223 55 12MB
German Pages 438 [448] Year 1987
Eckhard Grunewald Friedrich Heinrich von der Hagen 1780-1856
w DE
G
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von
Stefan Sonderegger
23
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988
Eckhard Grunewald
Friedrich Heinrich von der Hagen
1780-1856 Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
ClP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Grunewald, Eckhard: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780—1856 : e. Beitr. zur Frühgeschichte d. Germanistik / Eckhard Grunewald. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1988 (Studia Linguistica Germanica ; 23) Zugl.: Köln, Univ., Habil.-Schr. ISBN 3-11-010785-6 NE: GT
Copyright 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 — Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
F. Η. von der Hagen Lithographie von Engelbach SBPK Berlin (Nachl. 141, Slg. Adam, K. 60)
Vorwort Die vorliegende Monographie wurde im Jahre 1984 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift angenommen und im Sommer 1986 noch einmal aktualisierend für den Druck überarbeitet. Allen an der Entstehung, Fertigstellung und Drucklegung des Werks Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Besonderer Dank gilt den Bibliotheken und Archiven für die Unterstützung bei der Suche nach handschriftlichen Dokumenten und die vielfach ohne Auflagen gewährte Publikationserlaubnis; der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Bewilligung eines großzügigen Druckkostenzuschusses; Stefan Sonderegger für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Studia Linguistica Germanica"; den Mitarbeitern des Verlages Walter de Gruyter für die gewissenhafte Ausführung des Drucks; meinen Freunden und Kollegen für vielfaltige Anregungen und Mitteilungen; in Köln vor allem Hansjürgen Linke für freundliche Aufmunterung und Kritik sowie die Gewährung des akademischen „Freiraums", ohne den diese Untersuchung kaum hätte durchgeführt werden können. Danken möchte ich schließlich meiner Frau und meiner Tochter für das Verständnis und die Geduld während der Jahre des keineswegs immer erquicklichen Zusammenlebens mit Friedrich Heinrich von der Hagen: Ihnen sei das Buch gewidmet. Düsseldorf, im Oktober 1986
E. G.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Abkürzungsverzeichnis Einleitung: Friedrich Heinrich von der
XI HAGEN
im Urteil der Zeit. .
1
1. Lebensbild 1.1 Kindheit, Schul-und Studienzeit (1780-1801) 1.2 Erster Berlinaufenthalt (1801-1811) 1.3 Breslauer Jahre (1811-1824) 1.4 Zweiter Berlinaufenthalt (1824-1856) 1.5 Anhang: Briefe zum beruflichen Werdegang
10 10 12 20 25 28
2. Nibelungen-Forschungen 2.1 Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuer Ausgabe dieses Epos (1805) 2.11 Vorgeschichte: Von Johann Jakob BODMER bis Johannes von
34
MÜLLER
2.12 Grundsätze der „Wiedererweckung und Erneuung" 2.2 Der Nibelungen Lied (1807) 2 . 2 1 Konkurrenz mit Ludwig T I E C K 2.22 Einrichtung des Textes 2.23 Resonanz und Verkaufserfolg 2.24 Intention: „Der Bogen liegt da; spanne ihn, wer mag." . . . 2.25 Anhang: Verlagskorrespondenz 2.3 Der Nibelungen Lied in der Ursprache (1810) 2.31 Entstehungsgeschichte 2.32 Herstellung des Textes „in seiner alten Herrlichkeit und Reinheit" 2.33 Rezeption und Kritik 2.4 Der Nibelungen Lied, %um erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Handschrift (1816) 2.41 Neue Nibelungen-Handschriften 2.42 Das Nibelungenlied in seiner „ältesten Gestalt" 2.43 Von Friedrich BOUTERWEKS Lob zu Karl L A C H M A N N S Tadel 2.5 Der Nibelungen Noth %um erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Urschrift (1820) 2.51 Entstehungs- und Druckgeschichte
34 34
38 45 45
50 53 59 64 69 69 70 76 79 79 82 85 88 88
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.52 Prinzipiell der Edition 90 2 . 5 3 Karl LACHMANNS Kritik 95 2.6 Der Nibelungen Lied (1824) 97 2.7 Der Nibelungen Lied in der alten vollendeten Gestalt (1842) und Die Klage (1852) 101 2.8 Studien zu Mythos und Geschichte der Nibelungen 109 2.9 HAGENS Nibelungen-Forschungen in ihrer Zeit 117 3. Heldenbuch-Projekt 3.1 Der Helden Buch I (1811) 3 . 1 1 Kooperation mit Ludwig TIECK 3.12 Auswahl und Einrichtung der Texte 3.2 Der Helden Buch in der Ursprache {Deutsche Gedichte des Mittelalters II) (1820-1825) 3.21 Das Heldenbuch — ein Opfer der „Papiernot" 3.22 Probleme der Textedition 3.3 Heldenbuch. Altdeutsche Heldenlieder aus dem Sagenkreise Dietrichs von Bern und der Nibelungen (1855) 3.4 Heldenbilder (1819 — 1823) 4. Editionen mittelhochdeutscher Texte: Von der Sammlung scher Gedichte zum Gesammtabenteuer 4.1 Deutsche Gedichte des Mittelalters I (1808)
Altdeut-
4.11 Fortsetzung und Neubeginn der MYLLERschen Samlung
4.12 4.13 4.14 4.2 4.21
4.22 4.23 4.3 4.31 4.32 4.33
4.34 4.35 4.36 4.4 4.41
123 123 123
129 134 134 139 143 149 158 158
deut-
scher Gedichte Konzeption und Aufbau Ziel: Eine „so viel als möglich kritische Ausgabe" Zeitgenössisches Echo Gottfrieds von Strassburg Werke (1823) Eberhard von GROOTE als „Nebenbuhler der schönen Isolde" Texteinrichtung von Gottfrieds Tristan Kritik: „Dilettantenwerk für Dilettanten" Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts (1838) Von den Minneliedern zur Gesamtausgabe des Minnesangs . . Gliederung der Sammlung Karl LACHMANN als Konkurrent Rezeption: „multa; sed non multum" Fortsetzung und Beschluß: Bildersaal Altdeutscher Dichter (1856-1861) Anhang: Dokumente zur Entstehungsgeschichte Gesammtabenteuer (1850) Entstehungs- und Druckgeschichte
158 161 163 169 172 172 179 183 185 185 192 199
203 209 216 222 222
Inhaltsverzeichnis
IX
4.42 Altdeutsches „Decamerone" 225 4.43 „Darstellung" der Texte 232 4.5 Ausklang: Der angenähte graue Rock Christi (1844) und Ludwig's des Frommen Kreurfahrt (1854) 239 5. Nordica 5.1 Nordische Studien der Jahre 1805-1810 5.2 Lieder aus dem Altdänischen (1810) 5.3 Lieder der älteren oder Sämundischen Edda (1812) 5.4 Die Edda-Lieder von den Nibelungen (1814/15) 5.5 Nordische Heldenromane (1814—1828)
243 243 246 247 253 258
6. „Volkslied"- und „Volksbuch"-Studien 6.1 Sammlung Deutscher Volkslieder (1807) 6.11 „Supplement des Wunderhorns" 6.12 Definition des „Volkslieds" 6.13 Aufbau der Sammlung 6 . 1 4 HAGEN und ARNIM als „Volkslied"-Bearbeiter 6.15 Die Volkslieder im Urteil der Zeitgenossen 6.16 Fortsetzung: Sammlung Deutscher Volkslieder II 6.17 Anhang: Inhaltsübersicht der Sammlung Deutscher Volkslieder II 6.2 Buch der Liebe (1809) 6.21 Entstehungs- und Druckgeschichte 6.22 Definition des „Volksbuchs" 6.23 Einrichtung der Texte 6.24 Aufnahme und Wirkung 6.25 Supplement zum Buch der Liebe·. Narrenbuch (1811)
264 264 264 269 270
7. Literatur- und sprachgeschichtliche Forschungen 7.1 Projekt eines Handwörterbuchs der Altdeutschen Sprache 7.2 Literarischer Grundriß %ur Geschichte der Deutschen Poesie (1812) 7.21 Vorstufe: Literarische Übersicht (1808) 7.22 Gliederung „nach dem Inhalt und den Gegenständen" . . . 7.23 Urteil der Mit- und Nachwelt 7.24 Anhang: Bericht von der Bibliotheksreise 1807 7.3 Vom Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst (1809 — 1811) zur Germania (1836—1853)
274
278 281 284 288 288 290 294 297 301 304 304 308 308 310 320 323 327
Schluß: Friedrich Heinrich von der HAGEN und die Entwicklung der Germanistik im frühen 19. Jahrhundert 337 Briefverzeichnis ( B 1 - 5 6 8 )
350
X
Inhaltsverzeichnis
Werkverzeichnis ( W 1 - 2 8 6 )
371
Literaturverzeichnis (L1—497)
395
Personenregister
422
Abkür2ungsver2eichnis A Abhandlungen ADB AfdA Anz. ATB Β DGMI DU DVjS Ε Eunomia F FDH GA GAG Germ. GGA GLL GRM HALZ HB 1811 HB 1820 HB 1855 HJbb HMS Idunna JALZ Κ Ko Kob Kunst-Blatt L
