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German Pages 295 [296] Year 2016
Funktionen des Lebendigen
HUMANPROJEKT Interdisziplinäre Anthropologie
Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Detlev Ganten, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger und Julian Nida-Rümelin
Band 15
Funktionen des Lebendigen Herausgegeben von Thiemo Breyer und Oliver Müller
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, des Bernstein Focus Neurotechnology Freiburg * Tübingen (BFNT) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).
ISBN 978-3-11-050045-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049910-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049770-0 ISSN 1868-8144 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Dieser Band bringt Autorinnen und Autoren in ein Gespräch, die aus verschiedenen Perspektiven und Disziplinen zur Konturierung der unterschiedlichen Dimensionen und Aspekte der Formel „Funktionen des Lebendigen“ beitragen. Ein Autor, den wir für einen Beitrag gewinnen konnten, ist wenig später vor zwei Jahren leider verstorben: Olaf Breidbach – ein großer Verlust nicht nur für diesen Band, sondern auch für die Wissenschaft. Wir hoffen, dass ihm die Rezeption seiner Texte ein langes akademisches Nachleben beschert. Darüber, dass der Band in die Reihe „Humanprojekt“ aufgenommen wurde, sind wir sehr glücklich, und danken hierfür ganz herzlich dem Verlag und den Reihenherausgebern, insbesondere Jan-Christoph Heilinger, für die gewohnt kompetente Unterstützung bei unserem Vorhaben. Ferner danken wir Fabian Neuwahl für die Hilfe bei der redaktionellen Arbeit an den Texten. Den Druck dieses Bandes haben der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung getragene Bernstein Focus „Neurotechnology – Hybrid Brains“ (01 GQ 0830) und die a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities der Universität zu Köln finanziell unterstützt, wofür wir an dieser Stelle ebenfalls unseren herzlichen Dank aussprechen. Thiemo Breyer und Oliver Müller Köln und Freiburg im Sommer 2016
Inhalt Vorwort
I
Thiemo Breyer und Oliver Müller Einleitung 1
I Formen des Lebendigen Christian Bermes Leben als Form der Praktischen Vernunft Evan Thompson Living Ways of Sense Making
11
25
Oliver Müller und Franziska Krause Technik im lebendigen Selbst Natürliche Künstlichkeit und Vulnerabilität am Beispiel der Tiefen Hirnstimulation 43
II Normen des Lebendigen Volker Gerhardt Selbstbestimmung im Lebenszusammenhang Roberto Esposito Biologisches und politisches Leben Petra Gehring Leben und Gehirn Der Fall Neurokriminologie
73
93
105
Carolin Schwegler Das Argument „(zu)künftige Generationen“ in umweltethischen Konflikten Funktionen des Ungeborenen 123
IV
Inhalt
III Erfahrungen des Lebendigen Jeff Malpas The Threshold of the World
161
Matthew Ratcliffe Existential Feeling and Narrative
169
Andreas Urs Sommer „Moral als Vampyrismus“ Leben und Blutsaugen bei Friedrich Nietzsche
193
IV Grenzen des Lebendigen Tobias Eichinger Hirntot – untot – ganz tot? Ontologische Überlegungen
217
Hans Werner Ingensiep Subhumanismus und Heroismus im „Wachkoma“ Positionen und Reflexionen zum Bioethos in Grenzsituationen des Lebens 237 Thomas Dürr Hannah Arendt über lebende Leichname
259
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
279
Sachregister Personenregister
283 285
Thiemo Breyer und Oliver Müller
Einleitung
Nachdem schon zwei instruktive Bände zu „Funktionen“ erschienenen sind – „Funktionen des Bewusstseins“ und „Funktionen des Erlebens“¹ –, hatten wir die Idee, die Themenstellungen und Fragerichtungen der Reihe „Humanprojekt“ produktiv weiter zu entwickeln, indem wir einen Band zu den „Funktionen des Lebendigen“ konzipieren. Der Titel „Funktionen des Lebendigen“ scheint uns eine treffende Formel für ein vielschichtiges interdisziplinäres Arbeitsprogramm zu sein, mit dem eine zentrale Problemlage unserer Zeit, unserer Gesellschaft, unserer Technik philosophisch erfasst und einzelwissenschaftlich ausbuchstabiert werden kann. In der Verbindung des methodologischen Begriffs der Funktion mit dem phänomenalen Begriff des Lebendigen liegt auch kulturreflexives, epistemologisches und wissenschaftsgeschichtliches Potential. Der Funktionsbegriff ist ein Schlüsselbegriff im Diskurs der Moderne, gerade im Kontext von wissenschaftstheoretischen und anthropologischen Problemstellungen. Das Phänomen des Lebendigen wiederum kann nach wie vor als eine der großen Herausforderungen für das philosophische Denken gelten, sei es in ontologischer, phänomenologischer oder normativer Hinsicht. Unser Band bezweckt, verschiedene wissenschaftliche Disziplinen zusammen zu bringen, um einige Funktionen des Lebendigen zum Thema zu machen, um das Feld für ein interdsiziplinäres Forschungsprogramm zu eröffnen. Im Folgenden wollen wir knapp und kursorisch auf einige Bezüge, Traditionen, Kontexte und Fragestellungen hinweisen, die sich mit der Funktion des Lebendigen verbinden. Es war Ernst Cassirer, der die Bedeutung des Funktionsbegriffs in seinem Buch Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 herausgearbeitet hat,² dem man mit einer leichten Akzentverschiebung auch den programmatischen Titel „Vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff“ hätte geben können. In diesem wissenschaftstheoretischen Werk werden die philosophischen Implikationen und Hintergrundannahmen der Begriffsbildungen in Mathematik und Physik thematisiert. Cassirer argumentiert dafür, dass wir weniger von einer substanzhaften „Realität“ physikalischer „Gegenstände“ ausgehen sollten, sondern von funktionalen Ordnungsbegriffen innerhalb bestimmter Theoriearrangements. Cassirer blieb bei
Ganten, Detlev/Gerhardt, Volker/Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.): Funktionen des Bewusstseins, Humanprojekt , Berlin/New York, ; Jung, Matthias/Heilinger, Jan-Christoph (Hrsg.): Funktionen des Erlebens: Neue Perspektiven des qualitativen Bewusstseins, Humanprojekt , Berlin/New York, . Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Gesammelte Werke , Hamburg, .
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Thiemo Breyer und Oliver Müller
seiner wissenschaftstheoretischen Analyse nicht stehen, sondern hat den Funktionsbegriff für die Philosophie selbst sowie für die Kulturtheorie fruchtbar gemacht, indem er auf seine Bedeutung für das „Verstehen“ der Welt in kulturellen Formen in seiner Philosophie der symbolischen Formen zurückgreift.³ Wir verstehen uns und unsere Welt, wenn wir verstehen, welche Funktionen die symbolischen Formen für jenes Verstehen haben. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass Cassirer auch in seiner Anthropologie auf den Funktionsbegriff zurückgreift: In seinem späten Werk An Essay on Man unterstreicht er: „[I]f there is any definition of the nature or ‚essence‘ of man, this definition can only be understood as a functional one, not a substantial one“.⁴ Cassirer entwirft eine Anthropologie im Rückgriff auf die Biologie – insbesondere auf die Arbeiten von Jakob von Uexküll, aber auch auf diejenigen von Wolfgang Köhler – und im Rekurs auf die Neuropsychologie – Kurt Goldstein, Adhémar Gelb –, indem er den spezifischen „Funktionskreis“ herausarbeitet, in dem sich Menschen bewegen. Cassirer hat sich bekanntlich zum Programm gemacht, den menschlichen Geist aus der menschlichen Kultur zu verstehen zu suchen, und die menschliche Kultur wiederum aus der fundamentalen Fähigkeit, Symbole und Symbolsysteme ausbilden zu können. Dies gelingt ihm, weil er sich methodisch konsequent am Begriff der Funktion orientiert. Dabei berührt er immer wieder die Frage, wie das „Geistige“ aus dem Lebendigen erwächst und votiert dafür, das Verhältnis von Geist und Leben nicht dualistisch zu fassen, sondern aus eben jenem funktionsbegrifflichen Denken heraus zu erklären.⁵ Gleichwohl kommt Cassirer in seiner Konzeption an Grenzen und behält Züge dessen, was Maurice Merleau-Ponty mit dem Titel „Intellektualismus“ kritisiert.⁶ Hiermit ist gemeint, dass es Cassirer (und anderen) in den Augen Merleau-Pontys nicht gelingt, das Bewusstsein hinreichend aus dem lebendigen Dasein zu erklären, sondern letztlich doch auf dualistische Positionen zurückgreifen zu müssen – die das Verhältnis von Leben und Geist eher verdecken als erhellen, gerade weil sie für die Funktionen des Lebendigen nicht die adäquaten Begrifflichkeiten haben. Seitdem wurde in den verschiedenen philosophischen Disziplinen – von der Phänomenologie über die Philosophie des Geistes bis zur Neurophilosophie – intensiv über dieses Verhältnis diskutiert, wodurch sich die
Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Band: Die Sprache, Gesammelte Werke , Hamburg, , VIIf. Cassirer, Ernst: An Essay on Man: An Introduction to a Philosophy of Human Culture, Gesammelte Werke , Hamburg, , . Cassirer, Ernst: „Geist“ und „Leben“ in der Philosophie der Gegenwart, in: Aufsätze und kleine Schriften – , Hamburg, , – . Siehe Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, , ff.
Einleitung
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Perspektiven auf das Leib-Seele-Problem erweitert und die naturalistischen, kognitivistischen und anthropologischen Forschungsprogramme methodologisch deutlich ausdifferenziert haben. Wenn wir hier exemplarisch noch einmal auf Cassirer und seinen frühen Kritiker Merleau-Ponty zurückkommen, dann deshalb, weil wir denken, dass wir uns hier an einer geistesgeschichtlich zentralen Schwelle bewegen, die das Verhältnis von Kulturphilosophie und Phänomenologie betrifft: Denn auch wenn Cassirer vielleicht tradititioneller dualistischer Theoriebildung verhaftet bleibt, kommen wir mit seinem Ansatz eben doch schon recht weit, wenn wir die Funktionen des Lebendigen beschreiben wollen – auch wenn wir den Umweg über kulturelle Bilder, symbolische Prägnanzen und Metaphern des Lebendigen nehmen müssen, um Eigenart, Charakter und Dynamik des Lebendigen zu verstehen, ohne es zu essentialisieren. Dieser Umweg über die Kultur wird derzeit für gegenwärtige phänomenologische Fragestellungen relevant, insbesondere, wenn es um das Verständnis des Lebens geht – sowie um von diesem abgeleitete Begriffe wie „Lebensform“ und „Lebenswelt“, die bereits eigene Reflexionstraditionen aufweisen können. Der Funktionsbegriff kann überdies in einem diskurslogischen Sinne gelesen werden. Die Frage hierbei ist, welche Funktion ein Begriff wie der des Lebendigen für unterschiedliche wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten hat oder haben kann, die historisch und politisch in größere Zusammenhänge eingebettet sind. Historisch-semantisch kann eruiert werden, wie sich ein solcher Begriff selbst über die Zeit hinweg entwickelt und welche Sinnverschiebungen er durch divergierende Verwendungsweisen und Instrumentalisierungen erfährt. Als Reflexionskategorie kann er ebenfalls darüber Aufschluss geben, wie diejenigen Denker und diskursiven Instanzen, die ihn gebrauchen, sich im hermeneutischen Horizont ihrer Zeit mit ihm positionieren, welche argumentativen Strategien sie jeweils verfolgen und welche Selbstverständnisse sich im Zuge dessen herausbilden. Die Autorinnen und Autoren unseres Bandes gehen der Frage, welche Funktionen der Begriff des Lebendigen innerhalb spezifischer diskursiver Konstellationen einnimmt, auf unterschiedliche Weise nach und verknüpfen das historischrekonstruierende Interesse mit demjenigen der Systematisierung im Angesicht aktueller Problemlagen. Die bleibende Relevanz des Lebens-Begriffs für unsere Zeit hat in den letzten Jahren vor allem Volker Gerhardt immer wieder unterstrichen. So versteht er beispielsweise die menschliche Freiheit als „natürliche Freiheit“, die aus Selbstorganisation und Spontaneität des Lebendigen komme.⁷
Gerhardt, Volker: Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Natur-
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Thiemo Breyer und Oliver Müller
Er plädiert dafür, das Ganze des Organismus zu betrachten, wenn wir über die Freiheit reden. Freiheit komme nicht erst mit dem „Geist“ in die Welt, Freiheit sei vielmehr ein Charakteristikum des Lebendigen. Insofern gehe es darum, die Eigenart des Lebens „ernsthaft“ zu verstehen, um zum Begriff der Freiheit zu kommen: „Denn der Physikalismus scheitert nicht erst am Geist, sondern bereits an den Prozessen des Lebens. Und im Vergleich von Freiheit und Leben ist Leben allemal das größere Problem.“⁸ Doch ist die Thematik des Lebendigen zwischen Materialität und Intellektivität nicht nur in den Problemfeldern der Anthropologie, der Philosophie des Geistes und der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie virulent, wo sich Fragen nach dem Leib-Seele-Verhältnis sowie nach Determinismus und Freiheit aufdrängen, sondern auch im alltäglich-lebensweltlichen Kontext stellt das Lebenskonzept eine zentrale Selbstverständigungskategorie dar. So gibt die Unterscheidung zwischen „lebendig“ und „nicht-lebendig“ ontologische Orientierung und ist entwicklungspsychologisch eine elementare und sehr frühe Kategorie, mit der Menschen das ihnen welthaft Begegnende ordnen.⁹ Im Blick auf diese ontogenetisch elementare Orientierungsfunktion des Lebendigen ist es wenig überraschend, dass auch im Extrem von bestimmten Psychopathologien deutlich wird, dass die Selbstwahrnehmung als lebendiges oder nicht mehr lebendiges oder totes Wesen eine grundlegende anthropologische Orientierungsfigur hat.¹⁰ Als Grenzbestimmung hat der Begriff des Lebendigen eine Funktion für die Differenzierung unterschiedlicher Formen des Nicht-Lebendigen, sei es das noch nicht Lebendige des Ungeborenen, das nicht mehr Lebendige des Verstorbenen, oder das prinzipiell Unlebendige der anorganischen Materie. Zur Geschichte des Lebensbegriffs gehört auch seine Grenzfunktion im Blick auf den „Geist“; nach Georg Simmel ist es bekanntlich die ‚Tragödie der Kultur’, dass sich der Geist dem Lebendigen objektivierend entgegenstellt.¹¹ Dieses kulturkritische Motiv wurde im 20. Jahrhundert verschiedentlich aktualisiert. Auffällig ist hierbei, dass der das philosophische Denken immer intensiver herausfordernde Begriff der Technik im
geschichte der Freiheit, in: Heilinger, Jan-Christoph (Hrsg): Naturgeschichte der Freiheit, Berlin/ New York, , – . Ebd., . Vgl. Rakison, David/Poulin-Dubois, Diane (Hrsg.): Developmental origin of the animate-inanimate distinction, in: Psychological Bulletin /, , – . Ein extremes Beispiel ist das Cotard-Syndrom als Steigerungsform eines nihilistischen Wahns. Vgl. Debruyne, Hans u. a. (Hrsg.): Cotard’s syndrome: A review, in: Current Psychiatry Reports / , , – . Vgl. Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Philosophische Kultur: Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin, , – .
Einleitung
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Blick auf das Leben diskutiert wurde. Oswald Spengler hat die Technik als „Taktik des ganzen Lebens“ beschrieben und aus dem Lebendigen selbst kommende Technik in seinem düsteren Heroismus vom Ende der Kultur und mit allerhand sozialdarwinistischen Anklängen ausbuchstabiert.¹² Gleichzeitig etablieren sich auch konträre Theorien, in denen die Technik als dem Leben entgegengesetzt betrachtet wird. Hannah Arendt etwa spielt in Vita activa den Lebensbegriff gegen den Begriff der Technik aus.¹³ Der Versuch von Elisabeth List, eine Ethik des Lebendigen zu formulieren, kann als aktuelles Beispiel dafür gelten, den Begriff des Lebens auch in normativer Hinsicht gegen die Logiken der Technisierung zu konzipieren.¹⁴ Eine der zentralen Herausforderungen der modernen Technik ist die mit ihr verbundene „Verwischung“ der Grenzen zwischen dem Lebendigen und dem Noch-nicht- oder nicht mehr Lebendigen. Das Bedürfnis, sich über Medizin- und Biotechnologien zu verständigen, schlägt sich immer wieder auch in der Popkultur nieder. Eine besondere Faszination scheint von solchen Figuren auszugehen, bei denen Leben und Nicht-Leben ineinander übergehen oder in paradoxal verschränkter Form vorliegen, wie etwa bei Cyborgs, Zombies oder Vampiren. Wie sich das Lebendige zum Nicht-Lebendigen jeweils verhält und welche Reflexionspotentiale in der Auseinandersetzung mit dem freigesetzt werden, ist fester Bestandteil der literarischen Imagination ebenso wie technologischer Utopien. Gerade wo der Mensch selbst als Erzeuger technischer Modifikationen in den Blick kommt, die neue Grenzziehungen zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem ermöglichen, verbindet sich mit dem projektiven Potential der Phantasie die Pflicht, Lebensführungspraxen aus den Interaktionen mit Technischem abzuleiten und das Verhältnis deskriptiver und normativer Dimensionen des Lebens-Begriffs kontinuierlich neu auszuloten. Die alte philosophische Frage nach dem Verhältnis von Potentialität und Aktualität des Lebens verlagert sich in diesem Kontext in Richtung der Frage nach der Technisierung des Lebens sowie umgekehrt nach der Verlebendigung des Technischen. Auf der einen Seite versetzen uns biotechnologische Entwicklungen in die Lage, den menschlichen Organismus und mithin das bewusste Erleben im Sinne einer „Phänomenotechnik“¹⁵ so zu modifizieren, dass der Welt- und Selbstzugang durch technische Instanzen medialisiert wird. Auf der anderen Seite werden die technischen Interaktanten nicht nur im Hinblick auf ihr Interface und ihre Bedienungsmöglichkeiten vermenschlicht, sondern etwa im Bereich des ar Spengler, Oswald: Der Mensch und die Technik, München, . Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, . Vgl. List, Elisabeth: Ethik des Lebendigen, Weilerswist, . Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung: Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main, .
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Thiemo Breyer und Oliver Müller
tificial life ¹⁶ mit basalen Mechanismen organischen Lebens ausgestattet. Leben erscheint hier nicht mehr an das evolutionär gewachsene Substrat natürlicher Lebewesen gekoppelt zu sein, sondern an die Konfiguration bestimmter Strukturen und Merkmale, die in vitro ebenso wie in silicio hergestellt werden können. Auf der anderen Seite entstehen durch die moderne Biotechnologie Entitäten, die die klare Unterscheidung zwischen „natürlich“ und „künstlich“ in Frage stellen, was zum Begriff des „Biofaktes“¹⁷ geführt hat und zur euphorischen Identifizierung von biotechnischen Chimären und Hybriden, die es erlaubt, dualistisch gestützte Machtkonstellationen hinter uns zu lassen.¹⁸ Neben der Synthetischen Biologie, die sich zum erklärten Ziel gesetzt hat, neue Lebensformen zu schaffen, was dazu geführt hat, dass Begriffschimären wie artificial cell und living machines zu kursieren begannen und damit auch die Praktiken der Forscher hybridisierten,¹⁹ ist vor allem der ontologische Status der „Krebsmaus“, der die Orientierungsfunktion des Lebensbegriffs herausfordert: „In der Krebsmaus zieht sich die Technik zurück und der künstlich als Forschungsobjekt erzeugte Tumor in einen lebendigen Organismus. Umgekehrt verschwindet die Natur in der Technik – die Tumorbildung präsentiert sich als verlässlich reproduzierbarer technischer Prozess. Einerseits haben wir es mit etwas durch und durch Technischem zu tun, andererseits sehen wir überall nur kreatürliche Natur und nirgendwo etwas Technisches.“²⁰ Die vielbeschworene ergologische Dimension menschlicher Kultur erreicht schließlich in der Synthetisierung von Naturalem und Technischem im menschlichen Körper selbst eine brisante Steigerungsform. Die Erweiterung des kinästhetischen und kognitiven Möglichkeitsraumes durch Prothesen oder Implantate – bis hin zum direkten Eingriff ins Gehirn und der Hybridisierung organischer und künstlicher neuronaler Netzwerke – spitzt auf praktische Weise die funktionalistische Grundthese²¹ zu, dass das Mentale nicht an ein spezifisches Trägermaterial gebunden ist, sondern als abstrakte Informationsverarbeitung unterschiedlich
Vgl. als Einführung Langton, Christopher: Artificial Life: An Overview, Cambridge, MA, . Karafyllis, Nicole C.: Biofakte:Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn, . Vgl. Haraway, Donna: Science, technology and social feminism in the late twentieth century, in: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York, , – . Vgl. Müller, Oliver: Synthetic biology: On epistemological black boxes, human self-assurance, and the hybridity of practices and values, in: Boldt, Joachim (Hrsg), Synthetic Biology: Metaphors, Worldviews, Ethics, and Law, Wiesbaden, , – . Nordmann, Alfred: Technikphilosophie zur Einführung, Hamburg, , . Vgl. als frühe Formulierung Putnam, Hilary: Minds and machines, in: Hook, Sidney (Hrsg.), Journal of Symbolic Logic, New York, , – ; Crane, Tim: The Mechanical Mind: A Philosophical Introduction to Minds, Machines and Mental Representation, London, .
Einleitung
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implementiert werden kann. Auf theoretischer Ebene hat freilich in den letzten beiden Jahrzehnten das Forschungsprogramm der Embodied Cognitive Science ²², zu einer weitreichenden Kritik der klassischen Computertheorie des Geistes geführt. Im Zuge dessen wurde die starke Abhängigkeit kognitiver Vorgänge von den organischen Voraussetzungen ins Zentrum des Interesses gerückt und eine Integration auch der phänomenalen Erlebnisdimensionen angestrebt. Wir hoffen, dass wir mit unserer kurzen Tour d’Horizon zeigen konnten, wie vielschichtig das Potential ist, das sich mit der Auslotung der Funktionen des Lebendigen verbindet. Neben dem phänomenologischen, anthropologischen, epistemologischen, ontologischen, wissenschaftstheoretischen, psychopathologischen, ethnologischen Arbeitsprogramm, das unserer Meinung nach in Zukunft im Rahmen einer interdisziplinären Anthropologie produktiv verfolgt werden sollte, verbindet sich mit der Rekonstruktion und dem Verstehbarmachen der verschiedenen Ebenenen, Dimensionen und Implikatinen der Funktionen des Lebendigen auch ein zeitdiagnostisches Potential, das uns die Welt, in der wir mit den Produkten, Entitäten und Logiken unserer Technologien leben, verstehbar machen hilft.
Literaturverzeichnis Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 1981. Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Gesammelte Werke 6, Hamburg, 2000. Cassirer, Ernst: „Geist“ und „Leben“ in der Philosophie der Gegenwart, in: Aufsätze und kleine Schriften 1927 – 1931, Gesammelte Werke 17, Hamburg, 2004, 185 – 205. Cassirer, Ernst: An Essay on Man: An Introduction to a Philosophy of Human Culture, Gesammelte Werke 23, Hamburg, 2006. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Band: Die Sprache, Gesammelte Werke 11, Hamburg, 2009. Crane, Tim: The Mechanical Mind: A Philosophical Introduction to Minds, Machines and Mental Representation, London, 2015. Debruyne, Hans/Portzky, Michael/Eynde, Frédérique Van den/Audenaert, Kurt: Cotard’s syndrome: A review, in: Current Psychiatry Reports 11/3, 2009, 197 – 202. Ganten, Detlev/Gerhardt, Volker/Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.): Funktionen des Bewusstseins, Humanprojekt 2, Berlin/New York, 2008. Heilinger, Jan-Christoph/Jung, Matthias (Hrsg.): Funktionen des Erlebens: Neue Perspektiven des qualitativen Bewusstseins, Humanprojekt 5, Berlin/New York, 2009.
Vgl. Varela, Francisco J./Thompson, Evan/Rosch, Eleanor: The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, MA, .
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Thiemo Breyer und Oliver Müller
Gerhardt, Volker: Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit, in: Heilinger, Jan-Christoph (Hrsg.): Naturgeschichte der Freiheit, Humanprojekt 1, Berlin/New York, 2007, 457 – 479. Haraway, Donna: Science, technology and social feminism in the late twentieth century, in: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York, 1991, 149 – 181. Karafyllis, Nicole C.: Biofakte: Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn, 2003. Langton, Christopher: Artificial Life: An Overview, Cambridge, MA, 1997. List, Elisabeth: Ethik des Lebendigen, Weilerswist, 2009. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966. Müller, Oliver: Synthetic biology: On epistemological black boxes, human self-assurance, and the hybridity of practices and values, in: Boldt, Joachim (Hrsg.): Synthetic Biology: Metaphors, Worldviews, Ethics, and Law, Wiesbaden, 2016, 31 – 45. Nordmann, Alfred: Technikphilosophie zur Einführung, Hamburg, 2008. Putnam, Hilary: Minds and machines, in: Hook, Sydney (Hrsg.), Journal of Symbolic Logic, New York, 1960, 57 – 80. Rakison, David/Poulin-Dubois, Diane: Developmental origin of the animate–inanimate distinction, in: Psychological Bulletin 127/2, 2001, 209 – 228. Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Philosophische Kultur: Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin, 1998, 195 – 219. Spengler, Oswald: Der Mensch und die Technik, München, 1931. Varela, Francisco J./Thompson, Evan/Rosch, Eleanor: The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, MA, 1991. Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung: Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main, 2002.
I Formen des Lebendigen
Christian Bermes
Leben als Form der Praktischen Vernunft Abstract: Life as a form of practical reason.The following contribution is concerned with the relationship between philosophical anthropology and ethics. On the basis of philosophical anthropology (Scheler, Plessner, Gehlen), it will be argued that life cannot be adequately defined through properties. Instead, life must be understood as a concept of form, and our understanding of life is grounded on the understanding of forms of life. It is against this background that Plessner’s anthropological laws can be conceived and interpreted as laws of practical reason. They determine practical reason, inasmuch as they determine life.
1 Wissen wir, was Leben ist? Einerseits ja, andererseits nein, wenn man Locke folgen möchte, der im Essay Concerning Human Understanding darauf zu sprechen kommt, was man wohl mit der Idee des Lebens verbinden darf. „Fast jeder“, so bemerkt er, würde sich beleidigt fühlen, wenn man ihn fragte, was er darunter verstehe. Wenn jedoch entschieden werden soll, ob eine Pflanze, die im Samenkorn fertig ausgebildet vorliegt, Leben habe, ob der Embryo im Ei vor der Bebrütung oder ein Ohnmächtiger ohne Sinnesempfindung und Bewegung am Leben sei oder nicht, dann ist leicht zu beobachten, daß mit der Anwendung eines so bekannten Wortes wie ‚Leben‘ nicht immer auch eine klare, deutliche, feststehende Idee einhergeht.¹
Lockes Unbehagen dürfte auch heute noch zutreffen. Auf der einen Seite stehen Wissensansprüche, die das Lebendige über die adäquate Bestimmung von Eigenschaften (Reizbarkeit, Motilität, komplexe Organisation u.v.m.) zu treffen suchen. Auf der anderen Seite werden wir mit einer Gewissheit konfrontiert, in der das Lebendige nicht als ein Gegenstand auftritt, der durch Eigenschaften bestimmt ist, sondern sich durch seine Form auszeichnet, in der es sich als Leben realisiert. Letzteres dürfte auch bei Wittgenstein eine Rolle spielen, wenn er in den Philosophischen Untersuchungen im Kontext seiner Analysen zum Gebrauch der Empfindungsausdrücke folgende Überlegung anstellt:
Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand (), mit einer Bibliographie von Reinhard Brandt, Hamburg, , III, , f.
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Christian Bermes
Schau einen Stein an und denk dir, er hat Empfindungen! – Man sagt sich: Wie konnte man auch nur auf die Idee kommen, einem Ding eine Empfindung zuzuschreiben? Man könnte sie ebensogut einer Zahl zuschreiben! – Und nun schau auf eine zappelnde Fliege, und sofort ist diese Schwierigkeit verschwunden und der Schmerz scheint hier angreifen zu können, wo vorher alles gegen ihn, sozusagen glatt war.²
Nicht wenigen Diskussionen um das Lebensphänomen scheint diese Differenz zwischen Leben als einem Gegenstand, der durch Eigenschaften bestimmt ist, und Leben als Form zugrunde zu liegen. Wir finden sie in der Auseinandersetzung um die Biologie,³ aber auch beispielsweise in der Bioethik, wenn etwa danach gefragt wird, ob Leiden bzw. Leidensfähigkeit oder Bewusstsein bzw. Bewusstseinsfähigkeit als ausgezeichnete Eigenschaften angenommen werden dürfen oder müssen, um einen adäquaten Umgang mit dem betroffenen Lebewesen zu ermöglichen. Hier kann stets geltend gemacht werden, dass erstens diese Merkmale oder auch andere fraglich sind und (lässt man sich auf eine solche Argumentationen ein) zweitens diese Merkmale nur sinnvoll sein können, wenn sie adäquat benutzt werden – oder anders ausgedrückt, wenn sie als Lebenseigenschaften einer Lebensform verständlich werden. Denn die Lebensform scheint dasjenige zu sein, an dem unsere Rede über das Leben ‚angreifen‘ muss, um nicht auf begrifflichem Glatteis zu landen. Vor dem Hintergrund der Bemerkungen von Locke und Wittgenstein zeigen sich demnach mindestens zwei Unterscheidungen, die – wenn sie nicht beachtet und gesondert werden – zu Konfusionen führen können. Die erste Unterscheidung zwischen ‚lebendig‘ und ‚nicht-lebendig‘ ist gegenüber demjenigen, auf das sie angewendet wird, in einem erkenntnistheoretischen Sinne neutral. Findet sich die Eigenschaftsgruppe x an dem Ding y, dann gehört x zu den lebenden Dingen (falls es so etwas geben sollte). Mit Blick auf diese Art Eigenschaften können verschiedene Unsicherheiten bestehen. Sie können vorliegen oder nicht gegeben sein. Man kann sich aber auch darin täuschen, dass diese oder jene Eigenschaft zur Charakterisierung von Leben bestimmend ist, und man kann erörtern, wie die Eigenschaften selbst zu charakterisieren und zu fixieren sind. All dies ist nicht verwunderlich, da mit Wissensansprüchen operiert wird, die als solche auch Zweifelsmöglichkeiten erlauben. Doch, und dies ist der zweite Aspekt, die soeben angeführte Unterscheidung zwischen ‚lebendig‘ und ‚nicht-lebendig‘ ist selbst nur sinnvoll, wenn die Form des Lebens bereits verständlich ist. Wir können vielleicht
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. , Frankfurt am Main, , § . Vgl. z. B. Thompson, Michael: Leben und Handeln (engl. ), übers. von Matthias Haase, Frankfurt am Main, , ff.
Leben als Form der Praktischen Vernunft
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einem Stein Empfindungen zusprechen, doch einer Fliege sprechen wir in diesem Sinne keine Empfindungen zu. Wir verstehen demgegenüber die Lebensform der Fliege, in der die Rede von Empfindungen sinnvoll sein kann. Wir können vielleicht auch einem Wellensittich zum Geburtstag gratulieren, doch dieses Verhalten erscheint uns entweder verwunderlich, witzig, mysteriös oder auch fremd, weil es keinen Anhalt in der Lebensform für einen solchen Akt gibt.Wird dies nicht beachtet, wird nicht in Rechnung gestellt, dass Form des Lebens gegenüber dem Konzept der Eigenschaften primär ist, so kann es zu Missverständnissen kommen, die alles andere als selten sind. Das Begreifen des Lebens als Form der Realisierung vollzieht sich dabei nicht in Akten des Wissens, sondern im Verstehen von Lebensvollzügen. Diese Vollzüge werden nicht getestet oder geprüft, sie bilden den Rahmen für unser Verständnis von Leben. Die erste These, die im anschließenden Abschnitt illustriert werden soll, besagt, dass mit der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert eine Disziplin auftritt, die den Formbegriff des Lebens zu fassen sucht. Leben wird nicht über Eigenschaften charakterisiert, sondern über die Form, in der sich Leben realisiert und vollzieht. Um dieses gemeinsame Merkmal der Philosophischen Anthropologie herauszustellen, werden die Differenzen, die ganz offensichtlich zwischen den Vertretern dieser Denkrichtung bestehen, keineswegs geleugnet, sie rücken aber auch nicht in den Vordergrund. In einem zweiten, daran anschließenden Teil soll ausgeführt werden, wie die Unterscheidung zwischen Leben als Formbegriff und Leben als eigenschaftsabhängigem Zuschreibungsbegriff zur Praktischen Philosophie führt. Auch hier wird die These eindeutig sein: Von einem Begriff des Lebens, der an Eigenschaften orientiert ist, führt kein Weg zur Praktischen Philosophie (und wenn vielleicht doch, dann ein sehr brüchiger und gefahrenvoller). Wird aber Leben als Formbegriff verständlich, so führt dies zu einer Konturierung der Praktischen Vernunft. Vor dem Hintergrund der klassischen Konzepte der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts bei Scheler, Plessner und Gehlen kann Letzteres freilich nur als Fluchtpunkt formuliert werden. Denn die Autoren übten in der Ausformulierung ihrer Ansätze auf die Praktische Philosophie hin Zurückhaltung. Gleichwohl aber kann deutlich werden, dass etwa Plessners Fixierung der anthropologischen Grundgesetze in letzter Instanz als Gesetze der Praktischen Vernunft zu begreifen sind. Denn man kann sich zu Recht fragen, welche Kraft diese Gesetze haben und worüber sie ausgesagt werden. Der hier entwickelte Vorschlag lautet: Im Falle der anthropologischen Grundgesetze Plessners handelt es sich um Gesetze, die den Rahmen markieren, innerhalb dessen sich die Praktische Vernunft realisieren kann. Es sind Gesetze zur Konturierung der Praktischen Vernunft vor dem Hintergrund der Form menschlichen Lebens.
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Christian Bermes
Um den Rahmen und den Kontext der folgenden Überlegungen noch deutlicher hervortreten zu lassen, ist auf mindestens zwei weitere Momente aufmerksam zu machen, die im Hintergrund stehen und das Vorhaben untermauern können. Die Wirkung der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts entfaltet sich – wenn auch nicht ausschließlich, so doch größtenteils – in den Bereichen der Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie oder auch Soziologie und Kulturphilosophie. Es ist unstrittig, dass die unterschiedlichen Konzepte Schelers, Plessners und Gehlens wesentliche Beiträge zu prekären Fragestellungen einer Philosophie oder Wissenschaftstheorie der Lebenswissenschaften liefern; ebenfalls steuern sie tragende Bausteine zur Grundlegung der Soziologie bei und offerieren darüber hinaus eine Option zur Begründung der Kulturphilosophie. Doch wenn der vermutete – und wohl nicht ganz falsche – prinzipielle Grundlegungsanspruch der Philosophischen Anthropologie ernst genommen wird, dann muss er auch am Grund oder im Kern der Praktischen Philosophie wirksam werden.⁴ Dieses Potential ist jedoch bislang kaum berücksichtigt worden; es ist dementsprechend zu eruieren, in welchem prinzipiellen Sinne es sich auswirken kann. Nur in einem sekundären Sinne würde es zur Geltung kommen, wenn die Ergebnisse der Anthropologie dazu genutzt würden, einen besonderen Gegenstand, der mir ‚Leben‘ bezeichnet wird, als moralisch wertvoll zu kennzeichnen, so dass die Philosophische Anthropologie nur spezifische Objekte einer ansonsten davon unabhängigen Praktischen Vernunft identifizierte, um sie hervorzuheben. Dieser sekundäre Zugang würde etwa vorliegen, wenn man zu der Feststellung gelangte, dass ein Unterschied bezüglich der normativen Dignität zwischen Pflanzen und Tieren bestehe, der für die ethische Beurteilung wichtig ist. In einem primären und grundsätzlichen Sinne aber würde sich das Potential der Philosophischen Anthropologie im Feld der Praktischen Philosophie auswirken, wenn der moralische Sinn der Beurteilung selbst, und damit die Praktische Vernunft, zum Thema würde. Letzteres ist das Thema dieser Ausführungen. Mit Blick auf die Praktische Philosophie, dies ist das zweite Moment, könnte eine derart anthropologisch konturierte Form der Praktischen Vernunft dem Auseinanderdriften zwischen Metaethik und normativer Ethik entgegenwirken sowie der zunehmenden und fragwürdigen Provinzialisierung der Bereichsethiken Einhalt gebieten. Die Beobachtung ist sicher nicht ganz falsch, dass in den gegenwärtigen Diskussionen der Praktischen Philosophie mit hoher Subtilität metaethische Probleme erörtert werden, die Gesprächspartner dabei aber Gefahr
Mit Blick auf die Politische Philosophie wird die Diskussion geführt in Raulet, Gérard u. a. (Hrsg.): Philosophische Anthropologie. Themen und Positionen. Band : Philosophische Anthropologie und Politik, Teilbände, Nordhausen, .
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laufen, den grundsätzlich normativen Anspruch der Ethik auszusparen.⁵ Dies geht einher mit einer beispiellosen Konjunktur der Bereichsethiken (Umweltethik, Medizinethik, Wirtschaftsethik etc.), so dass der Eindruck einer problematischen Arbeitsteilung entstehen könnte: Die allgemeine Ethik behandle metaethische Fragestellungen, während die Bereichsethiken die Lösung der Normativität zu ihrem Geschäft erklärten. Wäre dies der Fall, würde jedoch ein klassisches Prinzip der Ethik in Frage gestellt, wenn nicht gar für obsolet erklärt: die Einheit der Praktischen Vernunft und die Unteilbarkeit der ethischen Maßstäbe. Wenn sich aber zeigen lässt, dass die Form der Praktischen Vernunft bestimmt werden kann, dann ist zumindest ein Weg zur Rehabilitierung dieses klassischen Prinzips der Ethik gebahnt. Dies kann freilich hier nur als Perspektive angedeutet werden. Die Überlegungen entfalten somit folgenden Gedankengang: Vor dem Hintergrund des Formbegriffs des Lebens zeigt sich, dass die Praktische Vernunft von der Theoretischen Vernunft nicht einfach dadurch zu unterscheiden ist, dass sie es mit anderen ‚Gegenständen‘ (etwa dem ‚Handeln‘ gegenüber dem ‚Verhalten‘, den ‚Normen‘ gegenüber den ‚Sachen‘, den ‚Gütern‘ gegenüber den ‚Dingen‘ u. a.m.) zu tun hat. Die Praktische Vernunft zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass ihre Form eine andere ist, dass die Art und Weise ihres Erwägens, Erkundens, Beurteilens, Abschätzens etc. verschieden ist von der theoretischen Betrachtung, und dass sie an dem partizipiert,was ihr Gegenstand ist, dem Leben. Damit soll die Perspektive eröffnet werden, die Philosophische Anthropologie mit Blick auf die Praktische Philosophie neu zu lesen.
2 Die Diät, die sich die Vertreter der Philosophischen Anthropologie bezüglich der Praktischen Philosophie auferlegt haben (und die historisch durchaus nachvollziehbar ist), wird freilich nicht ganz eingehalten. Denn spätestens wenn die Ausdrücke ‚Leben führen‘ und ‚Leben haben‘ genutzt werden, um menschliches von nicht-menschlichem Leben zu unterscheiden, öffnen sich die Tore zur Praktischen Philosophie. Plessner und Gehlen verwenden bekanntlich diese Ausdrücke in verschiedenen Kontexten:⁶
Vgl. hierzu u. a. Ronald Dworkins Diagnose in: Gerechtigkeit für Igel (engl. ), übers. von Robin Celikates und Eva Engels, Frankfurt am Main, , ff. Dies schließt nicht aus, dass die Vertreter in der Ausformulierung der genannten Topoi durchaus verschiedene Akzente setzen.
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Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt […] Infolgedessen lebt der Mensch weder einfach das zu Ende, was er ist, er lebt sich nicht aus (das Wort in seiner Unmittelbarkeit radikal verstanden), noch macht er sich nur zu dem, was er ist. […] Für die Philosophie erklärt sich diese ‚Querlage‘ des Menschen aus der exzentrischen Positionsform, aber damit ist ihr nicht geholfen.Wer in ihr steht, steht in dem Aspekt einer absoluten Antinomie: Sich zu dem erst machen zu müssen, was er schon ist, das Leben zu führen, welches er lebt.⁷
Der Mensch ist nicht ‚festgerückt‘ heißt: er verfügt noch über seine eigenen Anlagen, um zu existieren, er verhält sich zu sich selbst, lebensnotwendig, wie dies kein Tier tut, er lebt nicht, wie ich zu sagen pflege, er führt sein Leben. Nicht aus Spaß, und nicht zum Luxus des Nachdenkens, sondern aus ernster Not.⁸
Mit Blick auf diese und ähnliche Bemerkungen darf man wohl davon ausgehen, dass Philosophische Anthropologie und Ethik bzw. Praktische Philosophie miteinander verschränkt sind, dass sie auf irgendeine Weise zusammenhängen, aufeinander aufbauen oder sich zueinander hinbewegen.⁹ Wie auch immer dieser Zusammenhang genau besteht, er ist vermittelt über den Begriff des Lebens. Offensichtlich nutzen dabei alle Vertreter der Philosophischen Anthropologie das biologische Wissen ihrer Zeit. Sie nutzen es zum einen als Quelle zum anderen
Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch (), GS IV, Frankfurt am Main, , . Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, GA ., Frankfurt am Main, , . Und auch bei Scheler findet man eine ähnliche Überlegung, die er jedoch nicht mit Hilfe der Konzepte ‚Leben haben‘ und ‚Leben führen‘ entwickelt, sondern am Begriff der Person und ihrem Verhältnis zum Leib vorstellt: „Wer vorwiegend in seinem Leibbewußtsein so lebt, daß er sich mit dessen Gehalt identifiziert, ist keine Person. Erst, wer den ihm in äußerer und innerer Wahrnehmung identifizierbaren Leib noch durch das Band ‚mein Leib‘ zu sich ‚gehörig‘ erlebt (ein Phänomen, das eine Voraussetzung auch für die Idee des Eigentums bildet), darf diesen Namen führen. Die Leibeinheit (im Unterschied zur Person) ist eine gegenständliche, obzwar nicht notwendig als Ding gegebene (geschweige als Körper), wohl aber noch als ‚Sache‘ gegebene Einheit. Und nur wo der Leib als Sache gegeben ist, die einem Etwas ‚eigen‘ ist, das sich in dieser Sache auswirkt und sich unmittelbar als auswirkend weiß, ist eben dieses ‚Etwas‘ eine Person.“ (Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (/), hrsg. von Christian Bermes, Hamburg, , ) Zur historischen Dimension der Verbindung von Anthropologie und Ethik seit Kant vgl. Bermes, Christian: Das Spiel des Lebens und der Mensch. Kant und die Anthropologie, in: Manfred Kugelstadt (Hrsg.): Kant-Lektionen. Zur Philosophie Kants und zu Aspekten ihrer Wirkungsgeschichte, Würzburg, , – ; ders.: Weltoffenheit und Integrität. Die ethische Bedeutung der Anthropologie, in: Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Band : Philosophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler und Helmuth Plessner im Vergleich, Berlin, , – .
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als Reibungsfläche. Mit ungeheurem Aufwand rezipieren Scheler, Plessner und Gehlen die jeweils zeitgenössischen biologischen Befunde und Konzepte, um sie als Materialsammlung in ihre Überlegungen eingehen zu lassen. Im gleichen Atemzug übernehmen sie jedoch nicht die Perspektive der Biologie, sondern beanspruchen eine Sichtweise, die grundsätzlich anderer Natur ist. Der Unterschied dürfte nicht zuletzt darin liegen, dass der Lebensbegriff der Philosophischen Anthropologie eine Evidenz beansprucht, die nicht an eine Bestimmung durch Eigenschaften gebunden ist. Denn besonders der Eigenschaftsbegriff im Kontext der Bestimmung von Leben wird als prekär erkannt. Geradezu paradigmatisch ist dies bei Plessner zu sehen. Plessner bestimmt den Unterschied zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem bekanntlich über den Grenzbegriff. Nicht-Lebendiges besitzt eine Grenze im Sinne eines Randes, der für das Nicht-Lebendige kontingent ist, da dieser Rand von dem jeweiligen Medium mitbestimmt wird, den das Nicht-Lebendige umgibt. Steine und Flüsse haben Grenzen im Sinne von Rändern, insofern sie an ihre Umgebung stoßen: Der Fluss wird durch das Ufer begrenzt. Doch diese Grenze lässt sich nicht als Eigenes des Flusses begreifen, sondern nur als Grenze zwischen Fluss und Ufer. Demgegenüber besitzt Lebendiges eine eigene Grenze, die dem Lebendigen selbst zukommt. Das Lebendige ist durch einen Bezug zu seiner Grenze ausgezeichnet. Es hat sozusagen nicht einfach eine Grenze, sondern ist grenzhaft. Diese Überlegungen, die bei Plessner im Verlauf seiner Untersuchungen noch eine höhere Komplexitätsstufe erfahren, verbinden sich mit der Diskussion des Eigenschaftsbegriffs und dessen Problematisierung bzw. Relativierung: Körperliche Dinge der Anschauung, an welchem eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt, heißen lebendig. Mit dieser Bestimmung ist sogleich der Nerv der Schwierigkeiten im Eigenschaftscharakter des Lebendigseins berührt, das mit anderen Eigenschaften desselben Körpers nicht auf die gleiche Stufe gestellt werden kann. ¹⁰
Im Kern diskutiert Plessner im Anschluss daran und mit Blick auf den Eigenschaftsbegriff dasjenige Problem, das Peter Geach später und in einem anderen Kontext mit der Unterscheidung zwischen attributiven und prädikativen Eigenschaften zur Diskussion gestellt hat.¹¹ Geachs Differenzierung kann helfen, Plessners Unterscheidung zwischen der Grenze als einer eigenständigen Aus-
Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, (eigene Hervorhebung). Geach, Peter: Good and Evil, in: Analysis , , – .
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zeichnung des Lebens und den Eigenschaften, die darüber hinaus noch von Lebewesen ausgesagt werden können, zu verstehen.¹² Geachs Gedankengang entwickelt sich zwar vor dem Hintergrund einer sprachlogischen Analyse, trifft der Sache nach aber durchaus Plessners Intuition. Das Adjektiv ‚weiß‘ im Falle der Aussage ‚Das Auto ist weiß‘ fungiert prädikativ, da das Farbwort unabhängig von dem Substantiv, auf das es bezogen ist, verständlich wird. Das Adjektiv ‚weiß‘ ist sozusagen logisch ungebunden, es kann einer Uhr oder einer Kette zugeschrieben werden und funktioniert in allen Fällen im logischen Sinne gleich. Bei Plessner heißt es, wenn auch nicht in der sprachphilosophischen Diktion: Eine solche Eigenschaft ist „eine relative Entität, ein für sich Bestehendes“, weil sie „transponierbar und an anderen Dingen, in anderen Materialien wiederherstellbar ist.“¹³ Von den prädikativen Adjektiven unterscheidet Geach die attributiven. Die Eigenschaft ‚klein‘ in der Aussage ‚Die Fliege ist klein‘ ist als attributive Eigenschaft zu begreifen. Wenn sich nämlich herausstellen sollte, dass die Fliege ein Floh ist, dann wird ‚klein‘ zu ‚groß‘. Attributive Eigenschaften sind also abhängig von dem X, dem sie zugeschrieben werden, sie sind logisch gebunden. Wenn Plessner nun von der Grenze als einer Eigenschaft des Lebendigen spricht, so spricht er ebenfalls von einer attributiven, nicht von einer prädikativen Eigenschaft: „Die Grenze gehört reell dem Körper an, der damit nicht nur als begrenzter an seinen Konturen den Übergang zu dem anstoßenden Medium gewährleistet, sondern in seiner Begrenzung vollzieht und dieser Übergang selbst ist.“¹⁴ Lebendiges realisiert seine Grenze. Grenzrealisierung bestimmt die Form, die Lebendiges auszeichnet, sie ist keine prädikative Eigenschaft, die unabhängig vom Leben ausgesagt werden könnte, sie ist diejenige Form, in der sich Leben realisiert. Oder noch kürzer ausgedrückt: Das Begreifen von Leben ist an das Verstehen des Lebensvollzugs in seiner Form gebunden. Leben erweist sich damit als eine selbständige Kategorie, die in ihrer Eigenständigkeit zu verstehen und zu begreifen ist, was Scheler bereits früh forderte, indem er im Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik darauf hinwies, „dass ‚Leben‘ eine echte Wesenheit ist, nicht ein ‚empirischer Gattungsbegriff‘, der nur die ‚gemeinsamen Merkmale‘ aller irdischen Organismen in eins faßte“.¹⁵
Zu dieser Unterscheidung mit Blick auf Scheler und die Bestimmung des Personbegriffs vgl. Bermes, Christian: Zwischen Leben und Lebensform. Der Begriff der Person und die Anthropologie, in: Inga Römer, Matthias Wunsch (Hrsg.): Person. Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven, Münster, , – . Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, . Ebd., . Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, .
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3 Wenn wir sehr allgemein sagen, dass die Praktische Vernunft ein Wissen um die guten Ziele und richtigen Mittel unseres Handelns, sowie um die rechte Art der Begründung unseres Tuns ist, so muss die Philosophische Anthropologie Auskünfte über den Rahmen der Verwirklichung dieses Vernunftvermögens erteilen können. Sie kann dies, indem sie erstens den Eigenschaftsbegriff im Falle des Lebens relativiert und zweitens den Rahmen freilegt, innerhalb dessen die Praktische Vernunft bestimmt werden kann. Der Eigenschaftsbegriff (im Sinne der prädikativen Adjektive Geachs) ist für die Bestimmung der Praktischen Vernunft untauglich, denn er sagt nichts über die Praktische Vernunft selbst aus. Wird in diesem Sinne eine Eigenschaft isoliert und bewertet, so bleibt die Art der Bewertung offen und die Praktische Vernunft unterbestimmt. Projekte wie die evolutionäre Ethik oder auch das Singersche Vorhaben, die auf der Suche nach solchen Eigenschaften sind, gehen somit letztendlich am Leben und an der Ethik vorbei, weil sie zum einen die Eigenständigkeit der Form des Lebens nicht im Blick haben und zum zweiten keinen selbständigen Begriff der Praktischen Vernunft kennen. Dies verhält sich im Falle der Bestimmung des Lebens als Form anders. Denn hier wird die Praktische Vernunft selbst bestimmt, da sie grundsätzlich nicht anders als zum Leben im Sinne der Lebensform des Menschen gehörig gedacht werden kann. Wenn wir in diesem Sinne verstehen wollen, wie sich die Praktische Vernunft verwirklichen kann, dann müssen wir das Medium und den Bereich verstehen, in dem sich die Praktische Vernunft realisiert – und dieser Bereich ist das Leben als Form verstanden. Wenn weiterhin Scheler den Menschen durch seine Weltoffenheit als eine Offenheit zu einem wertgebundenen Handeln bestimmt, Plessner die Sittlichkeit der exzentrischen Positionalität zuordnet und Gehlen den Menschen über seinen Handlungsbegriff beschreibt, um schließlich seine Untersuchungen in das Feld der Sittlichkeit einmünden zu lassen,¹⁶ so liegt das Ergebnis nahe, dass die Praktische Vernunft als Flucht- und Endpunkt der anthropologischen Bemühungen nicht aus dem Bereich zu abzulösen ist, aus dem heraus sie sich entwickelt: der Form des Lebens. Bei allen Differenzen zwischen den Protagonisten scheint dabei die Gehlen’sche Intuition der Umstellung der Analyse von einer, wie er es nennt, Metaphysik der Ursachen auf einen rekursiven Zusammenhang von Bedingungen eine geteilte Auffassung zu sein, die genau diesen Gedankengang verständlich machen Vgl. Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW , Bonn, , ff.; Gehlen: Der Mensch, ; Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, ff.
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kann. Der Begriff der Ursache, der beim Verstehen des Lebens nach Gehlen „vollständig zu verschwinden“ habe, „hat einen definablen Sinn nur da, wo einzelne Zusammenhänge isoliert werden können, also innerhalb echt experimenteller Wissenschaften.“ Um keinen Kategorienfehler zu begehen, fordert Gehlen demgegenüber die Umstellung der Fragen von Ursachen auf Bedingungen. „Man fordert also: ohne A kein B, ohne B kein C, ohne C kein D usw. Läuft diese Reihe in sich zurück – ohne N kein A –, so ist ein totales Verständnis des betrachteten Systems gelungen, ohne dass irgendwo die Metaphysik der einen Ursache Platz hätte.“¹⁷ In diesem Sinne ist das Feld, das sich von der Beschreibung der biologischen Konstitution bis hin zur Praktischen Vernunft entfaltet, rekursiv, so dass man einerseits wird sagen können, ohne Kehlkopf keine Sprache, aber auch rückwirkend wird sagen müssen, ohne Praktische Vernunft keine adäquate Beschreibung des Gebrauchs der Hand des Menschen. Denn nur so können wir verstehen, was die Hand zur Hand des Menschen macht. Sicherlich ist gerade dieser Zusammenhang im Detail erläuterungsbedürftig, jedoch in seiner Konsequenz klar: Die Praktische Vernunft gehört zur Form des Lebens und zwar des menschlichen Lebens. Ohne an dieser Stelle auf die jeweils spezifischen Thesen der Autoren zu diesem rekursiven Zusammenhang eingehen zu können, erscheint es lohnend, sie im Ergebnis an einem Beispiel zu illustrieren. Hierzu bieten sich die anthropologische Grundgesetze Plessners an, die er aus der exzentrischen Positionalität des Menschen gewinnt und die als Formbestimmung der Praktischen Vernunft gelesen und interpretiert werden können. Denn man muss sich bei der Lektüre Plessners die einfache Frage stellen, in welchem Sinne hier von ‚Gesetzen‘ gesprochen werden kann.¹⁸ Die Antwort, dass es sich um Gesetze der Praktischen Vernunft handelt, die sich aus der Beschreibung der Form des Lebens ergeben, muss vielleicht nicht als einzig mögliche angesehen werden, sie muss aber auch nicht die schlechteste sein, und sie könnte geradezu als die vernünftigste sein, um das Vorhaben Plessners fortzuschreiben und auszuformulieren. Gesetz der natürlichen Künstlichkeit: „Als exzentrisch organisiertes Wesen muß“, der Mensch, „sich zu dem, was er schon ist, erst machen.“¹⁹ Auf die Form der Praktischen Vernunft angewendet bedeutet dieses Gesetz, dass der Mensch ein Lebewesen ist, das aufgrund seiner Konstitution ihm eigene Organe benötigt, um Gehlen: Der Mensch, f. Vgl. zum Folgenden ebenfalls Bermes, Christian: Welche Antworten darf man von der Philosophischen Anthropologie erwarten?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie /, (im Druck). Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, .
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sein Leben zu leben. Diese Organe sind vielfältig, zu ihnen gehören die Hände und der Kehlkopf wie auch das Gehirn oder die Haut. Zu diesen Organen gehören aber weitere, welche sich im ganzen Feld der Kultur zeigen, wozu Technik, Wissenschaft, aber eben auch Sittlichkeit zählen. In diesem Sinne ist die Moral als Lebensmittel bzw. als Organ der Lebensführung zu begreifen. Sie ist zwar vom Menschen zur erwerben, aber nicht lebens-fremd. Sie ist als zu erwerbendes Lebensmittel künstlich, jedoch keineswegs unnatürlich. Die Moral gehört in ihrer Künstlichkeit zur Natur des Menschen in seiner Lebensform. Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit konturiert damit die Praktische Vernunft, insofern die Praktische Vernunft begrenzt wird, sie kann sich nicht vom Leben der Lebensform Mensch dispensieren. Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit: Exzentrizität der Position läßt sich als eine Lage bestimmen, in welcher das Lebenssubjekt mit allem in indirekt-direkter Beziehung steht […]. Eine indirekt-direkte Beziehung soll diejenige Form der Verknüpfung heißen, in welcher das vermittelnde Zwischenglied notwendig ist, um die Unmittelbarkeit der Verbindung herzustellen bzw. zu gewährleisten.²⁰
Plessner knüpft den Befund der vermittelten Unmittelbarkeit eng mit der Sprache, die einen unmittelbaren Weltkontakt verhindert, gleichzeitig jedoch erst das konstituiert, was für uns Welt in ihrer direkten Gegebenheit bedeuten kann. Mit Blick auf die Form der Praktischen Vernunft und die Zielsetzung menschlichen Handelns bedeutet dieser Befund, dass Tiere beispielsweise etwas mit Blick auf ein Ziel unternehmen können, etwa Vorräte sammeln und verstecken, Menschen aber Ziele begreifen und beurteilen können. Etwas als ein Ziel begreifen ist jedoch nichts Mysteriöses, das einem weltenthobenen oder lebensfernen Geist oder Subjekt zukommt, es ist vielmehr eingelassen in die Sprache des Menschen, die seine Lebensform auszeichnet. Dass wir etwas als Ziel verstehen und begreifen, hat mit dem Leben zu tun, nämlich der menschlichen Lebensform als sprachlich miteinander Handelnde. Gesetz des utopischen Standorts: Von dem Gesetz des utopischen Standorts sagt Plessner, dass ein Lebewesen wie der Mensch, das durch seine exzentrische Positionalität ausgezeichnet ist, etwas Eigentümliches entdeckt: „seine Einmaligkeit und Einzigkeit und korrelativ dazu (die) Individualität dieser Welt.“ Auch dieser Befund scheint eine Aussage über die Form der Praktischen Vernunft zu sein – und zwar eine Aussage über eine Spannung innerhalb Praktischen Vernunft selbst. Ebd., .
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Wenn es stimmt, dass die Moral ein Organ unserer Lebensführung ist, und wenn es stimmt, dass die Ziele unseres Lebens relativ auf das Leben der Lebensform Mensch sind, dann bleibt eine Spannung, die die Praktische Vernunft im Blick haben muss: nämlich die Spannung zwischen individuellem Glück, Wohl oder Wohlbefinden auf der einen Seite und der Vollkommenheit des menschlichen Lebens im Sinne der Übereinstimmung mit seiner Lebensform. Diese Spannung gehört zur Form der praktischen Vernunft selbst, nicht zu deren Inhalt, und diese Spannung gründet in der Lebensform des Menschen. Die Praktische Vernunft bietet weniger eindeutige Offerten zur Lösung dieser Spannung, als dass sie mit Spannung rechnen muss.²¹
4 Die Auslegung der Plessner’schen Grundgesetze auf die Praktische Philosophie hin kann hier nur als Skizze verstanden werden, die genaue Ausformulierung ist freilich noch durchzuführen. Doch der Ansatz kann vielversprechend sein – sowohl mit Blick auf die Philosophische Anthropologie als auch die Praktische Philosophie. Plessner hat Heidegger eine „metaphysische Drückebergerei“²² vorgeworfen, da Heidegger stets von der Existenz rede, jedoch die Existenz als Leben kaum im Blick habe. Nun sollte man es mit solchen Unterstellungen nicht übertreiben, aber auch in der Philosophischen Anthropologie findet sich vielleicht eine allzu vornehme Zurückhaltung, nämlich gegenüber der Ethik. Diese Einsilbigkeit ist jedoch alles andere als nötig, da sie im Gegenteil den Grundlegungsanspruch der Philosophischen Anthropologie zur Geltung bringen kann. Aber auch mit Blick auf die Praktische Philosophie bieten sich damit zahlreiche Anschlussmöglichkeiten. Die These von Philippa Foot ist eindeutig: Die Moralphilosophie „ist nichts anderes als ein Zweig einer Untersuchung des Guten, das in einer besonderen und allgemeinen Weise zum menschlichen Leben gehört.“ Und ihre Begründung für diese These führt dorthin zurück, wo die Philosophische Anthropologie endet, zum Leben als Form der Praktischen Vernunft. Sie führt nämlich aus, dass Zuschreibungen von ‚gut‘ ausnahmslos auf die Welt der Lebewesen, also auf Pflanzen, Tiere und Menschen, bezogen sind und dass die Vorstellung von gut und schlecht ohne den Bereich des Lebens inhaltsleer wäre. In einem Universum, in dem es keine Lebensformen
Vgl. hierzu die Analysen in Müller, Anselm: Leben als teleologischer Begriff, in: Philosophisches Jahrbuch , , – , bes.: ff. Plessner, Helmuth: Der Mensch als Lebewesen (), in: Conditio humana, GS VIII, Frankfurt am Main, , – , hier: .
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gäbe, wäre nichts entweder gut oder schlecht, und man kann nur annehmen, etwas in diesem unfruchtbaren Universum sei gut (oder auf irgendeine Weise wertvoll), wenn man sich stillschweigend auf etwas bezieht, das es in unserem Universum gibt bzw. geben könnte.²³
Den Neuanfang, den Foot hier für die Praktische Philosophie fordert, ist ein Anfang, der auf einen anderen Neuanfang verweist: Den Neuanfang der Philosophischen Anthropologie.
Literaturverzeichnis Bermes, Christian: Das Spiel des Lebens und der Mensch. Kant und die Anthropologie, in: Manfred Kugelstadt (Hrsg.): Kant-Lektionen. Zur Philosophie Kants und zu Aspekten ihrer Wirkungsgeschichte, Würzburg, 2008, 127 – 148. Bermes, Christian: Weltoffenheit und Integrität. Die ethische Bedeutung der Anthropologie, in: Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Band 2: Philosophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler und Helmuth Plessner im Vergleich, Berlin, 2010, 213 – 229. Bermes, Christian: Zwischen Leben und Lebensform. Der Begriff der Person und die Anthropologie, in: Inga Römer, Matthias Wunsch (Hrsg.): Person. Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven, Münster, 2013, 43 – 56. Bermes, Christian: Welche Antworten darf man von der Philosophischen Anthropologie erwarten?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 64/3, 2016 (im Druck). Dworkins, Ronald: Gerechtigkeit für Igel (engl. 2011), übers. von Robin Celikates und Eva Engels, Frankfurt am Main, 2012. Foot, Philippa: Die Natur des Guten (engl. 2001), übers. von Michael Reuter, Frankfurt am Main, 2004. Geach, Peter: Good and Evil, in: Analysis 17, 1956, 32 – 42. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, GA 3.1, Frankfurt am Main, 1993. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand (1690), mit einer Bibliographie von Reinhard Brandt, Hamburg, 1981. Müller, Anselm: Leben als teleologischer Begriff, in: Philosophisches Jahrbuch 119, 2012, 394 – 411. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), GS IV, Frankfurt am Main, 1981. Plessner, Helmuth: Der Mensch als Lebewesen (1967), in: Conditio humana, GS VIII, Frankfurt am Main, 2003, 314 – 327. Raulet, Gérard u. a. (Hrsg.): Philosophische Anthropologie. Themen und Positionen. Band 2: Philosophische Anthropologie und Politik, 2 Teilbände, Nordhausen, 2013. Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, Bonn, 1979.
Foot, Philippa: Die Natur des Guten (engl. ), übers. von Michael Reuter, Frankfurt am Main, , .
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Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/1916), hrsg. von Christian Bermes, Hamburg, 2014. Thompson, Michael: Leben und Handeln (engl. 2008), übers. von Matthias Haase, Frankfurt am Main, 2011. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main, 7 1990.
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Living Ways of Sense Making Abstract: According to enactivism, living beings are essentially sense-making beings. Life, in this view, is not taken as an object, but as a process. Important approaches in this tradition, such as the one developed by Maturana and Varela, understand living beings as autopoietic systems, still to a certain degree neglect the ability of adaptivity. As an alternative, positions such as those of MerleauPonty, Simondon, and Jonas do provide theoretical notions for this essential part of living beings. With the example of chemotaxis, the ability of bacteria to respond to their environment, this chapter gives an impulse for the further discussion of what it is to be a living being by referring to these conceptualizations. The biological example shows that living can be regarded as sense-making in precarious conditions, whereby sense-making is (1) sensibility as openness to the environment, (2) the significance of the environment to the living being (i. e. positive or negative valence), and (3) the orientation of the living being in response to the environment. In addition to the main analysis, this chapter also discusses two replies by Welton and Protevi, who have commented on the author’s book Mind in Life, dealing with the asymmetry of interiority and exteriority of living beings and an alleged panpsychism in his theory.
My title – Living Ways of Sense Making – comes from the title of a paper that Francisco Varela gave in 1981 to the Stanford International Symposium on „Disorder and Order.“¹ Building on his work on autopoiesis or the self-producing organization of living beings, Varela spoke as a neurobiologist concerned with the biology of mind.² His paper is notable both for being an early critique of the representationist view of the brain and cognition, and for being an early statement of
This text was first published in Philosophy Today, SPEP Supplement, , – . Varela, Francisco J.: Living ways of sense-making: A middle path for neuroscience, in: Livingston, Paisley (ed.): Disorder and Order: Proceedings of the Stanford International Symposium (Sept. – , ), Saratoga, , – . Varela, Francisco J./Maturana, Humberto R.: Autopoiesis and cognition: The realization of the living, in: Boston Studies in the Philosophy of Science , .
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an alternative view informed by phenomenology – a view we were later to call the enactive view of cognition.³ According to the enactive view, living beings are sense-making beings; they enact or bring forth significance in their intimate engagements with their environments. Here is how Varela put this idea at the outset of this early paper: „Order is order, relative to somebody or some being who takes such a stance towards it. In the world of the living, order is indeed inseparable from the ways in which living beings make sense, so that they can be said to have a world.“⁴ „The ways in which living beings make sense“ – these words have a double meaning. On the one hand, they refer to how living beings go about their sensemaking activities and thereby constitute and inhabit their worlds. On the other hand, they refer to how we understand living beings, how living beings make sense to us. In this way, these words point back to us as those living beings who have a pre-understanding of life and who can therefore raise the question, „what is living being?“ This question is the overarching question of Donn Welton’s and John Protevi’s papers responding to my book, Mind in Life. ⁵ Welton has examined how to integrate a „bottom up“ phenomenology of biological systems into a phenomenology of intentional consciousness, while Protevi has discussed whether this kind of integration of life and mind might lead us also to panpsychism. My way of entering this discussion and responding to their rich papers will be to take up again the question, „what is living being?“ Or, more simply and precisely, „what is living?“ My essay has four parts. First, I will say more about what I mean when I ask, „What is living?“ Second, I will present my way of answering this question, which is that living is sense-making in precarious conditions. Third, I will respond to Welton’s considerations about what he calls the „affective entrainment“ of the living being by the environment. Finally, I will address Protevi’s remarks about panpsychism.
Varela, Francisco J./ Thompson, Evan/Rosch, Eleanor: The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Cambridge/MA, . Varela: Living ways of sense-making, . Welton, Donn: Can a top-down phenomenology of intentional consciousness be integrated with a bottom-up phenomenology of biological systems?, in: Philosophy Today, , – ; Protevi, John: Deleuze, Jonas, and Thompson: Toward a new transcendental aesthetic and a new question of panpsychism, unpublished.
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What is Living? To explain what I mean by the question „what is living?“ let me contrast it to the question „what is life?“ Whereas the first question treats life as a process, the second treats life as an object. When we ask, „what is life?“ we are easily lead into trying to define life by certain characteristic properties. For example, here is a recent attempt to define life from the perspectives of biology and medicine: „Life is a self-contained, self-regulating, self-organizing, self-reproducing, interconnected, open thermodynamic network of component properties which performs work, existing in a complex regime which combines stability and adaptability in the phase transition between order and chaos, as a plant, animal, fungus, or microbe“.⁶ Whatever we may think of this particular definition, this kind of definition treats life abstractly as a thing or as a natural kind. Thus, already at the outset, a certain objectifying attitude has been taken toward the phenomenon of life. Even the theory of autopoiesis,which decisively overcomes trying to define life through a list of physical and functional properties, does not necessarily depart from this objectifying attitude. The concept of autopoiesis refers to an organizational property: An autopoietic system is one that is organized as a selfproducing network of processes that also constitute the system as a topological unity. In the molecular domain, such a system amounts to a network of molecular reactions that continually generate and realize those reactions, including the reactions that generate and realize a semipermeable boundary, which in turn houses and thereby makes possible those reactions. When Humberto Maturana and Francisco Varela proposed that autopoiesis is necessary and sufficient to describe the organization of living beings – to be living, a system must realize the autopoietic organization, and any system realizing this organization is living – they went beyond viewing life through some indeterminate list of physical and functional properties, to viewing life through a precise specification of its organizational pattern. Nevertheless, and as Varela himself acknowledged,⁷ viewing life this way remains abstract and needs to be linked to concrete experimental and phenomenological analyses of living being. Such analyses – by Ezequiel Di Paolo, myself, and others, including John Protevi and Donn Welton – have helped to move autopoietic theory beyond fo-
See also Welton: Can a top-down phenomenology of intentional consciousness be integrated with a bottom-up phenomenology of biological systems?; Protevi: Deleuze, Jonas, and Thompson. Vgl. Varela, Francisco J./Weber, Andreas: Life after Kant: Natural purposes and the autopoietic foundations of biological individuality, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences , , – .
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cusing simply on life as an organizational pattern in order to attend to living as a purposive and normative process.⁸ Specifically, these analyses have made clear that autopoiesis is necessary but not sufficient for living being. On the one hand, work in synthetic chemistry and theoretical biology has shown that it is possible to construct real chemical systems and abstract mathematical models that are minimally autopoietic in the sense that they self-produce themselves as topological unities through autocatalytic reactions, yet these systems lack the kind of flexible and adaptive interactions with the environment characteristic of even the simplest microorganisms.⁹ These minimal autopoietic systems are basically vesicles that autocatalytically produce their own membrane-like boundary, while also being able to self-repair ruptures to the boundary. Yet beyond self-producing and repairing their own boundary, these systems have no internal self-producing reaction networks – no metabolism – so they cannot adaptively relate themselves to the environment, as bacteria, for example, do when they register the rate of change in the concentration of attractants and repellents, and change direction accordingly as they swim. On the other hand, phenomenological analyses following Merleau-Ponty and Jonas have described how living beings are intrinsically purposive and relate to their environment through self-generated and self-maintained norms of activity.¹⁰ Thus, bacteria swim up a sucrose gradient because sucrose for them is food and more of it is better than less. But autopoiesis as minimal selfproduction is not sufficient to ground such purposiveness and normativity, for these require what Ezequiel Di Paolo calls adaptivity – being able to monitor and regulate the autopoietic process in relation to conditions registered as improving or deteriorating, viable or unviable. In sum, according to these conceptual and phenomenological analyses, bare autopoiesis is not sufficient for something to be recognizably living; adaptivity also is required.¹¹ By asking „what is living?“ instead of „what is life?“ I mean to build on these analyses by shifting attention away from life as an object or natural kind or abstract pattern, in order to focus on living as a process. By „process“ I mean modes of change having phases and rhythms, in which we can recognize dynamic pat-
Thompson, Evan: Mind in Life: Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind, Cambridge/ MA, , chapters and . Ibid. Merleau-Ponty, Maurice: The Structure of Behavior, trans. Alden L. Fisher, Pittsburgh, ; Merleau-Ponty, Maurice: Nature: Course Notes from the Collège de France, compiled with notes by D. Ségard, trans. Robert Vallier, Evanston, ; Jonas, Hans: The Phenomenon of Life, Chicago, . Di Paolo, Ezequiel: Autopoiesis, adaptivity, teleology, agency, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences , , – .
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terns of individuation and behavior – following Merleau-Ponty and Simondon – as well as existential structures – following Jonas.¹² Let me say more about how I see the relations among these thinkers, or at least how they have inspired my own work on living being. In his first book, The Structure of Behavior, Merleau-Ponty distinguishes between what he calls physical structures and vital structures (where by „structure“ or „form,“ he means a dynamic pattern that behaves as a whole). Whereas physical structures, such as a soap bubble, obtain equilibrium in relation to actual physical conditions of force and pressure, living systems seek equilibrium, in Merleau-Ponty’s words, „with respect to conditions which are only virtual and which the system itself brings into existence; when the [system] […] executes a work beyond its proper limits and constitutes a proper milieu for itself.“¹³ For example, bacteria swim up and down chemical gradients by sensing and adjusting themselves to changes in the rates of concentration of various molecules; in this way (among others), the bacteria constitute a proper milieu for themselves by actively changing their own boundary conditions and adapting themselves to those changes, while registering those changes as better or worse. Thus, MerleauPonty says, whereas physical structures can be expressed by a law, living structures have to be comprehended in relation to norms: „each organism, in the presence of a given milieu, has its optimal conditions of activity and its proper manner of realizing equilibrium,“¹⁴ and every living being „modifies its milieu according to the internal norms of its activity“.¹⁵ Simondon builds on these ideas, but revises and enriches them.¹⁶ A physical individual, such as a soap bubble or a crystal, emerges as a resolution of tendencies within a pre-individual and metastable field – the super-saturated field in the case of a crystal; the liquid medium with various molecular densities in the case of a bubble. So too does a living individual emerge as a resolution of tendencies within a pre-individual and metastable field – in bacterial mitosis, for example, or embryological development in metazoans. But in the case of living individuals, unlike physical individuals, there is not only an individuating process but a process individuating itself, and equilibrium is not stable equilibrium but metastable. This self-individuating – we could say autopoietic – process is per-
Merleau-Ponty: The Structure of Behavior; Simondon, Gilbert: The genesis of the individual, in: Crary, Jonathan/Kwinter, Sanford (eds.): Incorporations, New York, , – ; Jonas: The Phenomenon of Life. Merleau-Ponty: The Structure of Behavior, – . Ibid., . Ibid., . Simondon: The genesis of the individual.
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petual; it never settles down (except in death) but maintains itself as metastable, that is, as living a life of tendencies instead of states. In dynamical systems theory, a metastable system, strictly speaking, has no states but only transients or tendencies; it never resides in any one basin of attraction, but hovers around an attractor for a while, then is unpredictably ejected into another unstable orbit, which it stays in for a while, until it is unpredictably ejected again, and so on endlessly. Although there are nonliving metastable systems , Simondon points out that what distinguishes the living individual is that its metastability both maintains and is maintained by a „genuine interiority.“ The soap bubble has an inside, but it does not have a genuine interior because it does not have a self-individuating topological boundary; it does not have an autopoietic membrane. In Simondon’s words: The internal structure of the organism is brought to completion not only as a result of the activity that takes place and the modulation that occurs at the frontier between the interior domain and the exterior – as is the case with a crystal; rather, the physical individual – perpetually excentric, perpetually peripheral in relation to itself, active at the limit of its own terrain – cannot be said to possess any genuine interiority. But the living individual does possess a genuine interiority, because individuation does indeed take place within it. In the living individual, moreover, interiority plays a constitutive role, whereas only the frontier plays this role in the physical individual.¹⁷
Although I did not draw from Simondon in Mind in Life, his thinking here about interiority seems very close to what I had in mind when I wrote that autopoiesis (in a broad sense that includes adaptivity) is the „self-production of an inside that also specifies an outside to which it is normatively related,“ and thus that autopoiesis is best seen as the „dynamic co-emergence of interiority and exteriority“.¹⁸ Yet I also immediately went on to write that „there seems to be an asymmetry here, for it is the internal self-production process that controls or regulates the system’s interaction with the outside environment“.¹⁹ To support this point, I quoted two philosophers and theoretical biologists, Alvaro Moreno and Xabier Barandiaran, who have written about what they call, following Varela, the „basic autonomy“ of life: „the (self) generation of an inside is ontologically prior to the dichotomy in-out. It is the inside that generates the asymmetry and it is in relation to this inside that an outside can be established. Although the interactive processes [and] relations are necessary for the maintenance of the system, they presuppose it (the system) since
Ibid., – . Thompson: Mind in Life, . Ibid.
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it is the internal organization of the system that controls the interactive relations“.²⁰ Now, it is precisely this assertion of asymmetry between interior and exterior that Donn Welton suspects of being a kind of „bio-idealism“ and that he wants to correct with his notion of „affective entrainment,“ whereby the environment leads the organism into certain rhythms, behaviors, and internal transformations. John Protevi has also wondered whether Varela’s notion of an autonomous system „overemphasizes the individual as self-conserving product as opposed to individuation as always ongoing process“.²¹ From a different but related angle, Susan Oyama; one of the principal architects of developmental system theory in biology, has also expressed worries about the privileging of interiority in autopoietic discourse.²² I will say more about this issue later, but let me say now that I am sympathetic to their friendly and helpful criticisms, for a certain tendency to privilege interiority in autopoietic discourse has always worried me. I felt that worry in writing those words in Mind in Life about the reciprocal yet asymmetrical relation between interiority and exteriority, but I did not adequately address the worry because of another argument I was trying to advance, specifically that the genuine interiority of life is a precursor to the interiority of consciousness, and hence that the conception of nature presupposed in standard formulations of the hard problem or explanatory gap for consciousness – namely, that living nature has no genuine interiority – is misguided. So the task is to see whether we can retain the crucial advance that a phenomenological reading of the theory of autopoiesis provides, while situating that advance in an enriched and more balanced account of the dynamic co-emergence and mutual entrainment of living processes and their environments. I will come back to this issue later. Let me now bring Jonas’s perspective on the interiority of life into this discussion, for it is Jonas who gives us the resources for a phenomenological reading of autopoiesis (as Varela himself appreciated). What Jonas adds to Simondon’s statement that living individuals possess a genuine interiority, and to Maturana and Varela’s specification of the autopoietic organization required for genuine interiority, is a specifically existential perspective on that interiority. Jonas announces that perspective on the first page of the Foreword to his book, The Phenomenon of Life:
Barandiaran, Xavier/Di Paolo, Ezequiel/Rhode, Marieke: Defining agency: Individuality, normativity, asymmetry, and spatiotemporality in action, in: Adaptive Behavior , , . Protevi, John: Larval subjects, autonomous systems, and E. Coli chemotaxis, unpublished. Oyama, Susan: The Ontogeny of Information. Developmental Systems and Evolution, nd edition, Durham/NC/ London, .
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The great contradictions which [humanity] discovers in [itself] – freedom and necessity, autonomy and dependence, self and world, relation and isolation, creativity and mortality – have their rudimentary traces in even the most primitive forms of life, each precariously balanced between being and not-being, and each already endowed with an internal horizon of „transcendence“.²³
Jonas finds these contradictions in the most basic living process of metabolism. In its simplest unicellular forms, metabolism consists in the constant regeneration of the cell as a dynamic pattern through a ceaseless flux of matter and energy. A living individual must constantly regenerate the molecules that constitute it,yet its being as an individual through time coincides not with them but with the ongoing pattern of self-generation. In this way, the individual exists in what Jonas calls a condition of „needful freedom“ – its freedom to change itself is also its necessity. Jonas highlights three existential characteristics of this needful freedom. First, it establishes a „self“ in the sense of an individual whose being is its own doing and whose doing is its being; and whose being and doing in relation to the environment depend on a self-generated topological boundary or interface between interiority and exteriority. Second, this self necessarily exists in precarious conditions, for its being and doing consist in renewing itself constantly in a changing and challenging environment. Third, such self-renewal is intrinsically normative because it parses events into those which are favorable or unfavorable for continued being and doing. Jonas also finds in metabolism the rudimentary traces of space and time as forms of experience. Metabolism brings forth the living form of space because it necessarily involves the formation of a membrane as a topological boundary that defines and selectively relates inside and outside, and thereby enables the organism to behave as a unity in relation to its environment. Metabolism brings forth the living form of time because its rhythms establish a living present, a virtual horizon of conserved conditions and projected needs – the vital analogues of retentions and protentions in the living present of time-consciousness. Metabolism propels the organism outward and forward, beyond its present condition in space and time. On the one hand, space founds time because the topological boundary of the organism makes possible the metabolic rhythms; on the other hand, time founds space because these rhythms create the boundary and orient the organism toward its world. Jonas, following certain lines of thought in Husserl and Heidegger, ultimately founds space on time:
Jonas: The Phenomenon of Life.
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self-concern, actuated by want, throws open […] a horizon of time that embraces […] inner imminence: the imminence of that future into which organic continuity is about to extend by the satisfaction of that moment’s want. […] In fact, [life] faces outward only because […] it faces forward: so that spatial presence is lighted up as it were by temporal imminence and both merge into past fulfillment (or its negative, disappointment).²⁴
Jonas’s existential analysis illustrates well the point that understanding living as a process presupposes our self-experience of living and demands a phenomenological account of that self-experience. Self, world, freedom, necessity, spatiality, temporality – we are acquainted with these existential structures through our selfexperience as living beings. The organism as a self-individuating unity relating to its world—this phenomenon can show up or come into focus for us only because we experience ourselves as such beings. As Merleau-Ponty says, „I cannot understand the function of the living body except by enacting it myself, and except in so far as I am a body which rises toward the world.“²⁵ Or in Jonas’s pithy phrase: „life can be known only by life.“²⁶
Sense-Making I am now in position to propose a way to answer our guiding question, „what is living?“ By „answer“ I certainly do not mean a resolution of the question; I mean, rather, a way of responding to it that continues the conversation the question opens and orients that conversation in a certain direction. Here, then, is my answer: Living is sense-making in precarious conditions. Before saying more about this proposition, I want to make clear that it is not meant as a definition or provision of necessary and sufficient conditions. It is meant instead to help elucidate or clarify in a general way living as a phenomenon (in the phenomenological sense of that term). In other words, I hope to cast light on how living as a process appears or shows itself, or is disclosed, both to phenomenology and to scientific observation and experimentation. The proposition, „Living is sense-making in precarious conditions,“ is thus first and foremost a phenomenological proposition belonging to a phenomenology of living being. This phenomenology is one that plunges into the empirical sciences of life and mind, allowing itself to be guided by their findings, while also making visible to those sciences how our self-experience as living beings inescapably and neces-
Ibid., . Merleau-Ponty, Maurice: Phenomenology of Perception, trans. Colin Smith, London, , . Jonas: The Phenomenon of Life, .
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sarily constitutes our understanding of life as an object of scientific investigation. In this way, phenomenology can also play an important role as a critique of false consciousness in the sciences of life and mind. I turn now to the notion of sense-making. Since minimal or stripped-down examples can be instructive, I want to consider again the bacteria, the oldest and smallest kind of living being, as well as the evolutionary and modern symbiotic basis for every other form of life we know – the plants, animals, fungi, and protoctists. Specifically, I want to consider the phenomenon known as bacterial chemotaxis. Many bacteria are rod-shaped and swim by means of rotating flagella embedded in their membranes. These bacteria can detect around fifty distinct chemicals, including sugars and amino acids that attract the cells so they swim toward them, as well as acids and heavy metals that repel the cells so they swim away. The bacteria swim by coordinating the rotation of their flagella so they form a propeller; when the flagellar rotation is uncoordinated, the cells tumble about randomly. As the cells move, they are able to register temporal differences in the levels of attractants and repellents – for example, in the rate of change in the concentration of sucrose or aspartate (which the cells can feed on). The cells maintain their direction as long as they detect an increase in the nutrient level over time. If the nutrient level decreases, then the cells go into their random tumbling mode, until they hit on an orientation where they again detect an increase, at which point off they go in that direction. By repeating these behaviors – swimming in the same direction as long as conditions are improving or not getting any worse, and tumbling when conditions start deteriorating – bacteria can travel long distances toward favorable locales. Bacterial chemotaxis provides a minimal yet rich and fundamental case of living as sense-making in precarious conditions. Sucrose and aspartate, for example, have valence as attractants and significance as food, but only in the milieu or niche that emerges through bacterial living. Put another way, the status of these molecules as nutrients is not intrinsic to their molecular structure; nor is it even simply a relational feature of how these molecules can bond to other molecules in the cell membrane. Rather, it belongs to the context of the cell as an individual, that is, as a self-individuating process that behaves as a unity in dynamic concert with its immediate environment.When Merleau-Ponty writes, in his lecture course on Nature (discussing von Uexküll), „the reactions of the animal in the milieu […] behaviors […] deposit a surplus of significance on the surfaces of objects,“²⁷ his description applies also to microbial life: the reactions of the bacteria in their milieu – their tumbling and directed swimming – deposit a
Merleau-Ponty: Nature: Course Notes from the Collège de France, – .
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surplus of significance on the surfaces of molecules. Clearly, this significance depends on the structural features of physiochemical processes; it depends on the molecules being able to form a gradient, traverse a cell membrane, and so on. For this reason – and here I distance myself from Welton’s reading of my views – the physico-chemical world is not formless and undifferentiated, receiving form only from living beings; rather, the physicochemical world is a morphodynamical world of qualitative discontinuities that offer regions of salience for living beings. But the significance and valence of these saliencies as attractants and repellents emerges only given the bacterial cell as a metabolic and behavioral unity – in other words, as a living being. Let me say something about the notion of precarious conditions, which comes from Ezequiel Di Paolo’s work on autopoiesis.²⁸ Imagine you are very small, so that you are continually buffeted by water molecules and bumped off course, while the watery contents inside you are in constant motion. Such is the external and internal milieu of bacteria, the microworld of thermal diffusion and Brownian motion. How do you hold together as a living being? You depend completely, of course, on the chemical properties of strong and weak bonds, but you also hold together because you are autopoietic and therefore have a kind of circular organization – every one of your constituent processes is both enabled by and is an enabling condition for one or more of your other constituent processes, so that together they form a recursive and interlocking network. Precarious conditions are ones in which such processes cannot sustain themselves in the absence of this network in otherwise equivalent physical situations. In other words, remove such processes from their enabling networks and they will tend to run down or atrophy. Any living process is precarious in this sense: Break open a cell and its metabolic constituents diffuse back into a molecular soup; take an ant out of a colony and it eventually dies; remove a person from a relationship and she or he may cease to flourish. The notion of precariousness thus provides another way to characterize the peculiar mixture of disorder and order, instability and stability – which is to say, metastability – that is constitutive of living as a process of sense-making. As Di Paolo says, „life would not be better off without precariousness; it simply would not be life at all“.²⁹ Clearly much more needs to be said about sense-making in precarious conditions beyond my bacterial example. My proposal, spelled out in Mind in Life, is that living as sense-making in precarious conditions is the living source of in-
Di Paolo, Ezequiel: Extended life, in: Topoi /, , – . Di Paolo: Extended life, .
