfolgter des Naziregimes nach dem BEntschG versagt, weil er mit dem totalitären Regime der DDR zusammengearbeitet hatte und seine Aktivitäten eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der BRD darstellten. Wenn er aber seine Meinungsfreiheit mißbraucht hat, u m i n der BRD auf die Abschaffung bzw. Verkürzung der Rechte und Freiheiten der Konvention und damit auf die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung überhaupt hinzuwirken, so ist schon wegen A r t . 17 klar, daß er nicht unter Berufung auf Art. 10 verlangen kann, daß seine Aktivitäten nicht bei der Entscheidung über seine Entschädigungsansprüche wegen politischer Verfolgung negativ berücksichtigt werden. U m eine zulässige Inanspruchnahme von Grundrechten des GG und M R K handelte es sich dagegen i n einem vom B V e r w G 6 5 entschiedenen Fall, i n dem zu prüfen war, ob der Antragsteller seine politische Zwangslage i. S. d. § 3 B V F G zu vertreten hatte, i n die er geraten war, weil er i n der DDR westdeutsche Radiosender zusammen mit anderen abgehört und sich dabei auch am Singen des Deutschlandliedes beteiligt hatte. Das Gericht kam deshalb zu dem Ergebnis, daß eine solche Zwangslage, die aus einer nach freiheitlich-demokratischen Grundsätzen erlaubten Grundrechtsausübung resultiert, von dem Betroffenen auch nicht vertreten werden muß. M i t den Grenzen der politischen Meinungsfreiheit der Staatsangehörigen des eigenen Landes hatte sich die Komm, i n der Beschwerde eines Österreichers 66 zu befassen, der wegen Betätigung i m nationalsozialistischen Sinne nach dem Gesetz über das Verbot der NSDAP verurteilt worden war. Er trug vor, die Regelung des § 3 g) dieses Gesetzes sei so unbestimmt, daß danach schwerwiegendere Einschränkungen der Rechte der A r t . 9 und 10 möglich sind als es i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist: sie könne, m. a. W., auch auf Verhaltensweisen Anwendung finden, deren Unterdrückung nicht unabdingbar ist i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Sicherheit usw. Die Komm, lehnte es aber zu Recht ab, aus A r t . 10 Abs. 2 ein Bestimmtheitserfordernis 63 64 65 66

Vgl. z. B. auch oben B T Kap. I I (Anm. 51/52). Y B I X , 102 (wegen Vergleichs von der Liste gestrichen). B V e r w G E 6, 271, 272; vgl. dazu auch Morvay S. 347. Y B V I , 424 ff.

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auch für das zur Einschränkung ermächtigende Gesetz selbst herzuleiten. I m übrigen hielt sie die Vorschrift für unbestimmt, aber nicht für schrankenlos: sie erfasse nur Aktivitäten („Betätigung"), nicht aber auch bloße einzelne Handlungen. Die Verurteilung wegen der auf Wiedereinführung des Nationalsozialismus i n Österreich gerichteten Betätigung hielt die Komm, für eine i n einer demokratischen Gesellschaft i m Interesse der inneren und äußeren Sicherheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendige Maßnahme, die weder A r t . 9 noch A r t . 10 verletzt. Ähnlich wie i n der KPD-Entscheidung 67 hätte aber auch hier der Hinweis auf A r t . 17 die Prüfung der A r t . 9 und 10 Abs. 2 erübrigt. Auch die Teilnahme an einer politischen, gegen die Intervention der USA i n Vietnam gerichteten Demonstration wertete der H R 6 8 als Meinungsäußerung i. S. d. A r t . 10. Die i n einer Polizeiverordnung vorgesehene Pflicht, vorher die behördliche Erlaubnis einzuholen, sei aber eine vom Gesetz vorgesehene Bedingung i. S. d. A r t . 10 Abs. 2 und deshalb rechtmäßig. I n einer anderen Entscheidung bezeichnete dasselbe Gericht das Verbot des A r t . 101 einer Amsterdamer Polizeiverordnung, ohne Erlaubnis Umzüge auf öffentlichen Straßen zu organisieren oder daran teilzunehmen, auch ausdrücklich als i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Auch ein Schweigemarsch, der darauf abzielt, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken, könne den Verkehr zum Stocken bringen und damit Unordnung hervorrufen 6 9 . Ein anderes niederländisches Gericht 7 0 legte dagegen für die Möglichkeit, Meinungsäußerungen i n der Öffentlichkeit regelnd zu beschränken, einen strengeren Maßstab an. Es sah i n der Bestimmung der Polizeiverordnung von Curaçao, die jede Ansprache i n der Öffentlichkeit und unter freiem Himmel erlaubnispflichtig machte, einen Verstoß gegen A r t . 10. Zwar sei die Meinungsfreiheit nicht unbeschränkt gewährleistet und die Erlaubnis der Polizei eine vom Gesetz vorgesehene Bedingung i. S. d. A r t . 10 Abs. 2, doch handle es sich hierbei u m keine i n einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme zu einem der i n dieser Bestimmung aufgeführten Zwecke. Man w i r d davon ausgehen können, daß den Gefahren und Nachteilen, die sich aus einem unbeschränkten Rederecht i n der Öffentlichkeit für die öffentliche Ordnung ergeben können (z. B. Verkehrsstau, Menschenansammlungen), auch durch repressive Maßnahmen i n einer demokra67 68 69 70

Vgl. oben A T Kap. I X A n m . 45. N J 1968,266. N J 1968,18. Hof van Justitie Nederlandse Antillen, N J 1969 Nr. 128.

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tischen Gesellschaft i n ausreichendem Maß begegnet werden kann, ein (präventives) Verbot m i t Erlaubnisvorbehalt scheint demgegenüber eine übermäßige, nicht notwendige Maßnahme zu sein. Bei Umzügen und Demonstrationen, die ja sowohl i n Form eines Umzugs als auch einer lokal gebundenen Versammlung veranstaltet werden kann, ist dagegen die Gefährdung der öffentlichen Ordnung generell größer, so daß man hier mit dem HR auch ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für „notwendig" halten kann 7 1 . M i t den Grenzen des Rechts auf kritische Berichterstattung auch über möglicherweise beweisbare Vorfälle befaßte sich die Komm, i n der Beschwerde Nr. 753/60 72. Eine österreichische Chefredakteurin war wegen Diffamierung der Armee zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil sie i n der Zeitschrift „ A n t i m i l i t a r i s t " 2 A r t i k e l veöffentlicht hatte, i n denen die Armee nach Ansicht des Gerichts i n ungebührlicher Form angegriffen und verunglimpft wurde. Die Komm, sah i n den Strafbestimmungen der §§ 495 Abs. 1, 491 und 493 des östr. STGB nach A r t . 10 Abs. 2 zulässige Einschränkungen, die zum Schutz der Rechte anderer notwendig sind. Es dürfte aber kaum richtig sein, die Armee als Teil der Staatsgewalt als „autrui" i. S. d. A r t . 10 Abs. 2 zu bezeichnen: der Schutz staatlicher Institutionen auch vor verleumderischen Angriffen ist eher dem Vorbehalt zugunsten der öffentlichen Ordnung zuzuordnen. Ungeachtet dessen ist der Komm, aber zuzustimmen, daß A r t . 10 wegen seines Abs. 2 kein Recht gibt, i m Rahmen der Pressefreiheit und der politischen Meinungsäußerung unwahre Tatsachen zu verbreiten oder wahre Tatsachen i n einer Form darzustellen, die eines der i n A r t . 10 Abs. 2 genannten Rechtsgüter verletzt. Unter Berufung auf die vorstehende Entscheidung erklärte die Komm, auch die Bestrafung eines Deutschen für rechtmäßig, der Läden und Kioske m i t zum Teil jugendgefährdenden Schriften beliefert hatte 7 3 . Sein Einwand, er müsse die Zeitschriften möglichst schnell ausliefern und habe nicht die Zeit, sie auf ihren möglicherweise jugendgefährdenden Inhalt zu überprüfen, half i h m nichts: unter Berücksichtigung des den Staaten zustehenden Ermessens hielt die Komm, diese Einschränkung der Meinungsfreiheit für notwendig zum Schutz der Moral junger Menschen. 71 Eine andere Frage ist es dann, unter welchen Umständen eine solche Erlaubnis verweigert werden darf: das Recht auf öffentliche Meinungsäußerung hat z. B. Vorrang vor dem öffentlichen Interesse, auch kurzfristige Beeinträchtigungen des Verkehrsflusses zu vermeiden. Da bei der kollektiven A u s übung der Meinungsfreiheit i n der Öffentlichkeit regelmäßig auch ein F a l l des A r t . 11 vorliegt, sind allerdings auch dessen Schranken zu beachten (vgl. oben A T Kap. I Ziff. 6). 72 Y B I I I , 311 ff. 73 Y B V I , 204 ff.

12 Hoffmann-Remy

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Eine interessante Entscheidung des BSG befaßt sich mit dem i n § 37 A V A V G festgelegten Zustimmungserfordernis für die Veröffentlichung ausländischer Stellenangebote 741 für Drucker. Nach dem Urteil erstreckt sich die institutionelle Garantie (Art. 5 GG) der Pressefreiheit auf das gesamte Pressewesen, also auch auf das Anzeigen-, Verlags- und Vertriebsgeschäft. Auch nach A r t . 10 ist das Verbot der Veröffentlichung von Stellenanzeigen ohne die entsprechende Erlaubnis ein Eingriff i n die „freedom to impart information", ungeachtet der Tatsache, daß es sich beim A n zeigengeschäft u m die Weitergabe von Nachrichten Dritter aus überwiegend wirtschaftlichen Interessen handelt. Das BSG grenzte die Schranke der „allgemeinen Gesetze" des A r t . 5 Abs. 2 GG von der verbotenen Zensur ab: eine verbotene Zensur liege dann vor, wenn geistige Kundgebungen von vorheriger behördlicher Prüfung oder Erlaubnis aus politischen, ideologischen, kulturellen oder weltanschaulichen Gründen abhängig gemacht werden, nicht aber schon bei einer Überwachung der Presse durch allgemeine Gesetze75. § 37 A V A V G sei geschaffen worden, u m i m Interesse der Allgemeinheit zu verhindern, daß der ohnehin schon bestehende Mangel an Druckern durch Abwanderung ins Ausland noch vergrößert wird. Es gehöre aber zum Inbegriff aller Grundrechte, daß sie nicht i n Anspruch genommen werden dürfen, wenn dadurch für die Gemeinschaft notwendige Rechtsgüter gefährdet werden, weil jedes Grundrecht den Bestand der Gemeinschaft voraussetze. Auch die Informationsfreiheit der Bürger hielt das Gericht hier nicht für unzulässig beeinträchtigt, da sie nicht daran gehindert sind, sich auf anderem Weg Informationen über den ausländischen Arbeitsmarkt zu verschaffen. A u f A r t . 10 übertragen bedeutet dies, daß die Sicherung des Bestands an Arbeitskräften i n dem Mangelberuf der Drucker i m Interesse der allerdings weit verstandenen 76 öffentlichen Ordnung liegt. Da das Zustimmungserfordernis des § 37 A V A V G weder die geistige Freiheit und Unabhängigkeit der Presse noch die Informationsfreiheit des B ü r gers i n unverhältnismäßiger Weise einschränkt, kann diese Maßnahme auch als notwendig angesehen werden zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Die Gültigkeit des Verbots, an Sonntagen religiöse Bilder auf der Straße zu verkaufen (§ 8 des niederländischen Ladenschlußgesetzes), bestätigte der H R 7 7 auch i m Hinblick auf Art. 10. Der Generalstaatsanwalt war der Meinung, der Verkauf religiöser Bilder habe weniger 74 75 76 77

N J W 1964,1691 ff. Z u m Begriff der allgemeinen Gesetze vgl. oben B T Kap. I I A n m . 14. Vgl. dazu oben A T Kap. V I u n d unten (Anm. 98). N J 1961 Nr. 272.

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den Charakter einer Information i. S. d. A r t . 10 als vielmehr einer Andachtshandlung, doch könne sich der Angeklagte auch nicht auf A r t . 9 berufen, da der Bilderverkauf keine Religionsausübung durch Gottesdienst, Unterricht, Ausübung oder Beachtung religiöser Bräuche sei 78 . Der HR ging auf A r t . 9 gar nicht ein und beschränkte seine Prüfung auf A r t . 10 Abs. 2: Die Bestimmungen des Ladenschlußgesetzes hätten weder das Ziel noch die Wirkung, den Verkauf von Schriften zu verhindern, die eine Meinung enthalten. Das Gesetz verbiete den Verkauf von Waren an Sonntagen und während bestimmter Nachtstunden auch an Werktagen allein aus sozialen Gesichtspunkten. Ohne diese Regelung wären die Ladenbesitzer aus Konkurrenzgründen gezwungen, ihre Geschäfte dauernd offen zu halten, so daß ihnen und ihrem Personal keine Freizeit mehr bliebe. Nach der Ansicht Boas79 dient die Sicherung der Stunden der Erholung und Freizeit, die allen i m Handel tätigen Personen zustehen, dem Schutz der Gesundheit und Moral, während die Verhinderung einer ungesunden Verschärfung der Konkurrenz eine Regelung m i t rein w i r t schaftlichen Zielen sein soll, die nicht unter A r t . 10 Abs. 2 fiele. Der HR kombinierte dagegen beide Elemente und bezeichnete die Verhinderung einer aus sozialen Gesichtspunkten unerwünschten Situation als i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Ordnung notwendige Maßnahme. Boas80 bezweifelt aber die Berechtigung dieser seiner Ansicht nach weiten Auslegung der „öffentlichen Ordnung": Zwar spreche A r t . 10 Abs. 2 i n der niederländischen Ubersetzung vom Schutz der öffentlichen Ordnung 8 1 , doch sei die französische Fassung, die nur die Verteidigung („défense") der Ordnung erlaube, weit enger. Bei der Frage der Auslegung des Begriffs „öffentliche Ordnung" i. S. d. Art. 8 - 1 1 Abs. 2 stößt man auf die Schwierigkeit, daß auch die Formulierungen der authentischen Texte uneinheitlich sind 8 2 . Während i n den A r t . 8, 10 und 11 von „défense de Tordre / prévention of disorder" die Rede ist, spricht Art. 9 Abs. 2 positiv von „protection de Vordre / pro78 Vgl. dagegen oben B T Kap. I I (Anm. 38). U m eine von A r t . 9 geschützte Religionsausübung dürfte es sich n u r dann nicht handeln, w e n n der Verkauf allein aus kommerziellem Interesse erfolgt („manifester sa religion"), während dieser Gesichtspunkt bei A r t . 10 keine Rolle spielt: der Verkauf religiöser Bilder beinhaltet die Ü b e r m i t t l u n g religiösen Gedankenguts u n d ist demnach „ M i t t e i l u n g von Nachrichten u n d Ideen" gem. A r t . 10. 79 Boas S. 249. 80 Boas S. 249. 81 " i n het belang van de bescherming v a n de openbare orde". 82 Auch die deutsche Übersetzung spricht uneinheitlich von Verteidigung der Ordnung (Art. 8), öffentlicher Ordnung (Art. 9), Aufrechterhaltung der Ordnung (Art. 10, 11) u n d i n A r t . 8 sogar zusätzlich von öffentlicher Ruhe u n d Ordnung (für „public safety").