Absender Abhandlungen der Kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Philologische und historische Abhandlungen Allgemeine Deutsche Biographie Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur (Subskriptions-)Anzeige Altdeutsche Textbibliothek Brief/Briefverzeichnis Deutsche Gedichte des Mittelalters I (W 3) Der Deutschunterricht Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Empfanger Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts Fragment Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts Gesammtabenteuer (W 49) Göppinger Arbeiten zur Germanistik Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde Göttingische Gelehrte Anzeigen German Life and Letters Germanisch-romanische Monatsschrift [Hallesche] Allgemeine Literatur-Zeitung Der Helden Buch (W 7) Der Helden Buch (W 23) Heldenbuch (W 53) Heidelbergische Jahrbücher der Literatur Minnesinger (W 43) Idunna und Hermode. Eine Alterthumszeitung Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung Konzept Kopie Kopierbuch Kunst-Blatt. [Beilage zum] Morgenblatt für gebildete Stände Literaturverzeichnis
XII
LLZ Monatsberichte Monatshefte Morgenblatt MTU NBZ NDB N L 1805 N L 1807 N L 1810 N L 1816 N L 1820 N L 1824 N L 1842 NLA o.D. o. Dr. o.J. o.M. o. O. o.T. Pantheon PBB Rez. Τ Tko W WALZ WJbb WW ZfdA ZfdPh
Abkürzungsverzeichnis
Leipziger Literatur-Zeitung Bericht[e] über die zur Bekanntmachung geeigneten Verhandlungen der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin Monatshefte für deutschen Unterricht (ab 1946: für deutsche Sprache und Literatur) Morgenblatt für gebildete Stände Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Neue Breslauer Zeitung Neue Deutsche Biographie Das Lied der Nibelungen (W 57) Der Nibelungen Lied (W 1) Der Nibelungen Lied (W 6) Der Nibelungen Lied (W 17) Der Nibelungen Noth (W 25) Der Nibelungen Lied (W 32) Der Nibelungen Lied (W 46) Neuer Literarischer Anzeiger ohne Datum ohne Druckerangabe ohne Jahr ohne Monat ohne Ort ohne Tag Pantheon. Eine Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Rezension Teilabdruck Teilkopie Werk /Werkverzeichnis Wiener Allgemeine Literatur-Zeitung [Wiener] Jahrbücher der Literatur Wirkendes Wort Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie
Einleitung: Friedrich Heinrich von der H A G E N im Urteil der Zeit Während der Name L A C H M A N N S jedem Gymnasiasten vertraut sei, wisse kaum der gelehrte Philologe H A G E N S Verdienste gerecht einzuschätzen: 1 Josef K Ö R N E R S im Jahre 1911 getroffene Feststellung hat — zumindest was H A G E N betrifft — bis heute nur partiell an Gültigkeit verloren. Das zurückliegende Dreivierteljahrhundert germanistischer Wissenschaftsentwicklung nahm zwar der mit Karl L A C H M A N N S Namen verbundenen Methode der Textkritik ihre (einst bis in die Schulen reichende) dogmatische Geltung, ließ jedoch das hierzu in grundsätzlichem Widerspruch stehende editorische Werk seines Kontrahenten Friedrich Heinrich von der H A G E N weiterhin im Abseits liegen. Zu Beginn unseres Jahrhunderts, als sich K Ö R N E R erstmals um eine Rehabilitierung H A G E N S bemühte, war dessen literaturwissenschaftliche Leistung beinahe gänzlich in Vergessenheit geraten. Man griff zwar weiterhin auf die Textausgaben der Minnesinger (1838) und des Gesammtabenteuers (1850) zurück und benutzte den Leiterarischen Grundriß^ur Geschichte der Deutschen Poesie (1812), war aber im übrigen bestrebt, den Begründer und Mitgestalter der frühen Universitätsgermanistik in die Randzonen der germanischen Philologie abzudrängen. Bereits 1865 hatte Wilhelm S C H E R E R versucht, jede Verbindung H A G E N S zur Gegenwart abzuschneiden: Friedrich Heinrich von der Hagen ist das Urbild der heutigen altdeutschen Philologen für's große Publikum [...]. Ein literarischer Geschäftsmann im Großen, aber ohne den Fanatismus seines Gewerbes, und deshalb weniger bösartig. Er hatte die Sorte von Fleiß welche in Vielleserei und Vielgeschäftigkeit sich äußert. Er hatte die Sorte von Kenntnissen welche durch Vielleserei und Vielgeschäftigkeit erworben wird. Er war kein treuer Arbeiter im Kleinen und Einzelnen. Er war ein höchst ungetreuer Genoß im Ganzen der Wissenschaft: die bedeutendsten Resultate die neben ihm von Anderen gewonnen wurden affectirte er bis an sein Ende nicht zu kennen oder dünkte sich groß genug sie nicht beachten zu dürfen. Er war äußerst fruchtbar an Uebersetzungen und Bearbeitungen aller Art, und ging darin selbst über den Kreis der germanischen Literatur hinaus: den arabischen Märchen ließ er ebensowohl seine Oberflächlichkeit und Sorglosigkeit zu gute kommen wie dem Nibelungenliede und den altnordischen Saga's. So hat er denn in der Wissenschaft keine anderen Spuren zurückgelassen, als welche sich noch Niemand die leichte Mühe gab zu verwischen.2
1
Vgl.
2
SCHERER
(L230), S . 129. (L393) (1. Aufl.), S . 101 f.
KÖRNER
2
Einleitung: Friedrich Heinrich von der Hagen im Urteil der Zeit
SCHERERS Kritik der Ungeduld, Ungenauigkeit, Unredlichkeit und Unbelehrbarkeit — insgesamt ein beinahe lückenloses philologisches Sündenregister — summiert in bissiger Überzeichnung die Vorwürfe, denen sich HAGEN während der meisten Zeit seines Lebens und Schaffens ausgesetzt sah. Wohlwollendere Urteile — sieht man von Freundlichkeiten aus dem näheren Bekanntenkreis3 ab — begleiteten sein Wirken nur in den ersten Jahren. Damals würdigten ihn Achim von A R N I M , Friedrich SCHLEGEL und Johannes von MÜLLER als ,,eifrige[n]" 4 , ,,gelehrte[n] oder wenigstens belehrbare[n]" 5 Forscher von „sehr freundlicher und braver Gesinnung" 6 : „Niemand arbeitet so ernsthaft philologisch auf alte deutsche Zeit wie Hagen." 7 Joseph GÖRRES prophezeite: „Aus von der Hagen wird, besonders wenn die gute Aufsicht seiner Recensenten fortdauert, wohl ein tüchtiger Gelehrter werden." 8 Und selbst Jacob G R I M M , der persönlich und wissenschaftlich stets auf Distanz hielt, konzedierte HAGEN zunächst „Fleiß, Einsicht und Gelehrsamkeit"9 und schrieb ihm im Jahre 1810: „Was aus allen Ihren Unternehmungen so deutlich hervorgeht, Ihre eifrige literarische Thätigkeit, verdient gewiß allgemeine Anerkennung und muß auch Wirkung haben [...]." 10 Schon früh zeichnete sich indes ein Wandel in der Einschätzung HAGENS und seiner Leistungen ab. Fleiß und Eifer für die altdeutsche Sache wurden ihm zwar von keiner Seite und zu keiner Zeit abgesprochen, auf allgemeine Kritik stießen jedoch sein ungezügeltes Streben nach Erstveröffentlichungen („abgeschmackte Vielfresserei"11 und „Ansichreißigkeit" 12 ), sein übersteigerter Drang nach wissenschaftlicher Reputation (bei „blendendem Schein und vornehmem Wortprunk"13), sein Mangel an gedanklicher Stringenz („in Einfallen besteht sein Studieren" 14 ) und vor allem seine philologische Oberflächlichkeit und methodische Unbeweglichkeit bei der Einrichtung von Editionen („Faulheit und vages Rathen, Dilettantenwerk für Dilettanten"15): 3
Vgl. etwa HOLTEI (L197) B d . l , S.265; RAUMER (L366) Bd2, S.103f.; ATTERBOM ( L l l ) , S. 271 f.
4
KÖRNER ( L 2 2 9 ) B d . 1 , S . 3 5 7 ( J . v . MÜLLER a n COLLIN, 2 0 . 8 . 1 8 0 6 ) .
5
E b d . , B d . 2 , S . 1 7 8 (F. a n A . W . SCHLEGEL, 1 0 . 1 1 . 1 8 1 0 ) .
6
STEIG ( L 4 4 5 ) , S . 2 7 1 (ARNIM a n BRENTANO, 1 . 4 . 1 8 0 9 ) .
7
E b d . , S . 1 8 1 (ARNIM a n BRENTANO, 1 4 . 6 . 1 8 0 6 ) .
8
GÖRRES ( L 1 2 0 ) B d . 2 , S . 1 1 0 (GÖRRES a n J . GRIMM, 2 3 . 7 . 1 8 1 0 ) .
9
MÜLLER ( L 3 2 1 ) , S . , 1 7 ( J . G R I M M a n BENECKE, 7 . 1 0 . 1 8 1 0 ) .
10
STEINMEYER ( L 4 5 4 ) , S . 2 5 2 F . ( J . G R I M M a n HAGEN, 1 8 . 7 . 1 8 1 0 [ B 1 9 6 ] ) ; v g l . a u c h HINRICHS ( L 1 8 0 ) , S . 4 6 2 ( J . G R I M M a n HAGEN, 7 . 2 . 1 8 1 1
»
[B204]).
GÖRRES ( L 1 2 0 ) B d . 2 , S . 3 2 4 (GÖRRES a n J . GRIMM, 2 . 6 . 1 8 1 2 ) .
12
E b d . , S . 2 3 3 ( J . GRIMM a n GÖRRES, 1 2 . 8 . 1 8 1 1 ) .
»
BAIER ( L 1 4 ) , S . 6 8 (LACHMANN a n A . W . SCHLEGEL, 7 . 6 . 1 8 2 6 ) .
14
LEITZMANN ( L 2 7 1 ) B d . l , S . 3 9 4 (LACHMANN a n J . GRIMM, 2 5 . 5 . 1 8 2 3 ) .
15
E b d . , S . 3 9 7 (LACHMANN a n J . GRIMM, 2 5 . 5 . 1 8 2 3 ) .