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tentionality. Sense-making is threefold: (1) sensibility as openness to the environment (intentionality as openness); (2) significance as positive or negative valence of environmental conditions relative to the norms of the living being (intentionality as passive synthesis – passivity, receptivity, and affect); and (3) the direction or orientation the living being adopts in response to significance and valence (intentionality as protentional and teleological). This threefold framework structures my discussions in Mind in Life of the sensorimotor and affective sensemaking of animal life, which is made possible by the unique structure of the nervous system, as well as my discussions of human forms of sense-making, such as time-consciousness, emotion, and the participatory sense-making of empathy and social cognition. I cannot say more about those discussions here, so I turn now to my reponses to Welton and Protevi.
Affective Entrainment Welton puts his finger on a crucial pressure point – the issue of asymmetry versus symmetry in the reciprocal coupling of living beings and their worlds. On the one hand, the adaptive-autopoietic process is said to „bring forth“ or „enact“ what counts as the living being’s world, and not the reverse; on the other hand, the living being and its environment are said to be „structurally coupled,“ and interiority and exteriority are said to be „dynamically co-emergent.“ At this point, I would like to inject an autobiographical remark to indicate how long this tension has preoccupied me.When Varela and I were working together on our book The Embodied Mind, it was the late nineteen-eighties and I was a graduate student. It was during those years that Varela introduced into his work the terminology of organisms „enacting“ and „bringing forth“ their worlds, rather than representing them (though, of course, this idea was already implicit in his work on autopoiesis with Maturana). This way of talking worried me – precisely for its not fully worked-out suggestion of some kind of idealism or constructivism. So whenever Varela would write that the organism enacts its world, I would try to rewrite the sentence to say that a world is brought forth or enacted by the structural coupling of the organism and its environment. My aim was to shift the emphasis away from the organism as the enactor of its world to the relational process of enactment. Varela was happy with these changes, as they fitted better his other sympathies (and mine) with the Indian Buddhist concept of dependent co-origination (pratityasamutpada).³⁰ Nevertheless, my re-wording clearly did not deal
See our discussion of this notion in The Embodied Mind.
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adequately with the tension, for the question of the asymmetrical versus symmetrical status of the organism – or of the adaptive autopoietic process – in the relational process of enactment remained unanswered. Welton proposes a way to resolve this tension with his notion of affective entrainment. He writes, referring specifically to the requirement of adaptivity for sense-making: Adaptation is much more than a dynamic adjustment allowing the organism to get along better with its habitat according to internal self-generated norms. It is also a transformation of the organism’s internal processes and norms according to the demands of an environment that introduces „sense-producing“ or „sense-demanding“ requirements of its own. […] The environment that the organism opens or enacts is also the world that entrains it and reflexively transforms both the processes and the structure of the cell „reacting“ to it.³¹
Thus, in the case of bacteria, the presence of sucrose exerts an „extrinsic“ control over chemotaxis; in dynamical systems language, sucrose acts as an external control parameter, en- training the cells to swim up-gradient. And it is precisely this entrainment,Welton says, that accounts for the status of sucrose as attractant. I welcome and agree completely with these points. Living as sense-making in precarious conditions is systemically generated, with living beings enacting environments that pull them along into certain rhythms, behaviours, and internal transformations. (This point becomes especially important when we remember that the environment is always an environment of other living beings – bacteria do not live in isolation but in microbial communities.) In Welton’s words: „The organism enacts an environment as the environment entrains the organism. Both are necessary and neither, by itself, is sufficient for the process of sense-making.“³² But now comes the tricky point. What we have just said implies that the relation between organism and environment is reciprocal, for each acts as a control parameter for the other. But this kind of reciprocity does not imply that their relation is not also asymmetrical, in the relevant sense of asymmetry. Although the physical and energetic coupling between a living being and the physicochemical environment is symmetrical, with each partner exerting more influence on the other at different times, the living being modulates the parameters of this coupling in a way the environment typically does not.³³ Living beings, precisely because they are autopoietic and adaptive, can „surf“ environmental events and modulate
Welton: Can a top-down phenomenology of intentional consciousness be integrated with a bottom-up phenomenology of biological systems?, – . Ibid., . Barandiaran/Di Paolo/Rhode: Defining agency.
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them to their own ends, like a bird gliding on the wind. Interactional asymmetry is precisely this capacity to modulate the coupling with the environment.³⁴ If we lose sight of this interactional asymmetry, then we lose the ability to account for the directedness proper to living beings in their sense-making, and hence we lose the resources we need to connect sense-making to intentionality. There is one more issue in Welton’s paper on which I want to comment briefly. Welton suggests that the notion of affective entrainment re-introduces the importance of spatiality for transcendental aesthetics in a biological phenomenology, in contrast to Jonas’s privileging of temporality. I cannot discuss this complex matter here, but since Mind in Life could be read as endorsing Jonas on this point, I would like to record here that I am far more drawn to the idea that spatiality and temporality are co-originary and co-founding, for the reasons I mentioned earlier and for the related reasons Welton gives. I call attention to the point here because I think this co-founding relation becomes especially important when we go in the other, „top-down“ direction from the phenomenology of intentional consciousness to life and the body, for an important project there is to show how the structures of consciousness implicate not just a phenomenal lived body but a flesh and blood living body.
Panpsychism In this last section, I respond to Protevi’s paper. I find the links he makes between my project in Mind in Life and Deleuze’s writings fascinating, but I do not know Deleuze well enough to respond, so I am going to focus on the question of panpsychism. Protevi thinks my conception of the „deep continuity“ of life and mind, although escaping from the Cartesian problem of the relation between the mental and the physical, lands us with the problem of the emergence of life and mind from nonlife. He wonders whether I am too restrictive in my conception of mind, which traces mind back to living as sense-making. And given that I work with the notions of processes and networks as webs of processes,what is to stop me from embracing the kind of process panpsychism we find in Whitehead or Deleuze? To address this issue I want to go back to Jonas and compare him to MerleauPonty and Simondon, because it is on precisely this issue about matter and life – or what Merleau-Ponty (in The Structure of Behavior) calls the physical order and the vital order – that I follow Merleau-Ponty and Simondon, and not Jonas.
Ibid.
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Jonas contrasts the wave and the organism.³⁵ The wave he takes to be a material aggregate, which, as „an intergrated event-structure,“ has no ontologically emergent status. He writes that to the wave „no special reality is accorded that is not contained in, and deducible from, the conjoint reality of the participating, more elementary events.“ In other words, Jonas accepts analytical and ontological reductionism for physical phenomena. What he then argues is that this kind of reductionism fails in the case of the organism, which is ontologically emergent. Life, as he puts it, is thus an „ontological surprise.“ Now, if we follow this line of thought, then I think we do face a serious lifematter problem, analogous to the mind-body problem. How does life emerge from nonlife? The panpsychist argues that we cannot make good on this invocation of emergence, that it is ultimately mysterious. Hence the options would seem to be either some kind of dualism or some kind of panpsychism. But this line of thought is not at all the one we find in Merleau-Ponty and Simondon. Already in The Structure of Behaviour, Merleau-Ponty rejects analytical reductionism for physical forms like waves, soap bubble, and convection rolls. As he says, „The genesis of the whole by composition of the parts is fictitious. It arbitrarily breaks the chain of reciprocal determinations“³⁶ Consider also this passage, which I quote in Mind in Life: each local change in a [physical] form will be translated by a redistribution of forces which assures us of the constancy of their relation; it is this internal circulation which is the system as a physical reality. And it is no more composed of parts which can be distinguished in it than a melody (always transposable) is made of the particular notes which are its momentary expression. Possessing internal unity inscribed in a segment of space and resisting deformation from external influences by its circular causality, the physical form is an individual. It can happen that, submitted to external forces which increase and decrease in a continuous manner, the system, beyond a certain threshold, re- distributes its own forces in a qualitatively different order which is nevertheless only another expression of its immanent law. Thus, with form, a principle of discontinuity is introduced and the conditions for a development by leaps or crises, for an event or for a history, are given.³⁷
As I say in Mind in Life, this description of physical form as introducing a principle of discontinuity and the conditions for development by „crises“ has been borne out by René Thom’s „catastrophe theory,“ which mathematically describes abrupt transitions and qualitative discontinuities in physical systems, and by Jean Petitot’s extension of Thom’s work to a morphodynamical „physics of phenome See Jonas , Hans: Is God a mathematician? On the meaning of metabolism, in: The Phenomenon of Life. Merleau-Ponty: The Structure of Behavior, . Thompson: Mind in Life, .
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nality,“ which aims to bridge the gap between the microphysical substrate and macrophysical forms. Simondon’s account of macrophysical forms as processes of individuation from a pre-individual metastable field presents a similar description of matter.This description too rejects the analytical reductionist picture of the physical that Jonas uses to contrast matter and life. Thus, in both cases – Simondon and Merleau-Ponty – what we find is a reconceptualization of matter, life, and mind, one that does not bring mind down into the domain of microphysical processes nor equate mind with information transfer and self-organization, but rather tries to show how the notion of form as dynamic pattern or individuation process can both integrate or bridge the orders of matter, life, and mind, while also accounting for the originality of each order. This is the path I try to follow in Mind in Life and not panpsychism. Nevertheless, I have to admit that my characterization in Mind in Life of life as „autopoiesis plus cognition“ could be read as simply equating mind and life, and hence opening a door for the panpsychist line of thought.What I would now rather say is that living is sense-making and that cognition is a kind of sense-making. A wave or a soap bubble is an individuating process but not a sense-making one, because it does not modulate its coupling with the environment in relation to virtual conditions and norms. A unicellular organism is a self-individuating and sense-making being but not a cognitive one, if by „cognitive“ we mean being intentionally directed toward objects as unities-in-manifolds having internal and external horizons. What is important to me is not to fix the meanings of the words or concepts „matter,“ „life,“ „mind,“ „cognition,“ and so on – this effort would be misguided, since the richness of these words comes from their irreducible polysemy. Rather, my aim is to see whether we can chart multiple passages back and forth between those orders that we conceptualize, in different ways and at different times, as matter, life, and mind.
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Oliver Müller und Franziska Krause
Technik im lebendigen Selbst
Natürliche Künstlichkeit und Vulnerabilität am Beispiel der Tiefen Hirnstimulation Abstract: Technology in the living self: Natural artificiality and vulnerability with the example of deep brain stimulation. Referring to the philosopher Helmuth Plessner, who introduced the term „natural artificiality“, and Ernst Cassirer’s concept of technology as an inherent feature of human nature, we question Elisabeth List’s warning that due to their embodiment human beings run the risk of being neglected by technology. Her conception of human beings as embodied and necessarily bound to experiences of contingency enables us to illustrate the importance of limitation and freedom for human self-understanding as living beings. In order to clarify the complex relation between life and technology, we introduce the inverse formula „artificial naturalness“ and the term „vulnerability“ as characteristic features of human existence as embodied. Against this background, we examine the technological intervention of deep brain stimulation (DBS), in order to illustrate the challenges patients with Parkinson’s Disease are confronted with, especially in their self-conception. For patients with Parkinson’s Disease, DBS offers the possibility of regaining quality of life. The electrodes implanted in the brain stimulate certain areas and thereby resolve most symptoms of the disease. A main argument we put forward in this chapter is that the technology of DBS is intertwined with the self-conception of patients in their vulnerable existence without necessarily leading to forms of alienation. Thus, we describe the interdependency between technology and life as an entanglement of „natural artificiality“ and „artificial naturalness“, which implies specific experiences of vulnerability.
Einleitung Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts dient die Technik nicht nur der Erschließung und Beherrschung der äußeren Welt, sondern auch der Verfügbarmachung unserer Körper.¹ Dabei dringt insbesondere die Medizintechnik tief in
Vgl. List, Elisabeth: Grenzen der Verfügbarkeit. Die Technik, das Subjekt und das Lebendige, Wien, , .
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natürliche Prozesse ein, ändert die biologischen Bedingungen unserer Lebensform und verändert gleichzeitig unser Leben im biografischen Sinne. Technische Optionen bestimmen unseren Erfahrungs- und Entscheidungshorizont seit den 1970er Jahren immer weitreichender. Die Reproduktionsmedizin dürfte das einschlägigste Beispiel dafür sein, wie eine Technologie unsere Vorstellung von Leben und unseren Umgang mit dem Lebendigen verändert hat. Doch nicht nur die Reproduktionsmedizin, sondern alle Medizin- und Biotechnologien machen das Verhältnis von Technik und Leben zu einer intrikaten Angelegenheit. Denn es liegt in der ‚Natur‘ des Menschen, Technologien zu entwickeln und sein Leben an die Technik anzupassen. Gleichzeitig dienen diese Technologien aber nicht immer unseren Lebensprozessen, sondern scheinen diesen mitunter entgegengesetzt zu sein.² Die technische Kontrolle des Lebendigen kann man als ambivalent bezeichnen: Lebensprozesse werden auf der einen Seite ermöglicht, vielleicht sogar erst zur Entfaltung gebracht und auf der anderen Seite eingeschränkt, vielleicht sogar unterbunden. Das Verhältnis von Technik und Leben ist somit nicht nur in theoretischer, sondern auch in normativer Hinsicht relevant. Die Medizinethik stützt sich meist nicht auf einen expliziten Begriff von „Leben“, obwohl sie ja auch eine Bioethik ist. Üblicherweise befasst sich die Medizinethik mit den ethischen Implikationen von Eingriffen in Lebensprozesse, ohne aber ihr normatives Raster aus dem Begriff des „Lebens“ oder des „Lebendigen“ selbst zu entwickeln. Kantische, utilitaristische oder „prinziplistische“ Ansätze nach Beauchamp und Childress³ bieten in der in der Regel die normative Orientierung bei medizintechnischen Eingriffen. Da in der Generierung von Normen und Werten selten auf das Leben Bezug genommen wird, können wir in der Tat eine auffällige Leerstelle in der medizinethischen Theoriebildung identifizieren – auch wenn immer wieder über anthropologische und naturphilosophische Fundierungen der angewandten Ethik nachgedacht wird.⁴ Diese Leer-
Siehe dazu schon Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, . Siehe Beauchamp, Tom L./Childress, James F.: Principles of Biomedical Ethics, Oxford, . Siehe insbesondere die Debatte um die Begriffe der Natur und der Natürlichkeit in der angewandten Ethik: Siep, Ludwig: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt am Main, ; Birnbacher, Dieter: Natürlichkeit, Berlin/New York, ; Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main, ; Bayertz, Kurt (Hrsg.): Die menschliche Natur.Welchen und wie viel Wert hat sie?, Paderborn, ; Dreyer, Mechthild/Fleischhauer, Kurt (Hrsg.): Natur und Person im ethischen Disput, Freiburg, . Siehe dazu auch Müller, Oliver: Der Mensch und seine Stellung zu seiner eigenen Natur. Zum Status anthropologischer Argumente in der bioethischen Debatte, in: Maio, Giovanni u. a. (Hrsg.): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Freiburg, , – ; ders.: Orientierung an der menschlichen Natur.
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stelle im ethischen Diskurs ist der Grund, warum Elisabeth List für eine „Ethik des Lebendigen“ plädiert.⁵ Wir wollen in unserem Beitrag den philosophischen Grundlagen einer Ethik des Lebendigen nachgehen. Zu diesem Zweck wollen wir erstens zeigen, dass eine Ethik des Lebendigen bei der Interdependenz von Freiheit und Grenzerfahrung ansetzen kann, als ein Grundcharakteristikum des Lebendigen. Um dies zu erläutern, greifen wir auf eine klassische Hermeneutik des Lebendigen zurück, auf Helmuth Plessners Stufen des Organischen und der Mensch. Dessen Konzeption der „Grenzrealisierung“ macht deutlich, dass die Freiheitsentfaltung des lebendigen Daseins mit der spezifischen Limitation des Organismus verknüpft sein muss. Plessners Begriffe der „exzentrischen Positionalität“ und der „natürlichen Künstlichkeit“ geben wiederum Orientierung in Bezug auf die sich aus dem lebendigen Selbst ‚organisch‘ entwickelnde Technik als Modus des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses.Vor diesem Hintergrund wollen wir in einem zweiten Teil untersuchen, was für ein Technikbegriff für unsere Fragestellung adäquat ist. Wir wollen zum einen die These vertreten, dass die Technik ebenfalls mit der Interdependenz zwischen Freiheit und Grenze beschrieben werden kann. Um dies deutlich zu machen, wollen wir die anthropologische Figur der natürlichen Künstlichkeit mit der „künstlichen Natürlichkeit“ verschränken, da Technik in manchen Fällen Lebensprozesse ermöglichen, unterstützen oder sogar ‚wiederherstellen‘ kann. In diesem Kontext greifen wir auf die Technikphilosophie Ernst Cassirers zurück. Andererseits wollen wir die von Plessner her entwickelte Konzeption von Elisabeth List diskutieren, die von einer „technischen Exzentrizität“ spricht, mit der sie zeigen will, dass die Medizintechnik bestimmte Dimensionen des Lebendigen in problematischer Weise überlagern würde, insbesondere was die in das Lebendige eingeschriebenen Signaturen der Kontingenz angeht. Dabei wollen wir insgesamt die These formulieren, dass der Term „natürliche Künstlichkeit“ nicht als anthropologische Legitimierung uneingeschränkter Technisierung missverstanden werden darf: Natürliche Künstlichkeit kann nur angemessen interpretiert werden, wenn die Technik als eine Form von Künstlichkeit mit der Natürlichkeit des lebendigen Daseins verbunden bleibt und ihre Grenzen und Funktionen durch die Bedingungen des lebendigen Daseins erfährt. Insbesondere Bio- und Medizintechnologien müssen der Natürlichkeit des lebendigen Daseins verhaftet bleiben. Gleichwohl liegt gerade hier der kontroverse Punkt, denn nach List kann es sein, dass Technisierung dazu führt, dass die Kontingenz des Le-
Anthropologische Grundlagen für eine Ethik der Neurotechnologien und des Enhancement, in: Freiburger Universitätsblätter , , – . List, Elisabeth: Ethik des Lebendigen, Weilerswist, , .
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bendigen als nicht mehr charakteristisch und wertvoll für die menschliche Existenz angesehen wird, was zu Verlusten an humaner Orientierung führt.Wir wollen dagegen unterstreichen, dass der Fall komplizierter liegt. Mit Blick auf den Begriff der Vulnerabilität wollen wir zeigen, dass mit Technik Vulnerabilität nicht prinzipiell ‚überwunden‘ werden soll, sondern dass sich Vulnerabilität mit der Technik neu konfiguriert. Der Begriff der künstlichen Natürlichkeit kann die Phänomenlage besser erschließen, dass sich natürliche und technische Vulnerabilität auf eine Weise überlagern können, in der die Technik genau wie der Organismus Freiheitserfahrungen sowohl ermöglicht als auch begrenzt – womit ein Wechselspiel entsteht, das zu neuartigen Erfahrungen von Vulnerabilität führen kann. Vor diesem Hintergrund wollen wir in einem dritten Schritt die Tiefe Hirnstimulation (THS) näher ansehen, eine Medizintechnik, die ‚tief‘ in das Leben von Patienten eingreift: zum einen, weil Elektroden in ‚tiefe‘ Hirnregionen implantiert werden, um die dortigen Areale elektrisch zu stimulieren, zum anderen weil auch Selbstwahrnehmung und Lebensvollzug von Patientinnen und Patienten durch diese Technologie einschneidend verändert werden. Bei Patienten mit Morbus Parkinson ist die THS seit 20 Jahren eine Therapieoption, wenn Medikamente die Symptome nicht mehr lindern können. Im Rekurs auf den Begriff der Vulnerabilität soll gezeigt werden, wie sich bei Patientinnen und Patienten nach der Symptomkontrolle durch THS einerseits die spezifische Vulnerabilität ‚verringern‘ lässt, d. h. das Leiden an der Parkinsonschen Krankheit gelindert werden kann. Zugleich vermag die THS nicht, die Vulnerabilität des Menschen als solche zu ‚behandeln‘, da sie eng mit der Selbsterfahrung der Lebendigkeit und Leiblichkeit verbunden ist. Im Gegenteil: Gemäß unserer Figur der künstlichen Natürlichkeit können wir beobachten, dass sich die auf das Leiden bezogene Vulnerabilität durch die THS zu Formen von Vulnerabilität verschiebt, in denen nun die Spezifik der Technik deutlich wird, die das Selbst- und Weltverhältnis verändert, wenn die Verbesserung der Symptome z. B. mit einer neuen Erfahrung des „technisch Gesteuertseins“ einhergeht. Insgesamt wollen wir damit zeigen, dass in der Einschätzung moderner Biotechnologien sehr viel daran hängt, sowohl die Kontinuität von Lebendigem und Technik zu beschreiben, als auch für die ‚Bruchlinien‘ zwischen Leben und Technik adäquate Vokabulare zu finden.
1 Grenzerfahrung und bedingte Freiheit als Charakteristika des Lebendigen Als charakteristisch für das Lebendige kann die spezifische Dialektik bezeichnet werden, die mit den Begriffen „Freiheit“ und „Grenze“ verbunden ist. Versteht
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man mit Hans Jonas und Volker Gerhardt Freiheit als Spontaneität und Fähigkeit zur Selbstentwicklung und damit als wesentliche Merkmale des Lebendigen überhaupt (und schon auf der Ebene von Mikroorganismen),⁶ dann muss ein solcher Begriff von Freiheit qua definitionem auch diejenigen Grenzen mit einschließen, die das Lebendige seiner Natur nach prägen. Die Freiheit des Lebendigen ist nicht absolut oder abstrakt, sondern rückgebunden an die entsprechenden Entfaltungsbedingungen eines Organismus und den Ermöglichungs- und Restriktionsformen seiner spezifischen Umwelt. Diese Bedingungen aber sind kontingent. Daher schließt die Freiheit eines Organismus immer auch Kontingenzerfahrungen mit ein.Wenn Elisabeth List betont, dass Freiheit und Grenze den Erfahrungsraum des Lebendigen prägen, spricht sie mit Peter Bieris hilfreichem Begriff von „bedingter Freiheit.“⁷ In ihrer Ethik des Lebendigen plädiert List für die Integration des Konzepts eines „lebendigen Selbst“ in normative Ansätze und unterstreicht unseres Erachtens zurecht, dass weder eine Theorie des Selbst noch eine (angewandte) Ethik ohne einen Begriff des Lebendigen auskommen können, in denen das Zusammenspiel von Freiheit und Begrenzung als ein zentrales Merkmal ausgewiesen ist. In diesem Kontext verweist List auch auf neuere „enaktivistische“ Ansätze, die die Kontinuität des Lebendigen und „Geistigen“ untersuchen.⁸ Sie setzt diese Ansätze entsprechend von traditionellen Subjektkonzeptionen ab, die auf bedingungslose Selbstsetzung und lückenlose Selbstdurchdringung zielen. Als „lebendiges Selbst“ ist das Subjekt beides, es ist sowohl der Freiheit ermöglichenden Selbstdistanz fähig als auch „existentiell leibgebunden“, also von Grenz- und Kontingenzerfahrungen geprägt. Wenn eine Ethik des Lebendigen bei der subjektiven Freiheit ansetzt, steht diese also durchaus in der Tradition vieler ethischer Theoriebildungen, doch versucht List jedoch die einseitige Ausrichtung auf Begriffe wie „Autonomie“ anthropologisch zu korrigieren, indem sie die „Signaturen der Kontingenz“ in die ethische Orientierung mitaufnehmen will.⁹ Dieses Kernprogramm macht eine Ethik des Lebendigen attraktiv für aktuelle medizinethische
Jonas, Hans: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt am Main, ; Gerhardt, Volker: Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit, in: Heilinger, Jan-Christoph (Hrsg.): Naturgeschichte der Freiheit, Berlin/New York, , – . List: Ethik des Lebendigen, . Sie verweist auf Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien, . Siehe insbesondere Thompson, Evan: Mind in Life. Biology, Phenomenology, and the Sciences oft he Mind, Cambridge/MA, . Siehe hierzu auch den Beitrag von Evan Thompson in diesem Band. List: Ethik des Lebendigen, .
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Fragestellungen, weil das Kontingente der menschlichen Existenz bei der Einschätzung medizintechnischer Verfügungsformen über den je eigenen Körper explizit zum Thema gemacht werden kann. Der normative Rekurs auf die autonome Ver- und Anwendung von Technologien bleibt ohne eine Rückbindung an die Entfaltungsbedingungen und Limitationsformen des Lebendigen unvollständig. List bezieht sich in ihrer Ethik des Lebendigen auf Plessner, mit dessen Begrifflichkeit sie zeigt, dass die Anwendung von Biotechnologien keine Form der Grenzüberschreitung menschlichen Handelns darstellt, sondern vielmehr als Teil der conditio humana zu betrachten ist.¹⁰ Gleichzeitig entwickelt sie im Rückgriff auf Plessner aber eine Technikkritik, die unserer Ansicht nach nicht durch Plessners Theorie gestützt ist. Da sie jedoch zurecht reklamiert, dass auf anthropologischer und leibphilosophischer Grundlage eine Kritik von Technisierungsformen im Rahmen einer Ethik des Lebendigen möglich, sinnvoll und sogar notwendig ist, wollen wir nun im Folgenden die Grundzüge des Lebendigen bei Plessner rekonstruieren, um dann auf dieser Grundlage unserer Leitfrage nach dem Verhältnis des Technischen zum Lebendigen nachzugehen. In dem Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen des Organischen und der Mensch, in dem Plessner seinen Ansatz methodologisch reflektiert, unterstreicht er die Bedeutung des Begriffs des Lebendigen für seine Theorie und spricht in diesem Zusammenhang von einem „Faktum der Begrenzung und der durch sie geleisteten Selbstständigkeit eines für belebt geltenden physischen Körpers“.¹¹ Bereits in dieser ersten Formulierung können wir die Verschränkung von „Begrenzung“ und „Selbstständigkeit“ ablesen. In diesem „Faktum“ sieht Plessner die „Minimalbedingung“ des Lebendigen erfüllt. Daher ist es kein Wunder, dass sich das Faktum des Zusammenspiels von Begrenzung und Spontaneität durch die ganze Untersuchung zieht und den Hintergrund für die naturphilosophisch gestützte Grundlegung seiner Anthropologie bildet, die sich als eine Hermeneutik des Lebendigen ausbuchstabiert. Vor diesem Hintergrund unterstreicht Plessner, dass im Selbstverständnis von Personen auch das Wissen um die eigene lebendige Natur zentral ist. Diese sei nicht nur Erlebnis sondern „volle Wirklichkeit“ und „Fundament und Rahmen“ der menschlichen Existenz.¹²
Ebd., . Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York, , xx. Ebd., .
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Da die Natur und der Leib als die Natur, die wir selbst sind,¹³ in Selbstverständnis und Selbstauslegung von Menschen eine zentrale Rolle spielen, will Plessners eine Hermeneutik etablieren, die sich als eine „Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und der mit ihm in Wesenskorrelation stehenden Schichten der Natur“ ausbuchstabiert.¹⁴ Der Mensch ist daher weder „Objekt“ der Naturwissenschaften noch „Subjekt“ der Geisteswissenschaften, sondern „Objekt und Subjekt seines Lebens d. h. so, wie er sich selbst Gegenstand und Zentrum ist“.¹⁵ Sich selbst als „Gegenstand und Zentrum“ zu verstehen: dies ist der Ausgangspunkt einer Phänomenologie des Lebendigen, die versucht, die „Janusköpfigkeit“ der menschlichen Lebensform zu erfassen, für welche Plessner einen „Grundaspekt der Lebenserfahrung“ annimmt, den er als das Charakteristikum des Menschen „in seiner Existenz zu sich und zur Welt“ bezeichnet: „naturgebunden und frei, gewachsen und gemacht, ursprünglich und künstlich zugleich.“¹⁶ Aus dieser „Janusköpfigkeit“ folgt das Programm seiner Anthropologie, für die es nicht mehr genügen kann, eine „Wertanalyse der kulturellen Leistungen“ vorzunehmen, sondern für die es einer „Ästhesiologie des Geistes“ bedarf, die „die Beziehungen zwischen Geist und Natur“, also den „Menschen als personale Lebenseinheit in allen Schichten seiner Existenz“ zum Thema hat.¹⁷ Dieses Programm führt Plessner in einer vielschichtigen Theoriearchitektur durch, die hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden kann; wir wollen vielmehr einige Grundfiguren herauspräparieren, die für unsere Fragestellung von Bedeutung sind. Bekanntlich führt Plessner in seiner Theorie zunächst den Begriff der „Doppelaspektivität“ ein, mit dem er den Befund erfassen will, dass wir, wenn wir über den Menschen – und überhaupt über das Lebendige – nachdenken, immer eine Verschränkung von etwas „Innerlichem“ mit einem „Äußerlichen“ vorliegen haben. Wir haben einen „von außen“ beschreibbaren Körper und eine „subjektive“ Innenperspektive. Dieser Doppelaspekt des lebendigen Seins wurde, so Plessners Diagnose, in den meisten philosophischen Theorien durch Dualismen getrennt, etwa in der berüchtigten Unterscheidung einer res cogitans von einer res extensa durch Descartes. Plessner schlägt dagegen eine Theorie vor, die sowohl biologische als auch philosophische Erklärungs- und Deutungsperspektiven integriert. Um das Lebendige vom Nicht-Lebendigen zu unterscheiden,
Diese Formel ist von Gernot Böhme. Siehe etwa Böhme, Gernot: Ethik leiblicher Existenz. Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur, Frankfurt am Main, . Plessner: Die Stufen des Organischen, . Ebd. Ebd., . Ebd., .
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operiert Plessner nun mit dem Begriff der „Grenze“. Die für lebendige Wesen charakteristische Doppelaspektivität realisiert sich in der Grenze des Organismus, denn an ihr wird der Umschlagpunkt zwischen Innen und Außen deutlich, die schon bei Mikroorganismen, nicht aber bei Steinen vorhanden ist. Lebendiges hat über seine Grenze immer eine Beziehung zu seiner spezifischen Umwelt. Lebendige, organische Wesen sind daher ganz grundsätzlich grenzrealisierende Wesen. Alles Organische ist von Doppelaspektivität und Grenzrealisierung geprägt, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Die Grenzrealisierung des Lebendigen bringt eine gewisse „Unruhe“ in die Natur, die aus dem permanenten Austausch zwischen Innen und Außen resultiert, die Plessner als die Gleichzeitigkeit von „in sich hinein“ und „über sich hinaus“ beschreibt.¹⁸ Um dieses Phänomen genauer zu erfassen, führt Plessner den Begriff der „Position“ ein. Lebendiges realisiert sich als eine Setzung, als eine Positionalisierung im Raum und gegenüber anderem, mit dem es sich im Austausch befindet. Daher spricht Plessner von „Positionalität“ und definiert: Hierunter sei derjenige Grundzug seines Wesens verstanden, welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht. Wie geschildert, bestimmen die Momente des „über ihm Hinaus“ und das „ihm Entgegen, in ihn hinein“ ein spezifisches Sein des belebten Körpers, das im Grenzdurchgang angehoben und dadurch setzbar wird.¹⁹
Während Pflanzen im Blick auf ihre Positionalität offene Organismen sind, die mit ihrer Umwelt unreflektiert wechselwirken, beschreibt Plessner Tiere als geschlossene Organisationsformen bzw. mit dem Begriff der „zentrischen Positionalität“: Tiere haben eine Form von Bewusstsein,verkörpern eine andere Form von „sich“ oder „selbst“ als Pflanzen. In Plessners Worten: Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein – es ist also zentrisch –, aber es lebt nicht als Mitte […]. Insoweit das Tier selbst ist, geht es im Hier und Jetzt auf […]. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich.²⁰
Erst Menschen sind durch ein solches „Sich-selbst-Erleben“ und damit durch die Fähigkeit, Distanz zu sich einnehmen zu können, charakterisiert. Die menschliche Daseinsform nennt Plessner daher bekanntlich „exzentrische Positionalität“, was zunächst schlicht heißt: Menschen können auf Distanz zu sich selbst gehen. Diese
Ebd., ff. Ebd., . Ebd., ff.
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Selbstdistanzierungsfähigkeit ist der Angelpunkt für alles „Geistige“ am Menschen. Dabei ist aber wichtig, dass die exzentrische Position immer Position bleibt, das Über-sich-hinaus-Gehen ist nur durch die Rückgebundenheit an eine spezifische Positionierung möglich. Diese Struktur des „Über-sich-Hinaus“ bei einem gleichzeitigen „Bei-sich-verhaftet-Bleiben“ prägt auch die menschliche Existenz ganz fundamental. Im Blick auf die exzentrische Positionalität entwickelt Plessner „drei anthropologische Grundgesetze“, um das Eigentümliche der menschlichen Lebensform zu präzisieren, und die er alle drei paradoxal formuliert.²¹ Das eigentümliche Sein des Menschen ist nach Plessner nur in derartigen Paradoxa auszudrücken – was wichtig wird, wenn wir das Verhältnis von Technik und lebendigem Selbst näher betrachten. Erstens spricht Plessner von der „natürlichen Künstlichkeit“. Aufgrund seiner exzentrischen Positionalität ist der Mensch von Natur aus künstlich, also angewiesen auf Kulturformen und Technik: Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muß er [der Mensch, O.M. & F.K.] „etwas werden“ und sich das Gleichgewicht – schaffen […]. In dieser Bedürftigkeit oder Nacktheit liegt das Movens für alle menschliche, d. h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur.²²
Das zweite anthropologische Grundgesetz nennt er „vermittelte Unmittelbarkeit“. Mit dieser ebenfalls paradoxierenden Formel will Plessner das Phänomen beschreiben, dass Menschen Ausdruckswesen sind, die innere Vorgänge zum Ausdruck bringen (wollen), sei es durch Sprache oder andere Medien. Menschen wissen um die Differenz zwischen Gefühl und Gefühlsausdruck. Riten und symbolische Ordnungen stehen für den vermittelten Zugang zu uns selbst und zur Welt. Plessner verschränkt dabei die konstitutive Expressivität, das Ausdrucksbedürfnis mit der Sozialität des Menschen als zoon politikon, als soziales, politisches Wesen. Durch die Selbstdistanz ist die Unmittelbarkeit immer schon vermittelt. Das dritte Grundgesetz ist das „Gesetz des utopischen Standorts“. Die exzentrische Positionalität führt dazu, dass Menschen über ihre Stellung in der Welt, über den Sinn des Daseins nachdenken, sich zwischen Nichtigkeit und Transzendenz verorten. Der utopische Standort ist zwischen der Erfahrung der eigenen Bedeutungslosigkeit im Gang der Welt und einer transzendenten Perspektive des
Ebd., ff. Ebd., f.
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eigenen Daseins angesiedelt. Die menschliche Lebensform ist durch das Ringen mit Zweifel und Gewissheit um den eigenen „Ort“ in der Welt charakterisiert. Auf der Grundlage dieser Anthropologie hat nun Elisabeth List ihre Ethik des Lebendigen entworfen: Die Verfassung des Menschlichen muss deshalb auch für die Ethik neu definiert werden. Der Mensch ist aufgrund seiner kognitiven und symbolischen Potentiale zur Selbstdistanz fähig, kann sich gewissermaßen „von außen“, losgelöst von der Zentriertheit um den eigenen Leib, betrachten, ist aber in seiner Existenz existentiell leibgebunden. Dennoch ist er seiner Verfassung nach ein wesentlich ethikfähiges und ethikbedürftiges Wesen.²³
Damit will sie auch den Begriff der Autonomie an das lebendige Dasein zurückbinden und die leibliche Dimension der menschlichen Existenz mitaufnehmen, weil erst dadurch das Lebendige komplementiert wird,versteht man es eben in der Verschränkung von Freiheit und Grenze, die sich auch in der Janusköpfigkeit des Menschen als ein „Naturkulturwesen“ widerspiegelt: Eine um anthropologische Dimensionen erweiterte Ethik, die die Kulturfähigkeit des Menschen in exzentrischer Positionalität, das heißt, die seine Lebenssituation ausmachende Verbindung von leiblicher Situiertheit und Reflektiertheit bedenkt, orientiert sich nicht wie der Hauptstrom der Ethik, allein an Fragen der Autonomie und der Gerechtigkeit, sondern an der Fähigkeit des Umgangs mit sich selbst – mit sich selbst als lebendiger Kreatur – und am Wissen um die Möglichkeiten und Formen eines ethischen Umgangs mit den Dingen der Natur, einschließlich des eigenen Körpers.²⁴
List greift also Plessners Anthropologie auf, um mit dem Begriff der „exzentrischen Positionalität“ die Verschränkung von Reflektiertheit, kultureller Prägung und Freiheit mit der Körperlichkeit und ihrer Begrenzung zum Ausdruck zu bringen, sowohl im Blick auf die räumliche und soziale Situiertheit als auch im Blick auf die leibliche Konstitution als eine „kreatürliche“. Im Rückgriff auf die Anthropologie werden Deutungsformen möglich, die die menschliche Existenz in einer Weise erschließen, in der die intrikate Verschränkung von „Natürlichem“ und „Geistigem“ stimmiger zum Thema gemacht werden kann als im bloßen Rückgriff auf personale Eigenschaften und Fähigkeiten. Damit kann die Anthropologie dazu beitragen, das problematische Erbe neuzeitlicher Subjekttheorien, wie sie sich in der Ethik etabliert haben, systematisch zu korrigieren. Das heißt für uns nicht, dass wir Selbstbestimmung und Autonomie verabschieden müssen, sondern im Gegenteil: Aufgabe ist es, alle Formen menschlicher Freiheit in einem
List: Ethik des Lebendigen, . Ebd., .
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nicht-reduktionistischen Begriff des Lebendigen zu verankern, weil wir das „Wesen“ des lebendigen Daseins erst erfassen können, wenn wir Entfaltungsbedingungen und Limitationsformen miteinander verschränken. Zusammenfassend kann man sagen: Ein zentrales Moment einer Ethik des Lebendigen ist in der Interdependenz von Freiheit und Grenze zu sehen. Eine Hermeneutik des Lebendigen kann zeigen, wie sich das lebendige Selbst im Spannungsfeld der Dialektik zwischen Freiheit und Grenze derart orientieren kann, dass es seine eigene Freiheit aus der spezifischen leiblichen Bedingtheit heraus versteht. In einem nächsten Schritt wollen wir zeigen, wie sich diese Verschränkung von Entfaltungsfreiheit und leiblicher Limitation auf die natürliche Künstlichkeit und damit auf das Verhältnis von Technik und Leben beziehen lässt.
2 Technik im Leben Letztlich teilen alle anthropologischen Zugänge zum Phänomen der Technik die Einsicht, dass der Mensch als ein „nicht-festgestelltes Tier“ zu beschreiben ist, um Nietzsches viel zitierte Formel aufzugreifen.²⁵ Meistens verbindet sich dies mit dem Theorem, dass Menschen durch Unbestimmtheit und Offenheit ihrer Existenz mit Technik – und Kultur überhaupt – Verfügungsräume erschließen, um sich spezifische Umwelten zu schaffen, in denen sie (über)leben können, was zu Entlastungs- und Kompensationsvorgängen führt.²⁶ Wichtig ist hierbei, dass der Mensch in der Entwicklung von Technik und Technologien auch sich selbst erfindet, sich selbst ‚erschafft‘, weil Menschsein – nicht nur, aber auch – durch „Technizität“ charakterisiert ist. Das heißt noch vor aller gezielten technischen Selbstformung auch, dass wir über die Beschreibung der Technik entdecken und erschließen können, wer oder was wir ‚sind‘. Da Plessner selbst keine eigenständige Anthropologie der Technik entwickelt ²⁷ hat, auch wenn seine Konzeption der natürlichen Künstlichkeit eine solche nahelegt, wollen wir auf einen anderen Entwurf einer Anthropologie der Technik
Gehlen greift sie in seiner Anthropologie explizit auf: Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden, . Siehe exemplarisch Gehlen, Arnold: Der Mensch und die Technik, in: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek, , – . Siehe dazu Fischer, Peter: Philosophie der Technik. Eine Einführung, München, . Auch wenn er keine systematische Technikanthropologie entwickelt hat, hat Plessner selbst immer wieder auf die Technik verwiesen (siehe etwa Plessner, Helmuth: Die Utopie in der Maschine, in: Gesammelte Schriften, Bd. , Frankfurt am Main, , – ).
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zurückgreifen, um die Frage zu beantworten, wie die Technik mit dem lebendigen Selbst zusammenhängt, und zwar auf die kulturanthropologische Technik-Theorie von Ernst Cassirer. Wir schließen auch deshalb an Cassirer an, weil er die Technik einmal explizit als „neue Methode des Lebens“ bezeichnet hat: In einer Vorlesung betont er, dass die Technik als „a new stage in the development of organic life“ zu betrachten sei, womit er vor allem die Werkzeugtechnik meint.²⁸ Cassirer bringt das Technische und das Lebendige also nicht in einen Gegensatz, sondern unterstreicht die Kontinuität der Technik als ‚Produkt‘ lebendiger Entwicklung. Die Technik kommt aus dem Leben, ist Teil des menschlichen Lebensvollzuges, daher sei die Technik als „a new method of life“ zu verstehen.²⁹ Schon in der Ausarbeitung seiner Philosophie der symbolischen Formen hat Cassirer gezeigt, dass die verschiedenen Kulturformen, die Menschen sich zu ihrer Orientierung entwickeln, in ihrer welt- und selbsterschließenden Funktion einander ähnlich sind.³⁰ Entsprechend sieht er auch eine Verwandtschaft zwischen Sprache und Technik. So wie wir uns mit der Sprache die Welt erschließen, machen wir es auch über die Technik. Schon im Gebrauch von Werkzeugen lernen wir etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, über Zusammenhang und Funktionsweise der uns umgebenden Dinge.Wir eignen uns diese nicht nur an, sondern bilden auch ein erstes, vortheoretisches Verständnis der Wirklichkeit aus. In diesem Punkt gibt es eine Nähe zu Heideggers Konzeption der „Zuhandenheit“ in Sein und Zeit: Indem die Dinge uns als unmittelbar zuhandene – und nicht „vorhandene“ – begegnen, lernen wir im direkten Umgang mit ihnen, wie unsere Umwelt strukturiert ist.³¹ Ein Werkzeug verweist auf andere Werkzeuge, die Werkzeuge auf einen ganzen Zusammenhang von Beziehungen zwischen den Dingen, die wiederum auf das Werk verweisen, das hergestellt werden soll, und damit indirekt auch auf andere Menschen als potentielle Nutzer. Diesen „pragmatischen“ Zugang zur Wirklichkeitserfahrung teilt Cassirer durchaus mit Heidegger.
Cassirer, Ernst: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, in: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. , Hamburg, , . Siehe zu Cassirers Technikphilosophie auch Müller, Oliver: Selbstsein durch Technik. Ernst Cassirers Philosophie der Technik als Beitrag zur Praxis von Individualität, in: Gräb, Wilhelm/ Charbonnier, Lars (Hrsg.): Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, Berlin, , – ; ders.: Selbst, Welt und Technik. Eine anthropologische, geistesgeschichtliche und ethische Untersuchung, Berlin/New York, . Siehe zur Technik als symbolische Form Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, in: Gesammelte Werke, Bd. , Hamburg, ; ders.: Form und Technik, in: Gesammelte Werke, Bd. , Hamburg, , – . Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen, , ff.
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Cassirer geht allerdings anders vor, um seine Theorie zu plausibilisieren. Er entwirft in Form und Technik schematisch zwei Selbstverständnisse, wie sie Menschen einer fiktiven Urzeit geprägt hatten. Auf der einen Seite verstand sich der Mensch als „homo magus“, der die Welt über seine Wünsche deutet, der auf die Welt mit Zaubereien einzuwirken sucht und die Zusammenhänge der Dinge über magische Ordnungssysteme erlebt. Irgendwann begann sich allerdings der Typus des „homo faber“ herauszubilden, der sich in der Verwendung von Werkzeugen und Techniken einen neuen Raum von Objektivität erschließt und durch seinen Werkzeuggebrauch kausale Gefüge kennenlernt, und damit ein neues Wirklichkeitsverständnis entwickelt. Die sich damit ausbildende technische Rationalität führt dazu, dass sich eine bestimmte Form der Voraus-Sicht etabliert, also nicht nur ein Wirklichkeitssinn, sondern ein neuer „Möglichkeitssinn“ (mit Robert Musil gesprochen), der technische Lösungen imaginiert und damit das Nachdenken über die Wirklichkeit grundlegend ändert. Das technische Wissen um bestimmte Ursache-Wirkungszusammenhänge erschließt dabei nicht nur die Wirklichkeit und führt zur einer bestimmten „rationalen“ Weltauslegung, die technische Rationalität ändert auch das Selbstverständnis des die Technik benutzenden und erfindenden Menschen. Cassirer führt explizit den Begriff des „Selbst“ ein, um zu verdeutlichen, dass die Technik nicht nur der Welterschließung dient, sondern immer auch der Formierung unseres Selbst. Das, was wir unser „Selbst“ nennen, ist durch verschiedene kulturelle Formen geprägt, besonders durch sprachlich gestützte Selbstvergewisserung, aber eben auch durch Technik, weil wir in der Verwendung von Technik unsere Fähigkeiten, unsere Imaginationsräume in Bezug auf technische Veränderungen unserer Lebenswelt kennenlernen, unser Verhältnis zur Welt ausloten. Es ist eine der Pointen von Cassirers Philosophie, dass er weder das Selbst noch die menschliche Natur substanzontologisch fassen will, sondern funktional. Das heißt: wenn wir die Weisen, in denen wir „wirken“, beschreiben, können wir ermitteln, was oder wer wir „sind“.³² Die Verwendung von Technik führt nach Cassirer sogar zu Formen der Selbsterkenntnis: „Jedes Werkzeug, das der Mensch erfindet, bedeutet demgemäß nicht nur einen neuen Schritt zur Formung der Außenwelt, sondern auch zur Formung seines Selbstbewußtseins.“³³ Technik ist damit „Teil“ des lebendigen Selbst, falls diese mereologische Redeweise gestattet ist. Bis zu einem gewissen Grad macht Technik auch die Lebendigkeit unseres Selbst aus, da die freie Selbstentfaltung des menschlichen
Cassirer, Ernst: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, in: Gesammelte Werke, Bd. , Hamburg, . Cassirer: Form und Technik, .
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Organismus sich in Technologien realisieren kann. Gleichzeitig können wir im Blick auf Bio- und Medizintechnologien sagen, dass sich die natürliche Künstlichkeit mit dem, was wir „künstliche Natürlichkeit“ nennen wollen, verschränkt. Das heißt: Technik kommt nicht nur aus dem Leben, sondern Technologien ermöglichen selbst Lebensprozesse, was im Bereich der Medizin besonders deutlich wird, von der Intensivmedizin bis zu den Reproduktionstechnologien. Lebendigsein ist oftmals nur durch Technik möglich. Wie bei anderen Technisierungsformen, kann aber auch die Selbstverfügung durch Biotechnologien die Selbstwahrnehmung und den Umgang mit dem eigenen Selbst und anderen „Selbsten“ in einer Weise ändern, die wir als problematisch einstufen, weil durch die Verfügungslogik von Technologien alternative (kulturelle oder religiöse) Praktiken und Orientierungsformen marginalisiert werden können.³⁴ Die Ambivalenzen von Technisierungsprozessen können in einer Hermeneutik des technischen Selbstund Weltbezuges beschreibbar und verstehbar gemacht werden.³⁵ Unter den vielen möglichen Ansätzen einer Technikkritik wollen wir uns hier auf Elisabeth List beziehen, die ihre Ethik des Lebendigen an die Signaturen der Kontingenz knüpft. Auch wenn man die Technik als Entfaltungsform des Lebendigen, eben als „Methode des Lebens“ versteht, kann es sein, dass die Technik dem Eigentümlichen des Lebendigen entgegensteht und damit bestimmten Dimensionen eines „lebendigen Selbst“ nicht gerecht werden kann, etwa wenn Kontingenzerfahrungen der menschlichen Existenz keine Berücksichtigung mehr finden und damit auch ihre normative Legitimität verlieren können. Die technische Logik kann dazu führen, dass der Blick für die Kontingenzen des Lebendigen und ihre Bedeutung für Wertbildungsprozesse verloren gehen können. Für eine Ethik des Lebendigen heißt dies, dass die Technik als eine Funktion des Lebendigen verstanden wird, in denen sich die Dialektik von Freiheit und Grenze in besonderer Weise zeigt und für die normative Einschätzung von Technologien fruchtbar gemacht werden kann. Zum einen kommt Technik „natürlicherweise“ aus der menschlichen Lebensform, muss aber als eine Möglichkeit der „freien“ Entfaltung und Gestaltung unseres Selbst ebenfalls an die Situiertheit und Kontingenz des Lebendigen gekoppelt bleiben. Zum anderen wird es im Blick auf Medizintechnologien immer deutlicher, dass auch die im Leben liegenden freie Entfaltung an die Technik gebunden sein kann, in der Technik ihre Grenze findet. Daher sehen wir eine Verschränkung zwischen natürlicher Künstlichkeit und künstlicher Natürlichkeit.
Diese Kritik schon ebd., ff. Siehe dazu Müller: Selbst, Welt und Technik.
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Vor diesem Hintergrund scheint es uns fraglich, ob Lists Begriff der „technischen Exzentrizität“ wirklich hilfreich ist. Nach List nimmt Plessners exzentrische Positionalität durch Technisierungsprozesse die Form „technischer Exzentrizität“ an.³⁶ Doch kann sie nicht plausibel machen, wie die in der exzentrischen Positionalität angelegten Selbst-Distanzierungsfähigkeit und die mit der natürlichen Künstlichkeit einhergehende technische Verfügbarkeit über den eigenen Körper eine neue Stufe erreichen sollen, auf der die Selbstobjektivierung durch Technik ‚verschärft‘ und problematisch zu sein scheint. Hier scheint sie uns auf schwer belegbare Entfremdungsfiguren zurückzugreifen. Überzeugender scheint uns zu sein, die durch Biotechnologien möglichen Formen der Selbstverfügung nicht als prinzipiell ‚gegen‘ das Lebendige zu betrachten, sondern im Rahmen der das lebendige Selbst bestimmenden Spannungsmomente von Freiheit und Bedingtheit zu situieren. Auch ohne Rückgriff auf den Begriff der technischen Exzentrizität können Signaturen der Kontingenz für eine Ethik des Lebendigen fruchtbar gemacht werden, wie sie List überzeugend herausgearbeitet hat: Diese „Signaturen der Kontingenz“ – Leibgebundenheit, Situiertheit und Kontingenz – sind nicht das, was traditionell als Kernphänomen menschlicher Subjektivität betrachtet wurde. Das waren vielmehr Vernunft, Selbstbewusstsein, Autonomie, Handlungsfähigkeit, Moralfähigkeit und Verantwortungsfähigkeit.³⁷
List geht es, wie schon gesagt, um die Erweiterung unseres Subjekt-Begriffs um zu unrecht marginalisierte Aspekte der conditio humana. Allerdings würden wir die technikkritische Pointe ihrer Theorie folgendermaßen verlagern: Die auf der exzentrischen Positionalität basierende natürliche Künstlichkeit steht gerade nicht für eine ‚entgrenzte‘ Technisierung – die überdies mit jener Formel sogar anthropologisch gerechtfertigt zu werden scheint. Plessner hatte seine anthropologischen Grundgesetze bewusst in paradoxalen Wendungen formuliert, um die in der menschlichen Natur liegende eigentümliche Verschränkung des natürlichen und künstlichen, des unmittelbaren und mittelbaren zu verdeutlichen. So wenig es richtig wäre, zu sagen, dass sich Menschen von unmittelbaren zu mittelbaren Ausdrucksformen entwickeln, wäre es falsch zu sagen, dass Menschen aus der Natur zu einer von dieser unabhängigen Kultur kommen. Die Künstlichkeit bleibt mit der Natürlichkeit verschränkt, das Kulturelle bleibt an das Leben zurückgebunden. Und insofern können wir die Formel von der natürlichen Künstlichkeit auch in Bezug auf die durch das Lebendige vorgegebene Grenze interpretieren. List: Ethik des Lebendigen, . Ebd., .
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Technik als eine Form von Künstlichkeit bleibt dem lebendigen Körper als das ‚Natürliche in uns‘ verhaftet. Und an dieser Stelle scheint es uns wichtig, dass es für bestimmte Technologien typisch ist, dass sich natürliche Künstlichkeit und künstliche Natürlichkeit überlagern können, was das Phänomen der Selbsttechnisierung komplex macht: Denn auch wenn die Technik die Entwicklung des Organismus unterstützt und somit Freiheitserfahrungen möglich macht, begrenzt sie diese Freiheit auch immer in einer spezifischen Weise. Wir können es also mit Situationen zu tun haben, in der die ‚natürliche Freiheit‘ durch die Technik begrenzt wird und gleichzeitig die durch Technik ermöglichte oder sogar ‚wiederhergestellte‘ Freiheit durch den lebendigen Organismus ebenfalls begrenzt wird. Diese Überlagerung müssen wir also in den Blick nehmen, weil sich hier die Freiheits- und Grenzerfahrungen so verschieben können, dass sich damit die Signaturen der Kontingenz ändern. Eine der Signaturen der Kontingenz, die uns im Kontext von medizinethischen Fragen besonders wichtig erscheint, ist die Vulnerabilität – gerade weil Vulnerabilität die in der natürlichen Künstlichkeit liegenden Spannung erfasst kann: Mit Therapieformen und Medizintechnologien reagieren wir auf die im Lebendigen liegende Vulnerabilität, können die Vulnerabilität des Lebendigen aber niemals ganz überwinden, eine solche Zielsetzung wäre anthropologisch verfehlt; dies berührt auch die Debatte um den Transhumanismus, anhand derer einige „anthropologische Fehlschlüsse“ deutlich werden.³⁸ Das heißt in einer ersten Annäherung: Medizinische Therapien dienen nicht nur, aber auch dazu, Vulnerabilität zu verringern, indem Leiden gemindert werden, indem die Lebensqualität verbessert wird. Doch gleichzeitig kann das Faktum der Vulnerabilität nie gänzlich ‚aus der Welt geschafft‘ werden, Menschen bleiben trotz aller Erfolge der Medizintechnologie vulnerable Wesen. Eine Ethik des Lebendigen würde aufzuklären haben, wo durch die technische Logik und die entsprechenden gesellschaftlichen Normierungen das Verständnis für Vulnerabilität als Moment in der die Deutung die menschliche Existenz sowie ihr Wert für den Umgang mit Grenzsituationen verloren geht. Daher bedürfen wir einer Ethik, die die Vulnerabilität bei der Bewertung von Medizintechnologien auf eine Weise berücksichtigt, in der die für das Lebendige
Gordijn, Bert/Chadwick, Ruth (Hrsg.): Medical Enhancement and Posthumanity, Stuttgart, ; Heilinger, Jan-Christoph: Anthropologie und Ethik des Enhancements, Berlin/New York, ; Coenen, Christopher u. a. (Hrsg.): Die Debatte über „Human Enhancement“. Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen, Bielefeld, ; Hauskeller, Michael: Reinventing Cockaigne: Utopian themes in transhumaist thought, in: Hastings Center Report , , – ; ders.: Prometheus unbound: Transhumanist arguments from (human) nature, in: Ethical Perspectives , , – .
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charakteristische bedingte Freiheit in den technischen Verfügungsraum integriert wird. Und dafür braucht eine Ethik des Lebendigen eine anthropologische Rückbindung, in der die aus dem Leben kommende Technisierung mit den für die menschliche Lebensform charakteristischen Signaturen der Kontingenz verknüpft wird. Auf normativer Ebene heißt das: Eine ‚entgrenzte‘ Technik, die sich von den Lebensprozessen löst und aufhört, das Natürliche und Künstliche interdependent miteinander zu verschränken, kann ethisch problematisch sein, weil sie das für das lebendige Selbst charakteristische Zusammenspiel von Freiheit und Bedingtheit – biologisch und biografisch – nicht zu realisieren vermag. Diesem Zusammenhang wollen wir nun exemplarisch mit Blick auf die Tiefe Hirnstimulation nachgehen, eine Technik, die eine spezifische Form der Vulnerabilität erzeugt, in der die Verschränkung von natürlicher Künstlichkeit und künstlicher Natürlichkeit besonders deutlich wird.
3 Freiheit, Grenzerfahrung und Vulnerabilität bei THS Die Grenzerfahrung des nicht gehorchenden Körpers gehört für Menschen mit Parkinson zum Krankheitsbild. Der Verlust der Bewegungsfähigkeit ist eine schrittweise Entwicklung, „Tremor, Rigor, Bradykinese und Gleichgewichtsstörungen gelten als motorische Kardinalsymptome des Leidens.“³⁹ Dies ist eine Erfahrung, die von Betroffenen wie Helmut Dubiel als eine „Schwundform des Lebens“ und dem „Leben gleich einer Pflanze“⁴⁰ beschrieben wird. Die THS stellt in dieser Hinsicht ein untersuchenswertes Phänomen dar, da sie als „Technik im Gehirn“ u. a. einen Einfluss auf die Motorik des Körpers und die Selbsterfahrung hat. Bei der THS werden auf neurochirurgischem Weg ein bis zwei Elektroden in das Gehirn implantiert, die elektrische Impulse in bestimmte Zielregionen des Gehirns senden und somit für Parkinson typische Symptome wie Tremor (Zittern) oder Rigor (Steifigkeit) bessern bzw. unterdrücken. Menschen mit THS können ihren Stimulator gezielt benutzen. Je nach Bedarf können sie über ein Gerät am Brustkorb, das mit dem Stimulator im Gehirn verbunden ist, diesen an- und ausschalten und somit ihre motorischen Fähigkeiten kontrollieren. Die Deaktivierung der THS wird in der Regel von wenigen Patienten aktiv genutzt, sondern
Hätscher, Johannes: Geregelte Außeralltäglichkeit. Deutungs- und Handlungsprobleme von Patienten mit Morbus Parkinson und ihren Partnern bei der Therapie durch Tiefe Hirnstimulation, Weilerswist, , . Dubiel, Helmut: Tief im Hirn, München, , .
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findet zumeist im klinischen Setting im Rahmen von Kontrolluntersuchungen statt. Wird die THS abgeschaltet, z. B. aus diagnostischen Gründen, so stellt dies für viele Patienten und deren Partner eine außeralltägliche und krisenreiche Erfahrung dar, da die Symptome der Krankheit unmittelbar wiederkehren.⁴¹ Die „Technik im Gehirn“ wird bei medikamentös austherapierten Patienten eingesetzt und unterscheidet sich insofern von der Einnahme von Medikamenten als die THS ein technisches Artefakt ist, dass mit dem menschlichen Körper dauerhaft verbunden ist und nicht nur punktuell eingenommen wird. Während sich Medikamente besser in die Alltagserfahrung von Menschen mit Parkinson integrieren lassen, da sie ähnlich wie Nahrung aufgenommen werden können, wird mit der THS die Assoziation einer Mensch-Maschine verbunden. Die THS kann gelegentlich massive Persönlichkeitsveränderungen als Nebenwirkung hervorrufen wie Depression, Hypersexualität oder Spielsucht. Die Behandlung von Parkinson mit Medikamenten wie L-Dopa verursacht unter Umständen zwar ebenfalls Nebenwirkungen wie Psychosen, Verhaltensstörungen und Impulskontrollstörungen, allerdings treten bei der THS zusätzliche Risiken für den Patienten durch die Operation auf, bei der die Elektroden für die Stimulation implantiert werden. So heißt es in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie über die THS bei Parkinson: „Psychiatrische, in der Regel passagere Nebenwirkungen kommen vor, psychosoziale Anpassungsstörungen in der postoperativen Periode ebenfalls.“⁴² Und diese Anpassungsstörungen reichen von Fremdheitserfahrungen bis hin zum Ringen mit der Akzeptanz eines elektronischen Geräts im Gehirn.⁴³ Das „Fremde“ der Technik und der damit verbundene Eindruck des „Gesteuertseins“ ist ein Kennzeichen der THS, einer der signifikanten Unterschiede im Vergleich zur medikamentösen Behandlung. Bei der THS befindet sich ein Artefakt im Körper, das gezielt angesteuert werden kann und dessen man sich im Gegensatz zum Schlucken einer Pille, die danach unsichtbar wird und langsam ihre Wirkung entfaltet, stetig durch das Ertasten vergewissern kann. Auch das Wirken der THS unterscheidet sich von der Wirkung der Therapie mit Medikamenten: Denn die Technik im Gehirn wirkt über ein An- und Ausschalten des Hirnschrittmachers, das mit einer direkten körperlichen Reaktion verbunden ist, was eine neue, mitunter befremdliche Erfahrung sein kann. Menschen mit THS bezeichnen sich mitunter wie „ferngesteuert“, wenn sich per Knopfdruck das Bewegungsvermögen ändert. Auch für die Angehörigen gehört die Vgl. Hätscher: Geregelte Außeralltäglichkeit, . http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ - l_Sk_Parkinson-Syndrome_Dia gnostik_Therapie__verlaengert.pdf, . Schüpbach, Michael u. a.: Neurosurgery in Parkinson’s Disease: A distressed mind in a repaired body?, in: Neurology /, , – .
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Beobachtung, dass Symptome wie der Tremor von einer Sekunde zu anderen „abgeschaltet“ werden können zu den beeindruckenden Effekten der THS, die sie an andere Formen technischer Schaltungen erinnert. Während im Off-Zustand selbst das Laufen schwerfällt, sind im On-Zustand des Hirnschrittmachers vom Treppensteigen bis zu feinmotorischen Handlungen wie dem Türaufschließen natürliche Bewegungsabläufe wieder möglich. Im Fall von Helmut Dubiel hat das Ein- und Ausschalten sogar auch Auswirkungen auf kognitive Funktionen. So berichtet er in seinem autobiografischen Buch Tief im Hirn, dass er im eingeschalteten Zustand besser laufen kann, aber das Gerät abstellen muss, wenn er einen Vortrag halten will, weil Sprachvermögen und Ausdrucksfähigkeit durch die Stimulation eingeschränkt werden. Mit Plessner kann betont werden, dass die Technik im Gehirn nicht konträr zu dem gedacht werden muss, was den Menschen auszeichnet. Die natürliche Künstlichkeit, die den Menschen in seiner exzentrischen Positionalität als Kulturwesen auszeichnet, ermöglicht es gerade, den Umgang mit Technik – auch im eigenen Körper – als existentiellen Teil des Menschen zu betrachten. Der Körper ist selbst im gesunden Zustand Grenzerfahrungen ausgesetzt. Eine Reaktion auf die Erfahrung der Grenze des Verstehens ist das Lachen und Weinen. „Wer lacht oder weint, verliert in einem bestimmten Sinne die Beherrschung, und mit der sachlichen Verarbeitung der Situation ist es fürs erste zu Ende.“⁴⁴ In Situationen wie dem Lachen zeigt sich, dass das Kontrollieren der Körperbewegungen sowie das bewusste Sich-Verhalten zum Körper für einen Moment ausgeschaltet sind. Lachen und Weinen sind menschliche Erfahrungen des Sich-Selbst-Erlebens, die keinem reflexiven Prozess unterliegen. Aufgrund dessen, was Plessner als exzentrische Positionalität bezeichnet, vermag der Mensch jedoch, sich zu Grenzerfahrungen wie dem Lachen oder Weinen zu verhalten. „[A]uch Lachen und Weinen sind nicht starre Vermögen, die hinterrücks ihr Werk tun und über den Menschen verfügen, ob er will oder nicht. Sie sind nur insoweit Vermögen, als er sich auf sie versteht und zu ihnen versteht.“⁴⁵ Erst das Zusammenspiel von Sich-Selbst-Erleben und der Fähigkeit, dies als Grenzerfahrung anzunehmen, zeichnet das menschliche Dasein aus. Gerade weil der Umgang mit Grenzen zum menschlichen Leben dazu gehört, stellt auch die Technik im eigenen Körper keine „Störung der ursprünglich gesunden Lebensweise dar“,⁴⁶ wie Thomas Bek betont. Dass eine Integration der Technik in das Leben gelingen kann, zeigen Studien, in denen Menschen mit Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen, in: Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt am Main, , . Ebd., Bek, Thomas: Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie, Würzburg, , .
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Parkinson und THS ihre Krankheit und die Technik in ihrem Körper „vergessen“.⁴⁷ Grenzerfahrungen wie sie sowohl das Leben an sich, aber vor allem auch das Leben mit Parkinson oder der Technik im Gehirn darstellen, können, wie der Rückgriff auf Plessners Theorie verdeutlichen kann, in das eigene Leben integriert werden, sofern man die leibliche Dimension berücksichtigt, d. h. sofern man die Momente von Kontrollverlust oder die spürbare „Fremdverfügung“ durch die Technik in die eigene Identität und das Selbstbild integrieren kann. So könnte man Plessners Ausdrucksweise aufgreifen und sagen, dass auch die (plötzliche) technische Einwirkung nicht „hinterrücks“ erfolgt, sondern auch als ein Vermögen betrachtet werden kann, in dem die leiblich-körperliche Doppelstruktur des lebendigen Daseins zum Ausdruck kommt. Das unmittelbare Erleben der direkten technischen Verfügung über den eigenen Körper wird zu einer Grenzerfahrung, die zu einem neuen Selbstverstehen führen kann. Dubiels Selbstbericht zeigt deutlich, wie sich die Freiheits- und Grenzerfahrung des lebendigen Organismus durch Krankheit und Technik auf eine spezifische Weise ineinander verzahnt und neue Selbstdeutungsvokabulare generiert. An dieser Stelle können wir nun auf die auch für Technisierung des Lebendigen signifikante Verschränkung von Freiheit und Grenze zurückkommen und in diesem klinischen Kontext mit dem Begriff der Vulnerabilität erfassen. Der in letzter Zeit im bioethischen Diskurs wiederentdeckte Begriff der Vulnerabilität⁴⁸ ist eine Möglichkeit, den Menschen als ein lebendiges Dasein zu verstehen, das durch Krankheit und technische Interventionen in Grenzsituationen kommen kann, in denen das intrikate Verhältnis von Technik und Leben exemplarisch hervortritt. Indem wir die Vulnerabilitätsthematik aufgreifen, wollen wir auch zur ethischen Debatte um die THS beitragen, in der es vor allem um Nebenwirkungen, die Autonomie (im „klassisch“ medizinethischen Sinne), die personale Identität, gesellschaftliche Implikationen, bestimmte Kasuistiken, punktuell aber auch technikanthropologische Fragen geht,⁴⁹ die spezifische Vulnerabilität, die
Vgl. Lipsman, Nir/Glannon, Walter: Brain, mind and machine: What are the implications of deep brain stimulation for perceptions of personal identity, agency and free will?, in: Bioethics / , , – . Siehe zum Beispiel Mackenzie, Catriona u. a. (Hrsg.): Vulnerability: New Essays in Ethics and Feminist Philosophy, Oxford, . Siehe zum Beispiel Schermer, Maartje: The mind and the machine: On conceptual and moral implications of brain-machine interaction, in: Nanoethics /, , – ; dies.: Ethical issues in deep brain stimulation, in: Frontiers in Integrative Neuroscience , , DOI: ./ fnint..; Hildt, Elisabeth: Fremdes im Gehirn, in: dies. u. a. (Hrsg.): Der implantierte Mensch. Therapie und Enhancement im Gehirn, Freiburg, , – ; Baylis, Françoise: „I am who I am“: On the perceived threats to personal identity from deep brain stimulation, in: Neuroethics (), , – ; Glannon, Walter: Stimulating brains, altering minds, in:
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neurologische Erkrankungen wie Morbus Parkinson und die Stimulationstechnik hervorrufen, wurden allerdings bislang noch nicht ausreichend zum Thema gemacht.⁵⁰ Vulnerabilität stammt von lat. vulnus = Wunde ab und schon die Etymologie zeigt die Schmerz- und Leidensmöglichkeit des Menschen an, die in seiner Körperlichkeit gründet. Vulnerabilität beschreibt darüber hinaus eine Fähigkeit des Menschen, die Möglichkeit des Verletztwerdens als wesentlichen Bestandteil des Lebens zu begreifen: It describes the condition of sentient, embodied creatures, who are exposed to the dangers of their environment, and who are conscious of their precarious circumstances. […] it signifies the capacity to be wounding, and to be open to the world.⁵¹
Dieses Verständnis von Vulnerabilität ist anthropologisch als eine Eigenschaft aller Menschen bestimmt und unterscheidet sich in seiner Verwendung von dem Vulnerabilitätsbegriff in der Medizinethik. Hier ist Vulnerabilität eine nicht-universale Eigenschaft und definiert bestimmte Gruppen. Vulnerabel ist in der medizinethischen Terminologie derjenige, der bereits beeinträchtigt ist, d. h. besonderen Risiken ausgesetzt ist, zusätzliches Leid zu erfahren. Klassischerweise fallen darunter Personengruppen wie Kinder, Alte, Menschen mit Behinderung oder Menschen mit Migrationshintergrund, denen aufgrund ihrer spezifischen Vulnerabilität ein besonderer Schutzanspruch in Forschung und Aufklärung vor medizinischen Behandlungen zukommt.⁵² Menschen mit Parkinson können im medizinethischen Sinn jedoch auch als vulnerabel bezeichnet werden. Aufgrund ihrer Krankheit und den damit verbundenen Symptomen müssen sie besondere Einschränkungen in ihrem Leben hinnehmen und empfinden das Bewegen im sozialen Raum oftmals als eine belastende Erfahrung. Die THS kann unter diesem Aspekt als Versuch gelesen werden, technisch auf die durch die Krankheit Parkinson erworbene spezifische Vulnerabilität zu reagieren. Meist erfahren die Patienten schon vor der THS eine
Journal of Medical Ethics , , – ; Talbot, Davinia: Tiefenhirnstimulation und Autonomie, in: Müller, Oliver u. a. (Hrsg.): Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie, Paderborn, , – . Eine Ausnahme, allerdings in Bezug auf die konkrete Situation von Forschung an psychiatrischen Patienten mit THS, ist: Bell, Emily u. a.: Beyond consent in research: Revisiting vulnerability in deep brain stimulation for psychiatric disorders, in: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics , , – . Turner, Bryan S.: Can We Live Forever?, London, , . Vgl. Birnbacher, Dieter: Vulnerabilität und Patientenautonomie – Anmerkungen aus medizinethischer Sicht, in: Medizinrecht , , – .
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krankheitsbedingte Persönlichkeitsveränderung, die als unerwünscht eingeschätzt wird. So schreibt Dubiel von „Missempfindungen“ und „Panikattacken“, die sein Leben schon vor der eigentlichen Diagnose Parkinson bestimmten.⁵³ Die THS bietet eine Option, auf die durch die Krankheit hervorgerufene spezifische Vulnerabilität technisch zu reagieren, denn sie lässt Symptome wie Tremor und Überbewegungen verschwinden, auch die medikamentösen Dosen können verringert werden. Möchte man die Aussagen Dubiels hinsichtlich der Vulnerabilität interpretieren, so könnte man sagen, dass die THS durchaus Abhilfe und Linderung für spezifische Formen der Vulnerabilität zur Verfügung stellen kann. Wenn Dubiel allerdings davon spricht, dass auch nach der Implantierung des Hirnstimulators verstörende Momente sein Leben für eine gewisse Zeit bestimmen, verschiebt sich die Vulnerabilität auf das „Leben mit Technik“, oder genauer gesagt: es entsteht eine Form von Vulnerabilität, die Aspekte einer schweren Krankheit und spezifische durch die Technik induzierte Phänomene vereinigt. Vor diesem Hintergrund können wir das anthropologische Verständnis von Vulnerabilität in den subjektiven Erfahrungen von Patientinnen und Patienten wiederfinden. Dubiel beschreibt, wie sich nach der OP Symptome wie eine Sprachstörung einstellen, die seine Identität als Professor ins Mark erschüttern.⁵⁴ Das Technische, die THS scheint hier zunächst gegen das Lebendige zu stehen, in dem es zwar Abhilfe gegen das Leiden schafft, da etwa der Tremor deutlich zurückging, aber gleichzeitig auch neue Leiden, wie die genannte Sprachstörung, hervorruft, ein Leiden, das Dubiel, der auf die Sprache angewiesen ist, in besonderer Weise vulnerabel macht, weil sich damit seine Rolle als Universitätslehrer oder als Wissenschaftler, der auf Konferenzen Vorträge hält, in existentieller Weise ändert. Doch Dubiel verharrt nicht in der Beschreibung der THS als einer neuen Form des Leidens, sondern er verweist auf die Fähigkeit, die Möglichkeit des Verletztwerdens als wesentlichen Bestandteil des Lebens zu begreifen. Der Umgang mit Krankheit und THS kann laut Dubiel nicht in Weltflucht resultieren. Sondern da das Leben immer schon aus Grenzerfahrungen besteht und das „lebendige Selbst“ die Freiheit besitzt, sich zu diesen zu verhalten, kann und muss die Technik an die Selbsterfahrung als lebendiges Wesen gekoppelt werden. Im Sinne von Plessners künstlicher Natürlichkeit und unserem Verständnis von Vulnerabilität können wir sagen, dass die Integration von Grenzerfahrungen und Bedingtheit existentiell zum Menschsein dazu gehört und dass auch die Technik als Teil des lebendigen Körpers zu begreifen ist und nicht prinzipiell als dem Körper entgegensetzt, im Sinne einer Dichotomisierung von Natürlichem und Künstlichem. Es geht darum,
Dubiel: Tief im Hirn, . Vgl. ebd., – .
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sowohl die Parkinson’sche Krankheit als auch die Technik im Gehirn nicht als Antipoden zum Leben zu begreifen. Beides gehört zum Leben: Das Krankwerdenkönnen und der Umgang mit der Krankheit und die Technik, die Menschen entwickeln, um Heilung oder, wie in diesem Fall, zumindest Linderung zu verschaffen. Doch wichtig ist, dass die Technik als mit der Vulnerabilität des menschlichen Körpers verschränkt verstanden werden muss. Selbst eine so tief in das Leben eingreifende Technik wie die THS kann in das Leben integriert werden, wenn sie im Kontext der für das Leben typischen Dialektik von Freiheit und Grenze, von Autonomie und Limitation begriffen wird. Dann können wir sagen, dass sich mit der Technik die Vulnerabilität auf eine spezifische Weise verändert. Die THS ermöglicht Formen von Interaktion, die vor der Operation nicht denkbar waren, erhöht also die Freiheitsgrade der Patientin oder des Patienten. Gleichzeitig verweist dies auf neue Signaturen der Kontingenz, die nicht primär an das Krankheitsbild geknüpft sind, sondern auch an die Technik. Die Technik verbindet sich mit der für das lebendige Selbst typischen Dialektik zwischen Freiheit und Grenze in einer Weise, dass die Technik sowohl neue Freiheiten als auch neue Grenzen verursacht, die wiederum mit der natürlichen Freiheit und der entsprechenden Grenzrealisierung zusammenspielen, die wir als Verschränkung von natürlicher Künstlichkeit und künstlicher Natürlichkeit bezeichnen wollen. Dieses komplexe Verhältnis von Leben und Technik zeigt sich im Fall von Dubiel und seiner Reflexion auf das eigene Leben als Professor, Vater oder Liebhaber, in der deutlich wird, dass Menschen mit THS keine „Menschmaschinen sind, sondern in ihrer ‚natürlichen Künstlichkeit‘ menschlich bleiben.“⁵⁵ Der Umgang mit der THS kann als eine hochsensible Form der Anerkennung der „fremden“ Technik im eigenen Körper verstanden werden, die auch die Möglichkeit der Zurückweisung inkludiert. Doch da das menschliche Leben von Grenzerfahrungen geprägt ist, die auch die Technisierung des Lebendigen betreffen, verstehen wir im Fall der THS in besonderer Weise durch die technische Intervention, was es heißt, sich als lebendig zu begreifen – gerade weil das Lebendigsein gleichzeitig durch die Technik ermöglicht und von dieser begrenzt wird.
Schlussbetrachtung Anhand der Plessner’schen Anthropologie wollten wir in Grundzügen zeigen, dass man aus den Funktionen des Lebendigen einen Freiheitsbegriff entwickeln kann,
Hätscher: Geregelte Außeralltäglichkeit, .
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der systematisch mit dem Begriff der Grenze verbunden ist, der Freiheit zur „bedingten Freiheit“ eines lebendigen Selbst oder Daseins macht. Auf dieser Grundlage haben wir uns die Frage gestellt, inwiefern dies für die Reflexion aktueller Bio- und Medizintechnologien fruchtbar gemacht werden kann, da wir davon ausgehen, dass die Technik mit Cassirers Begriff eine „Methode des Lebens“ ist, die zunächst aus der Freiheit zur Selbst- und Weltgestaltung des Menschen entsteht. Im Rückgriff auf die Plessner’schen Begriffe der exzentrischen Positionalität und der natürlichen Künstlichkeit wollten wir dann eine Beschreibungsform für die technische Selbstverfügung finden, die die Verschränkung von Freiheit und Grenze auf einer technikphilosophischen Ebene wieder aufgreift. In diesem Zuge argumentierten wir dafür, dass man das anthropologische Grundgesetz der natürlichen Künstlichkeit zum einen in seiner paradoxalen Wendung ernst nehmen muss, was dann, in unserer Interpretation, die Künstlichkeit immer an das Natürliche zurückbindet und in keiner Weise überwindet, und zum anderen wollten wir mit dem Begriff der „künstlichen Natürlichkeit“ dazu beitragen, das komplexe Zusammenspiel von Leben und Technik besser zu erfassen. Daher begegneten wir Lists Ansatz, Plessners Konzeption noch einen Schritt weiter in Richtung einer „technischen Exzentrizität“ zu entwickeln aus anthropologischer Perspektive mit Skepsis. Denn auch wenn uns Technisierungsformen entfremdend vorkommen, bleibt es doch die Herausforderung, Dynamik und Logik der Technik an die Charakteristika des Lebendigen zurückzubinden und nicht gegeneinander auszuspielen. Dies eröffnete für uns die Möglichkeit, die Formel der natürlichen Künstlichkeit auf den Begriff der Vulnerabilität zu beziehen, der die menschliche Existenz als eine Signatur der Kontingenz fundamental bestimmt. Die Vulnerabilität verdeutlicht die Notwendigkeit, die spezifischen Limitationen des Körperlichen in die technische Optimierungslogik einzuschreiben. Am Beispiel der THS konnten wir sehen, dass wir von einer Vulnerabilität sprechen können, die sich aus Krankheitserfahrung und Technik gleichermaßen speist und erlaubt, den Umgang mit der Technik vor dem Hintergrund von Freiheit und Grenze auf einer neuen Ebene zu diskutieren. Da die Technik zu neuen Formen von Vulnerabilität führen kann, in der sich Krankheitserfahrung und technische Verfügung überlagern, ist es unser Fazit, dass wir das Verhältnis von Technik und Leben auf eine stimmige Weise erfassen können, wenn wir die Signaturen der Kontingenz, die mit der Technisierung des Gehirns einhergehen, berücksichtigen und für die Ausarbeitung einer Ethik des Leben-
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digen auf einen Begriff von Technik zurückgreifen, der, wie der Freiheitsbegriff, immer als ein bedingter zu verstehen ist – und nicht als ein entgrenzter. ⁵⁶
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Dieser Text entstand im Rahmen einer Förderung durch das Exzellenzcluster BrainLinksBrainTools der Universität Freiburg (EXC ).
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Technik im lebendigen Selbst
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II Normen des Lebendigen
Volker Gerhardt
Selbstbestimmung im Lebenszusammenhang Abstract: Self-destination in the context of life. This chapter presents a survey of some central topics of the German debate on bioethics. After a definition of human self-destination – and its foundation in elementary self-organisation – it gives an outline of the main problems in the discussions of the National (later on: German) Ethics-Commission, between 2001 and 2012. The author, who has published a systematic study on self-destination and individuality (Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart, 1999), tries to show that it is possible to give coherent answers to highly differentiated moral questions with full awareness of the natural and social conditions of human life. He underlines the rational claims in discussing problems central to the self-concept of humans and points out the systematic connection between biological and ethical questions in the light of systematic philosophy.
1 Ein Grundbegriff des Lebens Wenn man in Übereinstimmung mit der Biologie den elementaren Vorgang des Lebens als „Selbstorganisation“ bezeichnet, kann man die „Selbstbestimmung“ als ein notwendig hinzugehörendes Merkmal des Lebens ansehen. Denn mit jedem Akt der Selbstorganisation legt sich der Organismus auf etwas fest, mit dem er anderes ausschließt. Stoffwechsel, Reizbarkeit, Wachstum, Regeneration und Reproduktion sowie Lern- und Anpassungsfähigkeit sind allesamt Ausdruck der ursprünglichen Selbstbestimmung des Lebens, die erst im Tod ihr Ende findet. So gesehen findet jede Selbstbestimmung im Lebenszusammenhang statt.
Der nachfolgende Text setzt Überlegungen fort, die erstmals unter dem Titel Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart, , entwickelt worden sind. Sie haben sich mit den Erfahrungen konkretisiert, die insbesondere in den elf Jahren der Mitgliedschaft im Nationalen und im Deutschen Ethikrat von bis gewonnen werden konnten. Die von mir in den Stellungnahmen des Ethikrats vertretenen Positionen sind in den Veröffentlichungen namentlich ausgewiesen. Nach dem Sondervotum zu Fragen des Umgangs mit der Demenz, das ich im April zusammen mit Weyma Lübbe abgegeben habe, bin ich auf eigenen Wunsch aus dem Gremium ausgeschieden. Alle Texte des Deutschen Ethikrats und seines Vorgängers, des Nationalen Ethikrates, sind unter www.ethikrat.de einzusehen.
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Diese Verwendung des Begriffs muss alle jene befremden, die „Selbstbestimmung“ als einen erst mit Kant in Umlauf gekommenen ethischen Grundbegriff ansehen. Zwar hat man sich daran gewöhnt, dass auch im Völkerrecht von „Selbstbestimmung“ gesprochen wird; doch den Begriff auf basale Vorgänge des Lebens anzuwenden, erscheint als Kategorienfehler erster Ordnung. Und wenn dann noch behauptet wird, es gebe ein Kontinuum von der biologischen über die soziale und rechtliche bis hin zur ethischen Selbstbestimmung, scheint der Kardinalfehler des positivistischen Reduktionismus, der „naturalistische Fehlschluss“, offen zu Tage zu liegen. Doch ich behaupte, dass die Selbstbestimmung ein in allen Stadien des organischen, gesellschaftlichen und kulturellen Daseins durchgängig wirksames Regulativ des Lebens ist, das durchaus auch als moralisches „Prinzip der Individualität“ verstanden werden kann. Selbstbestimmung nimmt älteste Impulse der antiken Ethik der „Selbstherrschaft“ auf, schließt wörtlich an das sibi praefiniens (sich bestimmen) der Renaissance-Philosophen an, ist mit der Ethik Spinozas kompatibel, setzt die Tradition der kritischen Ethik Kants fort und hat als moralischer Terminus vor allem auch im Paradigmenwechsel zu den Lebenswissenschaften Bestand. Auch das vielen heute so rätselhaft erscheinende Problem des „Selbst“ erfährt auf diesem Weg eine zwar nicht einfache, aber nachvollziehbare Lösung: Das Selbst ist in der Tat kein eingebauter Identitätskörper, der aus jedem einzelnen Wesen genau und unverwechselbar das macht, was es ist. Es ist vielmehr das Integral eines (wie alles Lebendige) auf sich selbst bezogenen Lebensvorgangs, das nach außen wirken, im Inneren prüfen und nach Möglichkeit verstärken muss, so dass jeder als personale Einheit von seinesgleichen in seiner Besonderheit erkannt werden kann. In Korrespondenz mit seinesgleichen hat jeder eine Einheit darzustellen, die seinen körperlichen und geschichtlichen Konditionen entspricht und seinen sozialen und psychischen Konstellationen angemessen ist. In Übereinstimmung mit seinen Lebensdaten, seinem Geschlecht und seinem Alter hat er in aller Veränderung sowohl eine innere Kontrolle wie auch eine Konstanz zu erweisen, die beweglich genug sein muss, um den ständig wechselnden Situationen des Lebens gerecht werden zu können. Zu denen gehören auch die widerstreitenden Kräfte in seiner eigenen Brust, zwischen denen das Selbst zu einem Ausgleich finden muss, ohne mit jeder Entscheidung als ein anderes zu erscheinen.¹
Nicht von ungefähr hat der ursprünglich aus der Logik stammende und dann in die botanische Beschreibungspraxis übernommene Terminus der Bestimmung und bei Kant zur Bezeich-
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Rein physisch gesehen gibt es das Selbst nicht in der Art eines Gegenstands oder eines leibhaftigen Organs; daraus jedoch zu schließen, es sei gar „nichts“ oder bestenfalls eine „Illusion“, der weiß nichts von der manifesten Wirksamkeit der mentalen Beziehungen in der psychischen, sozialen und kulturellen Realität. Die Wirklichkeit des Selbst liegt in der Wirksamkeit, die es von sich aus entfaltet und im Interesse anderer, das es auf sich zieht. Die Identität des Selbst ist eben das, was sich in Prozessen der Selbstbestimmung bildet, in sozialen Interaktionen hervortritt und sich mit ihnen wieder verliert. Sobald die psycho-physischen Wirksamkeit des Organismus ihr tödliches Ende findet, dürfte auch das Selbst seine Schuldigkeit getan haben.