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tection of public order". Es ist aber kein sachlich einleuchtender Grund dafür ersichtlich, wegen dieser redaktionellen Abweichungen 8 3 das Eingriff sziel der öffentlichen Ordnung i n den A r t . 8, 10 und 11 enger auszulegen als i n A r t . 9 und zwischen „Verteidigung der Ordnung" oder „Verhinderung von Unordnung" einerseits und „Schutz der öffentlichen Ordnung" andererseits zu unterscheiden. Da auch die Verhinderung eines für die Allgemeinheit schädlichen Konkurrenzkampfes zu den unerläßlichen Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben gehört und damit auch dem Schutz der öffentlichen Ordnung dient, können auch die dazu notwendigen Einschränkungen der Rechte des A r t . 10 zulässig sein, obwohl i m Abs. 2 dieses Artikels ein Vorbehalt zugunsten des wirtschaftlichen Wohlergehens des Landes wie i n Art. 8 Abs. 2 fehlt 8 4 . Soweit vom Gesetzgeber auch der Schutz der Angestellten bezweckt ist, die ja nicht selbst Adressaten des Ladenschlußgesetzes sind, greift auch der Schutz der Rechte anderer ein 8 5 . I m Falle der Kollision des Rechts zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen m i t urheberrechtlichen Bestimmungen w i r d i. d. R. der Schutz der Rechte anderer die Einschränkung des Art. 10 rechtfertigen. I n einem Fall, der sowohl die niederländischen Gerichte 86 als auch die Komm, beschäftigt hat, war i n einer niederländischen Rundfunkzeitschrift unter Verstoß gegen das Urhebergesetz („Auteurswet") die Veröffentlichung der Programme der niederländischen Radio- und Fernsehsender erfolgt. Diese Programme wurden von einer niederländischen Organisation zusammengestellt und an eine begrenzte Zahl von Presseorganen verschickt. Die Herausgeber der Frenseh- und Rundfunkzeitschrift, die nicht zu dem Kreis der Empfänger zählte, hatten sich die benötigten Informationen dann ohne Zustimmung der Autoren auf anderem Wege beschafft. Das Urhebergesetz schützte hier ein Monopol der Sender, die entweder selbst Zeitschriften publizieren oder an ihnen beteiligt sind. 83 Diese Unterschiede dürften auch darauf zurückzuführen sein, daß „ordre public" i n Kontinentaleuropa einen bestimmten Sinn hat (1. eingeschränkte Geltung oder Nichtigkeit privater Vereinbarungen; 2. Umfang der A n w e n d barkeit ausländischen Rechts; 3. öffentliche Ordnung i m polizeirechtlichen Sinn), i n Großbritannien aber kein anerkannter Grundsatz ist (vgl. auch die Vorarbeiten zum Covenant on C i v i l and Political Rights; Distr. Gen. A/2929 S. 138 §§ 112 - 114. 84 Es handelt sich hier j a nicht u m rein wirtschaftliche, sondern auch u m soziale Gesichtspunkte, deren Berücksichtigung m a n i m Rahmen des Schutzes der öffentlichen Ordnung für zulässig halten kann, ohne den Grundrechtsschutz zu schmälern (vgl. oben A T Kap. VI). Vgl. zum Begriff der öffentlichen Ordnung auch Köhler, Diss. S. 118/119,108/109 m. w. N.). 85 Vgl. oben B T Kap. I A n m . 47. 89 N J 1966, Nr. 116 (HR).

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Der HR war aber der Ansicht, daß aus A r t . 10 weder für Behörden noch für Individuen die Pflicht folgt, Informationen an Dritte weiter zu geben. Außerdem würden die Informationen, von denen A r t . 10 spricht, i n keinem Fall auch die wöchentlichen Rundfunkprogramme umfassen, so daß das Urhebergesetz nicht gegen Art. 10 verstoße. Wenn auch derartige Programme sicherlich Informationen i. S. d. A r t . 10 sind, so hat der HR doch Recht, daß A r t . 10 keinen aktiven Unterrichtungsanspruch 87 gibt. Andererseits ist es zulässig, zum Schutz der Rechte derjenigen, die über Informationen verfügen, zu verhindern, daß sich jemand ohne deren Zustimmung widerrechtlich die gewünschten Informationen verschafft. Die Komm, ließ die Beschwerde aber i m H i n blick auf eine mögliche Verletzung der Art. 10 und 14 zu, obwohl i n allen Mitgliedsstaaten ähnliche urheberrechtliche Bestimmungen bestehen 88 . Auslegungsschwierigkeiten ergeben sich bei dem Vorbehalt der Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Nachrichten. Woraus soll sich die Vertraulichkeit der Nachricht ergeben, und wer hat über den vertraulichen Charakter zu entscheiden? Nach dem insofern der französischen Fassung entsprechenden deutschen T e x t 8 9 scheint sich die Vertraulichkeit nach dem Gegenstand der Information zu richten. Der englische Text spricht dagegen von „disclosure of information received i n confidence", stellt also auf die A r t und Weise der Mitteilung ab. Eine Nachricht wäre demnach vertraulich, w e i l sie vertraulich erworben wurde. Der französische Text ist somit weitergehend, da er auch lediglich ihrer Natur nach geheime Informationen umfaßt. Nach der von Guradze 90 vertretenen Auffassung soll hier das i n der englischen Fassung enthaltene gemeinsame M i n i m u m beider Texte gelten. Abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken gegen diese Auslegungsmethode 91 scheint dies auch der gebotenen teleologischen Auslegung zu widersprechen. „Received i n confidence" bedeutet ja, daß die Nachricht mitgeteilt, der Empfänger also befugtermaßen i n ihren Besitz gekommen ist. Eine an sich geheime, vertrauliche Nachricht würde nach der wörtlich auf gefaßten englischen Version aber dann nicht unter diesen Vorbehalt fallen, wenn sie nicht (befugtermaßen) empfangen, sondern unrechtmäßig beschafft worden ist. Da dieses Ergebnis schwer verständlich erscheint, ist hier der weitergehende französische Text zugrunde zu legen. Der Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Nachrichten dient z. B. auch der strafrechtliche Schutz von Berufs- bzw. Amtsgeheimnissen. 87 88 89 00 91

Vgl. oben B T Kap. I I I (Anm. 8). Y B I X , 512 ff.; vgl. auch oben A T Kap. X I I A n m . 34. „Vertrauliche Nachrichten / informations confidentielles". Guradze, Konv. S. 153. Vgl. oben A T Kap. I I § 2.

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Der östr. V G H 9 2 verneinte aber die Zulässigkeit einer gesetzlichen Regelung, die beamteten Ärzten eine absolute Schweigepflicht bezüglich der Krankheiten auferlegte, von denen sie Kenntnis hatten. Zwar sei es zulässig, die Verbreitung vertraulicher Nachrichten zu verbieten, wenn dies i m Interesse der Beteiligten oder der Berufsorganisation liegt, so daß auch Informationen für vertraulich erklärt werden können, von denen Staatsbeamte dienstlich Kenntnis erlangt haben. Es sei aber keine zum Schutz eines der i n A r t . 10 Abs. 2 genannten Ziele notwendige Maßnahme, die Meinungsfreiheit der Beamten auch hinsichtlich ihrer außerdienstlich erlangten Kenntnis einzuschränken. M t i dieser Entscheidung hat das Gericht das Gebot zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit i n Art. 10 Abs. 2 korrekt beurteilt. Ebenfalls m i t dem Schutz vertraulicher Nachrichten hatte sich die Komm, i n der Beschwerde Nr. 4274/6993 zu befassen. Ein deutscher Beamter hatte hier nach zwei erfolglosen Dienstaufsichtsbeschwerden, die er unter Umgehung des Dienstwegs direkt beim Innenministerium seines Bundeslandes eingelegt hatte, dem Regierungspräsidium gedroht, er werde i m „Spiegel" einen A r t i k e l veröffentlichen, i n dem er seine Funktion i m öffentlichen Dienst darlegen wolle. Wegen Verstoßes gegen die Pflicht zu achtungswürdigem Verhalten i m Dienst und wegen Nichteinhaltung des Dienstwegs bei seiner Beschwerde wurde er daraufhin m i t einem Verweis disziplinarisch bestraft. Da der Betroffene nur die Verletzung von A r t . 7 Abs. 1 gerügt hatte, untersuchte die Komm, ex officio, ob diese Disziplinarmaßnahme wegen der Ankündigung, i n dem Wochenmagazin einen A r t i k e l über die Mängel i n der Arbeit und inneren Organisation seiner Behörde veröffentlichen zu wollen, gegen A r t . 10 verstößt. Die Komm, stellte fest, daß diese Disziplinarmaßnahmen i n der deutschen Disziplinargesetzgebung vorgesehen sind und auch i n einer demokratischen Gesellschaft zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Nachrichten notwendig sind, zumal der Beamte nach eigener Aussage gewußt habe, daß es sich bei den Tatsachen, die er zu veröffentlichen beabsichtigte, u m Amtsgeheimnisse handelte. I m Interesse des guten Rufs und der Rechte anderer war nach Ansicht der Komm, ein Verweis gerechtfertigt, den der Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte einem Rechtsanwalt wegen Verletzung seiner Berufspflichten (§ 43 BRAO) erteilt hatte 9 4 . Dieser hatte dem Rechtsanwalt der Gegenpartei vorgeworfen, seine Klageschrift sei ein andauernder und miserabler Versuch, die Wahrheit zu verschleiern und das Gericht irrezuführen und ein armseliges, verzweifeltes Gestammel, das nur der Herabwürdigung seines Mandanten diene. Zur Urteilsbegründung des OLG meinte er, sie verschlage jedem Verfechter der freiheitlich-demokra92 03 94

ö s t r . JBL1972,196. CoD 35,158 ff. CoD 39, 58 ff.

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tischen Grundordnung den Atem, und es sei erschreckend, daß dies 1963 und nicht 1933 von einem obersten Gericht der BRD geschrieben worden ist. Den Staatsanwalt verglich er außerdem m i t Freisler und beschuldigte i h n der groben Irreführung des Gerichts. Der Beschwerdeführer hielt die Disziplinarmaßnahmen für unvereinbar mit A r t . 10 Abs. 2, da die Grundzüge des anwaltschaftlichen Standesrechts keinen Normcharakter hätten, sondern nur von der Bundesrechtsanwaltskammer aufgestellte Richtlinien ohne bindenden Charakter seien. Die Disziplinargerichte würden die Meinungsfreiheit unvernünftig weit einschränken, während die Z i v i l - und Strafgerichte bei Beleidigungen weit nachsichtiger seien. Zu Recht entschied die Komm, unter Bezugnahme auf die vorstehend besprochene Entscheidung i n der Beschwerde Nr. 4274/69, daß der Verweis eine gesetzlich vorgesehene und zum Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer voll gerechtfertigte Maßnahme ist. Der Beschwerdeführer habe seine Berufspflicht verletzt, die es i h m verbiete, ein aggressive und beleidigende Sprache zu führen. Diese Berufspflicht hindere den Rechtsanwalt weder an der Äußerung seiner Meinung noch an einer angemessenen Verteidigung seines Klienten vor Gericht. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers handelt es sich bei der auch die Meinungsfreiheit betreffenden Pflicht zu achtungswürdigem Verhalten innerhalb und außerhalb des Berufs gem. § 43 S. 2 BRAO trotz der generalklauselartigen Weite dieser Bestimmung u m eine gesetzlich vorgesehene Maßnahme zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Dem Gesetzesvorbehalt ist auch dann Genüge getan, wenn die Generalklausel noch einen genügend fest umrissenen Inhalt hat, also nicht dermaßen unbestimmt ist, daß nicht mehr erkennbar ist, was i h r unterfällt und was nicht 9 5 . Es ist dann unschädlich, daß die Kriterien, die zur Auslegung der i m Gesetz verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe heranzuziehen sind, selbst keine gesetzliche Grundlage haben. Die Meinungsfreiheit w i r d auch nicht dadurch übermäßig eingeschränkt, daß den Rechtsanwälten von der BRAO strengere Beschränkungen der Meinungsfreiheit auferlegt werden als den übrigen Bürgern durch die allgemeinen zivil- oder strafrechtlichen Bestimmungen des Ehrenschutzes, da es demokratischen Grundsätzen entspricht, daß Rechtsanwälte wegen ihrer besonderen Stellung als unabhängige Organe der Rechtspflege auch besondere Pflichten haben. M i t einer ähnlichen Begründung wie i n diesem Fall wies die Komm, auch die Beschwerde eines anderen deutschen Rechtsanwalts ab, der wegen unsachlicher Äußerungen i n einem Brief an den Präsidenten eines 95 Dieser v o m B V G (DVB1 1967, 252) i m Hinblick auf A r t . 20 Abs. 3 GG entwickelte Grundsatz k a n n ohne weiteres auch auf das „prévues par la l o i " der M R K übertragen werden.