Einleitung: Friedrich Heinrich von der Hagen im Urteil der Zeit
3
W. G R I M M (1810): „Hagen hat eine gewisse Noth, alles geschwind ans Licht zu bringen, als könnte es ihm genommen werden, oder als werde damit etwas nun abgethan, welche die Lust eines ruhigen Studiums ganz aufheben muß." 16 W. G R I M M (1810): „Es ist überhaupt eigen an ihm, wie er mit vielem Scharfsinn für das einzelne, mit einem recht breiten Wissen oft eine todte Ansicht für das Ganze hat."17 G Ö R R E S (1812): „[...] es ist eine wahre Besessenheit in dem Menschen herauszugeben. Gäbe er nur erst einmal eine verbesserte Auflage von sich selbst heraus."18 L A C H M A N N (1820): „Überall scheint ihn das eigentlich Philologische zu langweilen, und doch kann es der eitle nicht aufgeben. An Kenntniß und Eifer fehlts ihm nicht, aber an Ehrlichkeit [...]." 19 W. G R I M M (1827): „Was mir an ihm widersteht, ist die Art und Weise wie er es [das Edieren] betreibt, sein Mangel an eigentlich wissenschaftlichem Geist, diese verwünschte Fabrikarbeit, die mir ekelhaft seyn würde, wenn sie noch zehnmal besser wäre." 20 P F E I F F E R (1851): „[...] der Herausgeber, dessen mannigfache sonstige Verdienste um die ältere deutsche Litteratur gewiß Niemand verkennen wird, hat mit der Entwicklung der Wissenschaft, die er in seiner Jugend mit begründen half, nicht Schritt gehalten; ja es ist, als seyen alle seit 20—25 Jahren von den Brüdern Grimm, von Lachmann, W. Wackernagel und Haupt auf diesem Gebiete gemachten Forschungen und Entdekkungen spurlos an ihm vorübergegangen."21 J. G R I M M (1856): „Hagen hat sein lebenlang fleißig und eifrig, oft aber oberflächlich und immer vorlaut und großsprecherisch, nie bescheiden gearbeitet, so daß er sich sein lob selbst im voraus weggenommen hat."22 Die negativen Stellungnahmen zu Person und Schaffen H A G E N S gipfelten in der eingangs zitierten harschen Kritik, die Wilhelm S C H E R E R 1865 — gleichsam als postumes Todesurteil — dem neun Jahre zuvor (1856) verstorbenen Gelehrten nachschickte und die er 1885 in der zweiten Auflage seiner Jacob Grimm-Biographie beinahe wörtlich wiederholte und so festzuschreiben suchte.23 16
STEIG ( L 4 4 6 ) , S . 8 1 F . (W. GRIMM an ARNIM, 2 5 . 1 0 . 1 8 1 0 ) ; v g l . ders. ( L 4 4 7 ) , S. 1 1 5 ( J . GRIMM an BRENTANO, 2 4 . 9 . 1 8 1 0 ) .
17
GÖRRES ( L 1 2 0 ) Bd. 2, S. 1 4 0 (W. GRIMM an GÖRRES, 2 4 . 1 0 . 1 8 1 0 ) .
18
Ebd., S. 3 2 4 (GÖRRES an J . GRIMM, 2 . 6 . 1 8 1 2 ) .
19
LEITZMANN (L 2 7 1 ) Bd. 1, S. 1 0 0 (LACHMANN an J . GRIMM, 2 2 . 4 . 1 8 2 0 ) .
20
Ebd., Bd. 2, S. 8 2 8 (W. GRIMM an LACHMANN, 2 1 . 4 . 1 8 2 7 ) .
21
PFEIFFER: Rez. G A (W49.1), Sp.701.
22
PFEIFFER ( L 3 5 0 ) , S. 1 2 5 ( J . GRIMM an PFEIFFER, 7 . 5 . 1 8 5 6 ) .
23
Vgl. SCHERER (L393) (2. Aufl.), S . 1 7 6 f .
4
Einleitung: Friedrich Heinrich von der Hagen im Urteil der Zeit
In der Zwischenzeit hatte das von SCHERER mit überspitzter Feder skizzierte HAGEN-Bild jedoch in der öffentlichen Diskussion erste behutsame Korrekturen erfahren. In seiner 1870 erschienenen (bis heute nicht ersetzten) Geschichte der Germanischen Philologie verschwieg Rudolf von RAUMER zwar keineswegs HAGENS methodische Mängel und Unzulänglichkeiten — „die specifisch philologischen Gaben sind ihm bei aller Liebe zur Literatur und bei allen sonstigen Talenten nur in geringerem Maß zu Theil geworden" — und rügte den „peinlichen" Trotz, mit dem dieser sich gegen LACHMANNS „richtige Methode" verschlossen habe, gelangte aber insgesamt zu einer weitaus positiveren Wertung: Fassen wir schließlich unser Urtheil über Hagen's Leistungen zusammen, so werden wir seinen bedeutenden Verdiensten, seiner warmen Liebe zur Sache, seiner daraus entspringenden anregenden Thätigkeit, seinem Sammlerfleiß alle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wenige Gelehrte haben so viele Denkmäler unserer alten Literatur herausgegeben wie Hagen; noch wenigeren ist es vergönnt gewesen, so viele wichtige Werke zum erstenmal zu veröffentlichen. Aber so verdienstlich diese Bereicherung unseres Materials war, so wenig genügen Hagen's Ausgaben den strengeren Anforderungen der philologischen Kritik. 2 4 RAUMERS Gegenüberstellung von wissenschaftlichem Enthusiasmus, Sammel- und Publikationseifer auf der einen und textkritischem Unvermögen sowie methodischer Unbeweglichkeit auf der anderen Seite bestimmte in den folgenden Jahrzehnten das von den Handbüchern geprägte H A G E N Bild: Der Hinweis auf die „bewunderungswürdige Arbeitskraft" 25 , die „unermüdliche Betriebsamkeit [...], das Material der Wissenschaft zu vermehren und die Ausbreitung des Studiums zu befördern"26, und den unbeirrbaren „Glauben an die Herrlichkeit des deutschen Alterthums"27 wurde ebenso zum Gemeinplatz wie der Vorwurf des niemals überwundenen Dilettantismus28, des Mangels an „exakter Methode und genauer Sprachkenntnis"29 und der fehlenden Bereitschaft, diese Schwächen zu tilgen 30 . Den nächsten Versuch einer Neubewertung des HAGENschen Schaffens unternahm 1911 Josef KÖRNER in seiner Dissertation über die deutschen Nibelungenstudien des frühen 19. Jahrhunderts, indem er erstmals konsequent die „romantische" Komponente in dessen Wirken hervorhob — „Er
24
RAUMER ( L 3 6 6 ) ,
25
REIFFERSCHEID ( L 3 7 1 ) ,
S.582F.
26
PAUL ( L 3 4 6 ) , S . 6 5 ; v g l . REIFFERSCHEID ( L 3 7 1 ) ,
27
REIFFERSCHEID ( L 3 7 1 ) , S . 3 3 3 ; v g l . LENZ ( L 2 7 6 ) B d . 1 , S . 2 7 0 .
S.333. S.337.
28
V g l . LENZ ( L 2 7 6 ) B d . 1 , S . 2 7 0 ; REIFFERSCHEID ( L 3 7 1 ) , S . 3 3 3 ; DZIATZKO ( L 8 1 ) , S . L .
29
PAUL ( L 3 4 6 ) , S . 6 5 ; REIFFERSCHEID ( L 3 7 1 ) ,
30
V g l . LENZ ( L 2 7 6 ) B d . 1 , S . 2 7 0 ; REIFFERSCHEID ( L 3 7 1 ) ,
S.333. S.337.
Einleitung: Friedrich Heinrich von der Hagen im Urteil der Zeit
5
hatte keinen einzigen Gedanken, der nicht im romantischen Erdreich wurzelte [...]" 3 1 — und HAGEN neben L u d w i g TIECK eine „Art Mittelstel-
lung zwischen älterer und jüngerer Romantik" zuwies: „[...] auch ihm kommt es mehr auf poetischen Genuß als auf philologische Exaktheit an; das ästhetische Interesse trägt es bei ihm über das gelehrte Interesse davon." 3 2 KÖRNER übersah keineswegs die Grenzen der wissenschaftlichen K o m p e t e n z HAGENS u n d zählte ihn ausdrücklich zu den „Talenten zweiten
Ranges" 33 , stufte jedoch dessen Leistung insgesamt höher ein als seine Vorgänger: Allein eine gerecht abwägende Nachwelt wird ihm das Verdienst nicht absprechen können, den Garten bestellt zu haben, dessen Bäume erst die Brüder Grimm und Karl Lachmann veredelten. 34 [...] und wer weiß, ob Lachmann seine kritische Arbeit so gut geleistet hätte, wäre er nicht durch die Versuche gleichwie durch die Irrtümer seines Rivalen auf die rechte Bahn gewiesen worden. 35 KÖRNERS e n g a g i e r t e S t u d i e g a b d e r B e s c h ä f t i g u n g m i t HAGEN n e u e
Impulse. Im Jahre 1922 widmete Helmuth ASSMANN in seiner Dissertation über Friedrich Heinrich von der Hagen und seine Forschungen den deutschen Heldensagen dem HAGENschen Werk die bislang umfangreichste und einsichtigste Untersuchung. Er relativierte die v o n KÖRNER überbetonte „roman-
tische" Komponente und rückte statt dessen die preußisch-patriotischen, lutherisch-protestantischen Züge des Autors stärker in den Vordergrund, 36 gelangte jedoch — trotz einer Vielzahl neuer Einzelergebnisse — in der Gesamtsumme nicht wesentlich über die bereits 1870 von RAUMER erzielten Resultate hinaus: Die Art Hagens und seine Methode darzustellen, war mir bei der Arbeit das Entscheidende, und die blieb sich überall gleich. Immer erfolgt geradezu leidenschaftliche Aufnahme neuer Gebiete, emsige Erforschung der literarischen Zusammenhänge, Studien zu den Hss., notdürftige Redaktion des Textes und die Ausgabe; so bei der Ausgabe des Tristan, so bei den Minnesingern, so bei den Gesamtabenteuern, und so bei allen kleineren Veröffentlichungen. Somit ist nicht Hagen als dem Verfertiger von Textausgaben, wohl aber dem unermüdlichen Materialsammler und Ordner, dem Forscher in den Zusammenhängen der Heldensagen und endlich dem leidenschaftlichen Freund seines Volkes und
31 32 33
34 35 36
KÖRNER (L230), S.126. Ebd., S.61. Ebd., S. 60; vgl. auch S. 128 f.: „Wie Fouque in der Dichtung hat Hagen in der Wissenschaft Gutes geleistet, so lange nichts Besseres da war; sie haben dafür zu ihrer Zeit reichen Beifall gefunden, zu reichen, für den sie nachmals büßen mußten." Ebd., S. 60. Ebd., S. 129. Vgl. ASSMANN (L10), S. 3 3 - 3 5 .