2 Selbstbestimmung am Lebensanfang Bei der Rede von der „Selbstbestimmung im Lebenszusammenhang“ dürften die wenigsten an die Prozesse der organischen Selbstregulation von Individuen im Austausch mit ihrer immer auch sozial geprägten (und zunehmend technisch veränderten) Umwelt denken. Vorrangig ist, wie der Mensch seine individuelle Selbstbestimmung im Lebenskontext bewältigt, wobei jene Phasen im Vordergrund stehen, in denen die Selbstbestimmung entweder noch nicht oder nicht mehr durch Eigenleistungen erbracht werden kann. So will auch ich es verstanden wissen, glaube aber, dass wir nicht nur theoretisch viel gewinnen, wenn wir die angedeutete biologische Tiefendimension des Begriffs beachten. Am Lebensanfang eines Individuums ist die Selbstbestimmung noch ganz auf die organische Funktion beschränkt. Das aus dem Ei geschlüpfte oder nach der embryonalen Entwicklung lebend geborene Wesen kann seinen Stoffwechsel selbst aufrechterhalten und lernt in mehr oder weniger kurzer Zeit, seine Sinne und seine Gliedmaßen zu gebrauchen. Die weitaus größere Zahl der auf diese Weise in die organische Unabhängigkeit entlassenen Individuen kann in den ersten Lebenstagen zumeist nur auf die schützende Präsenz von Artgenossen setzen. So schrecklich es klingt: Einige überleben nur, weil so viele gleichzeitig
nung autonomer Selbstbestimmung dient, vom . Jahrhundert an eine bemerkenswerte politische Karriere gemacht. Er ist heute zum festen Bestandteil des Vokabulars im Völkerrecht, in der politischen und der zivilgesellschaftlichen Praxis sowie in der Bioethik geworden. Dabei tritt er die Erbschaft des antiken Begriffs der Selbstherrschaft an, und hat Vorläufer in der RenaissancePhilosophie, deren Sprachgebrauch sich unter neuzeitlichen Bedingungen in keiner europäischen Sprache verliert. Zur Begriffsgeschichte und zur systematischen Reichweite siehe die erwähnte Selbstbestimmung.
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schlüpfen. Andere bleiben erhalten, weil die Eltern ihre ganze Aktivität auf die Brutpflege einer kleinen Zahl von Nachkommen konzentrieren. Höhere Lebewesen sind in der Regel auf eine befristete Assistenz durch Angehörige der Elterngeneration angewiesen. Bei Primaten erhöht sich diese Phase beträchtlich, nicht selten auf einen Zeitraum von mehreren Jahren. Beim Menschen ist ein sich über zwölf bis fünfzehn Jahre erstreckender Beistand durch Eltern und Erzieher vonnöten. In modernen Zivilisationen kann sich dieser Zeitraum noch beträchtlich erhöhenden. Die hässliche Rede vom „Hotel Mamma“ macht das auf schönste Weise bewusst. Solange die Lebensumstände und die gesellschaftlichen Verhältnisse nichts anderes bestimmen, fungieren die Erwachsenen als Vertreter des jungen Menschen, bis er erwachsen ist. Die Zeit der Obhut durch die Erziehungsberechtigten variiert mit der Ausbildung der fraglichen Fähigkeiten. Das Tempo des individuellen Wachstums kann schneller oder langsamer sein; überdies gibt es unterschiedliche kulturelle Standards, die ihren Niederschlag auch in gesetzlichen Regelungen der Volljährigkeit finden. Doch so wichtig allgemeine Bestimmungen in einer Rechtsordnung auch sind: Die Urteilskraft der Eltern, die wissen sollten, was sie den Jüngeren an eigenverantwortlicher Selbstbestimmung überlassen und was sie von ihnen fordern können, ist unverzichtbar. Jedes Individuum nimmt seinen eigenen Weg und verlangt eine auf seine Stärken und Schwächen abgestimmte Steuerung. Vor Eltern und Erziehern wäre das ein abendfüllendes Thema. In unserem Zusammenhang genügt der Hinweis auf das Recht und die Pflicht der Erwachsenen, in Vertretung der sozial noch nicht ausgereiften Selbstbestimmung des heranwachsenden Menschen tätig zu sein. Dabei folgt aus dem Selbstbestimmungsrecht eines jeden Menschen, dass die Sorge für das noch nicht zur Selbstständigkeit gelangte Individuum in dessen eigenem Interesse wahrgenommen wird. Die Eltern handeln ihrer Pflicht gemäß, wenn sie sich das Wohl des Kindes zum Maßstab nehmen. Mögen die Kinder auch von ihnen gezeugt, behütet und gefördert werden: Sie sind gleichwohl nicht deren Geschöpfe, auch nicht deren Eigentum, sondern Wesen, die sich letztlich unabhängig von ihnen bewegen und ihren eigenen Weg zu gehen haben. Erziehung ist doppelte Anwaltschaft – sowohl im Namen der Gesellschaft, nach deren Konditionen man zusammenlebt, wie auch im genuinen Eigeninteresse der Kinder. Das Eigeninteresse der Eltern sollte sich mit dem Glück des gemeinsamen Lebens bescheiden.
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3 Der besondere Status der Schwangerschaft Die organische Eigenständigkeit eines neuen Lebewesens ist im Status der Schwangerschaft noch nicht gegeben. Doch so sehr es vom Leib der Schwangeren umschlossen ist, kann man nicht sagen, dass es der Frau, in der es heranwächst, „gehört“. Denn die werdende Mutter ist nur der schützende Ort, der das wachsende Leben ermöglicht. Alles ist darauf gerichtet, dass sich das Kind im Mutterleib zur Eigenständigkeit seines Daseins entwickelt.² Gleichwohl heißt das nicht, dass es den Eltern und insbesondere der Mutter gleichgültig sein muss, wie und was da in ihr heranwächst. Es sollte ihr Leben während und nach der Schwangerschaft nicht in einer über die bekannten Risiken hinausgehenden Weise gefährden; es sollte ihr Leben auch nicht in einer unzumutbaren Weise verändern. Darauf nimmt die Praxis des Schwangerschaftsabbruchs (in Verbindung mit der ihr vorgeordneten medizinischen und sozialen Beratung) Rücksicht. Das Skandalon besteht einzig darin, dass der Abbruch, selbst dann, wenn er aus schwerwiegenden Gründen freigestellt oder gar empfohlen wird, als „rechtswidrig“ gilt. Die Praxis einer Beratung, die freilich nicht unter Zwang erfolgen sollte, hat sich bewährt. Im Stadium der Schwangerschaft darf es den Eltern auch nicht verwehrt sein, bei einem schwerwiegenden organischen Defekt des Embryos, der erwarten lässt, dass ein selbstbestimmtes Leben des geborenen Menschen nach dem Stand der medizinischen Praxis so gut wie ausgeschlossen ist, eine mit Ärzten und Betreuern beratene Entscheidung über das Leben des Embryos zu fällen. Wenn kein selbstbestimmtes Leben des geborenen Wesens zu erwarten ist, weil seine Lebenserwartung nur wenige Monate beträgt, keine eigene Erlebnisfähigkeit, wohl aber ein unablässiges Leiden mit fortgesetzter klinischer Betreuung zu erwarten ist, muss den Eltern ein Entscheidungsspielraum zugestanden werden. Das in ihm zur Geltung gebrachte Kriterium hat allein in der Lebensfähigkeit zu bestehen, weil sie die Bedingung einer möglichen Selbstbestimmung ist. Damit ist auch die Grenze gegenüber einer Entscheidung nach dem bloßen Wunsch der Eltern gezogen. Nach Möglichkeit sollte jedes Kind ein „Wunschkind“ sein, wobei der Wunsch sich klugerweise nur darauf bezieht sollte, dass es kommt, nicht aber darauf, wie es beschaffen ist, welches Geschlecht es hat oder ob es vorgefassten Normalitäts- oder gar Leistungsstandards gehorcht.³
Dieses Verhältnis wurde mit der Parole „Mein Bauch gehört mir!“ geleugnet. Das zu wünschen widerspricht zwar keinem göttlichen Gebot, enthält aber die günstigste Disposition, sich unglücklich zu machen. Denn bei jedem Defizit, das sich bei einem nach eigenen Vorstellungen modellierten Wesen bemerkbar macht, wächst der Anteil der eigenen Schuld.
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Mit dem Kriterium der Lebensfähigkeit, als der Fundamentalbedingung der individuellen Selbstbestimmung, kann auch den Behinderten die Sorge genommen werden, hier werde bereits im Vorfeld ihrer eigenständigen Existenz ein Werturteil über ihr Lebensrecht gefällt.⁴ Gegenüber einer solchen Befürchtung kann und muss man betonen, dass kein Mensch sein Leben allein aus eigener Kraft zu bewältigen vermag. Auch im Zustand lebenslanger Gesundheit ist er von der Geburt bis zum Tod auf das Verständnis, die Hilfe und die Mitwirkung durch andere angewiesen. Schon auf sein Denken und Sprechen kommt niemand bloß von selbst; das kulturelle Dasein des Menschen beruht auf einer sich über Jahrtausende hinziehenden Kooperation, auf der Gegenwart zahlloser anderer Menschen, mit denen man auszukommen hat und, nicht zu vergessen, auf einer Zukunft, die über die jetzt lebenden Menschen hinausführt – so düster die Erwartungen auch immer sein mögen.⁵ Solange die organische Eigenständigkeit der heranwachsenden Menschen noch nicht erreicht ist, besteht eine erst kurz vor dem Akt der Geburt endende symbiotische Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Embryo. Sie erlaubt es nicht, die angenommenen Interessen des Kindes mit demselben Maß zu bewerten, wie dies nach der Geburt der Fall zu sein hat: Während der Schwangerschaft hat das Leben der Mutter Vorrang vor den unterstellten Ansprüchen des Embryos. Deshalb kann man die Lebensaussichten des Fötus, so sehr man in ihm bereits das erkennt und anerkennt, was aus ihm werden kann, nicht nach denselben Kriterien beurteilen wie die der werdenden Mutter. In der Abwägung ergibt sich somit eine Präferenz für die Schwangere. Aber diese muss durch Argumente ausgewiesen werden, in denen das Lebensrecht des Embryos zur Geltung kommt. Damit ist deutlich gemacht, dass auch vor der Geburt Ansprüche der Gesellschaft und somit überindividuelle Lebenszusammenhänge zu beachten sind. Vielleicht wird nirgendwo deutlicher als hier, dass Selbstbestimmung im Lebenszusammenhang zu erfolgen hat. Und was für den Anfang gilt, bleibt auch am Ende des Lebens gültig.
Ich erinnere an Kants Bemerkung am Ende des § der Kritik der Urteilskraft, in dem er die Behinderten, diese „anomalischen Geschöpfe“, mit ihren „wundersamsten Eigenschaften“ zu den erstaunlichsten Erscheinungen der organisierten Natur rechnet (AA , ). Daraus kann man nur den Schluss ziehen, dass die Gesellschaft in und mit ihren Einrichtungen da nach besten Kräften nachzuhelfen hat, wo die „Selbsthülfe der Natur“ versagt. Hier haben wir ein Kriterium, das für die Hirntoddebatte von Bedeutung ist. Siehe unten die Punkte und .
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4 Stellvertretung nach besten Kräften Es sollte sich von selbst verstehen, dass die Erziehungsberechtigten die Vertretung der kulturell noch nicht aktualisierten personalen Selbstbestimmung des Kindes nur nach bestem Wissen und Gewissen wahrnehmen können. Eben das zum Kriterium einer Entscheidung erheben zu wollen, was man zum Zeitpunkt der Erwägung und Entschließung noch gar nicht wissen kann, ist eine Dummheit ersten Grades – was natürlich nicht ausschließt, dass es in philosophischen Seminaren erörtert wird. In allen verantwortungsbewusst getroffenen Entscheidungen ist anzunehmen, dass die Eltern den Lebensgewohnheiten folgen, die sie im Gang ihrer eigenen Entwicklung übernommen haben. In der Regel kann es gar nicht anders sein, als dass sie ihre Kinder so erziehen, wie sie es verstehen. Und was immer sie dabei als vorrangig ansehen: Sie üben allemal großen Einfluss auf die Heranwachsenden aus. Solange sie sich dabei an die Üblichkeiten halten und die Wünsche und Neigungen der Kinder nicht missachten, gibt es keinen Anlass, sie dafür zu tadeln. Auch wenn Kinder im Rückblick den Eindruck haben, sie seien eher das Opfer der Willkür und der Achtlosigkeit ihrer Eltern und nicht das mit Wohlwollen und Wertschätzung ihrer persönlichen Eigenarten geförderte Individuum, haben sie die Grenzen des Wissens ihrer Eltern und deren Recht auf eine nach eigener Einsicht geführte Lebensführung zu beachten. „Noch wusste es niemand“ ist der Titel der Biographie eines Philosophen, der sein Leben vor und nach 1933 beschreibt und so schon vorab deutlich macht, dass er sich gewiss anders verhalten hätte, wenn ihm im Vorhinein bekannt gewesen wäre, was er später unter den Nationalsozialisten erleben musste.⁶ Also ist man genötigt, die Einsicht in die konstitutive Begrenztheit unseres Wissens, die nicht selten tragischen Charakter hat, zu beachten – in der Erziehung der Kinder nicht anders als in der eigenen Lebensführung. Wenn man sich nicht darin gefällt, einfach drauflos zu leben und Behutsamkeit oder Vorsicht für „spießig“ zu halten, sind eine auf individueller Zuwendung und Liebe beruhende Erziehung sowie eine den eigenen Einsichten und Grundsätzen entsprechende Lebensführung, die ihre Gegenwart und die zu ihr gehörenden Menschen achtet, die besten Mittel, um mit den Unwägbarkeiten des Daseins zu leben. Solange die Eltern in sorgender Anteilnahme und nach bestem Wissen handeln (ein Wissen, das sich im sozialen Zusammenhang auch kritisieren und korrigieren lässt!), steht die Erziehung im Dienst der Selbstbestimmung ihrer Pieper, Josef: Noch wusste es niemand. Aufzeichnungen – , München, .
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Kinder. Selbstbestimmung der Jüngeren, so kann man sagen, gedeiht unter den Bedingungen gelingender Repräsentation des Lebenskontexts durch die Älteren. Insofern handeln Eltern stets in einem vorpolitisch angelegten Raum; sie leben nicht nur einfach ihr Leben, sondern sie übernehmen, in Analogie zur Politik, eine Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit, die ihnen eine besondere Verantwortung auferlegt. Wenn Eltern klug sind und die eines Tages von den Kindern in eigener Verantwortung wahrgenommene Selbstbestimmung fördern wollen, beziehen sie die Kinder früh in die sie betreffenden Entscheidungen ein. Das gilt vornehmlich für Maßnahmen mit langfristigen Folgen: bei medizinischen Eingriffen, beim Kitaund Schulbesuch, gelegentlich auch schon bei einem Umzug oder bei gravierenden Entscheidungen, denen die Kinder bei der Trennung der Eltern unterworfen sind. Und so tragisch es ist: Die Kooperation der Eltern ist zu keinem Zeitpunkt wichtiger als in dem ihrer Trennung. Wie schwierig eine stellvertretende Entscheidung dennoch selbst bei Zustimmung des Kindes sein kann, führen uns die Probleme im Umgang mit der postnatalen Geschlechtsbestimmung vor Augen. In nahezu allen Fällen, in denen die Eltern den physiologisch nicht eindeutig auf ein Geschlecht festgelegten Kindern durch operativen Eingriff eine entschiedene Zuordnung ermöglichen wollten, gibt es später – selbst bei der früher gegebenen Einwilligung des schon zur Mitsprache fähigen Kindes – eine erhebliche existenzielle Verunsicherung, sobald die Geschlechtsreife eingetreten ist. Dann sind die Betroffenen in hohem Maße mit eben der Entscheidung nicht zufrieden, die im Kindesalter an ihnen umgesetzt worden ist. Will man auch hier die Selbstbestimmung als entscheidendes Kriterium gelten lassen, kann es nur die Konsequenz geben, auf eine vorzeitige Entscheidung zu verzichten und mit der operativen Korrektur so lange zu warten, bis den Betroffenen eine ganz und gar eigene Entscheidung möglich ist. Hilft auch das nicht, muss man den Weg gehen, den der Deutsche Ethikrat nach qualvollen Anhörungen der unter ihrer Intersexualität leidenden Personen und nach schwierigsten Beratungen im kleinen Kreis gegangen ist: nämlich die personenrechtliche Kategorie eines „dritten Geschlecht“ für jene vorzuschlagen, die sich nicht entscheiden können, nur weiblich oder nur männlich zu sein. Hier hat uns die Philosophie einmal einen guten Wink gegeben, denn in Platons Symposion ist im Mythos des Aristophanes ein solcher Zwitter als achtbare urmenschliche Existenz vorgeführt wird. Der Text hat, wie jeder weiß, ein biblisches Alter und konnte daher auch die zögernden Kirchenvertreter überzeugen.⁷
Inzwischen hat der Vorschlag Gesetzeskraft.
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5 Festlegung ist unvermeidlich Vor etwa zwei Jahren erregte ein Gerichtsurteil die Gemüter, dem, wie ich finde, eine Auffassung zugrunde liegt, der eben jene Urteilskraft fehlt, ohne die man im Umgang mit der sich ausbildenden personalen Selbstbestimmung des Einzelnen eigentlich nur alles falsch machen kann. Es ging um die Vorhautbeschneidung, wie sie nach jüdischem und muslimischem Ritus geboten ist. Durch einen medizinischen Eingriff wird ein irreversibles anatomisches Kennzeichen gesetzt, das die lebenslange Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft physisch sichtbar macht. Darin könnte man eine Einschränkung der Selbstbestimmung des eines Tages erwachsenen Menschen sehen, der nicht mehr die Freiheit hat, sein Leben unbeschnitten und somit unabhängig von der Religion zu führen, die ihn auf so einschneidende Weise zum lebenslangen Mitglied zu machen versucht. Doch wer so urteilt, müsste alle vor der Volljährigkeit ansetzenden Entwicklungs- und Erziehungsmaßnahmen unterbinden. Denn so gut wie alles, was der Mensch in seiner Kindheit und Jugend aufnimmt, legt ihn fest. Er lernt die Sprache, die in seiner Umgebung gesprochen wird, nimmt die Welt in der jeweils herrschenden perspektivischen Beschränkung wahr, hat sich an die landesüblichen Sitten zu halten und bildet damit die Vorlieben und Abneigungen aus, mit denen er sein Leben lang zu tun hat – ganz gleich, ob er sie schätzt oder abzuschütteln sucht. Doch es ist festzuhalten, dass niemand, dem an seiner Selbstbestimmung liegt, durch seine Erziehung mechanisch festgelegt ist. Vieles im Leben eines Menschen wird erst dadurch produktiv, dass er sich dagegen wehrt. Er kann andere Sprachen lernen, vielleicht sogar solche, für die man durchschnittlich eine frühkindliche Übung braucht. Noch im Alter kann er die Lebensgewohnheiten anderer Völker übernehmen und es als Befreiung empfinden, in andere Kulturen „einzutauchen“. Ohne die frühe Einbindung in einen bestimmten Lebenskontext wäre das alles gar nicht möglich. Gäbe es die anerzogenen Verhaltensweisen nicht, könnte sich kein Mensch jemals entwickeln oder ändern wollen. Lust aufs Experiment und Freude am Abenteuer kämen erst gar nicht auf. Folglich ist es der eigene Umgang mit der traditionalen Mitgift, der als die differenzierende Leistung personaler Selbstbestimmung angesehen werden muss. Sie geht immer von bestimmten Anlässen aus und hat mit konkreten Dispositionen zu rechnen, um mit ihnen aus eigener Kraft und nach persönlicher Einsicht zu leben. Selbst wenn es möglich wäre, das Individuum bis zur Volljährigkeit von
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allen Einflüssen frei zu halten, wäre das aus der Sicht der Selbstbestimmung der blanke Unverstand. Der Mensch wird weder als tabula rasa geboren noch kann vermieden werden, dass sich seine Eigenart mit jedem bewussten und unbewussten Erleben näher bestimmt. Selbstbestimmung ist dann das, was jeder mit und aus dieser angeborenen, anerzogenen und zugeflogenen Erbschaft macht.
6 Das Missverständnis im Gerichtsurteil über die Beschneidung Selbstbestimmung besteht nicht in der ursprünglichen Erfindung seiner selbst, sondern sie geht von einem bereits personal konturierten Wesen aus, das so,wie es ist, und so, wie es sich darin versteht, seinen eigenen Weg zu finden hat. Es ist dies ein Weg, der weit von dem abführen kann, was ihm durch andere vorgegeben worden ist. Selbstbestimmung geht notwendig von inneren und äußeren Konditionen aus. Ohne sie könnten sich keine eigenen Optionen entwickeln. Ohne sie wäre ihr Zentrum ein leeres Ich, das sich auf das Vakuum einer Gegenwart zu beziehen hätte und nicht wüsste, was ihr die Zukunft überhaupt bedeuten könnte. Selbstbestimmung braucht Motive, zu denen nicht zuletzt der Widerstand gegen das gehören kann, was man früher für selbstverständlich hielt. Wollte man also die Beschneidung verbieten, weil sie jemanden mit einem Merkmal versieht, das sich nicht mehr tilgen lässt, müsste man die religiöse Praxis von ihrer Einbettung in das Leben der Gemeinschaft abtrennen. Das aber hieße: Man müsste schon die Religion und nicht erst die Beschneidung verbieten. Das aber wäre erst dann eine politische Option, wenn die Religion selbst ein Makel wäre, der dem Träger so oder so schwersten Schaden zufügt. Doch bei zwei Weltreligionen, die große Kulturen gegründet haben und denen Milliarden von Menschen zugehören, auch nur einen solchen Verdacht aufkommen zu lassen, ist ein reduktionistischer Primitivismus, der sprachlos macht. Und dass dieser Verdacht ausgerechnet in Deutschland durch ein Gerichtsurteil mit dem Rechtstitel eines Verbots versehen worden ist, kann man nur als peinlich ansehen.Wenn es die Religionen mit dem in ihnen üblichen Ritus gibt, hat man sie als einen kulturellen Tatbestand anzusehen, der solange nicht von außen zu tadeln ist, solange er nicht die Freiheit Andersdenkender behindert. Es müsste konkrete Rechtsverletzungen geben, die eine polizeiliche oder richterliche Maßnahme erfordern.
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Die könnte mit dem Tatbestand der Körperverletzung gegeben sein. Über den aber ist nach aktuellen sozialen und medizinischen Kriterien zu entscheiden. Hier geht es, nach den ärztlichen Üblichkeiten, um den informed consent aller von der Entscheidung betroffenen Familienmitglieder, um optimale Behandlung, um Schmerzvermeidung und umfassende Nachversorgung, nicht aber um eine mögliche Verletzung des Grundrechts auf Selbstbestimmung. Die Lage könnte sich nur durch neue medizinische Erkenntnisse ändern. Wenn sich, wie das bei der Klitorisbeschneidung der Fall ist, eine dauerhafte Funktionseinschränkung der körperlichen Organe herausstellen sollte, wäre eine andere Lage gegeben. Davon wissen wir aber im Fall einer Vorhautbeschneidung nichts. Also kann man das Kölner Gerichtsurteil nur als einen schweren Missgriff ansehen, der auf einem fundamentalen Missverständnis beruht: Der Richter hat übersehen, dass Selbstbestimmung stets im Lebenskontext erfolgt, und zu diesem Lebenskontext gehören auch Religionen, die nun einmal Rituale haben, die Andersgläubigen befremdlich erscheinen. Erst wenn es Widerstand aus den Reihen der infrage stehenden Glaubensgemeinschaft gibt, erst wenn aus dem tradierten Zusammenhang Anklage wegen der Missachtung des Willens Einzelner oder einer Körperverletzung erhoben werden sollte, gibt es Anlass für eine gerichtliche Klärung durch ein deutsches Gericht.
7 Selbstbestimmtes Sterben Mit der zum eigenen Topos gewordenen „Selbstbestimmung am Lebensende“ stellen sich alle Probleme der Selbstbestimmung neu, vor allem wenn wir den Suizid hinzunehmen, mit dem ein Mensch seinem Leben jederzeit aus eigenem Entschluss ein Ende setzen kann. Auch wenn wir das große, ernste, aus dem Spektrum humanen Handelns nicht weg zu denkende Problem des „Freitods“ beiseitelassen,⁸ bleiben schwerwiegende Fragen offen. Gegen den Suizid mitten im Leben kann man mit guten moralischen Gründen argumentieren. Ich halte es für eine humanitäre Verpflichtung, dies auch zu tun.
Hier wäre insbesondere an die Position der antiken Stoiker zu erinnern, deren Theorie und Praxis es verbieten, das Problem des Freitods so zu behandeln, als sei es unmoralisch davon überhaupt zu sprechen. Das Tabu bestimmte zu meinem nicht geringen Erstaunen die Beratungen im Deutschen Ethikrats, wo es durch einen stummen Konsens in den Jahren bis ausgeschlossen war, jene Fälle auch nur zu erwähnen, in denen Menschen sich der ihnen vom Arzt diagnostizierten Demenz durch Suizid entzogen hatten. Es gab in der Runde niemanden, der dieses Verhalten verteidigt hätte; gleichwohl konnte noch nicht einmal die damit verbundene Problematik erörtert werden.
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Zugleich aber weiß man, dass Argumentieren gerade hier an Grenzen stoßen kann. Man wird als Familienangehöriger, als Freund, Arzt oder als öffentliche Erwägungen anstellender Theoretiker alles daran setzen, um einen Suizidanten von seinem Vorhaben abzubringen. Aber wenn dessen Verzweiflung oder dessen beharrlicher Wille dies nicht zulassen, wenn er nicht davon abzubringen ist, durch eigene Entscheidung sterben zu wollen, dann ist die Grenze der Ansprechbarkeit erreicht und man wird mit Worten nichts mehr ausrichten können. Dennoch muss man dann nicht zum Gehilfen des Todes werden, sollte aber, sofern man einen Eindruck von der Motivlage hat, Respekt vor der Entscheidung haben. – Das ist ein moralisches Urteil, das man freilich auch verantwortlich praktizierenden Ärzten nicht vorenthalten sollte. Vor allem am unwiderruflich bevorstehenden Lebensende, wenn die Krankheit unheilbar und der Tod nahe ist, wenn die Schmerzen nur auf Kosten der Präsenz des Bewusstseins gedämpft werden können, gibt es, so meine ich, keinen vernünftigen Grund, jemandem die Erfüllung des Wunsches zu versagen, sterben zu dürfen. Selbstbestimmung am Lebensende ist dann erfüllt,wenn wir jemanden, der dem Sterben nahe ist, auf seinen Wunsch hin sterben lassen. Jeder, der sich diesem Wunsch widersetzt, wendet die Gewalt des Stärkeren an, der die letale Schwäche des Mitmenschen nicht achtet. Also wähle ich die Formel, die sich der Nationale Ethikrat 2006 zu Eigen gemacht hat: Selbstbestimmung am Lebensende ist auch dann erfüllt, wenn wir einen Menschen, der dies aktuell und ausdrücklich will, sterben lassen. ⁹ Und ausdrückliches Wollen ist auch dann gegeben, wenn einer zuvor mit wohl informierter Voraussicht unmissverständlich erklärt hat, dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen wünscht und auch keine palliative Sedierung erdulden möchte, die seine bewusste Teilnahme am Leben einschränkt. Das muss insbesondere auch dann gelten, wenn der Körper des Kranken noch vegetative Reaktionen zu erkennen geben sollte, die sich von Angehörigen, Pflegern oder Ärzten als Widerruf seiner zuvor abgegebenen rechtsverbindlichen Erklärung deuten lassen. Hier muss ein vorher eindeutig gegebenes Wort des Individuums das letzte sein. Bei der Selbstbestimmung am Lebensende muss, anders als am Lebensanfang, der bewusste, personal ausdrücklich gemachte Wille Vorrang haben. Es ist eine Verletzung der personalen Würde des Menschen, wenn wir ihn, der in voller geis-
Das ist die Empfehlung des Nationalen Ethikrates mit einer Formel, die das unglückliche Reden von der „Suizidassistenz“ verhindern könnte. Siehe dazu die Stellungnahme: Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende vom Juli .
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tiger Präsenz erklärt hat, er möchte nicht in einem Zustand bloß vegetativer Versorgung zum Weiterleben genötigt werden. Das ist die Seite dessen, der nicht zum todesnahen Weiterleben in Reglosigkeit und Umnachtung gezwungen werden möchte. Aber es gibt auch die Seite der Angehörigen, die nicht in die Zwangslage gebracht werden sollten, ihrem Nächsten bei seinem Wunsch, ungehindert sterben zu können, behilflich zu sein. Will man das vermeiden, kann nur ein Arzt der zuständige Adressat des Wunsches, sterben zu dürfen, sein. Allerdings darf auch kein Arzt gegen seine ethische Überzeugung zu einem das Leben beendenden Akt genötigt werden. Auch für den Arzt gilt die Selbstbestimmung und man wünscht sich, dass dies endlich auch von den Ärzteverbänden anerkannt wird. Denn es ist bekannt, dass es verantwortungsbewusste Mediziner gibt, die in solcher Lage mit guten Gründen keinen Widerspruch zum Hippokratischen Eid erkennen, wenn sie sich dem Sterbewunsch eines nicht mehr lebensfähigen Menschen nicht widersetzen. Und nur wenn man es diesen Ärzten nicht untersagt, ihrer medizinischen Einsicht und ihrem Gewissen zu folgen, hat man eine Chance, dem Geschäft mit der Sterbehilfe Einhalt zu gebieten.
8 Organspende im menschlichen Lebenskontext Dass die Option für die letale Zuständigkeit erfahrener Mediziner nicht als Zumutung für die Ärzteschaft begriffen werden muss, zeigt der letzte Akt einer möglichen Selbstbestimmung am Lebensende: Sie liegt in der im Voraus zu treffende Entscheidung, den eigenen Körper nach dem Tod zu Transplantationszwecken freizugeben. Darüber könnte man sprechen, wie man üblicherweise Testamentsfragen verhandelt: Wenn ich tot bin, dann sollen die Hinterbliebenen die äußeren Güter erben.Was ich gesagt, getan und vielleicht auch geschrieben habe: Alles das kann im Leben und Bewusstsein anderer Menschen weiterleben. Aber mein Körper soll der medizinischen Forschung zur Verfügung stehen, um dem Erkenntnisfortschritt zu dienen. Das ist eine in der wissenschaftlichen Zivilisation schon seit längerem eingeübte Praxis. Mit den Fortschritten der Immunologie ist es seit etwas mehr als einem halben Jahrhundert aber möglich, Organe aus einem abgelebten Körper zu entnehmen, um sie Dienst in anderen Körpern tun zu lassen. Gibt es dagegen grundsätzliche Bedenken? Kann man überhaupt dagegen sein, dass ein Organ wie das Herz, die Niere oder die Lunge zum Wohl anderer gespendet wird,wenn diese anderen keine andere Chance zum Weiterleben haben?
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Es gibt durchaus Argumente, die sich auf die Integrität des Körpers, auf den hohen medizinischen Aufwand, die damit verbundenen Risiken, die hohen Kosten und auch auf Probleme der Organbeschaffung sowie ihre gerechte Verteilung beziehen. Aber grundsätzliche Konsequenzen werden daraus nicht gezogen. Selbst die christlichen Kirchen, die als die entschiedensten Anwälte des einmal gegebenen Lebens und somit als Kritiker einer jeden letalen Verfügung über das menschliche Leben auftreten, erheben keinen prinzipiellen Einwand gegen die Organtransplantation.¹⁰ Alle Aufmerksamkeit ist auf die Rettung des Lebens eines Empfängers gerichtet. Dass aber das Leben eines Spenders unter medizinischer Obhut beendet wird, findet hingegen kaum Beachtung. Ich erinnere mich an das Fernsehinterview mit dem ersten Menschen, der in Deutschland (und zwar im Klinikum Aachen) eine Lebertransplantation überstanden hatte. Er bedankte sich bei seinem anonymen Spender dafür, dass ihm selbst noch Zeit gewährt werde, seinem Enkel das Studium zu finanzieren.Von der Problematik der Spende war keine Rede, und man war gerührt, dass hier gleich zwei Leben eine Chance geben wurde. Der Patient starb wenige Tage später. Doch sein Motiv blieb ohne Tadel. Tatsächlich fällt es nicht schwer, dem Motiv eine humanitäre Fassung geben, und man dürfte Mühe haben, dagegen Einwände zu erheben – man müsste schon vergessen, dass man selbst jederzeit in die Lage kommen kann, ein leistungsfähiges Organ zum Weiterleben zu benötigen – noch bevor die Kinder groß, das Haus abbezahlt oder das opus magnum nicht geschrieben ist. Alle diese Überlegungen sind aus der Sicht eines Empfängers formuliert, und ich möchte den sehen, der die Chance zur Dankbarkeit gegenüber dem Spender mit prinzipiellen Gründen wieder aus der Welt schaffen möchte. Im Einzelfall wird Leben gerettet und verlängert, und dies kann sowohl mit Blick auf den Lebenswunsch des Individuums wie auch aus der Perspektive der Menschheit gerechtfertigt werden. Denn alles,was wir als selbstbestimmte Individuen tun, ist in einen Gattungszusammenhang eingebettet, der beim Menschen eine kulturelle Bedeutung hat. Zwar gibt es Wertungsunterschiede, die im Einzelfall größte Beachtung verdienen können.¹¹ Im Prinzip aber ist es von Vorteil, wenn das Dasein des Menschen verlängert und damit womöglich auch intensiviert und gesteigert werden kann.
Vgl. dazu Pontificia Academia Scientiarum:The Signs of Death, Scripta Varia ,Vatican City, (The Proceedings of the Working Group, – September ). Gemeint sind Fälle, in denen vornehmlich durch hohes Alter, Gebrechlichkeit oder schwerere unheilbare Erkrankungen die Lebensverlängerung eines Individuums von diesem selbst nicht gewünscht wird.
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Die Urteilsperspektive ändert sich, wenn man die Organverpflanzung vom Spender her beurteilt. Hier vorab eine Disposition vorzunehmen und eine verbindliche Verfügung zu treffen, setzt eine beachtliche Distanz gegenüber dem eigenen Tod voraus, die durchschnittlich auf Bedenken stößt. Dabei ist die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod nur ein mögliches, heute zunehmend schwindendes Urteilsmoment. Aber es ist zu respektieren, wann immer es zum Ausdruck kommt. Wer eine unversehrte Wiederauferstehung für möglich und für wünschenswert hält, und deshalb mit vollständigem Organbestand beerdigt werden möchte, verdient die Achtung, die allen Glaubenspositionen gebührt, sofern sie nicht die Freiheit anderer behindern. Hier mit einer medizinischen oder einer humanitär-sozialen Erwartung argumentieren zu wollen, wäre bereits aus prinzipiellen Gründen als falsch anzusehen. Außerdem schlösse es eine Missachtung des Willens der Einzelperson ein, die deren Würde verletzt. Wenn jemand meint, mit dem körperlichen Organ werde ihm etwas entnommen, das er für sein Seelenheil benötigt, der mag darüber mit Seelsorgern oder Theologen sprechen. Der Mediziner sollte an der aus der Glaubensperspektive resultierenden Ablehnung nicht rühren und hat von einer Organentnahme abzusehen. Es gibt genügend Menschen, die ein anderes Urteil über die Stellung des Körpers nach dem Ableben haben, ein Urteil, das dem verfügenden Umgang mit dem zur Leiche gewordenen Körper nicht entgegensteht. Dabei kann man höchst unterschiedliche Weltanschauungen vertreten und durchaus gegensätzliche Bekenntnisse haben, und dennoch für die Entnahme von Organen aus dem eigenen Körper sein. Wer eine Vorstellung davon hat, was unter natürlichen Bedingungen aus dem toten Körper wird und sich beerdigen lässt oder eine Feuer-, Baum-, Luft- oder Seebestattung verfügt, der kann dies weitgehend unabhängig von seinem Glauben so oder so für richtig halten. Das Selbst, die Seele (oder wie immer wir es nennen wollen) gilt spätestens mit dem Eintritt des Todes als vom Körper „abgetrennt“, und man kann alle Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, dass mit dem toten Körper in der Achtung vor der Würde des Verstorbenen umgegangen wird. Wir gehen davon aus, dass die Würde der Person, die als unverletzlich angesehen wird, auch ihrer organischen Präsenz – und mit dem Leben auch dem Körper, der das Leben ermöglicht (wenn nicht gar ausmacht) – gebührt. Auch das tangiert die Selbstbestimmung, die nicht gleichgültig gegenüber dem eigenen organischen Lebensrest sein kann.Wäre es anders, hätte es nie zu der in allen menschlichen Kulturen verbreiteten Hochachtung gegenüber den Toten kommen können. Gleichwohl ist es aus der Perspektive des sich selbstbestimmenden Menschen kein moralischer Widerspruch, wenn er verfügt, dass nach
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seinem Tod über seinen Körper zum Nutzen lebensgefährdeter anderer Personen disponiert werden kann. Da wir nichts dagegen einwenden, wenn ein Mensch (im Rahmen des moralisch und rechtlich Zulässigen) im Voraus festlegt, wie er bestattet werden möchte (es sei denn die Hinterbliebenen, der gesellschaftliche Konsens oder das Recht wären verletzt), kann es in einer Gesellschaft, die es als zulässig begreift, dass man eine derartige Verfügung trifft, nicht nur erlaubt, sondern auch als moralisch gerechtfertigt gelten, vorab über seinen toten Körper zu bestimmen.
9 Hirntod als Exempel für die gesellschaftliche Dimension der Selbstbestimmung am Lebensende Das könnte alles sein, was sich aus ethischer Perspektive über die Organentnahme aus dem abgelebten eigenen Körper sagen ließe. Das menschliche Individuum ist zwar in einer (im Vergleich mit anderen Lebewesen) einzigartigen Weise individualisiert; der Preis dieser Individualisierung aber ist eine nicht weniger einzigartige Universalisierung des menschlichen Erfahrungsraums. Allein durch das Bewusstsein, das dem Menschen sowohl die Erfahrung wie auch die Gestaltung seiner qualitativen Singularität erlaubt, ist der Mensch Teil eines begrifflich erfassten Gattungszusammenhangs, in welchem sich der Einzelne selbst lediglich als Exemplar einer umfassenden Allgemeinheit begreifen kann.¹² Es ist diese Einbettung in einen für den Menschen immer schon rational strukturierten Lebenskontext, der ihn nötigt, allgemeingültige Gründe für das anzuführen, was er als Individuum tut. Und solche Gründe lassen sich für die aus eigenem Willen verfügte Organentnahme nennen, wenn sie der Menschheit zu dienen versprechen, als deren Teil sich der einzelne Mensch notwendig versteht. So ist es dem einzelnen Menschen gar nicht möglich, den eigenen Tod unabhängig vom Leben der Menschheit zu sehen, die schon lange vor ihm die Voraussetzungen seines Daseins geschaffen hat, die ihm mit dem Aufbau der Kultur die bis in seine Sprache und die Logik seines Denkens hinein, die aktuell wirksamen Lebensmittel zur Verfügung stellt und von der er hofft, dass sie nach seinem Tod weiter existieren wird. Doch es gibt ein weiteres Problem am Lebensende, das im Akt einer selbstbestimmten Verfügung über das, was von einem Individuum im Lebenskontext als
Dazu vom Verf.: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München, .
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Letztes verbleibt. Das Problem wäre weder existent noch ethisch lösbar, wenn es nicht den angedeuteten Konnex zwischen Individualität und Universalität gäbe. Diese innere Verknüpfung macht die Rede von Lebenszusammenhang, in dem ein Individuum steht, überhaupt erst möglich: Für Transplantationen brauchbar sind Organe nur, wenn der Spender noch nicht in seiner den Körper insgesamt ausmachenden Einheit gestorben ist. Der Spender darf nicht in allen seinen Lebensvollzügen tot, sondern eben „nur“ „hirntot“ sein. Als „hirntot“ gilt ein Mensch, wenn die zentralen Steuerungsimpulse des Groß- und des Kleinhirns derart erloschen sind, so dass man mit dem baldigen Ende aller Lebensfunktionen rechnen kann¹³ – es sei denn, es werden umfassende Maßnahmen zur künstlichen Lebensverlängerung des seiner Hirnfunktionen beraubten Körpers ergriffen. Diese Maßnahmen können, sowohl nach der Ansicht von Ärzten wie auch nach dem Urteil glaubwürdiger Angehöriger, für eine begrenzte Zeit einen Zustand vegetativer Fortexistenz ermöglichen, freilich ohne dass der Betroffene wieder zu Bewusstsein kommt. Kritiker des Hirntodkriteriums verweisen darauf, dass derartige Maßnahmen den Organismus noch für einige Wochen, vielleicht sogar für Monate am Leben halten können;¹⁴ in einzelnen Fällen soll es sogar vorgekommen sein, dass einem für hirntot erklärten Patienten noch eine, wenn auch kurze, Phase bewusster Teilnahme am Leben vergönnt gewesen sein soll. Diese Einzelfälle sind umstritten, und werden von den Experten als Folge einer fehlerhaften Diagnose angesehen. Darüber maße ich mir kein Urteil an. Gleichwohl sollte jeder, der sich in freier Entscheidung als Spender für eine Transplantation am eigenen Lebensende zur Verfügung stellt, wissen, was „hirntot“ bedeutet. Die als definitive Klärung angelegte Feststellung der Päpstlichen Akademie von 2006: „brain death is not a synonym for death, does not imply death, or is not equal to death, but ‚is‘ death“¹⁵,
Dass es auch nach dem in langer kultureller Tradition anerkannten Tod, aus dem es kein Erwachen gibt, bestimmte Lebensfunktionen gibt, die noch eine Weile weitergehen (wie etwa das etwa das Wachsen von Haaren und Nägeln), wird mit Recht allgemein vernachlässigt. Dass aber einer hirntoten Schwangeren der Embryo noch eine Weile belassen bleibt, um ihn dann lebend zur Welt zu bringen, zeigt, wie viel Leben unter Umständen in einer für hirntot erklärten Person noch verbleibt. Zur Diskussion siehe: Ach, Johann S./Quante Michael (Hrsg.): Hirntod und Organverpflanzung. Ethische, medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin, Stuttgart/Bad Cannstatt, . Shewmon, D. Alan: The brain and somatic integration: Insights into the standard biological rationale for equating „brain death“ with death, in: Journal of Medicine and Philosophy /, , – . Allgemein: Hoff, Johannes/in der Schmitten, Jürgen (Hrsg): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und „Hirntod“-Kriterium, Reinbek bei Hamburg, . The Signs of Death, XXII. (Den Hinweis verdanke ich Herrn Dr. Manfred Anlauf, Bremerhaven.)
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ist eine machtvolle Dezision und keine wissenschaftliche Erklärung. So klingt es, wenn Wissenschaftler ex cathedra zu sprechen versuchen. Die Äußerung ist deshalb auch hoch umstritten. Deshalb dürfte es ratsam sein, jeden, der seine Entscheidung verbindlich macht, über die organische Eigenart des Hirntods (wie auch über die institutionelle Prozedur, die zu seiner Feststellung führt) umfassend aufzuklären.¹⁶ Jede Person muss wissen, dass bei der Organentnahme das körperliche Leben in durchaus wesentlichen Funktionen noch nicht erloschen ist: Das Herz kann weiter schlagen, die Nerven können Erregungspotenziale an das Rückenmark weiterleiten, das Impulse zurückzugeben vermag, so dass unter Umständen einige organische Funktionen (bei nachhaltiger apparativer Assistenz) gesichert werden können. Und genauso muss es sein, weil anders die – zumindest einige der zu entnehmenden Organe, wie die Leber oder die Lunge – gar nicht zu verwenden wären. Das sollte jeder wissen, der sich zur Organspende am Lebensende bereit erklärt. Jeder hat sich darüber im Klaren sein, dass er „nur“ hirntot und nicht in jeder Hinsicht tot sein darf, wenn das von ihm erbrachte humanitäre Opfer Erfolg haben können soll.
10 Fünf Empfehlungen Gesetzt, man stellt sich als Spender zur Verfügung – und ich meine, man sollte es im Interesse des Lebens anderer tun! – , muss jedem vor Augen stehen, wie sehr er sich mit diesem letzten Akt seiner Selbstbestimmung für die Verfügung durch die Transplantationsmedizin in einen Lebenszusammenhang ganz anderer Art zu stellen sucht, den es immer auch zu beachten gilt. Dazu können abschließend nur noch fünf, sich philosophisch steigernde Bemerkungen gemacht werden: Erstens gibt es offenbar genügend Mediziner, die einen noch nicht in vollem Umfang als tot anzusehenden Menschen aus einem zwingenden humanitären Grund für hirntot erklären, um ihm die noch lebenden Organe entnehmen zu können. Daraus schließe ich, dass es nicht gegen das Berufsethos der Ärzte verstößt, einen Menschen selbstbestimmt sterben zu lassen, sofern er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Das sollte jeder Arzt tun können, ohne dafür bestraft zu werden.
Das könnte auch, wie ein Teilnehmer an einer Diskussion treffend bemerkt hat, durch einen erläuternden Eintrag im Spenderausweis festgehalten sein.
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Zweitens erkennt man am Beispiel der Transplantationsmedizin, wie groß das Vertrauen sein muss, wenn man sich mit der letzten Verfügung über sich selbst als Spender in die Hände der Medizin begibt. Dieses Vertrauen ist schnell verspielt, wenn nicht in schonender, nachvollziehbarer und gerechter Weise mit dem umgegangen wird, der bereit ist, das Hirntodkriterium für sich selbst zu akzeptieren, um das Leben anderer zu retten. Drittens zeigt sich am Beispiel eines solchen Opfers – denn das ist es sowohl aus der Sicht des für hirntot Erklärten wie auch für seine Angehörigen – , dass Selbstbestimmung in einem Lebenszusammenhang erfolgt, der über das Dasein des Einzelnen weit hinausgeht. Das Individuum ist auf den äußersten Punkt seiner Existenz gebracht und versteht sich gerade darin: allgemein. Mit Blick auf die zugrundeliegende Humanität ist es nicht zu hoch gegriffen, von einem universellen Verständnis des Individuellen zu sprechen. Das kann viertens mit einer dramatischen Konsequenz für das Leben des Einzelnen verbunden sein. Und so haben wir am Beispiel der Selbstbestimmung am Lebensende die philosophisch einzigartige Chance, dass Ineinander von Metaphysik und konkreter Lebensführung anschaulich begreifen zu können: Das Individuum entscheidet bei vollem Bewusstsein über das definitiv verstandene eigene Dasein mit Gründen, in denen der universelle Anspruch seiner Menschlichkeit zum realen Beweggrund seines eigenen Lebens wird. Die Rede vom Lebenszusammenhang kommt erst damit zu seiner vollen Bedeutung: Das hier und jetzt durch die Entscheidung auf seinen äußersten Lebenspunkt konzentrierte Individuum hat sich im – von ihm begriffenen – Ganzen seines Daseins zu verstehen und ist, gerade dort, wo ihm die eigene Entscheidung von niemandem abgenommen werden kann, in den Zusammenhang der Humanität gestellt, die sich von der Verantwortung für die Welt, in der sie möglich ist, nicht ablösen kann. Das führt fünftens und letztens zu der Einsicht, dass der Mensch in seinem Leben, genau genommen: in der Selbstbestimmung seines Lebens zum Exempel seines humanen Selbstverständnisses werden kann. Er kann ein Beispiel für die Menschlichkeit geben, die jeder aus eigenem Anspruch zu leben hat und die es stets nur in der Form von Individuen geben kann. Dann wird offenkundig, was er heißt, dass die „Menschheit in der Person eines jeden Menschen“ zur Geltung kommt, ja, nur dort zur Geltung kommen kann. Nach Kant liegt darin die Bedingung dafür, dass sich der Mensch niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck begreift. So kann die Organspende selbst ein Beispiel dafür sein, wie Individualität und Universalität im menschlichen Leben in einander verschlungen sind. Und es wird offenkundig, dass darin das größte – theoretische wie praktische – Problem des menschlichen Daseins liegt: Nämlich als Einzelner im Bewusstsein eines Ganzen zu sein.
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Nur weil das so ist, kann der Mensch Vorsätze fassen,Vereinbarungen treffen, Versprechen abgeben, ein Versagen empfinden, Schuld eingestehen und Hoffnung haben. Nur im Ganzen kann er sich als exemplarisch begreifen. Das ist ein gleichermaßen der Individualität wie auch der Universalität verpflichteter Grund, sich selbst im Lebenszusammenhang ernst zu nehmen. Mindestens das sollte uns Anlass sein, gerade auch in der Transplantationsmedizin dafür zu sorgen, dass nach humanitären Grundsätzen verfahren wird.
Literaturverzeichnis Ach, Johnann S./Quante Michael (Hrsg.): Hirntod und Organverpflanzung. Ethische, medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin, Stuttgart/Bad Cannstatt, 1999. Gerhardt, Volker: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart, 1999. Gerhardt, Volker: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München, 2012. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Akademie-Ausgabe Bd. 5, Berlin/New York, 1963. Nationaler Ethikrat: Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Stellungnahme Juli 2006. Pieper, Josef: Noch wusste es niemand. Aufzeichnungen 1904 – 1945, München, 1976. Pontificia Academia Scientiarum: The Signs of Death, Scripta Varia 110, Vatican City, 2007. Shewmon, D. Alan: The brain and somatic integration: Insights into the standard biological rationale for equating „brain death“ with death, in: Journal of Medicine and Philosophy 26/5, 2001, 457 – 478. Hoff, Johannes/in der Schmitten, Jürgen (Hrsg): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und „Hirntod“-Kriterium, Reinbek bei Hamburg, 1995.
Roberto Esposito
Biologisches und politisches Leben
Abstract: Biological and political life. If we think about politics in Ancient Greece, we find a distinction between the political and the biological life: the domains of polis and oikos. Compared to the present, there is an obvious difference in the overlapping of these two once clearly separated domains. Therefore, the question has to be raised why this difference emerged and how the relation between political and biological life in modern society can be described. Seeing the relation between these life forms as a development, Hobbes is a turning point: by transferring power to a sovereign, the functions of politics change – from the distribution of power to the preservation of the citizens’ life, who henceforth are not bare resources of the state, but respectable individuals with particular interests. In addition, biology in the 18th and 19th century (e. g. Bichat) develops a new understanding of homo sapiens: the animal rationale, which was able to forge and lead institutions based upon pure reason, suddenly discovers itself as an emotional individual. In response, politics has to take the human being as a whole (his bios) into account. Darwin’s theory furthermore provoked two reactions: affirmative and negative biopolitics. As a consequence of negative biopolitics, so called „zoopolitics“ emerged, which divided mankind into a superior and an inferior group – the basis for the later „thanatopolitics“ among the national socialists in Germany. Since the Third Reich, politics has not lost its focus on the citizens’ bios – thus it is time to establish a positive biopolitics that is able to deal with the problems of our globalized world and thereby to lay the foundation for future generations.
1 Welcher Zusammenhang besteht zwischen biologischem und politischem Leben oder, schlichter gesagt, zwischen Politik und Leben? Wann treten diese erstmals miteinander in Kontakt, um sich schließlich beinahe komplett zu durchdringen, am Beginn eines Prozesses, der heute vollständig abgeschlossen scheint? Was bedeutet, in diesem Sinne genommen, die Bezeichnung ,Biopolitik‘, die heutzutage im Zentrum eines zunehmenden internationalen Interesses steht? Einen Zusammenhang zwischen Politik und biologischem Leben hat es selbstverständlich schon immer gegeben; seit jeher bildete das biologische Leben den Horizont der Politik, wie auch die Politik als Organisation der menschlichen Beziehungen für die Erhaltung und die Entwicklung des Lebens stets unerlässlich
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gewesen ist. Was für die Bestimmung des Begriffs der Biopolitik jedoch zählt, ist, dass ihre Beziehung bis zu einem bestimmten Moment, der auf den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert datiert werden kann, gewissermaßen indirekt war – und d. h. durch eine Reihe von Filtern und Membranen vermittelt, die in der Folge durchbrochen wurden, was eine sehr viel engere und verbindlichere Zusammenführung von Politik und Leben verursachte. Wie Foucault behauptet – der die erste einheitliche Abhandlung zum Thema vorgelegt hat – bildete das politische Leben über einen sehr langen Zeitraum, der die gesamte antike Geschichte und insbesondere die griechische mit abdeckt, überhaupt keinen Bestandteil der biologischen Sphäre, ebenso wie diese jenes nicht betraf. Im Gegenteil, das politische Leben – auf die Partizipation an der polis und ihre Regierung ausgerichtet – war gerade durch seine Ferne und Unabhängigkeit von den Angelegenheiten der Erhaltung und Reproduktion des biologischen Lebens charakterisiert, die der Domäne des oikos vorbehalten waren, dem Zuständigkeitsbereich des Hauses und allen mit ihm verbundenen Aktivitäten. Hannah Arendt hat stärker als andere auf dieser Verschiedenheit des Zuständigkeitsbereichs der polis und dem des oikos insistiert. Das geht so weit, dass sie in der Moderne, in der diese Zuständigkeitsbereiche sich anzunähern beginnen, auch den Beginn eines Entpolitisierungsprozesses ausmacht, dessen Resultat die Substitution – oder die Überlagerung – des Politischen durch das Soziale ist. Für Arendt muss die Politik – die Partizipation an der Regierung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten durch Handlung und Diskurs – nicht nur von den das biologische Leben betreffenden Obliegenheiten freibleiben, sondern erreicht den eigenen Kulminationspunkt, als ein Teil der Bevölkerung, der sich aus Sklaven sowie all denjenigen zusammensetzt, die einen allzu bescheidenen Beruf ausüben, um sich der Politik widmen zu können, für den materialen Bedarf der Bürger aufkommen. Ungeachtet der romantischen Akzente dieser Rekonstruktion bildet sie tatsächlich eine gewisse Organisation der sozialen Beziehungen ab, die dazu bestimmt gewesen ist, für mehrere Jahrhunderte zu überdauern. Erst am Anfang desjenigen Prozesses, den man ,Moderne‘ zu nennen pflegt, fangen die Dinge an, sich zunehmend spürbar zu verändern. Die zunächst getrennten Sphären von Politik und Leben nähern sich einander immer stärker an. Hobbes ist derjenige Autor, der höchstwahrscheinlich den Wendepunkt bezeichnet, wenn er gegen Ende der Religionskriege behauptet, dass das grundsätzliche Problem der Politik nicht dasjenige der Lenkung der gemeinsamen Angelegenheiten oder der Verteilung der Macht sei – wie es eben in der antiken Stadt der Fall gewesen ist –, sondern das primäre und vorgängige der Erhaltung des Lebens, das durch potentiell zerstörerische Konflikte gefährdet wird. Die Einsetzung des Leviathanischen Staates, dem alle Bürger ihre ureigenen Rechte übertragen, hat gerade zum vorherrschenden Ziel, das Leben der Untertanen vor
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der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Tod zu schützen, die durch die wechselseitige Aggressivität von miteinander um knappe Ressourcen konkurrierenden Menschen hervorgerufen wird. Ein weiteres Ziel ist es aber auch, allen und jedem ein akzeptables Leben hinsichtlich seiner Notwendigkeiten und Primärbedürfnisse zu sichern. Diesem übergeordneten Zweck – dem der Sicherheit – opfern die Menschen das auf, was sie an Wertvollstem besitzen, nämlich die eigenen Rechte und Machtbefugnisse zugunsten eines Dritten, des Staates, der dazu imstande ist, sie zu verteidigen und mithilfe seiner Gesetze denjenigen Angst einzujagen, die gewillt sein sollten, diese zu brechen. Das bezeichnet, wie man inzwischen zu sagen gewohnt ist, einen Paradigmenwechsel, der einer über zwei Jahrtausende überdauernden Politikkonzeption ein Ende setzt. Während die Menschen bis zu einem gewissen Punkt – wie sich Foucault ausdrückt – lebten und außerdem auch noch eine politische Tätigkeit ausübten, machen sie ab einem bestimmten Augenblick das Leben zum Spieleinsatz einer solchen Tätigkeit. Zum ersten Mal überhaupt breitet sich die Frage der Erhaltung des Lebens im Zentrum der politischen Theorie und Praxis in einer Art und Weise aus, die dazu bestimmt ist, das gesamte folgende politische Denken zu prägen.Von diesem Augenblick an beginnt das Vokabular des biologischen Lebens sich immer entschiedener mit dem des politischen Lebens zu vermischen und es dabei in seinem Innersten zu beeinflussen. Es ist zweifellos richtig, dass die Metapher des ,politischen Körpers‘ eine äußerst weit zurückreichende Tradition besitzt, die sogar bis zu Platon zurückverfolgt werden kann. Doch mit Hobbes nimmt sie – verbunden mit der Metapher der Maschine – einen klar immunitären Charakter an – der politische Körper muss sich vor den in der communitas enthaltenen Risiken immunisieren, d. h. schützen.
2 Damit sich dieser Prozess in seiner ganzen Bedeutung zeigen kann, müssen jedoch noch zwei Ereignisse abgewartet werden. Zuallererst die stufenweise Umwandlung des Paradigmas der Souveränität in dasjenige der Regierung – nämlich dann, wenn die Lebensbedingungen der Bevölkerung, ihre Erhaltung sowie ihre Vitalbedürfnisse in die politischen Zielsetzungen der Macht Einzug zu erhalten beginnen. Es geschieht zu dieser Zeit, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, dass jene urbanen, demographischen und gesundheitsbezogenen Politikfelder entstehen und sich entwickeln, die bereits in einem Horizont auftreten, den man als biopolitisch bezeichnen kann. Die Bevölkerung hört auf, vom Souverän als etwas betrachtet zu werden, was man ausbeuten kann – als eine konsumierbare Ressource – und wird zu einem wertvollen und schützenswerten Gut, zu einem
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Reichtum, der immer wirkungsvoller bewahrt und entwickelt werden will. All dies steht in einer engen Beziehung zu dem, was Foucault als ,Gouvernementalisierung des Lebens‘ umschreibt – von der mit der katholischen Praxis der Beichte verbundenen pastoralen Macht bis hin zur Staatsräson, zur materialen Organisation des städtischen Lebens, zur öffentlichen Hygiene und zum Wissen der ,Polizei‘, ein Terminus, der damals einen sehr viel größeren Bedeutungsumfang besaß als denjenigen, den er heute angenommen hat, und der eben den Unterhalt des kollektiven bios betraf. Zu jener Zeit entsteht und verbreitet sich das, was wir heute ,öffentlichen Dienst‘ nennen – die Gesundheits- und Krankenhauseinrichtungen sowie auch die Gefängnisse, die sicherlich zum Ziel hatten, zu bestrafen, aber auch, die Bevölkerung vor den Bedrohungen oder auch den möglichen Ansteckungen in Bezug auf epidemische Krankheiten zu verteidigen. Ein ebenso sehr entscheidendes Ereignis innerhalb dieser paradigmatischen Transformation der voraufgehenden begrifflichen Ordnungen stellt zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Entstehung derjenigen Disziplin dar, die sodann den Namen Biologie annehmen wird. Seinerzeit beginnt das biologische Leben in das Blickfeld eines fachmännischen Wissens einzutreten, das von den Namen Bichat, Couvier, Lamarck und Darwin als seinen bekanntesten Vertretern bezeichnet wird. Was geschieht in diesem Augenblick? Wie greift die Biologie in die Organisation des modernen Wissens ein und welche Konsequenzen zeitigt sie innerhalb dessen? Man könnte darauf antworten, dass der Horizont der Geschichte in ein immer engeres und problematischeres Verhältnis zu dem der Natur tritt. Der Mensch beginnt, als Glied einer Spezies betrachtet zu werden und ebenso tritt die menschliche Spezies in Kontakt zu den anderen lebendigen Arten. Das setzt einen Prozess in Gang, den man als eine Desubjektivierung bezeichnen könnte, d. h. als eine Modifikation und Krise der politischen Subjektivität. Jenes Individuum, das von der modernen politischen Philosophie stets als ein vernunft- und willensbegabtes Subjekt betrachtet worden ist, beginnt nun, als ein lebendiges Wesen wahrgenommen zu werden, das von irrationalen, leidenschaftlichen und instinktiven Kräften durchdrungen und zuzeiten bestimmt wird, die sich der rationalen Selbstkontrolle entziehen, insofern sie in einer Schicht des biologischen Lebens wurzeln, die unterhalb des Beziehungslebens liegt und auf subtile Weise mit ihm kollidiert. Im Besonderen vertritt der große französische Physiologe Xavier Bichat die Ansicht, dass jedes Leben aus zwei vitalen Schichten aufgebaut ist, die er als ,organisches Leben‘ und als ,animalisches Leben‘ bezeichnet – deren erste ist für die vegetativen Funktionen (Atmung, Verdauung, Blutkreislauf), deren zweite für die motorisch-sensorischen und intellektiven Aktivitäten bestimmt. Das diese Theorie charakterisierende Element – das nicht nur auf das biologische Wissen einen starken Einfluss ausübt, sondern ebenso auf die nachfolgende Philosophie
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– ist der Vorrang des organischen oder vegetativen Lebens vor dem animalischen und dem Beziehungsleben. Bichat beobachtet zum Beispiel, dass auch nach dem Tode, wenn das Beziehungsleben entschwindet und d. h. die Hirnfunktionen zum erliegen kommen, das organische und pflanzliche Leben für einige Stunden oder Tage zu funktionieren fortfährt, so dass das Nachwachsen der Nägel und Haare nicht aufhört. Das führt für das Verhältnis zwischen biologischem Leben und politischem Handeln zu einer präzisen Konsequenz in einer Art und Weise, dass sich das moderne Paradigma der Politik immer tiefgreifender zu verändern beginnt: Die Theorie Bichats vom quantitativen und extensiven Vorrang des vegetativen und automatischen Lebens über das Beziehungsleben schwächt die hobbessche Idee des Gegensatzes zwischen politischem Zustand und Naturzustand. Gemäß der neuen biologischen Konzeption besitzt der zivile Staat eine unausrottbare Wurzel im Naturzustand. Man kann sich nicht von sich selbst abtrennen, vom eigenen Leib und den Tiefenmechanismen, die ihn steuern.Von dem Moment an, in dem der Wille zu einem überwiegenden Teil im vegetativen Leben verwurzelt ist und von ihm regiert wird, schwindet die basale Voraussetzung der modernen politischen Theorie oder wird zumindest stark beschädigt – nämlich die von mit einem rationalen Willen begabten Subjekten, die sich aus freien Stücken in einem die zivile Ordnung fundierenden Vertrag zusammenschließen. Wenn die Leidenschaften ausschließlich von instinktiven und unbewussten, im organischen Leben eingelassenen Triebkräften bestimmt werden, so ist es unmöglich, diese gemäß einem rational gewonnenen Entschluss auszurichten. Die Idee eines Gesellschaftsvertrages – von dem, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Hobbes und Rousseau sprachen – entfällt. Die Menschen werden überhaupt nicht mehr, oder allenfalls nur noch teilweise, als Urheber der sie umgebenden Institutionen betrachtet. Sie sind nicht mehr Herren ihres Schicksals, das nun einzig und allein von den erblichen Charakteren bestimmt wird, nach denen ein jeder von dem abstammt, der ihn hervorgebracht hat.
3 Wie vom Vitalismus Bichats beeinflusste Autoren, unter denen sich auch Schopenhauer befindet, behaupten werden, besitzt der Tiefencharakter eines Individuums, aber auch der kollektiver Subjekte, einen natürlichen Grund, der weder durch Erziehung noch durch die äußere Umgebung modifizierbar ist. Die Einheit des Lebens artikuliert sich nun nicht mehr im Dualismus von Leib und Seele – auf den der christliche ,Person‘-Begriff zurückverweist und in anderer Hinsicht auch das cartesianische Subjekt –, sondern im biologischen Höhenunterschied zwischen organischem und animalischem Leben.Was auf diese Weise in Frage gestellt
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und untergraben wird, ist jener unspaltbare Kern aus Willen und Vernunft, der bis dahin das Wesen des politischen Subjekts ausmachte. Es kommt die Idee abhanden, dass der rationale oder geistige Teil – über lange Zeit hinweg ,Seele‘ genannt – den körperlichen Teil, in den er eingelassen ist, beherrschen könne und dass es einen intellektuellen Steuerungspunkt geben könne, von dem aus der Leib und seine Primärinstinkte zu regieren seien. Auch hinsichtlich der Idee von ,Demokratie‘ ist es, als ob die Macht, der kratos, nun nicht mehr den demos zum Bezugspunkt hätte, das Volk oder die Gesamtheit der Individuen, sondern den bios, d. h. das Leben eines Organismus, der jeder juridisch-politischen Konnotation äußerlich bleibt, insofern er von unkontrollierbaren Naturkräften bewegt wird. Es handelt sich um einen Prozess der Desubjektivierung und Entpersonalisierung, der Mitte des 19. Jahrhunderts noch andere und nicht notwendig regressive Resultate hätte zeitigen können. Insbesondere bei Darwin bleibt dieser Biologisierungsprozess im Ausgang noch potentiell offen. Auch er beteiligt sich an der Dekonstruktion des humanistischen Vokabulars, jedoch ohne daraus direkte politische Konsequenzen abzuleiten. Gewiss, das was die klassische Theorie noch als das ,menschliche Wesen‘ bestimmte, wird bei ihm durch eine Reihe von Invarianten biologischen Typs ersetzt, die allesamt, wenn auch mit jeweils eigenen Charaktereigenschaften, im Inneren der großen Kette der Lebewesen eingegliedert sind. Das bedeutet nicht, dass Darwin das menschliche Verhalten auf einfache Reflexe seiner organischen Komponenten reduzieren oder etwa die Natur der Geschichte entgegensetzen würde. Im Gegenteil vereinigt er diese gemäß einer Idee von Naturgeschichte, welche die menschliche Natur sich auf rein zufällige Art und Weise verändern sieht, und zwar auf der Grundlage von normativen Abweichungen, die nicht vorherzubestimmen sind, sondern sich auf unberechenbare Weise einstellen. Auf der Basis ebendieser funktioniert der Mechanismus der natürlichen Selektion – nämlich nicht als Ergebnis eines vorherbestimmten teleologischen Schicksals, sondern als Resultat der Konfrontation und der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen biologischen Typen, die sich reziprok zu affirmieren suchen. An diesem Punkt sehen sich sowohl die klassische als auch die moderne philosophisch-politische Tradition radikal in Frage gestellt. Jenes biologische Leben, das nicht mehr als den Hintergrund für eine politische Handlung dargestellt hatte, die frei dazu war, die von einem Herr über sich selbst seienden Subjekt gewollte Richtung einzunehmen, dringt immer tiefer ins Zentrum der politischen Szenerie vor und bestimmt sie zunehmend. Wir haben gesehen, wie die Theorie Darwins, bei dem man diesen Prozess für gewöhnlich beginnen lässt, erst am Ende einer Wegstrecke zu situieren ist, die einige Jahrzehnte zuvor beginnt und mit der Geschichte der Biologie zusammenfällt. Nach Darwin spreizt sich die Biologisierung der Politik oder die Politisierung des biologischen Lebens in zwei unter-
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schiedliche Richtungen auf, wovon eine mit beunruhigenden Elementen deterministischen Typs aufgeladen ist. Man kann sie ,negative Biopolitik‘ nennen und ihr eine ,affirmative Biopolitik‘ gegenüberstellen. Was soll unter ,negativer Biopolitik‘ verstanden werden? An ihrem Ursprung liegen eine begriffliche Verschiebung und ein instrumenteller Gebrauch des Darwinismus, die in eine Richtung gehen, die von der von Darwin eingeschlagenen abweicht. Bereits Spencer bezeichnet einen ersten Übergang, insofern er ein klar hierarchisches und ausschließendes Element in das einführt, was Darwin noch als einen offenen Prozess betrachtet hatte. Bei ihm wird aus der natürlichen Selektion ein Existenzkampf, in dem es nur den stärksten oder, wie er sich ausdrückt, den am stärksten angepassten Arten gegeben ist, zu überleben. Es wird nur wenig mehr nötig sein, damit eine solche theoretisch postulierte Überlegenheit einiger Arten über andere – in das Innere der menschlichen Gattung verlegt – einen rassischen Charakter annehmen kann. Für Gobineau z. B., den Autor eines berühmten Buches über die Ungleichheit der Menschenrassen, wird die verschiedene Kraft der unterschiedlichen Völker weder von ihrer politischen Organisation noch von den umweltlichen oder klimatischen Umständen bestimmt (wie Montesquieu noch glaubte), sondern von ihrer inneren biologischen Konstitution. Für ihn zählte die Geschichte um einiges weniger als die Natur und wurde von ihm sogar selbst naturalisiert. Aus einem solchen Blickwinkel heraus ist die Politik nun nicht mehr – wie es über mindestens zwei Jahrhunderte der Fall gewesen ist – Ausdruck des freien Willens von mit subjektiven Rechten begabten Personen, die als solche Herr über ihr Schicksal sind, sondern schlicht und einfach das Resultat der erblichen Weitergabe natürlicher Merkmale, die in den verschiedenen Typologien von Menschen unterschiedlich verteilt sind.Von diesem Augenblick an öffnet sich die Möglichkeit und sogar die logische Notwendigkeit, dass die Identität des politischen Subjekts immer stärker auf das nackte biologisch-rassische Datum reduziert wird. Schon hier beginnt das, was wir Biopolitik genannt haben, in eine Art von Zoopolitik umzukippen – die sich bereits in einem Gegensatz nicht nur zur Konzeption der neuzeitlichen Philosophie, sondern auch zum darwinschen Paradigma befindet. Die kontinuierliche Kette der menschlichen Rassen – von den stärksten bis zu den schwächsten – wird vom Eindringen des tierischen Bezugspunkts unterbrochen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden – und das nicht nur in Deutschland – zumindest entlang gewisser Denklinien die sogenannten ,Untermenschen‘ eher in die Nähe zu Tieren gerückt als in die der ,Übermenschen‘. Anstatt eine homogene Einheit zu bilden, erscheint die Kategorie der Menschheit nunmehr in zwei verschiedene Bereiche zerteilt, die von dem durch das Animalische herbeigeführten Bruch voneinander getrennt sind.
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Das hierarchisierende und ausschließende Resultat einer solchen Biologisierung ist evident. Einige Völker reinen Blutes sind dazu ausersehen, diejenigen unreinen Blutes zu beherrschen, die wiederum nicht gegen eine in ihr biologisches Substrat eingeschriebene Subalternität aufzubegehren haben. Und nicht nur das, die überlegenen Rassen – wie es bald im Rahmen der Theoretisierungen der nazistischen Ideologen propagiert wird – sind sehr wohl dazu befugt, ihre vom Kontakt mit den unterlegenen Rassen herstammende degenerative Kontamination aufzuhalten, indem sie diese deportieren oder gleich ganz eliminieren. Was bei Darwin noch natürliche Selektion war, wird nun zu einer künstlichen Selektion, die darauf angelegt ist, jegliche Blutsdurchmischung zu unterbinden und die ursprüngliche Rassentypologie wiederherzustellen. Was die regimetreuen Anthropologen dabei im Sinn führen, ist die irrsinnige Absicht, mit künstlichen Verfahren die Natur wiederzubeleben – künstlich die Natur zu renaturalisieren, indem sie die vermeintlich entarteten oder zur Degeneration bestimmten Organismen ausmerzen. Auf diese Weise schlägt die Biopolitik in eine Art von manifester Thanatopolitik um. Die Menschheit wird zum operativen Territorium einer gewaltsamen Trennung zweier radikal gegensätzlicher Lebensformen, deren eine zur Verbesserung der anderen durch Versklavung oder Tod bestimmt ist. Das Leben selbst wird in ein höheres, tendenziell unsterbliches und ein niederes Leben unterteilt, das nicht mehr lebens- und achtenswert ist: Die Autoren (Binding und Hoche) eines berüchtigten, unmittelbar in den Jahren vor der Machtergreifung Hitlers verfassten Werkes über ,lebensunwertes‘ Leben gelangen zur Argumentation, dass es unmenschlich sei, wesentlich – weil biologisch – verschiedenartigen Menschentypen dieselbe Behandlung widerfahren zu lassen. An diesem Punkt angelangt wird aus jenem Lebenswissen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden und in den folgenden Jahrzehnten mit dem politischen Wissen in einen engen Kontakt getreten ist, eine mörderische Todesmaschine. Der Tod richtet sich im Zentrum des politischen Lebens ein und bestimmt es. Am Ursprung einer solchen katastrophischen Verschiebung liegt die Ersetzung des lebendigen Körpers durch die Rasse sowie desjenigen, was über lange Zeit hinweg ,Seele‘ genannt wurde, durch das Blut. Der Körper wird zugleich zum alleinigen Subjekt wie Objekt einer Politik, die sich nunmehr mit der Medizin und mehr noch einer Rassenchirurgie identifiziert, die eingesetzt wird, um aus dem großen deutschen Volkskörper den infizierten Teil herauszuschneiden. Nicht zufällig wird Hitler in einigen Handbüchern der Dreißiger Jahre als der ,große Arzt‘ bezeichnet. Der radikale Bruch dieser Konzeption mit dem modernen politischen Wortschatz ist nicht zu übersehen. Wir wissen, welch große Rolle er in der Maschinerie des Genozids gespielt hat. Ärzte führten die Selektion der Häftlinge durch, schickten den Großteil von ihnen in den Tod, setzten direkt die Mordapparaturen in Gang und sezierten die Leichen der Opfer. Die Politik in medizinische
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Begriffe zu übersetzen oder der Medizin eine politische, besser noch thanatopolitische Zielsetzung zuzuschreiben, hieß, alle rückwärtigen Brücken zur abendländischen politischen Tradition abzuschneiden und einen ,point of no return‘ zu erreichen. Am Ende dieses Weges liegt der Genozid. In ihm berühren die Verteidigung des Lebens eines einzigen, als höherstehend imaginierten Volkes und die auf die anderen bezogene Todesproduktion die Ebene der vollständigen Identifikation. Der autoimmunitäre Charakter – im Sinne eines Immunsystems, das sich gegen sich selbst kehrt – dieses Massenvernichtungsprozesses ist frappierend.Wir haben gesehen, wie die moderne Politik am Ursprung der hobbesschen biopolitischen Wende einen stark immunitären Antrieb besitzt – eine selbstverteidigende und –schützende Tendenz gegenüber äußeren Bedrohungen. Nun wird dieses immunitäre Element im Laufe der Zeit immer einflussreicher, bis es eben einen autoimmunitären Charakter annimmt. Es dürfte bekannt sein, dass Autoimmunkrankheiten solche sind, bei denen das Immunsystem unseres Körpers so stark wird, dass es gegen sich selbst anschlägt, bis es denselben Körper, den es doch eigentlich schützen sollte, vernichtet. Die Krankheit, welche die Nazis ausmerzen wollten, war der potentielle Tod der eigenen Rasse. Es war diese Möglichkeit, die sie im Körper einer zur minderwertig erklärten Rasse töten wollten, ja sogar einer Nicht-Rasse, wie sie sagten. Sie nahmen ihre Handlungen nicht als Tötung wahr, weil sie diese Rasse schon als tot betrachteten. Indem sie einem entarteten und also dem Tod versprochenen Leben den Tod gaben, glaubten sie, die Rechte des Lebens wieder einzusetzen. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges war das Resultat dieses mörderischen Irrsinns.
4 Das Ende des Nazismus bedeutet nicht das Ende der Biopolitik, das noch immer vor uns liegt. Alle – oder beinahe alle – Fragen, deren wir uns gegenüber sehen, wie die von Gesundheit, Umwelt, Immigration haben mit ihr zu tun. Und das bis zu einem Grad, dass der Bezug auf das biologische Leben zum vorherrschenden Legitimationselement eines jeden Typs von Politik geworden ist. Heutzutage schiene uns eine Politik, die sich nicht auf das Leben bezöge, abstrakt und weit von uns entfernt, sie verlöre endgültig jedes Interesse. In dem Buch, das ich der Biopolitik gewidmet habe – Bios (Turin, 2004) – sowie auch in anderen Diskussionsbeiträgen habe ich versucht, so etwas wie eine ,affirmative Biopolitik‘ zu denken – wobei ich unter diesem Ausdruck nicht etwa eine Art von Macht über das Leben, sondern von Macht des Lebens verstehe – und zwar ausgehend von der Kehrseite der thanatopolitischen Praktiken. Das jedoch – eine Methode der De-
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finition durch Gegensatz – kann nicht genügen. Insofern es schwierig ist, dasjenige zu beschreiben, was man noch nicht am Horizont sieht, muss es darum gehen, politische Praktiken zu imaginieren, die sowohl dem modernen, sich auf die Kategorien von Souveränität und Individuum stützenden Paradigma als auch seiner thanatopolitischen Abdrift äußerlich sind, an die wir soeben erinnert haben. Das alles aber innerhalb globaler Dynamiken, die das Schicksal des Planeten in einem einzigen lebenden Körper vereint zu haben scheinen, von dem es nicht möglich ist, einen Teil auf Kosten des anderen zu retten, wie es über lange Zeit hindurch versucht wurde. Die aktuelle Wirtschaftskrise ist die Gegenprobe selbst darauf, wie heutzutage die Sprachgebräuche der Politik, des Rechts und der Technik eine einzige Gemengelage bilden, die durch künstliche Abschottungen nicht mehr untersucht werden kann. Nichts mehr als sie, als eine Krise gigantischen Ausmaßes, die das Leben Hunderter Millionen Menschen betrifft, hat ihren Ursprung in den politischen Entscheidungen, die in den letzten dreißig Jahren von den westlichen Führungseliten getroffen worden sind. Sich einzubilden, dass es für sie eine rein technische oder finanzielle Lösung gäbe, ist nichts mehr als ein frommer Wunsch. Was allerdings feststeht, ist, dass augenscheinlich voneinander getrennte Probleme wie die des Lebens und der Arbeit, der Gesundheit und der Umwelt in ihrer Komplexität und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit angegangen werden müssen. Das, was im amazonischen Regenwald geschieht, beeinflusst das Leben der asiatischen und der europäischen Völker im selben Maße, in dem die Krise des Dollars unmittelbare Konsequenzen für die europäischen Börsen zeitigt. Der Abbau des Sozialstaats – d. h. der letzten in Europa hervorgebrachten affirmativen Biopolitik, die auf die Unterstützung und Erweiterung des schwächeren Lebens ausgerichtet war – stellt eine Demarkationslinie dar, mit der sich zu messen die gegenwärtigen Politikansätze allesamt gezwungen sind. Wie auch die Arbeitslosigkeit und die Rezession unmittelbare Auswirkungen auf die Qualität, aber auch die Quantität des Lebens in immer ausgedehnteren Schichten der Weltbevölkerung besitzen. Einem solch weitreichenden Ereignis gegenüber besteht die Alternative zwischen denjenigen, die glauben, dass die Krise innerhalb desselben Entwicklungsmodell aufgelöst werden kann und denjenigen, die hingegen an ein unterschiedliches Modell denken, das in seinen Umrissen noch wenig klar erscheint, aber dazu geeignet ist, den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen neue Perspektiven zu eröffnen, ohne die Schiffbrüchigen des Wachstums – die Verdammten der Erde und des Meeres – ihrem Schicksal zu überlassen. Heutzutage rettet sich die Welt im Ganzen oder wird im Ganzen untergehen. In diesem Fall ist die Biopolitik – der Knoten, der zu Beginn der modernen Zeit zwischen biologischem und politischem Leben geschürzt wurde – nicht nur eine Möglichkeit unter
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anderen, sondern zugleich Schicksal und Ressource der zukünftigen Menschheit. Mit Sicherheit können wir nicht vor ihr zurückweichen. Die Biopolitik ist der Horizont unserer Zeit. Es geht darum, ihr Inhalte zu geben, die gegenüber den über zwei Jahrhunderte ihr zugeschriebenen neu erscheinen. Sind wir dazu fähig? Davon wird das Schicksal der neuen Generationen abhängen. [Aus dem Italienischen übersetzt von Daniel Creutz]
Petra Gehring
Leben und Gehirn Der Fall Neurokriminologie Abstract: Life and brain – The case of neurocriminology. This chapter explores the general epistemic profile of neuro-research: Is „neuroscience“ a bioscience or life science? Does it, in other words, belong to the circle of disciplins that treat „life“ in a biological sense as their main issue – and if so: in what way? To answer these questions, the case example of German „Neurokriminologie“ (neurocriminology) is investigated: discussions about perpetrator’s brains, i. e. neuroscientific research on correlations between criminal acts and possible „causes“ to be found by means of neuro-imaging and corresponding test-methods. What is pointed out is that the paradigmatic issue of neuro-research, although being a branch of biology, is not biological life, but at best a social life – in a human scientific (i. e. Foucauldian) sense of the term. This leads the author to her thesis, which states an alternative: Either neurocriminology (and neuroscience as a whole?) will become another variation of socialization-orientated sociology (keyword: „plasticity“ of the brain), or it will seek a direct, causal, conditioning access to human behavior. The autor’s message is that both possible future pathways should be viewed critically.
Ist die Neurowissenschaft eine Lebenswissenschaft? Dass die Neuroforschung selbst auf Distinktionsgewinne setzt, also gegenüber anderen epistemischen Feldern vor allem ihre Andersheit und Neuheit herauskehrt, überrascht nicht. Aber auch diejenigen, die um eine breitere wissenschaftliche Einbettung der seit den 1990er Jahren publizistisch und forschungspolitisch vorpreschenden Neuroforschung bemüht sind, befassen sich vor allem mit dem Konstrukt „Gehirn“. So ist vorerst auf interessante Weise unklar, wie „Leben“ und „Gehirn“, als epistemische sujets betrachtet, zueinander stehen – und auch wie neurowissenschaftlicher und biowissenschaftlicher oder analog: neuroethischer und bioethischer Diskurs ins Verhältnis zueinander zu setzen wären. Mein Beitrag unternimmt hier einen Sondierungsversuch. Dabei steuere ich ein Fallbeispiel an, nämlich populäre neurowissenschaftliche Thesen zum kriminellen Verhalten. Hier hängen die Konzepte „Leben“ und „Gehirn“ womöglich sehr eng zusammen: an Punkten eines produktiven Zugriffszusammenhangs, den man in mehr oder weniger großer Nähe zur Biopolitik (biopolitique im von Foucault anderen geprägten, historisch-
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kritischen Wortsinn¹) vielleicht „Neuropolitik“ nennen würde.² Wenn man nicht, was die Alternative wäre, die Neuroforschung als Form von Biopolitik interpretieren will.
1 Im Gefolge neuer Visualisierungstechniken ist seit den 1990er Jahren ein Aufbruch der Hirnforschung zu beobachten. Neben die großen biomedizinischen und biotechnischen Themen des 20. Jahrhunderts – Organtransfer, Gendiagnostik, Reproduktionstechnologien, Synthetische Gewebe, Anti-Aging Medizin – trat damit ein neuer Forschungsgegenstand von konkurrierender Strahlkraft. Allerdings springen Ähnlichkeiten der Zukunftsvisionen ins Auge. Neben der Therapie von Krankheiten werden in den forschungslegitimierenden Diskursen der Biowissenschaften die Produktion besserer Lebensmittel, Techniken der Leistungssteigerung, der positiven Selektion durch Diagnostik von Erbrisiken und körperlichen Abweichungen sowie Optionen der Lebensverlängerung und der ‚aufgeklärten‘ Verhaltensänderung (zugunsten z. B. eines bestimmten Sexualverhaltens) in Aussicht gestellt. Im Falle des Gehirns soll es neben therapeutischen Szenarien nicht nur phantastische informationstechnologische Optionen geben, die dem Alterstod seinen Stachel nehmen (etwa das Herunterladen von Hirninhalten auf eine Festplatte), sondern es steht die Förderung von Intelligenz und mentaler Leistung auf der Agenda, etwa durch neuropädagogische Maßnahmen oder aber als brain enhancement, das man gleichsam werkzeugartig beruflich oder privat werde einsetzen können.³ Vor allem aber fasziniert die Forschung als solche. Wie das biomedizinisch und biotechnisch erschlossene „Leben“ steht das Forschungsthema „Hirn“ unter dem Vorzeichen des nie dagewesenen Einblicks, einer Revolution des Wissens über den Menschen, im Fokus öffentlicher Debatten. Gesten der Enthüllung – neben der „Entschlüsselung“ des Humangenoms nun die „Sichtbarmachung“ des Hirninneren – orchestrieren das Voranschreiten der Laborforschung als wissen-
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main, , . Zur Mehrdeutigkeit des Terminus Biopolitik s. Lemke, Thomas: Biopolitik. Zur Einführung, Hamburg, . Der Ausdruck Neuropolitics existiert in der englischsprachigen Debatte bereits, bezeichnet dort aber einen u. a. durch Studien zum Wahlverhalten bekannt gewordenen, auf empirische Daten der Neuroforschung aufsetzenden Forschungszweig der Politikwissenschaft. Solche Projektionen auf das Gehirn sind Wiederaufnahmen eines alten, wiederholt erfolglosen Themas, für diese Einsicht stehen die Arbeiten von Michael Hagner,vgl. Hagner, Michael: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung, Göttingen, .
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schaftspublizistische Sensation. Man werde auch die Prozesse im Gehirn bald verstehen und „entschlüsseln“ können, lautet in deutlicher Analogie zum genetischen Vokabular, das seinerzeit die Doppelhelix feierte, die Prognose eines deutschsprachigen Hirnforschers unserer Tage.⁴ Und auch die US-amerikanische Programmatik der Converging Technologies, derzufolge die Forschungsbereiche Nano, Bio, Info und Cogno, kurz NBIC, „konvergieren“ sollen⁵, kommt dem transdisziplinär ausgreifenden Forschungsstil der Lebens- wie der Neurowissenschaften gleichermaßen entgegen. In der Tat waren nicht nur die Erfolge der Genetik und Genomik, sondern auch einige ihrer Grundgedanken, etwa die biologische Selbstorganisationstheorie oder auch das entwicklungspsychologische Paradigma eines ontogenetischen Zusammenwirkens von Erbanlage und „Prägung“ in den 1990er Jahren wichtig für die Modellierung des Gehirns.⁶ Gleichwohl macht die Vorsilbe Neuro auch eine gewisse Konkurrenz zwischen Neuroforschung und Bioforschung deutlich. Neben dem Wettstreit um Finanzierung von Grundlagenforschung scheint auch einer um Menschen- und Weltbilder und womöglich auch einer um den Diskurs über Verhaltenssteuerung im Gang. Dabei wirken bezüglich des Humangenoms wie bezüglich des Hirns verallgemeinernde Vorstellungen einer „Determinierung“ mit. Spektakulär erfolgreich haben Neuroforscher, wiewohl deren Gegenstand sich in erster Linie durch hohen Individualisierungsgrad und permanente Veränderlichkeit auszeichnet, in den 2000er Jahren das Fehlen des „freien Willens“ zum Thema gemacht.⁷ Der freie Wille sei eine persönliche Illusion, in Wahrheit gebe es ihn nicht. Wir werden durch unser Hirn gedacht. So wird die deterministische Vorstellung, „die Gene“ Vgl. Singer,Wolf: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt am Main, , ff. Vgl. Bainbridge, William S./Roco, Mihail C. (Hrsg.): Converging Technologies for Improving Human Performance: Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology, and Cognitive Science, Dordrecht, ; dies. (Hrsg.): Managing Nano-Bio-Info-Cogno Innovations: Converging Technologies in Society, Dordrecht, . Auch die Protagonisten der deutschsprachigen Neuroforschung – für diese Hinweise danke ich Kristian Köchy – greifen die biologische Selbstorganisationstheorie von Humberto Maturana und Francisco Varela auf und beerben so ein Denken des Lebens, vgl. Roth, Gerhard: Selbstorganisation – Selbsterhaltung – Selbstreferentialität: Prinzipien der Organisation der Lebewesen und ihre Folgen für die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt, in: Dress, Andreas u. a. (Hrsg.): Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, München/Zürich, , – ; Singer, Wolf: Entwicklung kognitiver Strukturen – ein selbstreferentieller Lernprozeß, in: Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt am Main, , – . Vgl. zur Dokumentation der ersten deutschsprachigen Welle der Debatte Geyer, Christian: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main, .