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OLG vom B G H (Senat für Anwaltssachen) mit einer „Warnung" belegt worden war. Zusätzlich zu dem Vorbehalt des Schutzes des guten Hufs und der Rechte anderer nannte die Komm, hier noch das Interesse an der Aufrechterhaltung der Autorität des Gerichts M i t der Zulässigkeit von Reklameverboten scheidungen des HR.

beschäftigen sich zwei Ent-

I m einen Fall war ein Fabrikbesitzer i n erster und zweiter Instanz bestraft worden, weil er auf einem Teil seines Fabrikgebäudes die I n schrift „Nederland Ontwapent" angebracht hatte, u m die Abrüstung zu propagieren, obwohl nach § 1 einer niederländischen Landschaftsschutzverordnung Grundstückseigentümern oder -besitzern das Anbringen, Belassen oder Dulden von Reklame auf Gebäuden verboten war. § 2 dieser Verordnung definierte den Begriff Reklame als Werbung jeder A r t m i t Ausnahme der Wahlpropaganda i m Wahlkampf. Während der HR i n der Strafbestimmung der Verordnung schon einen Verstoß gegen A r t . 7 der Verfassung sah und deshalb auf A r t . 10 nicht einging, vertrat der Generalstaatsanwalt i n seinem Plädoyer die Auffassung, daß sie gegen Art. 10 Abs. 2 verstößt. Überprüft man dieses landschaftsschützende Verbot der Reklame auf eigenen Gebäuden anhand der Kriterien des A r t . 10 Abs. 2, so dürfte allein der Vorbehalt zugunsten des Schutzes der öffentlichen Ordnung i n Frage kommen, da die „Rechte anderer" nur Individualrechte sein können, nicht auch Kolletivrechte der Allgemeinheit, zu denen das Interesse am Schutz der Landschaft zweifellos zu zählen ist 9 7 . Dieses Beispiel des Landschaftsschutzes zeigt, daß bei dem Begriff der öffentlichen Ordnung eine weite, dem Vorbehalt zugunsten des Allgemeinwohls bzw. des öffentlichen Interesses 98 angenäherte Auslegung geboten sein kann, da nicht anzunehmen ist, daß durch Art. 10 Abs. 2 schon grundsätzlich der Schutz solcher Interessen der Allgemeinheit auch auf Kosten der Meinungsfreiheit des einzelnen verhindert werden sollte, die zwar nicht unbedingt zu den unerläßlichen Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen 99 gehören, i n einer demokratischen Gesellschaft aber durchaus schutzwürdig sind wie z. B. der Schutz von Landschaft und Natur vor Verschandlung durch Plakate. 98

CoD 42, 82 ff. Z u m Begriff der Rechte anderer vgl. M. - Klein A n m . I V 1 a) zu A r t . 2 S. 177. 98 Vgl. oben A T Kap. V I ; B T Kap. I I I (Anm. 80). 99 Vgl. z. B. Drews-Wacke, Allgemeines Polizeirecht — Ordnungsrecht der Länder u n d des Bundes, 7. Auflage 1961 S. 73 zum polizeirechtlichen Ordnungsbegriff, den Köhler, Diss. S. 109/122 vollinhaltlich auch f ü r die M R K übernehmen w i l l . 97

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Ungeachtet dieser grundsätzlichen Schutzwürdigkeit der Landschaft auch nach A r t . 10 Abs. 2 dürfte aber das nur die Wahlpropaganda ausklammernde Verbot der Werbung auf eigenen Gebäuden zumindest i n dieser Absolutheit eine übermäßige und somit nicht mehr notwendige Einschränkung der Meinungsfreiheit sein 1 0 0 . I n dem zweiten vom HR entschiedenen F a l l 1 0 1 ging es u m eine Verordnung der Stadt Rotterdam, die das Fahren, Gehen und Stehen auf öffentlichen Straßen m i t Reklame- oder Werbematerial erlaubnispflichtig machte. Der HR führte aus, das Recht zur Verbreitung seiner Gedanken und Überzeugungen umfasse nach ständiger Rechtsprechung auch die Befugnis, Flugblätter m i t diesen Gedanken zu veröffentlichen, i n Verkehr zu bringen und sie auch von Tür zu Tür zu verteilen. Die Verordnung sei zu allgemein, da sie die Meinungsfreiheit auch da einschränke, wo das Inverkehrbringen von Werbematerial keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle und verstoße deshalb gegen A r t . 7 der Verfassung 102 . Auch nach A r t . 10 Abs. 2 kann ein Verbot der Werbung und Propaganda auf öffentlichen Straßen unter verkehrsrechtlichen Gesichtspunkten nur dann zulässig sein, wenn dadurch Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs und damit die öffentliche Ordnung zumindest gefährdet werden können 1 0 3 , was z. B. beim Verteilen von Handzetteln von Tür zu Tür zu verneinen ist. Das absolute Verbot dient also insofern objektiv nicht dem Schutz der öffentlichen Ordnung und verstößt schon deshalb gegen A r t . 10 Abs. 2. Von dem Vorbehalt der „prevention of disorder or crime" auch i m engeren Wortsinn 1 0 4 gedeckt ist die Bestrafung wegen „öffentlicher Gutheißung von ungesetzlichen Handlungen" (§ 305 östr. StGB). I m Fall der Beschwerde Nr. 5321/71 105 war der Betroffene verurteilt worden, weil er i n einem Interview i n der italienischen Zeitschrift „ L o Specchio" öffentlich Sprengstoffanschläge i n Südtirol gebilligt hatte, indem er äußerte, es sei nun an der Zeit, Italien und der Welt durch Gewalthandlungen zu zeigen, daß es so nicht weitergehen könne und daß er außerdem glaube, daß Widerstandshandlungen gegen Italien nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich gerechtfertigt seien. Die Komm, wies die Beschwerde ab, da es sich u m eine gesetzlich vorgesehene Einschränkung der Meinungsfreiheit handle, und die Bestrafung für die Äußerung des Beschwerdeführers notwendig sei i m Interesse der 100 Anderer Ansicht könnte m a n aber bei einer Beschränkung des Verbots auf kommerzielle Werbung sein (HR N J 1967,747). 101 N J 1968,14. 102 A u f A r t . 10 geht die Entscheidung nicht ein. 103 Vgl. die Formulierung des § 33 StVO. 104 Vgl. oben (Anm. 80). 105 CoD 42,105 ff.

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nationalen Sicherheit, der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung. M i t dem Schutz der Moral befaßt sich eine strafrechtliche Entscheidung des H R 1 0 6 , die die Verurteilung eines Verlegers bestätigt, der ein nach Ansicht der Vorinstanzen das Anstandsgefühl verletzendes Buch herausgegeben hatte. Der HR stand hier vor der Schwierigkeit, daß es sich dabei u m die Übersetzung eines i n Dänemark, also einem Land m i t vergleichbarer politischer und kultureller Struktur, zugelassenen Buches handelte. Das Gericht räumte auch ein, daß der Begriff der Moral Wandlungen unterworfen ist, doch bliebe die Auslegung letztlich jedem M i t gliedsstaat selbst überlassen. Zwar ist die Rechtsangleichung i n den Mitgliedsstaaten noch nicht so weit fortgeschritten, daß die Auslegungskriterien für die i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe festliegen, doch haben sie zumindst i n einem Kernbereich einen so fest umrissenen Inhalt, daß sie einer objektiven richterlichen Kontrolle zugänglich sind 1 0 7 . Allerdings dürfte gerade der Schutz der Moral i n dieser Hinsicht die größten Probleme m i t sich bringen, da hinsichtlich der Frage, was „unmoralisch" ist, noch weitgehend alles i m Fluß ist und außerdem moralische Wertungen ohnehin den größten subjektiven Einschlag haben 1 0 8 . Eine noch vertretbare Auslegung des Begriffs der „Moral", die i n einer demokratischen Gesellschaft notfalls auch durch Strafbestimmungen und auf Kosten der individuellen Grundrechtsausübung geschützt werden kann, w i r d man deshalb i m Hinblick auf A r t . 10 Abs. 2 nicht beanstanden können, nur weil ein anderer Mitgliedsstaat die gegenteilige Ansicht vertritt. Die von der Komm, entschiedenen Fälle der Einschränkung der Meinungsfreiheit bei Häftlingen betreffen vor allem die mißbräuchliche K r i t i k an den Gefängnis- und Justizbehörden. Auch Art. 25 gibt nach der Rechtsprechung der K o m m . 1 0 9 kein Recht, die der Freiheit der Meinungsäußerung gezogenen Schranken zu mißachten. I n der Beschwerde Nr. 833/60 rügte ein i n einem Arbeitshaus internierter Österreicher seine disziplinarische Bestrafung m i t Einzelhaft, hartem Lager, Wasser und Brot für sein Beschwerdeschreiben an die Komm, als Verstoß gegen Art. 10. I n diesem Schreiben hatte er das Arbeitshaus m i t einem Konzentrationslager ohne Gaskammer verglichen und geäußert, er werde darin zu rechtswidiger Zwangsarbeit heran106

N J 1968, 664. Vgl. oben A T Kap. X I I §§ 2, 3. 108 Gerade bei unbestimmten Rechtsbegriffen, die eine sittliche oder moralische Bewertung erfordern, w i r d deutlich, daß die Lehre von der zumindest theoretisch einzig richtigen Lösung n u r eine F i k t i o n ist (vgl. B V e r w G N J W 1972, 598). (Vgl. auch oben B T Kap. I (Anm. 20). 109 Vgl. dazu oben B T Kap. I (Anm. 196). 107

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gezogen, außerdem sei sein Urteil eine Schande für einen Staat, der sich als Rechtsstaat bezeichne. Die Komm, akzeptierte aber offenbar das Vorbringen der österreichischen Regierung, die ausführte, er sei nicht für die Einlegung der Beschwerde, sondern für den Mißbrauch dieses Beschwerderechts zu unwahren und beleidigenden Äußerungen bestraft worden 1 1 0 . Die Disziplinarmaßnahmen waren hier zulässig zum Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer sowie des Ansehens der Rechtsprechung gem. A r t . 10 Abs. 2. Nach den gleichen Grundsätzen ist auch die Beschwerde Nr. 1753/63 111 zu beurteilen, i n der der Beschwerdeführer u. a. seine Verurteilung wegen falscher Anschuldigung des Anstaltsdirektors i n seinen Briefen an die Komm, beanstandete. Die Komm, vertrat auch hier zu Recht die Ansicht, daß auch A r t . 25 es nicht erlaubt, grob entstellende oder unwahre Tatsachen zu verbreiten. Art. 25 beschränkt die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten i m Bereich der Meinungsfreiheit ebenso wie i m Bereich der Freiheit des Nachrichtenverkehrs 1 1 2 nur dadurch zusätzlich zu den Voraussetzungen der A r t . 8 bzw. 10 Abs. 2, daß die Einschränkungen dieser Rechte eine wirksame Ausübung des Beschwerderechts nicht behindern dürfen. Ansonsten ist auch bei A r t . 10 Abs. 2 sorgfältig zu prüfen, ob die Sicherung des mit der Freiheitsentziehung verfolgten Zwecks auch die Einschränkung anderer Grundrechte i n stärkerem Umfang als bei den i n Freiheit lebenden B ü r gern erforderlich machen kann 1 1 3 . Einem deutschen Strafgefangenen hatten die Gefängnisbehörden die Aushändigung des vollständigen Textes der DVollzO m i t der Begründung verweigert, er wolle sich damit nicht nur seiner Rechte und Pflichten vergewissern, sondern auch m i t der Presse über das deutsche Strafvollzugssystem i m allgemeinen diskutieren. Die wichtigsten Verhaltensvorschriften waren allerdings i n seiner Zelle angeschlagen. Die Komm, sah i n der Weigerung der Behörde eine notwendige Maßnahme zum Schutz der Ordnung, da sich auch die Beschränkung der Informationsfreiheit 1 1 4 aus der Situation des Gefangenen und dem Zweck der Strafhaft rechtfertige. Es ist hier zumindest zweifelhaft, ob das Ziel, Kontakte des Gefangenen mit der Presse zu verhindern 1 1 5 , es auch rechtfertigt, 110 Y B I I I , 429 ff., 443: . . le requérant a commis u n abus manifeste de son droit de recours." 111 Y B V I I I , 174 ff.; vgl. auch oben B T Kap. I I A n m . 70. 112 Vgl. oben B T Kap. I A n m . 196: das Beschwerderecht k a n n auch bei E i n haltung der von A r t . 10 Abs. 2 gezogenen Grundrechtsschranken w i r k s a m ausgeübt werden. 113 Vgl. oben A T Kap. X V I ; B T Kap. I (Anm. 162 ff.). 114 Y B V I I I , 204 ff. (die Behörde hatte dem Gefangenen auch verboten, Tageszeitungen zu abonnieren). 115

Vgl. auch oben B T Kap. I A n m . 188.

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BT — Kap. I I I : Artikel 10

dem Gefangenen die Aushändigung von Informationsmaterial über seine Rechte und Pflichten als Gefangener zu verweigern. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit diese Maßnahme einem zulässigen Strafzweck und damit der öffentlichen Ordnung dienen soll. Zuzustimmen ist dagegen einer Entscheidung des östr. V G H 1 1 6 , wonach Maßnahmen zur Kontrolle des Radioempfangs i m Gefängnis nicht gegen die M R K verstoßen, da sie i m Interesse des Schutzes von Sicherheit und Ordnung i m Gefängnis getroffen werden und damit auch notwendig sind zum Schutz der allgemeinen öffentlichen Sicherheit und Ordnung. I n der Beschwerde Nr. 1760/63 117 rügte ein österreichischer Häftling den Entzug der Schreib- und Malerlaubnis als unzulässige Beschränkung seiners Informationsfreiheit. Die Komm, hatte hier keine Zweifel, daß diese Maßnahme innerhalb der Grenzen des A r t . 10 Abs. 2 lag, da bei dem Beschwerdeführer pornographische Zeichnungen und Gedichte gefunden worden waren. Diese Maßnahme dient dem Schutz der Moral i n zulässiger Weise, da der Resozialisierungszweck der Strafhaft auch ein erzieherisches Einwirken auf den Gefangenen auf Kosten der Ausübung der Informationsfreiheit erlaubt. Die Beschwerde eines britischen Gefangenen 118 , dessen Schreiben an seinen Rechtsanwalt wegen der darin geübten mißbräuchlichen K r i t i k an den Verhältnissen i m Gefängnis von den Gefängnisbehörden beschlagnahmt worden waren, wies die Komm, sowohl i m Hinblick auf A r t . 8 als auch auf A r t . 10 mit der Begründung ab, die Freiheit des Nachrichtenverkehrs 1 1 9 sei für die Dauer der Freiheitsentziehung notwendigerweise eingeschränkt. Ebenfalls nur ungenau m i t dem „Wesensmerkmal rechtmäßiger Freiheitsentziehung" begründete die Komm, die Abweisung der Beschwerde Nr. 4517/70 120 . I n diesem Fall durfte ein österreichischer Gefangener sein Wahlrecht bei den Nationalratswahlen nicht ausüben und, zumindest eine Zeitlang, auch nicht mit seinem A n w a l t i n der Schweiz korrespondieren. Gerade das Verbot der Ausübung des (aktiven) Wahlrechts ist aber keine notwendige Konsequenz der Freiheitsentziehung und des damit verfolgten Zwecks, sondern eine zusätzliche Einschränkung des Rechts, auch seine politische Meinung i m Wege der Stimmabgabe zu äußern, 119

ö s t r . J Z 1972,306. Y B I X , 166 ff. 118 CoD 36, 61 ff. 119 w i r d der Nachrichtenverkehr nicht n u r kontrolliert, sondern auch verhindert, so schränkt dieser E i n g r i f f i n das Recht aus Art. 8 gleichzeitig auch das Recht auf freien Empfang u n d freie M i t t e i l u n g von Nachrichten u n d Ideen nach Art. 10 ein. 120 CoD 38, 90 ff., 97. Bezüglich einer Verletzung des A r t . 9 wies die K o m m , die Beschwerde wegen des unsubstantiierten Sachvortrags ab. 117

§ 3 Die Schranken der Meinungsfreiheit

189

die selbständigen Strafcharakter hat und i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Ordnung nur zulässig ist, wenn besondere Umstände i n der Tat oder der Persönlichkeit des Täters dies erfordern. M i t den bei anerkannten Kriegsdienstverweigerern während der A b leistung ihres Ersatzdienstes zulässigen Einschränkungen der A r t . 9 und 10 beschäftigt sich eine Entscheidung des belgischen Staatsgerichtshofs 121 . Danach bringt es der rechtliche Status von Dienstleistenden, gleich ob es sich um zur Armee eingezogene Wehrpflichtige oder u m Ersatzdienstleistende handelt, m i t sich, daß Einschränkungen zulässig sind, die bis zur Freiheitsentziehung reichen können. Einschränkungen der Meinungsfreiheit seien zulässig, solange sie begrenzt sind und den Erfordernissen der disziplinarischen Ordnung dienen. Weder die A r t . 14 und 18 der Verfassung noch die A r t . 9 und 10 M R K stünden solchen begrenzten Einschränkungen entgegen. Mißbräuchlich und deshalb ungültig sei aber ein Verbot aller auch m i t dem betreffenden Dienst überhaupt nicht i n Zusammenhang stehender Interviews, das zeitlich unbegrenzt gilt und keine Möglichkeit vorsieht, den daran Interessierten auf Antrag Ausnahmen zu bewilligen. Ein solches absolutes Verbot 1 2 2 widerspricht mit Sicherheit dem Gebot zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit bei grundrechtseinschränkenden Maßnahmen und ist deshalb nicht notwendig i. S. d. A r t . 10 Abs. 2. Aber auch weniger weitgehende Einschränkungen der Meinungsfreiheit bei Kriegs- und Ersatzdienstleistenden lassen sich nicht einfach m i t disziplinarischen Erfordernissen rechtfertigen, wie es das Gericht tut, sondern müssen darüber hinaus auch notwendig sein, u m einen geordneten Kriegs- oder Ersatzdienst i m Interesse der allgemeinen öffentlichen Sicherheit und Ordnung bzw. der nationalen Sicherheit zu gewährleisten. Aus diesem Grund kann auch der These des Conseil d'Etat, daß dem Ersatzdienst zugewiesene Kriegsdienstverweigerer unter keinen Umständen günstiger gestellt werden müssen als die zur Armee eingezogenen Wehrpflichtigen, nicht zugestimmt werden: zumindest i m Bereich der Meinungsfreiheit sind bei Ersatzdienstleistenden regelmäßig nicht dieselben Einschränkungen notwendig zum Schutz der inneren und äußeren Sicherheit und der öffentlichen Ordnung oder auch zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Nachrichten wie bei den Wehrpflichtigen, denen die äußere Sicherheit des Landes anvertraut ist.