6
Einleitung: Friedrich Heinrich von der Hagen im Urteil der Zeit des deutschen Altertums ein guter Platz in der Geschichte der deutschen Philologie gesichert. 37
Das wissenschaftsgeschichtliche Interesse hielt in der Folgezeit an: Sieben Jahre nach ASSMANNS Untersuchung publizierte Max HECKER (1929) unter dem Titel Aus der Früh^eit der Germanistik eine musterhaft kommentierte Ausgabe der Schreiben HAGENS an GOETHE — die bislang umfangreichste Sammeledition von HAGEN-Briefen.38 1931 entwarf Hans JESSEN in den Schlesiscben Lebensbildern die erste ins Detail gehende biographische Skizze,39 ohne jedoch zu einer entscheidenden Neubewertung der wissenschaftlichen Leistung des Germanisten zu gelangen.40 In den 40er und frühen 50er Jahren wurde es wieder still um HAGEN. Friedrich STROH überging ihn 1952 in seinem Handbuch der germanischen Philologie mit beredtem Schweigen.41 1958 widmete Lutz MACKENSEN Breslaus erstem Germanisten noch einmal eine ausführliche biographische Studie;42 im übrigen blieb aber die Beschäftigung mit HAGENS Leben und Werk — wie vor 1911 — auf Lexikonartikel und knappe Hinweise in Handbüchern beschränkt.43 Charakteristisch für den allgemeinen Stillstand in der Bewertung des HAGENschen Schaffens erscheint Adalbert ELSCHENBROICHS 1966 in der Neuen Deutschen Biographie formuliertes Urteil: H[agen] war trotz luth. Strenggläubigkeit in seiner Liebe zum Mittelalter Romantiker; die Erneuerung der Nibelungen sollte in den Jahren Napoleonischer Fremdherrschaft dem deutschen Volk sein Nationalepos zurückgewinnen. [...] Der Gegensatz zwischen den Brüdern Grimm und H[agen] sowie späterhin zwischen Karl Lachmann und H[agen] beruhte vornehmlich auf der autodidaktischen Verfahrensweise H[agen]s bei der Edition mittelalterlicher Texte, die ihm zeitlebens eigentümlich blieb. Ihm kam es auf die stoffliche Erschließung an, kaum auf die philologisch-kritische Wiederherstellung der historisch getreuen Sprachgestalt. 44
Erst das in den letzten Jahren erwachte Interesse an der Geschichte der Germanistik und ihrer Lehrinhalte hat Leben und Werk HAGENS wieder
37
Ebd., S. 120. Bemerkenswert ist ASSMANNS mehr als 200 Titel umfassendes Verzeichnis der HAGENschen Schriften (S. 1—27), dem die vorliegende Arbeit zahlreiche Hinweise verdankt; unbefriedigend ist dagegen die selten ins Detail gehende Auflistung der Briefe und Manuskripte des — heute verschollenen — Schmiedeberger Teilnachlasses (S. 27 f.).
38
HECKER ( L 1 6 9 ) .
39
JESSEN ( L 2 1 1 ) .
40
Vgl. JESSEN (L211), S.287.
41
STROH ( L 4 5 6 ) .
42
MACKENSEN ( L 2 8 4 ) .
43
Vgl. etwa DÜNNINGER (L79), Sp. 155 f.; (L 334), S. 46 f. ELSCHENBROICH (L85), S.476.
44
ELSCHENBROICH
(L85), S. 476f.; F.
NEUMANN
Einleitung: Friedrich Heinrich von der Hagen im Urteil der Zeit
7
stärker in den Blick rücken lassen.45 Die Rezeptionsforschung (vornehmlich zum Nibelungenlied) sucht seine Position neu zu bestimmen: HAGEN als „Beispielfigur des Popularisators"46 mittelalterlicher Literatur und Kunst. Die Wissenschaftsgeschichtsschreibung schickt sich an, seine Rolle bei der „Institutionalisierung und akademische[n] Kanonisierung"47 der deutschen Altertumskunde neu zu akzentuieren: HAGEN als Gründungsvater der Universitätsgermanistik.48 Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen heute freilich zunächst die Genese und Entwicklung des Fachs (oder der Mittelalter-Rezeption allgemein), die es in ihren sozial- und geistesgeschichtlichen, politischen und wissenschaftstheoretischen Dimensionen zu erfassen gilt. Die Autoren wissenschaftsgeschichtlicher Längsschnitte sehen sich derzeit jedoch in aller Regel schon nach wenigen Schritten an eine kaum zu überwindende Grenze geführt. Gerade auf dem Gebiet der Frühgermanistik fehlt es bis heute an sicherem Grundlagenwissen: Die altdeutschen Forschungen der Gelehrten des 18. Jahrhunderts sind — sieht man vom Werk BODMERS, BREITINGERS oder MYLLERS ab — erst in Umrissen erfaßt; über Ausmaß und Gewicht der in den damaligen Zeitschriften publizierten Mittelalterstudien lassen sich bislang nur Vermutungen anstellen. Zu kaum einem Germanisten der ersten Generation des 19. Jahrhunderts ist bisher eine umfassende Monographie erarbeitet worden (selbst das Werk LACHMANNS wartet noch auf eine detaillierte Gesamtdarstellung). So notwendig es ist, die großen Linien der germanistischen Wissenschaftsentwicklung neu zu zeichnen, so unumgänglich erscheint es, sich zunächst verläßliche Kenntnisse im einzelnen zu verschaffen. Es ist wenig damit gewonnen, HAGEN als Begründer der Universitätsgermanistik zu apostrophieren, wenn man die Implikationen seiner kultur- und wissenschaftspolitischen Bestrebungen nicht offenlegt; es ist nutzlos, HAGEN zum Prototyp des Popularisators altdeutscher Literatur zu erklären, wenn die Motive und Ziele seiner Publikationstätigkeit verborgen bleiben; es ist unergiebig, HAGENS Gegnerschaft zu LACHMANN und den Brüdern GRIMM zu betonen, wenn die Ursachen und Intentionen seines oppositionellen Verhaltens nicht aufgehellt werden. Mit einem Wort: Es erscheint überaus bedenklich, das tradierte und in den letzten hundert Jahren kaum modifizierte HAGEN-Bild an nur wenigen Stellen aufgefrischt oder retuschiert in die derzeit erarbeiteten wissenschafts- und rezeptionsgeschichtlichen Längsschnitte zu übernehmen, werden doch hierdurch nicht nur überholte 45
46 47 48
Einige seiner wichtigsten Werke wurden inzwischen in reprographischen Neudrucken vorgelegt: 1961 Gesammtabenteuer (W49), 1962 Minnesinger (W43), 1962/63 Bildersaal (W 55), 1971 Museum (W5), 1977 Heldenbuch (W53). HESS (L178), S.514; vgl. EHRISMANN (L83), S . l l O f . J . J . MÜLLER (L318), S.22. Vgl. ebd., S. 8 3 - 8 5 , 8 8 - 9 0 ; JANOTA (L209), S. 1 5 - 1 8 ; MEVES (L297).
8
Einleitung: Friedrich Heinrich von der Hagen im Urteil der Zeit
Urteile und Wertungen für die fernere Zukunft festgeschrieben, sondern damit zugleich die auf der Grundlage neuer Fragestellungen erzielten Ergebnisse der Gesamtdarstellungen in ihrer Gültigkeit erheblich beeinträchtigt. Ziel der nachfolgenden Untersuchung zu Leben und Werk Friedrich Heinrich von der H A G E N S ist es, eine der Lücken in der Geschichte der Germanistik des frühen 19. Jahrhunderts zu schließen und dem zu erwartenden, R A U M E R S bejahrte Geschichte der Germanischen Philologie ablösenden, neuen Gesamtüberblick wenigstens in einem Teilbereich vorzuarbeiten. Hierzu werden neben den leicht zugänglichen und allgemein bekannten auch die an entlegener Stelle publizierten wissenschaftlichen Beiträge H A G E N S (Werkverzeichnis W 1—286) herangezogen sowie die in privaten und öffentlichen Sammlungen erreichbaren Schreiben seiner Privat- und Forschungskorrespondenz (Briefverzeichnis Β 1 — 568) erfaßt und ausgewertet. Weder das Werk- noch das Briefverzeichnis49 erheben Anspruch auf Vollständigkeit — „Est campus, in quo alius alio plura invenire potest, nemo omnia" (Ausonius) —, doch dürfte mit den beiden Zusammenstellungen ein tragfähiges Gerüst geschaffen worden sein, in das sich auch Neuentdeckungen sinnvoll eingliedern lassen. H A G E N S germanistisches Schaffen wird in seinen thematischen Schwerpunkten und wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Beiträgen exemplarisch vorgestellt. Bei jedem Werk werden Entstehungs- und Wirkungsgeschichte nachgezeichnet, das wissenschaftliche Umfeld abgesteckt und anhand eingehender Analysen die bislang gefällten (nicht selten durch zeitgenössischen Gelehrtenzwist diktierten) Urteile überprüft. Dabei kann erstmals in großem Umfang auf handschriftlich überliefertes Quellenmaterial zurückgegriffen werden, das vielfach neue Aspekte des HAGENSchen Wirkens freigibt und willkommene Einblicke in die noch weitgehend unerforschte Entstehungsgeschichte der Werke bietet. Im Anhang zu den einzelnen Kapiteln werden die wichtigsten — bislang nicht gedruckt vorliegenden — Dokumente zum beruflichen Werdegang und zum publizistischen Schaffen des Autors (Briefe, Verträge, Rechenschaftsberichte) zugänglich gemacht.50 49 50
S. u. S. 3 5 0 - 3 7 0 , 3 7 1 - 3 9 4 . Die Schreiben werden in Wortlaut und Lautstand (unter Beibehaltung der Abkürzungen und der Ungenauigkeiten in Orthographie und Interpunktion) getreu wiedergegeben; die durch Nasalstriche angezeigte Verdoppelung von m und η wird durchgeführt. Im Original unterstrichene Passagen werden durch Sperrdruck gekennzeichnet; Auszeichnungsschrift wird kursiv wiedergegeben. Zusätze des Herausgebers erscheinen in eckigen Klammern. Im allgemeinen werden bei Zitaten aus HAGENS Korrespondenz die Signaturen nur angegeben, wenn die entsprechenden Schriftstücke nicht ohne weiteres über das Briefverzeichnis zu identifizieren und aufzufinden sind.