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(also das Erbgut) legten unsere Eigenschaften fest, durch einen zweiten Determinismus überlagert.⁸ Zwar sind die empirischen Befunde dürftig, die gemessenen Parameter unterbestimmt und Theorien in ihren Allaussagen zirkulär.⁹ Gleichwohl sorgte die Suggestion für eine enorme massenmediale Resonanz, jenseits der Erbanlagen bestimme „uns“ womöglich hinter allem, was wir empfinden und denken, auch „das Hirn“ als heimlicher Kapitän im Kopf.
2 Nimmt man den teils reißerischen Diskurs rund um Neuro sowie – im NBIC-Zusammenhang: Cogno ¹⁰ – begrifflich ernst, so verblassen freilich die Ähnlichkeiten. Statt dessen ist, abseits der im engeren Sinne physiologischen Forschungsliteratur, eine Fehlanzeige zu vermelden: Das Neuro-Sprachspiel kommt fast ganz ohne terminologische Bezüge auf „Leben“ aus. Dies gilt auf der Ebene der Überschriften, auf der Ebene der relevanzgenerierenden Rahmenprosa wie auf der Gegenstandsebene im engeren Sinne gleichermaßen. Neuro ist nicht Bio. Und Bio scheint auch kein Oberbegriff für Neuro zu sein. So werden auch die Probleme angewandter Ethik rund um das Hirn nicht als bioethische, sondern als „neuroethische“ Fragen verhandelt.¹¹ Im Gefolge der Willensfreiheitsthematik und von Theorieproblemen wie „personale Identität“ formiert sich zudem eine „Neurophilosophie“¹², die sich im Ausgang von der Leitdifferenz Leib/Seele dezidiert nicht dem Leib und seiner ‚Biologie‘, sondern der Seele, dem Geist und dem
Als eine Art sozial- und kulturwissenschaftliche Begleitforschung fordern hier Vertreter einer sogenannten „Critical Neuroscience“ Relativierungen ein, vgl. Chourdy, Suparna/Slaby, Jan (Hrsg.): Critical Neuroscience: A Handbook of the Social and Cultural Contexts of Neuroscience, Chicester, . Vgl. als kritische Zwischenbilanzen Gehring, Petra: Es blinkt, es denkt. Die bildgebenden und die weltbildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft, in: Philosophische Rundschau , , – ; Janich, Peter: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt am Main, . Cogno steht für Kognitionswissenschaft. Deren Gleichsetzung mit Neuroforschung ist natürlich problematisch, wie das NBIC-Paradigma sich insgesamt auf die deutsche Forschungslandschaft nur näherungsweise applizieren lässt. Vgl. Marcus, Steven J.: Neuroethics. Mapping the Field, New York, , sowie unter http:// www.neuroethicssociety.org [letzter Zugriff: . Mai ], die Website einer gegründeten internationalen Neuroethics Society. Vgl. Walter, Henrik: Minimale Neurophilosophie, in: Hubig, Christoph/Poser, Hans (Hrsg.): Cognitio Humana – Dynamik des Wissens und der Werte, Leipzig, , – ; Northoff, Georg: Neuropsychiatrie und Neurophilosophie, Paderborn, .
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‚Mentalen‘ zuwendet, angeschlossen an Beiträge der sogenannten philosophy of mind. Selbst Probleme der pharmakologischen Behandlung des Gehirns, des sogenannten Neuro-enhancement oder invasiver Verfahren – also: operative Eingriffe am menschlichen Hirn, etwa die funktionale Tiefenstimulation, der sog. „Hirnschrittmacher“ zur Linderung der Symptome der Parkinson-Erkrankung, finden sich vor diesem Hintergrund heute in medizin- und neuroethischer Perspektive, nicht aber unter dem Titel „Bioethik“ diskutiert. Es geht um Behandlungstechniken, die um neurologische, kognitive und vielleicht emotionale Sachverhalte kreisen. Die Biologie und insbesondere die Genetik erscheinen aus Sicht der Hirnforschung wie ein vielleicht benachbartes, aber doch fremdes Fach. Vitalbegriffe kennt die Hirnforschung kaum. Die Leitmetaphorik rund ums Hirn ist grell technizistisch. Modelltragende Vokabeln sind physikalisch-energetischer Natur, sie evozieren nichts Grünes, sondern Computertechnik: vernetzen, verdrahten, verschalten, senden, feuern, laden, speichern.¹³ Explizit biologische Attribute scheinen dem Hirn kaum anzuhaften oder werden sprachlich umkleidet. So heißt das, was im biotechnischen Zusammenhang Wachstum oder Regeneration genannt würde, nämlich die vitale Adaptionsfähigkeit des Hirns, in der Sprache der Neuroforschung Plastizität. Es scheint, als habe man einen von außen bearbeiteten Rohstoff vor sich, nicht aber ein aus sich heraus sich entwickelndes und reproduzierendes Organ. Ähnlich ist zwar von „feuernden Neuronen“ die Rede, nicht aber von Nervenzellen als lebendigen Zellen oder gar „Leben“. Dass ein Hirn letztlich eine biologische Größe ist, bestreitet niemand. So führt auch für den Neuroforscher von der Nervenzelle ein direkter Weg zu Erklärungen des Verhaltens sämtlicher Lebewesen und also auch des Menschen.¹⁴ Dennoch stilisiert der Neuro-Diskurs das Hirn gewissermaßen als vom Körper doch auch ontologisch abgesonderte Zone – als Sphäre eigenen Rechts und als Sphäre einer irgendwie abstrakteren, eine gewissermaßen elektrischen oder elektrisierten, nicht aber fleischlichen oder gar fruchtbaren Stofflichkeit. Dies gilt auch, wo um kosmologische Letztauskünfte gerungen wird. Erklären philosophierende Neuforscher das menschliche Weltverhältnis insgesamt zum neuronalen Konstrukt, so schwingen hier keinerlei lebensmetaphysische oder lebensphilosophische Obertöne mit. Noch die „Emotionen“ erscheinen vielmehr als vom Kopf her bewirkte Steuerungseffekte und, sofern sie Sachverhalte sind, als nicht vital, sondern mental. Bis hin zu seiner farblichen Konnotation – als Prä Vgl. Goschler, Juliana: Metaphern für das Gehirn. Eine kognitiv-linguistische Untersuchung, Berlin, . Kandel, Eric R.: Cellular Basis of Behaviour. An Introduction to Behavioural Neurobiology, San Francisco, .
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parat ist es grauweiß, im Hirnscan knallbunt, nie aber sehen wir es durchblutet – nimmt das zur Seinsgröße erhobene Organ eine gesonderte Rolle ein. In seiner imaginären Stofflichkeit erscheint geradezu meta-vital: ein ätherisches Etwas, dessen unvergleichliche Komplexität und variable Ausformung betont werden, fast, als bestünde das Hirn lediglich aus Aktivität. Ein abstraktes System wie ein algorithmisches Gefüge? Reine Energie? Reine Kognition? Von einem Hauch von Unsterblichkeit umgeben? Im Neuro-Sprachspiel erscheint das Hirn jedenfalls keineswegs als einfacher Unterfall von „Leben“.
3 Führt Neuroforschung womöglich dann aber auf die Lebenswissenschaften zu, wenn man – abseits wissenschaftstheoretischer Konvergenzpostulate – ihre sozialpolitisch-praktischen Implikationen betrachtet? Hier führen die Wege in jenes Kräftefeld hinein, in welchem es um die Menschenbehandlung und das Produktivmachen von Körpern und Körperstoffen im Zeichen des „Lebens“ geht, also unter machthistorischem Blickwinkel und politisch skeptisch betrachtet um „Biopolitik“. Was sich zwischen „Leben“ und „Gehirn“ anbahnt, sind anthropotechnische Konvergenzen. Denn es gehört zum zur Schau getragenen Selbstverständnis der „Neurowissenschaft“ im Singular, eine – wenn nicht die – kommende Sozial- und Verhaltenswissenschaft zu sein. Wie schon Jahre zuvor in den USA wurde auch in der deutschsprachigen Neuro-Debatte der 2000er Jahre das Thema Willensfreiheit mit forensischen Fragestellungen verbunden: mit der Frage nach pathologischen Gründen für verwerfliches Handeln, mit einer Kritik des Schuldstrafrechts und mit der Frage der Verbrechensprävention. Ohne dass die Hirnforschung bis heute über das Stadium abstrakter Grundlagenforschung hinaus wäre, wurden Forderungen nach einer Strafrechtsreform durch Diskussionen über die Grenzen des freien Willens induziert. Im Jahr 2005 diente einer Arbeitsgruppe des deutschen Strafverteidigertages das 1996 durch den Kognitionspsychologen Prinz geprägte Diktum „wir tun nicht, was wir wollen; wir wollen was wir tun“¹⁵ zum Motto. Als Referenzen der folgenden Strafbegründungsdiskussion dienten nicht etwa forensische Fachpublikationen, sondern primär die populären Willensfreiheits-Thesen philosophierender Grundlagenforscher, strafrechtlicher Dilettanten also – welche etwa die
Prinz, Wolfgang: Freiheit oder Wissenschaft?, in: von Cranach, Mario/Foppa, Klaus (Hrsg.): Freiheit des Entscheidens und Handelns: Ein Problem der nomologischen Psychologie, Heidelberg, , – , hier: und passim.
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Funktionsweise des dreigliedrigen Prüfungsschemas (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld) nicht durchschauen und überhaupt verkennen, wie sehr Zurechnungsgesichtspunkte, nicht aber positiver Erweis von Normalität unser Strafrecht prägen. Laienhafte Provokation stand also gegen eine fachliche Expertise, die es eigentlich hätte besser wissen müssen.¹⁶ Gleichwohl dauert die eigenartig asymmetrische Auseinandersetzung bis heute an und reicht längst weit in die Rechtswissenschaft hinein.¹⁷ Bestrafe man das „Ich-Konstrukt“, so bestrafe man im Grunde das Gehirn, formuliert 1994 der Neuroforscher Gerhard Roth¹⁸, um dann fortzufahren: „Menschen können im Sinne eines persönlichen Verschuldens nichts für das, was sie wollen und wie sie sich entscheiden“¹⁹, unser Strafsystem solle folglich „ein Besserungsystem werden“.²⁰ Ähnlich offensiv fordert auch der Neurophysiologe Wolf Singer ein täterbezogenes Maßnahme-Strafrecht, also die Pathologisierung und Verwahrung von Straftätern, anstatt einer tatbezogenen Strafzumessung, die einer Typik des Verschuldens folgt. Singer kritisiert den Schuldgedanken als inhuman. Zugleich bringt er aber deutlich zum Ausdruck, dass es der Neuroforschung keineswegs um eine liberalere Strafvollzugspraxis geht: „Wir würden Straftäter“, heißt es in einem Interview, „wegsperren und bestimmten Erzie In einer erste Welle der Zurückweisung haben etliche Strafrechtslehrer und Forensiker das auch deutlich benannt,vgl. Lüderssen, Klaus: Ändert die Hirnforschung das Strafrecht?, in: Geyer, Christian (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main, , – ; Kröber, Hans-Ludwig: Die Hirnforschung bleibt hinter dem Begriff strafrechtlicher Verantwortlichkeit zurück, in: Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit, – ; Lüderssen, Klaus: Das Subjekt zwischen Metaphysik und Empirie. Einfluss der modernen Hirnforschung auf das Strafrecht?, in: Duncker, Hans-Rainer (Hrsg.): Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie. Zum jährigen Jubiläum der Gründung der Wissenschaftlichen Gesellschaft im Jahre der Universität Straßburg, Stuttgart, , – ; Günther, Klaus: Hirnforschung und strafrechtlicher Schuldbegriff, in: Kritische Justiz , , – ; vgl. zudem als Kritik des generellen Trend eines Gefahrenabwehrrechts Hassemer,Winfried: Sicherheit durch Strafrecht, in: HRRS , , – . Vgl. Spilgies, Gunnar: Die Bedeutung des Determinismus-Indeterminismus-Streits für das Strafrecht. Über die Nichtbeachtung der Implikationen eines auf Willensfreiheit gegründeten Schuldstrafrechts, Hamburg, . Barton, Stephan: „…weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!“ Prognosegutachten, Neurobiologie, Sicherungsverwahrung, Baden-Baden, . Einen Überblick bietet, allerdings konform mit dem Debattenmuster (widerlegte Willensfreiheit = Ende des Schuldstrafrechts) der Sammelband von Schleim, Stephan u. a. (Hrsg.): Von der Neuroethik zum Neurorecht?, Göttingen, . Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt am Main, , . Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt am Main, , . Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main, , .
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hungsprogrammen unterwerfen, die durchaus auch Sanktionen einschließen würden. Wir wissen doch, dass Erziehung sowohl der Belohnung als auch der Sanktionen bedarf. Mit anderen Worten: wir würden hübsch das Gleiche tun wie jetzt auch schon. Allein die Betrachtungsweise hätte sich geändert.“²¹ Ist das Böse „nur eine falsche Weiche im Kopf“?²² Ähnlich wie in der Biomedizin Leben und Lebenswert zugunsten eines vom Standpunkt des Lebens selbst nicht mehr lebenswerten Lebens zusammengeschlossen werden können, scheint hier der diagnostizierte „Fehler“ im Gehirn die moralische Berechtigung zur physischen Devianzbehandlung mit sich zu bringen, sofern man nun nur dem Fehler (und nicht mehr dem Menschen) die Verfehlung zuschreibt und den Täter entlastet – scheinbar entlastet, denn belastet wird ja ‚sein Gehirn‘. Zur (Hirn‐) Krankenbehandlung umdeklariert kehrt auf diese Weise die Körperstrafe zurück. Und das rechtsstaatliche Postulat der zeitlichen Strafbegrenzung löst sich zugunsten einer nur mehr von neurologischen Gutachten abhängigen, tendentiell unbegrenzten Behandlung auf. Mit oder ohne rechtswissenschaftliches Echo scheint die Idee einer einfachen Kausalursache der Straftat mitsamt den Interventionsphantasien, die sie freisetzt ist, ein Selbstläufer zu sein – für die Boulevardmedien wie auch darüber hinaus. Vom „Kainsmal in der Kernspintomographie“²³ ist die Rede, von der „Revolution“, die sich „in Labors und Gerichtssälen“ anbahne und von der „faszinierende[n] dunkle[n] Seite des Gehirns“²⁴. Zwar seien „Neuronen nicht böse“, aber die Hirnforschung „könnte das Rechtssystem insgesamt auf ein objektiveres Fundament stellen. Ein wissenschaftlich fundiertes Maßnahmerecht wäre das Ziel“.²⁵ Angesichts des als dunkel imaginierten und nicht zuletzt ja für die Grundlagenforschung tatsächlich aus guten Gründen mit einem Tabu belegten Inneren des (lebendigen, nicht akut erkrankten) Kopfes sind simple Kausalschemata willkommen – vor allem, wenn es um eine möglicherweise bedrohte öffentliche Sicherheit geht. Besorgtes Medienpublikum gesteht der Hirnforschung so – präzise in Sachen Kriminalität – geradezu bereitwillig einen Anspruch zu, den sie ihr Singer: Ein neues Menschenbild?, f. http://m.focus.de/wissen/mensch/psychologie/tid-/tatort-gehirn_aid_.html [letzter Zugriff . Mai ]. Vgl. den Beitrag „Straftäter: Schuldig oder krank?“ in der Reihe „BR-alpha“ des Bayerischen Rundfunks, http://www.br-online.de/br-alpha/hirnforschung-freier-wille-straftaeter-ID.xml [letzter Zugriff . November ]. Markowitsch, Hans J./Siefer, Werner: Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens, Frankfurt am Main, , Buchrückseite. Vgl. Markowitsch, Hans J., in: ders./Jan Philipp Reemtsma: „Neuronen sind nicht böse“. Der Spiegel, – , hier: .
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sonst wohl nicht so bereitwillig einräumen würde, nämlich denjenigen, die Sozialwissenschaften gerade auch dort zu substituieren, wo es, altmodisch gesprochen, um Tugend und Sittlichkeit, also um die autonome Seite unseres Charakters geht. „Alles, was ja auf mich eingewirkt hat, ist in mein Gehirn eingegraben…“²⁶ Im Hirn – mindestens im Hirn dessen, der etwas tut, was wir nicht tun würden – scheint die Biografie festgeschrieben und nun auch stofflichtechnisch manipulierbar zu sein: durch Erziehung, Pharmaka, neurochirurgische Intervention. Hirnbehandlung ist Menschenbehandlung, daran lassen Neurokriminologen keinen Zweifel, wenn sie fordern, man müsse „alle, die strafauffällig sind, zu Erziehungsmaßnahmen führen.“²⁷ Und so kehrt auf indirektem Wege das „Leben“ zurück, in Gestalt eines lebenspolitischen Dispositivs. An der Nahtstelle zwischen individuellem Leben (biomedizinisch gefasst wie auch als Sache der Lebensführung) und sozialem Werturteil über abweichendes Verhalten (also der „Normalität“ von Leben gemessen an der Verhaltenstypik einer Population) geht, greift die Neuroforschung biotechnisch in das Feld des sozialen Lebens ein.
4 Die Kriminalität, genauer: der Kriminelle und sein Gehirn, sind nicht nur Gegenstand strafrechtswissenschaftlicher Adaptionen der Willensfreiheitsdiskussion. Sie sind im Windschatten der Debatten tatsächlich zum Objekt der Untersuchung mittels sogenannter bildgebender Verfahren geworden. Das Faktum, dass digitale Daten welcher Provenienz auch immer mühelos zu Bildern umgearbeitet werden können, die Muster zeigen und damit durch impressionistischen Vergleich das „sichtbar“ Auffällige produzieren, ist für die Hirnforschung heutigen Typs wohl der Erfolgsfaktor schlechthin. Zwar zeigen PET, fMRI und andere bildgebende Verfahren lediglich Momentaufnahmen im Hirn verteilter Energieverbräuche und in diesem eingeschränkten Sinne so nur die Oberfläche einer im Kern unverstandenen „Aktivität“. Auch Neuroforschung weiß nicht, wie das Hirn funktioniert. Dennoch wohnt Bildern, die Gehirne von Straftätern zu „scannen“ scheinen, eine eigentümliche Wirkmacht inne. Sie suggerieren Erkennbarkeit und legen eine Art digitale Physiognomik nahe. Dass diese im Gang ist, zeigen die hoch spekulativen Korrelationen, mit denen nicht nur Populärtexte hausieren gehen. Unterschiedlich große Hippocampi in
Ebd., . Ebd., .
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den beiden Hirnhälften, Dysfunktion sogenannter „Spiegelneuronen“, die angeblich für Empathie zuständig seien, reduzierter Stoffwechsel im Frontalhirn und Schrumpfung dieses Areals, Störungen der Amygdala, Hirntumoren – dies alles soll bei der Entstehung von Verbrechen im Spiel sein. Tatort Gehirn heißt ein Buch, dessen Titel nicht durch Zufall an das Genre des TV-Krimis denken lässt: Es macht mit Fallbeispielen von Amokläufern, Serienmördern und Sexualstraftätern auf, präsentiert die Fortschrittlichkeit bildgestützter Forschung in Sachen Lügendetektion und „Verbrechergehirn“ und redet dem anbrechenden „Zeitalter der ‚Neurojurisprudenz’“²⁸ das Wort. Hans Markowitsch, ein Hirnforscher, und Werner Siefer, ein Wissenschaftsjournalist haben das Buch gemeinsam geschrieben. In theoretischer Hinsicht werden trotz reicher Kasuistik Auskünfte in der Ursachenfrage letztlich umgangen. Nahegelegt werden zwei verschiedene Formen der Kausalität: Das Hirn könne verändert sein, weil die Umstände, die den Täter zur Tat determinierten, auch das Hirn entsprechend prägten – oder aber: das Hirn als solches bewirkte die Tat. In der ersten Deutung „liest“ man die kriminelle, letztlich vielleicht auch sozial verursachte Disposition gleichsam aus dem Hirn heraus, hier wird man Neurotechniken vor allem zur Prognose, zur Fahndung und zum prospektiven Ausfindigmachen von Straftätern nutzen. In der zweiten ist das defekte Hirn nicht Begleitumstand, sondern kann als Ursache gelten. Nur im zweiten Fall wäre das Hirn wohl auch der nur annähernd geeignete Ansatzpunkt einer das Verhalten steuernden kausaltechnischen Intervention.²⁹ Markowitsch und Siefer überbrücken die Alternative, indem sie in quantitativer Hinsicht prognostizieren, es werde „bei der Mehrheit der Straftäter eine Psycho- oder Soziopathien (sic!) feststellbar sein“ und hinsichtlich der Behandlungsoptionen erstens feststellen, die Zweiteilung zwischen gewöhnlichen und psychiatrisch unterzubringenden Straftätern werde „obsolet“ werden, um dann zweitens „Umerziehungslager“ nach sowjetischem Muster oder die US-amerikanischen boot-camps abzulehnen. Treuherzig wird dann aber doch eingeräumt:
Markowitsch/Siefer, Tatort Gehirn, . Man könnte das fiktive Beispiel eines aggressiven Propagandasongs wählen, der – tagelang gehört – sich im Gemüt eines zornigen jungen Mannes festsetzt und (Fiktion!) tatsächlich neurologisch messbar Veränderungen im Hirn einzeichnet sowie (juristisch gesprochen) Tatneigung und Tathandlung begünstigt. Eine „Therapie“ würde nach dem ersten Kausalmodell auf veränderten Musikkonsum abzielen, nicht aber auf Zerstörung der betroffenen Neuronen zwecks Tilgung der Erinnerung an das Lied oder gar auf neurochirurgisches ‚Einschreiben‘ anderer Noten. Letzteres hingegen wären aber die Konsequenzen des zweiten Kausalmodells, welches offenkundig ein Wissen über das Hirn impliziert, das die Neuroforschung nicht besitzt (und mutmaßlich auch nie besitzen wird, denn vieles spricht dagegen, dass Gehirne überhaupt dergestalt isolierbare „Ursachen“ enthalten).
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„Natürlich muss man sich vergegenwärtigen, dass alle denkbaren Maßnahmen auf eine Form von Gehirnwäsche hinauslaufen.“³⁰ Wo genau Therapiebedürftigkeit beginnt und wie Therapie aussähe, ist den groben Vermutungen, im Gehirn sei der „Tatort“ lokalisierbar, und auch den „Bildern“ nicht zu entnehmen. Aus dem öffentlich postulierten generellen NeuroDeterminismus folgte streng genommen die generelle Behandlungsbedürftigkeit jeglichen abweichenden Verhaltens. Weder Neuroforscher noch Öffentlichkeiten ist diese Konsequenz angenehm. Insofern wird die Debatte als diskriminierende Debatte, als Debatte ‚über die anderen‘ geführt. Diese schwankt zwischen der Idee, bestimmte Extremtaten ließen sich wohl durch die Ursache im Hirn erklären – und der Idee, irgendwie sei eigentlich jeder Mensch fremdgesteuert, weswegen es schlichtweg pragmatisch zu entscheiden sei, wen oder was die Gesellschaft sanktionieren will.
5 Das zentrale Argument der Hirnforscher im Feld der Strafrechtskritik ist im Kern ein moralisches: Der Verbrecher habe nicht anders handeln können, also sei er krank, also müsse er behandelt werden, nicht bestraft. Rechtspolitisch wird in der Konsequenz einer solchen Pathologisierung dann aber nicht Recht durch Moral ersetzt, sondern durch forschende Medizin. Richter geben ihre Zuständigkeit an Mediziner ab – oder genauer noch: an Wissenschaftler, die Forschungen und forensische Gutachtertätigkeit verbinden. Angesichts des technischen Aufwandes, der dann getrieben werden muss, sind in solchen Fällen Gruppen mit verteilter Expertise tätig. Digitale Hirnaufnahmen haben einen explorativen, aber auch einen fragilen Charakter. Sie sind komplexe Gebilde, die Neurofachleute nur gemeinsam mit technischen und softwaretechnischen Experten (die ihrerseits im Zweifel ebenfalls noch forschend arbeiten) näherungsweise bewerten können. Verdächtige oder Verurteilte können sich gegen Hirn-Scans wehren. Für Versuche am Menschen gibt es, jedenfalls im deutschen Rechtsraum, nur geringe Spielräume und sie sind zustimmungspflichtig. Lange Haftstrafen, Sicherungsverwahrung mit Freilassung nur bei „freiwilliger“ Zustimmung zur Hirnbehandlung? Hier treffen nicht nur das Sicherheitsbedürfnis verhetzter Öffentlichkeiten und die Eigeninteressen von Grundlagenforschern auf der Suche nach forschungsmittelträchtigen „Anwendungen“ zusammen, sondern auch die aus Ohnmacht geborenen Kalküle der Straftäter selbst. Hat man die Wahl, als voll
Ebd., .
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schuldfähig verurteilt zu werden, oder aber einen Hirndefekt geltend zu machen auf reduzierte Schuldfähigkeit zu plädieren, so geht man unter Umständen aus prozesstaktischen Gründen auf das Angebot ein, alles auf das Hirn zu schieben und sich beforschen zu lassen – selbst dann, wenn schlimmstenfalls Therapie und Verwahrung drohen. Noch dramatischer ist die Lage im Strafvollzug, wenn also eine Langstrafe oder gar eine Sicherungsverwahrung bereits verhängt worden ist. Hierzulande ruht nicht zuletzt durch die Neuerung einer Sicherungsverwahrung, die noch nachträglich verhängt werden kann, ein enormer Druck auf Häftlingen, die nicht nutzen, was als „Therapieangebot“ gilt. Dass ein solcher Druck auch aktiv ausgeübt werden kann,versteht sich von selbst. Menschen, die sich in Haft „freiwillig“ untersuchen lassen, sind eine willfährige Klientel. So ist durchaus damit zu rechnen, dass sich im repressiven Gefängnismilieu passende Betroffenengeschichten nahezu von selbst einstellen werden, solange die Anstalt Therapiebereitschaft oder auch die Zusammenarbeit mit Forschern beim nächsten Haftprüfungstermin positiv wertet. Spätestens wenn im Ausland erste Forschungen im Verbrechergehirn fündig werden und für Medienmeldungen sorgen, ist damit zu rechnen, dass auch der deutsche Justizvollzug sich dem Neuro-Paradigma öffnet. Indem sie sich auf Strafrechtsfragen und das Verbrechergehirn verlegt, sichert sich die Neuroforschung folglich nicht allein dem Zugang zu Versuchspersonen. Sie hat auch ein Labor aufgetan, in dem zirkuläre Experimentalbedingungen gelten: Der Proband entscheidet sich für das Hirnbild und bestätigt es im Zweifel. Und wie er nach dem rettenden Strohhalm greift, lassen sich auch Anstalten, Politiker und Öffentlichkeit nur zu gern davon überzeugen, dass man gegen das, was unverbesserlich schien, doch etwas tun kann.
5 Auch in Tatort Gehirn fällt der Begriff Leben an entscheidenden Stellen nicht. Dies unterscheidet die heutige Diskussionswelle über das Schuldstrafrecht von der Strafrechtsreformdebatte kurz vor 1900, die ebenfalls auf eine Ersetzung der Schuldstrafe durch Besserungsmaßnahmen zielte. Die Gesellschaft müsse klassifizieren, hieß es damals:Wer besserbar sei, solle behandelt und nach bewiesener Besserung entlassen werden, die Unverbesserlichen müsse man wegsperren, bis sie sterben. So stellte das Programm des Strafrechtsreformers von Liszt den Umgang mit dem Verbrechen ganz auf die Sozialprognose des Täters ab. Nicht die Tat ist relevant, sondern ob der Mensch, der sie verübt hat, normal ist und seine Existenz nicht die soziale Ordnung bedroht. Die wissenschaftliche Diagnose einer inneren Bestimmung des auffällig gewordenen Individuums und die Suche nach
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Techniken der endgültigen „Unschädlichmachung“³¹ gehörten bereits 1900 untrennbar zusammen. Abschaffung des Verbrechens durch Pathologisierung der Verbrecher: Nicht nur die Verwahrungs- und Besserungsstrafe der NS-Zeit und unter Stalin, sondern auch die US-amerikanische Hirnchirurgie haben die sozialstaatlich begründete Praxis einer direkten Zerstörung der körperlichen Voraussetzungen unerwünschten Verhaltens über die Programmatik von 1900 hinaus vorangetrieben. „Lobotomie“ heißt ein berüchtigtes Stichwort. Wenn heute Hirnchirurgie einen neuen Aufschwung nimmt, ergänzt durch den sogenannten „Hirnschrittmacher“, der durch elektrische Impulse Hirnareale lahmlegt, so mag man Debatten über das medizinische Gebotensein im Einzelfall führen. Es kommt jedoch nicht von ungefähr, dass invasive Praktiken diesen Typs ihren Anwendungsradius in den Bereich der psychischen Störungen hinein dramatisch vergrößern: Neben der Parkinson-Erkrankung sind es inzwischen (mit bislang noch geringeren Fallzahlen) Angstzustände, Zwangsneurosen, Depressionen und Autoaggressionen, gegen die man den direkten Eingriff in die Köpfe einsetzt.³² Und auch auf Suchtkranke – am besten inhaftierte Suchtkranke – ist das Fadenkreuz der Forschung gerichtet.³³ Dass hier Schneisen für eine Neuropolitik geschlagen werden, die einer Biopolitik gleichkommt, liegt als These nahe. Zur Bestimmung des biopolitischen Zugriffs auf „Leben“ hebt Foucault zum einen auf die Dressur, die Disziplinierung des lebendigen Verhaltenskörpers ab – auf die Arbeitsgesellschaft des 18. Jahrhundert, die human ressources heutiger Tage. Zum anderen und vor allem gewinnt Biopolitik jedoch dort an Schärfe, wo tatsächlich der Diskurs der Biologie regiert und „biologische“ Wachstumspotenziale auf dem Spiel stehen: Fortpflanzungschancen, Erbqualitäten, züchtbare Kollektivleistung, „Leben“ als steigerbares Gut und Wert.³⁴ Giorgio Agamben setzt den Akzent etwas anders. Ihm geht es um eine allgemeinere, auch juridische Logik der Ausgrenzung, die nicht eine Wachstumsgröße namens Leben kapitalisiert, sondern eine konkrete Gegebenheit namens Leben in politische oder aber aus der Politik exkludierte Formen zwingt –
von Liszt, Franz: Der Zweckgedanke im Strafrecht (), in: Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze. Bd. , Berlin/New York, (ND Berlin ), – . Vgl. Albrecht, Bernhard: Stereotaxie/Hirnschrittmacher: Rückkehr der Psychochirurgie, in: Deutsches Ärzteblatt , , , http://www.aerzteblatt.de/archiv/ [letzter Zugriff . Mai ]. So vor einigen Jahren ein bekannter Hirnforscher über eines seiner Forschungsvorhaben mir gegenüber mündlich. Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Geschichte der Sexualität. Bd. , Frankfurt am Main, .
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was im Extremfall die Reduktion der menschlichen Existenz auf das bloß noch „nackte Leben“ bedeutet. Dieses wäre nach Agamben eigentlich bereits kein Leben mehr, sondern eine Art verworfene, der Willkür ausgelieferte, postvitale und auch ungeschützte, gar nicht mehr ‚tötbare‘ Größe .³⁵ Foucaults auf Leben als Fortpflanzungs- und Steigerungsmedium bezogener Begriff von Biopolitik erlaubt es die Fluchtlinie des neurotechnischen enhancement klarer zu fassen: Das Hirn rückt in einem umfassenden Sinn in den Verhaltenskörper und auch in den Sozialkörper ein, auf den man ‚an‘ ihm zugreift. Im Fall Neurokriminologie mag man vielleicht aber auch an Agambens Metapher des „nackten Lebens“ denken, auch wenn sie naturrechtlich aufgeladen ist. Die Hirnsubstanz selbst scheint ja schon ein wenig von jenen untoten Eigenschaften zu haben, die das nackte Leben zurückfallen lässt und herausfallen aus dem Reich der friedlichen (und für „uns“ viel zu selbstverständlichen) Lebendigkeit. Neuropolitische Biopolitik oder biopolitische Neuropolitik: So oder so verliert das Neuro-Paradigma einen Gutteil seiner prätendierten Neuheit und man erinnert sich beispielsweise daran, dass die Verwahrstrafe um 1900 nicht zuletzt verhindern sollte, dass Verbrecher sich fortpflanzen: Auch die über ein Jahrhundert zurückliegende Diskursfigur des stets schuldlosen, aber immer therapiebedürftigen Straftäters hatte also einen biopolitischen Sinn. Bezüge zur Biologie und zum biologischen Leben sind da, aber sie treten nicht nach vorn, denn die Macht bindet Leib und Seele jeweils vielfach zusammen. Das Gehirn steht als Verhaltensgarant gleichsam wie eine zweite Zielscheibe da – neben der Sexualität und allen an Fortpflanzung beteiligten biologischen Funktionen. Mit den Biotechniken eng verbunden, aber technisch und epistemisch doch auch allein.
6 Damit bleibt es, was das Leben angeht, für den Fall Neuro-Kriminologie bei einer begriffsgeschichtlichen Fehlanzeige, aber auch einer sachgeschichtlich positiven These.Wo die Biomedizin die stofflich-dynamische Zeitgestalt eines genetisch und gentechnisch greifbaren „Lebens“ betrachtet – da adressieren Hirnforschungsdiskurse heute allenfalls eine sozial gefasste Normalität von Leben, die sie aber kaum mit dem Terminus „Leben“ belegt. Nicht im Medium der Biologie, sondern gleichsam sui generis im Kopf des Täters will Neuroforschung das, was für die
Vgl. Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main, .
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Biotechniken der Biostoff ist, in verstofflichter Form vorfinden, behandeln und verbessern. Das Sprachspiel der Neuroforschung zehrt dabei von physikalischen Metaphern und vom informatischen Schema der Kognition. Hirnforscher sind keine Kosmologen, aber sie betreiben ihre Forschungen ihrerseits als universale Wissenschaft – dies allerdings als Wissenschaft von einer mentalistisch angelegten Natur und ohne einen Holismus des Lebens: „So schön es ist“, schreibt der Hirnforscher Singer, „dass wir jetzt den genetischen Code haben, für das Verständnis des Lebendigen haben wir noch nicht viel gewonnen.“³⁶ Dass das Gehirn ein soziales Organ sei, gehört zu den etablierten Einsichten der Neurowissenschaft. Sobald es in letzter Instanz aber – neuronal aufeinander eingestellte – Gehirne sind, die mit Gehirnen kommunizieren, erscheint auch das soziale Netz als Stück eines eigenartigen Kontinuums neuronaler Art. Eher vermutlich muss man es sich als Kommunikationsnetz denken, denn als ein Kontinuum von Lebensstoff. So steht die vielfach vernetzte Nervenzelle der Keimzelle und der Stammzelle als Inbegriff biologischen Wachstums entgegen. Und sogar zur Überwindung des Todes entwickelt die Neuroforschung ihr eigenes – ein nicht generatives, sondern eher proliferatives Bild: Hirnforscher Roth sieht, wenn auch „in weiter Ferne“, die Möglichkeit, „ein biologisches neuronales Gewebe zu züchten oder künstliche neuronale Netzwerke zu erzeugen, die natürlichen neuronalen Geweben funktional gleich sind und zudem mit ihnen ohne irgendwelche Komplikationen interagieren können“³⁷. Auf diesem Wege könne man alternde Hirnregionen vielleicht allmählich ersetzen, und „es könnte sich trotz eines langsamen, aber ständigen Ersatzes des alternden Hirngewebes die bewusste Identität vielleicht erhalten“³⁸. Das bewusste Ich existierte also, nicht durch Fortpflanzung, sondern durch Identitätstransfer trotz Substanzwandel „geistig-psychisch“ fort. Der Tod verschwände. Eine Macht zum Leben, eine BioMacht, entstünde abseits der klassischen Fortpflanzungswege der Biologie. Der Verbrecher mitsamt seinen Hirnbildern fiele freilich auf der Negativseite auch aus dieser Ent-Endlichung heraus, jedenfalls solange die Alternative lautet: Hirneingriff oder Verwahrung. Wie Foucault an einer Stelle vermerkt, stand das biologische Problem der „Degeneration“ des Lebens mitsamt dem daraus folgenden Problem, wie in sozialer Hinsicht mit dem einzelnen Degenerierten verfahren werden soll – in seiner Eigenschaft als „Träger eines Zustandes, der kein
Singer: Ein neues Menschenbild?, . Roth: Aus Sicht des Gehirns, . Ebd., .
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Krankheitszustand, sondern ein Zustand der Anormalität ist“³⁹, im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts am Anfang zweier neuer Wissenschaften: der Eugenik und der Psychoanalyse.⁴⁰ Eine dritte Wissenschaft sollten wir hier ergänzen: das Reformstrafrecht, dessen täterbezogene Schutzstrafen-Vision von Liszt just zur selben Zeit verkündete. Foucault hat die entfesselten schutzstrafrechtlichen Visionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts einen „Rassismus gegen den Anormalen“ genannt, einen „internen Rassismus, der es gestattet, alle verdächtigen Individuen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft herauszufiltern“; in der NS-Zeit wird das Projekt eines verallgemeinerten Gesellschaftsschutzes als „Jagd nach dem unheilbaren Gefahrenherd“ dann erstmals entfesselt.⁴¹ Wenn Foucault 1975 den Zusammenhang zwischen forensischer Psychiatrie und Lebensschutz richtig diagnostiziert hat, so muss man heute fragen, in welchem Sinne die moderne Hirnforschung im Medium des Verbrechergehirns auf das Verhalten zugreifen will. Geht es darum, so etwas wie die eigentlich „soziale“ Lebenswissenschaft zu werden – oder wird das Paradigma des Lebens durch eines der direkten Handlungs-, Entscheidungs- und Hirnkontrolle ersetzt? Im einen Fall stünde eine Neurokriminologie des das Hirn umgebenden „Lebens“ bevor, im anderen Fall eine Neurokriminologie, die auf unmittelbare Verhaltenssteuerung abzielt.
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Das Argument „(zu)künftige Generationen“ in umweltethischen Konflikten
Funktionen des Ungeborenen Abstract: The argument „future generations“ in environmental-ethical conflicts. Functions of the unborn. The term „future generation“ is an essential, yet vaguely conceptualized keyword in debates on environmental ethics. This signifies the potential and the weakness of the argumentative catchphrase, which is examined in this chapter from a theoretical-philosophical as well as a practical-social perspective. Aiming to illuminate (1) the theoretical problems and solutions of including the unborn in debates on theories of justice, (2) the practical usage in political and public affairs, and (3) the practical usage within the closer context of each individual, this chapter investigates all functions, semantic changes, and the argumentative strength of „future generations“. In addition to contributing to the philosophical foundation for discussing the issue, it is necessary to study political and social discourses in which the term „future generation“ is used. For instance, the term, which refers to the unborn, is prone to be politically reinterpreted as supporting economic or financial goals instead of sustainable or environmentalethical aspects. After regarding the theoretical and practical background of the argument „future generations“, the main findings concern the question why this keyword has become so successful on an individual level. The argument contains differences to other arguments with respect to moral and emotional aspects as well as components of possible personal relations (e. g., across generations within families). This eventually leads to the conclusion that „future generations“ can be a strong argument, especially when combined with other emotional arguments or principles of recognition. It is furthermore a connecting element between theory and practice for environmental ethics. However, it can also be a problematic buzzword in terms of economic or political modifications, which should not be accepted without questioning semantic aspects. In sum, the argument may provide a basis for overcoming current discrepancies between knowledge and action in the domain of sustainability.
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Im globalen Maßstab werden die Hauptopfer des Klimawandels Entwicklungsländer und künftige Generationen sein – obwohl sie zur Verursachung des Klimawandels wenigstens bisher nur in geringem Umfang beigetragen haben.¹
Einleitung Die allgemeinen Richtlinien globaler Umweltpolitik werden seit 1972 auf verschiedenen themengebundenen Umweltkonferenzen der Vereinten Nationen festgelegt. Wenn man das bisher wichtigste umweltpolitische Aktionsprogramm, die Agenda 21 der UNCED Konferenz in Rio de Janeiro von 1992, und auch die Schriften zu den Folgekonferenzen bis hin zum Aktionsprogramm Die Zukunft, die wir wollen der Rio+20 Konferenz von 2012 betrachtet, ist festzustellen, dass der Phraseologismus (zu)künftige Generationen ein häufig erwähnter argumentativer Ausdruck für Umwelt- und Naturschutzforderungen ist. Oftmals befindet sich die Wortverbindung an prominenten Stellen der von den Vereinten Nationen gemeinsam ausgearbeiteten Texte. Wie die Bezeichnung Aktionsprogramm anzeigt, beinhalten diese Schriftstücke diverse handlungsleitende Beschlüsse, Selbstverpflichtungen und Zielvereinbarungen der Staatengemeinschaft und werden deshalb nicht selten floskelartig zur Begründung des politischen Handelns und parteilicher Programme in politischen Debatten und Reden aufgegriffen. Aber nicht die zukünftigen Generationen selbst stellen das begründende Ziel oder den Zweck der schriftlich fixierten Aussagen dar, sondern die Auswirkungen auf sie, ihr Zugang zu Ressourcen/ Nahrungsmitteln, ihre Bedürfnisse, ihre Nutzung der Umwelt, ihr Wohl und eine nachhaltige Zukunft für sie. All diese gewünschten Handlungsmöglichkeiten und Attribute der zukünftigen Generationen zeigen die Forderung nach einer Verhaltensveränderung und die notwendige Einstimmung handlungsleitender Prinzipien der Menschen auf gemeinsame Moralvorstellungen an. Ohne dass Gerechtigkeit in den Aktionsprogrammen auch nur ein einziges Mal erwähnt wird, deuten Ausdrücke wie Solidarität (zwischen den Generationen) oder Verantwortung (für künftige Generationen) sowie die Nennung gewünschter Handlungsmöglichkeiten für die Zukünftigen auf den Themenbereich der Generationengerechtigkeit hin, der wissenschaftlich interdisziplinär, jedoch vorrangig von Philosophen und Juristen bearbeitet wird. Der fehlende Gebrauch des Ausdrucks Gerechtigkeit zeugt von seiner umstrittenen Definition in Alltag und Phi-
Ekardt, Felix: Ein kritischer Blick auf die Debatte über „Umweltgerechtigkeit“, in: Umweltpsychologie /, , – , hier: .
Das Argument „(zu)künftige Generationen“ in umweltethischen Konflikten
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losophie.² Der Diskussion von Definitionsfragen möchte man sich in einem allgemein gehaltenen Programm nicht aussetzen. Außerdem verdeutlicht das bewusste Umgehen des Ausdrucks, dass Gerechtigkeit (was auch immer sie definitorisch beinhaltet) eine moralisch geschuldete (einforderbare) Grundleistung und keine moralische Tugendpflicht darstellt, wie beispielsweise Wohltätigkeit. ³ Anstelle des Zustandes (und Verhältnisses) Gerechtigkeit als geschuldete Sozialmoral wird die abgemilderte Form, der Begriff der Solidarität, gewählt, die laut Otfried Höffe eine Zwischenstellung zwischen Gerechtigkeit und Wohltätigkeit einnimmt.⁴ Das Erwähnen von Gerechtigkeit würde überdies sowohl die Frage nach den Bedingungen der Gerechtigkeitsforderung als auch diejenige nach den Antworten hierauf eröffnen,⁵ die in den Programmen nicht behandelt werden. Wissenschaftlich beschäftigt man sich mit den zukünftigen Generationen im Forschungsbereich Generationengerechtigkeit. Dieser fokussiert weniger die Definitionen von Gerechtigkeit an sich, sondern den Einbezug der Zukunft und variabel gewordener Parameter⁶ der menschlichen Lebensbedingungen in etablierte Moralmodelle sowie der Erweiterung des Geltungsbereichs der Generationenethik. Diese kann als Ausgleich zwischen Generationen auch weiter entfernte Generationen einbeziehen, sodass die klassische Begründung⁷ des Ausgleichsund Wechselverhältnisses (Reziprozität/Geben und Zurückgeben), das im fami-
Höffe, Otfried: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München, , ; siehe auch Hauser, Richard: Gerechtigkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band : G–H, hrsg. von Joachim Ritter, Darmstadt, , – , hier: ff. Höffe: Gerechtigkeit, f. Ebd., . Ebd., . Diese Veränderungen sind auf das Feststellen von Ressourcenknappheit bei gleichzeitig steigendem Verbrauch und das Bewusstwerden einer Zerstörungskraft des Menschen zurückzuführen, die Auswirkungen mit sich bringt, die nicht wieder rückgängig zu machen sind. Neben der Gerechtigkeit als Reziprozität finden sich auch die Konzepte Gerechtigkeit als Gleichheit und als Universalisierbarkeit von Normen sowie die dazu jeweils kritischen Stimmen (vgl. Krebs, Angelika: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Die Kritik am Egalitarismus, in: Beckermann, Ansgar/Nimtz, Christian (Hrsg.): Argument und Analyse – Sektionsvorträge, GAP e-Proceedings (Sektion VI. Ethik und Sozialphilosophie), Paderborn, , – ; Horn, Christoph/Scarano, Nico (Hrsg.): Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main, ; Höffe: Gerechtigkeit; Tremmel, Jörg C.: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, Münster ). Die Gerechtigkeit als Reziprozität ist in personalen Verwendungsformen (gegenüber den institutionellen) – vor allem in christlich geprägten Kulturräumen – als Austauschverhältnis habitualisiert. Sowohl das alttestamentarische Auge um Auge, als auch die Relation von Leistung und Entlohnung (Horn/Scarano: Philosophie der Gerechtigkeit, ) prägen die gesellschaftliche Vorstellung von Gerechtigkeit und werden aus einer ursprünglich persönlichen und familiären Anwendung auf gemeingesellschaftliche Gerechtigkeitsfragen übertragen.
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liären Bereich möglich ist, nicht mehr greift,⁸ und eine indirekte Reziprozität notwendig wird.⁹ Generationengerechtigkeit schließt außerdem nicht nur Umweltethik und ökologische Nachhaltigkeit, sondern auch finanzielle und gesellschaftliche Nachhaltigkeit ein.¹⁰ In diesem Beitrag soll der Schwerpunkt allerdings auf die Untersuchung der umweltethischen intergenerationellen Generationengerechtigkeit gelegt werden. Intragenerationelle Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen, die mit Sicherheit in der Gesamtbetrachtung nicht außer Acht gelassen werden dürfen, werden zu Untersuchungszwecken des Einzelargumentes (zu)künftige Generationen (im spezifischen Kontext der Umweltethik) ausgeklammert. In einer synoptischen Abhandlung zur Umweltgerechtigkeit schreibt Felix Ekardt: „Gerechtigkeit meint definitorisch die Richtigkeit der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens“.¹¹ Unter einem solchen menschlichen Zusammenleben subsumiert man seit 1987 bzw. spätestens seit 1992 die „gesamte Menschheit aller heute Lebenden, einschließlich der künftigen Generationen“.¹² Das Argument der (zu)künftigen Generationen verkörpert seither als Schlagwort der Politik¹³ einen scheinbar guten Grund für die verschiedensten Maßnahmen. Es ist aber in der Theorie Kontroversen und Haarspaltereien ausgesetzt, die eine Anwendungsorientierung erschweren. Ebenso wird es in der alltagsweltlichen Praxis nicht hinreichend anerkannt (im Sinne einer Umsetzung der theoretischen Maxime in praktische Handlungen) und bleibt überdies nur vage konzeptualisiert. Bei näherer Betrachtung dieser Auffälligkeiten erscheinen drei Fragen als besonders wertvolle Ausgangspunkte, die jeweils die Grundlage der drei folgenden Abschnitte bilden: (1) Welche theoretischen Probleme werden mit dem Einbezug (zu)künftiger Generationen in philosophische Gerechtigkeitsdebatten eingebracht (und auch gelöst)? (2) Welche sprachlichen Implikationen und
Vgl. Horn/Scarano: Philosophie der Gerechtigkeit; Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main, . Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, . Ekardt: Ein kritischer Blick auf die Debatte über „Umweltgerechtigkeit“, . UN: Agenda . Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung, Rio de Janeiro, , ; UN: Report of the World Commission on Environment and Development. Our Common Future (Brundtland-Report), Oslo, , . „Diesen Aufgaben müssen wir uns im Sinne der heutigen Generation und der künftigen Generationen stellen“ – so lautet das Postulat nach der Nennung einer Reihe von Aufgaben, die die Bundesregierung im Einklang mit den Vereinten Nationen für wichtig erachtet (Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der . Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung, . Mai , Berlin).
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Konnotationen sind mit dem Phraseologismus (zu)künftige Generationen im Politischen und Gesellschaftlichen verbunden? (3) Und welche Funktion hat das Argument für die Umweltmoral des Einzelnen? Diesen Fragen soll nun nachgegangen werden, um das Argument (zu)künftige Generationen näher einordnen zu können, seine Funktionen zu verstehen und seine Argumentationskraft in der philosophischen Theorie, der öffentlichkeitswirksamen Verwendung¹⁴ und dem privaten Moralgefüge des Einzelnen auszuleuchten.
1 Gerechtigkeit, Generationengerechtigkeit und (zu)künftige Generationen – Definitorische und argumentative Probleme Bevor man sich den Problemen widmen kann, die die Gerechtigkeitsdebatte durch den Einbezug zukünftiger Generationen verändern, stellt sich die Frage nach dem Grund der Berücksichtigung dieser neuen Gruppe (ungeborener) Anspruchsberechtigter. Beide Problemstellungen – Legitimation und Auswirkungen – sollen in diesem ersten Abschnitt theoretisch beleuchtet werden. Von archaischen religiösen Gerechtigkeitstheorien über die platonische gerechte Ordnung, die Gerechtigkeit als Tugend bei Aristoteles und Thomas von Aquin, das Naturrecht als Grundlage von Gerechtigkeit bei den Vertragstheoretikern, die utilitaristische Gerechtigkeit bis hin zu John Rawls’ Gerechtigkeit als Fairness – keine der traditionellen Theorien bezieht die Verantwortung gegenüber (zu)künftigen Generationen explizit ein.¹⁵ Die Verantwortung für sie ist jedoch aus heutiger Sicht kaum außer Acht zu lassen. Dieter Birnbacher benennt hierfür mit Bezug auf Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung zwei Gründe:
Unter () werden die genannten Aktionsprogramme, sowie – stellvertretend für die politische und gesellschaftliche Verwendung – Reden der Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, und einzelne bespielhaft ausgewählte Medientexte, die das Argument beinhalten, als Untersuchungsgrundlage verwendet. Dieser empirische Untersuchungsteil wird der theoretischen Ausarbeitung beiseite gestellt, da die öffentlichkeitswirksame Nutzung von Ausdrücken in bestimmten Kontexten, bezüglich ihrer Bedeutungsinhalte prägend auf diese Ausdrücke wirken und somit Bedeutungsverschiebungen möglich sind, die wiederum Einfluss auf den alltäglichen Gebrauch und Bedeutungszuschreibung des Einzelnen haben. Bei Ausdrücken, die als argumentative Konzepte genutzt werden, sollten diese semantischen Vorgänge besonders kritisch betrachtet werden. Vgl. Horn/Scarano: Philosophie der Gerechtigkeit.
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Einer [der Gründe] ist das mit der modernen Technik gewachsene Potential, das zukünftige Schicksal von Menschheit und Natur durch Handeln und Unterlassen zu beeinflussen. Was früher schicksalhaft hinzunehmen war, rückt mehr und mehr in den Umkreis menschlicher Steuerung. Ein anderer Umstand ist das Wachstum der Möglichkeiten menschlicher Voraussicht und der Früherkennung von Gefahren und Risiken. Es wird für die Akteure immer schwerer, sich zu ihrer Entlastung auf schlichtes Unwissen zu berufen.¹⁶
Das Handeln eines Menschen gewinnt demnach an zeitlicher Auswirkungskraft über seinen eigenen Tod hinaus und das Wissen darüber zwingt wiederum zur Übernahme der Verantwortung für die Konsequenzen dieser Handlungen vor dem Hintergrund einer Gerechtigkeitskonzeption,¹⁷ die wir auch zwischen gleichzeitig lebenden Menschen anwenden. Hier jedoch stellen sich Schwierigkeiten ein. Auf der Grundlage gängiger Gerechtigkeitstheorien müssen Definitionsfragen¹⁸ zum Begriff Generation, die Unmöglichkeit einer Tauschgerechtigkeit/Reziprozität,¹⁹
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main, , . Neben der hier fokussierten ökologischen Gerechtigkeit weist Jörg Tremmel zu Recht auf die Generationengerechtigkeit bezüglich finanzieller, sozialer, räumlicher/regionaler oder auch geschlechterrelevanter Themen hin. Zusätzlich zur Wirkung des Menschen über seinen eigenen Tod hinaus verweist er auf den demographischen Wandel als Grund für die Veränderung der Gerechtigkeitsdebatten und ordnet das Aufkommen der Forderung nach einer neuen Ethik den weltweiten Ökologiebewegungen in den er Jahren zu (Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, ff.). Aus Platzgründen kann die Definitionsproblematik hier nicht ausführlich dargelegt werden. Grundsätzlich ist aber je nach Einteilungszweck zwischen der ursprünglichen familiären Bedeutung, den verschiedenen gesellschaftlichen Bedeutungen (z. B. die Generation Internet), der chronologisch temporalen (der Generationenbegriff ist eine Altersbezeichnung) und chronologisch intertemporalen (eine Generation sind alle gleichzeitig Lebenden) Bedeutung zu unterscheiden.Wichtig ist bei dieser Mehrdeutigkeit, vergleichenden Untersuchungen stets nur eine der Bedeutungen zugrunde zu legen, um die Relevanz der Aussagen beurteilen zu können (ebd., ff.). Die Definition des Begriffes (zu)künftige Generation unterliegt einer weiteren Besonderheit. Teilweise sind heute lebende junge Menschen inkludiert (z. B. Birnbacher, Dieter: Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart, ), teilweise gilt die Bezeichnung nur exklusive der zum Aussagezeitpunkt lebenden Menschen (z. B. Tremmel, Jörg C.: Generationengerechtigkeit – Versuch einer Definition, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Handbuch Generationengerechtigkeit, München, , – ). Neben logischen Problemen, die die Reziprozität für eine Generationengerechtigkeit aufwirft, steht das Modell der Tauschgerechtigkeit, die Gabeverhalten auch unabhängig von reziproken Faktoren einschließt (vgl. Caillé, Alain: Anthropologie der Gabe, Frankfurt am Main, ), aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zusätzlich weit entfernt von der Realität kapitalistischer Gesellschaften und erscheint somit als doppelt unmöglich. Selbst Mauss (Schriften zum Geld, hrsg. von Hans P. Hahn, Mario Schmidt und Emmanuel Seitz, Frankfurt am Main, , ) hält den marktwirtschaftlichen Gedanken für essentiell. „Er schlägt […] dezidiert nicht vor, die
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Probleme bei der Berechnung der Anzahl von zu Berücksichtigenden oder die Frage nach der Veränderbarkeit von Bedürfnissen beachtet werden. Jörg Tremmel reagiert auf die weniger moralisch, aber theoretisch höchst relevante Frage, ob wir zukünftigen Generationen überhaupt etwas schulden, in seinem Standardwerk Eine Theorie der Generationengerechtigkeit mit der Diskussion dieser Einwände. Wenn die Voraussetzungen einer Gerechtigkeitstheorie um die Dimension der Zeit erweitert werden und obendrein ein Generationenbegriff vorausgesetzt wird, der eine Überschneidung der Leben der Betroffenen nicht vorsieht,²⁰ ist die Skepsis wider Pflichten gegenüber der Nachwelt wie „Warum soll ich etwas für die Nachwelt tun? Was hat denn die Nachwelt jemals für mich getan?“²¹ durchaus ernst zu nehmen. Der Vorzug des Ausdrucks nachrückende Generation ²² gegenüber (zu)künftige Generation würde dieses Problem zumindest aus logischer Perspektive lösen, denn hier ist das Schulden, wie bei einem Dominoeffekt, nur auf die direkt nächste Generation bezogen. Dieser Ansatz nutzt die lebenszeitlichen Überlappungen aufeinanderfolgender Generationen als kleinschrittige Untergliederung, um die weitergereichten Auswirkungen im jeweiligen Mikroschritt als Geben mit Möglichkeit des Zurückgebens der jeweils Jüngeren zu sehen. Auf der Makroebene ergibt sich durch die weitergereichten Auswirkungen kein Unterschied zur beschriebenen Problemsituation, jedoch kann für das Individuum auf diese Weise eine Tauschgerechtigkeit hergestellt werden.²³ Eine Definition (zu)künftiger Generationen inklusive zeitlicher Über-
marktwirtschaftlichen Steuerungsprozesse der modernen Gesellschaft durch mit Hilfe der Gabe gesteuerte Allokationsmechanismen zu ersetzen; ihr gleichsam eine Gabenwirtschaft überzustülpen“ (Schmidt, Mario: Wampum und Biber: Fetischgeld im kolonialen Nordamerika. Eine mausssche Kritik des Gabeparadigmas, Bielefeld, , f.). Es handelt sich hier um den chronologisch intertemporalen Gerechtigkeitsbegriff (Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, ), der in ökologischen Debatten häufig genutzt wird. Ebd., . Ebd. Die Frage „Was die vorherige Generation für mich getan?“ kann allerdings ebenso von der ersten betroffenen Generation gestellt werden, was Tremmel nicht berücksichtigt. Die erste Generation, von der Pflichten gegenüber der Nachwelt eingefordert werden können, ist im Vergleich zu ihrer vorausgegangenen (nicht behelligten) Generation im Nachteil (im Sinne von Gerechtigkeit als Gleichheit). Wenn man allerdings mit einberechnet, dass sich die Auswirkungskraft des Menschen auf die Umwelt verstärkt hat sowie das Bewusstsein darüber gestiegen ist, muss von dieser ersten geforderten Generation möglicherweise auch mehr verlangt werden, als von ihrer Vorgängergeneration. Probleme sieht Adloff vor allem für den Beginn intergenerationeller Pflichten in der verbreiteten marktwirtschaftlichen Gesellschaftsform: „Eine vom Wachstum abhängige Gesellschaft kann sich die Rücknahme des Wachstums nur als Katastrophe vorstellen“ (Adloff, Frank: Es gibt schon ein richtiges Leben im falschen. Konvivialismus – zum Hintergrund
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lappung würde ein ähnliches Ergebnis erreichen,²⁴ allerdings entsteht hierbei keine begriffliche Trennung zwischen der Gruppe mit Möglichkeit zur Tauschgerechtigkeit und jener ohne. Mit dem kleinschrittigen Modell der nachrückenden Generationen wird auch versucht das Nicht-Identitäts-Dilemma von Derek Parfit einzuschränken.²⁵ Dieses beschreibt den Umstand, dass man rechtlich nur einem zukünftigen Wesen mit einer bestimmten Identität etwas schulden kann, welches auch noch existieren würde, wenn die schadhafte Handlung rückgängig gemacht werden würde. Parfit argumentiert damit, dass sich durch ein ökologisch schlechtes Verhalten heutiger Menschen, anstelle eines ökologisch guten Verhaltens (z. B. die Nutzung des eigenen PKWs statt der öffentlichen Verkehrsmittel/des Fahrrads oder das Einschlagen eines anderen energiepolitischen Weges), die individuelle Geschichte so verändern könnte, dass die zukünftige Generation nicht aus denselben Individuen bestehen würde, wie ohne die schlechten Handlungen. Insofern diese Individuen ihre Bedürfnisse angemessen erfüllen könnten, hätten sie kein Recht darauf, ihre Vorfahren für deren schlechtes ökologisches Verhalten anzuklagen, denn auf der Grundlage, dass ein bedürfnisbefriedigendes Leben besser ist als kein Leben, ist das Verhalten ihrer Vorfahren dafür verantwortlich, dass sie überhaupt leben – und nicht andere Menschen mit einer anderen Identität und anderen Genen. Aus dieser Perspektive beschreibt Parfit das Problem der Unmöglichkeit, eine handlungsbezogene Schuld einzuklagen, ohne welche der Kläger nicht existieren würde. Unter der Prämisse, zunächst nur die lebenszeitüberschneidende nachrückende Generation berücksichtigen zu müssen, hätten nun Handlungen, die in der überlappenden Lebenszeit der Betroffenen getätigt werden, keinen zwingenden Einfluss auf die Existenz der Jüngeren und würden vom Nicht-Identitäts-Dilemma ausgenommen werden müssen und lösen dieses somit auf. Im deutschsprachigen Forschungsbereich wird dieses Problem von Jörg Tremmel und Andrea Heubach behandelt,²⁶ wobei Tremmel eine weitere einleuchtende Kritik formuliert: Das Nicht-Identitäts-Dilemma setzt stillschweigend einen Identitätsbegriff voraus, der
einer Debatte, in: ders./Leggewie, Claus (Hrsg.): Les Convivialistes: Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld, , hier mit Bezug auf Latouche, Serge: Degrowth, in: Journal of Cleaner Production , , – , hier: ). Birnbacher, Dieter: Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit und das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung /, , – . Parfit, Derek: Reasons and Persons, Oxford, . Tremmel: Generationengerechtigkeit – Versuch einer Definition; Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit; Heubach, Andrea: Generationengerechtigkeit – Herausforderungen für die zeitgenössische Ethik, Göttingen, .
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auf einem kulturellen Leib-Seele-Modell basiert, das beispielsweise im christlichen Raum geteilt wird, jedoch nicht in allen Kulturen. Die Identität muss nicht zwingend an einen bestimmten Körper gebunden oder rein genetisch bestimmt sein.²⁷ Ebenso ist auch aus wissenschaftlicher Perspektive die Identitätstheorie in Bezug auf die Geist-Gehirn-Korrelation nicht hinreichend verifiziert,²⁸ um dem Nicht-Identitäts-Dilemma als Argument dienen zu können. Ein zweites großes Problem, vor dem die Generationenethik bei der Übertragung von traditionellen Gerechtigkeitsmodellen auf zukünftige Generationen steht, ist die Unmöglichkeit die Anzahl der Anspruchseigner zu berechnen. Wenngleich die häufig gestellte Frage danach, was geschuldet/verteilt werden muss, zurückgestellt wird: Weder der klassische Utilitarismus, noch Rawls’ ‚Schleier des Nichtwissens‘ kommen ohne die Bestimmung dieses Parameters aus und müssten annäherungsweise auf berechenbare Größen ausweichen.²⁹ Selbst bei der Annahme einer möglichst großen Zahl von Menschen in Rawls’ Urzustand würde das Modell aber an weiteren Parametern scheitern.³⁰ Zum einen sind dies die (sich möglicherweise verändernden) menschlichen Bedürfnisse und zum anderen die vielleicht fälschlicherweise vorausgesetzte Annahme der immer weiter steigenden Wohlfahrt durch technischen Fortschritt. Birnbacher, Barry und Tremmel kritisieren die rawlssche Grundannahme einer optimistischen Wachstumsprämisse und mahnen die Integration eines Wohlfahrtsverlusts aufgrund von ökologischer Zerstörung an.³¹ Gerade wenn ökologische Veränderungen sichtbar werden und eine Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen gesellschaftlich gefordert wird, kann dies nicht ohne Konsequenz für die Wohlfahrtsentwicklung gesehen werden. Auch wenn man davon ausgeht, dass der Mensch eine technische Möglichkeit findet, nicht mehr auf knapper werdende fossile Energieressourcen angewiesen zu sein, die in aktuellen politischen Debatten das ökologische Hauptproblem zu sein scheinen, ist zu beachten, dass sich wenigstens eine Verschiebung in der Bewertung von Gütern (allgemein zugängliches Gut – seltenes Luxusgut) ereignen Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, . Vgl. Schlicht, Tobias: Erkenntnistheoretischer Dualismus. Das Problem der Erklärungslücke in Geist-Gehirn-Theorien, Paderborn, , ff.; Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart, , ff. Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, hrsg. von James Henderson Burns, Oxford, ; Mill, John Stuart: Utilitarismus, übers. und hrsg. von Manfred Kühn, Hamburg, ; Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, . Vgl. Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, . Birnbacher: Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit und das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen; Barry, Brian: Theories of Justice. A Treatise on Social Justice, London/Sidney/Tokio, ; Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit.
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kann. Diese Verschiebung betrifft den Beschaffungsaufwand von (Natur‐)Gütern und die Definition von Luxus. Zusätzlich zur Veränderung des Verständnisses von Luxus könnten sich auch die generellen Bedürfnisse der Menschen aufgrund von Bewertungsverschiebungen ändern. Dies ist abhängig von der Frage, ob etwa nur von Grundbedürfnissen gesprochen wird, oder auch über weitere Bedürfnisse des Wohlstands – was in die Frage nach einer Spezifizierung des Geschuldeten und einer Definition von Wohl mündet. Wohl kann als die Summe aus Heil, Gesundheit und Glück verstanden werden.³² Aus dieser Definition ist Heil ³³ als religiöser Ausdruck für die Schuldnerleistung zwischen Generationen auszuklammern. Gesundheit kann wiederum im Sinne von Voraussetzungen für ein gesundes Leben geschuldet werden – dies betrifft beispielsweise ökologische Themen, wie die Wasser- und Luftverschmutzung oder die Giftstoff- und Nuklearbelastung. Ökonomisch impliziert dies auch die Forderung, gesundheitsunbedenkliche Produkte herzustellen. Dank des heutigen Wissenstandes können wir davon ausgehen, dass wir gesundheitsschädliche Handlungen immer besser und früher erkennen und vermeiden können. Isoliert betrachtet bietet das gesundheitliche Wohl relativ klare Handlungsmaximen der Verantwortungsübernahme. In der Kombination mit anderen Bedeutungen von Wohl werden allerdings schnell Negativkorrelate bemerkbar, die gerade aus ökonomischer Sicht eine Prioritätenabwägung erfordern. Beispielhaft hierfür ist die Energiegewinnung aus Atomkraft, die ohne Zweifel einen wirtschaftlichen Fortschritt vorangetrieben hat, durch welchen das menschliche Wohl heute und in Zukunft in einigen Bereichen positiv beeinflusst wurde und wird. Allerdings sind sowohl Unfälle in den Werken – wie die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima beweisen –, aber vor allem auch die Entsorgung der verbrauchten Brennstäbe eine gesundheitliche Belastung für die zukünftigen Menschen. Die Entscheidung, Atomkraft zur Energiegewinnung zu nutzen, unterliegt nicht der Unwissenheit um die Probleme der Entsorgung und die gesundheitlichen Risiken, sondern einer ökonomischen Prioritätenabwägung, die nur die Gegenwart berücksichtigt. Dem zugrunde liegen ökonomische Maßstäbe, die in jüngster Zeit auch an den drittgenannten Begriff der Definition von Wohl angelegt werden: das Glück.
Sokol, Thomas: Wohlfahrt, Wohlfahrtsstaat, in: HWPh, Bd. : W–Z, Darmstadt, , – , hier: . „Heil bezeichnet in der christlichen Überlieferung den Gesamtausdruck des religiös vermittelten Gutes“ (Lohff, Wenzel: Heil, Heilsgeschichte, Heilstatsache, in: HWPh, Bd. : G–H, Darmstadt, , – , hier: f.).
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Glück ist ähnlich wie das Wohl inhaltlich schwierig zu fixieren. Als sozialwissenschaftlicher, psychologischer und in neuerer Zeit auch als ökonomischer Forschungsgegenstand steht das Glück als erstrebenswerter Zustand für alle (auch zukünftigen) Menschen im Zentrum des Happiness Research. Eine unüberschaubare Zahl an Definitionen ringen um die Bedeutung von Happiness. Neben der Berufung auf einen der ältesten Glücksforscher, Aristoteles, handelt es sich meist um empirische Untersuchungen zur Lebensqualität und Zufriedenheit.³⁴ Die Ausdrücke Glück und Wohl werden hierbei in der deutschen Sprache häufig synonym genutzt.³⁵ Tremmel setzt Wohl als Überbegriff über das Glück,³⁶ da letzteres häufig vor allem den kurzfristigen Flow oder Kick meint, Wohl hingegen die ganz allgemeine Lebenssituation anspricht.Weder die Synonymität, noch eine Hierarchisierung trägt aber zur inhaltlichen Fixierung der Begriffe bei. Was genau schulden wir, wenn wir Wohl schulden? Ein Ansatz, der zurzeit vor allem im politischen und ökonomischen Bereich Zuspruch findet, ist der Kapitalienansatz ³⁷, der alle Güter (die zum menschlichen
Vgl. Frey, Bruno S./Frey Marti, Claudia: Glück – Die Sicht der Ökonomie, Zürich/Chur, . Diese begrifflichen Unschärfen resultieren aus der Übersetzung von Happiness Research in Glücksforschung, wobei Glück die größere semantische Nähe zu luck aufweist und happiness vielleicht besser mit Wohl oder Zufriedenheit zu übersetzen wäre. Vgl. Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, . Ausführliche Diskussionen des Ansatzes im Zuge der Nachhaltigkeitsforschung finden sich bei: Knaus, Anja/Renn, Ortwin: Den Gipfel vor Augen. Unterwegs in eine nachhaltige Zukunft, Marburg, ; Costanza, Robert u. a.: Einführung in die ökologische Ökonomik, Stuttgart, ; Grosseries, Axel: The egalitarian case against Brundtland’s sustainability, in: GAIA /, , – ; Ott, Konrad/Döring, Ralf: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg, ; Hauser, Richard: Generationengerechtigkeit, Volksvermögen und Vererbung, in: Böhning, Björn/ Burmeister, Kai (Hrsg.): Generation und Gerechtigkeit, Hamburg, , – und bei Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Der Kapitalienansatz und die Kapitalumwandlung gehen ursprünglich auf Pierre Bourdieu zurück, der Kapitalaneignung (ökonomischen, kulturellen und auch sozialen Kapitals) als „Aneignung sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit“ (Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt Sonderband ), Göttingen, , – , hier: ) bezeichnet und fordert, dass sich eine „allgemeine ökonomische Praxiswissenschaft […] deshalb bemühen [muss], das Kapital und den Profit in allen ihren Erscheinungsformen zu erfassen und die Gesetze zu bestimmen, nach denen die verschiedenen Arten von Kapital (oder was auf dasselbe heraus kommt, die verschiedenen Arten von Macht) gegenseitig ineinander transformiert werden“ (ebd., ). Bourdieu geht es allerdings um die Anerkennung des sozialen Kapitals (Ressourcen aus sozialen Beziehungen) als gesellschaftlicher Wert, ohne welchen das gesellschaftliche Leben dem Glücksspiel „Roulette“ (ebd., ) gleichen würde. Die Verrechnung verschiedener Kapitalarten bedeutet für ihn eine Berücksichtigung sozialer Strukturen, ökologisches Kapital – oder Naturkapital – wird von ihm nicht besprochen. Ebenso warnt er vor falscher (rein ökonomischer) Verwendung des Kapitalbegriffs, wie er in der
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Wohl beitragen) numerisch definiert und somit die Möglichkeit der Verrechnung zulässt. Über die Modalitäten der Monetarisierung des Naturkapitals entbrennen hierbei wissenschaftliche Diskussionen. Wirtschaftlich scheint sich durchzusetzen: Wer ein Stück Regenwald abholzt, muss eine äquivalente Leistung erbringen, die zum Wohl der Zukünftigen beiträgt; Wer die Luft mit CO2 belastet, muss ebenfalls etwas leisten, was diese Handlung wieder aufwiegt – zumeist wird an monetäre Leistungen gedacht. Das Verrechnungsdenken dient dazu, alle Hinterlassenschaften gemeinsam in einer Bilanz zu erfassen. Es mündet in ein Bezahlungsdenken und – was problematisch daran ist – in ein gewissenerleichterndes Substitutionsdenken. Da alle Güter mit Beitragsleistung zum Wohl, auch die technischen und finanziellen, auf diese Weise einen Verrechnungswert und einen Gegenwert besitzen, ist der Schritt nicht weit, Ersatzleistungen aus weniger schmerzlichen Bereichen zu liefern, anstatt generationengerecht zu denken und zu handeln. Konrad Ott und Ralf Döring beschreiben aus diesem Grund in der Theorie einer starken Nachhaltigkeit den Unterschied zwischen Naturkapital und anderen Arten von Kapitalgütern und sprechen sich gegen eine Substituierbarkeit zwischen den Kapitalarten aus.³⁸ Tremmel kritisiert diese radikale Position und präferiert zunächst einen vermittelnden Ansatz, wobei er betont, dass bei dieser Diskussion leider außer Natur- und Sachkapital alle anderen Kapitalien vernachlässigt werden.³⁹ Ebenso bedeutet selbst eine Einigung bei der Verrechnung noch nicht, dass die Frage nach der jeweiligen Höhe des Wertes der einzelnen Kapitalien leicht zu klären ist.⁴⁰ Der Kapitalienansatz kann demnach die Frage nach dem Geschuldeten nicht beantworten. Kapital ist im Zuge der Generationengerechtigkeit kein adäquater Austauschwert für Wohl. Eine bessere Lösung wäre es, das Wohl direkt zu berechnen. Für Tremmel überzeugt hier der HDI (Human Development Index), der von Mahbub ul Haq für die Vereinten Nationen entwickelt wurde und neben dem
wirtschaftspolitischen Öffentlichkeit heute aber genutzt wird: „Die Wirtschaftstheorie hat sich nämlich ihren Kapitalbegriff von einer ökonomischen Praxis aufzwingen lassen, die eine historische Erfindung des Kapitalismus ist. Dieser wirtschaftswissenschaftliche Kapitalbegriff reduziert die Gesamtheit der gesellschaftlichen Austauschverhältnisse auf den bloßen Warenaustausch, der objektiv und subjektiv auf Profitmaximierung ausgerichtet und vom (ökonomischen) Eigennutz geleitet ist“ (ebd., ). Bourdieu spricht sich eindeutig gegen einen „Ökonomismus [aus], der alle Kapitalformen für letztlich auf ökonomisches Kapital reduzierbar hält“ (ebd., ). Ott/Döring: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, ff. ul Haq, Mahbub: Reflections on Human Development, Oxford/New York, , und .
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Lebensstandard auch die Lebenserwartung und den Bildungsgrad berücksichtigt.⁴¹ Die Frage nach den Inhalten des Wohls wirft, wie zu erkennen ist, eine Reihe weiterer Fragen auf, die nicht nur theoretischer Natur sind. Sie erschweren vor allem eine Übertragung der Gerechtigkeit gegenüber (zu)künftigen Generationen auf die Praxis – sowohl was politische, als auch individuell alltägliche Handlungsgrundsätze angeht. Ein weiterer, häufig genannter Vorwurf, auf den eine Theorie der Generationengerechtigkeit reagieren muss, ist, dass sie von den heute Lebenden altruistisches Verhalten fordert.Wie auch immer man die Debatte theoretisch unterfüttert, das Reziprozitätsproblem bleibt – wahrscheinlich aufgrund der zeitlichen Distanz zwischen Ursache und Auswirkung – meist hartnäckig bestehen. Überdies kann jeder erahnen: Generationengerechtigkeit bedeutet in praktischer Umsetzung die Forderung nach einer Verhaltensveränderung, die die über lange Zeit gewachsenen Normalitätsvorstellungen der Menschen in den Industrienationen angreift. „Tägliche Autofahrten und regelmäßige Urlaubsflüge bilden in modernen Industriestaaten eben eine zumeist unhinterfragte ‚Normalität‘, obwohl sie natürlich keineswegs per se unabweisbar zum menschlichen Leben gehören.“⁴² Die implizit geforderte Aufgabe dieses Luxus, den heutige gegenüber vergangenen Generationen besitzen, für andere zukünftige Menschen – die, analog gedacht, möglicherweise in noch größerem Luxus schwelgen könnten – verstärkt den Unmut. Muss man aber tatsächlich altruistisch handeln, um nicht unmoralisch zu sein? Tremmel entgegnet mit einer terminologischen Unterscheidung zwischen egoistischem und eigennützigem Verhalten.⁴³ Beide Verhaltensweisen verschaffen dem Handelnden einen Vorteil, die Unterscheidung aber äußert sich vor allem in der Konsequenz für den Anderen, der bei eigennützigem Verhalten positive oder keine Auswirkungen erfährt. Bei einem egoistischen Verhalten hingegen wird der Vorteil des Handelnden auf Kosten des Anderen erlangt. Es würde nun also genügen, eigennütziges, un-egoistisches (anstelle von altruistischem) Verhalten zu fordern. Dass die Auswirkungen dieser terminologischen Änderung die Grundordnung unseres Wirtschaftssystems zum Positiven verändern würden, steht außer Frage. Man könnte dies sogar versuchen gesetzlich zu regeln. Was aber ist mit dem individuellen Verhalten? Kann ein Mensch permanent zwischen Egoismus und Ei-
Ein ausführlicher Vergleich verschiedener Indices liefert Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, . Ekardt: Ein kritischer Blick auf die Debatte über „Umweltgerechtigkeit“, . Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, .
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gennützigkeit unterscheiden? Handeln Menschen überhaupt tatsächlich bewusst egoistisch? Oder werden eher Parameter wie Gewohnheit, Bequemlichkeit, Verdrängung und räumliche oder zeitliche Distanz berücksichtigt? – Ekardt bestimmt diese Faktoren als „problematische emotionale Grundstrukturen“⁴⁴. Die Frage der moralischen Praxis kann von einer Theorie der (Generationen‐)Gerechtigkeit nicht beantwortet werden. Dies bedarf phänomenologisch-psychologischen Beistands. Die Funktionalität des Argumentes der (zu)künftigen Generationen in Bezug auf die Praxis des Einzelnen wird folgend in Abschnitt (3) besprochen. Doch zunächst soll geklärt werden, worauf implizit Bezug genommen wird, wenn das Argument der (zu)künftigen Generationen in der öffentlichen Praxis ausgesprochen wird.
2 Die Verwendung des Argumentes (zu)künftige Generationen in Politik und Gesellschaft – Implikationen und Konnotationen Die einleitend angesprochenen Aktionsprogramme der UN-Konferenzen und die ausgewählten Reden haben eines gemeinsam: Sie nutzen die (zu)künftigen Generationen als Argument für Handlungsanleitungen, Forderungen oder als implizite Antwort auf mögliche Sinnfragen im Umweltschutz. Sie bekunden eine Notwendigkeit zur globalen Handlungsveränderung und verwenden die Zukünftigen als Projektionsfläche von heutigen Veränderungen zugunsten von morgen, die unter der Flagge der Nachhaltigkeit – in all ihren Definitionsarten – durchgeführt werden sollen. Im Gegensatz zur philosophischen Diskussion um eine Theorie der Generationenethik und -gerechtigkeit sind diese Texte medial repräsentiert und werden rezipiert – prägen also den öffentlichen Diskurs und wirken somit gesellschaftlich meinungsbildend im Unterschied zum oben (1) beschriebenen Fachdiskurs. Die öffentlichkeitswirksame Nutzung prägt somit auch auf die unter (3) beschriebenen Funktionen des Argumentes für jeden Einzelnen. Die hier beispielhaft untersuchten Programme, Reden und Medientexte sind selbstverständlich – ihrer jeweiligen Textsorte geschuldet – teilweise adressiert und thematisch zugeschnitten, teilweise allgemein gehalten.⁴⁵ Gemein ist ihnen
Ekardt: Ein kritischer Blick auf die Debatte über „Umweltgerechtigkeit“, . Die Textgrundlage der Untersuchung beinhaltet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. a), das Aktionsprogramm Agenda des Erdgipfels in Rio de Janeiro , das Aktionsprogramm Die Zukunft, die wir wollen der Nachfolgekonferenz Rio+ in Rio de Janeiro, die Reden der Bundeskanzlerin auf der Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung und , ihre Reden beim Deutschen Weltbankforum (. . ) und beim
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jedoch, dass sie deskriptive Elemente beinhalten, die einen Zustand beschreiben, auch wenn sie an ein Ereignis, wie eine Konferenz, angeknüpft sind. Diese deskriptiven Elemente stellen Errungenschaften und Defizite der beschriebenen Zustände und der beteiligten Akteure dar. Sie sind wiederum mit Forderungen verbunden, die an die Politik und die Gesellschaft gerichtet sind. Im Falle von politischen Reden treten diese Forderungen häufig auch als Selbstverpflichtungen zutage. Grundsätzlich sind aber neben den jeweils besprochenen Themen und Subthemen vor allem die Ziele beachtenswert, die mit den einzelnen Forderungen verbunden sind. Zur Einordnung des Argumentes der (zu)künftigen Generationen ist zu überprüfen, welches Ziel das Hinzuziehen der Zukünftigen stützen soll und in welcher textinternen Verbindung es zu anderen argumentativen Sequenzen steht.⁴⁶ Ebenso gilt es, einen Blick auf die zugrundeliegende Definition von Gerechtigkeit und (zu)künftiger Generation zu werfen, insofern diese zu erkennen ist. Gesetze/Programme: Laut dem Grundgesetz der BRD steht der Staat in einer Verantwortungsbeziehung zu den zukünftigen Generationen, die sich auf die Natur⁴⁷ als Lebensgrundlage bezieht: Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.⁴⁸
Deutschen Handelskongress des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels (. . ). Im Weiteren wurden für den allgemeinen Gebrauch des Argumentes in den Medien diverse Artikel aus dem Spiegel, der taz, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung betrachtet. Die Auswahl der Medientexte erfolgte aufgrund der Erwähnung der (zu)künftigen Generationen und der thematischen Ausrichtung (Umweltschutz und Nachhaltigkeit). Texte, die sich mit rein finanziellen Zielen beschäftigen, wurden aussortiert, allerdings ergibt sich nach sporadischer Durchsicht eine ähnliche Verwendung des gesuchten Argumentes. Zur Analyse ist es hilfreich, die Texte mit thematischen und subthematischen Überschriften zu versehen, um die thematische Entfaltung der Texte so knapp wie möglich darstellen zu können (vgl. Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin, ; van Dijk, Teun A.: Macrostructures. An Interdisciplinary Study of Global Structures in Discourse, Interaction, and Cognition, New Jersey, ). Die in den verschiedenen Abschnitten genannten Ziele sind gesondert zu betrachten und mit den jeweiligen Begründungen zu verknüpfen. Aufgrund des Textumfanges finden hier allerdings nur direkte Nennungen der (zu)künftigen Generationen Erwähnung. Natur wird hier als Natur für den Menschen verstanden, was auf ein anthropozentristisches Naturverständnis hindeutet. Ebenso wäre ein Verständnis von Natur möglich, das Naturschutz vor dem Menschen präferiert (vgl. Piechocki, Reinhard: Genese der Schutzbegriffe. . Naturschutz (), in: Natur und Landschaft /, , – ). GG Art. a, .
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Die Ausgestaltung der Verantwortung unterliegt hierbei der darauffolgenden Gesetzgebung.⁴⁹ Im Aktionsprogramm Agenda 21 sind solche übergeordneten Richtlinien ebenfalls zu finden: Zu den Zielen dieser Strategie sollte es gehören, eine sozialverträgliche wirtschaftliche Entwicklung bei gleichzeitiger Schonung der Ressourcenbasis und der Umwelt zum Nutzen künftiger Generationen sicherzustellen.⁵⁰
Wie diese Entwicklung aber aussieht und welche Ressourcen in welchem Maße geschont werden sollen, d. h. wie die Generationengerechtigkeit praktisch umgesetzt werden kann, ist hier nicht ersichtlich. Anschließend wird ganz allgemein von den finanziellen „Kosten [gesprochen, um diese nicht an] andere Teile der Gesellschaft, andere Länder oder künftige Generationen weiterzugeben“.⁵¹ Im Weiteren addieren sich zu den Finanzen noch „Technologien“, die Entwicklungsländern bereitgestellt werden sollen, „um der gesamten Menschheit [zu] dienen, einschließlich der künftigen Generationen“.⁵² Im Aktionsprogramm Die Zukunft, die wir wollen (nachfolgend TFWW) von 2012 zeigt die gemeinsame Vision zu Beginn, dass alle Menschen zusammenarbeiten müssen, „um die Zukunft, die wir wollen, für die heutigen und die künftigen Generationen zu sichern“.⁵³ Auffällig erscheint hier die häufige Erwähnung der Trias Ökonomie, Ökologie und Soziales mit steigender Tendenz von 1992 (Agenda 21) bis 2012, was auf die zugrundeliegende (wirtschaftlich geprägte) Definition von Nachhaltigkeit schließen lässt: Wir sind überzeugt, dass es für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Bedürfnissen der heutigen und der künftigen Generationen notwendig ist, die Harmonie mit der Natur zu fördern.⁵⁴
Ökonomisches Wachstum rückt hierbei unter dem Mantel der Nachhaltigkeit in die Nähe von ökologischen und sozialen Zielen, was von Umwelt- und Klima Kritik an dieser Verantwortungsverschiebung übt Erich Bierhals: „Aber in Wirklichkeit ist die Frage nur dorthin verschoben worden, wo über Nutzung der Landschaft entschieden wird, die mit den Naturschutzzielen nicht oder nur schwer vereinbar sind; dorthin wo eine Abwägung stattfindet“ (Die falschen Argumente? Naturschutz-Argumente und Naturbeziehung, in: Natur und Kultur /, , – , hier: ). UN: Agenda , . UN: Agenda , . Ebd., . UN: Die Zukunft die wir wollen (The Future We Want). Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung, Rio de Janeiro, , . Ebd., .