121 122

Recueil des Arrêts et A v i s d u Conseil d'Etat 1970, 567. Vgl. auch oben A n m . 92.

190

B T — Kap. I : A r t i k e l 1 Kapitel I V

Artikel 11 A r t . 11 l a u t e t i n d e n a u t h e n t i s c h e n Fassungen: 1. Toute personne a droit à la liberté de réunion et à la liberté d'association, y compris le droit de fonder avec d'autres des syndicats et de s'affilier à des syndicats pour la défense de ses intérêts. 2. L'exercice de ces droits ne peut faire l'objet d'autres restrictions que celles qui, prévues par la loi, constituent des mesures nécessaires, dans une société démocratique, à la sécurité nationale, à la sûreté publique, à la défense de l'ordre et à la prévention d u crime, à la protection de la santé ou de la morale ou à la protection des droits et libertés d'autrui. Le présent article n'interdit pas que des restrictions légitimes soient imposées à l'exercice de ces droits par les membres des forces armées, de la police ou de l'administration de l'Etat.

1. Everyone has the r i g h t to freedom of peaceful assembly and to freedom of association w i t h others, including the right to form and to j o i n trade unions for the protection of his interests. 2. No restrictions shall be placed on the exercise of these rights other than such as are prescribed by l a w and are necessary i n a democratic society i n the interests of national security or public safety, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals or for the protection of the rights and freedoms of others. This A r t i c l e shall not prevent the imposition of l a w f u l restrictions on the exercise of these rights by members of the armed forces, of the police or of the administration of the State. A r t . 11 v e r e i n i g t die t r a d i t i o n e l l e n F r e i h e i t s r e c h t e d e r V e r s a m m l u n g s u n d Vereinigungsfreiheit, die i n vielen Verfassungen getrennt garantiert sind, u n d f ü g t als m o d e r n e E r g ä n z u n g noch das Recht z u m B e i t r i t t u n d zur G r ü n d u n g von Gewerkschaften hinzu1.

§ 1 Die Versammlungsfreiheit D i e Versammlungsfreiheit e r g ä n z t die M e i n u n g s f r e i h e i t nach d e r k o l l e k t i v e n Seite h i n 2 . Sie s t e h t w i e die V e r e i n i g u n g s f r e i h e i t a l l e n M e n s c h e n z u 3 , also I n l ä n d e r n u n d A u s l ä n d e r n , w o b e i A r t . 16 f ü r A u s l ä n d e r a l l e r d i n g s d a n n z u beachten ist, w e n n die V e r s a m m l u n g p o l i t i s c h e n C h a r a k t e r h a t . A r t . 11 m a c h t auch k e i n e n U n t e r s c h i e d , ob d i e V e r s a m m l u n g i n d e r Ö f f e n t l i c h k e i t , also u n t e r f r e i e m H i m m e l , o d e r i n geschlossenen R ä u m e n stattfindet. 1 2 3

Vgl. Vasak, K o n v . § 1 N r . 112 Sect V S. 60. B G H N J W 1972,1571; 1366. Nach A r t . 8 Abs. 1 GG n u r „allen Deutschen".

§ Die

erungsfreiheit

191

Herkömmlicherweise w i r d der Begriff der verfassungsrechtlich garantierten Versammlungsfreiheit beschränkt auf eine Zusammenkunft von Menschen zu dem Zweck, öffentliche Angelegenheiten zu erörtern oder eine Kundgebung zu veranstalten 4 . Die Erörterung privater Angelegenheiten fällt demnach ebensowenig unter den Schutz des A r t . I I 5 wie rein gesellige, unterhaltende oder kommerzielle Veranstaltungen 6 . Prozessionen w i r d man dagegen dem Schutzbereich des Art. 11 zurechnen können 7 , so daß bei Beschränkungen des Rechts auf Abhaltung von Prozessionen ein Fall der Schrankenkollision 8 zwischen den A r t . 9 und 11 Abs. 2 vorliegt. Die Menschenansammlung darf nicht nur ein zufälliger Zusammenlauf sein, sondern muß auf einer gemeinsamen W i l lensentschließung beruhen, die allerdings auch spontan erfolgen kann. Träger der Versammlungsfreiheit ist nur der einzelne Teilnehmer, nicht die Versammlung selbst 9 , der als bloßer „ad hoc" Gruppe die Ausübung des Beschwerderechts ohnehin schon aus praktischen Gründen kaum möglich wäre. Der Schutz des A r t . 11 gilt außerdem nur für friedliche Versammlungen. Bei der Ausarbeitung der Menschenrechtsdeklaration der V N wurde der gleichlautende Begriff i n A r t . 20 von den Autoren so definiert, daß die Versammlung „without uproar, disturbance or the use of arms" abgehalten werden müsse 10 . Schon das Mitsichführen von Waffen und nicht erst ihr Gebrauch nähme der Versammlung den friedlichen Charakter. Dagegen w i r d eine Versammlung nicht schon dadurch unfriedlich, daß sich z. B. einige wenige bewaffnete Störenfriede einschleichen, solange sich die Versammlung nicht m i t ihnen solidarisch erklärt 1 1 . Demonstrationen i n Form von Umzügen sind nur ein Unterfall der Versammlung und stehen ebenfalls unter dem Schutz des A r t . I I 1 2 . Bei der Formulierung der Einschränkungsmöglichkeiten w i r d man wohl i n erster Linie an die allgemeinen Polizeigesetze gedacht haben, die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit i m Interesse von „Sicher4

Guradze, Konv. S. 160. Vgl. Schorn S. 260. 6 Guradze Konv. S. 160. 7 A . M. Guradze, Konv. S. 161 unter Hinweis auf § 17 VersG, der jedoch Prozessionen u. ä. n u r von den Einschränkungen der §§ 1 4 - 1 6 VersG ausn i m m t , also gerade unter verstärkten Schutz stellt. 8 Vgl. oben A T Kap. I Ziff. 6. 9 Vgl. Schorn S. 259; Guradze, Konv. S. 160. 10 Vgl. Robinson S. 131; Verdoodt S. 196; i r r i g deshalb Guradze Stand S. 213, der i n der Voraussetzung der Waffenlosigkeit des A r t . 8 GG eine Verschärfung gegenüber dem M e r k m a l „friedlich" sieht, die jedoch von dem Vorbehalt der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung u n d der Verbrechensverhütung gedeckt sein soll (vgl. Partsch S. 443). 11 L G H a m b u r g DVB11952, 314. 12 L G H a m b u r g a.a.O. (zu A r t . 8 GG). 5

192

BT — Kap. I : Artikel 1

heit und Ordnung" ermöglichen. Einen Sonderfall stellen hier die sog. Bannmeilengesetze dar, die zum Schutz der inneren Sicherheit des Staates und der Demokratie überhaupt verhindern, daß Gesetze i m Parlament unter dem Druck der Straße zustande kommen 1 3 . I n den übrigen Fällen, i n denen die Ausübung des Versammlungsrechts nur m i t den Interessen der Verkehrsteilnehmer an einem möglichst ungehinderten Fortkommen kollidiert, ist unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine sorgfältige Interessenabwägung vorzunehmen: Zwar setzt die öffentlich Ordnung der Ausübung der Versammlungsfreiheit dort eine Grenze, wo die Versammlung den Verkehr für eine längere Zeit völlig zum Erliegen bringen würde, doch darf andererseits eine Versammlung i m Interesse der Aufrechterhaltung des Verkehrsflusses nicht völlig verboten, aufgelöst oder auch nur i n verkehrsarme Außenbezirke umgeleitet werden, wo die Versammlungsteilnehmer gewissermaßen „unter sich" wären. Die Verkehrsteilnehmer müssen i n einer demokratischen Gesellschaft gewisse weniger schwerwiegende Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit hinnehmen, u m es den Versammlungsteilnehmern zu ermöglichen, eine größtmögliche Zahl von Menschen über ihre Ziele zu informieren. Da Versammlungen i n der Öffentlichkeit wegen der Unbegrenztheit der Teilnehmerzahl und ihrer massensuggestiven Wirkung die Gefahr einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit sich bringen, ist sowohl ein bloßes Anmeldeerforderns 14 als auch eine Erlaubnispflicht 15 zulässig: Die Versammlungsfreiheit ist dasjenige Grundrecht der A r t . 8 bis 11, dessen freie Ausübung die weitestgehende Zurückstellung der Rechte anderer und der Allgemeinheit erforderlich macht, so daß es hier i n einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, zum Schutze der i n Art. 11 Abs. 2 genannten Rechtsgüter bereits präventiv zwischen den beteiligten Interessen abzuwägen und diese Präventivkontrolle durch Anzeige- oder Erlaubnispflichten zu ermöglichen. Dies gilt aber nicht für Versammlungen i n geschlossenen Räumen, da die hieraus resultierenden Gefahren weit geringer sind und eine Präventivkontrolle nicht erforderlich machen. Aber auch bei Versammlungen unter freiem Himmel darf die Anzeige- oder Erlaubnispflicht nicht spontan gebildete Versammlungen einschließen, da sonst das Recht, sich friedlich zu versammeln, faktisch auf vorher geplante Versammlungen beschränkt wäre: dies würde einen unzulässigen Eingriff i n den Kernbereich der Versammlungsfreiheit bedeuten. Die Zulässigkeit von Bedingungen und Auflagen für die Versammlung bestimmt sich danach, ob sie i m Einzelfall notwendig sind, u m bestimmte Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und die Rechte anderer abzuwehren. 18 14 15

Vgl. Guradze, Stand S. 213. Vgl. B V e r w G NJW1967,1191. Vgl. auch H R N J 1968,18; 266 (oben A n m . 68/69).

§ Die

ereinungsfreiheit

193

Die Auflage, sich „friedlich" zu versammeln, ist dagegen kein Eingriff i n A r t . 11 Abs. 1, da die Versammlungsfreiheit nur unter dieser Voraussetzung gewährleistet ist. § 2 Die Vereinigungsfreiheit

Schwierigere Fragen als bei der i m wesentlichen dem nationalen Verfassungsstandard entsprechenden Versammlungsfreiheit 16 ergeben sich bei der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit des A r t . 11. Das Recht, sich frei m i t anderen zusammenzuschließen einschließlich des Rechts, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten, gilt für Ausländer nur unter dem Vorbehalt des A r t . 16. Sofern sie dagegen unpolitische Vereinigungen, z. B. zur Pflege der heimatlichen K u l t u r 1 7 gründen oder ihnen beitreten, haben sie dieselben Rechte wie die Inländer. Vereinigungen i. S. d. A r t . 11 sind auch die politischen Parteien. Davon ging auch die Komm, i n der KPD-Entscheidung aus 18 , doch erübrigte sich dort eine Prüfung des A r t . 11 wegen der weitergehenden Bestimmung des A r t . 17, wonach auch Parteien, deren politisches Programm auf eine Abschaffung oder Verkürzung der i n der M R K garantierten Rechte und Freiheiten hinzielt, sogar ohne gesetzliche Ermächtigung 1 9 verboten werden können. Das gesetzlich vorgesehene Verbot von Parteien m i t totalitären, auf Abschaffung oder Verkürzung demokratischer Grundrechte gerichteten Bestrebungen wäre allerdings auch eine nach A r t . 11 Abs. 2 zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (Grundrechtsträger) zulässige Maßnahme 2 0 . N u r nach A r t . 11 Abs. 2 wäre dagegen das Verbot einer Partei zulässig, die zwar das bestehende politische System gewaltsam verändern, dabei jedoch weder die Rechte und Freiheiten der M R K noch allgemein die Garantien demokratischer Rechtsstaatlichkeit i. S. d. A r t . 17 abschaffen oder verkürzen w i l l , wie es z. B. bei der angestrebten Umwandlung einer Republik i n eine konstitutionelle Monarchie der Fall wäre. W i r d ein solches Ziel friedlich angestrebt, so dürften nicht einmal die Voraussetzungen des A r t . 11 Abs. 2 vorliegen. Dagegen genügt bereits ein Kampf m i t geistigen Waffen, wenn eine Partei gegen die Völkerverständigung arbeitet: Unter den heutigen politischen Verhältnissen reicht es bereits aus, wenn die Partei oder Vereinigung aufgrund ihrer ideolo16 W o h l aus diesem G r u n d liegen hierzu, soweit ersichtlich, keine Entscheidungen der K o m m . vor. 17 Vgl. Guradze, Stand S. 212. 18 Y B 1,222 (vgl. auch oben A T Kap. I X A n m . 45). 10 Vgl. Guradze, Stand S. 215. 20 Vgl. Guradze, K o n v . S. 166 (vgl. auch oben A T Kap. I X A n m . 55).