Einleitung: Friedrich Heinrich von der Hagen im Urteil der Zeit
9
Die Untersuchung konzentriert sich auf HAGENS germanistisches Werk und berücksichtigt vornehmlich die Studien zur altdeutschen Sprache und Literatur, zur Nordistik, zur literarischen Volkskunde („Volkslieder", „Volksbücher") sowie die redaktionellen und journalistischen Arbeiten an Fachzeitschriften. Kunstwissenschaftliche Publikationen und die (vielfach aus rein finanziellen Erwägungen unternommenen) Übersetzungen aus dem Französischen, Italienischen, Polnischen oder Schwedischen werden nur insoweit in Betracht gezogen, als sie in Verbindung zu den literarhistorischen Projekten stehen. Das den Werkanalysen vorangestellte Lebensbild des Autors sucht die Beziehungen zwischen HAGENS persönlichem, beruflichem und wissenschaftlich-publizistischem Werdegang aufzuklären. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich nicht als Ehrenrettung eines verfemten Germanisten, sind keine Replik auf SCHERERS scharfzüngige Invektiven und keine späte Wiedergutmachung am „Gründungsvater" der Universitätsgermanistik, sie streben vielmehr auf der Grundlage bislang unausgewerteter Dokumente anhand exemplarischer Werkanalysen eine Gesamtdarstellung und Neueinschätzung der literaturwissenschaftlichen Leistungen Friedrich Heinrich von HAGENS an und damit zugleich eine Erhellung bislang kaum bekannter Bereiche der Rezeption, Erforschung und Vermittlung altdeutscher, altnordischer und volkskundlicher Literatur im frühen 19. Jahrhundert.
1. Lebensbild 1.1
Kindheit, Schul- und Studienzeit ( 1 7 8 0 - 1 8 0 1 )
Friedrich Heinrich v o n der HAGEN w u r d e am 1 9 . 2 . 1 7 8 0 als (illegitimer) 1 Sohn des Freiherrn Leopold Friedrich R u d o l f v o n der HAGEN ( 1 7 4 7 - 1 8 1 4 ) und der Magd Dorothea Elisabeth BISCHOF ( 1 7 4 9 - 1 8 4 2 ) in Schmiedeberg, K r e i s Angermünde/Uckermark, geboren. Seine Kindheit und Schulzeit verbrachte er meist getrennt v o n seinen Eltern — die Mutter w a r 1 7 8 1 mit dem Schmiedeberger Bauern und K r ü g e r Friedrich GROSENICK verheiratet w o r d e n , der Vater blieb zeitlebens unvermählt — bei Verwandten seines Vaters in Prenzlau. 2 Schon während der Jahre am dortigen Lyzeum galt seine literarische Vorliebe den Werken JEAN PAULS, der „bei ihm die Stelle der sonst gewöhnlichen Ossian'schen Periode eingenommen hatte" 3 . Daneben sammelte HAGEN bereits f r ü h — ohne freilich allzu kritische Maßstäbe anzulegen — sämtliche ihm zugänglichen Ausgaben älterer heroischer (oder heroisch anmutender) Epik: Schon als Schüler durch Ovid, Virgil und Homer vor allen auf das H e l d e n g e d i c h t gesteuert, kaufte ich alle mir erreichbaren Deutschen Gedichte und Uebersetzungen diser Art zusammen, und ich besaß eine seltene Sammlung derselben, welche später, als das dunkel darin gesuchte warhafte Heldengedicht [das Nibelungenlied] gefunden war, durch ein Büchergericht meiner Freunde S o l g e r , K r a u s e , K e ß l e r , bis auf ein vor allen sanft einschläferndes, zwar nicht zum Feuer, jedoch zum Trödel verurteilt ward. Meine Sammlung war zunächst auf das v a t e r l ä n d i s c h e Heldengedicht gestellt, und durch den schon im vorigen Jarhundert angeordneten Ausverkauf des alten Lagers der damaligen Realschulbuchhandlung sehr begünstigt, erhielt sie daher auch einige A l t d e u t s c h e Gedichte diser Art, namentlich W i l h e l m von Oranse; welche ich zwar dem Büchergericht entzog, aber als einen mir selbst verschloßenen Schatz bewarte [...]. 4
1 2
3 4
Die preußische Adelslegitimation erfolgte erst am 5.4.1803. verzichtet in seinen biographischen Skizzen auf nähere Hinweise zur Person; es dürfte sich jedoch um die in Prenzlau beheimatete Familie seines Onkels Heinrich Friedrich August von der HAGEN (1750—1829) gehandelt haben. Artikel Hagen (W182), S . U . HB 1855, S . VII; vgl. Briefe (W20) Bd. 2, S . 338; HAGEN an SOLGER, O. O. u. D [Frühjahr 1814] (B491): „Von früher Jugend reizte mich die deutsche Dichtkunst und zumal die alte, vor allen aber ging ich auf ein großes nazionales Heldengedicht aus, und als Schüler besaß ich schon Bragur und eine große Reihe deutscher Heldengedichte; von denen wir ja einmal die meisten in einem lustigen Büchergericht, dessen Protokoll ich noch habe, zum Antiquar verdammten." HAGEN
Kindheit, Schul- und Studienzeit ( 1 7 8 0 - 1 8 0 1 )
11
Die literarischen Neigungen wurden während der Studienzeit in Halle (1798-1801) noch verstärkt: HAGEN hatte sich am 9. 5. 17985 als Student der Rechte an der dortigen Universität immatrikuliert. Die „geistlose und oberflächliche Art, mit der zum großen Theil damals diese Wissenschaft in Halle behandelt ward" 6 , vermochte ihn allerdings kaum zu fesseln. Er besuchte zwar die geforderten Lehrveranstaltungen und legte auch nach sechs Semestern das Abschlußexamen mit Erfolg ab, sein eigentliches Interesse galt jedoch in dieser Zeit den „humanistischen Studien", und hier insbesondere den ,,geniale[n] Vorträge[n]" 7 Friedrich August WOLFS über die Geschichte und Literatur des klassischen Altertums; 8 im Jahre 1799 nahm er außerdem in Jena (als Gasthörer) an Friedrich Wilhelm SCHELLINGS Philosophie·Vorlesungen teil. 9 Neben die seit der Schulzeit fortbestehende Vorliebe für JEAN PAUL 1 0 trat nun eine schwärmerische Verehrung für Johann Joachim WINCKELMANN („Du schöner Grieche, fern zu den Barbaren gebannt , . . " n ) . Hellasbegeisterung und altdeutsche Interessen schlossen einander jedoch nicht aus: Noch während der Hallenser Studienzeit begegnete HAGEN — wenn auch nur indirekt (in BODMERS Altenglischen und Altschwäbischen Balladen aus dem Jahre 1781) 12 — dem Nibelungenlied, das für sein weiteres Leben bestimmend werden sollte. Unterstützt und gefördert wurden HAGENS literarische Neigungen durch einen Kreis gleichgesinnter Studienfreunde, zu denen vor allem Bernhard Rudolf ABEKEN, Friedrich August GOTTHOLD, Georg Wilhelm KESSLER, s
Die Matrikeleintragung lautet (nach freundlicher Mitteilung des Archivs der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg vom 4.3.1982): „Nr. 182, 9. Mai 1798, Friedrich Heinrich v. d. Hagen, Uckermark, (Studium der) Rechte; Vater: Friedrich Leopold v. d. Hagen, Schmiedeberg, Gutsbesitzer." HAGENS eigene Angabe (1797: vgl. HB 1855, S. VIII), die von sämtlichen Biographen übernommen wurde, beruht offensichtlich auf einem Gedächtnisfehler.
6
TIECK/RAUMER in SOLGER ( L 4 3 7 ) B d . l ,
7
Artikel Hagen (W182), S. 12. Vgl. HB 1855 (W 53), S.VIII; HAGENS Mitschriften der WOLF-Vorlesungen über Die Griechischen Alterthümer (SS 1799) und Die Geschichte der alten Welt (WS 1800/01) befinden sich in der UuLB Sachsen-Anhalt Halle/Saale (Handschriften Yd 4° 16 und 17). Vgl. HAGEN an J . G . COTTA, 31.12.1841 (B98); zu HAGENS Einschätzung des in Halle dozierenden Philosophieprofessors Johann Heinrich TIEFTRUNK vgl. FISCHER VON ROES-
8
9
S.XIV.
LERSTAMM ( L 1 0 2 ) , S . 2 0 8 (HAGEN an RAUMER, O. O . U. D . [ B 4 2 2 ] ) . 10
11
12
Vgl. Briefe (W20) Bd. 1, S.30F. mit Hinweis auf HAGENS damaligen jean-paulisierenden Romanentwurf Arminio Rugendas; zur weiteren Beschäftigung mit JEAN PAUL vgl. HAGEN: Nibelungen: Bedeutung (W22), S.219; SOLGER (L437) Bd.l, S.739f. (HAGEN an SOLGER, 9.9.1819 [B 493]). HAGENS Sonett Johannes Winkelmann und Johannes Müller (Manuskript im Brief HAGENS an J.V.MÜLLER, O.O. U. D. [B355; StB Schaffhausen: J.v.M. Fase. 235/110]); vgl. auch Artikel Hagen (W182). S. u. Kap. 2.11.
12
Lebensbild
L. Μ. KRAUSE, Friedrich von RAUMER, Karl Wilhelm Ferdinand und Johann Daniel Ferdinand SOTZMANN gehörten: 13
SOLGER
Schon in Halle hatte sich eine Gesellschaft von Freunden vereinigt, wöchentlich einmal zusammenzukommen, um über literarische Gegenstände zu sprechen, sich eigne Ausarbeitungen oder auch gedruckte Werke vorzulesen. [...] Man recensirte sich gegenseitig mit freier Männlichkeit; Schmeicheln, weichliches Loben war dieser Versammlung gänzlich fremd. 14
Dieser Freundeskreis — nach seinem wöchentlichen Versammlungstermin kurz „Freitag" genannt — sollte für HAGEN auch über die Studienzeit hinaus die „dauerndste und erfreulichste Wirkung" 15 behalten: Mit SOLGER, seinem „Herzensbruder", verband ihn (bis zu dessen frühem Tod im Jahre 1819) eine enge Freundschaft; RAUMER Schloß er sich auf seinem akademischen Wege von Berlin nach Breslau und wieder zurück nach Berlin an; SOTZMANN gehörte bis zuletzt — u. a. als Zeichner von Handschriften-Faksimiles zu den Minnesingern (1838) und zum Gesammtabenteuer (1850) — zu HAGENS verläßlichsten Mitarbeitern. Die Einrichtung des „Freitag" lebte bis in die frühen 50er Jahre in Berlin fort.