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schützern häufig kritisiert wird.⁵⁵ Im Weiteren geht es um die „Verbesserung der Ernährungssicherheit und des Zugang zu ausreichenden, gesundheitlich unbedenklichen und nährstoffreichen Nahrungsmitteln für die heutigen und die künftigen Generationen“⁵⁶ sowie um die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Ozeane und Meere, deren „Ökosystem geschützt und wiederhergestellt“⁵⁷ werden soll. Aufgrund der Wendung heutige und künftige Generationen, die im Aktionsprogramm von 2012 wiederholt zu lesen ist, scheint die definitorische Grundlage Zukünftige sind Ungeborene zur Anwendung gekommen zu sein. Eine wichtige Nennung der künftigen Generationen erfolgt in einem Unterkapitel zum Klimawandel: Wir erinnern daran, dass das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vorsieht, dass die Vertragsparteien auf der Grundlage der Gerechtigkeit und entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und ihren jeweiligen Fähigkeiten das Klimasystem zum Wohl heutiger und künftiger Generationen schützen sollen.⁵⁸
Im Erwähnen von Gerechtigkeit (hier nicht intergenerationell gemeint) zeigt sich das Leistungsfähigkeitsprinzip, bei welchem jeder seinen Beitrag nach seiner Verantwortung und seinen Fähigkeiten ausrichten kann. Gerecht gegenüber den Zukünftigen scheint hingegen grundsätzlich ein gleich oder besser zu sein, was anhand der oben genannten Termini Verbesserung oder wiederherstellen zu erkennen ist. Die Generationengerechtigkeit selbst wird ausnahmslos als geforderte Solidarität zwischen den Generationen beschrieben. Versuche die verwendeten Ausdrücke Nutzen, Bedürfnis und Wohl, die in der Forschung zentrale Aspekte der Generationengerechtigkeitsdiskussion sind, näher zu definieren, werden aber an keiner Stelle der Programme vorgenommen. Der Anwendungsbereich des Argumentes (zu)künftige Generationen in den Aktionsprogrammen erstreckt sich insgesamt von deren natürlicher Lebensgrundlage, Nutzen, nachhaltiger Zukunft, Bedürfnissen und Zugang zu Nahrungsmitteln bis hin zu klimabedingtem Wohl der Zukünftigen, jedoch ohne definitorischen Tiefgang. Politische Reden: Die untersuchten Reden von Bundeskanzlerin Merkel sind ausnahmslos epideiktisch-politische Reden im genus demonstrativum. Sie stellen
Vgl. Ekardt, Felix: Klimaschutz nach dem Atomausstieg. Ideen für eine neue Welt, Freiburg, , f. UN: Die Zukunft die wir wollen (The Future We Want), f. Ebd., . Ebd., .
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Handlungsanweisungen für den weiteren Weg vor, die in der politischen Vergangenheit debattiert und beschlossen wurden, dienen aber keiner aktuellen Entscheidungsfindung. Besonders interessant erscheinen die beiden Reden vor dem Rat für Nachhaltige Entwicklung in zwei aufeinanderfolgenden Jahren.⁵⁹ Im Jahre 2012 spricht Merkel über das Verständnis von Wachstum und Nachhaltigkeit, die Konferenz in Rio 2012, Haushalts- und Finanzpolitik, unsere Lebensweise, sie erwähnt nahezu alle Umwelt- und Klimaprobleme, spricht von der Bringschuld von Technologien, der Energieproblematik und dem Ziel Deutschlands, Vorreiter zu sein beziehungsweise zu werden. Als übergreifende und langfristige Ziele nennt sie ein qualitatives Wachstum bei geringem Ressourcenverbrauch, Lebensqualität (heute und zukünftig) und die Einebnung des Nord-Süd-Gefälles (bezüglich der Lebensmittel). Als Gründe bringt sie das „Leid in Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum“, die Tatsache, dass wir „nichts Schreckliches erleben“ wollen, dass Deutschland „weltweiter Vorreiter“ sein möchte, aber auch die „Preisentwicklung“, die wir nicht mitgehen wollen sowie die „Kosten für künftige Generationen“ ins Gespräch. Ihre Argumente stammen aus dem Bereich der Finanzen, des persönlichen Empfindens, des Prestiges und aus dem Zwischenmenschlichen. Das langfristige Ziel Lebensqualität und Chancen der Zukünftigen tritt ebenfalls in der Funktion eines Grundes auf, nämlich für weitere kurz- und mittelfristige Ziele, wie die „Green Economy“ oder die „Verfolgung des gesellschaftlichen Entwicklungspfades der Kultur der Nachhaltigkeit“. Bezüglich der (zu)künftigen Generationen spricht sie von deren Chancen und Kosten, die sie nicht tragen sollen: ein [qualitatives] Wachstum, das die Lebensqualität der heutigen Generationen verbessert, ohne die Chancen der nächsten Generationen zu beeinträchtigen. […] Denn wer sich dauerhaft mehr leistet, als er erwirtschaften kann, wer dauerhaft mehr verbraucht, als er einnimmt, der tut nichts anderes, als auf Kosten zukünftiger Generationen zu leben, der zieht eben einen ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. […] Nur so [Wachstumsimpulse setzen, aber nicht im Gegensatz zur Konsolidierung der Haushalte] kann die Rede davon sein, dass wir Zukunft nicht verbrauchen, dass wir nicht auf Kosten künftiger Generationen leben.⁶⁰
Merkel, Angela: Rede anlässlich der . Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung, . . ; Rede anlässlich der . Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung, . . . Merkel: Rede anlässlich der . Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung.
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Synonym zur angesprochenen Entwicklung der Kosten für die Zukünftigen, die nicht entstehen dürfen, stehen die Ausdrücke Zukunft verbrauchen und sich mehr leisten, als erwirtschaften, sowie der Ausdruck ungedeckter Wechsel. Auffällig ist hierbei, dass das Argument – obwohl die Rede einige Themen aus dem Umweltbereich beinhaltet – hauptsächlich im finanziellen Rahmen genutzt wird. Angesprochene Subthemen zu Umwelt und Nachhaltigkeit sind dem Bereich Wirtschaft und Finanzen untergeordnet. Das Ziel qualitatives Wirtschaftswachstum steht aufgrund seiner Präsenz in der Rede auch über dem Ziel Lebensqualität – wie oben zu erkennen ist, wird sogar davon ausgegangen, dass Wachstum eine Voraussetzung für Lebensqualität ist. Die (zu)künftigen Generationen werden hier im übergeordnet dargestellten Bereich (der finanziellen Nachhaltigkeit) als Letztargument genutzt,⁶¹ wobei die Beständigkeit der Wachstumsgläubigkeit stillschweigend vorausgesetzt und die rundum positive Konnotation des Argumentes trotz thematischer Variation übertragen wird. In ihrer Rede im darauffolgenden Jahr 2013 dominiert nicht mehr das Thema qualitatives Wachstum, sondern der Begriff des Maßes. Es geht Merkel nun noch einmal vermehrt um finanzielle Nachhaltigkeit. Die wirtschaftliche Stabilität, die Demographieprobleme, der Klimawandel (allerdings aus wirtschaftspolitischer Perspektive), die Renten, Corporate Social Responsibility, die wirtschaftliche Globalisierung, die Definition von Lebensqualität (als Erweiterung des Wachstumsbegriffs) – all diese Themen und das „Eintreten für mehr Nachhaltigkeit erfordern von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Maß und Mut“.⁶² Die Zukünftigen werden hier ebenfalls erwähnt. Sie erscheinen aber nicht im Zusammenhang mit dem ohnehin seltenen ökologischen Bezug – auch um finanzielle Nachhaltigkeit geht es hier nicht. Im Zentrum stehen Steuerpolitik und Strukturmaßnahmen zu Gunsten von Stabilität und Wachstum. Es geht also darum, dass wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt, den wir uns selbst gegeben haben, einhalten. Deshalb ist es wichtig, dass wir Strukturmaßnahmen durchführen – nicht nur Steuererhöhungen oder Einsparungen bei Menschen, die ohnehin schon wenig haben –, die die Wettbewerbsfähigkeit so weit verbessern, dass die Einnahmen wieder steigen. Das ist weit mehr als nur Haushaltskonsolidierung. Dieser Aufgabe müssen wir uns im Sinne der heutigen Generation und der zukünftigen Generationen stellen.⁶³
Das Argument der (zu)künftigen Generationen wird hier für weit mehr als die Thematik der Nachhaltigkeit genutzt, nämlich für genuin wirtschaftliche Prinzi Deppermann, Arnulf: Glaubwürdigkeit im Konflikt. Rhetorische Techniken in Streitgesprächen. Prozessanalysen von Schlichtungsgesprächen, Radolfzell, , . Merkel: Rede anlässlich der . Jahreskonferenz des Rates für Nachhaltige Entwicklung. Ebd.
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pien, wie die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit eines Industrielandes. Eine solche Verschiebung oder Erweiterung ist ein typischer Verlauf für ohnehin vage konzeptualisierte Begriffe in ökologischen Debatten.⁶⁴ Medientexte: In den Medien lassen sich, neben den Berichten über politische Statements wie die obigen, auch sehr kritische Stimmen finden. Das Argument (zu)künftige Generationen wird dort nicht nur zur Stützung von Forderungen, sondern auch von Bewertungen des politischen/gesellschaftlichen Handelns herangezogen. „Es ist sehr bedenklich, […] dass wir CO2-Gräber an[legen], die künftige Generationen überwachen müssen“⁶⁵ oder „Es ist erschreckend, wie in Deutschland die exportorientierte Fleischproduktion die Ressourcen künftiger Generationen verschmutzt“.⁶⁶ Überdies ist festzustellen, dass eine deutlich konkretere Ausgestaltung dessen vorgenommen wird, was für die Zukünftigen oder im Interesse der Zukünftigen geschützt werden soll. Wo in politischen Texten Wohl und Lebensqualität verzeichnet sind, werden hier Stimmen laut, die bestimmte Landstriche als „Heimat“,⁶⁷ „Boden“⁶⁸ und die „Bodenfruchtbarkeit“,⁶⁹ eine bestehende „Landschaft“ und „Grundwasservorräte“⁷⁰ oder in verschiedenen Fällen konkrete Arten „schützen“, „bewahren“ oder für die Zukünftigen „fördern“ wollen.⁷¹ Ebenso ist eine realpolitische Ausgestaltung der Generationengerechtigkeit über „Ombudsleute in den Parlamenten und Regierungen“⁷² im Gespräch. Sehr häufig wird die Forderung, konkrete Naturgegenstände für die (zu)künftigen Generationen zu erhalten, in einem thematischen Ensemble mit Nachhaltigkeit genannt, wobei in den Medien vermehrt der Umgang mit diesem positiv konnotierten Begriff ange Konerding, Klaus-Peter: Sprache – Gegenstandskonstitution – Wissensbereiche. Überlegungen zu (Fach‐)Kulturen, kollektiven Praxen, sozialen Transzendentalien, Deklarativität und Bedingungen von Wissenstransfer, in: Felder, Ekkehard/Müller, Marcus (Hrsg.): Sprache und Wissen . Wissen durch Sprache, Berlin/New York, , – , hier: ; vgl. Schwegler, Carolin/ Weber, Christina: Die „nachhaltige Stadt“ in den Medien – Linguistisch-diskursanalytische Untersuchungen zur medialen Vermittlung von Stadt-Konzepten, in: Stier, Matthias/Berger, Lars (Hrsg.): Die Nachhaltige Stadt. Initiativen zum Umweltschutz , Berlin, , – . Taz, die Tageszeitung: Urlaub über Kohlendioxid-Tank. Von Gernot Knödler, . . . Taz, die Tageszeitung: Mit Schweinen an die Spitze. Gesundheitsgefahr.Von Katharina Lübke, . . . Süddeutsche Zeitung (SZ): Erhalt der Heimat soll Priorität haben, . . . Süddeutsche Zeitung (SZ): Schweres Beben. Von Silvia Liebrich, . . . Spiegel online: Lebensmittel. Jetzt iss mal richtig! Von Bastian Henrichs, . . . Spiegel online: Verlogene Slogans. Nachhaltig? Nein, danke. Von Fred Grimm, . . . Ebd. Spiegel online: Geplante Uno-Reform. Ombudsleute sollen für künftige Generationen kämpfen. Von Axel Bojanowski, . . .
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prangert wird („denn eigentlich bedeutet Nachhaltigkeit kein weiter so, aber irgendwie netter“⁷³), allem voran in der Verwendung der Großkonzerne und der Politik. Ebenfalls häufig zu finden, da das gesellschaftliche Interesse an Informationen über uns selbst und somit auch der Nachrichtenwert hierbei sehr hoch ist,⁷⁴ sind psychologische Studien zum menschlichen Verhalten. Dies gilt auch für Fragen zur Umwelt- und Generationengerechtigkeit. Ergebnisse empirischer Studien werden nahezu als unumgängliches Schicksal begriffen,wie „Schneller Profit schlägt Weltrettung“,⁷⁵ wobei anschließend aus den erschreckenden Ergebnissen über uns selbst häufig eine Mahnung oder Forderung generiert wird: Schon wenn das Erreichen eines gemeinsamen Ziels erst in einigen Wochen vergütet werde, seien Menschen weniger euphorisch und kooperativ. Wenn das Geld [Lohn im Falle des beschriebenen Tests] als Vorteil für zukünftige Generationen in Aussicht gestellt werde, erlahme die Bereitschaft zur Beteiligung noch mehr. Kooperatives Verhalten beim Klimaschutz müsse stärker mit kurzfristigen Anreizen wie Belohnung oder gutem Ansehen verknüpft werden.⁷⁶
Die Medientexte zeigen somit gegenüber den anderen untersuchten Texten die höchste Diversität an Einsatzmöglichkeiten des Argumentes und enthalten auch die konkretesten Vorschläge zum Schutzvorgehen oder zu den Bedürfnissen zukünftiger Generationen. Neben einem nachdrücklichen Argument, das ein Hinterfragen der damit gestützten Ziele oder Mittel unterbindet, so wie es in den politischen Texten häufig festzustellen war, ist in den Medien eine weitere Verwendung zu erkennen: Es wird mit „Recht“ und sogar mit „moralischen Verpflichtungen“ und „menschlichem Instinkt“ verknüpft.⁷⁷ Definitorische Passagen zur Gerechtigkeit oder den (zu)künftigen Generationen sind allerdings medial nicht repräsentiert. Bezug zum Fachdiskurs: Die untersuchten Aktionsprogramme, die Reden und Medientexte lassen einen jeweils unterschiedlichen Grad an Bezug zum Fachdiskurs vermuten. Die Aktionsprogramme zeigen – durch die Nennung von Ausdrücken wie Wohl anstelle von Glück und Solidarität anstelle von Gerechtigkeit –, dass sie vor der Veröffentlichung sowohl juristisch, als auch philosophisch
Spiegel online: Verlogene Slogans. Nachhaltig? Nein, danke, . . . Niederhauser, Jürg: Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung, Tübingen, , . Spiegel online: Psychologie. Schneller Profit schlägt Weltrettung. Von wbr/dpa, . . . Spiegel online: Psychologie. Schneller Profit schlägt Weltrettung, . . . Spiegel online: Nachhaltigkeit. „Wir blicken ängstlich in die Zukunft“, . . .
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überprüft wurden. Das Argument der (zu)künftigen Generationen wird hier – wenn auch nur schlagwortartig – im Einklang mit allen fachlichen Diskussionspunkten (wie die natürliche Lebensgrundlage, Bedürfnisse und Wohl) genannt. Obwohl keine Definitionen wichtiger Begriffe geliefert werden und somit keine Praxisnähe erreicht wird, sind einige mit dem Argument verbundene Subthemen angesprochen. Die zur Analyse herangezogenen politischen Reden verweisen dahingegen nur relativ eingeschränkt auf die Möglichkeiten des Argumentes. Es wird fast ausschließlich für finanzielle Belange genutzt. Trotzdem kann ein Anschluss an die Aktionsprogramme erzielt werden. Hier übernimmt das Argument der Zukünftigen selbst die Funktion eines Indikators. Der mit der Nennung des ohnehin vage konzeptualisierten Argumentes konnotierte Umwelt- und Nachhaltigkeitsbezug stützt (auch in Verbindung mit Umweltthemen in anderen Abschnitten der Reden) die finanziellen Ziele. Obwohl wirtschaftssystematische Grundlagen hinsichtlich der Generationengerechtigkeit in der Forschung alles andere als geklärt sind, wird hier die Frage nach dem richtigen Mittel zum Schutz der Zukünftigen übersprungen und die bisher gültige Maxime des Wirtschaftswachstums herangezogen. Die Verschiebung einer Wachstumsforderung in den Bereich des Zieles nachhaltiger Umgang mit unseren ökologischen Grundlagen wird in Fachkreisen aber als absolut widersprüchlich und kontraproduktiv angesehen.⁷⁸ Im Jahr 1992 wurde die Frage nach der Auswirkung des Wirtschaftswachstums auf die Umwelt mit dem „Auftrag zur Untersuchung“ dieser hinterfragt.⁷⁹ Beachtlich ist, dass sich trotz dieses Ansatzes und einer darauffolgenden Wirtschaftskrise 2008 keine nennenswerte Änderung des Wirtschaftssystems abzeichnet. Wirtschaftswachstum wird im Aktionsprogramm von 2012 stattdessen zu einem Drittel häufiger erwähnt und dies obwohl der Gesamttext um das Sechsfache kürzer ist. Das positiv bewertete Wirtschaftswachstum gilt hier aber zunächst für verschiedene heute lebende benachteiligte Gruppen – die Zukünftigen werden in den Aktionsprogrammen nicht in direktem Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum genannt. Trotzdem ist der Weg für eine implizite Übertragung einer vermeintlichen Erfolgsstrategie von heute auf morgen geebnet und wird politisch, wie in den Reden zu erkennen ist, dankbar aufgegriffen und medial verbreitet. Dieses Verhalten wird aus wissenschaftlicher Sicht stark kritisiert,⁸⁰ ist aber dennoch – gerade in Politik und Wirtschaft – eine gängige Praxis in aktuellen Debatten.
Ekardt: Klimaschutz nach dem Atomausstieg, f. UN: Agenda , f. Ott: Umweltethik zur Einführung, .
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3 Welche Funktion hat das Argument der (zu)künftigen Generationen für die Umweltmoral des Einzelnen? Anhand teilweise konträrer Forschungsansätze (Abschnitt 1) und der aufgezeigten vagen und heterogenen Konzeptualisierung in der und durch die öffentliche Verwendung (Abschnitt 2), stellt sich nun die Frage, warum das Argument der (zu)künftigen Generationen trotzdem alle verknüpften Ziele mit moralisch richtig, instinktiv unhinterfragbar und durchweg positiv konnotiert.Welches Potential besitzt es gegenüber herkömmlichen Argumenten, das ausbaufähig erscheint, um den Übergang von theoretischem zu praktischem Umweltschutz⁸¹ zu erreichen? Zunächst ist festzustellen, dass eine heterogene Verwendung in Form einer Übertragung auf angrenzende Bereiche,⁸² wie in den politischen Reden zu erkennen, nicht genuin verwerflich ist, sondern ganz entscheidend von der Definition des Begriffes Nachhaltigkeit abhängt. Im Themenbereich der Nachhaltigkeit, des Umwelt- und Naturschutzes existieren allerdings auch bei gleicher Definitionsgrundlage weiterhin einige Zielkonflikte (ein prominentes Beispiel ist die Windenergie in Verbindung mit dem Vogelschutz) aufgrund erheblicher Interdependenzen der einzelnen Bereiche. Das Argument der (zu)künftigen Generationen kann unabhängig von Priorisierungsfragen herangezogen werden, da seine Funktion nicht mit einem (bereichsspezifischen) Ziel verknüpft ist, sondern stattdessen deutlich macht, dass die Auswirkungen heutiger Handlungen zwangsläufig einen Einfluss auf die Zukünftigen haben, ganz gleich welche Handlungen diskutiert oder kritisiert werden, und dass die Zukünftigen – wie wir⁸³ – ebenso viele und ebenso heterogene Be Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass Umwelt- und Klimaschutz nicht alleinige Aufgabe der Politik und der Wirtschaft ist. Der unternehmerische Umweltschutz, der fast immer den Regeln der Wirtschaftlichkeit untergeordnet wird, wäre sicherlich effektiver, wenn er von global geltenden Umweltschutzgesetzen geregelt würde – die Lebensweisen, die sich heutige Menschen in den Industriestaaten angeeignet haben, tragen aber zu einem sehr großen Teil ebenfalls dazu bei, dass alles so bleibt, wie es ist, oder sich nur langsam bewegt und sich deshalb keine Veränderung bemerkbar macht (vgl. Ekardt: Klimaschutz nach dem Atomausstieg, f.). Die im zweiten Abschnitt genannten Bereiche der Finanzwelt und des Wirtschaftswachstums werden hier als angrenzend verstanden, da sie im Sinne der Unterscheidung von schwacher und starker Nachhaltigkeit (Ott: Umweltethik zur Einführung, f.) zur Erweiterung des Nachhaltigkeitsbegriffes durch marktwirtschaftliche Ziele und Methoden und somit zur schwachen Nachhaltigkeit zählen. Da wir nicht wissen, welche Bedürfnisse zukünftige Generationen tatsächlich haben werden, geht man häufig davon aus, dass sie sich nicht sonderlich stark von unseren eigenen unter-
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dürfnisse und Ziele haben werden, auch wenn wir diese zurzeit noch nicht genau kennen. Dies lässt Spielraum für Spekulation und ermöglicht Zuschreibungsfreiheit. Aber weshalb könnte das Argument der (zu)künftigen Generationen nun erfolgreich sein? Die konjunktivische Form dieser Frage muss zum einen mit der Klärung der Möglichkeiten des Erfolges (a), zum anderen mit dem Aufzeigen der (momentanen) Hindernisse (b) beantwortet werden. Für den Erfolg (a) sprechen zwei Dinge: Der funktionalen Unterschied zu anderen (herkömmlichen) Argumenten (a1) und die Beziehung, in der der Einzelne zu den zukünftigen Generationen steht/stehen kann (a2). (a1) In der Diskussion um Nachhaltigkeit, Natur- und Umweltschutz werden sowohl in der Theorie als auch in der Praxis Argumente aus folgenden Bereichen angeführt: Ökologie, Ökonomie, Wissenschaft, Pädagogik, Psychotherapie, Medizin, Ästhetik und Ethik – wobei wissenschaftliche und ökologische Begründungen, im Sinne von Kenntnissen über Seltenheit, Gefährdung, Wert und Vorkommen, häufiger verwendet werden.⁸⁴ Im Unterschied zum Argument der (zu)künftigen Generationen kann diesen Argumentationsarten unterstellt werden, dass sie eine rein rationale und oft auch quantitative Sicht auf die Natur wiedergeben – beispielsweise Anmerkungen zu Ökosystemen, Stabilität, Regelfunktionen, Roten Listen, ökonomischem Nutzen oder dem Gen-Potential.⁸⁵ Das bedeutet, dass die Argumente, mit denen wir für den Schutz der Natur eintreten, in Wirklichkeit gar nicht diejenigen sind, weshalb Natur uns selbst wichtig ist. Unsere Argumentation ist aufgesetzt, unaufrichtig, ist so wie ‚man‘ argumentiert, so wie die Gesellschaft argumentiert.Wie können wir eigentlich erwarten, erfolgreich für die Natur einzutreten, wenn wir gar nicht […] sagen, warum sie uns in Wirklichkeit wertvoll ist? Wenn wir wissenschaftlich rational, quantitativ oder ökologisch argumentieren, lassen wir uns auf die Argumentationsweise derjenigen ein, die die Natur umwandeln, zerstören. Wie können wir erwarten, erfolgreich Naturschutz zu betreiben mit den Argumenten der Naturzerstörer?⁸⁶
Diese Absage an die üblichen Natur- und Umweltschutzargumente gründet in der Kritik an der heute vorherrschenden Naturbeziehung, die laut Bierhals aus der Entwicklung der Entdivinisierung der Natur infolge monotheistischer Religiösität
scheiden werden (vgl. Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit). Die Frage nach intergenerationeller Vergleichbarkeit der Bedürfnisse ist hier allerdings zweitrangig, da es zunächst darum geht, dass sich Bedürfnisse und Ziele grundsätzlich in Zielkonflikten niederschlagen sobald es um Auswirkungen auf ein System, wie unser Ökosystem, geht und es verschiedene Priorisierungen gibt bzw. aufgrund von Begrenztheit geben muss. Bierhals: Die falschen Argumente?, . Ebd., . Ebd., .
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und der Quantifizierung der Natur aufgrund von prägenden wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie beispielsweise von Kepler, Galilei oder Descartes eingebracht wurden, hervorgeht.⁸⁷ Das Argument der Zukünftigen, das bei Bierhals nicht namentlich erwähnt wird, findet jedoch in einem seiner Wege aus der argumentativen Misere Niederschlag. Er fordert Argumente, die den Menschen deutlich machen, in welche Zukunft, in welche Umwelt sie hineingetrieben werden […] und welche trostlose Umwelt und welches kontrollierte unterdrückte Leben jeden Einzelnen [abseits von Ressourcenvernichtung und Artenrückgang] erwarten werden.⁸⁸
Grundsätzlich hält er eine Emotionalisierung der Argumente für notwendig, denn er geht davon aus, dass „in der emotionalen, seelischen, gefühlsmäßigen, irrationalen Beziehung zur Natur, in der Faszination des Wilden, Selbstgewordenen […] eine ungeheure Kraft [steckt]“.⁸⁹ Gepaart mit dem Argument der (zu)künftigen Generationen würde dies auch eine Abkehr von der Frage danach, was und wieviel weitergegeben werden soll, bedeuten. Im Gegenzug dazu könnte die Forderung nach einer uns immanenten Naturbeziehung, die auch in der Umweltpsychologie erkannt wird, aufleben, denn „Sinn konstituiert sich jeweils in der Situation als der Grundeinheit intentionaler Person-Umwelt-Interaktion“.⁹⁰ Dennoch erscheint in der Praxis zurzeit der homo sapiens oecologicus und die Vorstellung einer Quelle von Reichtum und Macht, die nichts kostet, zu herrschen.⁹¹ Dies prägt neben dem Mensch-Natur-Verhältnis auch die Beziehungen der Menschen untereinander.⁹² Das Argument der Zukünftigen ist demnach in seiner argumentativen Funktion sowohl anschlussfähig an aktuelle (politisch-rationale) Debatten des homo sapiens oecologicus über Ressourcenknappheit sowie auch an wissenschaftlich nicht zu falsifizierende Argumente – die der Emotionalität. (a2) Aber in welcher wertbehafteten Beziehung steht der Einzelne gerade zu den Zukünftigen, sodass er sich argumentativ beeindrucken lässt? Das sind zunächst die Eltern-Kind-Beziehungen, dann normative erlernte/anerzogene Gerechtigkeitsvorstellungen und anschließend die Empathiefähigkeit (Einfühlungsvermögen), die sich im Mitgefühl für Andere zeigt.
Ebd., . Ebd., . Ebd., . Graumann, Carl-Friedrich: Der phänomenologische Ansatz in der ökologischen Psychologie, in: Kruse, Lenelis u. a. (Hrsg.): Ökologische Psychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, Weinheim, , – , hier: . Vogt, Markus: Was taugt der Naturbegriff für die Umweltethik?, in: Vogt, Markus u. a. (Hrsg.): Wo steht die Umweltethik? Argumentationsmuster im Wandel, Marburg, , – , hier: . Ebd., f.
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Eltern-Kind-Beziehungen sind zwar kulturell (sowohl lokal als auch temporal) sehr unterschiedlich, man kann aber zumindest für die kapitalistisch geprägten Teile dieser Welt behaupten, dass sie sich neben einer starken emotionalen Schutzbeziehung zwischen Elternteil und Kind durch einen ausgeprägten Sinn für das Sparen für die Nachkommen auszeichnen. Die eigenen oder familiär nahestehende Kinder können als Teil einer zukünftigen Generation angesehen werden und somit das personalisierte Bindeglied zwischen den Heutigen und den Zukünftigen herstellen, das dem Argument der Zukünftigen die nötige emotionale Unterstützung liefert. Es ist sicherlich nicht geklärt, ob die Überzeugungskraft des Argumentes, die sich von einer Eltern-Kind-Beziehung ableiten lässt, ohne weiteres auf die gesamte Gruppe der Kindergeneration übertragen werden kann. Nur weil man gerne für sein Kind spart, bedeutet dies in der Konsequenz nicht, dass man Mülltrenner und Wenigflieger ist. Genauso plausibel ist die Annahme, seinem Kind die schönen Teile der Welt zeigen zu wollen (bevor diese zerstört sind). Finanzielles Sparen ist wahrscheinlich am weitesten verbreitet, da die Erfolgsquote hier nicht von allen anderen Menschen abhängt, sondern von weitaus überschaubareren Parametern. Allerdings sollte man von einer grundsätzlichen Empfänglichkeit für Fragen um das Wohl der Zukünftigen ausgehen, die sich aufgrund der (potentiellen) Personalisierung der Gruppe der nachrückenden Generationen einstellen kann. Als Überwindungsmechanismus von einer Fern- zu einer Nahmoral wertet schon Schopenhauer die Personalisierung als eine Möglichkeit zur Entwicklung moralischer Zuständigkeiten.⁹³ Als zweite wertbehaftete Beziehung des Einzelnen zu den Zukünftigen, die ebenfalls der familiären Prägung, dem sozialen Umfeld und der medialen Prägung⁹⁴ entspringt, sind erlernte/anerzogene normative Gerechtigkeitsvorstellungen zu nennen, die sich durch die Sozialisierung von bestimmten Wertungsnormen auf unser noch undifferenziertes Empfindungsleben auswirken.⁹⁵ Für die Gerechtigkeit sind hier die jeweiligen „als moralisch gelten[den] […] Phänomene [maßgeblich], die aus der Binnenperspektive eines Sozialverbandes mehrheitlich als
Vgl. Birnbacher, Dieter: Nahmoral und Fernmoral. Ein Dilemma für die Mitleidsethik, in: Gander, Hans-Helmuth u. a. (Hrsg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling), Würzburg, , – , hier: . Als mediale Prägung wird hierbei alles Öffentlichkeitswirksame verstanden, das den Menschen beeinflusst, wie beispielsweise die Nutzung des Ausdruckes in den Massenmedien, politischen Reden oder Programmen (vgl. Abschnitt ). Steinfath, Holmer: Gefühle und Werte, in: Zeitschrift für philosophische Forschung /, , – , hier: .
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solche verstanden werden“.⁹⁶ Für den christlich geprägten Raum kann u. a. der Einfluss der Goldenen Regel zugrunde gelegt werden, die als universalisiertes moralisches Urteil einen Übergang zur Ethik eröffnet. Andere Grundsätze der Gerechtigkeit, wie beispielsweise die Gleichheit, sind im Wohlfahrtsgedanken aufgegangen und schaffen sich somit einen Platz im habitualisierten Grundverständnis der sozialen Marktwirtschaft. Habitualisierte Gerechtigkeitsvorstellungen äußern sich in einem (erlernten) Gerechtigkeitsempfinden, das zum Teil auf einem intuitiven Gerechtigkeitsgefühl basiert,⁹⁷ welches auch unhinterfragt intergenerationell auf die Zukünftigen übertragen werden könnte, insofern das Argument der (zu)künftigen Generationen als argumentum a pari eingesetzt wird (Gleichbehandlung). Ott sieht allerdings im Umgang mit diesen habitualisierten Grundverständnissen verschiedenster Einflüsse die Differenz zwischen den „Morallehren der Hochreligionen […], [die] das Verhalten ihrer Angehörigen umfänglich“ regulieren, und „der säkularen westlichen Moral […], [der] dieses durchdringende (prägende) Element“ von einer „kohärenten Ganzheitlichkeit in Sprech-, Denk- und Lebensformen“ fehlt.⁹⁸ „Daher treten hier Moralkonzepte und Lebensformen auseinander, es bildet sich eine ausgeprägte Differenz zwischen dem moralisch Richtigen und dem persönlich Guten“.⁹⁹ Die angesprochenen habitualisierten Wertungsnormen betreffen nicht nur die Gerechtigkeitsvorstellungen im engeren Sinne, sondern auch andere Muster ökologischen Verhaltens, die einen Einfluss auf die Zukünftigen haben und somit in das Aufgabenfeld der Generationengerechtigkeit fallen. Ekardt verweist allem voran auf die im Neoliberalismus gewachsenen Normalitätsvorstellungen, die es zu hinterfragen gilt.¹⁰⁰ Die Hindernisse, die hierbei bestehen, werden im Anschluss an die nun folgende dritte wertbehaftete Beziehung, die Empathiefähigkeit, des Einzelnen zu den Zukünftigen unter (b) besprochen. Nicht nur habitualisierte Gerechtigkeitsgefühle, die auf rationale Lehrsätze der Moral zurückgeführt werden können, sondern auch die Emotion als Empathiefähigkeit kann die Grundlage moralischer Werte darstellen. Diese Verbindung von Moral und Emotion/Empathie ist philosophisch gesehen alt und weit verbreitet, allerdings auch immer wieder starker Kritik ausgesetzt. In der Tradition der theoretischen Genealogien ist das (moralisch) Gute aus Neigung weniger wert als
Ott, Konrad: Moralbegründungen zur Einführung, Hamburg, , . Steinfath: Gefühle und Werte, . Ott: Moralbegründungen zur Einführung, . Ebd. Ekardt: Ein kritischer Blick auf die Debatte über „Umweltgerechtigkeit“, .
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dasjenige aus Pflicht,¹⁰¹ oder die emotional geprägte Mitleidsmoral („Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst“¹⁰²) wird „abgeschmackt-falsch und sentimental“¹⁰³ genannt. Ferner liefern der Emotionalität positiv gesinnte Theorien schon seit der griechischen Antike bis hin zu neueren Moraltheorien, wie beispielsweise dem Moral Sentimalism von Michael Slote, Argumente für die Entstehung von Moral aus Emotion und Empathie: „if empathy enters into the making of moral judgments, we have an explanation and potentially even a justification for the asymmetry of commonsense moral thinking“.¹⁰⁴ Ein heterogenes Alltagsverständnis moralischen Urteilens ist zwar aus der Perspektive der Beziehungsfestigung des Einzelnen mit den zukünftigen Generationen nicht unbedingt nur positiv zu werten, aber wenn das moralische Urteilen durch Empathie beeinflusst wird, müsste es (inklusive der anschließenden Handlungsbereitschaft) auch im mitfühlenden Sinne durch Empathie zu verstärken sein. Empathie mit zukünftigen Generationen basiert zwar nicht auf direkter leiblicher Interaktion, aber auf einer hinzugezogenen Simulationsleistung (Phantasievergegenwärtigung) des Empathisierenden, die er durch seine Erfahrung mit Seinesgleichen einbringen kann.¹⁰⁵ Zur Unterstützung dieses Prozesses wäre hier beispielhaft das Empathisieren anhand medialer Ersatzprodukte zu nennen, die die Aufmerksamkeit auf die Zukünftigen lenken. Obwohl die Empathiefähigkeit des Menschen ein immenses Potential für die Generationengerechtigkeit und den Erfolg des Argumentes der (zu)künftigen Generationen birgt, ist in ihr auch die Wurzel eine der folgend genannten Hürden auf dem Weg zum Erfolg angelegt. Unabhängig hiervon ist überdies zu betonen, dass nicht der Eindruck erweckt werden soll, dass Empathie und Emotionalität die ausschließliche Grundlage der Moral sein sollte, denn so wie Slote die moralische Heterogenität erklärt, warnt Fritz Breithaupt aus seiner Perspektive der Empathie als Konkurrenzprodukt: „Empathie wohnt immer auch die Tendenz zur Parteilichkeit inne“.¹⁰⁶
Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Band IV. Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt, , . Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlagen der Moral, hrsg. von Peter Welsen, Hamburg, , . Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Band . Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, hrsg.von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York , . Slote, Michael: Moral Sentimentalism, Oxford, , . Vgl. Breyer, Thiemo: Empathie und ihre Grenzen: Diskursive Vielfalt – phänomenale Einheit? in: ders. (Hrsg.): Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München, , – . Slote: Moral Sentimentalism, .
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(b) Aber weshalb könnte das Argument der Zukünftigen scheitern bzw. weshalb scheitert es zurzeit offensichtlich noch? Die (momentanen) Hürden lassen sich zum einen in der allgegenwärtigen Gefahr der begrifflichen Konturlosigkeit, so wie sie auch der Nachhaltigkeit begegnete, erkennen; besonders deutlich wird diese Gefahr, wenn ein solches Argument wie (zu)künftige Generationen öffentlichkeitswirksam für wirtschaftspolitische Zwecke genutzt wird (vgl. Abschnitt 2). Zum anderen kann man diese Hürden gut am Beispiel der Reziprozitätsforderung erklären, der sich eine Theorie der Generationengerechtigkeit im Allgemeinen stellen muss.¹⁰⁷ Im ersten Abschnitt wurde der Vorwurf besprochen, dass von den heute Lebenden altruistisches Verhalten gefordert wird, weil sie sich in einer einseitigen Beziehung zu den Zukünftigen befinden. Auf theoretischer Basis wirkt das Reziprozitätsproblem bestechend – solange die Zukünftigen uns nichts zurückgeben können, möchten wir für sie auch nur ungern geliebte Verhaltensweisen opfern. Aber ist Reziprozität in der Praxis tatsächlich ein Grund für menschliches (Nicht‐) Handeln im Bereich des Umweltschutzes und darf sie es überhaupt sein? Insofern wir davon ausgehen, dass „die naturale Natur eine prinzipielle Vorgabe darstellt, erscheint es als intuitiv plausibel, sie als Gemeineigentum der Menschheit zu betrachten, das jeder Generation gleichermaßen gehört“.¹⁰⁸ Daraus lässt sich schließen, dass die Perspektive auf umweltschützende und umweltzerstörende Handlungen, aus der heraus der Vorwurf entsteht, verzerrt ist. Reziprozität, also ein Zurückgeben, darf nicht gefordert werden, wenn es darum geht, möglichst gerecht (im Sinne von gleich) auf alle Menschen aller Generationen zu verteilen. Aus dieser Perspektive würden wir Heutige nichts zusätzlich geben/spenden ¹⁰⁹, wenn wir umweltschützend handeln, wir würden stattdessen unerlaubterweise zu viel nehmen, wenn wir uns so verhalten, wie sich die Lebensweise eines Durchschnittsbürgers in einer Industrienation zurzeit darstellt. Reziprozität ist, wie oben schon beschrieben, nicht das einzig vorhandene Gerechtigkeitsmodell und kann bezüglich knapper Güter nicht gelten.Warum dies aber häufig angenommen wird,
Vgl. Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit. Höffe: Gerechtigkeit, . Wenn man doch dabei bleiben möchte, dass es sich beim Umweltschutz zum Wohle von zukünftigen Generationen um ein Geben/Spenden handelt, erscheint Reziprozität trotzdem nicht einforderbar, denn sie ist ausschließlich für distanzlose Fälle sinnvoll, wie man aus Beispielen räumlicher Distanz ableiten kann (siehe hierzu und allgemein zu den Motivationsproblemen bei der Übernahme von Zukunftsverantwortung: Birnbacher, Dieter: Langzeitverantwortung – das Problem der Motivation, in: Gethmann, Carl Friedrich/Mittelstrass, Jürgen (Hrsg.): Langzeitverantwortung. Ethik, Technik, Ökologie, Darmstadt, , f.).
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ist aus psychologischer Sicht zu erklären. Die Beschäftigung mit komplexen ökologischen Zusammenhängen stellt gegenüber den alltäglichen Denkprozessen sehr hohe kognitive Anforderungen. Aufgrund dieses kognitiven Anforderungsniveaus ist zunächst fraglich, ob intergenerationelle ökologische Verteilungsprobleme überhaupt als Frage der Gerechtigkeit erkannt werden. Wenn dies der Fall sein sollte, so muss dennoch aufgrund der komplexen prognostischen Sachlage damit gerechnet werden, dass wir kognitive Vereinfachung vornehmen und entsprechende Urteilsverzerrung resultieren.¹¹⁰
Eine solche kognitive Verzerrung stellt die Reziprozitätsforderung dar, die in diesem Fall kein Gerechtigkeitsmodell, sondern ein menschliches Bedürfnis ausdrückt: das Bedürfnis nach Resonanz – nach Anerkennung¹¹¹. Vor allem empathisch bedingte Handlungen sind von diesem Bedürfnis betroffen, denn Empathie ist nicht nur durch den Empathisierenden, sondern erst durch die Resonanz des Empathisierten erfolgreich und für den Empathisierenden zufriedenstellend.¹¹² Dies kann von den Zukünftigen nicht geleistet werden, womit der Empathie nicht nur – wie oben angeführt – eines der Potentiale des Erfolges des Argumentes, sondern auch dessen Erfolgshürde inne wohnen. Die Auflösung dieses Hindernisses könnte – in ähnlicher Form wie beim Spenden für (gleichzeitig lebende) Bedürftige – über die stellvertretende Resonanz, also über eine stellvertretende Anerkennung durch Andere erfolgen. Die gesellschaftliche Anerkennung von Hilfeleistungen müsste sich auf umweltschützendes Verhalten übertragen oder erweitern lassen, um die bestehenden Hindernisse des Argumentes der (zu)künftigen Generationen zu überwinden. Als praktische Umsetzungsmöglichkeit könnte hier das von Vittorio Hösle erkannte Potential für einen moralischen Wettbewerb fruchtbar gemacht werden: „Es ist nicht ausgeschlossen Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen einander in der moralischen Qualität ihres Verhaltens übertreffen wollen“.¹¹³ Russell, Yvonne u. a.: Generationengerechtigkeit im allgemeinen Bewusstsein? Eine umweltpsychologische Untersuchung, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Handbuch Generationengerechtigkeit, München, , – . „Das Anerkennungsverhalten wird dadurch, dass in ihm den potentiellen Werteigenschaften menschlicher Subjekte entsprochen wird, zur Bedingung für deren Autonomieentwicklung.“ (Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main, , ) Breyer: Empathie und ihre Grenzen, . Hösle, Vittorio: Dimensionen der ökologischen Krise – Wege in eine generationengerechte Welt, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Handbuch Generationengerechtigkeit, München, , – , hier: .
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Ob es genügt, Anerkennung auf gesellschaftlicher Ebene von einem auf ein anderes Empathiephänomen zu übertragen (und ob diese Entwicklung praktisch überhaupt möglich ist), ob tatsächlich (politische) Rahmenbedingungen¹¹⁴ geschaffen werden müssen, oder ob beides nur im Zusammenspiel Erfolg hat, wäre eine zunächst nur spekulative Überlegung, die obendrein mit einer Reihe von interdependenten Motivationsproblemen behaftet ist.¹¹⁵
Resümee Das Argument der (zu)künftigen Generationen birgt, wie im Querschnitt des Fachdiskurses im ersten Abschnitt zu erkennen war, einige tiefer liegende Definitionsprobleme, die noch nicht gänzlich gelöst sind, was aber auch den positiven Nebeneffekt hat, dass sie der Umweltethik eine Plattform bieten, den bisher oft fehlenden Anwendungsbezug wieder aufzuarbeiten. Jüngere Arbeiten belegen dies und nehmen sich explizit des Theorie-Praxis-Problems an.¹¹⁶ Das Argument der Zukünftigen, was sowohl zur Fachdiskussion über die Grundlegung einer Generationengerechtigkeit gehört, wie auch in die alltagsweltliche Praxis jedes Einzelnen, kann zum einen ein verbindendes Element für diese beiden Bereiche darstellen, zum anderen wohnen dem Argument auch semantische Unsicherheiten inne, die gerade von ökonomischer oder politischer Seite leicht in bestimmte Formen festgesetzt, stereotypisiert und modifiziert werden können, die zu gängigen Praxen kompatibel sind. Dies sollte nicht unhinterfragt bestätigt, sondern bewusst beleuchtet und eingeordnet werden, um die Verknüpfung eines emotionssensiblen Argumentes mit rationalen Theorien und Zielen nicht leichtfertig zu adaptieren. Grundsätzlich bietet das Argument – beispielsweise in Verbindung mit weiteren, emotionsbasierten Argumenten und einer Variation der Rahmenbedingungen sozialer Anerkennung – eine greifbare Chance, um den ethischen Konflikten in Natur- und Umweltschutz eine Begründung zu liefern, die, moralisch habitualisiert, einen Blick in Richtung einer Veränderung der aktuellen Problematik um die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln darstellen kann.
Marcel Mauss stuft beispielsweise ganz allgemein das politisch aufgepfropfte Ändern von Gewohnheiten als schwierig ein: „Korrigieren kann man sie [technische, ökonomische und geistigen Gewohnheiten und Sitten] nur, wenn man sie durch andere Gewohnheiten ersetzt, die von anderen Ideen und Gefühlen und vor allem von anderen Taten inspiriert sind, deren Erfolg es gestattet, dass sie Präzedenzfälle bilden“ (Mauss, Marcel: Schriften zum Geld, hrsg. von Hahn, Hans Peter/Schmidt, Mario/Seitz, Emmanuel, Frankfurt am Main, , ). Vgl. Birnbacher: Langzeitverantwortung – das Problem der Motivation. Beispielsweise Vogt: Was taugt der Naturbegriff für die Umweltethik?
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Dennoch sollte bei allem, was sich Argument nennt, nicht vergessen werden, dass die Strategie eine wichtige Rolle in der Rhetorik und der Argumentation spielt, und dies immer auch bedeutet, dass Begriffsverschiebungen und -erweiterungen zum Alltag – gerade der politischen Routine – gehören. Dieses Phänomen nimmt auch die Ungeborenen nicht aus.
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III Erfahrungen des Lebendigen
Jeff Malpas
The Threshold of the World Abstract: What is the relation between the lived body and the world? It is a relation essentially captured in the idea of the liminality of the body. Liminality, that which belongs to the threshold, is given as a form of movement across and towards. The liminality of the body is tied to such movement. Such liminality brings with it as sense of the uncanny as well as the familiar. It also brings an experience of limit – limit as given in birth and death, in remembrance and forgetting, in hope and loss.
Fig. 1 Caspar David Friedrich, Woman before the Rising Sun (Woman before the Setting Sun), c. 1818, oil on canvas, 22 x 30 cm, Museum Folkwang, Essen
There is an essential liminality to the body, or, at least, to the lived character of embodiment. To understand the liminality of the body, however, one must first attend to the character of the liminal itself.¹ The liminal is that which stands be-
Liminality has acquired a widespread usage in anthropology and cultural studies that largely
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tween, but in standing between it does not mark some point of rest. Instead, the liminal always carries a movement with it – a crossing, a movement towards or away from, a movement into or out of. Etymologically, ‘liminal’ comes from the Latin limen, meaning threshold, but related also to the Latin limes, meaning boundary, border or limit. In the Greek world, the liminal was the realm of both Hermes and Hestia² – two gods who meet at the threshold, one welcoming us within and the other carrying us without – into the street, onto the road, out to the horizon , (itself understood as border or boundary).³ The lived body has this same dynamic character, opening outward to the world and inward to the self. The lived body is not experienced as something merely ‘in’ the world, since it is only in and through the lived body that the world opens up as a world. To take the lived body as something ‘in’ the world would thus be to take the body as not ‘lived’ at all, but something merely objectified, merely ‘there’. Yet the lived body is never simply ‘there’ in this way – in the way a book may be there on the table or the stone on the beach. The lived body is thus not thing, not stuff, not body (in the sense in which the latter term appears, for instance, in Descartes, to refer to res extensa) – it is the movement across, and so out of, into, towards. Moreover, the movement at issue here – which is the movement that belongs to the liminal no less than to the body – is not a movement grounded in the subject nor in the body-subject, but is rather that which constitutes the subject as subject. In its dynamic character, the lived body is always ‘in advance’ of itself. For this reason one might be tempted to say that the lived body is not constituted by its ‘here’, but always by its ‘there’ – by that which is brought close to it, and yet which, in being brought close, is also thereby removed from distance. Perhaps one could then say that the lived body is always given over to its own temporality, a temporality determined primarily by what lies ahead of it, except that this timeliness is just as much a spacedness, a being oriented to and in, and such spacedness is itself an essential element in the very possibility of timeliness –
derives from the work of Arnold Van Gennep (The Rites of Passage, trans. Monika Vizedom and Gabrielle L. Coffee, London, , and especially Victor Turner, beginning with Betwixt and between: The liminal period in rites de passage, in: The Forest of Symbols: Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca, , –). As it is explored in this essay, however, the liminal is approached by way of a more basic phenomenological or hermeneutical approach than in terms of the anthropological framework evident in Van Gennep and Turner (although clearly the former is not absent from the latter). For the Romans, Lima and Limentius are the deities of the threshold, Cardea and Forculus are guardians of the door, and Janus is the god of doorways, of transitions, of beginnings and endings – combining in one something of the same twofold aspect of Hermes/Hestia. See the discussion of Hestia-Hermes in Vernant, Jean-Pierre: Myth and Thought Among the Greeks, trans. Janet Lloyd with Jeff Fort, New York, , – .
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as timeliness is essential to spacedness. In the lived experience of the body, spatiality and temporality are intertwined, inseparably so, so that the lived experience of the body is an experience of the timeliness of space and the spacedness of time. The liminal is not a state in which one can remain – it is not ‘static’ at all, and so properly is perhaps not even a ‘state’. The liminal character of the lived body is thus given in the form of a constant movement into the world. Such movement is present even when the body appears at rest – and for this reason, one might say that the lived body is never properly at rest, but is always given over to movement, and this remains so even though when there is no change in bodily location. As it is liminal, so is the lived body intrinsically dynamic (in Aristotelian terms, one might say that it is characterised by dynamis rather than energeia – by potency rather than actuality). In experiential terms, it is as if we were always crossing the threshold, never entirely finding ourselves within, never entirely or finally ‘at home’. There is thus an essentially uncanny character to the experience of liminality and so also to the experience of lived embodiment. One might say that the liminal is the very essence of the uncanny, and that the uncanny itself is always an experience of liminality. The way the uncanny and the liminal are connected here also shows how both are tied to the idea of the canny and the known, the familiar and the ‘at home’. It is commonplace to talk of the uncanny as the mood of modernity, but actually it is – as one might take Sophocles to suggest, especially in Heidegger’s reading⁴ – the very mood and character of the human. The human is the uncanny – the strangest of the strange, the unheimlich (which is how Heidegger translates Sophocles’ to deinotaton) – and the human is so at the very same time as the human is also the one who stands closest to the known and to the ‘at home’. The uncanniness of the body, even as the body is also ‘homely’, reflects the character of the threshold as that which joins the strange with the familiar, the foreign with the domestic, the outer with the inner, through its very character as the threshold of the home. As the threshold belongs to the home, so the home already admits the uncanny within it – only in the closeness of home does the uncanny even appear. The very nature of the threshold is to allow entrance and departure, but for it to do this, it must also withdraw in that allowance – one might say, in fact, that all allowance is a withdrawal. In this respect, the threshold, and so also the limi-
See the discussion of the choral ode (the ‘Ode to Man’) from Sophocles Antigone (lines – ) in Heidegger, Martin: Introduction to Metaphysics, trans. Gregory Fried and Richard Polt, New Haven, , – .
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nal, carries withdrawal within it. Moreover, in its dynamic character, the threshold is also given to being overstepped, and so to being overlooked and even disregarded. The character of the liminal as withdrawing, as overlooked, as given to a form of ‘disappearance’, also belongs to the character of the lived body. The body tends to withdraw in favour of that which it moves us towards – it ‘disappears’ in favour of the world – except, of course, when the body is itself the focus of that movement or when it impedes it. When we stumble at the threshold, when our movement through is somehow hindered, or when we simply look to attend to the threshold itself (perhaps to admire a feature of the doorway) then the threshold becomes evident to us even as its functioning as a threshold may be diminished or impaired. Similarly, when the movement of the body is impeded by the body itself, or when we look to the body in its movement (as when one tries to learn some new bodily technique), then the body appears in a way that counteracts its liminal disappearance, and yet in that appearance it also, in an important sense, disappears as body or, one might say, as lived. Thus when one attends to one’s body as if it were a mere ‘thing’ or when the body itself becomes salient through some form of bodily recalcitrance or resistance,⁵ then the body appears as something in the world even as it nevertheless remains that by which we move towards and into the world. As the liminal is always given over to withdrawal, so the liminal also evokes forgetfulness and even loss – something reinforced by the character of the liminal as uncertain and indeterminate, as transitional, as belonging ‘between’. As it is indeed ‘between’, so such a connection to loss is matched by an equal connection to hope, and to emergence and beginning. The liminal, as Janus reminds us, looks both ways. Moreover, each way turns back to back to the other, so that the end is a beginning, and the beginning an end. In the experience of the liminality of the natural world – in the indeterminate ‘between’ of dusk and dawn, in the onset and the clearing of weather, in the shading of sun into shadow and shadow into sun – the experienced elements, even though distinct, nevertheless evoke one another, never appearing entirely apart. So every dusk evokes a dawn and every dawn a dusk, as loss evokes hope, and hope loss. Indeed, in the artistic engagement with the liminal, and especially in the artistic engagement with the liminality of the natural world, almost the same image may be
Does the experience of bodily pain count as an instance of this sort of bodily salience? The experience of pain certainly draws attention to the body, and to parts of the body, and so the experience of pain may lead to the becoming-salient of the body, but the experience of pain is also more complex than this alone would suggest. Pain is both an experience as well as a mode of experiencing, and as it is the latter, so it also constitutes a mode of entry into world – it thus belongs to the body as liminal as well as to the body as non-liminal.
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used in one instance to evoke loss as is used in another to evoke hope – in some cases, the image may itself be indeterminate between the two (the image by Casper David Friedrich that stands at the head of this essay provides an explicit example of such ambiguity). Moreover, so powerful and so commonplace is the association of the liminal with ideas of loss and of hope, especially as given in the appearance of the liminality of nature, that its artistic presentation can all too readily slide into mere conventionality or even kitsch. In attending to the way the liminal is connected with such moods – whether in their artistic portrayal or elsewhere – one may readily be led toward a thinking of the liminal that takes it to be associated in an essential way with death and with birth. Are not both of these exemplary of loss and hope, of ending and beginning, and are not both fundamentally liminal in character – do not both stand on the very boundary of the lived? Although birth and death are not unrelated to the ideas of limit and boundary that are at the heart of the liminal,⁶ still neither birth nor death are properly liminal in themselves – neither is to be counted as constituting a threshold that is apart from the threshold of the lived body. The liminality of the lived body, and of the life that belongs to it, is given in its living, in its embodiment, rather than in some experience (if there could be such) of coming-to-be or passing-away. Similarly, the limits that belong to the life of the lived body, and that may be taken to bear the names of ‘birth’ and ‘death’, are not limits that exist outside of or apart from that life. Death, it has been said, is ‘another country’, and from it no-one returns, but if there is no return from death, it is because death is not even a country – just as birth does not point towards some other realm that comes before, and from which we arrive. In this respect, Lucretius’ claim that death is nothing, is quite literally correct, but it is also true, in a similar sense, of birth – neither term refers to anything that is other than life, and so the ending of life is not an ‘entry into’ death any more than the beginning of life is a ‘departure from’ birth. The fact that we commonly do treat birth and death as liminal – as two thresholds between which our lives span out, thereby taking the liminality of the lived body as if it were primarily a feature of its temporal structure – itself results from a tendency to treat the lived body as if it were indeed something
Elsewhere, I have myself talked of the character of death as a limit (see, for instance, Death and the end of life, in: Heidegger and the Thinking of Place, Cambridge, , – ), and although this claim is not without significance, it is a claim that also carries an ambiguity that I am here concerned to dispel. The ambiguity is one that affects both ‘limit’ and ‘death’ – it is an ambiguity that can all too easily lead to death being viewed as if it were something that stood apart from and in contrast to life. My concern here is to make clear the way in which death, and with it birth, derives from nothing other than the limit that belongs to life itself.
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that is given as an extended entity among other entities, defined in terms of its spatio-temporal span, and so as an entity whose life can be understood as beginning at a certain point and ending at another. In this way, birth and death are understood as points or periods of transition between different states, and the life of the body is one state among others.⁷ Such a way of understanding birth and death depends upon a way of understanding lived embodiment, and understanding life, that already abstracts from its character as lived, and from its character as embodied. If we are not to treat the life of the lived body as merely a span between two points – if we are to retain a genuine sense of birth and death as they relate to the lived body – then we have to think birth and death differently from the usual or conventional understanding, and we must also think beginning and ending differently as well. If we say that birth and death mark the limits of the life of the lived body, they do not do so in virtue of marking the points between which that life is extended. Rather birth and death, as ontological structures rather than as particular empirical events, derive from the character of lived embodiment as already constituted in terms of its own limitation – and so in terms of its essential liminality. The liminality of the lived body is not a matter of its being given over to some simple transition between states, but rather consists in an intrinsic movement out of, into, and towards. It involves an essential orientation towards and movement into the world. However, the entry into world is not only constant, and so never completed, but it is also an entry that always stands in relation to a singular location, a place, a topos. The threshold does not open into some indefinite or infinite space – it is neither a passage to nowhere nor to an immediately present everywhere. The liminality of the lived body thus refers us both to the limits of the life that belongs to the body, but it also refers us to the limit of that in which the body itself finds itself, and through entry into which, the body also enters into the world – not to the entirety of the world all at once, for that would be an entry into nothing, but into the world as it is always given within its proper horizon, into the world in the placed singularity of its appearance. The liminal
This is one of the points of ambiguity that I noted above. There is another ambiguity that also affects talk of birth and death: they can refer to those events that occur at the end and the beginning of life, as well as to the limits within which life itself is constituted. In the first sense, birth and death are events in life; understood in the second sense, birth and death simply name the limits of life itself. In neither case are birth and death anything apart from life.
The Threshold of the World
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always stands in an essential relation to place – to the topical or topological. Indeed, there is no limit without place, and no place without limit.⁸ Understood in terms of the essential liminality of the lived body, the life that belongs to that body is not limited by some externality, but by its own intrinsic character. Inasmuch as they genuinely belong to the liminal character of the lived body, and only properly appear in relation to it, then birth and death themselves derive from that same liminality, and so too from the ‘topicality’ to which liminality is also intimately bound. One might go so far as to say that ‘birth’ and ‘death’ refer only secondarily to the biological events corresponding to the emergence or cessation of an individual life. More fundamentally, and as they appear in relation to the experience of the lived body, birth and death refer to the way that embodied life already configures itself in a movement oriented to a certain place and within a certain horizon. This is why the search for the continual extension of life – and especially its infinite extension – already misunderstands the way in which limit belongs to life, and to the body, essentially.⁹ Its denial of limit must thus be counted as also a refusal of life, even its denial, since the limit of life is a limit that is life’s own.¹⁰ The experience of the lived body is an experience of this liminality, which is an experience of its essential placedness, and it is in this way that it is also an experience of the openness of world.¹¹ In its liminality, the experience of the lived body always brings with it an experience of transition, of movement, of the dynamic – and with this, an experience also of the uncanny and the familiar. In the liminality of the lived body, we experience the real limit on which our lives depend – a limit that is evident in our being given over to birth and death, to remembrance and forgetting, to hope and to loss. This liminality of the lived body is easily overlooked, and yet it can never be escaped or eliminated – in this sense, we are never wholly in the world, but always on its edge, always on our way towards it. Perhaps this is why hope must take precedence over loss, not least when it seems that
Something already clearly evident in Aristotle – see Physics IV, a – : “place is […] the limit of the surrounding body, at which it is in contact with that which is surrounded”, in: Hussey, Edward: Aristotle’s Physics, Books III and IV, Oxford, , . For a more detailed argument on this matter see: Death and the end of life. The embrace of life as limited can be seen as an instance of what Nietzsche refers to as Amor fati (love of fate) – see e. g. Ecce Homo, §, in Kaufmann, Walter: On the Genealogy of Morals/ Ecce Homo, New York, , – and its refusal can in turn be seen as also a refusal, even a hatred, of fate. For more on the role and nature of place that is alluded to here, see, among other works, the essays in Malpas, Jeff: Heidegger and the Thinking of Place, as well as my Place and Experience, Cambridge, .
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there is nothing left but loss. In the experience of the lived body, which is the experience of life, we are always at the threshold.
References Heidegger, Martin: Introduction to Metaphysics, trans. Gregory Fried and Richard Polt, New Haven, 2000. Hussey, Edward: Aristotle’s Physics, Books III and IV, Oxford, 1983. Kaufmann, Walter: On the Genealogy of Morals/Ecce Homo, New York 1967. Malpas, Jeff: Heidegger and the Thinking of Place: Explorations in the Topology of Being, Cambridge, 2012. Turner, Victor: The Forest of Symbols: Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca 1967. Van Gennep: Arnold The Rites of Passage, trans. Monika Vizedom and Gabrielle L. Coffee, London, 1960. Vernant, Jean-Pierre: Myth and Thought Among the Greeks, trans. Janet Lloyd with Jeff Fort, New York, 2006.
Matthew Ratcliffe
Existential Feeling and Narrative Abstract: This chapter explores the relationship between existential feeling and narrative, with an emphasis on how the two interrelate in psychiatric illness. It begins by offering a two-part account of existential feeling: (i) not all ‘bodily’ feelings have an exclusively bodily phenomenology; (ii) amongst those that do not is a phenomenologically distinctive group of feelings, which are not specifically focused and instead constitute an all-enveloping sense of reality and belonging. The remainder of the chapter addresses the interaction between existential feeling and narrative, showing how narratives can shape existential feeling and vice versa. The principal claim is that existential feeling not only influences narrative content; it also constrains narrative form. For instance, certain kinds of existential feeling render the production of an autobiographical narrative unintelligible. This is illustrated through a consideration of experiences of grief and depression. It is argued that profound grief can involve the loss of a kind of temporal experience that is presupposed by the possibility of narrative construction, while some forms of depression involve incessant attempts to produce a self-regulatory narrative that the depression renders impossible. Both kinds of experience involve disruption of an orientation towards the future, something that is integral to the more usually taken-for-granted sense of being alive. This orientation is not constituted by autobiographical narrative; it is a kind of openness to the possible that narratives operate within.
Introduction This chapter is a tentative exploration of the relationship between existential feeling and narrative, with an emphasis on how the two interrelate in psychiatric illness. By ‘existential feeling’, I mean a felt sense of being rooted in a shared world, which shapes all experience and thought. This is something that I have described at length in several other works.¹ The term ‘narrative’ is used in many different ways. My concern here is with explicit autobiographical narratives of whatever length or sophistication, which relate life events in meaningful, chro-
E. g. Ratcliffe, Matthew: The feeling of being, in: Journal of Consciousness Studies / – , , – ; Ratcliffe, Matthew: Feelings of Being: Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford: Oxford University Press, .
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nologically structured ways. They can be written, spoken, told to others or kept to oneself, and they can be enduring, transient, consistent, inconsistent, ordered or fragmented. Many self-narratives do not include explicit descriptions of firstperson experience, but I will focus on those that do. Some of what I say here concerns only the latter but my main points, which are made in Sections 4 and 5, also apply more generally. In Sections 1 and 2, I offer a two-step summary of my conception of existential feeling: (i) not all ‘bodily’ feelings have an exclusively bodily phenomenology; (ii) amongst those that do not is a phenomenologically distinctive group of feelings, which are not specifically focused and instead constitute an all-enveloping sense of reality and belonging. In the remainder of the chapter, I address the relationships between existential feeling and narrative. In Section 3, I observe that existential feeling is often conveyed through detailed, first-person narratives. I advocate a phenomenological method whereby narratives are interpreted in terms of an understanding of existential feeling, which is itself open to revision, refinement and elaboration through engagement with first-person accounts of experience. Then I propose that existential feeling and narrative be regarded as distinctive aspects of experience, rather than separable components. In Section 4, I briefly discuss how narrative can shape existential feeling. I suggest that narratives can regulate experience and activity to the extent that a person ‘needs’ a story, something that raises issues about the reliability of first-person testimony. In Section 5, I develop my principal claim: the capacity for self-narrative presupposes existential feeling. I argue that existential feeling not only shapes narrative content; it also constrains narrative form. Certain existential feelings, I suggest, render the production of an autobiographical narrative unintelligible. To illustrate this, I consider a first-person account of grief, which involves loss of a kind of temporal experience that is presupposed by the possibility of narrative construction. I also discuss the phenomenology of depression and suggest that some cases of depression involve incessant attempts to produce a self-regulatory narrative that the depression renders impossible. Both kinds of experience involve disruption of an orientation towards the future, something that is integral to the more usually taken-for-granted sense of being alive. This orientation is not constituted by autobiographical narrative; it is a kind of openness to the possible that narratives operate within.
1 Kinds of Feeling What are ‘feelings’? To be more specific, what do those ‘feelings’ that are somehow implicated in emotional experience consist of? On one account, they are either
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intentional states that can have only one’s body or parts of one’s body as their object or they are non-intentional bodily ‘qualia’. Either way, the phenomenology of feeling is restricted to the body. This assumption has shaped philosophical and interdisciplinary discussion of emotion, serving to motivate the view that emotions cannot just be feelings (given that emotions are also world-directed) as well as the stronger view that feelings are not even partly constitutive of emotions. As Solomon puts it, „the feelings no more constitute or define the emotion than an army of fleas constitutes a homeless dog“.² I instead maintain that many so-called ‘bodily feelings’ do not have the body as their primary object. Several other philosophers have made a case for the existence of feelings that reach beyond the body. For instance, Stocker distinguishes between bodily and psychic feelings, where the latter are intentional states directed at something outside the body.³ Goldie makes a similar point, by distinguishing between ‘bodily feelings’ and ‘feelings towards’.⁴ Although I agree that not all feelings are directed at the body or parts of it, I reject a neat distinction between two kinds of feelings. Instead, I propose that most bodily feelings are relational, perhaps all of them. They are seldom, if ever, directed exclusively at the body. And some ‘bodily feelings’ do not involve the body as an object of experience at all; the body manifests itself as that through which something else is experienced.⁵ How can a bodily feeling be directed at something other than the body? I have suggested that the term ‘bodily feeling’ is equivocal, and that there is a distinction to be drawn between the feeling and the felt body.⁶ As Husserl puts it, „the Body [Leib] is, in the first place, the medium of all perception; it is the organ of perception and is necessarily involved in all perception“.⁷ We experience things other than the body through the feeling body. There are various ways of making a case for this. One route I have taken is to start with the phenomenology of touch and then
Solomon, Robert C.: Not Passion’s Slave: Emotions and Choice, Oxford: Oxford University Press, , . A similar approach, favoured by Martha Nussbaum (Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions, Cambridge: Cambridge University Press, ), is to maintain that, where ‘feeling’ plays a central role in emotion, it is a synonym for ‘belief’ or ‘judgment’. Stocker, Michael: Valuing Emotions, Cambridge: Cambridge University Press, . Goldie, Peter: The Emotions: A Philosophical Exploration, Oxford: Oxford University Press, . In some of his later work, Peter Goldie (Getting feeling into emotional experience in the right way, in: Emotion Review , , – ) moves in a similar direction, acknowledging that many ‘bodily feelings’ are also ‘feelings towards’. Ratcliffe: Feelings of Being. Husserl, Edmund: Ideas Pertaining to a Pure Phenomenology and to a Phenomenological Philosophy: Second Book, trans. Rojcewicz, Richard/Schuwer, André, Dordrecht: Kluwer, , .
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generalise from there, suggesting that what applies to tactual feeling also applies to many emotional feelings. When one touches something, it is clear that experience of the body and its movements is very closely tied to experience of something outside of the body, often (but not always) something that the body is in physical contact with. Martin makes a good case to the effect that body sense (incorporating both proprioception and kinaesthesis) is inextricable from touch.⁸ But he construes the relationship in terms of a unitary experience with both bodily and non-bodily contents, either of which might be the focus of attention. This, I think, is a mistake. The body is not just a primary or secondary content of tactual experience; it also features in our experience as that through which something else is experienced.⁹ Consider the experience of holding a pen, when comfortably and effortlessly using it to write something. Your hand is not a conspicuous part of the experience. However, after you have been writing for a while, it starts to sweat, ache and – in the process – to gradually enter the foreground of awareness. One might say that there are two discrete experiences here: you perceive your body and at the same time perceive something outside it. However, this seems implausible. You could not have an aching, sweaty hand and at the same time experience the pen as you would when engaged in effortless writing. How the hand feels is at the same time a way of experiencing the pen. In other words, the same feeling is both ‘noematic’ and ‘noetic’, an object of experience that is also a way of experiencing something else. Once we concede that some bodily feelings have world-directed intentionality (and I think an overwhelming case can be made in the case of touch, although I do not make that case in full here), our default position should be that other kinds of bodily feeling – which equally seem to have world-directed intentionality – have it too. In short, worldly states of affairs appear to us through various different kinds of feeling. One might argue that the body, when shaping experience of something else, is itself phenomenologically absent. Sartre leans in this direction and, more recently, Leder offers such a view.¹⁰ I remain open to the possibility that at least some experiences are exclusively of the body, whereas others involve the body being
Martin, Michael: Sight and touch, in: Crane, Tim (ed.): The Contents of Experience, Cambridge: Cambridge University Press, . See also O’Shaughnessy, Brian: The sense of touch, in: Australasian Journal of Philosophy , , – for the view that touch and body sense are mutually dependent. However, O’Shaughnessy does not go as far as Martin, to claim that there is a single unitary perceptual experience. Ratcliffe, Matthew: What is touch?, in: Australasian Journal of Philosophy , , – . Sartre, Jean-Paul: Being and Nothingness, trans. Barnes, Hazel E., London: Routledge, , ; Leder, Drew: The Absent Body, Chicago: Chicago University Press, .
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implicated in how we experience something else without featuring in the experience. However, I also maintain that the majority of cases fall between these two extremes. The body is often phenomenologically accessible in its noetic role, as that through which something else is experienced. Returning to the case of touch, a hand that is engaged in effortless writing is very different from a numb hand; you are aware of what it is doing while you are writing and what its current position is. To further complicate matters, noematic feelings (or, rather, the noematic aspects of feeling) are variably conspicuous and we can also distinguish between those that are reflected upon and those that are not, between reflective and pre-reflective noematic feelings.¹¹ The case for world-directed feeling does not have to be based solely on phenomenology.We can also draw on neurobiological findings to support the view that experience of body and world are inseparable. For example, Northoff reviews a substantial body of literature in order to argue for a „relational concept of emotional feeling“, according to which interoceptive and exteroceptive processing are accomplished by an integrated system that does not fully distinguish body from environment: […] the connectivity pattern [points to] the intero-exteroceptive relational concept of emotional feeling which seems to make isolated interoceptive processing and thus an interoceptive-based concept of emotional feeling rather unlikely.¹²
While Northoff emphasises sensory processing, others, such as Panskepp,¹³ have argued for an equally intimate relationship between emotional processing and action dispositions. There have also been many recent claims to the effect that action dispositions contribute to experience of things outside of the body.¹⁴ In addition, there is surely some kind of evolutionary argument to be made here: it would be odd, to say the least, for an organism that spends almost every moment of its waking life interacting with its environment to evolve in such a way that its sensory and motor systems processed bodily and environmental stimuli in complete isolation from each other, and only afterwards stitched the two together (which would be a complicated achievement, to say the least). It would be equally Colombetti, Giovanna/Ratcliffe, M: Bodily feeling in depersonalization: A phenomenological account, in: Emotion Review , , – . Northoff, Georg: From emotions to consciousness – A neuro-phenomenal and neuro-relational approach, in: Frontiers in Psychology , , – , here: . Panskepp, Jaak: The periconscious substrates of consciousness: Affective states and the evolutionary origins of the self, in: Gallagher, Shaun/Shear, Jonathan (eds.): Models of the Self, Exeter: Imprint Academic, , – . E. g. Noë, Alva: Action in Perception, Cambridge/MA: MIT Press, .
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odd for the two to be experienced separately, given the plausible assumption that neurobiology has at least some bearing on the structure of experience.
2 Existential Feelings I will now turn to a distinctive sub-group of feelings that are both bodily and worldinvolving, which I have called ‘existential feelings’.¹⁵ Although existential feelings have been neglected by philosophers and researchers in other disciplines, in everyday life people describe and refer to them in all sorts of ways, and this diversity is symptomatic – in my view – of considerable underlying phenomenological variation: People sometimes talk of feeling alive, dead, distant, detached, dislodged, estranged, isolated, otherworldly, indifferent to everything, overwhelmed, suffocated, cut off, lost, disconnected, out of sorts, not oneself, out of touch with things, out of it, not quite with it, separate, in harmony with things, at peace with things or part of things. There are references to feelings of unreality, heightened existence, surreality, familiarity, unfamiliarity, strangeness, isolation, emptiness, belonging, being at home in the world, being at one with things, significance, insignificance, and the list goes on. People also sometimes report that ‘things just don’t feel right’, ‘I’m not with it today’, ‘I just feel a bit removed from it all at the moment’, ‘I feel out of it’ or ‘it feels strange’.¹⁶
I use the term ‘existential’ because these feelings amount to a changeable sense of the reality of self and world, and of the relationship between them; they can be described as ‘ways of finding oneself in the world’. Existential feelings shape all our experiences and thoughts, and I have suggested that changes in existential feeling are central to many of the experiences associated with psychiatric diagnoses.¹⁷ The term ‘mood’ does not accommodate most existential feelings, and no other established term captures them and only them. Hence I have resorted to a technical term. But what exactly is an existential feeling? A list of examples, followed by metaphorical talk of ‘finding oneself in the world’, might be enough to secure reference but it does not amount to an adequate analysis. My analysis starts with the recognition that experience and thought incorporate a sense of various kinds of possibility. For instance, an object might appear practically significant in
Ratcliffe: The feeling of being; Ratcliffe: Feelings of Being. Ratcliffe: Feelings of Being, . Ratcliffe: Feelings of Being; Ratcliffe: Understanding existential changes in psychiatric illness: The indispensability of phenomenology, in: Broome, M./Bortolotti, L. (eds.): Psychiatry as Cognitive Neuroscience, Oxford: Oxford University Press, .
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some way, immediately enticing, threatening and so on. Existential feelings, I suggest, can be understood in terms of the kinds of possibility that we are receptive to. For instance, to find something threating or useful, you have to be open to the possibility of finding something threatening or useful, to those kinds of possibility. And this openness itself has a phenomenological structure: we find ourselves in a world that incorporates the potential for things to be encountered as useful or threatening. However, the modal structure of experience is changeable. On occasion, access to certain kinds of possibility is lost or diminished, and such changes are often associated with a pervasive experience of loss or lack.¹⁸ Psychiatric patients with a variety of diagnoses describe precisely this. Here are two examples: It became impossible to reach anything. Like, how do I get up and walk to that chair if the essential thing that we mean by chair, something that lets us sit down and rest or upholds us as we read a book, something that shares our life in that way, has lost the quality of being able to do that? […] You know that you have lost life itself.You’ve lost a habitable earth.You’ve lost the invitation to live that the universe extends to us as every moment. You’ve lost something that people don’t even know is. That’s why it’s so hard to explain.¹⁹ It’s almost like I am there but I can’t touch anything or I can’t connect. Everything requires massive effort and I’m not really able to do anything. Like if I notice something needs cleaning or moving, it’s like it’s out of reach, or the act of doing that thing isn’t in my world at that time… like I can see so much detail but I cannot be a part of it. I suppose feeling disconnected is the best way to describe it.²⁰
In the first quotation, there is an all-enveloping loss of practical significance from the experienced world. In the second, there is something slightly different: the world, though it might remain significant in various ways, is no longer enticing, no longer draws the person in, and so everything appears curiously distant, intangible. Many such descriptions also implicate the feeling body. To accommodate this, I have argued – drawing on the work of Husserl,²¹ amongst others – that We can account for this experience of lack or absence by noting that, although a person might be unable to experience possibilities of type p, she might still experience possibilities of type q, where q involves the anticipation of p. There is thus a pervasive sense of q’s lack of fulfilment, a feeling that the world is lacking in some way. Interview quoted by Hornstein, Gail A.: Agnes’s Jacket: A Psychologist’s Search for the Meanings of Madness, New York: Rodale, , . Interview quoted by Horne, Outi/Csipke, Emese: From feeling too little and too much, to feeling more and less? A non-paradoxical theory of the functions of self-harm, in: Qualitative Health Research , , – , here: . Husserl, Edmund: Ideas Pertaining to a Pure Phenomenology and to a Phenomenological Philosophy: Second Book, trans. Rojcewicz, Richard/Schuwer, André, Dordrecht: Kluwer, .
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experience of worldly possibilities is inextricable from a sense of bodily dispositions. As the second of the above quotations illustrates, loss of enticing possibilities from the world is bound up with a lethargic body that is not stirred into action by its surroundings. Again and again, first-person reports by psychiatric patients convey pervasive experiential changes, where an alteration in how the body feels is at the same time a shift in how the world appears and in how one relates to it. This applies to almost all detailed first-person accounts of depression.²² And it applies to schizophrenia as well. For example, Sass describes how an involuntary over-attentiveness to one’s body, which amounts to a radical change in how it feels, is inextricable from symptoms such as disengagement from the world and derealization. There is, he says, a „hyperreflexive awareness of bodily sensations that would not normally be attended to in any direct or sustained fashion“.²³ We might say that existential feelings determine the kinds of noetic and noematic feelings that one is open to.²⁴ A body that is constantly and pervasively conspicuous (at least in an unpleasant, uncomfortable way – not all forms of bodily conspicuousness are like this) is incompatible with the kinds of more specifically focused noetic and noematic feeling that characterise effortless, unthinking, comfortable interaction, whether with tools or with other people. So the existential feeling sets the parameters for the kinds of more localised experience one is capable of having.²⁵
Fuchs, Thomas: Corporealized and disembodied minds: A phenomenological view of the body in melancholia and schizophrenia, in: Philosophy, Psychiatry & Psychology , , – ; Ratcliffe, Matthew et al.: A bad case of the flu? The comparative phenomenology of depression and somatic illness, in: Journal of Consciousness Studies / – , , – . Sass, Louis A.: ‘Negative symptoms’, schizophrenia and the self, in: International Journal of Psychology and Psychological Therapy , , – , here: . Colombetti/Ratcliffe: Bodily feeling in depersonalization. As indicated in the previous section, there are potentially complementary themes in neuroscience. Interestingly, Philip Gerrans and Klaus Scherer (Wired for despair: The neurochemistry and the phenomenology of depression, in: Journal of Consciousness Studies / – , , – ) have argued that the concept of existential feeling is consistent with „multicomponential appraisal theory“. Existential feelings, they say, are the phenomenological counterparts of wide-ranging appraisal biases, where the term ‘appraisal’ is understood in a fairly permissive way. Thomas Fuchs (Corporealized and disembodied minds) maintains that a kind of bodily conspicuousness is central to melancholic depression.
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3 Narratives of Existential Feeling First-person narratives not only provide examples of existential feeling; they also constitute evidence for my account. Most existential feelings do not have established names. So lengthy descriptions, rather than simple statements along the lines of ‘I feel x’, are often used to express and communicate them. We can draw upon a diverse body of first-person accounts (fictional and autobiographical; published and unpublished; long and short) in order to (a) support the view that experience has the kind of structure I have described and (b) further explore the diversity of existential feeling. An especially rich source of evidence is the substantial body of testimony offered by psychiatric patients. There is a tendency in philosophy of psychiatry to focus on circumscribed perception and belief contents, and existential feelings have therefore proved elusive. However, when we reflect upon what many patients report, we have – I suggest – an inference to the only remotely plausible phenomenological account. Consider Jaspers’ famous description of delusional atmosphere: Patients feel uncanny and that there is something suspicious afoot. Everything gets a new meaning. The environment is somehow different – not to a gross degree – perception is unaltered in itself but there is some change which envelops everything with a subtle, pervasive and strangely uncertain light. A living-room which formerly was felt as neutral or friendly now becomes dominated by some indefinable atmosphere. Something seems in the air which the patient cannot account for, a distrustful, uncomfortable, uncanny tension invades him.²⁶
In this and so many other cases, we might wonder how things can look so different and yet at the same time unchanged. It seems paradoxical until we acknowledge a shift in the kinds of possibility the person is open to, in an all-enveloping ‘style’ of perceiving and thinking that is not itself a content of experience or thought (not until explicitly reflected upon, anyway).²⁷ However, descriptions of existential feeling are not exclusive to first-person reports of psychiatric illness and descriptions offered by clinicians that are based on such reports. Elaborate descriptions of existential feeling frequently appear in literature too. This passage is from Sebastian Faulks’ The Girl at the Lion d’Or:
Jaspers, Karl: General Psychopathology, trans. Hoenig, John/Hamilton, Marian W., Manchester: Manchester University Press, , . I borrow from Merleau-Ponty, Maurice: Phenomenology of Perception, trans. Smith, Colin, London: Routledge, , in referring to world-experience as a ‘style’.
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She thought of the landscape of her childhood and the wooded slopes around the house where she was born. They seemed as alien to her now as these anonymous fields through which she passed. Since she felt she belonged to no part of it, she could make no sense of this material world, whether it was in the shape of natural phenomena, like woods and rivers, or in the guise of man-made things like houses, furniture and glass. Without the greeting of personal affection or association they were no more than collections of arbitrarily linked atoms that wriggled and chased each other into shapes that men had named. Although Anne didn’t phrase her thoughts in such words, she felt her separation from the world. The fact that many of the patterns formed by random matter seemed quite beautiful made no difference; try as she might, she could dredge no meaning from the fertile hedgerows, no comfort from the pointless loveliness of the swelling woods and hills.²⁸
Some literary descriptions of existential feeling specifically address experiences of psychiatric illness. Take this passage from a novel about the poet John Clare, who was admitted to High Beach Asylum in 1837: Stands in the wilderness of the world, stands alone, […] surrounded by strangers, trembling, unable, the sun heating him, his will breaking inside him, until he bursts out, ‘what can I do?’ As though it were possible, he searches again the strangers’ faces to find Mary or Patty or one of his own children or anyone, but there is no warm return from them. They are alien, moulded flesh only, and they frighten him.²⁹
The predicament described here does not only involve however many faces seeming curiously inanimate. It is something that structures all of the protagonist’s interpersonal experiences. Like other existential feelings, it involves a way or relating to the interpersonal and social world. Of course, first-person narratives do not wear their interpretations on their sleeves. So there is a need to proceed with caution – we should refrain from imposing a phenomenological framework in such a way that it stifles alternative interpretations from the outset. That said, the account I have sketched can be applied to numerous first-person descriptions with very little interpretive effort. And its plausibility stems largely from its ability to make sense of phenomena, such as ‘everything looking exactly the same but completely different’, which otherwise remain elusive. Furthermore, the approach can be revised, fine-tuned and elaborated through engagement with testimony, rather than applied inflexibly. For instance, reflection upon first-person accounts can serve to further refine our appreciation of the kinds of possibility that experience incorporates and the dependence relations between them. Hence what we have is a kind of hermeneutic enquiry, where a phenomenological theory feeds into the interpretation of tes Faulks, Sebastian: The Girl at the Lion d’Or, London: Vintage, , . Faulds, Adam: The Quickening Maze, London: Jonathan Cape, , .
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timony but remains open to revision in the light of that testimony. There is an ongoing cycle of mutual clarification between the two. When interpreting narratives in terms of existential feeling, it can be difficult to extricate an existential feeling from other features of experience, such as trains of thought, specifically focused perceptions and self-interpretations. But I do not wish to claim that existential feelings are isolable ‘components’ of experience, which can persist in a purified form independent of whatever else accompanies them. Indeed, it may well be that existential feelings cannot be disentangled from some of the narratives through which they are expressed. Consider William James’ various claims to the effect that religious and metaphysical doctrines are rooted in feeling: „[…] in the metaphysical and religious sphere, articulate reasons are cogent for us only when our inarticulate feelings of reality have already been impressed in favor of the same conclusion.“³⁰ On one account, what I call an ‘existential feeling’, of one type or another, constitutes an all-encompassing sense of reality and belonging. Explicit religious and philosophical doctrines are then used to convey and interpret this – they ‘sit on top of it’, and exactly the same feeling can underlie a wide range of superficially divergent linguistic expressions. On another account, what James calls the ‘overbeliefs’ (culturally and historically contingent ways of giving linguistic shape to core feeling) alter the feeling, maybe giving it a more specific content. The feeling somehow ‘crystallizes’ into something articulable, rather than enduring beneath the language that it motivates. I doubt that we can discern a pure feeling component that can be neatly separated from its linguistic expression and interpretation. For example, suppose you encounter someone who complains of having „the feeling of being surrounded by arseholes“. (Thanks to Jan Slaby for this example, which is the first thing he spotted when he typed ‘the feeling of being’ into Google, a method I once used to find descriptions of existential feelings.) Now, this might well be symptomatic of a felt way of finding oneself in the world, involving an all-enveloping sense of uneasiness, social insecurity, disconnectedness and a kind of bodily, non-propositional distrust of other people. But even if it is, I am not sure that the existential feeling can be separated from how it has been conceptualised, understood and expressed, something that may well influence how the person responds to it and also affect how she relates to other people. She might take it that she feels like this because she is indeed surrounded by horrible people; the feeling thus reflects the reality of her situation. This, in turn, influences
James, William: The Varieties of Religious Experience, New York: Longmans, Green & Co., , . See also Ratcliffe: Feelings of Being, chapters and for a detailed account of James on emotion and feeling.
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how she feels. Having accepted that her feeling is reliable, she may be content to engage with the world through it, rather than reflecting upon it and attempting to somehow distance herself from it and from the various behavioural inclinations associated with it. From a dynamic perspective, at least, the feeling and its conceptualisation are utterly entangled. I should confess that I am not entirely sure what ‘concepts’ are. However, even if we restrict our considerations to spoken language, which is uncontroversially conceptual, it is arguable that the linguistic expression of feeling is not always a matter of conveying pre-formed experiences. Some maintain that language individuates and even partly constitutes certain feelings.³¹ To return to my earlier example, there may be a feeling of ‘being surrounded’ where individuation of the feeling depends in part on its linguistic expression. To further complicate matters, interpersonal interactions may play a facilitative role, assisting in the construction of interpretations that in turn shape feeling. Hence, regardless of whether or not a narrative incorporates explicit attempts to express, communicate and/or interpret feeling, it may well have some influence on the nature of the experience, a point that applies to linguistic expression more generally. Given this, I am inclined to suggest that existential feeling be regarded as an inextricable aspect of experience, rather than a dissociable component, to use a distinction made by Hobson.³² In the ‘feeling of being surrounded’ case, there might be an existential feeling aspect, but it does not suffice to individuate something so specific. However, this is not to imply that the distinction between existential feeling and other aspects of experience is irretrievably blurred. By analogy, the distinction between the three internal angles of a triangle is quite clear, even though they are inextricable. We can distinguish existential feeling from self-narrative and other aspects of experience in a fairly clear way through a kind of abstraction – describing something in isolation does not in any way imply the possibility of its isolated existence. And we can also draw upon first-person narratives of feeling in order to understand the nature of feeling, even if it is accepted that a narrative can be – to some extent at least – integral to what it expresses.