13 Hoffmann-Remy

194

BT — Kap. I : Artikel 1

gischen Einstellung eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben der Völker darstellt, u m eine Beeinträchtigung auch der äußeren (nationalen) Sicherheit des Landes zu bewirken, die ein Eingreifen notwendig macht 21 . Z u m Schutz der inneren Sicherheit kann der Staat den Parteien, die ja potentiell oder sogar tatsächlich i n einer parlamentarischen Demokratie die Macht ausüben, vorschreiben, daß ihre Statuten demokratischen Grundsätzen entsprechen und über die Herkunft der finanziellen M i t t e l eine öffentliche Rechnungslegung erfolgt, da totalitäre Strukturen und Bestrebungen innerhalb einer Partei die innere Sicherheit des Landes genauso gefährden wie ihre Abhängigkeit von u. U. kleinen, aber finanzstarken Interessengruppen 22 . Das Verbot bewaffneter oder krimineller Vereinigungen rechtfertigt sich ohne weiteres i m Interesse der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung sowie der Verbrechensverhütung 23 . Die Problematik der „freedom of association" liegt weniger i n A r t und Umfang der nach A r t . 11 Abs. 2 zulässigen Einschränkungen dieses Rechts als vielmehr schon i n der durch Auslegung zu ermittelnden Bedeutung dieses Begriffs selbst 24 . Nach seinem Wortlaut gibt Art. 11 nur das Recht, sich frei zusammenzuschließen bzw. eine Gewerkschaft zu bilden oder i h r beizutreten, scheint also nur die positive Vereinigungsfreiheit zu gewährleisten. Die i n A r t . 20 Abs. 2 der Menschenrechtsdeklaration der V N 2 5 daneben ausdrücklich garantierte negative Vereinigungsfreiheit, d. h. das Recht, einer Vereinigung fernbleiben zu dürfen, wurde (u. a.) aus Rücksicht auf das i n Großbritannien existierende „closed shop system" 2 6 zumindest nicht expressis verbis i n A r t . 11 übernommen. Da aber das Recht zur Gründung bzw. auf Mitgliedschaft i n einer Vereinigung nur für den überhaupt sinnvoll ist, der nicht gleichzeitig gezwungen werden kann, einer anderen Vereinigung m i t möglicherweise ganz konträren Zielsetzungen anzugehören, dürfte die negative Vereinigungsfreiheit als i n der positiven impliziert anzusehen sein 27 . 21 Vgl. Partsch S. 444. Guradze, K o n v . S. 166 p r ü f t hier dagegen n u r die „Rechte anderer" (Staaten) u n d die Verbrechensverhütung. 22 Vgl. Guradze, Stand S. 216. 23 Vgl. Ermacora S. 289. 24 Vgl. oben A T Kap. I Ziff. 1. 25 " N u l ne peut être obligé de faire partie d'une association." 26

Vgl. Partsch S. 445; Weil S. 68; Robinson S. 131; Verdoodt S. 197; Sproedt , B., Koalitionsfreiheit u n d Streikrecht i n den universellen u n d europäischen Kollektivabkommen, Diss. Heidelberg S. 18 Ä n m . 2. 27 Vgl. Partsch S. 445; Guradze, Konv. S. 164. A. M. Sproedt S. 19: Sinnvolle Erwägungen allein dürfen nicht dazu führen, entgegen der Entstehungsgeschichte u n d ohne jeden A n h a l t s p u n k t i m Wortlaut die negative Koalitionsfreiheit i n die Vorschrift „hineinzuinterpretieren".

§ Die

ereinungsfreiheit

195

Auch die Komm, vertritt diesen Standpunkt i n ständiger Rspr., erstmals, soweit ersichtlich, i n der Entscheidung über die Beschwerde Nr. 4072/6928. I n diesem Fall bestätigte die Komm, einem Elektriker, der angeblich von seiner (privaten) Firma nur deshalb entlassen wurde, w e i l er keiner der i n der Belegschaft vertretenen Gewerkschaften angehörte, daß A r t . 11 auch die negative Koalitionsfreiheit umfaßt, wies die Beschwerde aber mangels einer Verletzung dieses Rechts durch den Staat ab: die M R K verpflichte nicht Private und enthalte auch kein Recht auf Arbeit. Der Beschwerdeführer behauptete aber außerdem, das zuständige Arbeitsministerium habe durch einen Antrag auf Beihilfe zu seinen Gunsten gem. A r t . 56 Abs. 2 E G K S V 2 9 zumindest mittelbar seine Entlassung als berechtigt anerkannt. Die Komm, lehnte aber zu Recht auch eine mittelbare D r i t t w i r k u n g ab 3 0 , indem sie feststellte, daß die M R K auch kein Recht auf behördlichen Schutz vor ungerechtfertigt erscheinenden Entlassungen durch private Arbeitgeber enthält. Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß die Frage der Garantie der negativen Koalitionsfreiheit ganz hinter der weiteren Frage zurücktritt, was ein nur „staatsgerichteter" 3 1 A r t . 11 dem Arbeitnehmer nützen soll, dessen (negative) Vereinigungsfreiheit doch heute seitens der Unternehmer, der Arbeitgeber«, ja sogar der Arbeitnehmerverbände selbst i n weit stärkerem Maß bedroht ist als durch den Staat 3 2 . Nicht ausdrücklich entschieden hat die Komm, bisher die Frage, ob die negative Vereinigungsfreiheit auf privatrechtliche Zusammenschlüsse beschränkt ist oder auch gegenüber öffentlich-rechtlichen Vereinigungen eingreift. Sie wies zwar die Beschwerde eines niederländischen Rinderzüchters 33 gegen seine Zwangsmitgliedschaft i n der staatlichen Gesundheitsorganisation zur Verhinderung der Rindertuberkulose mangels einer „Verletzung" des A r t . 11 zurück, doch läßt diese insofern nicht näher begründete Entscheidung keine Schlüsse darauf zu, ob die Zwangsmitgliedschaft i n einem öffentlich-rechtlichen Verband schon nicht unter A r t . 11 Abs. 1 fallen oder aber nur nach Abs. 2 zulässig sein soll. Das Appellationsgericht Leeuwarden 3 4 erkannte die Problematik, ließ die Entscheidung aber ausdrücklich offen. Das Gericht äußerte zwar seine Zweifel an der Anwendbarkeit des A r t . 11 auf die Zwangszugehörigkeit zu einer öffentlich-rechtlichen Landwirtschaftskammer, hielt sie aber 28

Y B X I I I , 708 ff. Solche Beihilfen werden u. a. gewährt, u m Arbeitnehmer zeitweise zu unterstützen, deren Entlassung infolge von Absatzschwierigkeiten i n der K o h l e - u n d Stahlindustrie notwendig wurde. 30 Vgl. auch oben A T Kap. X V Y B X I I I 718. 31 Vgl. Sproedt S. 30 A n m . 3. 32 Vgl. dazu Sproedt, S. 13/14. 33 Y B V, 278 ff. (vgl. auch oben B T Kap. I I A n m m . 44). 34 N T 1965,180. 29

13*

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BT — Kap. I : Artikel 1

i n jedem Fall für eine nach A r t . 11 Abs. 2 zulässige Maßnahme zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Das B V G 3 5 sieht i n der Freiwilligkeit ein wesentliches Merkmal der Vereinigung, A r t . 9 GG gelte deshalb nur für private, nicht auch für öffentlich-rechtliche Verbände und Körperschaften. Für A r t . 11 dürfte das gleiche gelten, da es auch i n England und Frankreich kammerähnliche Berufe g i b t 3 6 und sowohl der englische als auch der französische Begriff „association" üblicherweise i n erster Linie für freiwillige Zusammenschlüsse verwendet wird. Die Kommission hat darüber hinaus zunächst geglaubt, die „freedom of association" einschränkend nur als Recht auf schlichte Mitgliedschaft interpretieren zu müssen 37 : Danach soll das Recht, sich an der Leitung oder Verwaltung einer Berufsorganisation oder auch einer nicht gewerblichen Vereinigung beteiligen zu dürfen, nicht unter den klassischen Begriff der Vereinigungsfreiheit fallen. Da die wegen Kollaboration verurteilten Beschwerdeführer, denen dieses Recht abgesprochen worden war, weiterhin frei waren, eine Vereinigung zu bilden oder i h r beizutreten, sei A r t . 11 hier nicht verletzt. Die „freedom of association" ist aber nur dann sinnvoll, wenn sie sich nicht i n einem Recht auf schlichte Mitgliedschaft erschöpft: Wer frei ist, eine Vereinigung zu gründen oder i h r beizutreten, muß auch das nur durch die Regeln der betreffenden Organisation beschränkte Recht 38 haben, sich an der Willensbildung dieser Vereinigung auch durch Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts zu beteiligen und sich nach außen als i h r Vertreter für die von der Vereinigung verfolgten Ziele ohne Behinderung durch staatliche Maßnahmen einzusetzen. I n ihren neueren Entscheidungen scheint die Komm, diesen Bedenken auch Rechnung tragen zu wollen. I n der Beschwerde Nr. 4125/69 vertrat sie die Ansicht, daß A r t . 11 auch die freie Ausübung gewerkschaftlicher Funktionen durch das einzelne Gewerkschaftsmitglied schützt 39 . I n diesem Fall war ein i n einem irischen Elektrizitätswerk beschäftigter Amerikaner von der Belegschaft zum Betriebsrat (shop-steward) gewählt worden. Als er sich i n dieser Funktion weigerte, der Beschäftigung von nicht gewerkschaftlich organisierten Hilfsarbeitern an sonst von Facharbeitern besetzten Arbeitsplätzen zuzustimmen, soll i h m sein Arbeitgeber den Rücktritt als Betriebsrat nahegelegt haben. I m Falle des Rücktritts habe er i h m eine Lebensstellung angeboten, i h m aber i m Weigerungsfall m i t dem Verlust seines Arbeitsplatzes gedroht. 35 36 37 38 30

Vgl. z. B. B V G E 10,89 ff., 102 („Erft-Verband"). Vgl. Guradze, K o n v . S. 164/165. Y B I V , 325 ff., 329 (vgl. auch Vasak, K o n v . Sect. V § 1 Nr. 112 S. 60). Vgl. dazu A r t . 2 der I L O Convention 1948 unten (Anm. 47). CoD 37, 38 ff. (Teilentscheidung), 42 ff. (Endentscheidung).

§ Die

ereinungsfreiheit

197

Das Elektrizitätswerk war zwar öffentlich-rechtlich organisiert, d. h. der Staat hatte i n einer Satzung die wesentlichen Aufgaben und die Organisationsform festgelegt und ein Startkapital aus öffentlichen M i t t e l n zur Verfügung gestellt, doch war der Vorstand bei der Erfüllung seiner Aufgaben unabhängig vom Staat, so daß er auch für die Geschäfte der laufenden Verwaltung allein verantwortlich war. Die Komm, stellte aber die Untersuchung der Frage, ob aus der allgemeinen Staatsaufsicht eine Verantwortlichkeit der Regierung für die Maßnahmen des Vorstands gegenüber den Arbeitnehmern abgeleitet werden kann, zurück, und untersuchte zunächst Inhalt und Umfang der „freedom of association". Die Komm, kam zu dem Ergebnis, daß zumindest die gewerkschaftliche Koalitionsfreiheit („right to form and to join trade unions") des Art. 11 noch weitere Elemente enthält als das schlichte Recht auf M i t gliedschaft. Darauf lasse ein Vergleich m i t der I L O Convention Nr. 87 von 1948 („Freedom of Association and Protection of the Right to Organize") schließen, die i n A r t . 3 unter den i n Teil I dieser Konvention aufgezählten Elementen der „freedom of association" auch das Recht von Arbeitern und Angestellten nennt, ihre Vertreter frei zu wählen und ihre Verwaltung zu organisieren 40 . Bis auf die Türkei hätten alle M i t gliedsstaaten der M R K diese Konvention ratifiziert, außerdem sei aus den Vorarbeiten die Verwandtschaft des A r t . 11 zu dem entsprechenden Art. 22 des „Convenant on Civil and Political Rights 1 ' ersichtlich, der sich i n seinem Abs. 3 ausdrücklich auf die I L O Konvention bezieht. Aus diesem Grund könnten auch Entlassungsdrohungen oder andere auf Niederlegung des Betriebsratsamtes gerichtete Handlungen unter bestimmten Umständen die rechtmäßige Ausübung der Koalitionsfreiheit ernsthaft einschränken oder verhindern. Die Komm, wies die Beschwerde aber als unzulässig ab, da der Beschwerdeführer von der auch nach irischem Recht gegebenen Möglichkeit, gegen eine angebliche Verletzung seiner Koalitionsfreiheit Gerichtsschutz zu erlangen, keinen Gebrauch gemacht hatte. Offen bleibt nach dieser Entscheidung, ob die Komm, die hier vertretene Auslegung des Begriffs „freedom of association" auch auf die nichtgewerkschaftliche Vereinigungsfreiheit übertragen würde. Ebenso bleibt ungeklärt, ob A r t . 11 auch den Staat i n seiner Eigenschaft als Arbeitgeber verpflichtet 41 . Das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit steht i m Gegensatz zur Versammlungsfreiheit nicht nur dem einzelnen Bürger zu, sondern gibt auch der Vereinigung selbst ein Recht auf Entstehen und Bestehen 42 . Daraus 40

„ t o elect their representatives i n f ü l l freedom" bzw. „to organize their administration". 41 Vgl. dazu unten (Anm. 61). 42

GG).