1.2
Erster Berlinaufenthalt (1801 - 1 8 1 1 )
Die Studienzeit in Halle endete mit dem Wintersemester 1800/01. Hieran schloß sich als „Grand Tour" eine (gemeinsam mit dem „Freitags"-Freund GOTTHOLD unternommene) „halbjährige Fußreise durch Süddeutschland, die Schweiz, über den Gotthardt bis Isola Bella"16 — dem Schauplatz des JEAN PAULschen Titan —17 an. Erst zu Beginn des Jahres 1802 nahm sich HAGEN in Berlin seiner weiteren beruflichen Ausbildung an und ließ sich am 18. März des Jahres am dortigen Stadtgericht als Referendar vereidigen.18. Wie schon im Jurastudium konnte HAGEN auch im Gerichtsreferendariat nicht die Erfüllung seiner beruflichen Wünsche finden. Er arbeitete zwar zunächst zur weitgehenden Zufriedenheit seiner Vorgesetzten, jedoch „ohne sonderliche Lust" 19 und innere Beteiligung. Ausgleich für die wenig geliebte Arbeit als Praktikant boten ihm das rege kulturelle 13
V g l . TIECK/RAUMER i n SOLGER ( L 4 3 7 ) B d . 1, S . 1 4 1 .
14
Vgl. ebd., S. 140f.; einen Ginblick in die damals besprochenen Themen der „Freitagsgesellschaft" vermitteln SOLGERS Aufzeichnungen des Jahres 1800 (ebd., S. 1 —16). Artikel Hagen (W182), S. 11. Ebd. Vgl. Briefe (W20) Bd. 1, S.31. Vgl. HAGEN an J.G.COTTA, 21.3. o. J. [1852] (B138). Artikel Hagen (W182), S.12.
15 16 17 18 19
Erster Berlinaufenthalt ( 1 8 0 1 - 1 8 1 1 )
13
Leben der Hauptstadt und vor allem das erneute Zusammensein mit den Hallenser Studienfreunden ABEKEN, KESSLER, KRAUSE, RAUMER und SOLGER. Man ließ in Berlin die literarisch-kritische Abendgesellschaft des „Freitag" wieder aufleben, der sich u. a. Johann Gustav BÜSCHING, damals gleichfalls Gerichtsreferendar, als neues Mitglied anschloß. Zum entscheidenden Ereignis dieser Zeit wurden im Winter 1803/04 August Wilhelm SCHLEGELS Berliner Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst mit ihren programmatischen Ausführungen zur Geschichte der romantischen Literatur.20 HAGENS bislang unbestimmt weitgestreute Interessen gewannen nunmehr ein klares Ziel:21 Der altdeutschen Dichtung und vor allem dem Lied der Nibelungen widmete er fortan „seine beste Muße"22. Ende November 1803 bewarb er sich bei der Akademie der Wissenschaften um Zutritt zu den Büchern und Handschriften der Berliner Bibliothek,23 der ihm unter dem Datum vom 1.12.1803 gewährt wurde. Damit stand zum Jahreswechsel 1803/04 der Weg zu eigenständigen Literaturstudien offen. Bereits ein Jahr später konnte HAGEN erste Arbeitsergebnisse vorlegen: Im März- und Aprilheft der Zeitschrift Eunomia veröffentlichte er 1805 Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos, mit Angabe der Grundsätze, welche bei der Bearbeitung desselben befolgt worden sind (W 57/ 58). Im Herbst desselben Jahres eröffnete er hier außerdem eine Serie von Minnelied-Übertragungen (W 59), die jedoch abgebrochen werden mußte, da die Zeitschrift Ende 1805 das Erscheinen einstellte. Das positive Echo auf die Publikationen ermutigte HAGEN zu einer weitgespannten „antiquarischen" Korrespondenz. Zu den wichtigsten Briefpartnern der Frühzeit gehörten neben Karl August BÖTTIGER und Christian Gottlob HEYNE vor allem Johann Joachim ESCHENBURG und Jeremias Jakob OBERLIN, die sich den Anfragen und Bitten HAGENS gegenüber durchweg als aufgeschlossen und mitteilsam erwiesen. In Berlin selbst knüpfte HAGEN persönliche Kontakte zu Johann Erich BIESTER, Erduin Julius KOCH und Friedrich NICOLAI an und gewann den Schweizer Historiker Johannes von MÜLLER als Freund und Mentor, der ihm nicht nur die Schätze seiner eigenen Büchersammlung zugänglich machte, sondern mit seinem Namen auch für die in auswärtigen Bibliotheken bestellten Bücher und Handschriften bürgte. Von HAGENS damaliger Selbsteinschätzung und seinen wissenschaftlichen Zielsetzungen zeugt das Schreiben, mit dem am 28.11.1805 die Korrespondenz mit HEYNE (und der Göttinger Bibliothek) eröffnet wurde:
20
V g l . A . W . SCHLEGEL ( L 3 9 8 ) B d . 3 .
21
Vgl. HB 1855, S.VII/VIII.
22
HAGEN a n SCHWEIGHÄUSER, 9 . 1 1 . 1 8 0 6 ( B 4 7 9 ) .
23
Vgl. HAGEN an die Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1.12.1803 (B6).
14
Lebensbild Schon seit mehren Jahren bin ich, von meiner frühesten Neigung getrieben, eifrig dem Studium unserer alten, vaterländischen Literatur ergeben, — u. besonders dem poetischen Teil derselben: gründliches Studium der Sprache ist dabei mein Fundament; u. litterarische Volständigkeit, so wie historische Kritik ist mein Ziel: u. die endlichen Früchte meiner Bemühung, hoffe ich, sollen sein: ein volständiges Wörterbuch der Schwab: Periode (als Suplem. zum Scber%)\ korrekte Ausgaben alter Handschriften, besonders noch ungedrukter; historische, kritische u. antiquarische Bearbeitung der bekanten, aus verglichenen Handschriften: eine besondere Gramatik dieses Zeitraums, u. endlich eine Geschichte der deutschen Poesie bis u. in demselben: der Plan ist freilich gros und umfaßend, kan auch nur durch die Verbindung mehrer gleichgesinten Freunde ausgeführt werden: so wie durch die, dadurch zwar erleichterte, rükhaltloseste u. allseitigste Mitteilung u. Unterstüzung, durch freundliche Eröfnung der Quellen.24
Das mit Texteditionen, Wörterbuch, Grammatik und Literaturgeschichte äußerst umfangreiche und ehrgeizige Programm, das HAGEN hier mit dem übersteigerten Selbstbewußtsein des Anfangers und Außenseiters ausbreitete, war weder im Alleingang noch in den „Mußestunden" zu bewältigen. Obgleich der Brief keinen Hinweis auf berufliche Zukunftsvorstellungen enthält, läßt doch die Vielzahl der mitgeteilten Pläne und Projekte darauf schließen, daß HAGEN schon 1805 mit dem Gedanken spielte, die wenig geliebte Juristenlaufbahn aufzugeben. Sein berufliches Engagement erreichte in dieser Zeit einen Tiefpunkt. Längere Abwesenheit vom Amt ließ ihn im Sommer 1805 den Termin zum turnusmäßigen Wechsel der Praktikantenstelle versäumen, und es bedurfte der gewichtigen Fürsprache MÜLLERS, ihm nachträglich noch einen Platz an der Domänenkammer zu verschaffen (und die wenig attraktive Verlängerung der Ausbildung am Stadtgericht zu ersparen). 25 Ende 1805 — inzwischen mit Marie Josephine REYNACK (1776 — 1858) verheiratet — war HAGEN „immer nur noch Referendar" 26 . Erst 1806 konnte er endlich als „Assessor bei der Kammer" 27 firmieren, sah nun jedoch — aufgrund der staatlichen Misere Preußens nach den Niederlagen gegen Napoleon — für sich keine gesicherte Zukunft mehr in der Verwaltungslaufbahn. 28 Als sich mit der 1807 (gemeinsam mit BÜSCHING) herausgegebenen Sammlung Deutscher Volkslieder (W 2) und der im selben Jahr veröffentlichten „Erneuung" des Nibelungenlieds ( W l ) erste publizistische Erfolge abzuzeichnen schienen, quittierte HAGEN (gegen den Willen seiner Familie) 29 den Staatsdienst und privatisierte. Finanziellen Rückhalt boten ihm zunächst das Vermögen 24
DZIATZKO ( L 8 1 ) , S . 4 (HAGEN an HEYNE, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 [B222]).
25
Vgl. J.V.MÜLLERS Empfehlungsschreiben vom 31.8.1805 (Ko) (StB Schaffhausen: J. v. M. Fase. 235/102).
26
HAGEN an SCHEITLIN, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 ( B 4 5 4 ) .
27
HAGEN an SCHWEIGHÄUSER, 9 . 1 1 . 1 8 0 6 ( B 4 7 9 ) .
28
Vgl. Artikel Hagen (W182), S. 12. HAGEN an das Ministerium, 1 . 9 . 1 8 1 0 (B298).