Campbell, Sue: Interpreting the Personal: Expression and the Formation of Feelings, Ithaca: Cornell University Press, ; Colombetti, Giovanna: What language does to feelings, in: Journal of Consciousness Studies , , – . Hobson, Robert P.: Is jealousy a complex emotion?, in: Hart, Sibyl L./Legerstee, Maria (eds.): Handbook of Jealousy: Theory, Research, and Multidisciplinary Approaches, Oxford: Blackwell, , – .
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4 Narrative and Self-Regulation The relationship between existential feeling and narrative can be further illuminated by considering some of the ways in which people rely on narrative in order to make sense of and also regulate their experience and behaviour. This raises a methodological issue. The role of a first-person narrative is seldom simply to convey an experience to others as clearly and truthfully as possible. Narratives are motivated by many factors, including their ability to regulate – to some degree – experience, thought and activity. In various ways, people come to rely on the stories they construct and tell about themselves. There is surely a degree of interpersonal variation here, with some people more disposed to couch experiences in narrative form than others. As one author says in a first-person account of grief, „writing is what I have, and it’s how I make sense of experience“.³³ But it could be that people who are grieving turn to whatever resources are at their disposal in order make sense of and cope with the upheaval. It is thus unclear whether and to what extent we should generalise from the accounts of professional authors.³⁴ Furthermore, interpretations of experience are shaped, to some extent, by the canonical narratives of a culture. Some of these might serve to individuate or partly constitute the relevant experiences, but they could also be systematically at odds with aspects of the experiences they narrate. For instance, the entrenched narrative about gradually ‘letting go’ following a bereavement is in tension with the view that grief more usually involves long-term retention of a personal relationship with the deceased, albeit one that changes in character.³⁵ It is also worth emphasising that the content, and indeed the existence, of a first-person narrative may be partly symptomatic of a person’s need for it. For example, Tim Lott, in his autobiographical account of depression, writes that his story is motivated not merely by a desire to relate his experience but by a yearning for coherence, a felt need to impose some kind of meaningful structure on what has happened to him: Facts, there are so many facts. I have left such a lot out. There must be many more unremembered and still more unknown. If I had chosen differently, it would be a different story, but this is the story I have told myself and I must hold to it. It is a trick I am trying to learn. I
Humphreys, Helen:True Story:The Life and Death of My Brother, London: Serpent’s Tail, , . Thanks to Douglas Davies (personal communication) for this point. Klass, Dennis et al.: Continuing Bonds: New Understandings of Grief, London: Routledge, .
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need a story and that is the nub, that is what it boils down to, as my father always says. […] It is dangerous not knowing the shape of your own life.³⁶
All of this further illustrates the need for interpretive caution. I do not want to suggest that we approach first-person testimony with distrust and suspicion. Even so, there is a need to distinguish between ‘respect’ and ‘credulity’.³⁷ We can respect a person’s narrative, seek to interpret it in the light of a phenomenological theory and draw phenomenological insights from it, but without naively accepting its content at face value or ruling out the possibility of re-interpretation. And this point is something that we can come to appreciate precisely by engaging with firstperson narratives. Hence it does not undermine the claim that we can gain phenomenological and other insights from narratives. It just alerts us to something we should keep in mind when attempting to do so. And it also points to the conclusion that narrative has a role (or perhaps several roles) to play in regulating existential feeling. Nowhere is this more evident than in Albert Speer’s prison diaries, which were written during his twenty years of incarceration at Spandau, after his sentencing at the Nuremberg War Crimes Trials. Speer describes his writing as „one concentrated effort to survive“. His diary, he says, is an „attempt to give form to the time that seemed to be pouring away so meaninglessly, to give substance to years of empty content“. Diaries, he remarks, are „usually the accompaniment of a lived life“, whereas this one „stands in place of a life“.³⁸ We can distinguish two themes here. First of all, the project of writing the diary is itself something to fill the time with, which imposes a meaningful structure upon it. Second, the content of the diary gives narrative form to a life that is otherwise bereft of meaningful change or longer-term teleological structure. The alternative, according to Speer, is to surrender to a kind of existential collapse, to a way of finding oneself in the world that would render structured, purposive activity of any kind unintelligible. So I think it is plausible to maintain that some of the narratives we construct regulate existential feeling, perhaps via several different routes. The point also applies more specifically to existential feeling in psychiatric illness. For instance, a feeling might be interpreted by the person in a way that induces dread,which feeds into and exacerbates the original feeling, and so forth. According to Jaspers,³⁹ this dynamic is evident in the case of delusional atmosphere. The person does not understand what is happening to her and experiences a terrifying feeling of in Lott, Tim: The Scent of Dried Roses, London: Viking, , . Pies, Ronald: From context to phenomenology in grief and depression, in: Psychiatric Annals , , – . Speer, Albert: Spandau. The Secret Diaries, New York: Ishi Press, /, xi–xii. Jaspers: General Psychopathology.
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determinacy, which fuels a quest for certainty in the form of the delusional narrative that eventually crystallises. The narrative is shaped by the experience but also changes the experience, giving it a more determinate meaning.
5 The Impossibility of Narrative Although narrative can – to some extent – regulate existential feeling, the capacity for narrative also presupposes existential feeling. Of course, the content of one’s feelings will be somehow reflected in one’s autobiographical narratives, but what I want to emphasise is the way in which existential feeling influences narrative form. To do so, I will focus on experiences of depression,which we can learn a great deal about by studying first-person narratives. As already noted, there are all sorts of issues concerning reliability: depression narratives have various motivations, they often borrow heavily from other sources, and they almost always take the form of a ‘journey’. Furthermore, they are usually written after a period of depression, when memory of the experience may be sketchy, and also with a certain audience in mind. Even so, the sheer weight of consistent testimony outweighs – in my view – concerns about reliability.The same themes appear time and time again, in elaborate published narratives, and in shorter, unpublished testimonies of various kinds (although I acknowledge that certain themes may be partly symptomatic of shared cultural influences). Almost every detailed first-person account of depression describes a range of bodily changes, as well as an all-encompassing loss of certain kinds of possibility. Perhaps most centrally, the possibility that anything could be significantly different from the present in a good way is gone from the world or at least eroded. People therefore describe themselves as living in a different world, an oddly static, changeless place that seems inescapable. Because sufferers cannot contemplate the possibility of anything being significantly different, because the world appears altogether bereft of that possibility, they consistently report being unable to conceive of the possibility of their ever recovering; the world of depression is eternal. Here are some representative remarks, which my colleagues Benedict Smith, Hannah Bowden and I collected via a recent questionnaire study: It is impossible to feel that things will ever be different (even though I know I have been depressed before and come out of it).This feeling means I don’t care about anything. I feel like nothing is worth anything. The world holds no possibilities for me when I’m depressed. Every avenue I consider exploring seems shut off.
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When I’m not depressed, other possibilities exist. Maybe I won’t fail, maybe life isn’t completely pointless, maybe they do care about me, maybe I do have some good qualities. When depressed, these possibilities simply do not exist.⁴⁰
Something that is central to most, if not all, experiences of depression can thus be plausibly interpreted in terms of existential feeling: the glass wall, prison, suffocating hole, bell jar, blackness, eternity – call it what you will. Hence we can see how existential feeling in depression influences – although does not fully determine – the content of self-narrative. However, it can also have a profound effect on narrative form. Most published depression narratives are written after a period of depression, but those written at the time are constrained by the loss of possibility. As Byron Good has noted, most self-narratives, including illness narratives, oscillate between various points of view; they are open to diverse self-interpretations and alive with possibilities: „stories of illness and healing experience which represent quite distinct and often competing forms of composing the illness are present in narratives precisely because they maintain the quality of subjunctivity and openness to change“. However, he observes that this form is absent in „tragic and hopeless cases“.⁴¹ And this is what we find in depression. There is a loss of narrative openness, an inability to entertain certain kinds of possibility, which reflects the experienced loss of an open future. This loss also manifests itself in terms of specific belief contents that feature repeatedly in depression narratives, such as the belief that one will not recover, the belief that one cannot do various things and, more generally, beliefs about the kind of person one is and where one is going. The profundity of loss no doubt varies. In more extreme cases, the person cannot imagine how things could ever be different from the present or believe that they ever were different. Changes in existential feeling can even render the production of autobiographical narrative impossible. To illustrate this, I will turn to a first-person account of profound and enduring grief. Denise Riley describes how, for some years after the unexpected death of her adult son, her overall sense of belonging to the world underwent a pronounced shift.⁴² She focuses specifically on temporal experience and states that time stopped ‘flowing’. How are we to understand this? Riley refers to „that acute sensation of being cut off from any temporal flow that The study was conducted as part of the AHRC- and DFG-funded project ‘Emotional Experience in Depression: a Philosophical Study’. The questionnaire was posted on the website of the mental health charity SANE. Respondents identified themselves as depressed and, in most cases, offered details of their diagnoses. They provided free text responses with no word limit. Good, Byron J.: Medicine, Rationality and Experience: An Anthropological Perspective, Cambridge: Cambridge University Press, , . Riley, Denise: Time Lived, Without Its Flow, London: Capsule Editions, .
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can grip you after the sudden death of your child“.⁴³ So the focus on being removed from a temporal world, from a community of people for whom time still flows, rather than on the simple absence of flow.There is, she says, a „sensation of having been lifted clean out of habitual time“;⁴⁴ „of living outside time“.⁴⁵ We might think of this in terms of narrative time, of a story that one stops assembling and telling after an event that disrupts it so radically. But Riley stresses that the experience involved loss of something that the very intelligibility of narrative depends upon. The possibility of putting things into words in a meaningful, chronologically structured way presupposes a sense of temporal order that was absent: […] to live on after a death, yet to live without inhabiting any tense yourself, presents you with serious problems of what’s describable. This may explain the paucity of accounts. To struggle to narrate becomes not only an unenticing prospect, but structurally impossible.⁴⁶
One might respond by expressing some scepticism about the claim that time stopped flowing. However, once it is acknowledged that experience incorporates a changeable sense of the possible, what Riley describes strikes me as quite amenable to interpretation. Profound grief can involve, among many other things, loss of the sense that anything could ever be significantly different from the present in a positive way. This affects long-term experience of time because there is no longer a teleological sense of direction, of moving or being able to move ‘forward’. It also affects short-term experience, as the transition from moment to moment no longer incorporates any sense of meaningful change. Things still change but nothing of any consequence happens. There is thus no experience of short- or long-term temporal direction, involving the on-going actualisation of possibilities against the backdrop of some set of cares, concerns, commitments, goals and projects. It is ‘meaningful change’ rather than ‘mere change’, Riley indicates, that is responsible for the aspect of experience that we often describe in terms of the ‘flow’, ‘passage’ or ‘movement’ of time. Given what I have said so far, it might seem that a profound experience of grief such as this has much the same phenomenological structure as severe depression. But it does not. Both involve loss of openness to a meaningful future, but a constant theme in Riley’s account is the retention of an intense second-person connection with the deceased; one continues to relate to the person, to be with him, in a way that is incompatible with teleological immersion in a world that no
Ibid., . Ibid., . Ibid., . Ibid., .
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longer includes him: „imagined empathy seals your sense of stopped time“.⁴⁷ Depression generally involves a feeling of being disconnected from everyone, not a feeling of disengagement from the social world stemming from retention of a distinctive type of second-person relation.⁴⁸ What Riley describes so eloquently is, however, consistent with my conception of existential feeling: it is something that is both a bodily experience and a way of being dislodged from the social world: „this state is physically raw, and has nothing whatsoever to do with thinking sad thoughts or with ‘mourning’. It thuds into you. Inexorable carnal knowledge“.⁴⁹ The ‘feeling’ structures all of one’s experiences and thoughts, amounting to an altered sense of the possible, a loss of the open future that autobiographical narrative presupposes. The account that I quote from here was, of course, written after the time to which Riley refers. Severe forms of depression may well have a similar effect on the capacity for self-narrative, and I have already suggested that depression can constrain and impoverish narrative form by interfering with the ability to experience and contemplate possibilities. But I want to conclude with some speculative suggestions concerning a different kind of narrative disturbance, which I suspect occurs in at least some instances of depression. Here, the person needs a coherent narrative, principally a narrative about where she is going and how she is going to face certain tasks, but she cannot form one because there is no sense that the future could ever be any different. However, the resultant predicament does not involve an absence of narrative thought. Instead, there is a cacophony of disordered thoughts as she struggles to form a coherent story that cannot take shape; thoughts whizz round without any efficacy, like a car engine that is not in gear. It is exemplified by the following questionnaire responses, all of which address the question „how does depression affect your ability to think?“ […] my head is filled with so many thoughts I can’t ever sleep. Just hundreds and hundreds of thoughts whirling around in my head, with no function or order. It’s complete chaos. […] when I have depression, my mind just feels overly active with all these different thoughts spinning round in my head, but at the same time my mind feels completely blank of any feelings or emotions. I don’t know if that makes sense, but it does to me.
Riley: Time Lived, Without Its Flow, . See also Pies (From context to phenomenology in grief and depression): From context to phenomenology in grief and depression for the view that the intersubjective phenomenology of grief differs importantly from that of depression. We can draw such distinctions without taking sides in debates over whether and when grief is to be deemed ‘pathological’. Riley: Time Lived, Without Its Flow, .
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Thoughts are jumbled, repetitive, extreme. I find a weird combination of thinking too much and not being able to think about anything. I don’t usually dwell on the past but when I am depressed things just pop into my head. However, ask me what I want for lunch or what time something needs to happen and there is nothing there. Insane whirling repetitive thinking which is completely incapable of finding a solution and over-complicates and throws up road blocks at every turn. Can’t focus or read, sometimes can’t even watch TV as requires too much concentration.
The kinds of thought that the person has are often negative thoughts about the past and about the self, as well as thoughts about problems to which solutions never materialise. She cannot entertain the possibility of anything good happening to her, and so she cannot construct a future-oriented self-narrative in which problems are successfully dealt with or a past-focused narrative that allows for the possibility of rectifying or mitigating mistakes. But she can envisage the bad – failure in its many guises, along with shame and guilt. So, the more she thinks through her problems, the worse things get. The only new possibilities that she opens up are bad ones, the result being a spiral of hopelessness, worthlessness and often self-loathing: I can’t think about anything positive, just negative thoughts. I only think about my own problems and they keep going round and round my head with no let up and no escape. It’s like a jumper unravelling; you pull at that stray thread and the thing unravels, you know you should stop pulling the thread or the whole thing will fall to pieces, but you hate that loose end that proves the thing is unravelling anyway so you keep on pulling […] You can’t help yourself […]
What we have here is a need for narrative and a drive to produce it, along with a disabling breakdown of narrative formation, thus illustrating the regulative role that narrative more usually plays. However, this is not to suggest that narrative invariably ceases to play a regulative role in depression. People offer all sorts of accounts of what caused their depression. A complicated history of life events is often involved, including parents leaving or divorcing, lack of parental care, abuse, bereavement, not being loved by anyone, going through a divorce, or being neglected, bullied or disliked. Others emphasise illness or accident and, regardless of the focus, the problems often date back to childhood. For some, depression is a brain disease, and many appeal to family history or genetic dispositions. Others mention stress. And some state that their depression is post-natal or tracks
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the menstrual cycle. A few say that they simply do not understand what has happened to them. It is likely that some self-narratives steer the course of a depression in a different direction from others, partly through direct and indirect regulation of existential feeling. Jennifer Radden makes an important distinction between two broad kinds of depression narrative, „symptom-alienating“ and „symptom-integrating“ narratives, where the former involve thinking of depression as something external that affects the self, whereas the latter involve construing it as integral to the self.⁵⁰ A certain kind of symptom-integrating narrative is arguably more likely to perpetuate or exacerbate a depression. Sometimes, the person comes to think that the depression itself is somehow her fault: I know depression is an illness but at the same time I feel like I caused it.The doctor explained that it could be because of genetic reasons because my biological dad had bipolar and his mum did too. Also my psychologist believes that because I feel like I am to blame for the violence caused by my biological towards me and my mum, which started when she was pregnant with me so I have always felt to blame because of that. Loss of an open future often leads to a kind of narrative that is past-oriented, pre-occupied with a life history that is riddled with failure and no longer amenable to re-negotiation in the light of future projects and goals. This often involves all-enveloping feelings of guilt and selfloathing, without any sense of possible redemption: [When depressed] I hate myself. The reason my life is so awful at these times is because I am a terrible,wicked, failure of a person. I’m not a proper human being, I am a failed human being. Everything that goes wrong in my life is directly my fault; I caused it by not doing things I should have done, or doing things I shouldn’t have done. I am a waste of a human life. No-one knows just what a horrible useless nothing of a person I really am, because I hide it from people – if they ever found out the truth, they will all hate me and I will never have a single friend in the world ever again.
The combination of ‘self-loathing’ and ‘I caused it’ together generate a depression narrative according to which the person deserves his depression and is forever condemned to it, a conviction that is surely an impediment to recovery. Hence, although the capacity for self-narrative is impaired to varying degrees in depression and shaped by the kinds of existential feeling that are typical of depression, people still interpret their predicaments in ways that are, to an extent, contingent and malleable. So there are interesting and clinically important questions to be addressed here, which apply to depression and more generally.
Radden, Jennifer: Moody Minds Distempered: Essays on Melancholy and Depression, Oxford: Oxford University Press, .
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When and how can certain kinds of narrative help sustain, alter or rebuild a person’s capacity for feeling? And to what extent are others able to assist in the construction of such narratives, by drawing on imaginative abilities that the person lacks?
Acknowledgements I would like to thank the AHRC and DFG for funding the project ‘Emotional Experience in Depression: A Philosophical Study’, which enabled me to do the research this chapter is based on. Thanks also to Outi Benson for helping to design the questionnaire study that I draw upon here, to the mental health charity SANE for hosting it, and to all those who responded to it. I am also very grateful to my project colleagues in the UK and Germany, and to an audience at the conference ‘Narrative, Self-Understanding and the Regulation of Emotion in Psychiatric Disorder’ (London, October 2012) for helpful discussion and advice.
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Andreas Urs Sommer
„Moral als Vampyrismus“
Leben und Blutsaugen bei Friedrich Nietzsche Abstract: „Morality as vampirism“. Living and blood sucking in Nietzsche. This study in scarlet investigates Friedrich Nietzsche’s evident preferences for blood and how the motif of blood sucking is crucial for the understanding of his thinking. Although vampirism is so present in Nietzsche’s writings, it has never been carefully evaluated before. The chapter, introducing Nietzsche into vampirological research for the first time, shows how Nietzsche got acquainted with vampires in literature and religious studies and how he interpreted philosophy, science, Christianity, and morality as different types of vampirism. Nietzsche understood the role of the philosopher of the future as the role of a vampire hunter. Ach würden Sie wohl so freundlich sein und Ihre Blutgruppe mal erwähnen? Udo Lindenberg*
1 Vampirologisch-hämatologische Propädeutik Friedrich Nietzsche ist im vampirologischen Diskurs der Gegenwart so unsichtbar wie ein klassischer Vampir bei Tageslicht. Durchforstet man – wie einst Jonathan Harker Graf Draculas Schloss – die verwinkelten Kammern der Vampir-Forschung, die in den letzten Jahrzehnten einen bedeutenden Aufschwung nahm, sucht man ihn vergebens: Weder die Anthologie Von denen Vampiren oder Menschen-Saugern von Dieter Sturm und Klaus Völker¹ noch Paul Barbers kulturanthropologische Untersuchung Vampires, Burial, and Death,² weder Claude Lecouteuxs Geschichte der Vampire noch der reichhaltige Sammelband Draculas, Vampires, and Other
* Für Hinweise, nicht nur auf diesen unsterblichen (oder untoten) Vers, danke ich Helmut Heit (Berlin) und Marco Brusotti (Lecce), für die kritische Durchsicht des Manuskriptes Raphael Rauh (Freiburg i. Br.). Sturm, Dieter/Völker, Klaus (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschen-Saugern. Dichtungen & Dokumente. Bde., Herrsching, o.J. Barber, Paul: Vampires, Burial, and Death. Folklore and Reality, New Haven/London, .
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Undead Forms von John Edgar Browning und Caroline Joan Picart,³ weder Ditte und Giovanni Bandinis gefälliges Vampirbuch noch Matthew Beresfords tiefsinniges From Demons to Dracula. The Creation of the Modern Vampire Myth, ⁴ weder Matthew Bunsons Vampire Encyclopedia noch Rosemary Ellen Guileys The Encyclopedia of Vampires, Werewolves, and Other Monsters,⁵ weder J. Gordon Meltons monumentales The Vampire Book. The Encyclopedia of the Undead noch der von Carla T. Kungl verantwortete Konferenzband Vampires. Myths and Metaphors of Enduring Evil befinden Nietzsche auch nur einer Erwähnung für würdig.⁶ Erzogen in der Schule des Verdachts, wird man misstrauisch, denn schon ein flüchtiger Blick in Nietzsches Texte fördert eine stattliche Anzahl expliziter Vampirismus-Stellen zu Tage, nicht zu reden von all dem Blut, das sonst in diesen Schriften fließt. Das Misstrauen wächst, werden einem die jüngsten Transformationen der Vampirgestalt zu einem Tierblut trinkenden, liebenswürdigen „Vegetarier“ mit Menschenbisshemmung zur Kenntnis gebracht: Dass die bekennende Mormonin Stephenie Meyer für den Titel ihres 2005 erschienenen, bald zum Welterfolg gewordenen Romans Twilight sich bei Nietzsches Twilight of the Idols, der Übersetzung der Götzen-Dämmerung (1888), bedient haben muss, ist für jedermann offensichtlich, der in einer vampirisch mitbestimmten Welt nicht an Zufälle glaubt und damit auch nicht daran, dass die Autorin so etwas Triviales wie die Dämmerung im Sinn gehabt haben kann. Tatsächlich bestätigt diesen Argwohn ein in der Blackwell Philosophy and Pop Culture Series publizierter Band mit Aufsätzen unter dem Titel Twilight and Philosophy. Vampires, Vegetarians, and the Pursuit of Immortality. ⁷ Dort wird immerhin zaghaft die Vermutung geäußert, Meyer sei vielleicht bei ihrer Titelwahl von Nietzsches Vorgabe nicht ganz unbe-
Lecouteux, Claude: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. Aus dem Französischen von Harald Ehrhardt, Zürich/München, ; Browning, John E./Picart, Caroline J. (Hrsg.): Draculas, Vampires, and Other Undead Forms. Essays on Gender, Race, and Culture, Lanham/Toronto/New York/Plymouth, . Bandini, Ditte/Bandini, Giovanni: Das Vampirbuch, München, ; Beresford, Matthew: From Demons to Dracula. The Creation of the Modern Vampire Myth, London, . Bunson, Matthew: The Vampire Encyclopedia, New York, ; Guiley, Rosemary E.: The Encyclopedia of Vampires, Werewolves, and Other Monsters. Foreword by Jeanne Keyes Youngson, New York, . Melton, J. Gordon: The Vampire Book. The Encyclopedia of the Undead. Third Edition, Canton/ MI, ; Kungl, Carla T.: Vampires. Myths and Metaphors of Enduring Evil, Oxford, . Housel, Rebecca/Wisnewski, J. Jeremy (Hrsg.): Twilight and Philosophy. Vampires,Vegetarians, and the Pursuit of Immortality, Hoboken/NJ, .
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rührt geblieben.⁸ Wagt man schließlich einen Blick in die überaus anregenden und überaus wirren Vampire Lectures von Laurence A. Rickels, erfährt man immerhin, dass Nietzsche mit seiner Genealogie der Moral (1887) dabei helfen könne, bestimmte cineastische Formen des vampirischen Lebens besser zu verstehen, nämlich deren lebensfeindlichen Willen zur Wahrheit sowie deren rachsüchtiges, priesterlich-asketisches Temperament, für das Gott natürlich tot ist.⁹ Aber als Vampirologe eigenen Rechts kommt Nietzsche nicht zu Ehren. Auch in der überbordenden Nietzsche-Literatur fällt nur ein einziger Lichtstrahl auf diesen Aspekt von Nietzsches Denken, als ob er heimtückisch in dämonischem Dämmer gehalten werden sollte. Diesen Lichtstrahl stellt ein Aufsatz von Tobias Nikolaus Klass dar, der anhand von „Zarathustras Vampirismus“ den „Nutzen und Nachtheil der Kulturwissenschaft für das (politische) Leben“ erörtert.¹⁰ Er skizziert nicht nur die Kulturgeschichte des Vampirs, sondern versteht Nietzsches Figur des Zarathustra selbst als einen vampirischen Wiedergänger, einen Revenant, der sich an seinen Mitmenschen blutsaugerisch schadlos hält. Die expliziten vampirologischen Äußerungen Nietzsches werden dabei nur kursorisch abgehandelt. Eine eingehendere Betrachtung dieser Äußerungen soll deshalb hier nachgeholt werden, quasi als Prolegomenon zu einer (allerdings vom Autor nicht zu erwartenden) Theorie des Blutes bei Nietzsche, mit praktischen Beispielen. Denn Blut ist bei ihm allgegenwärtig, selbst da – wo er nicht eigens von ihm spricht, sondern beispielsweise im Motto-Gedicht zum Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft die Wunder des Sanctus Januarius anruft:¹¹ Das in Neapel aufbewahrte, kristallisierte Blut des Märtyrers San Gennaro wird wundersamerweise regelmäßig wieder flüssig.¹² Leitend bleibt in Nietzsches Philosophie, „sich an der ‚erkannten Wahrheit‘ nicht zu ‚verbluten‘“.¹³
Fosl, Peter S./Fosl, Eli: Vampire-Dämmerung. What can twilight tell us about god?, in: Housel, Rebecca/Wisnewski, J. Jeremy (Hrsg.): Twilight and Philosophy. Vampires, Vegetarians, and the Pursuit of Immortality, Hoboken/NJ, , . Vgl. Rickels, Laurence A.: The Vampire Lectures, Minneapolis, , f., – , f. Vgl. Klass, Tobias N.: Vom Nutzen und Nachtheil der Kulturwissenschaft für das (politische) Leben: Zarathustras Vampirismus, in: Därmann, Iris/Jamme, Christoph (Hrsg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München, , – . Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York, , . Vgl. dazu Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches „Der Antichrist“. „Ecce homo“. „Dionysos-Dithyramben“. „Nietzsche contra Wagner“ (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken), hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. / , Berlin/Boston, , – . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbände. Bd. , .
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Seine Präferenz für Blutmetaphern hat etwas unzeitgemäß-antimodernes, so scheint es jedenfalls jenen Lesern, die ihn als Fackelträger der Moderne verstanden wissen möchten. Was hat Blut noch verloren in einer Welt aus Eisen? Während uns das Blut ausgegangen zu sein scheint, suhlte sich kontrafaktisch zur technischen Eisenwelt die politische Rhetorik der letzten beiden Jahrhunderte bekanntlich nur allzu gerne darin – und Otto von Bismarck prägte die Formel von „Blut und Eisen“, die Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (1886) zitiert.¹⁴ Ebenso unzeigemäß-antimodern und zugleich verrucht-verführerisch wie die Rede vom Blut ist der Vampir. Er passt nicht in die moderne, aufgeklärte Welt – und gerade darin liegt seine ungebrochene Faszinationskraft, weil sich in ihm Sehnsüchte nach einer anderen, eben nicht gänzlich ausgeleuchteten Wirklichkeit bündeln können. Er ist in keiner Welt zu Hause, kann sich weder von diesem Leben lösen, noch in ein jenseitiges eingehen, ist weder dem Irdischen noch dem Jenseitigen völlig untertan: der Un-Tote par excellence. Der Vampir spottet jener Ordnung, die besagt, dass alles seine Zeit hat und dann sterben muss; er spottet auch des alten Gebotes, das Hämatophagie, den Blutverzehr verbietet, weil das Blut der Sitz des Lebens, ja das Leben selbst sei:¹⁵ Niemand darf einen anderen seines Blutes berauben – tut er es dennoch, geht nach uralter Vorstellung die Lebenskraft des Opfers auf den Täter über. Der vampirischen Faszination ist Nietzsche freilich nicht erlegen, wenn man seine einschlägigen Äußerungen zum Nennwert nimmt. Mag die klassische Vampirliteratur sich der bestrickenden Fremdheit ihrer untoten Protagonisten willig ausgeliefert haben – Bram Stockers Dracula erschien zwar erst 1897, als Nietzsche längst in der geistigen Umnachtung versunken war, aber zahllose Schriftsteller zeigten sich schon lange davor tief erregt von erotisch-lasziven Vampiren –, lassen die Verlautbarungen Nietzsches keine Sympathie für die hämophage Existenzform erkennen, sondern sie scheinen mit dem Etikett „Vampir“ einfach missliebige, aber sehr irdische Personen und Personengruppen als verbrecherisch, eben blutsaugend, also lebensfeindlich zu verunglimpfen. Dann wäre „Vampirismus“ bei Nietzsche nur eine gedankenlos verwendete Metapher, eine ganz und gar abgegriffene Münze aus dem Bilderarsenal der Mentalitätsgeschichte? Aber ob man sich so leicht aus der Affäre ziehen kann? Sehen wir genauer hin.
Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , ; zu Bismarcks Präferenz für Blutmetaphern vgl. Demandt, Alexander: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München, , . Vgl. . Mose , ff.
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Es gibt keinen Beleg dafür, dass Nietzsche sich in der Vampir-Belletristik seiner Zeit umgesehen, dass er beispielsweise die bahnbrechende Erzählung Le horla (1886/87) von Guy de Maupassant – einem Autor, dem er „besonders zugethan“ zu sein behauptete – gelesen hätte.¹⁶ Aber schon seine philologischen Schriften zeigen Vertrautheit mit der antiken Tradition der weiblichen Vampire, die auf den Namen Empusen, Lamien oder Striges hörten. So erwähnt er in seinen Beiträgen zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes (1870) einen Bericht, demzufolge der philosophische Wundertäter Apollonius von Tyana einen gewissen Menippus, „der Umgang mit einer Empuse“ hatte, „von ihrem vampyrartigen Treiben befreit“ habe.¹⁷ Wer in Nietzsche einen gut verkappten Abraham van Helsing zu erkennen wähnt, der nicht nur Gott ermordet, sondern auch philosophisch entlarvte DenkVampire pfählt, wird in diesem Bericht das praktische und intellektuelle Lebensbekenntnis Nietzsches verborgen finden. Freilich geht es Nietzsche – damals noch penibler Philologe – hier nur um die Frage der Identität dieses Menippus, so dass der Einschub über Apollonius und seine Empusen-Jagd wirklich ein sehr verborgenes Lebensbekenntnis sein müsste. Aber reizvoll ist es schon, sich Nietzsche als eines jener „Wunderthiere“¹⁸ vorzustellen, die sich im Kampf mit den Dämonen des Denkens verausgaben, das Leben schwer und bitter machen. Auch aus der Ethnographie und der Krimonologie sind Nietzsche vampi-ristische Vorstellungswelten geläufig. So entlieh er sich 1875 aus der Basler Universitätsbibliothek Edward Burnett Tylors Anfänge der Cultur,¹⁹ die über den animistischen Vampirglauben Aufschlüsse geben.²⁰ Er besaß August Krauss’ Psychologie des Verbrechens, die auch von massenhaft auftretenden Wahnvorstellungen handelt, zu denen explizit der „Vampyrismus“ gerechnet wird.²¹ Viel ausführlicher behandelt das Thema aber eine der religionsgeschichtlichen Hauptquellen für Nietzsches späte Kritik am Christentum, nämlich Julius Lipperts Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch. Dort wird der Leser umfassend un-
Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. . Abteilung, . Band: Philologische Schriften – , hrsg. von Fritz Bornmann und Mario Carpitella, Berlin/New York, , . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Crescenzi, Luca: Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher ( – ), in: Nietzsche-Studien , , – , hier: . Tylor, Edward B.: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Unter Mitwirkung des Verfassers in Deutsche übertragen von J.W. Spengel und Fr. Poske, Leipzig, , , f. Krauss, August: Die Psychologie des Verbrechens. Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde, Tübingen, , .
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terrichtet über „[d]as ganze Gebiet der Sagen vom ‚N a c h z e h r e r ‘, ‚Doppelsauger‘, ‚Blutsauger‘ und dem slavischen ‚Va m p y r ‘“: „liess man den Todten irgend wie unbefriedigt, so folgten ihm die Lebenden bald nach – er zog ihre Seelen nach sich: das ist der einfache Sinn des ‚N a c h z e h r e n s ‘“.²² Die ursprüngliche Vorstellung, „dass die Seele im Blute aus dem Leibe gesogen werden könne“, habe sich auch mit dem Christentum nicht verloren: „Man erkannte also alterthümlicher Auffassung folgend das Nachzehren als ein geheimnissvolles B l u t s a u g e n“.²³ Der vampirischen Ideenwelt liege „der nicht ganz klare Gedanke eines nicht völligen Todtseins zu Grunde, der wieder nur die rohere Umschreibung des Satzes ist, dass der Todte bei mangelhafter Cultpflege nicht zur Ruhe gelange. Darum soll die Pfählung der Leiche das Herz desselben als den Sitz des nicht völlig entschwundenen Lebens treffen, und so oft Enthauptungen dieser Art an ausgegrabenen Leichen vorgenommen wurden, wollte das Volk immer das noch flüssige Blut sehen oder sogar die Leiche Laute von sich geben hören.“²⁴ Schließlich ist Nietzsche auch aus dem allgemeinen kulturellen Leben Vampirisches geläufig, etwa Heinrich Marschners Oper Der Vampyr (1828),²⁵ eine sekundäre Bearbeitung von John Polidoris genrebildender Erzählung The Vampyre. In den nachgelassenen Materialien von 1887 gibt es eine Aufzeichnung, die die „Liebe zum Blut, l’ivresse du sang, l’ivresse des foules“²⁶ beschwört, die „Trunkenheit des Blutes, die Trunkenheit der Massen“. Missversteht man Nietzsches Nachlass als Sammlung tiefsinniger Weisheiten, die das Ureigenste des Denkers kundtun, könnte man dieses Notat als persönliches Eingeständnis vampirischer Lebenspräferenzen deuten. Indessen ist die Wirklichkeit prosaischer. Die blutrünstige Stelle bietet keinen Einblick in Nietzsches Seelenleben, sondern ist schlicht ein Exzerpt ohne Quellenangabe, nämlich aus Charles Baudelaires Œuvres posthumes. Und dort geht es gar nicht um Übersinnliches, sondern um die sehr menschliche Grausamkeit, der Baudelaire ein Kapitel zu widmen beabsichtigt.²⁷ Also sollte man mit
Lippert, Julius: Christenthum: Volksglaube und Volksbrauch. Geschichtliche Entwicklung ihres Vorstellungsinhaltes, Berlin, , . Ebd., . Ebd., . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , Ebd., , (= Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abteilung IX: Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr in differenzierter Transkription, hrsg. von Marie-Luise Haase und Martin Stingelin. Bd. : W II und W II , bearbeitet von Marie-Luise Haase, Thomas Riebe, Beat Röllin, René Stockmar, Franziska Trenkle, Daniel Weißbrodt, Berlin/New York, , W II , ). Baudelaire, Charles: Œuvres posthumes et correspondances inédites. Précédées d’une étude biographique par Eugène Crépet, Paris, , : „Un chapitre sur l’indestructible, éternelle,
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voreiligen vampiristischen Projektionen in Nietzsches Denken vorsichtig verfahren. Trotzdem zeichnet sich bei der Betrachtung der einschlägigen Bemerkungen, von denen einige nun im Detail besprochen werden sollen, ein Muster ab, nämlich das einer allmählichen Ausbreitung des Vampirismus in Nietzsches Weltsicht: Zu Beginn, und das wird im nächsten Abschnitt (2.) zu behandeln sein, steht die Kritik am vampirischen Charakter der Wissenschaft, die auf die Philosophie ausgreift. Sodann geraten menschliche Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen und Gefühle unter Vampirismusverdacht (3.) – ein Verdacht, der sich universalisiert, je deutlicher sich Nietzsches Hunger nach Leben, nach einer von den Interessen des Lebens bestimmten Philosophie abzeichnet. Es wäre einmal zu untersuchen, ob diese zunehmende Lebensemphase mit einer Zunahme der Blutmetaphorik korreliert: Der Mensch, von dem die passionsgeschichtliche Formel „Ecce homo“ spricht, mit der Nietzsche seine Autogenealogie betitelt, ist derjenige, der sein Blut vergießt. Auf der anderen Seite wird gerade das Christentum vampirischer Strategien bezichtigt (4.). Schließlich ist es in Nietzsches letztem Schaffensjahr 1888 die Moral selbst, die als „Vampyrismus“ gilt (5.).
2 Wissenschaft und Philosophie als Vampirismus So stark der junge Friedrich Nietzsche auch in der Philologie verwurzelt war, so früh bricht sich bei ihm doch eine romantisierende Wissenschaftsskepsis Bahn, die an der Lebensdienlichkeit von Wissenschaft oder zumindest bestimmter Formen von Wissenschaft zweifelt. Um blumige Metaphern ist schon der 24-jährige nicht verlegen, wenn er in einem Brief an Paul Deussen aus der zweiten Oktoberhälfte 1868 über das Senilwerden der Wissenschaften spricht: „der Anblick ist betrübend, wenn diese, abgezehrten Leibes, mit vertrockneten Adern, welkem Munde das Blut junger und blühender Naturen aufsuchen und vampyrartig aussaugen: ja, es ist die Pflicht eines Pädagogen, die frischen Kräfte fern zu halten von den Umschlingungen jener greisen Scheusale“.²⁸ Lehrende hätten nach dieser Exposition also nicht etwa den Lernenden Wissenschaft beizubringen, sondern sie vor Wissenschaft zu schützen. Der Rekurs auf das Vampirische unterstreicht nicht nur die Gefahr einer Auszehrung durch Wissenschaft, sondern gleichzeitig auch das verführerische Moment, denn offensichtlich fühlen sich die jungen Leute trotz universelle et ingénieuse férocité humaine. De l’amour du sang, de l’ivresse du sang, de l’ivresse des foules. De l’ivresse du supplicié (Damiens)“. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in Bänden. Bd. , hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York, , .
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des scheußlichen Anblicks zu den vampirischen Wissenschaften hingezogen. Wer die Wissenschaften für derart jugendgefährdend hält, hat vermeintlich das idealistische deutsche Bildungsideal, das sich mit dem Namen Humboldt verbindet, preisgegeben, weil er weder an eine wünschenswerte Einheit von Lehre und Forschung, von Bildung und Wissenschaft zu glauben vermag, noch an die lebensbereichernde Kraft dieser Wissenschaft. Wer die Wissenschaft unter Vampirismus-Verdacht stellt, scheint eine antiaufklärerische Option zu wählen, wenn er die Maxime wählt, die Jugend zu deren angeblichem Schutz von der Wissenschaft fernzuhalten. Vielleicht ist die briefliche Äußerung aber auch nur der Stoßseufzer eines unter viel Gelehrsamkeit Ermatteten – der Reflex einer biblischen Warnung: „Hüte dich, mein Sohn […]; denn viel Büchermachens ist kein Ende, und viel studieren macht den Leib müde.“²⁹ Allerdings bleibt der Vampirismus-Verdacht gegen die Wissenschaft nicht auf briefliche und damit private Äußerungen beschränkt, sondern verschafft sich ausgerechnet da Gehör, wo Nietzsche öffentlich über Bildungsfragen spricht, nämlich 1872 in seinem ersten Basler Vortrag Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten: „jetzt ist die Ausbeutung eines Menschen zu Gunsten der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: wer fragt sich noch, was eine Wissenschaft werth sein mag, die so vampyrartig ihre Geschöpfe verbraucht? Die Arbeitstheilung in der Wissenschaft strebt praktisch nach dem gleichen Ziele, nach dem hier und da die Religionen mit Bewußtsein streben: nach einer Verringerung der Bildung, ja nach einer Vernichtung derselben.“³⁰ Hier, in der Redeöffentlichkeit, tritt nicht nur die Wissenschaftskritik deutlicher zutage – dass nämlich die Spezialisierung zur Vereinseitigung treibt und damit umfassende Bildungsanstrengungen unterminiert. Es wird auch offenkundig, dass sich diese Wissenschaftskritik nicht als antiaufklärerisch versteht, sondern vielmehr im Namen der Aufklärung agiert, wenn sie der wissenschaftlichen Arbeitsteilung gerade jene Wirkung zuschreibt, die zumindest manche Formen von Religion bewusst anstreben, nämlich „Bildung“ zu verhindern. Nietzsche steht damit durchaus noch im Banne jenes idealistischen Bildungsideals, das im Brief an Deussen zur Disposition gestellt schien. Undurchsichtig ist, und das muss hier vordringlich interessieren, inwiefern die Wissenschaften überhaupt vampirisch wirken können, fehlt ihnen doch nach der von Nietzsche gegebenen Beschreibung jede Anziehungskraft: Es kann eigentlich für niemanden einen vernünftigen oder affektiven Grund geben, sich ihnen hinzugeben und ihnen sein Herzblut zu opfern. Muss man sich die vampirische Wirksamkeit der Wissenschaften so vor-
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stellen, dass nicht deren Anziehungskraft ihnen frisches Leben zuführt, sondern die schiere Not junger Männer, für Subsistenzmittel zu sorgen – junge Männer, die sich dann im Dienst der hochspezialisierten, bildungsfeindlichen Wissenschaften bis aufs Blut verausgaben? Prangert Nietzsche eine lebensverzehrende Sklaverei im Frondienst der Wissenschaften an? Sollte man geneigt sein, die letzte Frage zu bejahen, irritieren zeitgleiche Bemerkungen, etwa aus der Geburt der Tragödie (1872), gerichtet gegen die „sokratische Cultur“, die nicht mehr „von der ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes […] überzeugt ist: so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt, um sie zu umarmen, und sie dann plötzlich wieder, wie Mephistopheles die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lässt.“³¹ Hier tritt der Vampir in antikisierender Gestalt als Lamie auf, der sich der Sokratiker freilich nicht auf Dauer verschreiben will. Im Nachlass von 1871 wird dasselbe Szenario schon einmal evoziert, um einer viel deutlicheren Lösung zugeführt zu werden, als sie Nietzsche in einer öffentlichen Verlautbarung für tunlich hielt: „Der Tanz ihres Denkens und Treibens ist wahrhaft lächerlich, weil es sich sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt, um sie zu umarmen und dann sie plötzlich, wie Mephistopheles die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lassen muß. Aus der Verzärtelung der neueren Menschen sind die ungeheuren socialen Nothstände der Gegenwart geboren, als deren im Wesen der Natur liegendes Gegenmittel ich die S k l a v e r e i , sei es auch unter mildernden Namen, zu empfehlen wage; die Sklaverei, die weder dem ursprünglichen Christenthum, noch dem Germanenthum irgendwie anstößig, geschweige denn verwerflich, zu sein dünkte.“³² Hier wird, ganz entgegen des den Bildungsanstaltsvorträgen abgelauschten Tenors, keineswegs darüber lamentiert, dass hoffnungsvolle junge Menschen von den Wissenschaften buchstäblich verheizt würden. Jetzt wird eine neue, anders etikettierte Sklaverei empfohlen, unter deren Joch sich auch die meisten Wissenschaftler beugen dürften. Vampirhaft sind hier nicht mehr die Wissenschaften, sondern allfällige, eben als „Lamien“ apostrophierte Gegenstände des wissenschaftlichen Interesses und der wissenschaftlichen Orientierung. Die aber kommen, da gleich zurückgewiesen, nicht dazu, blutsaugerisch aktiv zu werden. Überhaupt verringert sich der Vampirismus-Verdacht gegenüber den Wissenschaften nach und nach. Im Nachlass vom Herbst 1880 heißt es nur noch lapidar: „die Frauen sehen in der Wissenschaft einen Vampyr bei einem Manne“,³³
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ohne dass der Notierende eine Identifikation mit dieser angeblichen weiblichen Sicht erkennen ließe, die sich wiederum der Eifersucht zu verdanken scheint. So sehr Nietzsche auch nach seiner Hinwendung zu einer französisch grundierten Aufklärung in Menschliches, Allzumenschliches (1878) einer anderen Form von Wissenschaft – nämlich bald einer „fröhlichen“ – das Wort redet, so wenig wiederholt er ihr gegenüber doch den früh erhobenen Vampirismusvorwurf. Das kritisch-zersetzende Potential der Wissenschaften, das früh Nietzsches Abneigung geschürt hat, erscheint jetzt als ihre herausragende Potenz. Folgerichtig verschwindet der Vampirismus-Vorwurf nicht etwa aus Nietzsches Vokabular, sondern er verschiebt sich, und zwar zunächst auf das Feld der Philosophie selbst. So dekretiert das fünfte Buch der Fröhlichen Wissenschaft (1887): „Diese alten Philosophen waren herzlos: Philosophiren war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinoza’s, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige B l ä s s e r - w e r d e n –, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht im Hintergrund irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig lässt? – ich meine Kategorien, Formeln, Wo r t e (denn, man vergebe mir, das, was von Spinoza ü b r i g b l i e b , amor intellectualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! was ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt?…)“.³⁴ „Idealistisch“ wird hier zum Schmähwort; die Philosophie selbst ist es nun, die als vampirisch handelnde Person in Erscheinung tritt – oder genauer gesagt, es ist die philosophische Tätigkeit, das Philosophieren, das auszehrend wirkt, wobei die Frage nach der persönlichen Disposition der Auszehrungsopfer offen bleibt: Wären diese Opfer, die Philosophen, eigentlich lebenskräftig genug, um der vampirischen Anfechtung zu widerstehen? Was an diesem Bild vom philosophischen Vampirismus in erster Linie überrascht, ist die Macht, die damit dem Philosophieren, den „Kategorien, Formeln, Wo r t e n“ zugeschrieben wird. Das vampiristische Verständnis von Philosophie hält den Glauben an die weltverändernde, weltgestaltende Kraft des Nachdenkens aufrecht, die der Bildungsidealismus, zu dem der frühe Nietzsche noch eine gewisse Affinität verriet, gegen die materialistische Resignation zäh verteidigt hatte.³⁵ Zwar mag die Kraft des Philosophierens vampirisch verheerend sein, dies macht jedoch Nietzsche nicht irre in seinem Vertrauen auf die Macht der Philosophie.
Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern“ (Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Bd. , Berlin, , ).
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Neben Spinoza wird schon ein paar Jahre früher ein anderer, Nietzsche unzweifelhaft faszinierender Denker als vampirische Begabung tatverdächtig: Im Herbst 1881 notierte Nietzsche auf der letzten freien Seite der deutschen Version von Ralph Waldo Emersons Versuchen (1858), auf diesen gemünzt: „jenseits von Liebe und Haß, auch von Gut und Böse, ein Betrüger mit gutem Gewissen, grausam bis zur Selbstverstümmlung, unentdeckt und vor aller Augen, ein Versucher, der vom Blut fremder Seelen lebt, der die Tugend als ein Experiment liebt, wie das Laster“.³⁶ Hier schlüpft der Vampir aus der stereotypen Rolle des finsteren Bösewichts und fängt an, schöpferisch zu werden: Er labt sich zwar am SeelenBlut anderer, aber doch offensichtlich in experimenteller Absicht. Ihm sind „Tugend“ und „Laster“ einerlei, aber nicht gleichgültig, „liebt“ er doch beide gleichermaßen, freilich nicht als Charaktereigenschaften. „Tugend“ und „Laster“, die moralischen Schemata, mit denen man die Welt zu ordnen pflegt, dienen dem Vampir vielmehr als Hilfsmittel, um etwas über den Menschen und seine Welt herauszufinden, aber – bin ich zu ergänzen geneigt – mitnichten über den Menschen und die Welt an sich, sondern über je historisch konkrete mit je historisch konkreter Welt. Emerson als Vampir saugt das Seelenblut anderer Menschen nicht aus Hunger, nur aus Wissensdurst, nur aus Neugier. Mutiert die Philosophie zum Vampirismus, ist das also der Übel schlimmstes nicht.
3 Endemischer Vampirismus: Talent, Leidenschaft und Liebe In Nietzsches früher Wissenschaftskritik haftet dem Gebrauch vampiristischer Metaphern etwas forciert Unzeitgemäßes an, das sich auch als gewollter Antimodernismus beschreiben lässt. Wer ein Vampirismusverdikt fällt, droht mit Diskursverweigerung und ruft nach extirpatorischen Maßnahmen. Aber mit der Verlagerung des Vorwurfs auf die Philosophie mildert sich – zumindest im Blick auf Emerson – auch die Ausrottungswut; das Vampirische entwickelt sex appeal und wird verlockend.Verlockend ist, wenn man Aphorismus 260 im ersten Teil von Menschliches, Allzumenschliches trauen will, auch Vereinseitigung im Persönlichkeitshaushalt, „denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den übrigen Kräften Blut und Kraft aussaugt, und eine übertriebene Production kann den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist auch eine viel ge-
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ringere Cultur nöthig, um von ihnen sich fesseln zu lassen.“³⁷ Extremismus ist anziehend, besonders für das Publikum – aber der Verfasser scheint hier doch noch dem Ideal einer aurea mediocritas nachzuhängen. Der Aphorismus liest sich wie ein sachtes Plädoyer fürs Ausbalancierte, das in Nietzsches späterem Werk ungehört verhallt. Noch im Nachlass von 1887 kommt er auf den Gedanken zurück, stellt diesmal das vampirische Talent der verschwenderischen Leidenschaft kontrastiv gegenüber, um nachzuweisen, dass Künstler trotz ihrer eigenen Bekundungen gerade „n i c h t die Menschen der großen Leidenschaft“ seien: „ihr Vampyr, ihr Talent mißgönnt ihnen meist solche Verschwendung von Kraft, welche Leidenschaft heißt […]. Mit einem Talent ist man auch das Opfer eines Talents: man lebt unter dem Vampyrism seines Talents“.³⁸ Die Verschiebung in der therapeutischen Indikation bei gleichbleibender Diagnose – vampirische, sprich: aussaugende Wirkungsweise des Talents – ist bemerkenswert: 1878 wurde dem Leser das Moderieren, das Equilibrieren nahegelegt, jetzt hingegen eine Parteinahme für die Leidenschaft gegen das Talent.Vorsichtiges Maßhalten ist die Sache des Leidenschaftstäters nicht – umso bedenklicher, ist man hinzuzufügen versucht, wenn der Leidenschaftstäter talentfrei ist. Während Nietzsches später Nachlass Leidenschaft gerade nicht auf der vampirischen Seite ansiedelt, stand die Liebe, wenigstens in der Schilderung Richard Wagners, 1880 noch durchaus im Verdacht, „vampyrisch“ zu sein.³⁹ Ein Jahr später, 1881, wird daraus dann an die Adresse der „deutschen Künstler“ die Vorhaltung, aus der Liebe „ein vampyrisches Gebilde“ zu machen: Liebe wolle „im Glück die ganze Welt ausstechen, austrinken und gleichsam trocken zurücklassen“. Die allgemeine kulturkritische Reflexion verweist zurück auf ein altes Geschlechtercliché, nämlich vom vampirischen Wesen der Frau, das in einer Aufzeichnung von 1876 reflektiert, aber weder variiert, noch intensiviert wird: „Es giebt Frauen, welche wo man auch gräbt, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind: fast gespenstische Wesen, blutsaugerisch, nie befriedigend“.⁴⁰ Zusammengefasst: Da und dort tritt in der Szenerie von Nietzsches Kulturkritik Vampirismus endemisch auf – allerdings fast nur im Laboratorium des Nachlasses und nicht in den für gut zum Druck befundenen Werken.Vampirismus ist da noch eine Kulturkrankheit unter „ferner liefen“.
Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , .
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4 Epidemischer Vampirismus: Das Christentum Keine Verlegenheitsmetapher, um Zustände der Ausbeutung allgemein anzuprangern, ist das Vampirismus-Verdikt dort, wo das Schicksal am Blut hängt: Jesu Blut macht alles wieder gut, so glauben die Christen, deren Erlösungslehre eine Bluttheologie ist. Ihrem Heiland eiferten Tausende nach, die im Martyrium, in der Blutzeugenschaft die würdige Form des christlichen Lebens zu finden glaubten. Erlösung durch das Blut ist ein Grundgedanke sowohl des Christentums als auch des Vampirismus. Als Vorbote dieser Erkenntnis liest sich Aphorismus 83 aus Der Wanderer und sein Schatten (1880) im zweiten Teil von Menschliches, Allzumenschliches, wo der rabiate Ratschlag Jesu, die Sinnlichkeit durch Entmannung auszurotten, als verfehlt zurückgewiesen wird,weil diese Sinnlichkeit bei dem, der diesem Ratschlag folgt, „auf eine unheimliche vampyrische Art fort“ lebe und ihn fortan „in widerlichen Vermummungen“ quäle.⁴¹ Trotz einschlägiger Metaphernwahl bleibt das sanguino-soteriologische Moment hier im Dunkeln. Ganz anders verhält es sich im Antichrist, jenem Werk von 1888, mit dem Nietzsche seine „Umwerthung aller Werthe“ meinte vollzogen zu haben: Das Christentum wird da identifiziert als „Vampyrismus bleicher unterirdischer Blutsauger“.⁴² Die weltgeschichtliche Rolle des Christentums in vampirologischen Kategorien zu beschreiben, war freilich nicht Nietzsches Innovation: Auch sein Gewährsmann Ernest Renan benutzte sie, um die verheerende Wirkung des Christentums auf das Römische Reich augenfällig zu machen: „Während des 3. Jahrhunderts saugt das Christentum die antike Gesellschaft aus wie ein Vampir [suce comme un vampire], es entzieht ihr ihre gesamte Kraft“.⁴³ Renan transponiert damit einen Vorwurf in ein modernes Vokabular, den bereits der neuheidnische Kaiser Julianus II. im 4. Jahrhundert gegen die Christen erhoben hatte, nämlich Blutsauger zu sein.⁴⁴ In Nietzsches Worten: „Das Christenthum war der Vampyr des imperium Romanum“.⁴⁵ Und die antike Kultur wurde „von listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyrn zu Schanden gemacht! Nicht besiegt, – nur ausgesogen!“⁴⁶ Der „Priester“ wiederum – auch schon vor Auftreten des
Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , f. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Renan, Ernest: Marc-Aurèle et la fin du monde antique (= Histoire des origines du Christianisme. Bd. ), Paris, , (Übersetzung A.U.S.). Overbeck, Franz: Werke und Nachlass. Bd. : Kirchenlexicon. Ausgewählte Artikel A–I, in Zusammenarbeit mit Marianne Stauffacher-Schaub, hrsg. von Barbara von Reibnitz, Stuttgart/ Weimar, , . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Ebd., .
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Christentums – erscheint in der hier reaktivierten Tradition des aufklärerischen Antiklerikalismus als „heiliger Parasit“,⁴⁷ womit er Michel Serres’ Theorie vom parasitischen Mittler eine Steilvorlage gibt.Vielleicht ist ja der Vampir ebenso eine Mittlergestalt zwischen verschiedenen Sphären wie für Gläubige Jesus Christus. Derlei Abschweifungen seiner heutigen Interpreten stimmen Nietzsche freilich nicht milder gegenüber dem Blutdurst des Christentums: Es „hatte b a r b a r i s c h e Begriffe und Werthe nöthig, um über Barbaren Herr zu werden: solche sind das Erstlingsopfer, das Bluttrinken im Abendmahl“.⁴⁸ Die VampirismusMetaphorik hat bei alledem freilich keine explikative, sondern nur eine denunziatorische Kraft; die zur Schau gestellte Entrüstung verschleiert, dass die Rede vom auszehrend-blutsaugerischen Charakter nicht aufzuklären vermag, wie die Transformationsprozesse von einer heidnischen zu einer christlichen Welt wirklich verlaufen sind. Der Vampirismus-Vorwurf gegen das Christentum und seine historische Wirkung hat also wesentlich eine verhehlende, eine verbergende Funktion: Er soll darüber hinwegtäuschen, dass der antichristliche Agitator eine hinreichend plausible Erklärung dafür schuldig bleibt, weshalb das Christentum hat werden können, was es geworden ist. Die denunziatorische Kraft der Vampirismus-Metaphorik wird noch verstärkt durch die mehrfache Analogisierung von Vampir und Parasit. Das indiziert einerseits, dass beim vampirischen Christentum keine übernatürlich-höllischen Mächte im Spiel sind, andererseits, dass sich das historische Geschehen auch in ein (para‐)naturwissenschaftliches Vokabular übersetzen lässt. Der als Parasit entlarvte Vampir wird nicht als gespenstischer Wiedergänger aus dem Jenseits verstanden, sondern als biologisches Faktum dekadenten Lebens. Nimmt man diese Bestrebung, den Vampir als Parasiten zu naturalisieren, beim Wort, zerbricht das Fundament, auf dem die Anklage zu stehen scheint – und zwar als dezidiert moralisch auftretende Anklage. Denn Parasitismus ist aus der Perspektive nüchterner Naturbetrachtung weder etwas Schlechtes noch etwas Krankes, sondern einfach nur eine spezifische Lebensform, jenseits von Gut und Böse. Nietzsche operiert, wenn er Christen Vampire und Parasiten schilt, mit einer moralisierenden Überwältigungsrhetorik, die die moralische Indifferenz des „Lebens“ genauso ausblendet wie den Umstand, dass Parasitismus keineswegs ein Indiz für niedergehendes, krankes oder dekadentes Leben ist. Er unterbietet mit anderen Worten sein moralkritisches Niveau, indem er selbst moralisiert, genauer gesagt: moralische Urteile als Waffe benutzt, um bestimmte partikulare Lebensinteressen – nämlich der Nicht- oder Anti-Christen – durchzusetzen. Das moralisierende Totschlagargument ‚Vampir! Parasit!‘ dient
Ebd., . Ebd., .
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dazu, den eigenen Willen zur Macht gegen andere Machtwillen in Stellung zu bringen. Während die Christen bei Renan und Nietzsche als Blutsauger gelten, haben die auffälligsten unter ihnen ganz im Gegenteil ihr Blut hingegeben. Das als eine achtungs-, ja bewunderungswürdige Tat anzuerkennen, fällt den hierin einmütigen Kritikern nicht ein. Renan meint, die Idee des Martyriums habe „in die abendländische Welt ein Element gebracht, das ihr fehlte: den ausschließlichen und absoluten Glauben, diese Idee, dass es eine einzige wahre und gute Religion gebe. In diesem Sinne sind die Martyrien der Beginn des Zeitalters der Intoleranz. Man kann sagen, dass derjenige, der sein Leben für den Glauben opfert, mit großer Wahrscheinlichkeit intolerant wäre, wenn er ein Herr wäre.“⁴⁹ Und an anderer Stelle bemerkt er ausdrücklich: „Das Martyrium beweist in keiner Weise die Wahrheit einer Lehre; aber es beweist den Eindruck, den es auf die Seele macht und das ist alles, was für den Erfolg wichtig ist.“⁵⁰ Diesen Gedanken nimmt, wie üblich ohne Nennung seiner Quelle, Nietzsche im Antichrist auf und spitzt ihn noch zu: „Dass M ä r t y r e r Etwas für die Wahrheit einer Sache beweisen, ist so wenig wahr, dass ich leugnen möchte, es habe je ein Märtyrer überhaupt Etwas mit der Wahrheit zu thun gehabt.“⁵¹ Bei den Gebildeten unter den Verächtern der christlichen Religion war diese Einsicht geradezu ein Gemeinplatz; in Jean-Marie Guyaus Esquisse d’une morale sans obligation ni sanction hat Nietzsche beispielsweise die folgende Stelle mit einem handschriftlichen „bravo!“ am Seitenrand begrüßt: „Tausend Handlungen dieser Art können keine Wahrheit etablieren. Die Masse der Märtyrer hat das Christentum triumphieren lassen, eine wenig Überlegung kann reichen, es zu stürzen.“⁵² Früher freilich scherte Nietzsche aus der geschlossenen intellektuellen Front gegen die Martyrien aus. In Abschnitt 18 der Morgenröthe (1881) erwog er die weltgeschichtliche Bedeutung der Märtyrer, wobei er statt der Christen die Philosophen als befreiende Geister darstellte: „Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor Allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt […]. Nichts ist theurer erkauft, als das Wenige von
Renan, Ernest: Les Apôtres (= Histoire des origines du Christianisme. Bd. ), Paris, , (Übersetzung A.U.S.). Renan, Ernest: L’église chrétienne (= Histoire des origines du Christianisme. Bd. ), Paris, , (Übersetzung A.U.S.). Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Guyau, Jean-Marie: Esquisse d’une morale sans obligation ni sanction, Paris, , (Übersetzung A.U.S.; die Kursivierungen entsprechen Nietzsches Unterstreichungen).
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menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, welches jetzt unseren Stolz ausmacht.“⁵³ Gleichzeitig mit der Nachlass-Äußerung, die in der Person von Emerson die vampirischen Tendenzen der Philosophie dingfest macht, ohne diese Tendenzen zu verurteilen, spricht Nietzsche in einem veröffentlichten Werk über das Rollenmodell der philosophischen Märtyrer. Dieses Rollenmodell nimmt die Vorstellung von der Welt als Leiden auf, die Nietzsche von Schopenhauer her wohlvertraut war, modifiziert aber das Verständnis von Philosophie: Entgegen dem landläufigen philosophischen Selbstverständnis wird die Philosophie nicht mehr als Therapeutikum, als eine Technik der Leidensverminderung und Leidensvermeidung verstanden, sondern als eine Macht, die von ihren Anhängern die Blutzeugenschaft fordert. Wenn die Philosophie es wert ist, für sie zu sterben, dann ist sie auf Augenhöhe mit dem Christentum und kann mit ihm ernsthaft, in existenzieller Ernsthaftigkeit konkurrieren (als Repräsentanten eines Märtyrers, der gleichzeitig Christ und Philosoph war, stand Nietzsche in seinen damaligen Lektüren⁵⁴ der frühchristliche Philosoph Justinus vor Augen, der in der Tradition „Justinus Martyr et Philosophus“ heißt). Allerdings verliert sich in den 1880er Jahren die Spur einer positiven Beurteilung sowohl des philosophischen Vampirismus als auch des philosophischen Martyriums. Offenbar soll die Philosophie jetzt nicht mehr strukturanalog zum Christentum gedacht werden: „Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und hütet euch vor dem Martyrium! Vor dem Leiden ‚um der Wahrheit willen‘!“⁵⁵ Denn: „Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet die reinste Lehre noch zu Wahn und Hass der Herzen“.⁵⁶ Und doch vermag Nietzsche bei seinem Versuch, alle Parallelen seiner eigenen Philosophie zum vampirischen und martyriumssüchtigen Christentum zu tilgen, die eigene Präferenz fürs Blutige nicht ganz zu unterdrücken, wenn er seinen Zarathustra sagen lässt: „Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt.“⁵⁷ Den blutigen Fluch des Vampirs – das Blut der anderen aussaugend und doch nur die Umkehrfigur des Märtyrers, der sein Blut für die anderen hingibt – schüttelt Nietzsche zeit seines philosophischen Lebens nicht ab, wenn er noch seine so-
Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , f. Engelhardt, Moritz von: Das Christenthum Justins des Märtyrers. Eine Untersuchung über die Anfänge der katholischen Glaubenslehre, Erlangen, . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , und Bd. , . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , .
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genannten Wahnsinnszettel von Anfang 1889 alternativ mit „Dionysos“ und „Der Gekreuzigte“ unterschreibt.⁵⁸
5 „Moral als Vampyrismus“ Die höchste Steigerungsform erreichen Nietzsches vampirologische Verlautbarungen in seinen letzten Schaffensmonaten. Im Kapitel „Warum ich ein Schicksal bin“ seiner Autogenealogie Ecce homo (1888) skandiert er: „Moral als Va m p y r i s m u s … Wer die Moral entdeckt, hat den Unwerth aller Werthe mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten, in den selbst heilig gesprochnen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges mehr, er sieht die verhängnissvollste Art von Missgeburten darin, verhängnissvoll, weil sie fascinirten… Der Begriff ‚Gott‘ erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben, – in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht!“⁵⁹ „Moral“ insgesamt steht also zur Disposition, das heißt, das Gefüge der Werte, das den Menschen bislang als richtungweisend und lebensbestimmend galt – mit ihm auch die nach dem Schema dieser Werte für ‚gut‘ und ‚heilig‘ befundenen Werte. Das Urteil, „Moral“ sei „Vampyrismus“, impliziert, Moral richte sich gegen die Lebenden, das Leben selbst. Dieses Urteil hat freilich selbst die Form einer moralischen Anklage – sie impliziert, dass schlecht sei, was ‚das Leben‘ beeinträchtige, gut hingegen, was diesem Leben diene. Dass „Vampyrismus“ ebenso wie der Parasitismus eine eigenständige Lebensform eigenen Rechts sein könnte, die sich nicht den Kategorien von Lebensdienlichkeit oder Lebensschädlichkeit fügt, kommt gar nicht in den Blick. Stattdessen kulminiert der Passus in einer Attacke auf den (jüdisch‐) christlichen Gottesbegriff, dessen Lebensfeindlichkeit Nietzsche im Antichrist bereits ausführlich darzutun bemüht war. Dies wiederum dokumentiert die Liaison zwischen dem Vampirismus-Vorwurf an die Adresse des Christentums und demjenigen an die Adresse der Moral: In beiden Fällen wird dasselbe, nämlich die Lebensfeindlichkeit gebrandmarkt, in beiden Fällen fehlt die positive, experimentelle Konnotation von „Vampyrismus“ früherer Überlegungen. Eine Vorarbeit zu Ecce homo argumentiert ähnlich und nennt Vampirismus und Parasitismus in einem Atemzug: „In gewissen Fällen ist es nicht die Feigheit, die große Vogelscheuchen der Moral und andre Heilige hervorbringt, sondern eine
Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in Bänden. Bd. , – . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , f., vgl. Bd. , ff.
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u n t e r i r d i s c h e R a c h e seitens Schlechtweggekommener, welche, vermittelst der Moral, den Glücklichen, den Wohlgerathenen das Gleichgewicht nehmen und die Instinkte verwirren wollen. Ihr Triumph wäre, Herr zu werden mit ihren Werthen und als Parasiten unter dem heiligen Vorwand, die Menschen zu ‚verbessern‘, das Leben selbst a u s z u s a u g e n , blutarm zu machen… Moral als Vampyrismus. – Ich habe Gründe, bei dieser Vorstellung gerade hier Halt zu machen, da in der Abfolge meiner Schriften mein erster Feldzug gegen die Moral: M o r g e n r ö t h e . Gedanken über die Moral als Vorurtheil (1881) an die Reihe kommt.“⁶⁰ Nietzsche vertraut in Passagen wie dieser auf die denunziatorische Wirkung der Parasitismus- und Vampirismus-Metaphorik und blockt in diesem Vertrauen jede diskursive Auseinandersetzung ab: Gegen Blutsauger muss man nicht argumentieren, sondern man muss sie ausmerzen, wozu der Philosoph sich eines voraufklärerischen, mythologisierenden Bilderschatzes bedient. Wie die vampirologische Forschung herausgestellt hat, taucht der Vampir als breit rezipiertes, kulturelles Faszinosium genau in jener Zeit auf, als die religiösen und metaphysischen Glaubenssysteme zerbröselten.⁶¹ Wenn Nietzsche einen Kampf gegen Vampire anstrengen zu müssen glaubt, attackiert er das Untote: Eigentlich müsste, wie er in der berüchtigten „M o r a l f ü r Ä r z t e “⁶² der Götzen-Dämmerung ausführt,⁶³ niedergehendes Leben tot sein: Man soll ihm bei seiner Selbstabschaffung sogar helfen. Dieser Modus des Untoten ist der Modus des Vampirischen: Es sollte tot sein, ist es aber nicht, sondern nährt sich auf Kosten des wirklich Lebendigen. Das Christentum macht es sogar zur Kernbotschaft, dass man vom Blut eines anderen lebe, jenes Gott-Menschen, der sein Blut für die Menschheit vergossen hat. Entsprechend dramatisch malt Nietzsche „Bluttrinken im Abendmahl“ aus;⁶⁴ daran schließt sich der Vampirismus-Vorwurf folgerichtig an – zuerst adressiert an das Christentum, sodann an die christlich kontaminierte Moral. Dennoch: Nietzsches vampiro-metaphorologischer Unterminierungsversuch ist scheinheilig, weil er in ‚das Leben‘ selbst eine moralische Ordnung hineinprojiziert, die er aufzuweisen oder auch nur plausibel zu machen versäumt. Weshalb sollte parasitäres Leben minderwertiger sein als andere Lebensformen?
Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Vgl. z. B. Lecouteux, Claude: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. Aus dem Französischen von Harald Ehrhardt, Zürich/München, , . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , . Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches „Der Fall Wagner“. „Götzen-Dämmerung“ (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken), hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. /, Berlin/Boston, , – . Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in Einzelbänden. Bd. , .
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Gibt es überhaupt Lebensformen, die prinzipiell nicht auf Kosten anderer Lebensformen, sondern nur auf eigene Rechnung leben? Hier liegt der springende Punkt: Die denunziatorische Vampirismus-Metaphorik soll vergessen machen, dass Nietzsches höchsteigener Lebensbegriff auf Überwältigung, auf „Willen zur Macht“ hinausläuft und damit immer schon voraussetzt, das keine Lebensform autark sein kann – und autotroph sind bestenfalls Pflanzen, die für Nietzsche schwerlich das Modell menschlichen Lebens abgeben. Das lautstarke Reden über Vampirismus und Parasitismus soll also vor allem ablenken, nämlich ablenken davon, dass Leben immer auch Lebensvernichtung bedeutet, und dass daraus keinen Schuldkomplex konstruieren sollte, wer mit dem Anspruch auftritt, „Moral“ abzuschaffen. Wenn Leben Überwältigen, Ausagieren von Willen zur Macht bedeutet, und sich der Philosoph zugleich anschickt, die moralische Sicht zurückzuweisen, die Leben, wie es ist, kriminalisiert oder peccatisiert, dann ist es argumentativ nicht zu rechtfertigen, weshalb parasitäres oder vampirisches Leben, das nichts weiter tut, als Überwältigen, Willen zur Macht zu praktizieren, schlecht oder verwerflich sein soll. Diesem Argumentationsnotstand innerhalb der Logik von Nietzsches eigenem Lebensbegriff steht allerdings ein ganz anderes Feld der Legitimation gegenüber: Die Empörungsrhetorik gegen das Christentum unter Rückgriff auf die Versatzstücke des Vampirismus und Parasitismus soll kein stimmiges Argument beibringen, sondern ein Mittel in Nietzsches eigenem Kampf, seine Lebensinteressen, sprich: seinen Willen zur Macht durchzusetzen. Gerechtfertigt ist die Verunglimpfung des vampirischen und parasitären Lebens lebensstrategisch, nämlich im Kampf um die Steigerung des Daseins. Der überwältigende, lebensbejahende Mensch Nietzschescher Prägung lebt selbstverständlich wie der Vampir und der Parasit auf Kosten anderer Menschen. Vielleicht kannibalisiert er sie, statt sie nur auszusaugen – das ließe sich beispielsweise zu Nietzsches Umgang mit fremden Quellen mutmaßen –,⁶⁵ er verleibt sie sich ein. Tierisches Leben – einschließlich des menschlichen – ist irreduzibel heterotroph und damit wie das vampirische Leben auf Beutemachen angewiesen. Bluthunger steht nicht nur für den Vampirismus, sondern auch für Nietzsches eigenen Lebensbegriff. Frösteln machen da die letzten Worte Richard Wagners – eines titanischen Kannibalen – zur Causa Nietzsche. Cosima Wagner hat sie am 4. Februar 1883, neun Tage vor dem Tod des Meisters, ihrem Tagebuch anvertraut: „Dann kommt R[ichard] wieder auf Nietzsche; meint, die eine Photographie hätte genügt, um ihn als Geck zu kennzeichnen, und erklärt ihn für absolut nichtig, ein
Vgl. Sommer, Andreas Urs: Vom Nutzen und Nachteil kritischer Quellenforschung. Einige Überlegungen zum Fall Nietzsches, in: Nietzsche-Studien , .
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rechtes Beispiel für das Nicht-Sehen. […] R. sagt zu mir schließlich: Nietzsche habe gar keine eignen Gedanken gehabt, kein eignes Blut, alles sei fremdes Blut, welches ihm eingegossen worden sei“.⁶⁶ Fremdes Blut haben weder Wagner noch Nietzsche verschmäht. Zwecks Lebenssteigerung waren Eigenbluttherapien ihre Sache nicht.
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IV Grenzen des Lebendigen
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Hirntot – untot – ganz tot? Ontologische Überlegungen Abstract: Braindead, undead, completely dead? Ontological considerations. Medicine not only has saved the life of ethics, as Stephen Toulmin stated 30 years ago, but has also rejuvenated an old field of philosophy. This field of philosophical thinking which has been revitalized through the technologies of ex- and implantation of vital organs has its core in the question of the end of life and therefore the question of death: when is a human being dead, when does a human life end and what kind of criteria could indicate that existential transition in a scientific reliable and ethical responsible way – but also in a way that fits in our sociocultural understanding and phenomenological experience of dying and dead bodies? In 1968 the „brain death syndrome“ was established to define and determine the death of people who are in a state of irreversible coma and „a permanently nonfunctioning brain“. This way of identifying the life of a human with the life of its brain represents not less than a historical change in conceptualizing life and death. Thereby, the brain death criterion is since its introduction the subject of controversial discussion not only among physicians and neuroscientists, but also between social scientists, ethicists, philosophers and the public. And the discussion is going on. In the more recent past, strong doubts about the rightness of the brain death criterion came up in the light of new neuroscientific findings. In response to the diverse problems, some propose to abandon it as precondition for organ explantation in favor of the more extensive concept of the Non-Heart-Beating-Donation. Others consider dismissing the Dead-Donor-Rule for the removal of vital organs at the price of declaring „justified killing“ as the legitimate physician’s responsibility. These proposals for handling the fundamental and persistent transplantation dilemma are indicating that it could be necessary to extend thinking about life and death – in the dichotomy of alive or dead – and to conceptualize a third category for the status of existence. A category which puts humans between life and death, and therefore turns them into a state zombies have.
Einleitung Nachdem sich die philosophische Ethik bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hinein dort, wo sie nicht in einer unversöhnlichen Frontstellung von
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Dogmatikern und Relativisten verharrte, unter dem Eindruck einer Konjunktur analytischer und sprachphilosophischer Ansätze mehr und mehr metaethischen Fragen zugewandt hatte, war es nicht zufällig die Medizin, die dafür sorgte, dass die ethische Diskussion sich wieder substanziellen moralischen Fragen widmete und dabei diese aufgrund ihrer spezifischen Entscheidungslogik vor allem zu konkreten Positionierungen provozierte. Indem die sich rasant entwickelnde Hochleistungs- und Apparatemedizin neben ungeahnten Behandlungsoptionen und Therapieerfolgen auch zu bislang ganz unbekannten klinischen Konfliktfällen und neuartigen moralischen Problemen führte, wurde es unausweichlich, allgemeine Prinzipien und theoretische Argumentationsfiguren aus der Sphäre abstrakter Reflexion und philosophischer Expertenzirkel in die handfeste Lebenswelt der Intensivmedizin zu holen, in der ganz praktische Fragen von Leben und Tod verhandelt werden und auf Entscheidungen drängen. So lässt sich mit Stephen Toulmin durchaus konstatieren, dass „die Medizin der Ethik das Leben rettete“¹ und entscheidend dazu beitrug, dass man sich aus ethischer Perspektive wieder mit den konkreten „Situationen, Bedürfnissen und Interessen“² der individuell Betroffenen beschäftigte. Doch waren es nicht nur Probleme praktischer Philosophie, die im Zuge der Auseinandersetzung mit neuen Grenzsituationen und Entscheidungskonflikten innerhalb der Medizin eine Wiederbelebung unter fallbezogenen, anwendungsorientierten Vorzeichen erlebten, auch anthropologische und ontologische Fragestellungen wurden nun wieder virulent und drängten ans Licht neuerlicher Reflexion. Dass im Zuge der von Toulmin skizzierten Rettungsaktion auch existenzielle Fragen nach den Grundvoraussetzungen des Lebens und nach der Grenzziehung zwischen Leben und Tod in neuer Gestalt auftauchten, ist vor allem der Transplantationsmedizin zu verdanken. Sie führte von Beginn ihres Entstehens an zu schwierigen Dilemmata, die neben dem pragmatischen Druck, Handlungsentscheidungen von großer Reichweite treffen zu müssen, auch eine der grundlegenden philosophischen Fragen aufwarf, die Frage nach dem Tod: Wann ist ein Mensch tot? Wann endet Leben (vollständig)? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um tot zu sein? Mit diesen Statusfragen unmittelbar verbunden sind praktische Überlegungen wie: Was bedeuten Erkenntnisse über die Bestimmung und Bestimmbarkeit des Übergangs vom Leben zum Tod für den Umgang mit sterbenden und toten Menschen? Die Praxis der Organtransplantation führt mittlerweile seit einem halben Jahrhundert zu diesen Fragen. Selbst wenn es sich längst um Standardeingriffe
Toulmin, Stephen: How medicine saved the life of ethics, in: Perspectives in Biology and Medicine /, , – , hier: . Ebd., .
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und Routinevorgänge handelt, die täglich weltweit hundertfach durchgeführt werden, operiert dieses Feld der Medizin und Lebensrettung doch auf der Grundlage von Festlegungen, die nur als vermeintlich endgültig befriedigende Antworten auf die genannten anthropologisch-existenziellen Fragen gelten können. Dabei verlangt das Verfahren, vitale Organe von toten Spendern zu explantieren, um sie anderen Patienten zu implantieren, jedoch nach einer klaren Grenzziehung zwischen Leben und Tod anhand verallgemeinerbarer Kriterien. Somit stellt sich die Frage, welche Kriterien und Anzeichen diese Funktion erfüllen können und sollen, um den entscheidenden Übergang auf wissenschaftlich verlässliche und dabei ethisch verantwortbare Weise zu bestimmen – eine Bestimmung, die gleichzeitig gewachsenen und tradierten, soziokulturellen Konzepten und Umgangsformen sowie phänomenologischen Erfahrungen mit dem Tod, mit sterbenden und toten Menschen gerecht zu werden vermag. Letztlich steht damit die grundlegende Frage danach im Raum, wie menschliches Leben und das Enden dieses Lebens verstanden und interpretiert werden kann.
1 Der Hirntod: Paradigma mit Problemen Einer der historisch und konzeptuell bis heute weitreichendsten Schritte zur Beantwortung der Frage nach einer praktikablen und verlässlichen Bestimmung des Todes erfolgte 1968, als das Ad Hoc Committee der Harvard Medical School mit der Definition des Hirntod-Syndroms („Brain Death Syndrome“) einen Zustand irreversiblen Komas, bei dem eine dauerhafte Funktionsstörung des Gehirns vorliegt („a permanently nonfunctioning brain“), als neue Todesdefinition festlegte. Veranlasst wurde die Einsetzung des Komitees im Wesentlichen durch zwei Faktoren: zum Einen gab es immer öfter Patienten, deren Herz-Kreislauf-Funktionen und Atmung durch intensivmedizinische Maßnahmen aufrecht erhalten werden konnten, während ihr Gehirn aber bereits unwiderruflich zerstört war und die damit in einem irreversiblen Koma lagen. Durch die Hirntodfeststellung konnte deren aussichtslose Weiterbehandlung problemlos beendet werden. Ein wohl weitaus gewichtigerer Grund für die Etablierung eines neuen Todeskriteriums waren daneben aber die etwa zeitgleich aufkommenden und sich schnell entwickelnden Möglichkeiten, durch die Verpflanzung lebenswichtiger Organe schwerstkranken Patienten einen deutlichen Zugewinn an Lebensjahren und Lebensqualität zu bescheren, den einen oder anderen mit dieser Form der Körperteil-Austauschtherapie sogar vor dem sicheren Tod zu bewahren. Spätestens mit der ersten erfolgreichen Herztransplantation 1967 war nun aber auch das Dilemma offenkundig, dass man einerseits vom Tod bedrohten Menschen durch die Implantation eines fremden funktionstüchtigen Herzens das Leben retten
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kann, es gleichzeitig aber selbstverständlich und weiterhin außer Frage steht, dieses Spenderorgan lebenden, geschweige denn gesunden Menschen zu entnehmen. Die Herzen verstorbener Patienten wiederum sind aber nicht transplantierbar, da sie im Zuge des Absterbens des Gesamtorganismus bereits zu stark geschädigt sind. Hier weist die Vereinbarung, Patienten in einem irreversiblen Koma für tot zu erklären, einen verlockenden Ausweg aus dieser Zwickmühle, da nun noch funktionierende Körper und Organe von Menschen zur Verfügung stehen, die man durch die Entnahme ihrer vitalen Organe per definitionem gar nicht schädigen bzw. töten kann, da sie bereits tot sind. Mit dem Konzept des Hirntodes wird nicht nur ein körperlicher Zustand benannt, der anhand einer Reihe medizinisch-diagnostischer Daten und klinischer Parameter eindeutig überprüft und festgestellt werden kann, sondern der auch eine deutliche Konzentration bzw. Reduzierung der hierfür relevanten medizinisch feststellbaren Kriterien mit sich bringt. Der Tod ist nun nicht mehr länger ein Phänomen, das den gesamten Körper mit all seinen physiologischen Funktionen und Lebenskennzeichen umfasst.Vielmehr ist die Frage, ob ein Mensch am Leben ist oder nicht, ob er noch lebt oder schon gestorben ist, zu einer Frage der Funktionsfähigkeit des Gehirns geworden. Diesem neuen Paradigma der Todesbestimmung gemäß erübrigt es sich, den Stillstand des Herzens und andere herkömmlich relevante Anzeichen des Todes wie Hautveränderungen (Totenflecke), Atemstillstand oder Leichenstarre abzuwarten, sobald das Gehirn umfassend und irreversibel geschädigt ist. Das Leben eines Menschen per medizinisch-wissenschaftlicher Definition mit dem Leben seines Gehirns gleichzusetzen, kommt einem gewaltigen konzeptuellen Einschnitt in der Geschichte der Deutung vom Wesen und Ende menschlichen Lebens gleich. Es handelt sich um einen Umbruch im Todesdenken von erheblicher historischer Dimension, der Verständnis und Akzeptanz sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in Fachkreisen vor erhebliche Herausforderungen stellt. Seit seiner Einführung ist das Hirntodkriterium Gegenstand kontroverser und vehementer Auseinandersetzungen nicht nur unter Ärzten, Neurowissenschaftlern und Pflegepersonal, sondern auch unter Sozialwissenschaftlern, Ethikern, Philosophen, Juristen und in der weiteren gesellschaftlichen Diskussion. „Bis heute hat das auf medizinischer Setzung beruhende Lebensende keine fraglose Normalität erlangt“, wie Petra Gehring im Jahr 2010 konstatiert,³ und es existiert eine Reihe ernsthafter Einwände gegen diese stipulative neurobiologische Todesdefinition.
Gehring, Petra: Theorien des Todes zur Einführung, Hamburg, , .
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Einer der ersten Kritiker des Hirntodkriteriums war Hans Jonas, der nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Gutachtens des Ad Hoc Committees die dort gegebene Definition als rein pragmatisch motivierte Umdeutung des Todes kritisierte, welche als „Neudefinierung auf eine Vordatierung des fait accompli hinausläuft, verglichen mit Kriterien nach konventionellen Lebenszeichen“ und die vor allem „nicht durch das ausschließliche Interesse am Patienten motiviert ist, sondern auch durch gewisse ihm äussere Interessen“,⁴ womit freilich die Interessen der Transplantationsmedizin an der ihr Tun ermöglichenden Feststellung des Todesstatus des potenziellen Organspenders gemeint sind. Neben der Gefahr, hilflose Menschen auf unmoralischste Art und Weise auszunutzen und zu instrumentalisieren, transportiert das Hirntodkriterium für Jonas außerdem „eine seltsame Wiederkehr – die naturalistische Reinkarnation sozusagen – des alten Leib-Seele-Dualismus. Seine neue Gestalt ist der Dualismus von Körper und Gehirn.“⁵ Demnach ist die Etablierung des Hirntodkriteriums Ausdruck einer Überschätzung der Bedeutung des Gehirns für den Menschen, seine Identität, sein Selbstverständnis und Leben,was mit einer Herabsetzung des Werts leiblicher und nicht-zerebraler Dimensionen und Lebensbedingungen einher geht. Jonas bezog damit von Anfang der Debatte um den Hirntod eine recht deutliche und skeptische Position. Aus einer um Sachlichkeit bemühten, nüchternen Perspektive ist nicht zu verkennen, dass die Texte vor allem durch die drastische Wortwahl provozieren, mit der Jonas die schlimmstmöglichen Konsequenzen einer skrupellosen Einführung des Kriteriums zum Zwecke der Beschaffung lebenswichtiger Organe ausmalt. Diese tendenziöse Rhetorik ist allerdings teilweise unangemessen und schießt über das Ziel der an sich bedenkenswerten Kritik hinaus. So befürchtet Jonas, sterbende Patienten könnten „als eine Bank für lebensfrische Organe“⁶ dienen und fordert unmissverständlich, dass der Patient „unbedingt sicher sein [muss], dass sein Arzt nicht sein Henker wird und keine Definition ihn ermächtigt, es je zu werden“.⁷ Doch abgesehen von der mitunter überzogenen sprachlichen Schärfe ist Jonas‘ Kritik an dem neuen Todesdenken in ihrem Kerngehalt auch nach über vierzig Jahren aktuell und wird von einigen Autoren weiterhin als gewichtiger Einwand gegen diese anthropologisch-konzeptuelle Grundlage der Transplantationpraxis lebenswichtiger Organe formuliert.