Vgl. Schorn S. 259; Guradze, Konv. S. 163; BVGE 13, 174, 175 (für Art. 9

198

BT — Kap. I : Artikel 1

ergibt sich, ungeachtet ihrer Rechtsfähigkeit 43 , auch die Beschwerdefähigkeit der Vereinigung i. S. d. A r t . 25. I m Hinblick auf diese Grundrechtsträgerschaft der Vereinigung stellen sich mehrere Fragen: 1. Gibt A r t . 11 der Vereinigung das sich nicht nur i m Gründungsakt und i n einem ungehinderten passiven Bestehen erschöpfende Recht, sich auch aktiv für die Durchsetzung der m i t dem Zusammenschluß verfolgten Ziele einsetzen zu können, ohne dabei durch staatliche Maßnahmen behindert zu werden? 2. Wäre i n diesem Fall der Staat auch i n seiner Funktion als Tarifpartner aus A r t . 11 verpflichtet, die gewerkschaftliche Tätigkeit zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder nicht zu beeinträchtigen? 3. Kann der Staat als Tarifpartner darüber hinaus sogar verpflichtet sein, m i t allen Gewerkschaften zu verhandeln und Tarifabkommen zu schließen, u m sie nicht vor die Alternative zu stellen, entweder bedeutungslos zu werden oder sich einer anderen, vom Staat als Verhandlungspartner akzeptierten Gewerkschaft anzuschließen? Bei der Komm, sind einige Beschwerden eingebracht worden, die diese Fragen aufwarfen, u. a. die Beschwerde Nr. 4475/7044, die allerdings von der Komm, i n der Schlußentscheidung wegen Nichteinhaltung des Sechsmonatsfrist abgewiesen werden mußte, so daß es hier zu keiner Sachentscheidung kam. Beachtung verdient hier aber die i n der Teilentscheidung vom 24. 5. 71 veröffentlichte Ansicht des Vertreters der schwedischen Regierung, die sich i n einer rechtsvergleichenden Betrachtung m i t dem Inhalt der „freedom of association" beschäftigt. Der beschwerdeführende Schwedische Pilotenverband hatte hier die Verletzung seiner Koalitionsfreiheit gerügt, weil sich der schwedische Staat, vertreten durch die S A V 4 5 , weigerte, m i t ihm einen Tarifvertrag abzuschließen. Es gehörte zur Politik der SAV, nur m i t den 4 größten Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Tarifabkommen zu schließen, u m eine Zersplitterung der die Staatsbediensteten repräsentierenden Gewerkschaften und damit auch mögliche Einzelstreiks kleinerer Gruppen zu verhindern. Ursprünglich war der Pilotenverband einer dieser größeren Gewerkschaften, der TCO-S, angeschlossen, verlangte dann aber nach der Trennung ein separates Abkommen, obwohl nach einer „Außenseiterverordnung" die m i t den 4 größeren Gewerkschaften geschlossenen Tarifabkommen allgemeinverbindlich waren, also auch für die Mitglieder des Pilotenverbandes galten. 43

Vgl. dazu oben B T Kap. I I I (Anm. 17). CoD 38, 68 ff. (Teilentscheidung), CoD 42,1 ff. (Schlußentscheidung). 45 „Statens avtalsverk", eine Behörde, die Kollektivverträge f ü r Staatsbedienstete aushandelte. 44

§ Die

ereinungsfreiheit

199

Der Pilotenverband hatte daraufhin erfolglos vor einem Arbeitsgericht die Verletzung eines schwedischen Gesetzes behauptet, das die Sozialpartner, also auch den Staat i n seiner Funktion als Arbeitgeber, zur Verhandlung über alle tarifvertraglich regelbaren Angelegenheiten m i t der Gegenseite verpflichtete. Da diese Verhandlungspflicht nicht auch die Pflicht beinhaltete, zu einer Einigung zu kommen, sah das Gericht diese Bestimmung auch nicht dadurch verletzt, daß die SAV sich schon vor Verhandlungsbeginn geweigert hatte, ein Abkommen m i t dem Pilotenverband zu schließen. Vor der Komm, rügte der Pilotenverband dann die Verletzung des A r t . 11, da die SAV die Absicht gehabt habe, den Pilotenverband zu vernichten, indem sie die i h m angeschlossenen Piloten zwingt, zur w i r k samen Geltendmachung ihrer Rechte einer Organisation nach Wahl des Staates beizutreten. Wenn der Staat sich weigere, m i t bestimmten Gewerkschaften Abkommen zu schließen, bedeute das eine faktische Einschränkung der Koalitionsfreiheit, auch wenn rechtlich gesehen niemand daran gehindert werde, ihnen beizutreten 46 . Die schwedische Regierung sah i n dem Verhalten der SAV keinen Eingriff i n das Recht auf Bildung und Beitritt i n eine Gewerkschaft, untersuchte aber, ob die „freedom of association" neben der von der Komm, bestätigten 47 negativen Koalitionsfreiheit noch weitere Elemente enthält. Für die Definition dieses Begriffs i n A r t . 11 zog sie die I L O Convention von 1948 heran: Danach haben sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer das Recht, ohne vorherige Genehmigung und nur an die Regeln der Organisation gebunden, Organisationen zu gründen und ihnen nach freier Wahl beizutreten (Art. 2). A r t . 3 dieser I L O Convention gibt Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen das Recht, sich eigene Satzungen und Regeln zu geben, ihre Vertreter frei zu wählen und ihre Verwaltung und Tätigkeit ungehindert von staatlichen Eingriffen zu organisieren. A r t . 4 schützt Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen vor staatlichem Verbot und Auflösung. I n A r t . 5 w i r d diesen Organisationen das Recht garantiert, sich ihrerseits zu Verbänden und Vereinigungen zusammenzuschließen bzw. bestehenden Verbänden beizutreten. Die Vereinigungsfreiheit w i r d außerdem geschützt von den A r t . 20 und 23 Abs. 4 der Menschenrechtsdeklaration der VN, A r t . 8 Abs. 1 des Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, A r t . 22 Abs. 1 des Covenant on Civil and Political Rights, A r t . 5 und 6 der Europäischen 46 Diese Argumentation beruft sich auf den Schutz auch der freien M o t i vation bei der Grundrechtsausübung des A r t . 11 (vgl. dazu oben B T Kap. I (Anm. 107). 47 Vgl. oben A n m . 28.

200

BT — Kap. I : Artikel 1

Sozialcharta („right to organize 48 , right to bargain collectively"), aber nirgends so klar definiert wie i n der 1948er I L O Convention. Da diese zwischen „freedom of association " (Teil I) und „right to organize" (Teil II) unterscheidet, sieht die schwedische Regierung i n dem Recht auf Organisation ein selbständiges, über die „freedom of association" hinausgehendes Recht, das i n A r t . 11 nicht enthalten sei. Aus der Definition des Begriffs „freedom of association" i n Teil I der I L O Convention von 1948 ergebe sich zwar, daß auch A r t . 11 Arbeitgeberund Arbeitnehmerorganisationen das Recht gibt, ihre Funktion ohne Beeinträchtigung durch staatliche Maßnahmen gleich welcher A r t wahrnehmen zu können, doch könne dies nicht auch für die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern gelten 49 , und zwar auch dann nicht, wenn der Staat einer dieser Sozialpartner ist. Der Staat übe bei Verhandlungen m i t Arbeitnehmerorganisationen und beim Abschluß von Kollektivverträgen keine öffentliche Tätigkeit aus und habe dabei denselben Status wie andere Arbeitgeber. Die Ansicht des Pilotenverbandes, nach der aus A r t . 11 für den Staat eine Pflicht zum Abschluß des Tarifvertrags 5 0 folgen soll, lege der „freedom of association" einen sehr weitgehenden Sinn zugrunde, der den internationalen Abkommen, aber auch der noch sehr viel engeren Ansicht der Komm, i n Y B I V , 325 51 widerspreche. Für zulässig erklärte die Komm, dagegen die Beschwerde Nr. 5614/7262 einer unabhängigen Gewerkschaft für das Lokomotivpersonol der schwedischen Eisenbahn, die sich ebenfalls unter Berufung auf A r t . 11 gegen die Weigerung der SAV richtete, m i t kleineren Gewerkschaften separate Tarif abkommen zu schließen. Eine vergleichbare Problematik liegt auch der von der Komm, unter Hinweis auf die Beschwerde Nr. 4475/70 für zulässig erklärten Beschwerde Nr. 4464/7053 zu Grunde. Beanstandet wurde hier die Weigerung des belgischen Innenministers, das „Syndicat National de la Police Beige" als eine der Gewerkschaften anzuerkennen, die nach belgischem Recht 54 zur Beratung bei der Abfassung von Rahmenbestimmungen herangezogen werden müssen, die u. a. die Bezahlung und die Bedingungen für die Einstellung und Beförderung der Gemeinde- und Provinzpolizisten regeln. 48 D a r i n ist nach Ansicht der schwedischen Regierung die „freedom of association" impliziert. 49 Vgl. oben § 2 Ziff. 2. 50 Vgl. oben § 2 Ziff. 3. 51 Vgl. oben A n m . 37. 52 CoD 42,130 ff. 53 CoD 39,26 - 30 (Teilentscheidung), 42/43 (Schlußentscheidung). 54 Danach waren die Vertreter der mitgliederstärksten Gewerkschaften („des organisations les plus représentatives") zu konsultieren.

§ Die

ereinungsfreiheit

201

Die Gewerkschaft war der Ansicht, die Entscheidung der belgischen Regierung, nur die drei größten Gewerkschaften zur Beratung heranzuziehen, sie aber auszuschließen, beeinträchtige ihre Entwicklung i n unzulässiger Weise und verstoße gegen die A r t . 11, 14 und 17. Das Recht zur Gewerkschaftsgründung umfasse auch das Recht der Gewerkschaft, aktiv handelnd die Interessen ihrer Mitglieder wahrzunehmen 5 ®. I n der ebenfalls für zulässig erklärten Beschwerde Nr. 55Ö9/7256 stellt sich die Frage, inwieweit der Staat auch als Dienstherr seinen Beamten gegenüber aus A r t . 11 allein oder i. V. m. A r t . 14 verpflichtet ist. Ein Stockholmer Professor und ein Offizier der schwedischen Armee rügten hier die diskriminierende Behandlung der Gewerkschaften, denen sie jeweils angehörten. Die SAV hatte die Tarifverhandlungen m i t den beiden Gewerkschaften abgebrochen, worauf diese einen Streik ausriefen 57 . Die S A V vereinbarte daraufhin i n dem schließlich m i t den anderen Gewerkschaften geschlossenen Tarifabkommen eine Lohnerhöhung, die aber rückwirkend nur für die Mitglieder der tarifvertraglich gebundenen Gewerkschaften und für solche „Außenseiter" gelten sollte, die sich nicht an dem Streik beteiligt hatten. Die Mitglieder der beiden Gewerkschaften, die den Streik ausgerufen hatten, waren damit von der Rückwirkung der Lohnerhöhung ausgeschlossen. Die Beschwerdeführer rügten eine Verletzung ihres Rechts auf freie Organisation („right to organize") aus A r t . 11, da ihre Gewerkschaften allein deshalb diskriminiert worden seien, w e i l sie während der Tarifverhandlungen zu M i t t e l n des Arbeitskampfes gegriffen hätten. Ohne zu diesen noch nicht abgeschlossenen Verfahren i m einzelnen Stellung nehmen zu wollen, kann generell folgendes gesagt werden: Unter Berücksichtigung der anderen internationalen Abkommen 5 8 und nach einer an Sinn und Zweck des A r t . 11 orientierten Auslegung des Begriffs „freedom of association" muß man zu dem Ergebnis kommen, daß jede Vereinigung, also auch die Gewerkschaften, das Recht hat, sich aktiv für die Verwirklichung der m i t dem Zusammenschluß verfolgten Ziele einsetzen zu können, ohne dabei durch den Staat behindert zu werden6«. Insbesondere die gewerkschaftliche Koalitionsfreiheit ist nur dann sinnvoll, wenn die Gewerkschaften auch berechtigt sind, durch ihre frei 56

Vgl. oben § 2 Ziff. 1. CoD 42,123 ff. 57 Seit 1966 w i r d das Dienstverhältnis der Beamten i n Schweden t a r i f v e r traglich geregelt. Streik u n d Aussperrung sind auch bei Beamten zulässige Arbeitskampfmittel. 58 Vgl. oben (Anm. 47 ff.). 59 Vgl. auch oben § 2 Ziff. 1. M

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BT — Kap. I : Artikel 1

gewählten Vertreter zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder auch nach außen hin tätig zu werden. Ebensowenig kann sich aber dann die Vereinigungs- bzw. Koalitionsfreiheit des einzelnen i n einem Recht auf schlichte Mitgliedschaft erschöpfen, vielmehr muß auch jedes Mitglied das Recht haben, sich an der Willensbildung der Vereinigung oder Gewerkschaft zu beteiligen und als i h r gewählter Vertreter nach außen auftreten zu können 6 0 . Die A n t w o r t auf die zweite Frage 6 1 ergibt sich aus A r t . 11 Abs. 2 S. 2: Der Staat ist auch als Dienstherr seiner Beamten, Soldaten und Richter, aber auch der Arbeiter und Angestellten i m öffentlichen Dienst, Adressat der Verpflichtung, die Rechte aus Art 11 zu achten, da andernfalls die Ermächtigung zur Einschränkung dieses Grundrechts bei den i n dieser Bestimmung genannten Personengruppen sinnlos wäre 6 2 . Der Staat ist demnach auch i n seinem tarifpolitischen Verhalten zur Achtung der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit seiner Bediensteten bzw. der von diesen gebildeten Gewerkschaften verpflichtet. Dagegen w i r d man aus A r t . 11 kaum eine generelle Pflicht des Staates, m i t allen dazu bereiten Gewerkschaften Tarifabkommen zu schließen, herleiten können 6 3 , nur um diesen Gewerkschaften nicht die Anziehungskraft auf eigene oder potentielle Mitglieder zu nehmen. Eine derartige Weigerung könnte allenfalls unter besonderen Umständen einmal gegen Art. 11 i. V. m. A r t . 14 verstoßen. Wegen dieser noch zu klärenden und logisch vorrangiger Auslegungsfragen hinsichtlich des Schutzbereichs der Vereinigungsfreiheit hatte die K o m m bisher, soweit ersichtlich, noch keinen Anlaß, auf die Einschränkungsmöglichkeiten dieses Rechts einzugehen. Allgemein m i t dem öffentlichen Interesse rechtfertigte eine niederländische Entscheidung 64 die Weigerung der Behörden, die Erlaubnis zur Gründung einer Homosexuellenvereinigung zu erteilen, die sich den Abbau der bestehenden Vorurteile und die Anpassung der Homosexuellen an die Gesellschaft zum Ziel gesetzt hatte. Anders als die sich i m Bereich der Privatsphäre haltende, wenn auch von der Allgemeinheit mißbilligte Homosexualität 65 , t r i t t ein solcher Zusammenschluß i n einen Gegensatz zum öffentlichen Interesse, der ein Verbot i n einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Ordnung und der Moral notwendig erscheinen läßt. 60

Vgl. oben (Anm. 38). Oben § 2 Ziff. 2. 02 Auch „members of the administration of the State" dürfte hier w e i t auszulegen sein, so daß darunter auch Richter fallen. 63 Vgl. oben § 2 Ziff. 3. 64 K B N Y I L 1973, 243 ff. 85 Vgl. oben B T Kap. I (Anm. 14). 81

§ 3 Die besondere Einschränkungsregel des A r t . 11 Abs. 2 S. 2

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§ 3 Die besondere Einschränkungsregel des Art. 11 Abs. 2 S. 2

Die Besonderheit des Art. 11 Abs. 2 besteht darin, daß er i m Gegensatz zu den A r t . 8 - 1 0 Abs. 2 die Ausübung der i n Abs. 1 garantierten Rechte für Mitglieder der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung* 6 besonderen Vorbehalten unterwirft. Die Staaten können die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit dieser Personen einschränken, sofern es sich u m „restrictions légitimes/law fui restrictions" handelt. Während der amtliche deutsche Text von „gesetzlichen Einschränkungen" spricht, sind die Begriffe der authentischen englischen und französischen Fassungen mehrdeutig 6 7 : Sowohl „ l a w f u l " als auch „légitime" kann m i t rechtmäßig, gerecht, legitim, m i t gesetzlich gültig oder anerkannt, aber auch m i t gesetzlich, gesetzmäßig, legal übersetzt werden. A r t . 11 Abs. 2 S. 2 könnte sich demnach entweder auf einen bloßen (formellen oder materiellen) Gesetzesvorbehalt beschränken, der sich inhaltlich trotz anderer Formulierung nicht von den i n den A r t . 8 - 1 0 Abs. 2 und auch 11 Abs. 2 S. 1 verwendeten Ausdrücken „prévue par la loi/ prescribed by l a w " bzw. „ i n accordance w i t h the l a w " unterscheiden würde, oder aber die Rechtmäßigkeit der grundrechtseinschränkenden Maßnahme i. S. d. Wahrung allgemein rechtsstaatlicher Grundsätze fordern. Ein Blick auf die übrigen Bestimmungen der M R K zeigt, daß die A u toren i n der sprachlichen Unterscheidung zwischen Rechtmäßigkeit und Gesetzesvorbehalt nicht konsequent waren. Wohl eindeutig den Gesetzesvorbehalt meinen die A r t . 5 Abs. 1 S. 2 und 6 Abs. 1 S. 1. A r t . 5 Abs. 1 S. 2 nennt als allgemeine, „vor die K l a m mer gezogene" Voraussetzung, unter der i n den Fällen des Abs. 1 a - f der Entzug der Freiheit zulässig ist, die Einhaltung eines gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens: „selon les voies légales/in accordance w i t h a procédure prescribed by l a w " 6 8 . Das Recht auf gerichtliches Gehör i n A r t . 6 Abs. 1 S. 1 gibt einen Anspruch, von einem gesetzlich errichteten Gericht („tribunal établi par la loi/tribunal established by law") gehört zu werden.