29
Erster Berlinaufenthalt ( 1 8 0 1 - 1 8 1 1 )
15
seiner Frau und die Zuwendungen seines begüterten Vaters. Obgleich die Buchveröffentlichungen keinen Gewinn abwarfen, konnte HAGEN auf diese Weise in der ersten Zeit seines Privatgelehrtendaseins eine weitläufige Korrespondenz unterhalten, ausgedehnte Reisen in Archive und Bibliotheken unternehmen, die wichtigsten Neuerscheinungen des Buchmarkts anschaffen und eine ansehnliche Sammlung von Handschriften und Frühdrucken (in Original oder Kopie) erwerben. Noch 1809 stellte der mittellose Wilhelm GRIMM bei einem Besuch HAGENS in Berlin fest: „Den Unterschied zwischen seinem und unserm Studieren hab' ich recht deutlich gesehen, er hat mit der ganzen Welt Verbindungen angeknüpft und reist selbst, so weit er kann, und er gewinnt daher mit Leichtigkeit eine Menge Bücher, Manuskripte, Nachrichten und kann auf diese Art mit Übermacht agieren." 30 Damals war HAGEN, dessen Ressourcen sich im Laufe der Zeit als keineswegs unerschöpflich erwiesen hatten, jedoch schon bestrebt, das kostspielige Privatgelehrtentum aufzugeben und eine öffentliche Anstellung zu finden, bei der sich Reputation mit Remuneration verbinden ließ. Im Juni 1808 hatte er sich bei seinem Mentor MÜLLER, der inzwischen in Kassel ein Ministeramt bekleidete, um einen Platz in der geplanten Akademie der Wissenschaften beworben. 31 Gleichzeitig faßte er eine Laufbahn an der neu zu gründenden Berliner Universität ins Auge. 3 2 Als im Spätherbst 1808 mit dem Eröffnungsband der wiederum gemeinsam mit BüSCHING herausgegebenen Deutschen Gedichte des Mittelalters (W 3) die dritte Buchveröffentlichung (und erste mittelhochdeutsche Textausgabe) auf den Markt gelangte, glaubte HAGEN, seine wissenschaftliche Qualifikation hinreichend bewiesen zu haben, und bemühte sich sogleich in Jena — die Universität Halle war 1806 geschlossen worden — um die Erlangung des Doktorgrades, der seinen Bewerbungen den nötigen akademischen Nachdruck verschaffen sollte. Auf die Fürsprache seines Freundes Heinrich LUDEN 3 3 hin wurde ihm (unter Verzicht auf eine eigene Dissertation) für seine bislang erbrachten wissenschaftlichen Leistungen Anfang Dezember 1808 das gewünschte Doktordiplom der Philosophischen Fakultät übersandt. 34
30
SCHOOF ( L 4 0 9 ) , S. 1 5 8 ( W . a n J . GRIMM, n a c h d e m
31
V g l . HAGEN a n J . v . MÜLLER, 1 7 . 6 . 1 8 0 8 ( B 3 6 0 ) .
18.9.1809).
32
V g l . HAGEN a n J . V . M Ü L L E R , 2 3 . 1 1 . 1 8 0 8
33
V g l . LUDEN an HAGEN, 9 . 1 2 . 1 8 0 8
34
Im Protokollbuch der Philosophischen Fakultät 1 7 9 5 - 1 8 2 9 (UAJ-Bestand Μ Nr. 740a) findet sich unter dem 4 . 1 2 . 1 8 0 8 folgender Eintrag des Dekans Η. Κ. A. EICHSTÄDT: „d. 4. Dec. präsentierte ich den berühmten Herausgeber des Liedes der Nibelungen u. der deutschen Gedichte des Mittelalters, Hr. Friedrich Heinrich von der Hagen in Berlin, zur Erlangung der Doktorwürde. ... Ein specimen wurde für unnöthig bei einem solchen Candidaten erklärt." (Freundliche Mitteilung des Archivs der Friedrich-SchillerUniversität Jena vom 2 . 9 . 1 9 8 1 ) .
(B361).
(B288).
16
Lebensbild
Die Folgezeit war durch publizistische Hektik und Betriebsamkeit geprägt. Zu Ostern 1809 erschien der erste (und einzige) Band der „Volksbuch"-Sammlung Buch der Liebe (W 4); wenige Wochen später wurde das erste Heft der gemeinsam mit BÜSCHING und Bernhard Joseph DOCEN herausgegebenen Zeitschrift Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst (W5) ausgeliefert. Unter dem Datum vom 30.1.1810 kündigten HAGEN und BÜSCHING — „auf daß das System dieses Studiums vollständig werde" 35 — die Ausgabe eines Handwörterbuchs der Altdeutschen Sprache an. Daneben suchte sich HAGEN auf dem Gebiet der altnordischen Literatur zu profilieren und veröffentlichte im Sommer 1810 in BÜSCHINGS Pantheon Übersetzungen mehrerer Lieder aus dem Altdänischen (W 72). Um dieselbe Zeit erschien schließlich HAGENS erste Textausgabe des Nibelungenlieds (W6) mit dem vielverheißenden Untertitel Zu Vorlesungen, der damals freilich weit mehr den Wunschvorstellungen des Herausgebers als der akademischen Wirklichkeit entsprach. HAGEN hatte mit seinen Bemühungen um die Einrichtung eines germanistischen Lehrstuhls an der im Aufbau begriffenen Berliner Universität36 zunächst wenig Erfolg. Sein (vermutlich noch vor Erscheinen der Nibelungen-Edition) dem Gründungskomitee vorgelegtes umfangreiches Expose,37 in dem er versuchte, „die Deutsche Alterthums-Wissenschaft, als eine solche, und nicht bloß der Idee nach gültigen [!], sondern durch die Foderung der Zeit auch wirkliche, wenigstens in der Bildung begriffene Wissenschaft, nach ihrem ganzen Umfange darzustellen, und zugleich ihre allgemeine Anwendung, ihre Einführung in die höheren Lehr- und Gelehrten-Anstalten überhaupt anzudeuten"38, blieb bei den Beratungen der von Friedrich SCHLEIERMACHER geleiteten Einrichtungskommission unberücksichtigt. HAGEN sah sich daher genötigt, mit seinem Vorschlag im August 1810 erneut an die „Hochlöbliche Sekzion des öffentlichen Unterrichts" heranzutreten. In einem vom 11.8.1810 datierten Schreiben legte er für das neue Lehrfach der „Deutschen Alterthumskunde" ein detailliertes Studienprogramm vor, das — in Anlehnung an die klassische Altertumswissenschaft — neben sprach- und literaturgeschichtlichen auch volkskundliche, religionswissenschaftliche und historische Komponenten aufwies. Als Vorlesungsschwerpunkte wurden hier genannt:
35
HAGEN an ARNIM, 1 0 . 5 . 1 8 0 8 (BIO).
36
Vgl. hierzu MEVES (L 297).
37
Das Manuskript gilt als verloren; der Inhalt ist nur aus HAGENS Schreiben an das Ministerium vom 1 1 . 8 . 1 8 1 0 (B296) zu erschließen — s. Anhang 1.51 (auch bei MEVES [L297], S. 180 f.). HAGEN an das Ministerium, 1 1 . 8 . 1 8 1 0 (B296) (ZSTA Merseburg Rep.76 Va, Sekt.2, Tit. 1, Nr. 2, Bd. 4, 126f.).
38
Erster Berlinaufenthalt ( 1 8 0 1 - 1 8 1 1 )
17
1. Geschichte der Deutschen Sprache, nach den verschiedenen Zeitaltern und Mundarten, im weitesten Umfange, auch in Beziehung auf die verwandten Sprachen und mit Vergleichung der noch lebenden. 2. Geschichte der Deutschen Literatur: a) der poetischen, b) der prosaischen. 3. Ausgeführte Geschichte der Deutschen Poesie und Prosa, auf der vorigen Grundlage. 4. Über Sitten, Gebräuche, Religion, öffentliches und häusliches Leben ff, oder was man gewöhnlich im engern Sinn unter dem Nahmen der Deutschen Alterthümer begreift. (5. Die politische Geschichte, Diplomatik ff. muß, so weit sie in Beziehung steht, hier überall mitgenommen werden.) 6. Über einzele alte Schriftsteller und Werke, ganz nach A r t der Klassiker; zuförderst zwar über die anerkannt vortrefflichsten, als: die Nibelungen, das Heldenbuch, den Hturel, den Tristan und den Reineke Voß. 3 '
Obgleich er damals von seinen Studien und Kenntnissen her kaum in der Lage war, auch nur eines dieser Themen umfassend zu behandeln, bewarb sich HAGEN im selben Schreiben (unter Hinweis auf sein bisheriges Engagement auf dem Gebiet der deutschen Altertumswissenschaft) um den neu zu errichtenden Lehrstuhl. SCHLEIERMACHER war freilich nicht geneigt, sich HAGENS Vorstellungen anzuschließen, und wies die „gewünschte Stiftung eines solchen Lehrstuhls bei hiesiger Universität" mit der Begründung zurück, „daß der Staat in solchen Dingen der öffentlichen Meinung nur folgen [!] und ein neues Studium nicht eher als akademischen Lehrgegenstand aufstelle, als bis die allgemeine Stimme sich schon durch die That für diese Maaßregel erklärt" 40 habe. Unter dem Vorwand, es ständen derzeit keine „Fonds zur Gründung einer neuen Professur zu Gebote"41, wurde HAGEN nur die (undotierte) Stelle eines Privatdozenten angeboten.42 Erst auf sein dringendes Bittgesuch vom 1.9.1810 hin, in dem er nur mehr um „eine Anstellung überhaupt, [...] etwa in einer außerordentlichen Lehrstelle zur philosophischen Fakultät" 43 nachsuchte, wurde ihm am 21.9.1810 die Stelle eines Extraordinarius (ohne Gehaltsanspruch) zugesagt;44 die förmliche Ernennung zum außerordentlichen Professor erfolgte am 28. 9.1810 durch Königliche Kabinettsordre.45 Das zu Semesterbeginn (am 15.10.1810) ausgegebene Vorlesungsverzeichnis vermerkt unter den Lehrveranstaltungen der Extraordinarien: 3»
Ebd.
40
M i n i s t e r i u m a n HAGEN, 2 1 . 8 . 1 8 1 0 ( B 2 9 7 ) -
41
Ebd.
s. A n h a n g
1.52.
42
Z u m t a t s ä c h l i c h e n F i n a n z g e b a r e n d e s G r ü n d u n g s k o m i t e e s v g l . LENZ ( L 2 7 6 ) B d . 1 , S . 2 7 3 .
43
MEVES ( L 2 9 7 ) , S . 1 8 2 (HAGEN a n d a s M i n i s t e r i u m , 1 . 9 . 1 8 1 0 [ B 2 9 8 ] ) .
44
V g l . e b d . , S . 1 8 3 f . ( M i n i s t e r i u m a n HAGEN, 2 1 . 9 . 1 8 1 0
45
Vgl. Kgl. Kabinettsordre vom 2 8 . 9 . 1 8 1 0 (ZSTA Merseburg Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 1, Nr. 2 , Bd. 6 , 5 7 ) .
[B299]).