Jonas, Hans: Gehirntod und menschliche Organbank: Zur pragmatischen Umdefinierung des Todes, in: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main, , – , hier: . Ebd., . Ebd., . Ebd., .
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So stellt etwa Petra Gehring heraus, dass sich im Konzept des Hirntodkriteriums in historischer, kultureller sowie politischer Hinsicht ein fundamentaler Wandel des Nachdenkens und des Konzeptualisierens des Todes sowie des Umgangs mit dem Tod manifestiert. Für Gehring enfaltet sich der epochale Paradigmenwechsel in verschiedenen Dimensionen. Als zentrale Merkmale benennt sie hierbei die „Zerebralisierung“, „Punktualisierung“ und „Konventionalisierung“ des Todes.⁸ Das offensichtlichste Kennzeichen des neuen Konzeptes, das diesem auch den Namen gibt, betrifft die körperliche Lokalisation der relevanten ‘Todeszone’. Der Tod eines Menschen wird gleichgesetzt mit bzw. reduziert auf einen bestimmten Zustand seines Gehirns und macht damit den Tod zu einer zerebralen Frage (Zerebralisierung). Dabei wird der Tod in zeitlicher Hinsicht exakt und eindeutig – gewissermaßen auf die Sekunde genau – bestimmbar, indem mit dem Zeitpunkt der abgeschlossenen Hirntoddiagnose der Patient als tot gilt. Damit steht die Todesfeststellung nicht mehr länger am Ende eines mehr oder weniger natürlich verlaufenden Prozesses, des Sterbeprozesses, sondern ist Gegenstand einer Entscheidung, die in einem präzise bestimmbaren Augenblick getroffen wird (Punktualisierung). Die Kriterien und Vorbedingungen für diese Entscheidung sind hierbei von wissenschaftlichen Fachleuten festgelegt, während die Feststellung selbst das Ergebnis spezifischer Testverfahren ist, die ebenfalls nur von Spezialisten verstanden, vorgenommen und bewertet werden können. Dies bedeutet, dass die Frage des Todes mit Einführung des Hirntodkriteriums abhängig von Vereinbarungen einer bestimmten Expertengruppe wird (Konventionalisierung). Wie an den drei Punkten der Zerebralisierung, Punktualisierung und Konventionalisierung sehr prägnant deutlich wird, sind die wesentlichen Elemente des Hirntodkonzeptes weder ‘natürlich gegeben’ noch bezweckt die Hirntodfeststellung lediglich ein neuartig ansetzendes Verfahren, um der tradierten Definition folgend die etablierten und üblichen Todeszeichen besser, schneller o. ä. zu diagnostizieren. Vielmehr handelt es sich bei dem Hirntodkonzept um eine prinzipiell arbiträre Festlegung, deren Kern – die Gleichsetzung von Hirntod und Tod – „etwas Stipulatives“⁹ anhaftet. Dass damit aber nicht nur medizinisch-wissenschaftliche Neuerungen verbunden sind, sondern auch neue moralische Fragen entstehen, betont Kurt Bayertz: „Was früher als Naturtatsache außerhalb menschlicher Verantwortung zu stehen schien, wird nun zu einer Entscheidung, für die Verantwortung übernommen werden muß.“¹⁰ Vgl. Gehring: Theorien des Todes zur Einführung, . Birnbacher, Dieter: Der Hirntod – der Tod?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie /, , – , hier: . Bayertz, Kurt: Ethik, Tod und Technik. Moralische Folgen der Hirntod-Definition, in: Ach, Johann S./Quante, Michael (Hrsg.): Hirntod und Organverpflanzung: Ethische, medizinische,
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Jenseits der begrifflichen Ebene geht das deklarative Moment der neuen Todesauffassung mit Schwierigkeiten einher, die sich im alltäglichen Umgang mit hirntoten Patienten ergeben. Seit der Einführung des Hirntodkriteriums ist der beunruhigende Umstand zu konstatieren, dass massive praktische Konflikte und Probleme bestehen, die die Wahrnehmung von und den Umgang mit hirntoten Patienten bzw. hirntoten Körpern betreffen. Diese Irritationen und Widersprüche belasten vor allem Menschen, die in Krankenhäusern und Intensivstationen arbeiten und mit potenziellen Organspendern zu tun haben, die zwar hirntot sind, deren Körper aber unzweideutig (noch) lebendig sind, die warm sind, atmen und schwitzen, deren Stoffwechsel funktioniert, deren Haare und Nägel wachsen, die – im Extremfall hirntoter Schwangerer – sogar noch einen Embryo austragen und schließlich ein lebendes Kind (per Kaiserschnitt) zur Welt bringen können. All das sind Körperfunktionen, die notwendig bzw. notwendige Begleiterscheinungen sind, um unversehrte Organe am Leben und damit transplantierbar zu halten. Diese verstörende klinische Situation kann sich im Moment der Organentnahme dann noch weiter zuspitzen, wenn es bei den Spendern mit Beginn der Explantation zu einem sprunghaften Anstieg des Blutdrucks, zu Schweissausbrüchen und spontanen Bewegungen der Extremitäten kommt. Um diese unmittelbaren körperlichen Reaktionen, die dem Schmerzverhalten lebender Patienten entsprechen, zu vermeiden, plädieren einige Transplantationsmediziner dafür, hirntote Organspender für die Explantation zu narkotisieren. So berichtet Philip Keep, Anästhesist am britischen Norfolk and Norwich Hospital: „Nurses get really, really upset. You stick the knife in and the pulse and blood pressure shoot up. If you don‘t give anything at all, the patient will start moving and wriggling around and it’s impossible to do the operation.“¹¹ Dementsprechend ist etwa in der Schweiz Vollnarkose für hirntote Spender zur Organentnahme vorgeschrieben.¹² Wenn ein toter Körper narkotisiert werden muss, fällt es nicht leicht, zu verstehen und zu glauben, dass dieser Körper wirklich tot und nicht mehr lebendig ist – nicht einmal ein bisschen. Für den Internisten und Medizinkritiker Linus Geisler ist die medizinisch-wissenschaftliche Tatsache, dass es sich bei hirntoten Patienten „nur scheinbar um Lebende [handele], in Wirklichkeit seien es Tote (‘Scheinlebende’)“, ein „massi-ve[r] Verstoß gegen die menschliche Intuition“.¹³
psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin, Stuttgart, , – , hier: . BBC: Braindead pain fears ’upset families’, in: BBC News Health, August . Vgl. Müller, Sabine: Wie tot sind Hirntote? Alte Fragen – neue Antworten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte /, , – , hier: . Geisler, Linus: Die Lebenden und die Toten. Die Transplantationsmedizin beginnt sich von der „Tote-Spender-Regel“ zu verabschieden, in: Universitas /, , – , hier: . Folgt man
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Neben diesen problematischen Aspekten des praktischen Umgangs mit hirntoten Patienten im Klinikalltag wurden in jüngerer Vergangenheit im Lichte neuer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse ernsthafte Zweifel an der Gültig- und Verlässlichkeit des Hirntodkriteriums laut.¹⁴ Diese Zweifel vonseiten der Hirnforschung entzündeten sich vor allem daran, dass die Methoden der Hirntoddiagnostik in Deutschland hauptsächlich klinische Methoden sind, wie etwa die Feststellung des Atemstillstands und die Überprüfung noch vorhandener Hirnstammreflexe. Die diagnostischen Untersuchungen beinhalten dagegen keine mechanischen und apparativen Diagnoseverfahren wie ein EEG, eine Angiographie oder funktionelle Bildgebung, was jedoch offenbar notwendig wäre, um sicher zu gehen, dass der Patient wirklich hirntot ist. In etlichen in der Fachliteratur beschriebenen Fällen wurde bei Patienten, die klinisch als hirntot diagnostiziert worden waren, mit apparativer Diagnostik zerebraler Blutfluss oder elektrische Hirnaktivität nachgewiesen.¹⁵ Während auf der einen Seite gravierende Bedenken angesichts der Schwierigkeiten einer verlässlichen Hirntod-Diagnose geäußert werden, mehren sich auf der anderen Seite Zweifel, ob die Verbindung zwischen dem Hirntod und dem Tod des Restkörpers sowohl in konzeptueller als auch empirischer Hinsicht vertretbar ist.¹⁶ Bislang konnte davon ausgegangen werden, dass unmittelbar nach dem
der offiziellen Lesart der Medizin, lässt sich dieser Verstoß ganz nüchtern wie eine Art Irrtum oder Täuschung der Intuition aufgrund eines Wissensrückstandes aufklären, und das Problem des Wahrnehmungswiderspruchs bei Hirntoten scheint allein eine Frage neurowissenschaftlicher Information und der fachgerechten Interpretation zu sein: „Mit Eintritt des Hirntodes geht die hemmende Wirkung des Hirnstamms auf das Rückenmark verloren. Somatisch und viszeral ausgelöste Reize werden deshalb mit überschießenden Reflexen beantwortet, die spinalen Mechanismen zugeordnet werden.“ (Sinner, Barbara/Graf, Bernhard M.: Anaesthesie zur Organentnahme, in: Der Anaesthesist /, , – , hier: ). Allerdings ist die Erscheinung und das ‚Verhalten‘ hirntoter Organspender vor und während der Explantation so irritierend und die Hürde der Rationalisierung dieser Phänomene als bloßes Reflexgeschehen für viele so hoch, dass sich die Bundesärztekammer zu einer eigenen Erklärung veranlasst sah, in der klargestellt wird: „Nach dem Hirntod gibt es keine Schmerzempfindung mehr. Deshalb sind nach dem Hirntod bei Organentnahmen keine Maßnahmen zur Schmerzverhütung (zum Beispiel Narkose) nötig. Die Tätigkeit eines Anästhesisten bei der Organentnahme […] dient ausschließlich der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der zu entnehmenden Organe.“ (Bundesärztekammer/BÄK: Erklärung zum Hirntod, in: Deutsches Ärzteblatt /, , ) Vgl. President’s Council on Bioethics/PCBE: Controversies in the Determination of Death. A White Paper. Washington, D.C., ; Müller, Sabine: Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik, in: Ethik in der Medizin /, , – . Vgl. Müller: Revival der Hirntod-Debatte. Vgl. President’s Council on Bioethics/PCBE: Controversies in the Determination of Death; Müller: Revival der Hirntod-Debatte.
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Hirntod der ‘eigentliche’, ‘reale’ oder ‘physische’ Tod (im Sinne des Herzstillstands) ebenfalls eintritt. Inzwischen kann die Vorstellung einer solch engen und unausweichlichen Verbindung nicht mehr länger aufrecht erhalten werden. In einem dokumentierten Fall vergingen vierzehn Jahre zwischen dem Hirntod und dem endgültigen Tod.¹⁷ Darüberhinaus ist die Annahme, dass das Gehirn unerlässliche Aufgaben erfüllt, die für das integrierte Funktionieren des Körpers als lebendigem Organismus verantwortlich sind und deren Verlust unmittelbar die körperliche Desintegration zur Folge hat, was schließlich innerhalb weniger Tage zum Herzstillstand führt, diese Annahme, die die längste Zeit unangefochten eines der zentralen Argumente zur Verteidigung des Hirntodkonzeptes war, ist nicht mehr länger haltbar, wie etwa die Medizinethiker Franklin Miller und Robert Truog klarstellen: „the human body does not need the brain to integrate homeostatic functions […]. Patients who fulfill all of the diagnostic criteria for brain death remain alive in virtually every sense except for the fact that they have permanently lost the capacity for consciousness.“¹⁸ Somit können die Probleme des Hirntodkonzeptes und der entsprechenden Kritik (ob mit oder ohne neurologische Bezüge) auf zwei Hauptfragen gebracht werden. Erstens: Ist der Patient wirklich hirntot? Und zweitens: ist der hirntote Patient wirklich tot? Während die erste Frage eher eine wissenschaftlich-technische und neurologische Antwort erfordert, verlangt die zweite nach philosophischen oder anthropologischen bzw. ontologischen Überlegungen. Bevor hier dieser Aspekt, d. h. die Statusfrage hirntoter Menschen und damit der Frage nach der Konzeptualisierung von Leben und Tod beleuchtet wird, sollen die ethischen Implikationen der beiden durch das Hirntodkonzept aufgeworfenen Hauptfragen erörtert werden.
2 Schwierige Alternativen Als Reaktion auf die diversen Probleme des Hirntodkriteriums – wie die fragliche diagnostische Verlässlichkeit, die Gleichsetzung des Ausfalls bestimmter Hirnfunktionen mit dem Tod, hirntote Patienten, die noch leben bzw. höchst lebendig erscheinen – angesichts der verschiedenen Schwierigkeiten schlagen einige Autoren mittlerweile vor, das zerebrale Kriterium als Vorbedingung für die Organentnahme aufzugeben und zum traditionellen Todeskonzept zurückzukehren, das nicht den Ausfall des Gehirns, sondern den Stillstand des Herzens als entschei-
Vgl. Müller: Revival der Hirntod-Debatte, . Miller, Franklin G./Truog, Robert D.: Rethinking the ethics of vital organ donations, in: Hastings Center Report /, , – , hier: .
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dendes Ereignis für die Feststellung des Lebensendes ansieht. Solche Ansätze verfolgen das früher übliche Explantationsprinzip der Organspende nach HerzKreislauf-Stillstand (Non-Heart-Beating-Donation). Diese wiedereingeführte Entnahmepraxis ist heute bereits erlaubt in Ländern wie der Schweiz, Spanien, den Vereinigten Staaten und den Niederlanden.¹⁹ Um Spendern nach einem Herzstillstand Organe zu entnehmen, muss der Tod nach kardiopulmonalen Kriterien festgestellt sein, d. h. der Blutkreislauf und die Atmung müssen ausgefallen sein, bis schließlich Kreislauf- und Herzstillstand eintreten. Doch auch diese Todesbestimmung ist nicht unproblematisch. Der ausschlaggebende und heikle Punkt hierbei ist das Verständnis und die Handhabung von Irreversibilität. Da bei NonHeart-Beating-Spendern der Kreislauftod infolge der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen erfolgt, ohne dass weitere Anstrengungen zur Wiederbelebung unternommen werden, dreht sich die Diskussion hier um die Frage,wie lange nach dem Abstellen lebenserhaltender Apparate zu warten ist, bevor eine biologische Reanimation für unmöglich und damit das Leben als unwiderruflich beendet erklärt werden kann. Muss mindestens fünf Minuten gewartet werden, genügen zwei Minuten oder sind gar 75 Sekunden ausreichend lange, um nach der Asystolie, also dem letzten Herzschlag, sicher davon ausgehen zu können, dass weder Herz noch Puls wieder spontan zurückkehren? Damit wird offensichtlich, inwiefern der Beweis unwiderruflich verlorener Reversibilität zu einer Sache der Entscheidung der Ärzte geworden ist. Irreversibel bedeutet dann nicht mehr medizinisch-biologisch irreversibel – das Herz wird nicht mehr von selbst schlagen, weil es sich nicht mehr reanimieren lässt, egal, wie oft und lange man es auch versuchen würde –, sondern meint schlicht faktisch irreversibel – das Herz wird nicht mehr von selbst schlagen, weil es nicht mehr reanimiert wird. Ob ein Herz unwiderruflich stillsteht, ist damit weniger ein Befund, der sich diagnostizieren lässt, sondern vielmehr das Ergebnis einer Entscheidung, wie auch Truog und Miller betonen: „Whereas the common understanding of ‘irreversible’ is ‘impossible to reverse’, in this context irreversibility is interpreted as the result of a choice not to reverse.“²⁰ Sind es nun Herzen, die transplantiert werden sollen, führt dies zu einem bemerkenswerten Paradox: „the paradox that the hearts of patients who have been declared dead on the basis of the irreversible loss of cardiac function have in fact been transplanted and have successfully functioned in the chest of another.“²¹ Vgl. Bos, Mike A.: Ethical and legal issues in non-heart-beating organ donation, in: Transplantation Proceedings /, , – . Truog, Robert D./Miller, Franklin G.: The dead donor rule and organ transplantation, in: New England Journal of Medicine /, , – , hier: . Ebd.
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In diesem Fall ist das Transplantationsdilemma auf die Spitze getrieben, liegt doch die grundsätzliche Aporie der Übertragung lebenswichtiger Organe in dem Prinzip und in der Zielsetzung, funktionierende bzw. lebende Organe von Spender zu bekommen, die tot sind. Besteht das Ziel nun darin, ein Herz nach einem Herzstillstand zu explantieren, wird diese Zwickmühle schonungslos offenbar, wenn das oberste Ziel der gesamten Organspendeprozedur im fortdauernden Funktionieren und Weiterleben gerade desjenigen Organs besteht, dessen Ausfall – bzw. Tod – zunächst die absolut notwendige Voraussetzung ist, um die Organentnahme überhaupt erst in Gang zu setzen. Damit ist das notwendigerweise nicht (mehr) funktionierende bzw. tote Organ dazu bestimmt, das Leben eines Patienten zu retten, indem es von selbst funktioniert und lebt.²² Dieses paradoxe und schwer nachvollziehbare Ergebnis veranlasst einige Autoren, einen Schritt weiter zu gehen und einen anderen bislang unumstößlichen Grundsatz in Frage zu stellen. So steht zur Lösung des Transplantationsdilemmas bei der Entnahme lebenswichtiger Organe inzwischen auch die sog. Tote-SpenderRegel (Dead-Donor-Rule) zur Disposition. In dieser Regel ist wohl eines der grundlegendsten ethischen und rechtlichen Prinzipien medizinischer – und nicht nur medizinischer – Praxis formuliert: einen anderen, unschuldigen Menschen zu töten oder dessen Tod herbeizuführen ist absolut unzulässig und falsch, selbst wenn dies das Leben eines anderen Menschen retten könnte. Für die Transplantationsmedizin bedeutet dies, dass Patienten tot sein bzw. für tot erklärt worden sein müssen, bevor ein lebenswichtiges Organ zum Zweck der Transplantation entnommen werden darf.²³ Wie bereits skizziert, scheint es die ToteSpender-Regel erforderlich zu machen, konzeptuelle Ausweitungen oder gar Revisionen der Todesdefinition vorzunehmen, sowohl hinsichtlich des Hirntod- als auch das Herztodkonzepts.²⁴ Demnach ist nicht etwa die Bestimmbarkeit des Todes das Hauptproblem der Transplantationsmedizin, sondern vielmehr die Tote-Spender-Regel. Da für Autoren wie Miller und Troug, die die mangelnde Eignung des Hirntodkriteriums zur Feststellung des Todes herausstellen, die gegenwärtige Praxis der Entnahme lebenswichtiger Organe bereits ohnehin gegen diese Grundregel verstößt, ist es ein Gebot der Kohärenz und Ehrlichkeit, dies anzuerkennen und die ethischen Normen entsprechend anzupassen. So bringen die beiden Autoren das Ergebnis dieser konsequenten Modifikation schonungslos
Vgl.Veatch, Robert M.: Donating hearts after cardiac death – reversing the irreversible, in: New England Journal of Medicine /, , – . Vgl. Robertson, John A.: The dead donor rule, in: Hastings Center Report /, , – . Vgl. auch dazu Truog/Miller: „In sum, as an ethical requirement for organ donation, the dead donor rule has required unnecessary and unsupportable revisions of the definition of death.“ (The dead donor rule and organ transplantation, )
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auf den Punkt: „[I]n order to sustain the lifesaving practice of organ transplantation without moral obfuscation, we must face the fact that this requires extracting vital organs from living donors“.²⁵ Warum also noch an der Tote-SpenderRegel festhalten? Die Aufgabe dieses Grundsatzes würde ganz offensichtlich das Transplantationsdilemma mit einem Schlag beseitigen. Es mag kaum verwundern, dass dieser Vorschlag, nicht weniger radikal als das Hirntodkriterium selbst, in der Debatte nicht nur auf Zustimmung stößt. Zu den entschiedenen Kritikern des Vorschlags zählt wiederum Linus Geisler, für den ein Abschied von der Tote-Spender-Regel „einen fundamentalen Tabubruch“²⁶ darstellen würde. Selbst wenn die von Truog und Miller vorgeschlagene Reform im Zeichen intellektueller Ehrlichkeit tatsächlich die Hirntodproblematik aus der Welt schaffen würde, könnte dies nach Geisler doch nicht „über die Ungeheuerlichkeit hinwegtäuschen, dass hier zum ersten Mal in der Medizingeschichte der zivilisierten Welt Ärzte den Tod eines Menschen herbeiführen dürften, um ihn zur Therapie eines anderen Menschen zu instrumentalisieren. […] Die Lizenz zum Töten würde zur legalen ärztlichen Qualifikation.“²⁷ Was zunächst nach einem weiteren Beispiel rhetorischer Überzeichnung klingt, ist vielmehr recht sachgemäß formuliert, nimmt es doch die Position derjenigen, die die Tote-SpenderRegel für verzichtbar halten, beim Wort. Die Rede vom ‘Töten’ ist eine folgerichtige Konsequenz der Ehrlichkeit, die Truog und Miller beabsichtigen. Aus ihrer Sicht sollte das durch das Abstellen lebenserhaltender Maßnahmen herbeigeführte Beenden des Lebens eines Patienten zum Zwecke der Organgewinnung exakt als das benannt werden, was es dieser Logik nach ist: „gerechtfertigtes Töten“ (justified killing). Bereits vor über 15 Jahren führte Robert Truog diesen Begriff ein, als er forderte: „the process of organ procurement would have to be legitimated as a form of justified killing“, und hinzufügte: „killing may sometimes be a justifiable necessity for procuring transplantable organs“.²⁸ Auch wenn Truog und Miller in jüngeren Äußerungen diese provokante Formulierung aufgrund ihrer „emotional aufgeladenen und wertenden Sprache“²⁹ zu vermeiden suchen, halten sie doch am Kern ihrer Position fest: die Schlüsselprinzipien für eine Rechtfertigung ärztlichen Tötens zum Zwecke der Organgewinnung sind demnach die Prinzipien der Patientenautonomie und der informierten Zustimmung. Um als Organspender
Miller/Truog: Rethinking the ethics of vital organ donations, . Geisler: Die Lebenden und die Toten: . Ebd., f. Truog, Robert D.: Is it time to abandon brain death?, in: Hastings Center Report /, , – , hier: ff. Orig.: „The emotionally charged and value-laden language of ‚killing‘ gets in the way.“ (Truog/ Miller: The dead donor rule and organ transplantation, ).
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dienen zu können, müssen Patienten zu Lebzeiten ihre Zustimmung zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen gegeben haben, für den Fall, dass sie zwar noch leben, aber „katastrophal hirngeschädigt“³⁰ sind. In diesem Sinne sind Truog und Miller davon überzeugt, dass es unter bestimmten Voraussetzungen legitimer Teil der ärztlichen Verantwortung sein kann, den Tod eines Patienten herbeizuführen: „[W]e endorse life-terminating acts of vital organ extraction prior to a declaration of death, provided that they are tied to valid decisions to withdraw life support and valid consent.“³¹ So drastisch für manchen diese Neuformulierung ärztlicher Zuständigkeit im Zeichen ethisch widerspruchsfreier Organgewinnung sein mag, so wertvoll ist doch die Position von Truog und Miller für die Transparenz und Deutlichkeit der Debatte. Ein kohärenter Standpunkt lässt sich nun nurmehr aufrecht erhalten, wenn man entweder die Tote-Spender-Regel fallen lässt oder aber bereit ist, sich von der etablierten Praxis der Entnahme vitaler Organe ganz zu verabschieden. Diese bestechend logische Schlussfolgerung stellt mit Andreas Brenner ein durch Truog und Millers Vorstoß provozierter Kritiker der Transplantationsmedizin unumwunden klar: „Wenn man sich an einem solchen kulturellen Bruch [dem Abschied von der Tote-Spender-Regel, T.E.] nicht beteiligen will, bleibt nur eines: Die Transplantation lebensnotwendiger Organe muss eingestellt werden.“³² Damit ist das gegenwärtige ethische Dilemma der Transplantationsmedizin benannt, „dass es einerseits keinen Weg zurück in die heile Welt der Hirntodkonzeption gibt, in der es als erwiesen galt, dass Hirntote wirklich tot sind, während es andererseits schwer fällt zu akzeptieren, dass Organspender regelmäßig durch Explantationen getötet werden“.³³
3 Zwischen den Stühlen … und auf der Leinwand Die genannten Vorschläge für einen pragmatischen Umgang mit dem grundlegenden und anhaltenden Dilemma der Transplantationsmedizin – die Aufgabe des Hirntodkriteriums, Organspende nach Herz-Kreislauf-Stillstand, die Verabschiedung von der Tote-Spender-Regel – all diese Lösungsansätze mit ihren Problemen und neuen Konflikten deuten darauf hin, dass womöglich konzeptuelle Verschiebungen auf einer tiefer liegenden Ebene nötig und hilfreich sein Orig.: „living but catastrophically brain-injured patients“ (ebd., ). Truog/Miller: The dead donor rule and organ transplantation, . Brenner, Andreas: Kainsmal der Transplantation, in: Neue Zürcher Zeitung, . . . Stoecker, Ralf: Der Hirntod. Ein medizinethisches Problem und seine moralphilosophische Transformation, Freiburg, , XLV.
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könnten.³⁴ So scheint es unausweichlich, angesichts der gegenwärtigen Unstimmigkeiten fundamentale Auffassungen von Leben und Tod zu überprüfen und zu modifizieren. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob es angezeigt sein könnte, die Vorstellung einer klaren und eindeutigen Grenzziehung – zwischen dem Zustand des Totseins und dem des Lebendigseins – fallen zu lassen, sofern die in Frage stehenden Gegebenheiten es erfordern.Wie eine Rekonstruktion des Aufkommens des Hirntodkriteriums zeigt, war dieser epochale Paradigmenwechsel im Kern verursacht von der praktischen „Notwendigkeit, Grenzen zu setzen, wo ‘in Wirklichkeit’ keine sind“.³⁵ Die klare Grenzziehung des Hirntodkonzeptes stellt sich nun nach über 40 Jahren gewissermaßen als zu klar und zu eindeutig heraus, um die Wirklichkeit von Leben und Tod, in der Grenzen nur in Gestalt fließender Übergänge existieren, in den Griff zu bekommen. Stephen Toulmin hat eine ähnliche Skepsis gegenüber klaren Definitionen und Abgrenzungen vor Augen, wenn er mit Verweis auf Aristoteles die Herausforderung, aber auch Notwendigkeit praktischer Vernunft hervorhebt, welche für ihn Ethik und klinische Medizin verbindet: „Ethics and clinical medicine are both prime examples of the concrete fields of thought and reasoning in which […] the theoretical rigor of geometrical argument is unattainable: in which we should above all strive to be reasonable rather than insisting on a kind of exactness that ‚the nature of the case‘ does not allow“.³⁶ Demzufolge scheint es ein unabweisbares Gebot praktischer Vernunft zu sein, das Konzept einer strikten Dichotomie von tot oder lebendig mindestens zu erweitern, wenn nicht gar in dieser zweipoligen Form fallen zu lassen, sofern die Beschaffenheit des Falles dies verlangt. Der im vorliegenden Zusammenhang unter Druck geratene Fall betrifft die Bestimmbarkeit von Patienten, die in einem irreversiblen Koma liegen und deren Herzen oder Hirne aufgehört haben zu funktionieren,während ihre Körper noch leben. Die hierbei entscheidende Frage lautet üblicherweise: sind diese Menschen schon tot (so dass Organe entnommen werden können) oder noch am Leben (was jegliche Explantation verbieten würde)? Tot oder lebendig – daneben scheint es keine dritte Option zu geben, tertium non datur. Doch einiges spricht dafür, dass es diese Dichotomie selbst ist, die sich überlebt hat und dass die „theoretische Strenge
Auch für Ralf Stoecker waren und sind „alle direkten Antworten auf das Hirntod-Problem zum Scheitern verurteilt. Es waren Versuche, den gewohnten, herkömmlichen Tod, mit dem wir so gravierende ethische Folgen verbinden, irgendwo in dem differenzierten und kontrollierten Sterben in der modernen Medizin wiederzufinden. Wie die sprachphilosophischen und ethischen Reflexionen aber gezeigt haben, ist dies aussichtslos.“ (Ebd., XLVIII f.) Bayertz: Ethik, Tod und Technik, . Toulmin: How Medicine Saved the Life of Ethics, .
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geometrischer Argumente“ (Stephen Toulmin) bei derartig existenziellen Fragen, die unhintergehbar in sich vielschichtig und mehrdeutig sind, fehl am Platz ist. Hat Toulmin die vielfältigen ethischen Konflikte der modernen Medizin im Allgemeinen im Blick, bringt Hans Jonas ganz ähnliche Zweifel an unangemessener Exaktheit anlässlich des spezifischen Problems des Hirntodkriteriums vor. So fordert Jonas eindrücklich, gerade was das prinzipiell mehrdeutige und unentscheidbare Nachdenken über Leben und Tod betrifft, begrifflich adäquat vorzugehen: „Giving intrinsic vagueness its due is not being vague. […] Reality of certain kinds – of which the life-death spectrum is perhaps one – may be imprecise in itself, or the knowledge obtainable of it may be. To acknowledge such a state of affairs is more adequate to it than a precise definition, which does violence to it. I am challenging the undue precision of a definition and of its practical application to an imprecise field.“³⁷ Demnach ist der Umstand, dass das TransplantationsHirntod-Problem nach wie vor offene und kontroverse Fragen aufwirft und Miller zufolge zu einer „unsicheren und dabei verunsichernden Situation“³⁸ führt, auch zu verstehen als unausweichliche Konsequenz der instrinsischen Vagheit und Ungenauigkeit des Spektrums zwischen Leben und Tod. Angesichts der bereits von Jonas benannten grundsätzlichen ontologischen Vagheit, fordert auch Ralf Stoecker, sich von der Vorstellung eines klar bestimmbaren punktuellen Moments, in dem der Tod das Leben eindeutig und unwiderruflich beendet – gerade angesichts der Intensiv- und Transplantationsmedizin von heute – zu verabschieden, da sich die „Fiktion eines einzigen Umschwungs auf der deskriptiven Ebene […] unter den Umständen, in denen sich die Hirntoten befinden, nicht aufrechterhalten“³⁹ lässt. Mit Blick auf das Transplantationsdilemma und die Schwierigkeiten der verschiedenen vorgeschlagenen Lösungsversuche scheint es ratsam, eine dritte Kategorie für den Status menschlicher Existenz zu entwerfen, sollen nicht grundlegende moralische Werte, Überzeugungen und Verpflichtungen über Bord geworfen werden. Eine neue, gewissermaßen ontologische Kategorie gilt es zu diskutieren, die Menschen in den unklaren existenziellen Zuständen zwischen
Jonas, Hans: Against the stream. Comments on the definition and redefinition of death, in: Lizza, John P. (Hrsg.): Defining the Beginning and End of Life, Baltimore, /, – , hier: . Orig.: „ We face an unsettled and unsettling situation characterised by the moral imperative to continue vital organ transplantation, the entrenched norm that doctors must not kill, and the increasingly transparent fiction that the brain dead are really dead.“ (Miller, Frank G.: Death and organ donation: Back to the future, in: Journal of Medical Ethics /, , – , hier: ) Stoecker: Der Hirntod, XLIX.
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den Grenzen von Leben und Tod erfasst, zu denen die Praxis der Transplantationsmedizin seit ihrem Bestehen führt. Demnach müssen hirntote Patienten, deren Körper – bzw. relevante Teile ihrer Körper – in einem guten, explantierbaren Zustand sind, während ihre Gehirne irreversibel geschädigt sind, nicht als entweder noch lebendig oder schon tot, sondern sollten vielmehr als sowohl schon tot als auch noch lebendig zur gleichen Zeit angesehen werden. Dies schlägt auch Stoecker vor, demzufolge es für hirntote Patienten geradezu „charakteristisch“ ist, dass sie „in mancher Hinsicht noch so sind wie die Lebenden und in anderer Hinsicht wie die Toten“.⁴⁰ Das Vorhaben, diese dritte Kategorie des Lebendigseins innerhalb der komplexen medizinischen Praxis der Organtransplantation zu definieren, einzuführen und zur Anwendung zu bringen, erfordert ohne Zweifel enormen Aufwand und stellt eine große Herausforderung dar, deren Erfolg aus verschiedenen Gründen alles andere als garantiert ist. Zu den zentralen Hürden hierbei gehören das Unbehagen, die Fremdheit und Aversion, die die explizite Vorstellung des praktischen Umgangs mit menschlichen Wesen hervorruft, welche sich in einem dritten Existenzzustand zwischen Leben und Tod befinden. Doch dürfen die Überwindung bzw. Erweiterung tradierter Deutungsmuster und eingeübter Vorgehensweisen an sich kein persistierender Hinderungsgrund sein, die ontologischen Konzeptualisierungen von Leben und Tod den Realitäten, die die moderne Hochleistungsmedizin hervorbringt, in adäquater Weise anzupassen. Nur so können dann auch die ethischen Herausforderungen, die sich hierbei ergeben und die die Lebensrealität der betroffenen Menschen bestimmen, vorurteilsfrei angegangen und nachhaltig bewältigt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es womöglich hilfreich, die Konzentration auf den medizinethischen und gesellschaftspolitischen Diskurs aufzubrechen und Deutungshilfe von ungewohnter Seite in Anspruch zu nehmen. So kommen Disziplinen und Bereiche jenseits der Wissenschaft in den Blick, die seit jeher Grundfragen des Menschseins, nach den Grenzen seiner Existenz und deren Überschreitung aufwerfen und künstlerisch verhandeln, und die dabei über eine lange gestalterische und hermeneutische Tradition verfügen. Dies scheint gerade bei einem Fragekomplex dringend angezeigt, der eindeutige und endgültige Antworten notorisch verweigert und von jeher Quelle tiefsitzender Ängste und schwelender Ungewissheiten war, denn „[d]ie Frage, wo das Leben endet und der Tod beginnt, ist nicht erst durch die gegenwärtigen Debatten zur Bestimmung des biologischen Todes aktuell, und sie ist auch nicht auf den Kompetenzbereich der
Stoecker, Ralf: Der Hirntod aus ethischer Sicht, in: Deutscher Ethikrat (Hrsg.): Hirntod und Organentnahme. Gibt es neue Erkenntnisse zum Ende des menschlichen Lebens?, Berlin, , – , hier: .
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Lebenswissenschaften beschränkt. […] Es geht nicht um Leben oder Tod, sondern um jene beunruhigende Zone dazwischen, die Naturwissenschaftler ebenso beschäftigt hat wie bildende Künstler, Präparatoren im Museum oder die Pioniere des Films.“⁴¹ Dass die Vorstellung von Menschen bzw. menschlichen Wesen, die tot und lebendig zugleich sind, tot und nicht-tot, die also als untot bezeichnet werden können, alte und tiefe Ängste des Menschen aufruft, führen etwa die zahlreichen Beispiele des (sehr lebendigen!) Motivs der untoten Kreatur, des Zombies, in der Kunst, in Literatur, im Comic und Film eindrucksvoll vor Augen. Gerade dem Film als Massenmedium und populärer Plattform kultureller Selbstverständigung kommt hierbei besondere Bedeutung zu – und vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade das Subgenre des Zombiefilms mit dem Klassiker Die Nacht der lebenden Toten (Night of the Living Dead, USA 1968, Dir.: George A. Romero) ziemlich genau in dem Moment eine filmhistorisch einmalige (und bis heute anhaltende) Renaissance erlebt hat, in dem auch das Konzept des Hirntodes in Harvard das Licht der Welt erblickte. Hat sich seitdem die Bandbreite des zombie movies beträchtlich erweitert und ausdifferenziert, zeichnet sich doch die klassische Grundfigur des Zombie-Narrativs durch Eigenschaften aus, die auch hirntote Patienten charakterisieren. So ist beiden Variationen menschlicher Existenz die Fähigkeit zu innerem Bewusstseinsleben und Selbstreflexion unwiederbringlich abhanden gekommen, während die biologischen Körper noch eine gewisse Eigenbeweglichkeit zeigen und auf äußere Reize reagieren können. Vor allem aber erwecken Zombies wie Hirntote bei ihren Mitmenschen zunächst den Eindruck lebender Personen und lösen intuitive Gewissheiten über adäquate Formen des sozialen und moralischen Umgangs mit ihnen aus, welche bei näherem Hinsehen jedoch bald und ebenfalls unwiderruflich ins Wanken geraten. Und so scheint es alles andere als abwegig zu sein, ganz im Sinne einer narrativen Bioethik Filme als „Medium der Welterfahrung“⁴² auch für den bioethischen Diskurs fruchtbar zu machen – nicht nur dort, wo ‘realistische’ und explizit medizinische Handlungsräume und -kontexte thematisiert sind, sondern auch jenseits telegener Kliniken im Schwarzwald oder US-amerikanischen Großstädten, an den Rändern des Menschlichen und Lebendigen, in den Abgründen verdrängter Ängste und schwelender Ungewissheiten, an denen hergebrachte moralische Positionen und Weltanschauungen ihr scheinbar sicheres Fundament verlieren.
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Tobias Eichinger
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Hans Werner Ingensiep
Subhumanismus und Heroismus im „Wachkoma“ Positionen und Reflexionen zum Bioethos in Grenzsituationen des Lebens Abstract: Sub-humanism and heroism in the persistent vegetative state. Bioethical reflections on limit situations of life. „Vegetating“ in minimally conscious brain states is used in this chapter as an extreme example to introduce a variety of philosophical positions that can be interpreted as „heroism“ or as „sub-humanism“. The reactions in social networks and in the media to the case of the American PVS-patient Terri Schiavo serve as a starting point for a description of different perspectives and (bio‐)ethical evaluations of this extreme situation in human life. They are confronted with ideas and approaches from Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Heinrich Rickert, Hans Jonas, Emmanuel Levinas, and Peter Singer. These positions are considered as paradigmatic interpretations and different basic views on existential situations at the limits of human life in between „sub-humanism“ and „heroism“.
Einleitung Humanismus nennt man eine geistige Strömung der Neuzeit, die sich dem Ideal gesitteter Bildung und der sorgfältigen Pflege der Sprache widmete – auch in der Hoffnung, auf diese Weise die weltliche Humanität und Kultivierung des Menschen, das humanistische Ethos, zu vertiefen. Ein Erasmus von Rotterdam bediente sich daher der antiken Rhetorik und Philosophie des Cicero, um so zur Verwirklichung eines lebensfreundlichen Vollmenschentums beizutragen. Im späteren Jahrhundert der Aufklärung zielten Philosophen wie Rousseau in diesem Sinne auf Brüderlichkeit unter Menschen und Kant auf die Achtung der „Menschheit“ in seiner eigenen und einer jeden anderen Person – kurz, auf Menschenrechte und Menschenwürde. Auch Karl Marx war im 19. Jahrhundert ein überzeugter Humanist, wenn er soziale Solidarität in Institutionen oder Staaten angesichts eines ausbeuterischen Ökonomismus einforderte. In der modernen Bioethik wird der Humanismus facettenreich und in besonderer Weise gepflegt, droht dennoch manchmal angesichts von Grenzsituationen am Anfang oder Ende des menschlichen Lebens auch sprachlich in einen Antihumanismus oder Sub-
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humanismus umzuschlagen. Beispielsweise sehen sich Menschen in kritischen Lebenssituationen vor das Problem gestellt, ohne Bewusstsein oder selbstbestimmte Bewegungsfähigkeit nur noch dahin zu „vegetieren“. Die ethische Sinnund Sprachanalyse kann dann auf subversive antihumanistische Positionen führen, die – ideengeschichtlich betrachtet – tief im abendländischen Denken über Mensch und Natur verwurzelt sind.¹ Die Termini „Subhumanismus“ und „Heroismus“ lassen aus ethischer Perspektive vielfältige Assoziationen zu – Beziehungen zum Unter- oder Übermenschlichen – sie werden nachfolgend deutlicher. Während der Humanismus generell an einem hohen Ideal Maß nimmt, doch immer im Blick auf das Potential des realen Menschen, zielt der Heroismus im Handeln mehr auf Übermenschliches, greift in Extremsituationen zumindest weit über das „Normale“ hinaus, z. B. auf Erduldung, Überwindung oder Erlösung in oft tragischen Lebenssituationen – eben auf eine besondere Art von Heldentum. Schon der antike Heroismus spiegelt ein vergöttlichtes Menschentum und auch der moderne drängt auf einen „Übermenschen“. Der durchschnittliche Jetztmensch soll als „Norm“ subtil aufgehoben oder eben „heroisch“ überwunden werden. Herkules, Christus oder Nietzsches Zarathustra können als völlig verschiedene Vertreter einer solchen heroischen Gesinnungsgattung angesehen werden. Ihre Lebensanschauung wird primär mit Bezug auf das Individuum und dessen sinnstiftende Existenzform nach göttlichem oder übermenschlichem Maß bewertet. Heroismus kann sich auch in einen übermenschlichen Rationalismus hinein steigern, wenn er im Lebensalltag und in der Praxis nicht mehr realisierbaren Idealen folgt. Philosophisch betrachtet liegen daher im Subhumanismus und Heroismus grenzwertige Positionen bzw. Situationen vor, die eine besondere anthropologische und ethische Reflexion herausfordern. Im Mittelpunkt der folgenden Analyse werden philosophisch unterschiedlich begründete Ethosformen bzw. Auseinandersetzungen mit Grenzsituationen des Lebens im Zeichen des oben skizzierten Subhumanismus und Heroismus stehen.
Hintergrundanalysen zum Themenfeld: „Vegetieren“ wurden vorgestellt in: Ingensiep, Hans Werner/Rehbock, Theda (Hrsg.): „Die rechten Worte finden…“ Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens, Würzburg, und Ingensiep, Hans Werner: Leben zwischen „Vegetativ“ und „Vegetieren“. Zur historischen und ethischen Bedeutung der vegetativen Terminologie in der Wissenschafts- und Alltagssprache, in: N.T.M. International Journal of History & Ethics of Natural Sciences, Technology and Medicine , , bzw. Ingensiep, Hans Werner: Leben, Lebewesen und Lebenskraft. Zur Lebensmetaphysik in Kants Biotheorie und Biografie, in: Lehmann, Johannes F. u. a. (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittort von Erzählordnung und Wissensformation, Freiburg, , – ; sie dienen als Ausgangspunkte für die nachfolgende freie philosophische Reflexion.
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Als Beispiel für eine solche zu bewältigende besondere Grenzsituation dient die Rede vom „Wachkoma“. Alltägliche Kommentare zu Wachkomapatienten finden sich in den Medien, z. B. angesichts der spektakulär inszenierten Situation der amerikanischen Wachkoma-Patientin Terri Schiavo (1963 – 2005),² vor allem in Internet-Kommentaren zu diesen oder ähnlich existenziellen Grenzsituationen des Lebens (Teil 1). Hier stößt man schnell auf die Rede über das menschliche „Vegetieren“ – nachfolgend genutzt als sprachlicher Ausgangspunkt, der mit Hilfe klassischer und moderner philosophischer Positionen sprachlich und ethisch näher beleuchtet wird. Zur „Sprache“ kommen sollen als klassische Philosophen Kant, Nietzsche und Rickert sowie als moderne Philosophen Jonas, Levinas und Singer – letztere reflektierten bereits im Zeichen der aufkeimenden Bioethik Grenzsituationen des Lebens (Teil 2). Abschließend werden einige Überlegungen vorgestellt, die vom Ethos der Menschenwürde ausgehen und weitere Differenzierungen einführen (Teil 3). Nochmals: Die Rede vom „Wachkoma“ dient dabei nur als Material für eine paradigmatische Grenzsituation, um nun unterschiedliche Herangehensweisen und Grundeinstellungen zum Ethos der Bewältigung verdeutlichen zu können.
1 Vom Subhumanismus in der Sprache über „Wachkoma“ Was als „Wachkoma“, „Hirntod“ oder „Locked-in-Syndrom“ etc. bezeichnet wird, ist aus medizinischer diagnostischer Perspektive sehr differenziert zu beurteilen. Doch dem Laien in seiner Lebenswelt erscheinen die Varianten einander ähnlich oder alles erscheint ihm einerlei. Diese menschlichen Grenzzustände sind nun über vier Dekaden lang im Detail klassifiziert, untersucht und auch die Unterschiede in Medien wie Filmen thematisiert worden. Seit der Einführung des Harvard-Hirntodkriteriums (1968) bzw. seit Einführung des Terminus „Persistent Vegetative State“ (PVS) nach Hirnschädigung durch Jennet und Plum (1972) werden diese Grenzzustände medizinisch betrachtet in je besonderer Weise definiert und beispielsweise von anderen Zuständen wie dem „Locked-in-Syndrom“ unterschieden. Doch wird in der Alltagsrede allermeist unter dem bedrohlichen Terminus „Wachkoma“ verhandelt. Dieser lebensweltliche Sammelbegriff für Grenzsituationen des Lebens bezeichnet also sehr unterschiedliche medizinisch diagnostizierte Grenzzustände – von fast völliger Unfähigkeit zu autonomen Be Vgl. Caplan, Arthur L. u. a. (Hrsg.): The Case of Terri Schiavo. Ethics at the End of Life, Amherst/ New York, .
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wegungen bei vollem Bewusstsein (Locked-in-Syndrom) bis hin zu reversiblen bzw. irreversiblen Zuständen mit partiellen mentalen Inseln der Emotion und Kognition bis hin zum vollständigen „Hirntod“ ohne jegliche reale Fähigkeit zu Emotion oder Kognition. Für die Rezeption des medizinischen Laien sind weniger derartige Differenzierungen relevant, sondern vielmehr das in den Medien hervorgerufene emotionale Angst- und Bedrohungsszenario. Man fürchtet, als völlig handlungsunfähiges Seelengespenst in seinem eigenen Körper gefangen oder auf emotionalen oder kognitiven Inseln im eigenen Gehirn ausgesetzt zu sein. Vor allem fürchtet man die reale Unmöglichkeit, sich selbstbestimmt bewegen oder sich durch Zeichen gegenüber Mitmenschen artikulieren zu können. In solcher Ohnmacht allein gelassen verbalisiert der Laie diese Grenzsituationen unter solchen Ausdrücken wie „Vegetieren“. Diese Bedrohungssituation ähnelt der schrecklichen Vorstellung, in seinem Körper quasi lebendig begraben zu sein – eine Furcht, die schon der Zeitgeist des 18. Jahrhunderts artikulierte. Die Furcht des Laien am Ende des 20. Jahrhunderts ist aufgrund der Möglichkeiten moderner Biomedizin nicht geringer, am Ende des Lebens als impotentes Gespenst in seiner Lebensmaschine gefangen zu sein. Es ist diese große Furcht, Angst und Ohnmacht, welche vom Laien u. a. mit dem Terminus „Wachkoma“ verbunden und dann sprachlich in der Rede vom „Vegetieren“ artikuliert wird. Dagegen gilt heute dem aufgeklärten Laien der definitive völlige „Hirntod“ ohne jegliches Vermögen zu Emotion oder Kognition zwar als großes Unglück, doch als weit weniger bedrohlich als die skizzierten Grenzzustände mit Resten subjektiven Bewusstseins und extrem eingeschränkter Reaktionsfähigkeit. Das Assoziationsfeld zwischen „Vegetieren“ und „Wachkoma“ ist weit wie nachfolgende Beispiele aus dem Internet, den Medien und der medizinische Literatur verdeutlichen. Im erwähnten Fall der in den Medien weltweit diskutierten Situation der amerikanischen Wachkoma-Patientin Terri Schiavo stößt man in Internet-Recherchen im Jahr 2005 auf merkwürdige vegetative Vergleiche bei der Kommentierung ihrer Grenzsituation. Die Rede ist von einem „piece of broccoli over at No Treason“ oder „an empty shell of a human“, aber auch von einem „ghost in the shell“ und „vegetable“, wobei mit diesen Ausdrücken unmittelbar eine Verbindung zum medizinisch-diagnostischen Kontext des „persistent vegetative state“ bzw. „Wachkoma“ hergestellt wird.³ Ferner ist bei der ethischen Bewertung häufig von „human vegetables“ die Rede. Auch in der deutschsprachigen Internetkommunikation sind drastische Beschreibungen zu finden. Man spricht vom „dahin
Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“, .
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vegetieren“ oder „als hirnloser Fleischklops dahin vegetieren“.⁴ Die Verwendung dieser vegetativen Terminologie lässt sich selbst in Beiträgen aus medizinischen Aufklärungsmedien finden wie im nachfolgenden Beispiel aus dem Internet: „Kernspinuntersuchung zeigt erstaunliche Hirnreaktionen. Patienten im Wachkoma – verstehen sie etwa jedes Wort? CAMBRIDGE Patienten im Wachkoma vegetieren offenbar nicht einfach dahin. Möglicherweise hören und verstehen sie alles, was um sie vorgeht – nur können sie weder antworten noch körperlich reagieren.“ Aus: Medical Tribune 39/43, 27. Oktober 2006, 5.
In diesem Artikel wird der Fall einer 23-jährigen Frau vorgestellt, die nach einem Verkehrsunfall mit Schädel-Hirn-Trauma fünf Monate in tiefer Bewusstlosigkeit verbringt, dann aber tagsüber die Augen öffnet. Doch auf äußere Reize erfolgten keine Reaktionen; auch zu willkürlichen Bewegungen war sie nicht fähig. Sie liege daher im so genannten „Wachkoma“. Britische „Kollegen“ wollten genauer wissen, ob die Frau tatsächlich abgeschottet von der Welt vor „sich hin vegetiert“⁵ und untersuchten ihre zerebralen Reaktionen auf einfache Sätze mittels funktioneller Magnetresonanztomographie. Tatsächlich änderten sich die Hirnaktivitäten genau so, wie man es bei Gesunden erwarten würde. Hatte die Patientin also den Sinn des Gesprochenen verstanden? Nun versuchte man es mit doppeldeutigen Wörtern mit gleichem Klang, aber unterschiedlicher Bedeutung. Wiederum zeigt sich in der Bildgebung die gleiche Hirnreaktion, wie sie bei wachen Probanden nachweisbar sei. Weitere Tests, bei denen sich die Frau nach mündlicher Aufforderung bestimmte Dinge vorstellen soll, waren ebenfalls erfolgreich. Soweit Exzerpte aus dem Inhalt des Medical Tribune-Artikels. – Der Fall eines 72jährigen Patienten, dessen letzter Wille, kein „vegetable“ sein oder werden zu wollen, lag am Ende einer kanadischen Ethikkommission zur Entscheidung vor. Dieser Fall, das Dilemma der Ärzte und das Schicksal des Patienten wurden im Canadian Medical Association Journal vorgestellt.⁶ Solche Beispiele liefern weitere Anhaltspunkte für die existenzielle Bedeutung der vegetativen Terminologie bei der Beschreibung von Grenzsituationen aus ernst zunehmender Laienperspektive.⁷
Vgl. ebd., . Ebd. Gordon, Michael/Levitt, Dan: Acting on a living will: A physician’s dilemma, in: Case Report, Canadian Medical Association Journal /, , – . Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“, .
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Will man bei der Verwendung dieser vegetativen Terminologie nicht gleich definitiv von einer antihumanistischen Sprache reden, erscheint für die Beschreibung solcher Art von Rede über Grenzzustände des Lebens der moderatere Ausdruck „Subhumanismus“ geeigneter. Allerdings ist bei der vegetativen Terminologie nicht nur von einem besonderen Seinszustand eines Individuums die Rede, sondern meist auch ein Wertzustand weit unterhalb des Mensch- und Tierseins, eben ein pflanzenhaftes „Vegetieren“ gemeint, wenn diese vegetative Metaphorik zum Einsatz kommt. Offenkundig wird also auch eine individuelle Wertaussage über diese Existenzform gemacht, die, wie angedeutet, auch zum Ausgangspunkt ethischer oder rechtlicher Entscheidungen werden kann. Die Frage ist, mit welcher moralischen Haltung bzw. mit welcher ethischen Konzeption klassische und moderne Philosophen diesen Grenzzuständen begegnen bzw. begegnen würden.
2 Bioethos zwischen Heroismus und Subhumanismus Wie man sich solchen Grenzsituationen im Alltag stellt, hängt von den jeweils individuell gelebten Moralvorstellungen ab, wie auch immer sie in der Philosophie und Ethik begründet werden. In solchen Grenzfällen artikuliert sich ein biografisch manifestiertes Ethos, ein „Bioethos“, d. h. eine vielleicht auch ethisch begründbare, aber vor allem individuell gelebte moralische Lebenseinstellung. Einige Hintergründe des Bioethos wurzeln in abendländischen Naturvorstellungen, z. B. bei Mensch-Pflanze-Vergleichen. Wirkmächtige ontologische Wurzeln in der hierarchischen antiken Seelenordnung bei Platon und Aristoteles wurden ausführlicher vorgestellt.⁸ Dort zeigte sich, dass anthropozentrische Transformationen einer antiken Seelenordnung im Organischen als hierarchische Seinsordnung und Wertordnung über die neuzeitliche scala naturae und auch über Darwins Evolutionstheorie hinaus bis weit in die aktuelle Diskussion über „vegetierende“ Menschen hineinwirken. Die interne organismische Seelenordnung spielt eine wichtige Rolle in der anthropologischen und ethischen Analyse. Man beruft sich dabei häufig in der Lebenswelt und Wissenschaft auf eine hierarchische Hintergrundordnung im Organischen, nach der Menschen, Tieren und Pflanzen gemäß ihren Seelenmodi ein völlig unterschiedlicher „moralischer Status“ bzw. eine
Ingensiep, Hans Werner: Geschichte der Pflanzenseele. Philosophische und biologische Entwürfe von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart, ; Ingensiep: Leben zwischen „Vegetativ“ und „Vegetieren“.
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unterschiedliche Wertrelevanz zukomme. Diese teleologisch fundierte Ordnung stimmt zusammen mit dem Muster der externen Seelenordnung, wonach „niedere“ Lebewesen (wie Pflanzen und Tiere) den „höheren“ Menschen zu dienen haben, d. h. die Pflanzen den Tieren, beide – Pflanzen und Tiere – aber um des Menschen willen da seien. Was einst metaphysisch begründet wurde – durch eine differenzierende Seelenhierarchie – wird heute partiell durch evolutionäre, ökologisch biologische oder psychologische Konzepte begründet, um auf diese Weise eine Hierarchie in ethischen Wertkonzepten zu untermauern. Wenngleich sich in der philosophischen Bio- und Umweltethik der letzten Dekaden ein expandierender Humanismus abzeichnet, der über Menschen hinaus zunehmend Tiere und Pflanzen bzw. die „Natur im Ganzen“ als Verantwortungsgegenstände einbezieht, dominiert in der Alltagspraxis nach wie vor ein ethischer Anthropozentrismus, der sich nicht nur im theoretischen Mensch-Tier und Mensch-Pflanze-Verhältnis, sondern auch in der Praxis, z. B. im Ernährungsverhalten, artikuliert. In diesem Kontext entsteht das Bedeutungsfeld des Ausdrucks „Vegetieren“ und markiert dann auch bei seiner Verwendung für Menschen einen niedersten Seins- und Wertzustand. Wie ist die ethisch-anthropologische Lage im Hinblick auf das skizzierte „Vegetieren“ im „Wachkoma“, also auf eine paradigmatische Extremsituation menschlicher Existenz, aus der Perspektive klassischer und moderner Philosophen einzuschätzen? Diverse Grundsätze und Ansichten von sechs bekannten Philosophen unterschiedlicher Position ermöglichen anregende Zugänge und Einblicke. Die ersten drei Philosophen – Kant, Nietzsche, Rickert – konnten diesen Extremfall einer Grenzform des Lebens nicht vor Augen haben, als sie über das „Vegetieren“ reflektierten. Dagegen war es modernen Philosophen – Jonas, Levinas, Singer – möglich und einige von ihnen beziehen diesen Grenzfall unmittelbar in ihre ethischen Überlegungen ein. Diese philosophischen Zugänge werfen angesichts der oben skizzierten Pole – Subhumanismus und Heroismus – weitere Fragen auf. Als Leitperspektive für den fragenden „Laien“ kann folgende Situation dienen. Nehmen wir an, wir müssten damit rechnen, im Zustand eines „Wachkomas“ zu existieren. Gegenwärtig indiziert der Ausdruck auch die besondere Lage eines Patienten in einer medizinisch hoch technisierten Gesellschaft der westlichen Hemisphäre. Denn „Wachkoma“ steht für ein potentielles Schicksal, ein Phanthasma bzw. einen neuen Mythos im Umgang mit Grenzsituationen des Lebens. Denn das fiktional antizipierte „Wachkoma“-Trauma an den Grenzen des Lebens mobilisiert elementare Lebensängste, die auf grundsätzliche ethische VorEntscheidungen über unser Leben oder das Leben betroffener Menschen drängen – wie auch immer am Ende unsere konkrete individuelle und medizinische Lage wirklich sein wird. Wie würden wir aus den jeweiligen philosophischen Perspektiven mit dieser Grenzsituation umgehen? Wie würden wir entscheiden? Die
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hier paraphrasierten Positionen und Reflexionen zu Ethosformen im Ausgang von klassischen und modernen Philosophen gehen über deren eigene Position hinaus und bieten Zugänge zu einem je besonderen Bioethos im Angesicht des „Vegetierens“, das schlagwortartig mit einem spezifischen Leitmotiv umrissen sei: Kant – Humanistische Autonomie als Heroismus Nietzsche – Transhumanismus als Heroismus des Lebens Rickert – Kulturheroismus gegen Antihumanismus des Lebens Jonas – Teloshumanismus gegen Antihumanismus Levinas – Altrohumanismus als neuer Heroismus Singer – Präferenzutilitarismus als Subhumanismus
2.1 Kant – Humanistische Autonomie als Heroismus […] und er gleichsam nur in einer niedrigeren Stufe (als vegetirendes Wesen) zu leben gesteht […] Hieran aber habe ich selber Schuld. Denn warum will ich auch der hinausstrebenden jüngeren Welt nicht Platz machen⁹.
Immanuel Kant war angesichts der Beobachtung seines fortschreitenden Alterungsprozesses bemüht, die rationale Kontrolle seines Lebens bis zum letztmöglichen Zeitpunkt zu bewahren, was seine Reflexionen, einerseits im Kontext seines theoretischen Lebensbegriffs, andererseits im Kontext der praktischen Vernunft und insbesondere zur individuellen Lebenspraxis anzeigen.¹⁰ Wie lässt sich die kantische Einstellung umreißen? Versetzen wir uns in die Lage der Person Kant. Im Angesicht des „Vegetierens“ gebietet die praktische Vernunft, sein Leben zu erhalten, genauer, das spezifisch Menschliche und seinen Lebenssinn zu bewahren. Als Maßstab zur Lagebeurteilung dient die Antwort auf die Frage, wozu der Mensch als potentielles Vernunftwesen in der Welt ist. Die Vernunft erhält sich selbst und gerät in einen Selbstwiderspruch, würde sie gebieten, sich als „Zweck an sich selbst“ aufzuheben, wenn auch der Körper bereits dabei ist, sich zunehmend vom physischen Leben zu verabschieden. Das Leben der Vernunft ist die höchste Lebensform. Ein Selbstmord bedeutet, sich des Leibes aus Vernunftgründen zu entledigen, kommt daher nicht in Frage, solange die Vernunft als autonomer Sinnstifter zu agieren vermag. Das spezifisch menschliche Vernunft-
Kant, Immanuel: Streit der Fakultäten, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe (Ak), Bd.VII, Nachdruck Berlin, , . Vgl. Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“ und Ingensiep: Leben, Lebewesen und Lebenskraft.
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vermögen, die Fähigkeit, sich selbst ein Gesetz zu geben, das man selbst für vernünftig befunden hat – Kern der humanistischen Autonomie – führt demnach im Geiste Kants angewandt in der Lebenspraxis zu einem Heroismus der Vernunft. Denn die praktische Vernunft gebietet unbedingt die individuelle Führung und Haltung des Lebens, und insofern auch die individuelle physische Lebenserhaltung, selbst wenn die Natur dabei ist, die „Lebenskraft“ zu schwächen bzw. zu entziehen. Ein rational bestimmtes, Sinn stiftendes Leben erfordert als hinreichende und notwendige Bedingung nichts anderes als ein Vermögen, sich aus sich selbst heraus in Gedanken durch Vernunftgesetze bestimmen zu können. Der Vernunft obliegt – soweit im jeweiligen Lebenszustand möglich – auch die Kontrolle der „Lebensreize“. Diese reine praktische Vernunft hat keine Interesse an einem Rückfall in ein animalisches oder pflanzliches Leben der sinnlichen Reizüberflutung, eines bloßen sich Ernährens, Wachsens oder Fortpflanzens. Die Reduktion des Lebens auf solche Vorgänge wären aus Vernunftperspektive ein abzulehnendes „Vegetieren“. Aber dennoch, und gerade um dieses zu verhindern, kann eine autonome diätetische Lebensverlängerung durch rechte Lebensweisen geboten sein. Leider führt schließlich auch die diätetische Lebensweise im Alter dennoch in das Dilemma, von der Gesellschaft nur noch als „Candidat des Todes“ angesehen und „endlich unter den Lebenden nur so geduldet“ zu werden, „welches eben nicht die ergötzlichste Lage ist“.¹¹ Warum aber will man nicht den Jüngeren Platz machen, wenn doch unweigerlich mit nachlassender Lebenskraft das Individuum dem Ende entgegen geht? Ein Trost der Vernunft mag für das Individuum sein, dass die Spezies als biologische Menschheit bestehen bleibt. Die Menschheit vermag in ihrer Geschichte durch rationale Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung das historische Vernunftprojekt vielleicht zu Ende führen, was die Vernunft im Leben eines Individuums nicht vermag. Kants rationaler Heroismus blickt diesem unabwendbaren Lebensschicksal furchtlos – vielleicht sogar mit rational fundierter stoischer Gelassenheit – ins Auge. Als Vernunftphilosoph wisse er zu sterben, verkündet er seinen Tischgenossen. Gemäß dieser Skizze lässt sich erahnen, wie sich ein Kant dem „Vegetieren“ im „Wachkoma“ gestellt hätte. Solange das rationale Bewusstsein als freier Akteur zu gebieten vermag, solange ist die praktische Vernunft Herr über die moralische Gesinnung und führt damit das Leben. Aus dieser Perspektive betrachtet besteht kein vernünftiger Grund, am moralischen Sinn dieser Existenzform zu zweifeln, denn der „Endzweck“ des Daseins ist die Realisation moralisch tätiger Vernunft. Zwar, ein Selbstmord aus Überdruss am Leben in diesem Zustand, wenn er denn möglich wäre, oder ein präventiver Selbstmord im Ausblick auf diesen Zustand,
Kant: Streit der Fakultäten.
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wäre nach Kant wohl denkbar. Der „Lebensverdruss“ wäre nachvollziehbar, aber das universalistische Gebot der praktischen Vernunft gemäß dem kategorischen Imperativ, dass alle, die sich in diesem Zustand befänden, zum Selbstmord verpflichtet wären, kann es nicht geben. Noch weniger ist ein Gebot rational begründbar, die „Person“ als „Zweck an sich selbst“ in sich selbst nicht mehr zu erhalten, also sein Personsein intellektuell abzuweisen oder praktisch aufzuheben – denn nur dieses vernünftige Personsein konstituiert überhaupt erst Sinn in der Welt. Die reine praktische Vernunft des autonomen Subjekts stirbt insofern heroisch und in gewisser Weise auch tragisch, wenn der Leib sich langsam in seinen Funktionen verabschiedet und in eine Art von „Fäulnis“ übergeht. Es handelt sich ferner um einen heroischen Akt, wenn diese praktische Vernunft endlich der Lebensreize überdrüssig wird – wie es Kant sicherlich an sich selbst im Alter erfahren hat. Denn sie bestimmt es ja selbst, wann sie im wahrsten Sinne des Wortes, „den Löffel abgibt“, und dem Leib keine Nahrung mehr zuführt. Kant schöpft die Lebensreize so weit wie möglich aus. Auch die Lebensfreuden des Genusses und der Geselligkeit lagen ihm nicht fern. Doch zuletzt ergibt er sich – folgt man seinen Lebensbiografen – dem „Vegetieren“ bis zum unweigerlichen Ende aller Dinge. Er wird der Gesellschaft zur Last und geschäftsunfähig. Kant beauftragte daher einen ehemaligen Schüler und späten Tischgenossen, seine Hausgeschäfte zu führen und ihn am Ende zu begleiten. Leben, als das Vermögen einer Substanz namens Mensch, sich selbst durch einen vernünftigen Willen bewegen zu können, soll wohl bis zum letzten Akt „autonom“ sein. In dieser Lage kann die Vernunft den Leib in der Verweigerung von Nahrung vielleicht noch passiv töten, aber im vollen Bewusstsein aktiv eigentlich nicht töten wollen. Die Sorge dafür trägt nun ein anderer Mensch. Soweit könnte man mit Kant Reflexionen zur Lebensgrenze treiben,wenn man seine Ethik, Biotheorie und Biografie als Lösungszugang im Detail einbeziehen möchte. Die heroische Vernunft könnte am Ende metaphorisch verfügen: „Es ist gut!“ und im akuten Endzustand keine Flüssigkeiten zur Förderung des Lebens mehr aufnehmen. Aber sie würde nicht wollen, dass andere Menschen allein bestimmen, wann dieser Leib nichts mehr aufnehmen soll. Eine selbstbestimmte Patientenverfügung, in diesem Zustand das Leben einzustellen, liegt im Horizont der praktischen Vernunft, wenn sie es wirklich selbst zu bestimmen vermag und der Tod nicht im Interesse anderer Menschen liegt. – Soweit kann man sich wohl an Kants mögliche Einstellung und Problemlösung heranreflektieren – doch bleibt
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im Kern das rationale Verbot bestehen, sich selbst aktiv zu töten und damit seinen „Endzweck“ als Vernunftwesen irrational zur Disposition zu stellen.¹²
2.2 Nietzsche – Transhumanismus als Heroismus des Lebens Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustand ist es unanständig noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn von Leben, das Recht zum Leben, verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehen.¹³
Friedrich Nietzsche erhebt das emphatisch bejahte Leben selbst zum höchsten Maßstab bei der Bewertung des individuellen Lebens. Der Lebenssinn liegt in individueller Selbstgestaltung und Machtergreifung. Das individuelle menschliche Leben soll auf ein aufsteigendes, höheres Leben zielen, nicht auf Stagnation oder Rückfall.Vom Affen über den Menschen balanciert dieses Lebewesen namens „Mensch“ sich in einem Hochseilakt der Existenz hinauf zum „Übermenschen“. Der lässt sich weder durch die christliche Religion (Jesus), noch durch aufgeklärte Rationalität (Kant), noch durch eine pessimistische Einstellung zum Leben (Schopenhauer) Irre machen. Der anonyme „Wille zur Macht“ gibt dem Individuum die existenzielle Gestaltungsform für ein transhumanistisches Leben vor, ja, vielleicht auch für ein antihumanistisches Leben, denn der klassische Humanismus erscheint als brave Pflege von bürgerlicher Moral durch Religion oder Vernunft und damit als konform machende Bändigung jeglicher Individualität. Für Nietzsche fordert ein heroisches Gestaltungsgebot, sein individuelles Leben dann aufzugeben, wenn es ohnmächtig – also ohne eigenen Machtwillen – anderen Menschen ausgeliefert ist, sei es nun Verwandten oder Ärzten. Gerade der lebensbejahende Selbstmörder hätte es eigentlich verdient weiter zu leben, wenn er und weil er in seinem aktiven Vernichtungsakt ja noch seinen letzten Beitrag im Aufstieg zum „Übermenschen“ liefern kann. Das Motto des Zarathustra lautet: Stolz sterben, wenn es denn sein muss und sich am besten selbst abschaffen, wenn dieser höhere Lebensdienst nicht mehr möglich ist – ein heroisches Gebot der Stunde angesichts der letzten Ohnmacht, um ja nicht zum Opfer der Religion oder Vernunft zu werden. Keinesfalls wäre es angebracht, sich in den letzten Stunden zum Sklaven der Vernunft oder einer Sklavenmoral zu machen, z. B. einer letzten christlichen Gewissensprüfung und individuellen Lebensrückschau. Der „Patient“ soll im „Vegetieren“ Täter, nicht Opfer bleiben. Der Arzt aber soll der Ver Vgl. Ingensiep: Leben, Lebewesen und Lebenskraft. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, Leipzig, , Abs. .
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mittler des gesellschaftlichen „Ekels“ vor einem passiven, ohnmächtigen „Vegetieren“ des dahin schwächelnden Menschen sein. Was würde Nietzsche angesichts der Perspektive des Wachkomas empfehlen? Die Frage erübrigt sich nach dem bisher Gesagten, denn es ist die lächerliche Frage eines geängstigten Lebensschwachen, der seinen Sinn, ein höheres Leben zu ergreifen, in dieser Frage schon zu verfehlen droht. Es gilt jetzt mit Nietzsche, heroisch Abschied zu nehmen, und zwar am besten schon vorher, wenn bereits absehbar ist, dass ein noch höherer Lebensdienst unmöglich ist. Bekanntlich hat der geistig verwirrte, lebensmächtige Nietzsche in Italien ein Pferd umarmt, vielleicht handelt sich um einen individuellen Akt der Lebensbejahung und gleichzeitig um einen feierlichen Abschied. Denn mit Nietzsche wäre es wohl am besten, das Sterben als Individuum zu feiern. Ihm selbst war es im Endwahn nicht gegönnt, als „Zarathustra“ abzutreten, sondern er wurde auch in weltanschaulicher Hinsicht zum Opfer von Verwandten, Freunden und Lebensgenossen – sie hatten die Aufgabe, Nietzsches geistige Umnachtung heroisch zu stilisieren. Hätte er selbst von seiner Ohnmacht gewusst, so hätte er wohl den „Ärzten“ geraten, sein untaugliches Leben abzustellen. Assistierter Suizid liegt ebenso in der Reichweite einer Nietzeanischen Position zum „Vegetieren“ wie ein aktiv geplanter oder durchgeführter Selbstmord. Denn es gibt in Nietzsches Bioethos angesichts der definitiven Lebensgrenze kein „Humanum“ mehr zu retten. Man rettet nur, was im Menschen visionär, als Möglichkeit und als seine zukünftige Bestimmung liegt, und verneint zugleich ein selbstzufriedenes Gewissen und Humanum im Jetzt. Man rettet, in Nietzsches Worten gesagt, nur die Möglichkeit des Menschen, eine „Brücke“ zu sein zwischen „Affe“ und „Übermensch“. Zum Heroen wird der individuelle Mensch erst im Blick auf die Möglichkeit zur Selbstüberwindung seines Menschseins und damit auch auf die Möglichkeit, ja die existenzielle Gebotenheit, sich angesichts des „Vegetierens“ selbst zur entleiben und sich nicht in die Hände anderer Menschen zu begeben. Affirmativer Lebensdienst gebietet eine transhumanistische Einstellung und verweist über den Jetztmenschen hinaus – das „Leben“ geht weiter seinen anonymen Weg und wartet nun darauf, von einer neuen individuellen Gestaltungsmacht ergriffen zu werden.¹⁴
Vgl. Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“, .
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2.3 Rickert – Kulturheroismus gegen den Antihumanismus des Lebens Das Vegetieren ist der Güter höchstes nicht. Dann aber sollte man auch einsehen, dass auch das Leben als solches noch nicht als Gut gelten kann.¹⁵
Heinrich Rickert, der kultivierte Neukantianer und scharfe Kritiker der seinerzeit herrschenden Modephilosophien des Lebens, denkt offenkundig anders über das Leben, die Kultur und das „Vegetieren“ als der einflussreiche „Lebensphilosoph“ Nietzsche. Das „Leben“ ist ein hohes Gut – ja, aber nicht sein eigener Maßstab! Es sind hohe ethische Werte und Kulturwerte, an welchen das Leben gemessen werden muss. „Leben“ als normatives „biologistisches Wertprinzip“ wird strikt abgelehnt als überholte Lebensmetaphysik und fatalen Irrtum. Nur „echte Werte“, also Kulturwerte, werden als Maßstab akzeptiert. „Güter“ seien zwar mit Werten behaftet, was aber dem Leben nicht als solchem Wert verleiht. Daher ist es nach Rickert Unsinn zu sagen, alles Leben habe Wert, weil es lebendig sei. „Leben“ und „Erlebnis“ seien zwar Wertbegriffe, aber die „Art“ des Lebens und der Erlebnisse sei entscheidend. „Vegetieren“ wird von Rickert in diesem Kontext in einem anderen sinnlichen Sinn als hedonistische Privatlust verstanden, die eine subjektive Wertung voraussetzt, die Lust im Gegensatz zur Unlust bevorzugt. Wie „Vegetieren“ bewertet wird, hängt insofern von jeweils relevanten Kulturwerten ab, die aber selbst nicht als „Lebenswerte“ anzusehen seien. Denn „Leben an sich“ ist nach Rickert wertindifferent und stellt erst dann einen Wert dar, wenn ein teleologischer Maßstab zu seiner Bewertung vorgeschaltet wird, ein Maßstab, der die eigentliche Bestimmung des Lebens definiert. Die Überzeugung, der Sinn des Lebens sei Leben selbst ist daher für Rickert eine „sinnlose Phrase“. Wie kann nun aus dieser Sicht das „Vegetieren“ im „Wachkoma“ angesehen werden? Dem Todesmütigen wird auch in seiner Aussichtslosigkeit zugestanden, Kulturwerte hervorzubringen. Denn festzuhalten ist, dass das indifferente, bloße „Leben an sich“ keinen höchsten Wert oder Unwert darstellt. Es kommt auf den Kulturwert an, durch dessen Anhaftung das „Leben“ erst zu einem „Gut“ wird – oder auch zu einem Ungut. Vielleicht ist der Ausstieg aus dem „Vegetieren“ im Wachkoma ein autonomer Kultur stiftender Akt wie auch die Entscheidung, sein „Vegetieren“ anzunehmen. Weder ist ja bloßes „Vegetieren“ ein Wert an sich noch ein Unwert an sich, sondern wird erst ein Gut oder Ungut im Horizont einer kulturellen Sinnstiftung, die dem Einzelnen in seinem Bioethos auferlegt ist. Zum Maßstab erhoben wird also ein Kulturbegriff, aber nicht ein biologistisches Fak Rickert, Heinrich: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen, , .
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tum, womit der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung bei der Wertsuche Grenzen gezogen werden. Die generalisierende und vom Individuum abstrahierende naturwissenschaftliche Methode wird von Rickert als wertfrei verstanden und insofern beschreibt und erklärt sie im „Vegetieren“ bestenfalls ein wertfreies biologisches Phänomen. Erst die Methode der Kultur- und Geschichtswissenschaft ist wertbehaftet und auf die individuelle Bedeutsamkeit ausgerichtet und daher hängt es nun von dem kulturstiftenden Individuum ab, zu welcher Wertung es im Angesicht des „Vegetierens“ herausgefordert wird.¹⁶ Daher dürfte nach Rickert die letzte hermeneutische Frage sein: Welche Kulturwerte sind relevant und realisierbar angesichts eines „Vegetierens“ im „Wachkoma“?
2.4 Jonas – Teloshumanismus gegen Antihumanismus Mit diesem philosophischen Grund – der kaum bestritten wird – der Sinnwidrigkeit bewusstlosen Fortvegetierens für ein Menschenwesen – darf, ja soll der Arzt das Atemgerät abstellen, und es dem Tod überlassen, sich selbst zu definieren¹⁷.
Hans Jonas befruchtete als Phänomenologe, Naturphilosoph, Ethiker und Zivilisationskritiker die moderne Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, Risiken und Grenzen der Biomedizin. Jonas ist geprägt durch den frühen Zeitgeist der aufkeimenden Intensivmedizin und insbesondere wurde er konkret durch die Harvard-Hirntoddefinition aus dem Jahr 1968 und deren Beurteilung bzw. durch mögliche Folgen für die neue Transplantationsmedizin herausgefordert. Von Heideggers Philosophie herkommend wandte sich Jonas einerseits der Naturphilosophie, andererseits einer Ethik der „Verantwortung“ zu. Welche Rolle spielt die Biophilosophie? Jonas wird durch das biologische Denken seiner Zeit und durch eine teleologische Naturphilosophie inspiriert. Im dialektischen Umschlag vom Anorganischen ins Organische zeichnet sich nach Jonas eine besondere ontologische Wende im Naturgeschehen ab – eine Abkehr von der Dominanz des Stoffes hin zur Dominanz einer spezifisch gestaltenden Lebensform, die nach Jonas das Grundphänomen des Organismus ausmacht. Denn in zunehmend höheren Stufen entfaltet sich das Leben in seinen Wendungen und Windungen am Ariadnefaden der „Freiheit“ entlang. Freiheit ist hier noch nicht Willensfreiheit, sondern steht für ein naturphilosophisches Gestaltprinzip, das sich in immer höheren konkreten Formen des organischen Seins
Vgl. Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“, f. Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main, , .
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äußert – vom Einzeller bis zum Menschen. Die kleine Freiheit der einzelligen Amöbe besteht gewissermaßen darin, sich in Abhängigkeit vom Stoffwechsel und einer organismischen Bedürftigkeit über ihre aktive Form zu gestalten und am Leben zu erhalten. Größere Freiheiten der Selbstgestaltung werden in Pflanze und Tier erreicht bis hin zum Menschen, der sich über seinen physischen Körper hinaus im Leben noch in seinen Vorstellungen über Raum und Zeit zu transzendieren vermag. Kurz: Im Organischen artikuliert sich zunehmend eine aktive Autonomie der Form gegenüber dem passiven, aber notwendigen Stoff. Der passive Stoff, der als Stoffwechsel zwar notwendig ist, steht im Lebensphänomen letztlich doch im Dienst einer aktiv organisierenden Form. So betrachtet gibt die Entwicklung der vielen Lebensformen bis hin zum Menschen ein Telos vor, das nach Verwirklichung drängt und sicherlich im Menschen einen Höhepunkt der Fähigkeit zu „Freiheit“ und „Transzendenz“ erreicht. Diese „Freiheit“ – gedacht als hermeneutischer Leitfaden in seiner Naturphilosophie – schließt bei Jonas an einen besonderen ethischen Impuls des Menschen an – das „Prinzip Verantwortung“. Menschliche Verantwortung reicht so weit wie die Macht menschlicher Selbstgestaltung als Individuum und in der Gesellschaft. Konkrete Verantwortung hat der Mensch gegenüber sich selbst, seiner Umwelt, aber auch gegenüber zukünftigen Generationen und letztlich gegenüber der gesamten Menschheit – denn ein Imperativ gebietet: die Menschheit soll sein! Angesichts dieses Ziels ist die „Heuristik der Furcht“ – betrachtet man die durch Menschen versursachten möglichen Katastrophen wie totalitäre Regime, Atomkriege oder globale Umweltzerstörung – ein guter Ratgeber, was bedeutet, dasjenige nicht zu tun, was die Existenz der Menschheit oder zukünftiger Generationen in Frage stellt. Man könnte es so formulieren, dass die menschliche Lebensform als Organismus eben diejenige Freiheit zur Verantwortung beinhaltet, die sich nicht zuletzt angesichts der Risiken in der modernen technischen Zivilisation zeigt. Wie urteilt Jonas angesichts des „Vegetierens“ im „Wachkoma“? Zum einen ist eine Aufklärung der zugrundeliegenden Biometaphern gefordert, wenn im „Vegetieren“ der ontologische Daseinsmodus der Pflanze als niederes Leben angesehen wird. Pflanze, Tier und Mensch sind aber nach Jonas phänomenologisch betrachtet gleichermaßen ein Fall von „Leben“. Nimmt man den Ausdruck „Vegetieren“ bei Grenzfällen wie „Wachkoma“ geht es in diesem Fall aber überhaupt nicht um das Leben an sich, sondern es geht um „menschliches Leben“. Nicht die Biophilosophie, sondern die Anthropologie ist daher nach Jonas herausgefordert. Was nun die Bestimmung des „menschlichen Lebens“ angeht, orientiert sich Jonas im konkreten Fall an einer teleologischen Sinnbestimmung, die allerdings völlig unabhängig von gesellschaftlichen Interessen oder von Medizinerinteressen artikuliert werden muss. Befindet sich nämlich ein Patient wirklich beispielsweise
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im Grenzzustand des Hirntodes, so geht es nach Jonas nicht um die Interessen von Angehörigen oder von Ärzten an möglichen Organen. Eine adäquate Beurteilung erfolgt durch eine menschliche Sinnfrage in dieser Situation. Nicht eine Definition des Todes wie im Fall des „Hirntodkriteriums“, sondern einen Definition des Menschen ist nach Jonas gefragt. Keine naturalistische medizinische, sondern eine moralanthropologische Entscheidung steht an. Was aber macht menschliches Leben, seinen Sinn, aus? Das Leben eines hirnlosen Menschen sei nicht künstlich zu verlängern, sondern das Sterbenlassen zu erlauben, z. B. durch Abstellen der künstlichen Beatmung. Es geht nicht darum, das „bewusstlose Fortvegetieren“ als solches zu bewerten. So mag sich eine Pflanze permanent in diesem Zustand befinden und es handelt sich dennoch um vollwertiges Leben. Aber für den Menschen habe diese Daseinsform keinen Sinn, weshalb die zu treffende Entscheidung nach Jonas immer „axiologisch“ ist, eine Wertentscheidung, aber keinesfalls „durch das klinische Faktum des Gehirntods“ gegeben sei. Der Sinn der menschlichen Lebensform wird letztlich an einer teleologischen Existenzaussage zum Wert individuellen menschlichen Lebens gemessen. Denn ein Leben als freiheitliches und autonomes Verantwortungswesen erscheint nicht mehr möglich. Als Tier hat der Mensch Anteil am beweglichen Dasein und ist voller Unruhe und Bedürftigkeit, aber als Mensch vermag er weder mit einem Pflanzenleben noch mit einem bloßen Leben als Tier seiner Bestimmung gerecht zu werden. Hier bietet im Hintergrund keimhaft die teleologische Naturmetaphysik eine Entscheidungshilfe, um den besonderen Sinn menschlichen Lebens adäquat bewerten zu können. Für ein individuelles Menschenleben gibt also erst eine das Tier- und Pflanzenleben transzendierende Sinnbestimmung den Ausschlag dafür, ein menschliches Leben in diesem Grenzzustand als „sinnwidrig“ zu bewerten und sich selbst zu überlassen.¹⁸
2.5 Levinas – Altrohumanismus als neuer Heroismus Du sollst mich in meinem Sterben nicht alleine lassen¹⁹.
Schon bei Kant stellte sich die Frage, ob wir angesichts der endgültigen Lebensgrenze rational begründet ein „Humanum“ retten können. Kant war überzeugt in der praktischen Vernunft im Subjekt, im Ich, selbst eine Fackel zu besitzen, welche den Lebensweg ausleuchtet. Nietzsche sah keine Fackel der Vernunft mehr lodern
Vgl. Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“, – . Levinas, Emmanuel: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg, , .
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und diskreditierte die christliche Moral als reine Trostmaschine. Auch beim Philosophen Emmanuel Levinas stellt sich angesichts von Wachkoma, Hirntod, Locke-in-Syndrom etc. erneut die Frage, wie im Angesicht oder „Antlitz des Anderen“ eine Antwort zu finden ist. Levinas sucht nicht im autonomen Ich, sondern im „Antlitz des Anderen“ nach einem Licht, das angesichts subhumaner Abgründe einen ethischen Maßstab im Umgang mit Lebensgrenzen liefern soll. Es ist der „Andere“ als Individuum, weder das autonome Ich noch eine Seinsmetaphysik des Lebens, aber auch kein Kulturwert oder ein kosmologischer Ort des Menschen, der eine neue Perspektive eröffnen soll. So unbestimmt die Metapher des Antlitzes des Anderen ist, so klar rechnet sie mit Ich-fundierten Begründungen des bisherigen Humanismus und damit auch mit jedem Antihumanismus ab, der sich im „Leben“ auf sicherem Boden sah. Das in guten Gründen wurzelnde kategorische Sollen (Kant) schlägt in eine Art kategorisches Gehorchen um, das Mitleiden, Barmherzigkeit nicht aus rationalen Gründen, sondern durch unmittelbare Anerkennung des Anderen einfordert. Es ist Hilflosigkeit, Elend, Ohnmacht und Verwundbarkeit, die sich im „Antlitz“ spiegeln. Gerade in der Fremdheit des anderen Individuums gründet die bedingungslose Forderung: „Du sollst mich in meinem Sterben nicht alleine lassen“. Jede konstruierte Rückversicherung im autonomen Ich oder einer kosmologischen, hierarchischen Seinsordnung, die den Menschen über Tier und Pflanze stellt, bleibt aus. In Frage steht das Argument der Vernunft, alles müsse generalisierbar sein oder dass die Person als „Zweck an sich selbst“ existiere. Nicht Regelprüfung oder Interessenkalkulation (Singer) sind nach Levinas angesagt. Nicht Ratio im Egocontainer ist die ethische Basis, sondern die Affiziertheit durch die Nacktheit, das Entblösstsein des Anderen als Individuum, als unmittelbare Ich-Du-Beziehung. Sie unterwerfen den moralischen Akteur zu einem höheren Gehorsam ähnlich einer religiösen Anrufung, der nicht mehr zu entkommen ist. Der Akteur findet sich in einer Art von moralischer Geiselnahme durch den „Anderen“ wieder. Wenngleich bei Levinas angesichts des „Antlitzes“ im „Vegetieren“ unbestimmt bleibt, wer oder was gemeint ist, so ist doch seine Forderung radikal und anregend, denn sie bricht mit jedem Versuch, Moral im Ich oder der Metaphysik rational zu verankern. Die Figur eines göttlichen Gebotes, erfasst im Hören, Sehen und Gehorchen, drängt sich auf. Der Akteur folgt einem Imperativ, und folgt unbedingt demjenigen, der dem Tode ausgesetzt ist. Er soll sollen, aber ohne eigentlich zu wissen warum. Der moralische Akteur soll für das Leiden des Anderen einstehen können und insofern wäre es vielleicht Liebe und nicht Ratio, welche seine Handlungen leitet. Man muss sich zumuten, diese Verantwortung zu übernehmen, ohne dem Anderen zu predigen oder irgendetwas vorzuschreiben oder abzufordern, was zu tun sei.