68 Zutreffender als diese amtliche deutsche Fassung wäre die Übersetzung „Angehörige des öffentlichen Dienstes", da z. B. Kommunalbedienstete sicher nicht ausgenommen werden sollten. 87 A . M . offenbar Guradze, K o n v . S. 173, der diese Doppeldeutigkeit n u r i n der franz. Fassung sieht, während „ l a w f u l " n u r rechtmäßig bedeuten soll. 88 Noch deutlicher w a r A r t . 6 Abs. 2 des Entwurfs von 1950: " N o one shall be deprived of his l i b e r t y except on such grounds and i n accordance w i t h such procedure as are established by law"

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BT —Kap. I : Artikel

Auch A r t . 12 meint eindeutig eine gesetzliche Regelung 69 . I n den übrigen Fällen der i m I. Abschnitt der M R K genannten Rechte und Freiheiten ist dagegen nur die Rechtmäßigkeit gemeint: A r t . 5 Abs. 1 a): rechtmäßige Haft („lawful detention/s'il est détenue régulièrement") A r t . 5 Abs. 4: gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft („lawfulness of his détention/ légalité de sa détention") A r t . 6 Abs. 2: Unschuldsvermutung bis zum rechtmäßigen 70 Nachweis seiner Schuld („until proved guilty according to law/jusqu'à ce que sa culpabilité ait été légalement établie") A r t . 2 b): ordnungsgemäße Festnahme („lawful arrest/arrestation régulière") A r t . 2 Abs. 2 b): Unterdrückung eines Aufruhrs oder Aufstandes i m Rahmen der Gesetze 71 („in action lawfully taken/ conformément à la loi"). Diese Beispiele machen deutlich, daß i n den Fällen, i n denen nicht die Rechtmäßigkeit (Gesetzmäßigkeit i. w. S.), sondern die Gesetzesbegründetheit (Gesetzesvorbehalt) einer Maßnahme gefordert wird, dies trotz der Verschiedenheit der Ausdrucksweise aus der Formulierung und dem Sinnzusammenhang immer eindeutig hervorgeht. Danach darf angenommen werden, daß die Autoren i n A r t . 11 Abs. 2 S. 2 einen deutlicheren Ausdruck gebraucht hätten, wenn sich aus dieser Bestimmung etwas anderes ergeben sollte als die Rechtmäßigkeit der Maßnahme als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Grundrechtseinschränkung. Auch der Unterschied zu dem unmittelbar vorangestellten Ausdruck „prescribed by law/ prévue par la loi" i n A r t . 11 Abs. 2 S. 1 legt den Schluß nahe, daß damit bewußt von dem Erfordernis des Gesetzesvorbehalts, wie er sich sonst i n den A r t . 8 - 1 1 Abs. 2 findet, abgesehen werden sollte. Einschränkungen nach A r t . 11 Abs. 2 S. 2 müssen demnach nicht gesetzesbegründet, sondern allgemein rechtmäßig 72 sein. Somit bleibt zu klären, was m i t „rechtmäßigen Einschränkungen" i. S. d. A r t . 11 Abs. 2 S. 2 gemeint ist. Soll sich die Rechtmäßigkeit einer Einschränkung nach den materiellen Kriterien des A r t . 11 Abs. 2 S. 1 89

„selon les lois nationales". Die deutsche Übersetzung spricht hier ungenau v o m „gesetzlichen Nachweis seiner Schuld". 71 Hier zeigt die deutsche Übersetzung, daß „rechtmäßig"mit „ i m Rahmen der (geltenden) Gesetze" gleichzusetzen ist, nicht notwendig aber auch gesetzesbegründet bedeutet. 72 I m Ergebnis ebenso Guradze, K o n v . S. 173 unter Berufung auf die Geltung des gemeinsamen sprachlichen M i n i m u m s (vgl. oben A n m . 67) — anders noch Stand, S. 212; vgl. auch Schorn S. 263, Vasak, K o n v . S. 60; Partsch S. 445 A n m . 714: „sachlich gerechtfertigt" ; a. M. Pfeifer S. 441 (einfachgesetzliche Regelung). 70

§ 3 Die besondere Einschränkungsregel des Art. 11 Abs. 2 S. 2

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oder wenigstens nach einzelnen Voraussetzungen dieser Einschränkungsregel beurteilen? Sicherlich gilt für einschränkende Maßnahmen nach A r t . 11 Abs. 2 S. 2 nicht das Gebot der Zweckbindung an die i n Satz 1 genannten Eingriffsziele: Die besondere Eingriffsregel des A r t . 11 Abs. 2 S. 2 sollte es gerade ermöglichen, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bei A n gehörigen der Streitkräfte, der Polizei oder der öffentlichen Verwaltung ohne Bindung an diese abschließend genannten Ziele auch aus sonstigen Gründen wie z. B. der Disziplin oder der Entpolitisierung des öffentlichen Dienstes 78 einzuschränken. Das kann aber andererseits nicht bedeuten, daß jedes staatliche Interesse Einschränkungen der Rechte des A r t . 11 für diesen Personenkreis zu rechtfertigen vermag. Auch wenn die Formel „necessary i n a democratic society" nicht expressis verbis i n A r t . 11 Abs. 2 S. 2 enthalten ist, so können doch nur die Prinzipien des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats westeuropäischer Prägung Grundlage und Maßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit derartiger Maßnahmen sein 74 . Das bedeutet, daß Einschränkungen der Rechte des A r t . 11 bei den i n Abs. 2 S. 2 genannten Personen nur dann „rechtmäßig" sind i. S. d. Bestimmung, wenn sie durch den Zweck, Bestand und Funktionieren der Armee, der Polizei und der öffentlichen Verwaltung zu sichern, sachlich gerechtfertigt erscheinen und auch i n Inhalt und Umfang rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen, zu denen insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu zählen ist. Für Art 14 dürfte Art 11 Abs. 2 S. 2 die Bedeutung haben, daß eine Andersbehandlung der Soldaten, Polizisten und sonst i m öffentlichen Dienst tätigen Personen bei der Ausübung der Rechte des A r t . 11 gegenüber anderen, ebenfalls i n einem sog. besonderen Gewaltverhältnis stehenden Personen nicht als diskriminierend i. S. d. A r t . 14 angesehen werden kann 7 5 . A r t . 14 gilt aber uneingeschränkt i m Verhältnis der i n A r t . 11 Abs. 2 S. 2 genannten Personengruppen untereinander, soweit ihre Situation vergleichbar ist. Ein Eingriff i n den Wesensgehalt der Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit ist auch nach A r t . 11 Abs. 2 S. 2 verboten 7 6 . Ansonsten ist nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu entscheiden: So dürfte es z. B. von der A r t und der Zielsetzung einer nicht verbotenen Vereinigung abhängen, ob z. B. den Beamten oder anderen Mitgliedern der öffentlichen Verwaltung schon die Zugehörigkeit zu dieser Vereinigung untersagt werden oder ihnen nur die Verpflichtung 73 74 75 78

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Partsch S. 445. oben A T Kap. X I , X I V . dazu auch oben A T Kap. I X (Anm. 15). oben A T Kap. X I I I .

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BT — Kap. I : Artikel 1

auferlegt werden kann, die A r t ihrer Vereinstätigkeit m i t dem besonderen Treueverhältnis i n Übereinstimmung zu bringen, i n dem sie zum Staat stehen 77 . Eine Entscheidung der Komm. 7 8 befaßt sich mit Inhalt und Grenzen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit für wehrpflichtige Soldaten. Ein niederländischer Wehrpflichtiger rügte die Verletzung seines Rechts aus A r t . 11, w e i l er für die Teilnahme an einem Treffen einer Wehrpflichtigenvereinigung disziplinarisch bestraft worden sei. Die Komm, hielt i h m aber entgegen, er sei an der Teilnahme an dem Treffen nicht gehindert worden, da er ja tatsächlich dort gewesen sei. Auch die Bestrafung sei nicht für die Teilnahme an diesem Treffen erfolgt, sondern nur deshalb, w e i l er an dem Treffen während eines krankheitsbedingten Heimurlaubs teilgenommen habe, ohne sich der positiven Entscheidung über sein Gesuch u m die erforderliche Erlaubnis, das wegen seiner Krankheit nicht bearbeitet worden war, vergewissert zu haben. Die Verpflichtung, für die Teilnahme an derartigen Veranstaltungen u m Dienstbefreiung nachzusuchen, ist als solche ganz ohne Zweifel von A r t . 11 Abs. 2 S. 2 gedeckt, wovon offenbar auch die Komm, bei der A b weisung dieser Beschwerde ausging. Für zulässig erklärte die Komm, dagegen die Beschwerden Nr. 5354 und 5370/7279 zweier anderer Mitglieder derselben Wehrpflichtigenvereinigung. Sie sahen i n der Beschlagnahme der Exemplare der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift durch den Kommandeur und i n der Bestrafung der Autoren für den Inhalt dieser Veröffentlichungen nicht nur einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit des A r t . 10, sondern auch eine Verletzung des A r t . 11, da die Wehrpflichtigenvereinigung abhängig sei von der Kommunikation unter ihren Mitgliedern mittels solcher Publikationen. Insgesamt gesehen scheint die Aufnahme der von den A r t . 8 - 1 0 Abs. 2 und 11 Abs. 2 S. 1 abweichenden besonderen Einschränkungsregel des A r t . 11 Abs. 2 S. 2 i n die M R K nicht ganz konsequent. Da die Autoren der M R K offenbar die allgemeinen und auch i m „besonderen Gewaltverhältnis" geltenden Eingriffsermächtigungen der A r t . 8 - 1 0 Abs. 2 bei A r t . 11 nicht f ü r 8 0 ausreichend gehalten haben, u m allen Bedürfnissen gerecht werden zu können, wäre es sicherlich sinnvoller gewesen, statt der etwas willkürlich erscheinenden Aufzählung der i n 77 Vgl. Partsch S. 446; nach Guradze, Stand S. 212/213 soll n u r letzteres erlaubt sein. 78 CoD 42, 61 ff. (Beschwerde Nr. 5100/71). 79 CoD 42, 61 ff. (Verbunden m i t 5100 - 5102/71). 80 Vgl. Vasak, K o n v . S. 60.

§ 3 Die besondere Einschränkungsregel des Art. 11 Abs. 2 S. 2

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A r t . 11 Abs. 2 S. 2 genannten Personengruppen eine allgemeine Formulierung zu finden, die auch von der Sache her gleichliegende Fälle wie z. B. die Situation Strafgefangener erfassen würde und darüber hinaus auch für die A r t . 8 - 1 0 , deren Inanspruchnahme genauso wie die des A r t . 11 i m „besonderen Gewaltverhältnis" auch besonderen Einschränkungen unterworfen werden kann 8 1 , gelten würde. Nach der hier vertretenen Auffassung 82 ist es aber ohnehin überflüssig, die Ausübung der i n den A r t . 8 - 1 1 garantierten Rechte i m Rahmen sog. besonderer Gewaltverhältnisse weitergehenden Eingriffsvorbehalten zu unterwerfen, d. h. der staatlichen Eingriffskompetenz einen größeren Spielraum einzuräumen als den bereits nach der allgemeinen Regelung der A r t . 8 - 1 0 Abs. 2 bzw. 11 Abs. 2 S. 1 bestehenden. Bedeutung behält A r t . 11 Abs. 2 S. 2 allerdings i n formeller Hinsicht: Die Einschränkung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bedarf bei den i n dieser Bestimmung genannten Personengruppen i m Gegensatz zu A r t . 11 Abs. 2 S. 1 keiner gesetzlichen Grundlage.

81

Vgl. oben Kap. X V I § 6. Vgl. oben Kap. V I u n d X V I : da einerseits der f ü r A r t . 11 Abs. 2 S. 2 nicht geltende Katalog von Eingriffszielen dem Vorbehalt zugunsten des allgemeinen öffentlichen Interesses zumindest sehr nahe kommt, andererseits aber A r t . 11 Abs. 2 S. 2 durch die für alle Einschränkungsermächtigungen der M R K geltende Eingriffsschranke der Notwendigkeit i n einer demokratischen Gesellschaft zu ergänzen ist (vgl. oben Kap. X I V ) , unterscheidet sich A r t . 11 Abs. 2 S. 2 i n materieller Hinsicht k a u m noch von A r t . 11 Abs. 2 S. 1. 82

Anhang Anhang I A. Verzeichnis der zitierten Kommissionsentscheidungen Fundstelle (Band, Seite) YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB YB

1,154 ff. 1,188 ff. 1,198 ff. I, 205 ff. I, 211 ff. I, 222 ff. I, 229 ff. I, 235 ff. I, 251 ff. I, 255 ff. I I , 174 ff. I I , 214 ff. I I , 352 ff. I I , 386 ff. I I I , 196 ff. I I I , 272 ff. I I I , 311 ff. I I I , 394 ff. I I I , 429 ff. I I I , 445 ff. I V , 198 ff. I V , 325 ff. I V , 384 ff. V, 200 ff. V, 230 ff. V, 278 ff. V, 286 ff. V I , 151 ff. V I , 204 ff. V I , 262 ff. V I , 333 ff. V I , 349 ff. V I , 424 ff. V I , 445 ff. V I , 591 ff.