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Das moralische Dilemma angesichts eines „Vegetierens“ kann kaum größer sein als mit Levinas eine Entscheidung über Leben und Tod treffen zu müssen.Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, der Akteur wird sich wohl nicht moralisch entlasten können. So sympathisch die Kritik an herkömmlichen Ego-Ethiken ist, so viel Einwände es auch gegen eine solche radikale Ethikkonzeption gibt, ein radikaler Altrohumanismus bleibt faszinierend. Doch scheint er angesichts der konkreten Probleme in Grenzfragen zu einer heroischen Überforderung des Individuums zu führen – und letztlich keine Lösung zu bieten.²⁰
2.6 Singer – Präferenzutilitarismus als Subhumanismus Dieser Test legt den Gedanke nahe, dass das Leben eines Wesens, das keine bewussten Erlebnisse hat, über keinen Wert an sich verfügt.²¹
In der oben erwähnten Alltagsaussage „I don’t want to be a vegetable“ artikuliert sich ein metaphorischer Sprachfetzen, welcher dennoch die ernste Situation eines alternden Menschen zu umreißen versucht – eine Situation, die angesichts seines „Vegetierens“ zur Entscheidung drang. Peter Singer hätte und hat wohl entschieden: Ja, Du bist jetzt keine Metapher mehr, sondern hast den moralischen Satus eines Pflanzenlebens wirklich erreicht. Du bist nun wirklich in der Situation, die der Bewertung eines unbewussten Pflanzendaseins entspricht – zumindest in der Perspektive desjenigen ähnliche Interessen berücksichtigenden Beobachters, der nun den moralischen Status eines Lebewesens in einer utilitaristischen Ethikkommission zu beurteilen hat. Subhumanismus bezeichnet in diesem Fall hier eine weit unter dem menschlichen Potential liegende pflanzenähnliche Daseinsform, die moralontologisch fundiert ist und gebietet, die Interessen dieser Daseinsform zu erkennen. Was sollte beim „Vegetieren“ einer Pflanze oder eines irreversiblen Wachkomapatienten im rationalen Kalkül der Interessen zu berücksichtigen sein? Welche Interessen könnten noch relevant werden, wenn Kognition und Affektion versagen, wenn weder Selbstbewußtsein noch Empfindungsfähigkeit vorliegen? Was sollte das vegetative Leben als solches für einen Wert haben, wenn es vom Subjekt nichts mehr bewusst zu tragen oder zu ertragen gibt? Selbst wenn das „Vegetieren“ noch affektiv zu tragen wäre, wer wollte es noch ertragen, ausgesetzt auf Gefangeneninseln mit dem Gefühl, zugleich in sich eingeschlossen und von anderen ausgeschlossen zu sein? Wer hätte ein Interesse, dieses Elend bzw.viel Leiden oder Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“, ff. Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart, , f.
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Schmerz zu wählen? In dieser Weise wäre nach Singers Ethikkonzept nachzufragen. Das „Glück“ an der Gemeinschaft der Präferenzakteure, die ihre Zukunftswünsche immerhin noch artikulieren können, teilnehmen zu können, wäre zur Qual für einen selbst und vielleicht auch für viele andere geworden. Unsere Nächsten und Lieben könnten es kaum ertragen, sich das „Meer in mir“ (Filmtitel) zu vergegenwärtigen. Und der Wunsch nach Abschied von diesem „Vegetieren“ würde wohl mein letzter sein und somit mutmaßlich meinen letzten Zukunftsplan verwirklichen. So oder ähnlich könnte sich die ethische Bewertungssituation des „Vegetierens“ aus Singers Perspektive darstellen. Ein nüchtern kalkulierender Antiheroismus wird dem moralischen Akteur gebieten, dieser Zukunft nicht ins Auge zu sehen, denn die Summe des Unglücks erscheint ihm größer als die Summe des noch zu erwerbenden Glücks. Für interesselosen Heroismus ist im pathozentrischen Präferenzutilitarismus kein Raum. Das Interesse zählt, und zwar zunächst mein Interesse, solange ich noch „autonom“ bin bzw. solange eine willkürliche Selbstbestimmung möglich ist. Wenn dies nicht mehr der Fall ist, z. B. im irreversiblen Wachkoma, dann wird diese Interessenbestimmung zum Problem der anderen – solange sollten Ärzte oder Angehörige meinen mutmaßlichen Willen respektieren. Sie könnten und sollten mein Interesse berücksichtigen. Wenn aber meinerseits realiter kein Interesse mehr vorliegt oder vorliegen kann, dann könnte noch deren Interesse regieren: Vielleicht bin ich „hirntod“ noch zu etwas nutze, beispielsweise als Organlieferant und kann auf diese Weise viele andere Menschen glücklicher machen. Meine Tragik im „Vegetieren“ kann noch in einen besonderen utilitaristischen Heroismus am Lebensende umschlagen, denn meine letzte Präferenz – die nützliche „Spende“ eines Organs – eröffnet neue Zukunftspläne anderer Menschen und vermindert gleichzeitig Schmerz und Leiden vieler. Ich aber wäre nun in jeder Hinsicht frei – in meiner Entscheidung, vom Leiden an mir und vom Leben. Mein unerträgliches „Vegetieren“ wäre beendet. So wird – anders als bei Kant oder Levinas – der durch das Interesse geleitete pathozentrische Präferenzutilitarismus angesichts eines „Vegetierens“ ohne Kognition und ohne Emotion ein leichtes Spiel haben: man lebt nur noch „biologisch“, aber nicht mehr „biografisch“ – ein Leben ohne Biografie ist wertlos und kann abgeschaltet werden.²²
Vgl. Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“, – .
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3 Aktuelle Perspektiven zum Ethos der Menschenwürde Der Mediziner und Wachkoma-Experte Andreas Zieger fordert seit langem, behutsamer über „Wachkoma-Patienten“ zu sprechen und in den letzten Dekaden beginnt sich auch ein Wandel in der Diagnose und Therapie auf medizinischer Ebene abzuzeichnen.²³ Andere Mediziner glauben dennoch, dass diese Patienten nichts als „Suppe im Gehirn“ haben, so die saloppe Formulierung eines Fachmannes vor jungem Medizinerpublikum. Er wollte auf diese Weise seine Abscheu vor unrealistischen Übertreibungen in der Beschreibung des emotionalen und kognitiven Zustandes von Wachkomapatienten „zur Sprache“ bringen. Dass ein vermeintlich als irreversibel eingestufter Zustand noch erlaube, mental „Tennis zu spielen“ oder kognitive neuronale Inseln die Erkennung von Verwandten ermöglichen, erscheint einer Mehrheit von Experten immer noch suspekt und wird in Einzelfällen bestenfalls als extreme Fehldiagnose angesehen. Doch niemand würde bestreiten, dass es sich auch in solchen Fällen um „Menschen“ handelt, denen ein großes Maß an Humanität geschuldet sei. Eine zentrale bioethische Frage lautet aktuell, ob und wieweit „Menschenwürde“ in diesem Problemkontext ein praktikabler Maßstab sein kann – dazu aus theoretischer und praktischer Perspektive abschließende Überlegungen aus philosophischer Perspektive, um Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden. Die theoretische, drittpersonale Beobachterperspektive der wissenschaftlichen Medizin führt bei diesen Wachkomapatienten offenkundig zu „Beschreibungen“ oder „Erklärungen“ eines Zustandes, der vor allem auf kausale, raumzeitlich feststellbare Veränderungen, kurz, auf die Erfassung „äußerer Eigenschaften“ dieser Patienten abzielt. Letztlich müssen Befunde mittels funktioneller Magnetresonanztomographie zur indirekten Erfassung diesen „äußeren Eigenschaften“ gezählt werden, denn sie indizieren zwar korrelierbare mentale Zustände der Patienten, aber vermitteln diese mentalen Zustande nicht unmittelbar so, wie der Patient sie in Erster-Person-Perspektive im „Wachkoma“ erlebt. Diese 1P-Perspektive im Privatbewusstsein des Wachkomapatienten wird durch diese medizinischen Methoden also nicht erreicht. Wohl aber liefern sie empirische Indikatoren für einen Zustand, der nun vermittels eines intersubjektiven Analogieschlusses vom eigenen Bewusstsein des theoretischen Beobachters auf das mögliche Bewusstsein des Anderen erschlossen wird.
Vgl. Zieger, Andreas: Autonomes Körperselbst im Wachkoma – Wahrnehmen, Erleben und Körpersemantik, in: Ingensiep/Rehbock: „Die rechten Worte finden…“, – .
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Welche praktische Perspektive soll man am Leitfaden der „Menschenwürde“ gegenüber dem Patienten im „Vegetieren“ bzw. im „Wachkoma“ einnehmen? Ergeben sich wichtige Aspekte für die ethische Beurteilung über die oben skizzierten klassischen und modernen ethischen Positionen hinaus? Welche Rolle soll überhaupt die „Menschenwürde“ spielen, wenn gerade in der Biomedizin der Mensch im Mittelpunkt (Maio) dieser schwierigen medizinischen Konfliktsituation steht? „Menschenwürde“ kann einerseits als fundamentales Prinzip oder als symbolischer Indikator eines Grundrechts, als Mensch besondere Rechte zu haben (Arendt), angesehen werden. Dann fungiert „Menschenwürde“ mehr als formales Leitprinzip einer Rechtsordnung, die dann dem Individuum Leben, Unversehrtheit, Freiheit und andere Privilegien positiv iuridisch zusichert. „Menschenwürde“ kann andererseits in Anwendungsfragen als praktische Entscheidungshilfe angesehen werden, die in ethischer Hinsicht eine konkrete Grenze zieht, z. B. Personen niemals nur als bloße Mittel zum Zweck (Kant) anzusehen, als ein fundamentales Instrumentalisierungsverbot, auch und gerade im Angesicht des „Vegetierens“. Noch eine andere Variante der „Menschenwürde“ prägt aktuell die ethische Perspektive, nämlich verstanden als eine willkürlich Freiheit des Individuums, als Anspruch auf eine radikale Selbstbestimmung über das eigene Leben. In diesem Sinne nehmen Organisationen wie „Dignitas“ die Würde als Markenzeichen für individuelle Selbstbestimmung in Anspruch, und diskriminieren zugleich aus dieser Perspektive jedwede Form des „Vegetierens“ als unwürdig für einen Menschen. De facto folgt man in dieser Einschätzung mehr einer Kombination von Kant und Nietzsche als den Positionen von Singer oder Levinas, doch folgt man eben nicht nur Kant oder nur Nietzsche. Denn weder ist die Autonomie als rationale Gesetzgebung für alle Menschen handlungsleitend wie bei Kant, noch der bloße Gestaltungswille des individuellen Lebens wie bei Nietzsche. Man folgt einer brisanten Mischung aus beiden Positionen. Man richtet sich durchaus nach universalisierbaren Vernunftregeln im Geiste der Autonomie als Akteursprinzip einer ethisch allgemein verbindlichen Gesetzgebung; man möchte aber dennoch im individuellen Leben gerne über seinen Daseinsmodus selbst bestimmen, d. h. am „Individuum“ Maß nehmen, nicht an einer ethischen Bestimmung des „Menschen an sich“. Menschenwürde als iuridisches Verfassungssymbol, als ethischer Grenzbegriff, als Autonomie oder als Ausdruck individueller willkürlicher Selbstbestimmung – wie auch immer man das Konzept interpretiert – angesichts des „Vegetierens“ ergeben sich viele Möglichkeiten zur Legitimation des eigenen Handelns in medizinischen Grenzsituationen. Offenbar definiert das Prinzip „Menschenwürde“ nicht zwingend, was konkret zu tun ist, aber fordert den Willen des ethisch reflektierenden Individuums zur Stellungnahme heraus. Die größte Gefahr scheint aber auch angesichts der Interpretationen der „Menschenwürde“ zu sein, einerseits in einen ethischen Heroismus,
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andererseits in einen ethischen Subhumanismus bzw. Antihumanismus abzugleiten.²⁴
Literaturverzeichnis Baranzke, Heike/Duttge, Gunnar (Hrsg.): Autonomie und Würde. Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht, Würzburg, 2013. Caplan, Arthur L./McCartney, James J./Sisti, Dominic A. (Hrsg.): The Case of Terri Schiavo. Ethics at the End of Life, Amherst/New York, 2006. Gordon, Michael/Levitt, Dan: Acting on a living will: A physician’s dilemma, in: Case Report, Canadian Medical Association Journal 155/7, 1996, 893 – 895. Ingensiep, Hans Werner/Rehbock, Theda (Hrsg.): „Die rechten Worte finden…“ Sprache und Sinn in Grenzsituationen des Lebens, Würzburg, 2009. Ingensiep, Hans Werner: Geschichte der Pflanzenseele. Philosophische und biologische Entwürfe von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart, 2001. Ingensiep, Hans Werner: Leben zwischen „Vegetativ“ und „Vegetieren“. Zur historischen und ethischen Bedeutung der vegetativen Terminologie in der Wissenschafts- und Alltagssprache, in: N.T.M. International Journal of History & Ethics of Natural Sciences, Technology and Medicine 14/2, 2006, 65 – 76. Ingensiep, Hans Werner: Leben, Lebewesen und Lebenskraft. Zur Lebensmetaphysik in Kants Biotheorie und Biografie, in: Lehmann, Johannes F./Borgards, Roland/Bergengruen, Maximilian (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittort von Erzählordnung und Wissensformation, Freiburg, 2012, 77 – 107. Jonas, Hans: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main, 1987. Kant, Immanuel: Streit der Fakultäten, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe (Ak) Bd.VII, Nachdruck Berlin, 1968. Levinas, Emmanuel: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg, 1989. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, Leipzig, 1889. Rickert, Heinrich: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen, 21922. Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart, 21992.
Vgl. Baranzke, Heike/Duttge, Gunnar (Hrsg.): Autonomie und Würde. Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht, Würzburg, .
Thomas Dürr
Hannah Arendt über lebende Leichname
Abstract: Hannah Arendt on living corpses. The following thoughts on Arendt’s approach to the totalitarian experiment of total domination rest upon a methodical presupposition. Arendt searches for the origins of totalitarianism by looking at the decline of the modern nation state. She does not work on a theory of totalitarianism. Instead, she analyses a historical setting, which, in her view, is a necessary, but not a sufficient condition of what she calls totalitarianism. Identifying the elements of totalitarianism, Arendt offers a Besinnung (reconsideration), as she put it in her foreword to Vita Activa (The Human Condition), trying to direct the reader’s attention to the ambivalence of modern society. In the same way, her thoughts on living corpses are meant to be a philosophical analysis of a historical phenomenon. The analytical framework is set since Die vollendete Sinnlosigkeit (Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps) and specified in The Origins, insofar as Arendt describes the third step of the preparation of living corpses in depth. Following the „killing of the juridicial person“ and „the murder of the moral person“, „the killing of man’s individuality“ completes the totalitarian assault on humanity by taking away spontaneity – the capacity of acting freely – and by transforming men industrially and into so called Muselmänner. The Nazis thereby proved – under the experimental condition of the extermination camps – that absolute power is possible and that spontaneity as evidence of human dignity and humanity can be destroyed. It is argued that we do not know if this experiment can be prolonged outside of the camp, for it will live on as both a „warning“ and an „attraction“. But as long as the human capacity to begin anew is steadily renewed by any birth of any human being, Arendt assures us, something exists that resists. An den Barackenmauern standen reglos die Muselmänner von Auschwitz, hungerkranke Menschen.Wenn man sie so ansah, hatte man den Eindruck, das sei eine mohammedanische Prozession, so eine Art gemeinsamen Gebetes von Muselmanen. Die Hungerkrankheit trocknete den Organismus so sehr aus, daß der Mensch ein Drittel seines Gewichts verlor. Die Muskeln schwanden dahin, an ihrer Stelle schwoll das Gewebe an. Die Beine schwemmten mit Flüssigkeit auf. Wir pflegten zu sagen: Das Wasser steht dir bis zu den Beinen. Der Muselmann verlor den Willen um sein Leben zu kämpfen. Nur der Anblick von Nahrung ließ seine Augen noch einmal aufleuchten. Der Muselmann reagierte nicht einmal mehr auf Frost. Ich sah erfrierende Kameraden, die im Frost für immer einschliefen. Nicht einmal, wenn ich von der Freiheit, von ihren Nächsten erzählte, oder davon, daß ihre Liebsten auf sie warteten, konnte ich sie aus ihrer muselmanischen Erstarrung lösen und dazu bringen, sich durch Bewegung aufzuwärmen. Nicht einmal zu der kleinsten Bewegung mochten sie sich aufraffen, die ihnen erspart hätte, den elenden Tod des Muselmanns zu sterben. Diese
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Schicksalsergebenheit machte sie bei den anderen Kameraden unbeliebt. Das Wort „Muselmann“ erweckte bei unseren Kapos Haßgefühle, bei uns eine ungerechte, gewiß unmenschliche Verachtung.¹ Alle Muselmänner, die im Gas enden, haben die gleiche Geschichte, besser gesagt, sie haben gar keine Geschichte; sie sind dem Gefälle gefolgt bis in die Tiefe, ganz natürlich, wie die Bäche, die schließlich im Meer enden. Im Lager kamen sie auf Grund der ihnen eigenen Untüchtigkeit oder durch Unglück oder durch irgendeinen banalen Umstand zu Fall, noch bevor sie sich hätten anpassen können; sie konnten mit der Zeit nicht Schritt halten, und sie fangen erst dann an, Deutsch zu lernen und sich ein wenig in dem infernalischen Durcheinander von Geboten und Verboten zurechtzufinden, wenn ihr Körper schon in Auflösung begriffen ist und sie nichts mehr vor der Selektion oder dem Erschöpfungstod bewahren könnte. Ihr Leben ist kurz, doch ihre Zahl ist unendlich. Sie, die Muselmänner, die Verlorenen, sind der Nerv des Lagers: sie, die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist und die schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden. Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen, man zögert, ihren Tod, vor dem sie nicht erschrecken, als Tod zu bezeichnen, weil sie zu müde sind, ihn zu fassen. Sie bevölkern meine Erinnerung mit ihrer Gegenwart ohne Antlitz; und könnte ich in einem einzigen Bild das ganze Leid unserer Zeit einschließen, würde ich dieses nehmen, das mir vertraut ist: Ein verhärmter Mann mit gebeugter Stirn und gekrümmten Schultern, von dessen Gesicht und Augen man nicht die Spur eines Gedankens zu lesen vermag.² Zum obersten Ziel totalitärer Regierungen gehört nicht nur das offen eingestandene, langfristige Streben nach Weltherrschaft, sondern auch der nie zugegebene, jedoch sofort unternommene Versuch der totalen Beherrschung des Menschen. Die Konzentrationslager sind die Laboratorien für das Experiment der totalen Beherrschung, denn wegen der Beschaffenheit der menschlichen Natur, kann dieses Ziel nur unter den extremen Bedingungen einer von Menschen geschaffenen Hölle erreicht werden.³
1 Elemente und Ursprünge Bevor im Folgenden erläutert werden wird, was es mit Arendts Zugriff auf die Konzentrationslager, genauer: auf die Vernichtungslager der nationalsozialisti-
Czesław Ostánkowicz nach Ryn, Zdziław/Kłodziński, Stanisław: An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des „Muselmanns“ im Konzentrationslager, in: Die Auschwitz-Hefte. Band . Texte der polnischen Zeitschrift „Przeglad Lekarski“ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz, hrsg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung, Weinheim/Basel, , f. Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München, , f. Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Geisel, Eike/Bittermann, Klaus (Hrsg.): Nach Auschwitz. Essays und Kommentare , Berlin, , .
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schen Politik der Judenvernichtung auf sich hat und wozu der totalitäre Versuch der absoluten Machtausübung von Menschen über Menschen ihrer Ansicht nach dient, ist eine methodische Bemerkung voranzustellen, um den Charakter und die Reichweite ihrer Überlegungen angeben zu können. Arendts Unternehmen, die für ihre Begriffe neue Staatsform der totalen Herrschaft zu verstehen, bemüht sich darum, deren Ursprünge „in dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates“⁴ aufzusuchen und die Elemente totaler Herrschaft zuerst in ihrer Entstehungsgeschichte im Zuge des Untergangs des Nationalstaates aufzuweisen und dann ihre Erscheinungsweise in der totalen Herrschaft zu beschreiben. Was vorliegt, ist daher keine Theorie des Totalitarismus, sondern die Analyse einer historischen Konstellation und ihrer Entstehung, die als ganze (nach Arendt notwendige, aber nicht hinreichende) Bedingung des Ereignisses totaler Herrschaft war. Die beiden ersten Teile des Buches dienen der Aufgabe, aus den geschichtlichen Phänomenen des Antisemitismus und des Imperialismus diejenigen Momente herauszuarbeiten, die Arendt als Ursprünge totaler Herrschaft gelten. Sie strebt weder eine politikwissenschaftliche Theorie noch eine geschichtswissenschaftliche Darstellung der genannten Phänomene noch eine vergleichende Totalitarismustheorie an. Es geht um ein tieferes Verständnis für die Struktur der modernen Gesellschaft und die Gefahren für das gemeinsame Leben und das politische Handeln der Menschen, die sich aus diesen strukturellen Merkmalen ergeben. Das Buch ist eine „Besinnung“⁵ auf die ambivalenten Strukturen am sachlichen wie historischen Grund der modernen Gesellschaft, die zwar „im Bereich des Denkens und Nachdenkens“⁶ verbleibt, jedoch den Bezug auf das tatsächliche, freiheitlich-politische Handeln von Menschen nie aufgibt.⁷ Folglich besteht auch nicht jener Unterschied zwischen der amerikanischen Originalausgabe von 1951 und der deutschen Erstausgabe von 1955, demzufolge
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, , . Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, , . Ebd. Arendts Beschreibung ihres Vorgehens in Vita activa ist eine Charakterisierung ihres Denkstils im Allgemeinen. „Besinnung“ fragt bei Arendt nach den Bedingungen von etwas, in der Vita activa nach denen des Handelns, nach seinen vergangenen und gegenwärtigen Möglichkeiten und Gefährdungen. Die Analyse der modernen Gesellschaft im Blick auf die totale Herrschaftsform macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Siehe zu Arendts Denkweise die unübertroffenen Überlegungen von Krüger, Hans-Peter: Die condition humaine des Abendlandes. Philosophische Anthropologie in Hannah Arendts Spätwerk, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie , , bes. – , die in Zeiten einer andauernden politikwissenschaftlichen Vereinnahmung und oft auch selektiven Verfremdung des Werkes Arendts methodisch wie inhaltlich wegweisend sind für jede philosophische Annäherung an ihr Denken.
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sich Arendt 1955 die „Genese und Struktur einer neuen Staatsform“⁸ im Blick auf Nationalsozialismus und Bolschewismus vorgenommen habe, während sie 1951 treffender von „der Analyse der Genese des nazistischen Terrors aus einem gesellschaftsgeschichtlich einzigartigen Amalgam von Antisemitismus, Rassismus und Imperialismus“⁹ gesprochen habe. Das deutsche Vorwort von 1955 verdecke das Schlüsselmotiv des Buches, nämlich die noch 1951 angestrebte Analyse, unter der Ankündigung eines „totalitarismuskritischen Vergleich[s] von Nazismus und Stalinismus“.¹⁰ Von einem Vergleich ist weder im Vorwort zur deutschen Erstausgabe, geschrieben im Juni 1955,¹¹ noch im Vorwort zum amerikanischen Original, geschrieben im Sommer 1950 die Rede.¹² Die Perspektive eines Vergleiches macht Arendt erst im Vorwort zum dritten Teil des Buches über die totale Herrschaft auf, geschrieben anlässlich der Einzelveröffentlichung der drei Teile im Juni 1966.¹³ Allerdings rechtfertigen die wenigen Hinweise auf die stalinistische Form totaler Herrschaft nicht das Etikett „vergleichende Theorie“. Es bleibt bei kurzen, tastenden und bezeichnenderweise nicht weiter verfolgten Versuchen, eine Vergleichsperspektive zu eröffnen, mit spürbarer Skepsis in Bezug auf die Durchführbarkeit eines solchen Unternehmens.¹⁴ Wenn im Folgenden also Arendts Gedanken zu den lebenden Leichnamen Gegenstand der Überlegungen sein sollen, dann sind keine tiefschürfenden Erkenntnisse soziologischer, medizinischer, politischer oder historischer Art über das nationalsozialistische System der Vernichtungspolitik zu erwarten.¹⁵ Woran sie sich macht, ist eine philosophische Interpretation eines historischen Phänomens. Auch deshalb sehe ich davon ab, die in den ersten beiden Teilen des sogenannten Totalitarismusbuches von Arendt herausgearbeiteten Elemente und Ursprünge des Totalitarismus im dritten Teil über totale Herrschaft aufzusuchen
Meints, Waltraud: Globalisierung und Menschenrechte. Zur Aktualität der Krisendiagnose von Hannah Arendt. in: Mittelweg /, , f. Ebd. Ebd. Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, f. Vgl. Die menschliche Natur steht auf dem Spiel: Hannah Arendts „Vorwort“ und „Abschließende Bemerkungen“ zur ersten Auflage von The Origins of Totalitarianism, in: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren und , Kommentar von Ingeborg Nordmann, hrsg. vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden, , ff. Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, – . An der fraglichen Stelle spricht Arendt von der totalen Herrschaft als neuer Staatsform, wie sie im Dritten Reich und im Bolschewismus kennenzulernen gewesen sei (Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, ). Ein Vergleich wird nicht angekündigt und im dritten Teil auch nicht durchgeführt, wie er mit Blick auf die von Arendt benutzten Quellen auch nicht möglich war. Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, .
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und in ihrer totalitären Form kenntlich zu machen (eine Verbindung, die Arendt selbst nicht dezidiert herstellt)¹⁶ und beschränke mich im werkgeschichtlichen Durchgang auf Arendts Gedanken dazu, wofür die lebendigen Leichname ein Sinnbild sind.¹⁷
2 Die Desintegration der Person Den Rahmen von Arendts Überlegungen zu den lebenden Leichnamen bildet ihre Unterscheidung zwischen den altbekannten Maßnahmen der Judenverfolgung (erwähnt werden für den konkreten Fall die Nürnberger Gesetze, die sogenannte Arisierung, die Ghettoisierung der osteuropäischen Juden in den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten) auf der einen Seite und der Einrichtung von Todesfabriken auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung lässt sich werkgeschichtlich abbilden auf die zwischen den rationalen und infolge aller historischen Erfahrung erwartbaren Maßnahmen der Nationalsozialisten auf der einen Seite und der Ergreifung von vollkommen dysfunktionalen und offenbar sinnlosen Maßnahmen.¹⁸ Während noch die frühen Konzentrationslager kurz nach der Machtergreifung nachvollziehbaren Zwecken wie dem der Ausschaltung der Opposition dienten, so gelte das insbesondere für die Vernichtungslager als extremster Form der Konzentrationslager (nach deren Neuordnung und Unter-
Eine mustergültige Durchführung der Auffindung von Ursprüngen und dem entsprechenden Nachweis von deren Verwandlung zu Elementen der totalen Herrschaft hat Julia Schulze-Wessel am Beispiel von Arendts Theorie des Antisemitismus vorgelegt und dabei mit dem verbreiteten Vorwurf aufgeräumt, dass es sich bei den Elementen und Ursprüngen um ein inhaltlich wie kompositorisch unzulängliches Konglomerat verstreuter Beobachtungen handele. Infolge des „besinnlichen“ Charakter des arendtschen Denkens ergibt es nur wenig Sinn, sich in der Auseinandersetzung mit Arendts Werken der historischen Erbsenzählerei zu verschreiben, verfehlte man doch auf diese Weise, dass ihre historischen wie zeitdiagnostischen Anleihen im Dienste systematischer wie begrifflicher Präzisierung stehen. So kann man zwar nachweisen, dass Arendts Bild von Eichmann als Schreibtischtäter falsch ist, dass er Bürokrat und Überzeugungstäter zugleich war (siehe Wojak, Imtrud: Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt am Main, , – ), aber die Wahl eines untauglichen Anschauungsobjektes ist zum einen nicht gleichbedeutend mit der historischen Irrelevanz des am falschen Objekt erkannten Phänomens noch vermag es zum anderen die philosophische Irrelevanz der Frage zu erweisen, ob nicht „Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammen“ (Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München , ). Vgl. Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Geisel, Eike/Bittermann, Klaus (Hrsg.): Nach Auschwitz. Essays und Kommentare , Berlin, , – .
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stellung unter die zentrale „Inspektion der Konzentrationslager“ der SS im Jahre 1934, T.D.) nicht mehr. Auch wenn sie sie terminologisch nicht konsequent durchhält, führt Arendts Unterscheidung zwischen den erwartbaren und historisch nicht präzedenzlosen Konzentrations- und den vollkommen überraschenden und beispiellosen Vernichtungslagern auf die entscheidende Differenz, dass in den Vernichtungslagern Menschen planvoll in einen Zustand des permanenten Sterbens zwischen Leben und Tod versetzt werden. „Die Vernichtung widerfährt“ in diesen Lagern „Menschen, die praktisch bereits ‚tot‘ sind“.¹⁹ Zu einer Zeit, in der Arendts Arbeiten an den Elementen und Ursprüngen im amerikanischen Original nahezu abgeschlossen waren, steht Arendts Überzeugung von der Funktion dieser permanent sterbenden Menschen innerhalb der totalitären Herrschaft fest. Die Sinnlosigkeit der Vernichtungslager beschreibt und erläutert sie durch sechs Merkmale: die Unschuld der Insassen, die dauerhafte Existenz der Lager, die Lagerverwaltung durch die SS, die Ausbeutung der Arbeitskraft der Insassen, die Isolation und der Versuch der absoluten Machtausübung von Menschen über Menschen.²⁰ Die neuartige Lagerverwaltung in den Händen der SS sei darauf ausgerichtet gewesen, durch „präzise organisierte Folter“²¹ nicht den sofortigen Tod, sondern „einen permanenten Zustand des Sterbens“²² herbeizuführen. Im Blick auf das eingangs erwähnte Ziel aller totalen Herrschaft ergibt diese systematische Folter ihren klaren Sinn, steht sie doch am Ende eines dreistufigen Prozesses der „Desintegration der Persönlichkeit“:²³ Die Zerstörung der juristischen Person werde vor allem in der Zusammenhangslosigkeit von Verhaftung und Meinungen oder Taten der inhaftierten Person bewirkt, diejenige der moralischen Person durch die vollkommene Isolation der Konzentrationslagerwelt, in der Widerstand oder Martyrium keine reale Optionen für ein selbstverantwortliches Handlungssubjekt mehr seien, diejenige der Individualität durch „permanente und systematisch organisierte Folter“.²⁴ Am Ende dieser Desintegration der rechtlichen, moralischen und individuellen Person steht die Auflösung des zuvor unver-
Ebd., . Ebd., – . Ebd., . Ebd., . Ebd., . Enzo Traverso weist darauf hin, dass etwa zu derselben Zeit Bruno Bettelheim und Leo Löwenthal jeweils zu einer ähnlichen Funktionsbestimmung der Lager im nationalsozialistischen Herrschaftssystem gelangen. Bettelheim etwa beschreibt sie als „Versuchslabor der Gestapo […] zur Desintegration der Persönlichkeit“ (siehe Traverso, Enzo: Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah, Hamburg, , ). Arendt: Die vollendete Sinnlosigkeit, f., Zitat .
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wechselbaren Körpers zu einem „verläßliche[n] Reaktionsbündel“,²⁵ das aus der Perspektive des gesunden Menschenverstandes normaler Menschen als Inbegriff der Sinnlosigkeit erscheinen muss.²⁶ Auch Arendt hat zu diesem Zeitpunkt keine Antwort auf die überwältigende Erfahrung dieser Sinnlosigkeit zur Hand. Sie stellt zunächst nur fest, dass mit der „Fabrikation von Leichen“²⁷ scheinbar unverrückbare Grenzen eingerissen worden seien, von denen man zuvor angenommen habe, dass sie sozusagen natürliche Grenzen des Handelns, der Handlungsmotive und des vernünftig geordneten Zusammenlebens von Menschen sein müssten. Man könne nur rätseln, weshalb solche Taten getan werden konnten, inwiefern solche Taten auch gegenwärtig immer noch möglich seien „und was mit dem gesellschaftlichen und individuellen Verhalten des Menschen geschehen könnte, wenn dieser Prozeß einmal bis zu den Grenzen des Möglichen fortgeführt werden sollte“.²⁸ Hier überwiegen noch die Beschreibung des Phänomens und die Hervorhebung seiner Sinnlosigkeit,²⁹ aber in der Kennzeichnung der Unsicherheit über die Bedeutung dieser Geschehnisse für das Leben, das in eben derjenigen modernen Gesellschaft weitergeht, in der solche Dinge sich haben ereignen können, äußert sich der analytische Anspruch, vom Entsetzen und der Betroffenheit zum Verständnis überzugehen. Und das grundlegende Interpretament formulierte sie zur selben Zeit in einem Brief an Jaspers aus dem Dezember 1946. Sie schrieb zwar an Jaspers, der sie warnte, in die Taten der Nazis eine satanische Größe hineinzulesen, dass sie auf dem Unterschied zwischen einem Mörder seiner Tante und den „ohne alle direkten Nützlichkeitskalkulationen […]“ errichteten „Fabriken […] zur Herstellung von Toten“ beharre, aber das Geschehen noch nicht richtig verstanden habe. Gleichwohl vermutete sie, dass hinter den Geschehnissen vielleicht nur stecke, „daß nicht einzelne Menschen aus menschlichen Gründen von anderen einzelnen Menschen totgeschlagen werden, sondern organisiert versucht wird, den Begriff des Menschen auszurotten“.³⁰
Ebd., . Vgl. ebd., f. Ebd., . Ebd. Vgl. ebenso Arendt, Hannah: Das Bild der Hölle, in: Geisel, Eike/ Bittermann, Klaus (Hrsg.): Nach Auschwitz. Essays und Kommentare , Berlin, , v. a. ff.) Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel – , hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München, , .
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3 Die Präparation lebender Leichname Im Grunde steht also das analytische Grundgerüst Arendts im Blick auf die lebenden Leichname seit Die vollendete Sinnlosigkeit. Die Elemente und Ursprünge verfeinern es, reichern die Beschreibung der dreistufigen Desintegration der Person an und fügen es als Ganzes in den Rahmen des Buches als dessen Kulminationspunkt ein.³¹ Veränderungen ergeben sich aber im Blick auf Arendts Interpretation des Phänomens jenseits seiner Rationalität nach Maßgabe nationalsozialistischer Ideologie, jenseits seiner Irrationalität aus Sicht des normalen Menschenverstandes oder normaler Menschen.³² An der Auffassung von den Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslagern als Laboratorien des Nachweises, „daß Menschen total beherrschbar sind“³³ hält sie fest.³⁴ Aus der Desintegration der Persönlichkeit wird nun die ebenfalls dreistufige „Präparation lebender Leichname“:³⁵ Die erste Stufe ist die „Tötung der juristischen Person“, der es wie gehabt darauf ankommt, den TunErgehens-Zusammenhang abzuschaffen, dass also zu KZ-Insassen vornehmlich diejenigen werden, „die nur noch sind – Juden, Bazillenträger, Exponenten absterbender Klassen –, aber ihre Fähigkeit zu handeln, zur Tat wie zur Missetat bereits verloren haben“.³⁶ Die gesamtgesellschaftliche Funktion dieser ersten Stufe liegt für Arendt in Erweiterung früherer Überlegungen in der faktischen Entrechtung der Lagerhäftlinge und sowie der perspektivischen aller von der totalen Herrschaft beherrschten Menschen.³⁷ Die zweite Stufe ist die ebenfalls übernommene „Ermordung der moralischen Person“.³⁸ Moralität wird schlichtweg überflüssig an einem Ort, an dem die Unterschiede zwischen Henker und Opfer, zwischen Schuldigen und Unschuldigen durch die entsprechende Mit Kapitel und dessen Analyse des Wesens totaler Herrschaft gelangt das Buch zu seinem auch inhaltlichen Schluss, zu dem sich das Kapitel wie eine sachliche Ausführung liest, aber keine grundlegend neuen oder gar revidierenden Gedanken bringt. Vgl. Arendt: Die vollendete Sinnlosigkeit, . Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, . Die Vernichtungslager sind Laboratorien des Anspruches der totalen Herrschaft auf die absolute Beherrschung von Menschen durch Menschen. Entsprechend sind die drei Stufen der Präparation lebendiger Leichname, die als Nachweis der Realisierbarkeit dieses Anspruches dienen sollen, nicht einfach als Elemente des Totalitarismus auszugeben, wie Traverso (Auschwitz denken, – ) dies tut, denn außerhalb des Lagers findet die dritte Stufe jener Präparation nicht statt. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, . Ebd., . Vgl. ebd., . Ebd., .
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„Schaffung von Lebensbedingungen“ eingeebnet sind und „die bewußt organisierte Komplizität aller Menschen an den Verbrechen totalitärer Verbrechen“³⁹ auch die Opfer erreicht. Allein die dritte Stufe, „die Tötung der Individualität“⁴⁰ wird ausführlicher beschrieben, ist sie doch die entscheidende für die totale Herrschaft, weil sie „die systematische Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der Zerstörung der menschlichen Würde“⁴¹ in aller Gründlichkeit betreibt. Der Körper als unerlässliche Grundlage aller menschlichen Einzigartigkeit und Erkennbarkeit ist (im Unterschied zur exzessiven Brutalität und Grausamkeit der Anfangsphase nationalsozialistischer Lager) einer Vielzahl von psychischen und physischen Gewalttaten ausgesetzt, um schließlich das, was zuvor eine Person war, zu einer vollkommen berechenbare Größe herzurichten und in eine Lage zu versetzen, „in de[r] Tod wie Leben gleich wirksam verhindert werden“.⁴²
4 Die Abschaffung der Freiheit An die Stelle jener Ungewissheit über die Bedeutung der massenhafter Präparation lebender Leichname, die noch den Schluss ihrer Überlegungen zur vollendeten Sinnlosigkeit der Vernichtungslager bestimmt hatte, tritt in den Elementen und Ursprüngen die Überzeugung, dass die dritte Stufe der Tötung der Individualität dazu dienen soll, die Spontaneität, „die Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt und Geschehnissen Ebd., Ebd., . Ebd., . Ebd., . Arendts – nicht geschichtswissenschaftliches oder politikwissenschaftliches, sondern philosophisches – Schema des Vernichtungsprozesses lässt sich ohne größere Schwierigkeiten mit dem geschichtswissenschaftlichen Hilbergs in Einklang bringen, der Definition, Enteignung, Konzentration und Vernichtung der Opfer unterscheidet. Die Chronologie, dass Arendts Arbeiten abgeschlossen und publiziert wurden (siehe Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, New York, ), Hilbergs erweiterte Dissertation vorlag und dann in der veröffentlichten Form von (siehe Hilberg, Raul: The Destruction of the European Jews, Chicago, ) laut seines wiederholten Vorwurfes von Arendt auf unlautere Weise in Eichmann in Jerusalem ausgebeutet wurde, legt in der Tat nahe, dass der Grund für seine Invektiven gegen Arendt, die ihrerseits Hilbergs Arbeit in geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu schätzen wusste, diese aber aus philosophischer Perspektive für wertlos hielt (siehe Arendt/ Jaspers: Briefwechsel, ) eher in der Ablehnung seiner Doktorarbeit durch die Princeton University Press im Jahre zu suchen ist, die er Arendt anlastete, ohne dafür Belege zu haben (siehe dazu Ludz, Ursula: In den Untiefen des Allzumenschlichen. Hilberg vs. Arendt, in: HannahArendt.net (/), ).
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nicht erklärbar ist“,⁴³ kürzer: die Fähigkeit des Menschen zu freiheitlichem Handeln abzuschaffen. Innerhalb der totalitären Logik ist es einsichtig, dass dem doppelten Beweisziel, dass alles möglich ist und dass man Menschen total beherrschen kann,⁴⁴ die Tatsache der von Arendt sogenannten Pluralität im Wege steht, dass nämlich nicht der Mensch, sondern viele verschiedene Menschen die Erde gemeinsam bewohnen. Folglich muss man Menschen berechenbar machen, sie zu Reaktionsbündeln abrichten. Wenn man Pluralität und Spontaneität abschafft, erhält man „jene unheimlichen, weil mit wirklichen, menschlichen Gesichtern ausgestatteten Marionetten, die sich alle benehmen wie der Pawlowsche Hund, die alle bis in den Tod vollkommen verlässig reagieren und nur reagieren“,⁴⁵ aber eben nicht mehr auf unberechenbare und darum unbeherrschbare Weise handeln. Die Sprache des Lagers hat für diesen Umstand, den Arendt in das Wort von den lebenden Leichnamen gefasst hat, durchweg abgrenzende bis verächtliche Wörter gefunden, in denen zwei Momente ihren Ausdruck finden: zum einen das Entsetzen über das, was Kogon die „Willensgebrochenheit“⁴⁶ der Muselmänner und zweitens das klare Bewusstsein davon, dass das Leben unter Lagerbedingungen früher oder später alle zu „Muselmanen“⁴⁷ macht, das wiederum das Bedürfnis nach Abgrenzung nur verstärkt.
5 Herstellen statt Handeln Die Ausgrenzungsfunktion, die in Wörtern wie „Muselmann“, „Kretiner“, „Krüppel“, „Schmuckstücke“ und dergleichen mehr⁴⁸ zum Ausdruck kommt, bietet die Möglichkeit, einen kategorialen Rahmen aus Arendts Denken zur weitergehenden Interpretation ihrer Überlegungen zu den lebenden Toten anzuschließen. Das Experiment, „Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln“⁴⁹ fügt sich nämlich in Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, ; vgl. ebd., . Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, . Ebd., f. Kogon Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München, , . Arendt spricht ferner von entseelten Menschen oder lebenden Toten (vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, ), verwendet aber den Audruck „Muselmann“ nicht. Siehe weitere Beispiele bei Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main, , , und Ryn/Kłodziński: An der Grenze zwischen Leben und Tod, . Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, .
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Arendts aristotelische Unterscheidung der menschlichen Tätigkeitsweisen ein. Das Arbeiten ist der ersten Grundbedingung menschlichen Lebens, dem bloßen Am-Leben-Sein, zugeordnet und dient der Selbsterhaltung. Das Herstellen erschafft eine Dingwelt von stärkerer Widerstandskraft gegen die Abnutzungsprozesse der Natur, als sie dem Menschen eigen ist. Seine Grundbedingung ist die Weltlichkeit, die Angewiesenheit des Menschen auf Gegenständlichkeit. Das Handeln aber gehört zur Grundbedingung der Pluralität, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen die Erde bewohnen. Die Pluralität ist die „conditio sine qua non“ und zugleich „die conditio per quam“⁵⁰ des Handelns und Sprechens. Nur durch sie und in ihr können Menschen gemeinsam sprechen und handeln und den von Arendt sogenannten Bereich der zwischenmenschlichen Angelegenheit regeln, sprich: ihrem Zusammenleben eine Ordnung geben in welcher Vergemeinschaftungsform auch immer. Der totalitäre Nachweis, dass man Menschen vollends beherrschen kann, lebt von der Ersetzung des Handelns durch das Herstellen im Bereich der zwischenmenschlichen Angelegenheiten, dem nach Arendt einzig das Handeln und Sprechen freier Menschen angemessen ist. Arendt selbst hat diesen Weg der Interpretation schon in Das Bild der Hölle aus dem Jahr 1946 angedacht. Jahre vor der Abfassung der Vita activa kann man nicht von einer systematischen Analyse mit ausgearbeiteten Kategorien sprechen, aber die Schilderung des Sterbens in den „Todesfabriken“⁵¹ hebt schon die alle individuellen Unterschiede einebnende Zurückführung menschlichen Lebens auf seine organische Grundlage hervor und interpretiert diese als Verdinglichung des Menschen: Die Menschen starben „wie Vieh, wie Material, wie Dinge, die weder einen Leib noch eine Seele ja nicht einmal ein Gesicht besaßen, denen der Tod sein Siegel aufdrücken konnte“.⁵² Es ist das Korrektivum des Herstellens, das Zerstören, das erst in vollem Ausmaß vor Augen führt, welche Folgen die Ersetzung des Handelns durch das Herstellen im zwischenmenschlichen Bereich zeitigt. Wie Arendt in einer Eintragung im Denktagebuch im März 1951 überlegt, ist das Herstellen an sich schon zerstörerisch, indem es aus der Natur sein Material gewinnt, dann aus dem Material sein Produkt herstellt und zuletzt immer die Möglichkeit behält, das Produkt zu zerstören.⁵³ Und das totalitäre Experiment der absoluten Beherrschung des Menschen kann gar nicht anders als aus handlungsbegabten, darum unbere-
Arendt: Vita activa, . Arendt: Das Bild der Hölle, . Ebd. Vgl. Arendt, Hannah: Denktagebuch bis . Bände, hrsg. v. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut Dresden, München, , .
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chenbaren, darum unbeherrschbaren Menschen (also aus lebendiger Natur) beherrschbares Material zu machen: die ehemals unverwechselbare Person, die im Mahlstrom des Vernichtungslagers zu einem Ding zwischen Leben und Tod wird, das beliebig herstellbar und zerstörbar ist. Die „irrsinnige […] Massenfabrikation von Leichen“⁵⁴ folgt zwar auf die Präparation lebender Leichname, aber es ist nur die Letztere durch die das „Grauen vor dem radikal Bösen“⁵⁵ entsteht, während Angriffskriege, Exzesse, Ausrottung, Sklaverei und auch Konzentrationslager in der unendlichen Geschichte menschlicher Gewalt nichts Neues sind.⁵⁶ Es ist die massenhafte, durch die Lebensbedingungen im Lager wie am Fließband hergestellte Existenz der Muselmänner, nicht die Leichenberge, die den Nachweis führt, dass Menschen total beherrschbar sind. Der massenhafte Mord kann genau das nicht, weil er einfach umbringt, aber nicht jene Nicht-Menschen zwischen Leben und Tod herstellt, die gerade durch ihr Äußeres noch an die gewesene, handlungsfähige, freie Person erinnern, die sie einmal waren. Dass das von der totalen Herrschaft ausgelöste Grauen das Grauen vor den Muselmännern ist, verdient zunächst als Aspekt einer genauen Arendt-Interpretation hervorgehoben zu werden. So übernimmt Sofsky von Arendt die Überzeugung, dass die jeweilige Person erst im Handeln überhaupt entsteht und erkennbar wird und dass, wie er es sagt, Handeln das Medium aller Identität und Sozialität ist, so dass ihm zufolge ein der Handlungsfähigkeit beraubter Mensch kein Mensch mehr ist. Und auf diese Weise durch Arendt angeleitet vermag er auch das „Reich zwischen Leben und Tod“ als „Triumph über den Menschen“ zu verstehen. Aber dass der Leichenhaufen gleichermaßen wie jenes Reich diesen Triumph der totalen Herrschaft vor Augen führe, ist nicht mehr von Arendt gedeckt, die den Nachweis absoluter Macht gerade nicht im Massenmord, sondern nur in den lebenden Leichnamen erkannte, weil diese leben und zugleich handlungsunfähig und daher vollkommen beherrschbare Menschen sind.⁵⁷
Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, ; vgl. ebd., . Arendt schrieb schon von Todesfabriken (vgl. Arendt, Hannah: The image of hell, in: Commentary /, , – ), während Heidegger in den sogenannten Bremer Vorträgen von der Massenfabrikation von Leichen spricht (vgl. Heidegger, Martin: Das Ge-Stell, in: Bremer und Freiburger Vorträge (= Gesamtausgabe, Bd. ), hrsg. von Petra Jäger, Frankfurt am Main, ; ders.: Die Gefahr, in: ebd.). Dass hier keine einseitige oder wechselseitige Beeinflussung vorliegt, sondern beide dasselbe Wort mit signifikant verschiedenen Gehalten benutzen, zeigt Presner, Todd Samuel: „The fabrication of corpses“. Heidegger, Arendt, and the modernity of mass death, in: Telos , . Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, . Vgl. ebd., . Vgl. Sofsky: Die Ordnung des Terrors, .
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Sofsky ist mit diesem Missverständnis ein Beispiel für einen Sachverhalt, auf den Agamben hingewiesen hat. Unter Historikern – und wir dürfen hinzufügen, dass das auch für Philosophen wie Soziologen gilt – werde das Phänomen des Muselmannes übergangen. Es wiederholt sich hier das Muster des Wegsehens, das schon in der Lagersprache zu beobachten war (siehe oben) und das Agamben mit der Geschichte von den Filmaufnahmen der Briten bei der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen verdeutlicht: Gedacht als Beweis zeigt die Kamera die verstreut herumliegenden Leichen und Leichenberge in aller Ausführlichkeit, zeigt, wie Bagger unzählige Leichen in die Massengräber schieben, als ob Sand in Baugruben gekippt würde. Wie zufällig gerät ihr dabei eine kleine Gruppe von Lebewesen vor die Linse, die sofort als Muselmänner zu erkennen sind, schwenkt aber, als halte sie den Anblick der lebenden Leichname nicht aus, sofort wieder zurück und kehrt zum ausgiebigen Verweilen bei den Toten zurück – wie Arendt sagt: nichts Neues und daher auch erträglich.⁵⁸ Agamben ist demgegenüber die Ausnahme. Solle die Bedeutung der Vernichtung selbst nicht bestritten werden, so sei sie um den Muselmann zu ergänzen, weil dieser ein neues Licht auf die Vernichtung werfe.⁵⁹ Er nimmt Levis Wort vom Muselmann als Nerv des Lagers ernst und stimmt darin auch mit Arendt überein, wenn er fordert, dass man „Auschwitz“ als „Ort eines noch nicht gedachten Experiments, bei dem sich jenseits von Leben und Tod der Jude in den Muselmann verwandelt und der Mensch in den Nicht-Menschen“,⁶⁰ verstehen müsse.⁶¹
6 Das Wesen des Menschen Folgen wir Arendts Überlegungen, dann haben die Nationalsozialisten mittels ihrer Vernichtungslager gezeigt, dass man Menschen in ein Zwischen zwischen Leben und Tod bringen kann, in dem die Spontaneität, die Handlungsfähigkeit als Bürge der individuellen Menschenwürde und Menschheit (nicht Menschlichkeit),
Vgl. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt am Main, , f. Ebd., . Ebd. In der Arendt-Forschung, in der nur ein einziges Buch sich gründlich mit ihrer philosophischen Interpretation nationalsozialistischer Vernichtungspolitik beschäftigt, sucht man denn auch vergeblich nach einer Auseinandersetzung mit Arendts Überlegungen zum Muselmann und findet an Stelle dessen, dasselbe Missverständnis wie bei Sofsky vor (siehe Trawny, Peter: Denkbarer Holocaust. Die politische Ethik Hannah Arendts, Würzburg, , , f).
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infolge einer Veränderung (nicht der Vernichtung) ihrer lebendigen, das heißt körperlichen Basis abschaffen kann. Man kann also unter den Laborbedingungen des Lagers die, wie Arendt sagt, Natur des Menschen soweit verändern, dass Freiheit und Handeln keine menschlichen Charakteristika mehr sind. Weil es bei dem Experiment geblieben ist, kann niemand sagen, bis zu welchem Punkt man die Veränderung des menschlichen Wesens treiben kann.⁶² Der totalitäre Angriff auf die Spontaneität erhält jedoch Unterstützung von vermeintlich unerwarteter Seite, nämlich von vielen „Menschen, die sich in Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit, die Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu tragen und zu ertragen, willig einem System unterwerfen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene Leben abnimmt“.⁶³ Aufgrund dieser Selbstaufgabe der Individuen, die nichts anderes als SelbstVerdinglichung der Menschen ist, die in der Entlastung von jener Last auch die Attraktivität totalitärer Ideologie zu einem Gutteil zu erklären vermag, und infolge des erfolgreichen Nachweises, dass schlechterdings alles möglich und aus Menschen Pawlowsche Hunde gemacht werden können, ist es nicht übertrieben, zu sagen, dass es bei jenem totalitären Experiment um alles, verstanden als die
Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, . Aharony vermengt Arendts Überlegungen zur totalen Beherrschung mit der Frage nach Widerstand und verfehlt auf diese Weise den zentralen Punkt von Arendts Überlegungen. Der Nachweis von widerständigen Verhalten leiste die Widerlegung von Arendts Überzeugung, dass es totale Herrschaft in den Vernichtungslagern gegeben habe (Aharony, Michal: Hannah Arendt and the idea of total domination, in: Holocaust and Genocide Studies /, , f.). Die weite Definition von Widerstand, unter den bereits die Tatsache des Überlebens falle (ebd.), ist da nur ein Symptom grundlegender Fehlinterpretation. Denn es ist die Herstellbarkeit lebender Leichen, die zeigt, dass man Menschen total beherrschen kann, gegen die das bloße Überleben nicht als Widerstand angeführt werden kann. Ebenso kann man Formen wechselseitiger Hilfe zwischen den Lagerinsassen nicht als Argument dafür anführen, dass Arendt die Lagerwirklichkeit nicht angemessen erfasst habe (ebd., ). Der Kern von Aharonys Fehlinterpretation scheint mir daher in mangelnder Umsetzung von Arendts methodischer Vorgehensweise zu liegen (siehe Kap. ). Denn durch die Laboratorien ist nur der Nachweis der Zerstörbarkeit der Spontaneität, des Menschen als moralischen Subjektes, erbracht. Mit keinem Wort ist davon die Rede, dass die totale Herrschaft vollkommen erreicht worden sei in den Vernichtungslagern, wie es Aharony glauben macht (ebd., ). Arendts Kriterium ist die Zerstörbarkeit, nicht die faktische Zerstörung der Spontaneität. Die verquere Fragestellung Aharonys (ebd., f.) fußt zudem auf einer Verdrehung der Werkgeschichte (ebd., f.), konstruiert gemessen an der Werkchronologie ein Pseudoproblem, so dass man es bei Folgendem belassen sollte: „Though Nazism failed, Arendt takes seriously the possibility that human nature could be transformed“ (Howes, Dustin Ellis: „Consider if this is a person“: Primo Levi, Hannah Arendt, and the political significance of Auschwitz, in: Holocaust and Genocide Studies /, , ). Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, f.; vgl. ebd., .
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unendlichen Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens, und um nichts, verstanden als das Ende der Menschheit, geht.⁶⁴ Das Laboratorium der absoluten Macht hat die Annahme einer feststehenden Natur des Menschen als falsch und die Zerstörbarkeit des menschlichen Wesens als möglich erwiesen, ganz wie die innere Logik des Anspruches auf totale Beherrschung alle Spontaneität vernichten muss.⁶⁵ Dass es bisher bei Laborversuchen geblieben ist, zeigt zwar, dass die Veränderung der menschlichen Natur, nach Arendt das eigentliche Ziel totaler Herrschaft, nicht vollkommen gelungen ist, also außerhalb des Labors ausgeblieben ist, kann aber auch kein Anlass zur Beruhigung sein, weil „Konzentrationslager und Gaskammern […] nicht nur eine Warnung, sondern auch ein Beispiel bleiben werden“.⁶⁶ Die Zerstörbarkeit der menschlichen Natur unter den Schlägen der totalitären Herrschaft, also die Herstellbarkeit lebender Leichname, beschreibt ein Phänomen, angesichts dessen die Unsicherheit um sich greift, inwiefern dieses Leben noch ein menschliches Leben ist. Der Muselmann stellt mit unabweisbarer Radikalität gängige Vorstellungen vom Menschsein in Frage. Für Arendt gehört zum vollen Menschsein die Sphäre des Handelns unter freien Menschen hinzu.Wer nur in der Sphäre des Arbeitens mit der Arbeit an der Selbsterhaltung oder in der Sphäre des Herstellens mit der Verfertigung der gegenständlichen Welt beschäftigt ist, entbehrt zumindest in ihrer Theorie des wesentlichen Momentes des Menschseins. Allerdings sind auch in diesem Fall die methodischen Vorbemerkungen aus Kapitel 1 insofern zu beachten, als die drei Tätigkeitsweisen Arendts von der genannten besinnlichen Funktion sind, so dass mittels ihrer nicht auf das Menschsein oder Nicht-Menschsein der Muselmänner geschlossen werden kann. Was man mit Arendt aber zur Antwort auf Levis Frage, ob der Muselmann noch ein Mensch sei, beitragen kann, erschließt sich aus einer Feststellung Agambens im Anschluss an Levi, dass der Muselmann der Ort eines Experimentes
Vgl. ebd., . Eric Voegelin jedoch nimmt in seiner Besprechung der Origins of Totalitarianism gerade bezüglich Arendts These, dass in der totalen Herrschaft die menschliche Natur auf dem Spiel stehe, Anstoß und verliert sich in terminologischen Nebensächlichkeiten, sei doch Natur im philosophischen Sinne ein Begriff, der etwas per se Unveränderliches bezeichne (Arendt, Hannah/ Voegelin, Eric: Kontroverse Ansichten: Der Disput zwischen Hannah Arendt und Eric Voegelin über das Totalitarismusbuch, in: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren und , Kommentar von Ingeborg Nordmann, hrsg. vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden, , ). Stimme das, so Arendts Erwiderung, werde entweder der Mensch unter den totalitären Angriffen (als Träger der Freiheit) vernichtet oder Freiheit gehöre nicht zur Natur des Menschen (ebd., ). Vgl. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, . Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, .
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zur Abschaffung von Moral und Menschlichkeit gewesen sei.⁶⁷ Arendt hätte auf der konkreten Bestimmung der Letzteren beharrt, aber nicht der These von der Abschaffung von der Moral widersprochen, sofern sie auf jene unendliche Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens verweist, die für sie durch die totale Herrschaft auf dem Spiel stehen. Expliziten Antworten auf diese Frage aber hat sich Arendt enthalten – und zwar nicht, weil sie keine hatte (darum wissen wir schlicht nicht), sondern weil sie die lebenden Leichname als Nachweis der totalen Beherrschbarkeit des Menschen in den Blick nahm.⁶⁸ Gleichwohl lässt sich eine arendtsche Antwort mit Hilfe ihres Kriteriums für menschliches Sein, mit Hilfe also ihres Begriffes der Spontaneität und des gemeinsamen Handelns und Sprechens zur Ordnung des Bereiches der zwischenmenschlichen Angelegenheiten, andeuten. Während die amerikanische Originalausgabe aus dem Jahr 1951 mit den eher pessimistisch stimmenden Überlegungen endet, dass die Vernichtungslager für immer ein Beispiel bleiben werden, stehen am Schluss aller anderen Ausgaben zuversichtlich stimmende Gedanken, wird dem geglückten Experiment der totalen Herrschaft etwas entgegengesetzt. Die amerikanische Erstausgabe von 1951 ergänzte Arendt nämlich aus Anlass der deutschen Erstausgabe von 1955 um ein 13. Kapitel namens Ideologie und Terror, das auf einen gleichnamigen Vortrag aus dem Jahr 1952 zurückgeht. Wird das frühere Ende zwar nicht gestrichen, so steht dem am neuen Ende des Buches die Unzerstörbarkeit der Spontaneität entgegen: „Initium ut esset, creatus homo est – ‚damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‘, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen“.⁶⁹ Diese Überzeugung Arendts, dass im Blick auf die Menschheit als Ganzes die Spontaneität als Signum des Menschseins nicht zerstört, nicht unwiderruflich
Agamben: Was von Auschwitz bleibt, . Presner weist darauf hin, dass für Heidegger infolge seiner Überzeugung vom Tod als principium individuationis in den nationalsozialistischen Lagern aufgrund des industriell organisierten Todes von Massen nicht Menschen starben, sondern Leichen hergestellt wurden (siehe Presner: „The fabrication of corpses“, mit weiteren Literaturhinweisen), so dass es naheliegt, in den Opfern respektive Gegenständen dieser „Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern“ (Heidegger: Das Ge-Stell, ) eben nicht mehr Menschen zu sehen, weil ihnen das individuierende Sterben als Signum des Menschseins fehle (siehe dazu insbesondere Heidegger: Die Gefahr, ). Vgl. zu diesen Fragen auch Agamben (Was von Auschwitz bleibt, – ), der wie Presner und anders als Trawny (Denkbarer Holocaust, ) als einer der wenigen sieht, dass die Möglichkeit industrieller Massentötung das, was Agamben Heideggers Ethik nennt, radikal in Zweifel zieht (vgl. Agamben: Was von Auschwitz bleibt, ). Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, ; vgl. dies.: Denktagebuch, .
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vernichtet werden kann, lässt sich zwar nicht auf den einzelnen Menschen übertragen, weil dessen Spontaneität zerstört werden kann. Aber man gerät nicht in Widerspruch zu Arendts Zuversicht aufgrund der unzerstörbaren Spontaneität überhaupt, wenn man eben diesen von Augustin erfahrenen Zuspruch mit den freilich seltenen Geschichten derer in Zusammenhang bringt, die das Stadium des Muselmannes überlebt haben und mit ihrer Geschichte des Überlebens ein Zeichen dafür sind, dass der Kern der menschlichen Natur (die Freiheit zu handeln und zu sprechen, die uns die unendlichen Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens erst an die Hand gibt), selbst das tiefste Stadium der Entmenschlichung zu überwinden vermag.⁷⁰ Was heißt Muselmann? Nun, das ist der Gipfel der Lagererziehung, das Ideal, das die Machthaber zu verwirklichen suchten. Als Muselmann wurde eine Frau bezeichnet, die auf alles, Gutes wie Schlechtes, mit einer verzweifelten tierischen Gleichgültigkeit reagierte. Nur ihre Empfindlichkeit für Hunger und Kälte hatte der Muselmann sich bewahrt. Die letzten Kräfte die sie noch am Leben hielten, wandte sie ausschließlich der Befriedigung und Linderung dieser zwei Impulse zu. Abgesehen davon interessierte sie nichts. Sie hatte niemanden, der ihr nahestand, sie brauchte keine Freundschaft. Sie verhielt sich feindselig zu allen Kolleginnen, unterwürfig aber und heuchlerisch zu den Empfängerinnen reichhaltiger Pakete, von denen sie sich eine Gabe erhoffte. Der Muselmann bettelte aufdringlich und schamlos, und wenn sie sich nichts erbetteln konnte, so stahl sie. Der Muselmann zerriss seine Decke, um sich daraus Fußlappen und ein Kopftuch zu machen. Sie wußte, daß diese Missetat auffliegen, daß sie harte Prügel dafür bekommen und daß die ganze Baracke ihretwegen zu leiden haben würde – aber all das kümmerte sie nicht. Sie kümmerte nichts außer Essen und Schutz vor Kälte. Wenn sie keine Decke hatte, umwickelte sie den Kopf mit Handtuchfetzen. Die Blockälteste riß ihr diese Lumpen vom Kopf und bearbeitete sie mit Fäusten, aber das kümmerte sie nicht. Sie senkte träge den Kopf unter den Schlägen, um danach zu überlegen, wie sie sich neue Lappen beschaffen könnte. Sie ging schleppend, zog die Holzschuhe hinter sich, gekrümmt, mit unkoordinierten Bewegungen. Der Muselmann kannte weder Scham noch Sitte. Sie erledigte ihre Notdurft dort, wo sie gerade stand; sie versuchte gar nicht erst, noch den Abtritt zu erreichen. Appell, Blöcke, Pritsche – ihr war alles recht. Dafür wurde sie wieder furchtbar geschlagen, und es kümmerte sie wieder nicht. Fragen beantwortete sie mit einem unklaren Brummen. Odysseus sah seine Gefährten, die von Circe in Ferkel verwandelt worden waren, voller Entsetzen an. Mit ungleich viel größerem Entsetzen betrachteten die übrigen Häftlinge, die noch Menschen waren, den Muselmann. Was war erst, wenn man in den stumpfen, apathischen Zügen, ein vertrautes Gesicht erkannte, wenn man bemerkte, daß dieses pathologische Wesen noch vor kurzem eine kräftige, bezaubernde, intelligente Frau gewesen war! Derselbe unglückliche Muselmann […] Der Anblick der Muselmänner mußte den Deutschen helle Freude bereiten, mehr noch als der Anblick von Leichen. Töten, ha, das ist leicht, aber einen lebendigen Menschen so zurichten, das schafft man nur durch lange, konsequente Arbeit. Das war der Triumph von Auschwitz.⁷¹
Vgl. Ryn/Kłodziński: An der Grenze zwischen Leben und Tod, – . Zofia Kossak nach Ryn/Kłodziński: An der Grenze zwischen Leben und Tod, f.
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Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt am Main, 2003. Aharony, Michal: Hannah Arendt and the Idea of Total Domination, in: Holocaust and Genocide Studies 24/2, 2010, 193 – 224. Arendt, Hannah: The image of hell, in: Commentary 2/3, 1946, 291 – 295. Arendt, Hannah: Das Bild der Hölle, in: Geisel, Eike/Bittermann, Klaus (Hrsg.): Nach Auschwitz. Essays und Kommentare 1, Berlin, 1989, 49 – 62 (dt. erstmals 1946). Arendt, Hannah: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Geisel, Eike/Bittermann, Klaus (Hrsg.): Nach Auschwitz. Essays und Kommentare 1, Berlin, 1989, 7 – 30 (dt. erstmals 1950). Arendt, Hannah: Social science techniques and the study of concentration camps, in: Essays in Understanding 1930 – 1954, New York, 1994, 232 – 247 (erstmals 1950). Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, New York, 1951. Arendt, Hannah: Die menschliche Natur steht auf dem Spiel: Hannah Arendts „Vorwort“ und „Abschließende Bemerkungen“ zur ersten Auflage von The Origins of Totalitarianism, in: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, Kommentar von Ingeborg Nordmann, hrsg. vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden, 1998, 11 – 32. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 4. Aufl. der Neuausgabe 1986, München, 1995 (dt. erstmals 1955). Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl. der unv. Taschenbuchausgabe 1981, München, 1996 (dt. erstmals 1960). Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 9. Aufl. der Neuausgabe 1986, München, 1995 (dt. erstmals 1964). Arendt, Hannah: Denktagebuch 1950 bis 1973. 2 Bände, hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut Dresden, München, 2002. Arendt, Hannah/Voegelin, Eric: Kontroverse Ansichten: Der Disput zwischen Hannah Arendt und Eric Voegelin über das Totalitarismusbuch, in: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, Kommentar von Ingeborg Nordmann, hrsg. vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden, 1998, 33 – 52. Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926 – 1969, hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München, 21987. Heidegger, Martin: Das Ge-Stell, in: Bremer und Freiburger Vorträge (= Gesamtausgabe, Bd. 79), hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt am Main, 2005, 24 – 45 (erstmals 1949). Heidegger, Martin: Die Gefahr, in: Bremer und Freiburger Vorträge (= Gesamtausgabe, Bd. 79), Frankfurt am Main, 1949/2005, 46 – 67. Hilberg, Raul: The Destruction of the European Jews, Chicago, 1961. Howes, Dustin Ellis: „Consider if this is a person“: Primo Levi, Hannah Arendt, and the political significance of Auschwitz, in: Holocaust and Genocide Studies 22/2, 2008, 266 – 292. Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Neuausgabe, München, 1974 (erstmals 1946). Krüger, Hans-Peter: Die condition humaine des Abendlandes. Philosophische Anthropologie in Hannah Arendts Spätwerk, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55, 2007, 605 – 626. Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München, 112002.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Christian Bermes, geb. 1968, studierte Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaft in Trier, Frankfurt und Madrid. Seit 2010 Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau; Sprecher der Graduiertenschule „Herausforderung Leben“ und des Forschungsschwerpunktes „Kulturelle Orientierung und normative Bindung“. Herausgeber des „Archivs für Begriffsgeschichte“. Forschungsgebiete: Phänomenologie, Sprach- und Erkenntnistheorie, Philosophische Anthropologie; Veröffentlichungen: Philosophie der Bedeutung (1997), Merleau-Ponty (3. Auflage 2012), Welt als Thema der Philosophie (2004), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts (2016). Thiemo Breyer, geb. 1981, studierte Philosophie, Kognitionswissenschaft, Historische Anthropologie und Ethnologie in Freiburg und Cambridge. Seit 2014 ist er Juniorprofessor an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities der Universität zu Köln und Leiter der Nachwuchsforschergruppe „Transformations of Knowledge“. Forschungsgebiete: Phänomenologie, Philosophische Anthropologie, Philosophie des Geistes. Wichtigste Veröffentlichungen: On the Topology of Cultural Memory (2007), Attentionalität und Intentionalität (2011), Verkörperte Intersubjektivität und Empathie (2015). R. Thomas Dürr, geb. 1974, studierte Geschichte, Philosophie, und Lateinische Philologie in Halle/Saale, Freiburg und Kiel. Seit 2016 ist er Referendar im Schuldienst. Forschungsgebiete: Erkenntnistheorie, Handlungstheorie, Geschichte und Theorie der modernen Gesellschaft. Wichtigste Veröffentlichung: Hannah Arendts Begriff des Verzeihens (2009). Tobias Eichinger, geb. 1975, studierte Philosophie und Filmwissenschaft in Erlangen und an der Freien Universität Berlin. Seit 2014 ist er Oberassistent am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte an der Universität Zürich. Forschungsgebiete: Ethische und anthropologische Fragen der modernen Medizin, Enhancement und Medikalisierung, Medizin und Medizinethik im Film. Wichtigste Veröffentlichungen: Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin – Ethische Herausforderungen der technisierten Fortpflanzung (Hg., 2013), Jenseits der Therapie (2013), Leid und Schmerz – Konzeptionelle Annäherungen und medizinethische Implikationen (Hg., 2015). Roberto Esposito, geb. 1950, studierte Philosophie an der Università degli Studi di Napoli Federico II. Seit 2014 ist er Professor für Theoretische Philosophie an der
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Università degli Studi di Napoli „L’Orientale“ (UNIOR). Forschungsgebiete: Politische Philosophie (Schwerpunkt Biopolitik). Wichtigste Veröffentlichungen: Pensiero vivente (2010), Due. La macchina della teologia politica e il posto del pensiero (2013), Le persone e le cose (2014), Da fuori. Una filosofia per l’Europa (2016) Petra Gehring, geb. 1961, studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaften in Gießen, Marburg und Bochum. Seit 2002 ist sie Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt. Buchveröffentlichungen mit Bezug zu Biopolitik und Neuroforschung: Was ist Biomacht? (2006), Traum und Wirklichkeit (2008). – Demnächst erscheint: Träumen und Wachen im Schlaflabor. Die verschachtelte Realität des Lucid Dreaming. In: Patricia Oster-Stierle u. a. (Hrsg.): Traumkulturen. Volker Gerhardt, geb. 1944, ist Seniorprofessor für Praktische Philosophie an der HU Berlin, Ehrendoktor der Universität Debrecen und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie Wissenschaften. Von 2002 bis 2010 war er deren Vizepräsident und hat von 2001 bis 2013 die Wissenschaftliche Kommission der Union der Akademien geleitet. Von 2001 bis 2012 war er Mitglied im Deutschen Ethikrat. Seine neueren Monographien sind Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins (2012), Der Sinn des Sinns.Versuch über das Göttliche (2014), Licht und Schatten der Öffentlichkeit.Voraussetzungen und Folgen der digitalen Innovation (2014) sowie Wissen und Glauben (2016). Hans Werner Ingensiep, geb. 1953, studierte Biologie und Philosophie an der Universität Bonn und arbeitete u. a. von 1990 – 1996 am Kulturwissenschaftlichen Institut, Essen. Seit 2003 ist er Prof. für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Biophilosophie, Bioethik und Geschichte der Lebenswissenschaften.Wichtige Veröffentlichungen: Geschichte der Pflanzenseele (2001), Der kultivierte Affe (2013), Das Tier (2015). Franziska Krause, geb. 1982, studierte Philosophie und Germanistik in Leipzig und Cagliari. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg, wo sie 2015 mit einer Arbeit über die Care-Ethik und Emmanuel Levinas promovierte. Forschungsgebiete: Medizinethik, Care-Ethik, Phänomenologie. Jeff Malpas, geb. 1958, studierte Geschichte und Philosophie an der University of Auckland. Seit 2012 ist er Professor für Philosophie an der University of Tasmania und regelmäßiger Gastprofessor an der Latrobe University. Forschungsgebiete:
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Moralphilosophie, Politische Philosophie, Anthropologie. Wichtigste Veröffentlichungen: Heidegger’s Topology (2006), Place and Experience (2007), Heidegger and the Thinking of Place (2012). Oliver Müller, geb. 1972, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften in Heidelberg, Hamburg,Venedig und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Derzeit ist er Heisenberg-Stipendiat am Philosophischen Seminar der Universität Freiburg sowie Principal Investigator und Nachwuchsgruppenleiter im Exzellenzcluster BrainLinks–BrainTools. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a.: Philosophische Anthropologie, Technik- und Naturphilosophie, Ethik. Wichtigste Monografien: Sorge um die Vernunft (2005), Zwischen Mensch und Maschine (2010), Selbst,Welt und Technik (2014). Matthew Ratcliffe, geb. 1973, studierte Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der University of Cambridge. Seit 2015 ist er Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Wien, davor war er Professor für Philosophie an der University of Durham. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Philosophie der Psychiatrie und Psychopathologie, Philosophie des Geistes. Wichtigste Publikationen: Rethinking Commonsense Psychology (2007), Feelings of Being (2008), Experiences of Depression (2015). Carolin Schwegler, geb. 1984, studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Heidelberg. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (CERES) an der Universität zu Köln. Forschungsgebiete: Argumentationstheorie, Rhetorik, Umwelt- und Medizinethik, Gerechtigkeitstheorien. Veröffentlichungen u. a. im Journal for Environmental Studies and Sciences, in der Jubiläumszeitschrift des Forschungsnetzwerkes „Sprache und Wissen“ und in der Reihe „Initiativen zum Umweltschutz“. Andreas Urs Sommer, geb. 1972, leitet die Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und lehrt Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Zu seinen wichtigen Buchveröffentlichungen gehören: Der Geist der Historie und das Ende des Christentums (1997), Geschichte als Trost (2002), Die Kunst, selber zu denken (22003), Sinnstiftung durch Geschichte? (2006), Die Kunst des Zweifelns (32008), Die Kunst der Seelenruhe (22010), Lexikon der imaginären philosophischen Werke (2012), Kommentar zu Nietzsches Werken Der Fall Wagner / Götzen-Dämmerung (2012), Kommentar zu Nietzsches Werken Der Antichrist / Ecce homo / Dionysos-Di-
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thyramben / Nietzsche contra Wagner (2013), Kommentar zu Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (2016), Werte (2016). Evan Thompson, geb. 1962, studierte Asian Studies im Amherst College und Philosophie an der University of Toronto. Seit Juli 2013 ist er Professor für Philosophie an der University of British Columbia in Vancouver, davor war er Professor an der University of Toronto. Forschungsgebiete: Kognitionswissenschaften, Philosophie des Geistes, Phänomenologie, Interkulturelle Philosophie (mit Schwerpunkt auf der Philosophie Asiens). Wichtigste Veröffentlichungen: The Embodied Mind (1992), Colour Vision (1995), Mind in Life (2010), Waking, Dreaming, Being (2014).
Sachregister Adaptivity 25, 28, 30, 37 Affective entrainment 26, 31, 36 – 38 Antiklerikalismus 206 Antimodernismus 203 Antisemitismus 261 – 263 Autopoiesis 25 – 28, 30 f., 35 f., 40 Bacterial Chemotaxis 34 Begriff – Ordnungs- 1 – Funktions- 1 – 3 – Form- 13, 15 – Zuschreibungs- 13 – Eigenschafts- 17, 19 – Grenz- 17, 257 Bewusstseinsfähigkeit 12 Bioethos 237, 242, 244, 248 f. Brain/Neuro-enhancement 106, 109, 118 Determinismus – Neuro- 115 Dynamis 163 Eigenschaft – attributive – 17 – 19 – prädikative – 17 – 19 Eltern-Kind-Beziehung 147 f. Embodiment 43, 161 – 166 Emotionalisierung 147 Empathie(fähigkeit) 114, 147 – 153 Empfindung 11 – 13, 64, 148, 254 Enactive view 26 Entpersonalisierung 98 Equilibrium 29 Eugenik 44, 120 Exteriority 25, 30 – 32, 36 Feeling – existential – 169 f., 174 – 189 – bodily – 169, 170 – 172 – emotional – 172 f. – noematic – 173, 176 Formalismus 18
Generation 30, 93, 102 f., 125 – 153 passim Generationengerechtigkeit 124 – 129, 134 – 139, 142 – 144, 149 – 153 Genetik/Genomik 107, 109 Gerechtfertigtes Töten 228 Gesetz – der natürlichen Künstlichkeit 43 – 61 – der vermittelten Unmittelbarkeit 21, 51 – des utopischen Standortes 21, 51 Glück 22, 76, 132 f., 143, 255 Hämatophagie 196 Heroismus 5, 237 f., 242 – 244, 247, 249, 252, 255, 257 Herz-Kreislauf-Stillstand 226, 229 Hirntod – ‐diagnose 222 – ‐konzept 222, 225, 229 f. – ‐kriterium 89, 91, 220 – 231, 252 Humanismus – Altro- 244, 252, 254 – Anti- 237, 244, 249, 250, 253, 258 – Telos- 244, 250 – Trans- 244, 247, 258 – Sub- 237 – 239, 242 – 244 Hybridisierung 6 Intellektivität 4 Intellektualismus 2 Interiority 25, 30 – 32, 36 Kapitalienansatz 133 f. Kategorienfehler 20, 74 Konzentrations-/ 260, 263 – 267, Vernichtungslager 270 – 274 Leben – biologisches – 93 – 98, 101 f., 118 – Degeneration des – 118 – Gouvernementalisierung des – 96 – politisches – 93 – 95, 100, 102 – lebendige Leichname 259, 262 – 274 Lebenszusammenhang 73, 75, 78, 89, 90 – 92
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Sachregister
Leib-Seele-Problem 3 Leidensfähigkeit 12 Liminality 161, 163 – 167 Locked-In-Syndrom 239 f. Materialität 4 Menschenwürde 237, 239, 256 f., 271 Metabolism 28, 32 Muselmann 259, 260, 268, 270 – 275 Nachhaltigkeit 126, 134, 140 – 146 Narrative – autobiographical – 169 f., 183 – 186 – form(ation) 169 f., 181 – 187 – first-person – 170, 177 f., 180 – 183 – depression – 183 f., 188 – self – 170, 180, 184 – 188 – time 185 – coherent – 186 – symptom-integrating – 188 Neurojurisprudenz 114 Neurokriminologie 105, 118, 120 Ökonomismus
237
Panpsychism 25 f., 38 – 40 Parasitismus 206, 209 – 211 Pathologisierung 111, 115, 117 Politik – Bio- 93 f., 99 – 106, 117 f., 280 – Neuro- 106 – politischer Körper 95, 117 f. – Thanato- 100 Positionalität 19 – 21, 45, 50 – 52, 57, 61, 66 Psychiatric Illness 169, 177 f., 182 Psychoanalyse 120 Reduktionismus
Selbstorganisation 3, 52, 73, 107 Sense-Making 25 f., 33 – 38, 40 Solidarität 124 f., 139, 143, 237 Spacedness 162 f. Sprachlogische Analyse 18 Stellvertretende Anerkennung 152 Stellvertretende Entscheidung 80 Technik – Bio- 118 f. – Phänomeno- 5 Temporality 33, 38, 162 f. Threshold 161 – 165, 168 Totalitarismus 261 f., 266 Tote-Spender-Regel 227 – 229 Transplantationsmedizin 90 – 92, 218, 221, 223, 227, 229, 231 f., 250 Umwelt-und Naturschutz 151 – 153
124, 136, 145 f.,
Vampirismus – endemisch – 203 – epidemisch – 205 – Metaphorik 206, 210 f. – Vorwurf 202, 206, 209 f. Vegetative Funktionen 96 Vegetieren 238 – 255, 257 Verhalten – altruistisches – 135, 151 – egoistisches – 135 – individuelles – 135 Verlebendigung des Technischen 5 Vernunft – praktische – 13 – 15, 19 – 22, 244 – 246 – theoretische – 15 Vitalismus 97
39, 74
Selbst 45, 47, 51, 53 – 59, 64 – 66 Selbstbestimmung 73 – 85, 87 – 91, 255, 257, 272
Wachkoma 237 – 239, 243, 245, 248 – 257 Wohl 22, 76, 85, 124, 132 – 135, 139, 142 – 144
Personenregister Agamben, Giorgio 117 f., 271, 273 Aharony, Michal 272 Arendt, Hannah 5, 94, 257, 259 – 275 Aristoteles 127, 133, 230, 242 Bandini, Giovanni/Ditte 194 Barandiaran, Xabier 30 Barbas, Paul 193 Barry, Brian 131 Baudelaire, Charles 198 Bayertz, Kurt 44, 222 Beresfords, Matthew 194 Bettelheim, Bruno 264 Bichat, Xavier 93, 96 f. Bierhals, Erich 138, 146 f. Binding, Rudolf G. 100 Birnbacher, Dieter 127, 131 Bismarck, Otto von 196 Bowden, Hannah 183 Brenner, Andreas 229 Browning, John Edgar 194 Brusotti, Marco 193 Bunsons, Matthew 194 Cardea 162 Cassirer, Ernst 1 – 3, 43, 45, 54 f.66 Clare, John 178 Darwin, Charles 93, 96, 98 – 100, 242 Davies, Douglas 181 Deleuze, Gilles 38 Descartes, René 49, 147, 162 Deussen, Paul 199 f. Di Paolo, Ezequiel 27 f., 35 Döring, Ralf 134 Ekardt, Felix 126, 136, 149 Emerson, Ralph Waldo 203, 208 Foot, Philippa 22 f. Forculus 162 Foucault, Michel 94 – 96, 102, 117 – 120 Friedrich, Casper David 165
Galilei, Galileo 147 Geach, Peter 17 – 19 Gehlen, Arnold 11, 13 – 20, 53 Gehring, Petra 220, 222 Geisler, Linus 223, 228 Gelb, Adhémar 2 Gerhardt, Volker 3, 47 Gobineau, Arthur de 99 Goldie, Peter 171 Goldstein, Kurt 2 Guileys, Rosemary Ellen 194 Hagner, Michael 106 Haq, Mahbub ul 134 Harker, Jonathan 193 Heidegger, Martin 22, 54, 163, 250 Heit, Helmut 193 Hermes 162 Hestia 162 Heubach, Andrea 130 Hilberg, Raul 267 Hobbes, Thomas 93 – 97 Hobson, Richmond Pearson 180 Hoche, Hans-Ulrich 100 Höffe, Ottfried 125 Hösle, Vittorio 152 Humboldt, Wilhelm von 200 Husserl, Edmund 171, 175 James, William 179 Jaspers, Karl 177, 182, 265 Jonas, Hans 127, 221, 231, 237, 239, 243, 250 – 252 Kant, Immanuel 44, 74, 78, 237, 239, 243 – 247, 252 – 257 Keep, Philip 223 Kepler, Johannes 147 Klass, Tobias Nikolaus 195 Köchy, Kristian 107 Köhler, Wolfgang 2 Kungl, Carla T. 194
286
Personenregister
Lamarck, Jean-Bapiste de 96 Lecouteuxs, Claude 193 Leder, Drew 172 Levi, Primo 271 Levinas, Emmanuel 237, 239, 243 f., 252 – 257 Lima 162 Limentius 162 Lippert, Julius 197 List, Elisabeth 5, 45, 47 f., 52, 56 f., 66 Liszt, Franz von 116, 120 Lott, Tim 181 Löwenthal, Leo 264 Markowitsch, Hans J. 114 Marschner, Heinrich 198 Martin, Michael 172 Marx, Karl 237 Maupassant, Guy de 197 Meltons, John Gordon 194 Merkel, Angela 139 – 141 Merleau-Ponty, Maurice 2, 3, 25, 28 f., 33 f., 38 – 40, 177 Meyer, Stephenie 194 Miller, Frank G. 225 – 231 Montesquieu (Charles-Louis de Secondat) 99 Moreno, Alvaro 30 Nietzsche, Friedrich 53, 167, 193 – 212, 237 – 239, 243 – 249, 252, 257 Northoff, Georg 173 O’ Shaughnessy, Brian Ott, Konrad 134, 149 Oyama, Susan 31
172
Panskepp, Jaak 173 Parfit, Derek 130 Petitot, Jean 39 Picart, Carolin Joan (Kay) 194 Plessner, Helmut 11, 13 – 22, 43, 45, 48 – 53, 57, 61, 63 – 66 Polidoris, John 198 Presner, Todd Samuel 270, 274 Protevi, John 25 – 27, 31, 36, 38
Radden, Jennifer 188 Rauh, Raphael 193 Rawls, John 127, 131 Renan, Ernest 205, 207 Rickels, Laurence A. 195 Rickert, Heinrich 237, 239, 243, 249 f. Riley, Denise 184 – 186 Roth, Gerhard 111, 119 Rousseau, Jean-Jaques 97, 237 Sartre, Jean-Paul 172 Sass, Louis A. 176 Scheler, Max 11, 13 f., 16 – 19 Schiavo, Terri 237, 239 f. Schopenhauer, Arthur 97, 148, 208, 247 Schulze-Wesel, Julia 263 Serres, Michel 206 Siefer, Werner 114 Simmel, Georg 4 Singer, Peter 19, 237, 239, 243, 244, 253 – 257 Singer, Wolf 111, 119 Slaby, Jan 179 Slote, Michael 150 Smith, Benedict 183 Sofsky, Wolfgang 270 f. Solomon, Robert C. 171 Speer, Albert 182 Spencer, Herbert 99 Spengler, Oswald 5 Spinoza, Baruch de 74, 202 f. Stocker, Bram 196 Stocker, Michael 171 Stoecker, Ralf 230 – 232 Sturm, Dieter 193 Thom, René 39 Thomas von Aquin 127 Toulmin, Stephen 217 f., 230 f. Traverso, Enzo 264, 266 Tremmel, Jörg 128 – 135 Truog, Robert 225 – 229 Turner, Victor 162 Tylors, Edward Burnett 197 Uexküll, Jakob von
2, 34
Personenregister
Varela, Francesco 25 – 27, 30 f., 36, 107 Voegelin, Eric 273 Völker, Klaus 193
Wagner, Richard 204, 211 f. Welton, Donn 25 – 27, 31, 35 – 38 Whitehead, Alfred North 38 Zieger, Andreas
256
287