Beschwerde (Nr., Jahr) 33/55 256/57 86/55 238/56 172/56 250/57 107/55 167/56 125/55 261/57 176/56 214/56 312/57 436/58 514/59 646/59 753/60 511/59 833/60 793/60 911/60 1028/61 712/60 1329/62 1307/61 1068/61 1497/61 924/60 1167/61 1449/62 1474/62 1599/62 1747/62 1769/62 1420/62 1477/62 1478/62

(TE) = Teilentscheidung

gerichtet gegen (Land)

Datum

Schweden B R Deutschland B R Deutschland Dänemark Schweden B R Deutschland Belgien B R Deutschland Schweden B R Deutschland Griechenland Belgien Belgien B R Deutschland Österreich Irland Österreich Belgien Schweden Belgien B R Deutschland Belgien B R Deutschland Dänemark B R Deutschland Niederlande Niederlande Belgien B R Deutschland Niederlande Belgien Österreich Österreich Belgien Belgien

23. 9.55 20. 7.57 16.12. 55 7. 3.57 20.12. 57 20. 7.57 29. 5.56 28. 9.56 29. 9.56 16.12. 57 2. 6.56 9. 6.58 9. 1.59 7. 7.59 5. 1.60 2. 6.60 5. 8.60 20.12. 60 20.12. 60 21.12. 60 10. 4.61 18. 9.61 16.12. 61 7. 5.62 4.10. 62 14.12. 62 14.12. 62 27. 3.63 16.12. 63 16. 1.63 26. 7. 63 (TE) 16. 1.63 13.12. 63 26. 7.63 18.12. 63

(SE) = Schlußentscheidung

Anhang

209

Anhang I I

Fundstelle (Band, Seite) Y B V I I I , 168 ff. Y B V I I I , 174 ff. Y B V I I I , 200 ff. Y B V I I I , 204 ff. Y B V I I I , 228 ff. Y B V I I I , 266 ff. Y B V I I I , 338 ff. YB I X , 102 ff. YB I X , 166 ff. I X , 436 ff. YB YB I X , 512 ff. YB I X , 556 ff. YB X , 388 ff. YB X , 472 ff. X , 478 ff. YB X , 528 ff. YB YB X I , 228 ff. YB X I , 322 ff. X I , 354 ff. YB YB X I , 366 ff. YB X I , 406 ff. YB X I , 412 ff. YB X I , 456 ff. YB X I , 494 ff. YB X I , 562 ff. Y B X I I I , 276 ff. Y B X I I I , 332 ff. Y B X I I I , 528 ff. Y B X I I I , 928 ff. CoD 2 CoD 7, 7 ff. CoD 17, 28 ff. CoD 24, 98 ff. CoD 26, 33 ff.

Beschwerde (Nr., Jahr) 1718/62 1753/63 1855/63 1860/63 1983/63 2065/63 2333/64 1470/62 1760/63 2516/65 2690/65 2792/66 2749/66 2988/66 2991 - 92/66 3325/67 2333/64 2645/65 2648/65 2699/65 2822/66 2924/66 3071/67 3110/67 3435 - 38/67 3100/67 3603/68 3717/68 4403/70 u.a. (25 Bschw.) 662/59 911/60 2535/65 2749/66 2699/65

(TE) = Teilentscheidung

gerichtet gegen (Land)

Datum

Österreich Österreich Dänemark B R Deutschland Niederlande Niederlande Belgien BR Deutschland Österreich BR Deutschland Niederlande Norwegen Großbritannien Niederlande Großbritannien Großbritannien Belgien Österreich Niederlande BR Deutschland BR Deutschland Belgien Schweden Niederlande Großbritannien BR Deutschland B R Deutschland Irland Großbritannien

22. 4.65 15. 2. 65 24. 4.65 15.12. 65 13.12. 65 14.12. 65 15. 7. 65 14. 7.66 23. 5.66 23. 5.66 15.12. 60 6.10. 66 11. 7.67 31. 5.67 15. 7.67 15.12. 67 16.12. 68 19. 7. 68 6. 2.68 1. 4.68 6. 2.68 16.12. 68 7. 2.68 19. 7.68 19. 7.68 5. 2.70 4. 2.70 6. 2.70 10.10. 70

BR Deutschland B R Deutschland BR Deutschland Großbritannien B R Deutschland

2. 10. 16. 11. 1.

(SE) = Schlußentscheidung

(TE) (TE) (TE)

(SE)

(SE) (TE)

4.60 4.61 7.65 7.67 (SE) 4.68

210

Anhang

Anhang I I I

Fundstelle (Band Seite) CoD 35 CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD

35 35 35 35 35 35 36 36 36 36 36 37 37 37 37 37 38 38 38 39 39 39 39 39 39 40 40 40 40 42 42 42

29 ff. 37 ff. 56 ff. 102 ff. 137 ff. 140 ff. 158 ff. 43 ff. 61 ff. 83 ff. 88 ff. 92 ff. 38 ff. 42 ff. 74 ff. 101 ff. 119 ff. 68 ff. 86 ff. 90 ff. 26 ff. 42/43 47 ff. 58 ff. 63 ff. 104 ff. 15 ff. 29 ff. 50 ff. 75 ff. Iff. 49 ff. 61 ff.

CoD 42, 82 ff. CoD 42, 99 ff.

Beschwerde (Nr., Jahr) 2834/66 4038/69 3444/67 3788/68 3898/68 4137/69 4185/69 4274/69 4115/69 4133/69 4351/70 4396/70 4403/70 4125/69 4125/69 4284/69 4372/70 4445/70 4475/70 4515/70 4517/70 4464/70 4464/70 4471/70 4561/70 4623/70 5269/71 4622/70 4750/71 4982/71 5459/72 4475/70 4960/71 5100 - 02/72 5354/72 5370/72 5109/71 5282/71

(TE) = Teilentscheidung

gerichtet gegen (Land)

Datum

B R Deutschland

13. 6. 70

Norwegen Schweden Großbritannien Irland B R Deutschland B R Deutschland Großbritannien Großbritannien B R Deutschland B R Deutschland Großbritannien Irland Irland B R Deutschland Belgien B R Deutschland Schweden Großbritannien Österreich Belgien Belgien Großbritannien B R Deutschland Großbritannien Großbritannien Österreich Großbritannien Österreich Großbritannien Schweden Belgien Niederlande

16. 6. 70 13. 6. 70 22. 6. 70 13. 6. 70 13. 6. 70 24. 6. 70 16.12. 70 13. 7. 70 5. 10. 70 14.12. 70 10. 10. 70 24. 6. 70 1. 2.71 1. 2.71 2. 2. 71 1. 4. 70 24. 5. 71 12. 6. 71 19. 12. 70 28. 5.71 8. 2. 72 9. 2. 72 23. 9.71 19. 6.71 8. 2. 72 22. 3. 72 20. 3. 72 22. 3. 72 23. 3. 72 13. 7. 72 19. 7. 72 17. 7. 72

B R Deutschland Großbritannien

10. 7. 72 12. 7. 72

(SE) = Schlußentscheidung

211

Anhang

Anhang I V Fundstelle (Band, Seite) CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD CoD

42,105 ff. 42,123 ff. 42,130 ff. 42,140 ff. 42,142 ff. 42,146 43, 57 ff. 43, 62 ff. 43, 82 ff. 43,111 ff. 43,119 ff. 43,156 ff. 43,161 ff.

Beschwerde (Nr., Jahr) 5321/71 5589/72 5614/71 5229/71 5239/71 5445 - 46/72 5132/71 5132/71 5301/71 5525/72 5532/72 5539/72 5591/72

(TE) = Teilentscheidung

gerichtet gegen (Land) Österreich Schweden Schweden Großbritannien Belgien Großbritannien Dänemark Dänemark Großbritannien Schweden Großbritannien BR Deutschland Österreich

Datum 14.12. 72 18.12. 72 20. 7.72 5.10. 72 14.12. 72 3.10. 72 12. 7. 72 (TE) 5. 2.73 (SE) 3.10. 73 5. 2.73 14.12. 72 2. 4.73 2. 4.73

(SE) = Schlußentscheidung

B. Zitierte Kommissionsberichte I. Bericht der Kommission i m F a l l „de Becker" v o m 8.1.1960 — Englischer u n d französischer T e x t i n : C E D H série B (Mémoires, plaidoiries et documents) 1962 S. 11 ff. I I . Bericht der Kommission an den Ministerrat i m F a l l „ G r a n d r a t h gegen Bundesrepublik Deutschland" (Beschwerde Nr. 2299/64; vgl. auch die E n t scheidung der Kommission v o m 23. 4.1965, Y B V I I I , 325 ff.). Veröffentlicht i n : Y B X , 630 ff.

C. Zitierte Entscheidung des Ministerrats Entscheidung des Ministerrats i m F a l l „ G r a n d r a t h gegen Bundesrepublik Deutschland" v o m 29. 6.1965 — veröffentlicht i n : Y B X , 694 ff.

D. Zitierte Entscheidungen des E G H (Veröffentlicht i n : Publications of the European Court of H u m a n Rights, Series A — Judgements and Decisions / Publication de la Court Européenne des Droits de l'Homme, série A — Arrêts et décisions.) I. Entscheidung des E G H i m F a l l „Lawless" v o m 14.11.1961 — Englischer u n d französischer T e x t i n : C E D H série A 1960/61 („Affaire Lawless"), deutsche Übersetzung i n : E G H E Bd. 1. I I . Entscheidung des E G H i m F a l l „Wemhoff" v o m 27. 6.1968 — Englischer u n d französischer T e x t in: CEDH série A 1968 („Affaire Wemhoff").

14*

212

Anhang Anhang V

I I I . Entscheidung des E G H i n den belgischen Sprachenfällen v o m 23. 7. 68 — Englischer u n d französicher Text i n : ECHR Series A 1968 (Case „Relating To Certain Aspects of the L a w on the Use of Languages i n Education i n Belgium" — Merits —), deutsche Übersetzung i n : E G H E Bd. 2. I V . Entscheidung des E G H i n den „Landstreichereifällen" v o m 18. 6.1971 — Englischer u n d französischer Text i n : ECHR Series A 1971 („Vagrancy Cases" — De Wilde, Ooms and Versyp Cases). V. Entscheidung des E G H i m F a l l „Golder" v o m 21. 2.1975 — Auszugsweise veröffentlicht i n : Zeitschrift „Grundrechte — Die Rechtsprechung i n Europa", 1975 S. 91 ff.

Literaturverzeichnis (Literatur, soweit n u r m i t Verfassernamen oder abgekürzt zitiert)

Boas: L a Convention Européenne de Sauvegarde des Droits de l'Homme Et des Libertés Fondamentales Dans la Jurisprudence Néerlandaise, i n : Annuaire Européen Bd. 10 (1962) S. 226 ff., 237 ff. Cassin : L a Déclaration Universelle et la Mise en Oeuvre des Droits de l'Homme, i n : Recueil des Cours T. 79 (1951) I I (1952) S. 2. Ermacora : Handbuch der Grundfreiheiten u n d Menschenrechte, Wien 1963. Glatzel: Die E i n w i r k u n g e n der Rechte u n d Freiheiten der Europäischen M e n schenrechtskonvention auf private Rechtsbeziehungen, Dissertation Bonn 1968. Guradze: Die Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar B e r l i n 1968 (zit.: Guradze, Konv.). — Der Stand der Menschenrechte i m Völkerrecht, Göttingen 1956 (zit.: Guradze, Stand). Hahne: Das D r i t t w i r k u n g s p r o b l e m i n der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten, Dissertation Heidelberg 1973. Herzog: Das Grundrecht auf Freiheit i n der Europäischen Menschenrechtskonvention, i n AöR Bd. 86 S. 194 ff. Hodler: Die Europäische Menschenrechtskonvention u n d das Bonner G r u n d gesetz, Dissertation Göttingen 1953. Horvath: The European Court of H u m a n Rights, i n : österreichische Zeitschrift f ü r öffentliches Recht, Bd. 5 (1952/53) S. 166 ff. Huber: Das Zusammentreffen der M R K m i t den Grundrechten der Verfassung, i n : Gedächtnisschrift f ü r Hans Peters, Berlin-Heidelberg 1967 S. 375 ff. Köhler: Die rechtliche W i r k u n g der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung nach A r t . 13 des Grundgesetzes, Dissertation K ö l n 1966. Kyriakopoulos: Z u r E i n w i r k u n g der M R K auf die Verfassung Griechenlands, i n : Grundprobleme des internationalen Rechts (1957) S. 285 ff. Mangoldt - Klein: Das Bonner Grundgesetz, erläutert von H e r r m a n n von Mangoldt, 2. Auflage neu bearbeitet von Friedrich Klein, B e r l i n u n d F r a n k f u r t / M . seit 1957 (zit.: M . - Klein). Maunz - Dürig - Herzog: Grundgesetz, Kommentar von Günter D ü r i g u n d Roman Herzog, München seit 1958.

Theodor

Maunz,

Merle: L a Convention Européenne des Droits de l'Homme, in : Revue de D r o i t Public Et de la Science Politique Bd. 57 (1951) S. 705 ff.

214

Literaturverzeichnis

Morvay: Die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Europäischen K o n v e n t i o n zum Schutz der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten v o m 4.11.1950 nebst Zusatzprotokoll v o m 20.3.1952, i n : Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht u n d Völkerrecht Bd. 21 S. 89 - 112 u n d S. 316 - 347. Partsch: Die Rechte u n d Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, i n : Die Grundrechte Bd. 1 Halbband 1, B e r l i n 1966 S. 235 ff. Pfeifer: Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention Osterreich, i n : Festschrift f ü r K . G. Hugelmann Bd. 1 (1959) S. 399 ff.

für

Pinto: Cours d'Organisation Européenne / Licence 4e année, 1960/61 — Les Cours de D r o i t — Paris. Robinson: The Universal Déclaration of H u m a n Rights — Institute of Jewish Affaires, N e w Y o r k 1958. Scheuner: Vergleich der Rechtsprechung der nationalen Gerichte m i t der Rechtsprechung der Konventionsorgane bezüglich der nicht verfahrensmäßigen Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention, i n : Die Menschenrechte i m Staatsrecht u n d i m Völkerrecht (Wiener K o l l o q u i u m v o m 18. - 20.10.1965), Karlsruhe 1967. Schorn: Die Europäische Menschenrechtskonvention u n d i h r Zusatzprotokoll i n E i n w i r k u n g auf das deutsche Recht, Text u n d Kommentar, F r a n k f u r t / M . 1965. Vasak: L a Convention Européenne des Droits de l'Homme, Paris 1964. Vegleris: Valeur et signification de la clause dans une société démocratique dans la Convention Européenne des Droits de l'Homme, i n : Les droits de l'homme, Revue de D r o i t international et comparé Bd. 1 Nr. 2 1968 S. 219 ff. Vélu: L a Contrôle des Organes Prévue Par la Convention Européenne des Droits de l'Homme sur le but, le m o t i f et l'objet des mésures dérogeant à cette Convention, i n : Mélanges offerts à H e n r i R o l i n 1964 S. 462 ff. Verdoodt : Naissance et Signification de la Déclaration Universelle des Droits de l'Homme, L o u v a i n / Paris 1964. Weil: The European Convention on H u m a n Rights — Background, development and prospects, Leyden 1963. Wiebringhaus: Die Rom-Konvention f ü r Menschenrechte i n der Praxis der Straßburger Menschenrechtskommission, Saarbrücken 1959. Wolff:

Verwaltungsrecht I, Siebente, neubearbeitete Auflage München 1968.

Wollweber: Der Schutz des Grundrechts auf Wahrung des Briefgeheimnisses i m Grundgesetz u n d i n der Europäischen Menschenrechtskonvention, Dissertation K ö l n 1967.