18
Lebensbild F. Η. de HAGEN,
Cum in vetustioris omnino Germanorum poeseos historiam, tum in Epos illud quod der Nibelungen Lied vocatur, isagogen offert, una cum grammatica et antiquaria poematis huius in prisco sermone suo interpretatione ternis p. hebd. hör is.46 HAGEN hatte damit sein Ziel zu einem guten Teil erreicht. Als ihm schließlich — auf seine Eingabe vom 3.10.1810 hin —47 auch noch eine „außerordentliche Remuneration" von 200 Talern bewilligt wurde, 48 konnte er sich fürs erste zufriedengeben. Die Nibelungen-Vorlesung selbst, der „zur allgemeinen Einleitung in dieß Studium, eine Art Geschichte der deut. Poesie bis 1500" 49 vorangestellt wurde, fand jedoch weit weniger Zuspruch als erwartet. Obgleich zunächst von den verschiedensten Seiten lebhaftes Interesse signalisiert worden war — selbst Achim von ARNIM wollte im November 1810 hospitieren —50, fand sich schließlich von den ca. 200 eingeschriebenen Berliner Studenten kaum ein Dutzend in HAGENS Hörsaal ein, von denen wiederum nicht mehr als sechs bis zum Ende der Vorlesung durchhielten. 51 Größere Hörerzahlen erreichte HAGEN nur bei seinen publice et gratis gehaltenen Vorträgen zur deutschen Altertumskunde. 52 Ein allgemeines Interesse an der altdeutschen Literatur war unter der Studentenschaft offensichtlich vorhanden (und HAGEN mochte sich in seiner Argumentation vor dem Gründungskomitee bestätigt fühlen); für ein geregeltes Studium und eine ausreichende Anzahl (Hörergeld zahlender) Studenten war es allerdings noch zu früh: Es sollten noch Jahre vergehen, bevor sich die neue Fachrichtung gleichberechtigt neben den traditionellen Studiengängen behaupten konnte. Obgleich ihm das Kolleg „viel Freude" 53 machte und er insgesamt „sehr zufrieden" 54 war, stieß sich HAGEN fortwährend an den (engen finanziellen) Grenzen seines Extraordinariats — dies um so mehr, als auch die Publikationen dieser Zeit, Der Helden Buch I ( W 7 ) und das Narrenbuch (W 8), keinen Gewinn abwarfen. Da in näherer Zukunft keine Aussicht auf eine höher dotierte Professur in Berlin bestand, spielte er schon während des ersten Semesters mit dem Gedanken, 46
Vorlesungsverzeichnis WS 1810/11 (ZSTA Merseburg, ebd., 139); vgl. die Ankündigung im Morgenblatt 1810, S. 588; JALZ 1810, Nr. 272, Sp.270; JALZ 1810, Intelligenzblatt, Nr. 76, Sp. 607.
47
Vgl. MEVES ( L 2 9 7 ) , S . 1 8 4 (HAGEN an das M i n i s t e r i u m , 3 . 1 0 . 1 8 1 0 [ B 3 0 0 ] ) .
48
Vgl. HAGEN an SOLGER, 2 0 . 3 . o. J . [ 1 8 1 1 ] ( B 4 9 0 ) -
49
HAGEN an TIECK, 2 9 . 1 1 . 1 8 1 0 ( B 5 1 0 ) .
s. A n h a n g 1 . 5 3 .
50
STEIG ( L 4 4 6 ) , S . 8 3 (ARNIM an J . GRIMM, 2 . 1 1 . 1 8 1 0 ) .
51
Vgl. HAGEN an SOLGER, 20.3. o. J. [1811] (B490) - s. Anhang 1.53. Vgl. ebd.
52 53
HAGEN an TIECK, 2 9 . 1 1 . 1 8 1 0 ( B 5 1 0 ) .
54
HAGEN an SOLGER, 2 0 . 3 . o. J . [ 1 8 1 1 ] ( B 4 9 0 ) -
s. A n h a n g 1 . 5 3 .
Erster Berlinaufenthalt ( 1 8 0 1 - 1 8 1 1 )
19
seinen neugeschaffenen Lehrstuhl mit einer Bibliothekarsstelle in Breslau zu vertauschen. Im November 1810 hatte BÜSCHING in der dortigen Hauptkommission zur Aufhebung der schlesischen Klöster den Dienst als Bibliothekar und Archivar angetreten und hatte sogleich HAGEN zur Mitarbeit eingeladen. Das freundschaftliche Angebot mußte diesem um so attraktiver erscheinen, als es nicht nur einen gesicherten Arbeitsplatz im Staatsdienst versprach, sondern zugleich die Fortsetzung der (seit dem Herbst 1810 unterbrochenen) Zusammenarbeit mit BÜSCHING in Aussicht stellte. In einem Brief an SOLGER schildert HAGEN am 20.3.1811 seine damalige Situation: Was sagst Du nun zu meinem Plan in Breslau Bibliothekar mit Büsching zu werden. [...] Ich bin ganz begierig hin zu gehen, so ungern ich auch von Berlin und so vielen Lieben scheide: aber ich muß nachgerade w o unterkriechen. Ich habe es laut werden lassen, und jetzo höre ich, möchte man mich wol gern behalten. Ich werde sehen, was etwa geboten wird. Wolf sagte mir gestern noch, sie wollten mit mir Staat machen; aber leider aus meiner Tasche. 55 HAGEN sollte mit seinen Befürchtungen recht behalten. Die Universität machte keine Anstalten, seine Dozentur in ein Ordinariat umzuwandeln, und man beschränkte sich darauf, „den fortdauernden Eifer des Herrn Professor von der Hagen, mit dem derselbe für die Förderung des Studiums der alten deutschen Literatur sich bemühet", im Sommersemester 1811 wiederum durch eine „außerordentliche Remuneration" 56 von 200 Talern zu honorieren. Enttäuscht kündigte HAGEN zwar noch für das folgende Wintersemester Vorlesungen über Deutsche Sprachlehre und Tristan und Isolde an, 57 richtete aber sein ganzes Streben darauf, eine Anstellung in Schlesien zu erhalten. Auf Fürsprache des Staatskanzlers HARDENBERG, der sich auch persönlich für die Erstattung der Reisekosten einsetzte,58 erfolgte schließlich im Oktober 1811 die Berufung nach Breslau — als unbezahlter Professor publicus und als besoldeter Bibliothekar (mit einem Jahresgehalt von 800 Talern).59
55 56
57 58
59
Ebd. Ministerium an HAGEN, 21. 6 . 1 8 1 1 (B 301) (ZSTA Merseburg Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 4, Nr. 5, Bd. 1, lOOf.). Vgl. die Übersicht über HAGENS Berliner Vorlesungen bei ASSMANN (L10), S. 29. Vgl. HARDENBERG an SCHUCKMANN, 1 5 . 1 0 . 1 8 1 1 (ZSTA Merseburg, Rep. 76 Va, Sekt. 4, Tit. 4, Nr. 1, Bd. 1, 178). Vgl. JESSEN (L211), S.282.
20
Lebensbild
1.3
Breslauer Jahre (1811-1824)
Als H A G E N Anfang November 1811 in Schlesien eintraf, um „dort Büschingen zu helfen"60, hatte dieser bereits seine führende Position in der Einrichtungskommission der Zentralbibliothek verloren. Eigenmächtiges Vorgehen bei der Erfassung der schlesischen Klosterbibliotheken (von seinen Breslauer Gegnern beim Staatskanzler in Berlin angezeigt) hatte ihm im Herbst 1811 einen Verweis HARDENBERGS eingebracht. Seinem kurz darauf (am 29.10.1811) eingereichten Entlassungs- und Versetzungsgesuch nach Berlin war jedoch nicht stattgegeben worden, und B Ü S C H I N G mußte gegen seinen (und seiner Kollegen) Willen in Breslau verbleiben.61 H A G E N traf so bei der Ankunft in Schlesien eine völlig andere Situation an, als er zur Zeit seiner Versetzungsgesuche erwartet hatte. Abgesehen von den internen Querelen, aus denen er sich aufgrund seiner Freundschaft mit B Ü S C H I N G kaum heraushalten konnte, stellte sich auch die im täglichen Bibliotheksdienst anfallende Arbeit als weitaus umfangreicher dar, als er in Berlin angenommen hatte. An eine Wiederaufnahme und Fortführung der mit B Ü S C H I N G geplanten Publikationsvorhaben war vorerst nicht zu denken; das bedeutendste in dieser Zeit erschienene Werk, der auf 1812 datierte Literarische Grundriß (W9), stammt noch aus den Berliner Jahren. 62 An die Brüder G R I M M schrieb HAGEN a m
3.3.1812:
Ich versinke zwar fast in einem Meer von Büchern oder vielmehr Bibliotheken, welches man Zentralbibliothek nennt, aber es ist mein Element und in allewege mein Beruf. Wenig Zeit bleibt mir hier zu eignen Arbeiten, und das meiste habe ich noch in Berlin vollendet. 63
Die Situation an der Universität bot zunächst ebenfalls nicht das erwartete Bild. Der Zulauf zu HAGENS Lehrveranstaltungen war — bei nur 40 eingeschriebenen Studenten der philosophischen Fakultät —64 noch geringer als in Berlin: „Mein Collegium [...] ist nicht zu Stande gekommen; es war zu spät, auch sind noch zu wenig Studenten für dergl. hier [...]." 65 Dennoch bemühte sich H A G E N sogleich um die Umwandlung seines Ex60
ZEYDEL (L495), S. 115 (HAGEN an TIECK, 5.7.1811 [B512]). Zu BÜSCHINGS Tätigkeit vgl. WOLTMANN (L488); JESSEN (L210), S . 2 9 0 - 296. 62 Die Ausführung des unter HAGENS und BÜSCHINGS Namen herausgegebenen Kompendiums lag — nach BÜSCHINGS Abreise — fast ausschließlich in HAGENS Hand. 63 HAGEN an die Brüder GRIMM, 3.3.1812 (B 205); vgl. HOLTEI (L197) Bd. 1, S. 266 (HAGEN an TIECK, 12. 3.1813 [B514]). 64 Vgl. MACKENSEN (L284), S.33. 61
65
HAGEN an UHDEN, 1 1 . 1 . 1 8 1 2 (B302a). Größeren Erfolgt scheint HAGEN mit seinen publice gehaltenen Vorlesungen gehabt zu haben (vgl. ebd.; MACKENSEN [L 284], S. 33).
Breslauer Jahre ( 1 8 1 1 - 1 8 2 4 )
21
traordinariats in eine ordentliche Professur,66 mußte sich hier freilich jahrelang (bis 1817) mit hinhaltenden Auskünften des Ministeriums zufrieden geben. HAGENS Hauptarbeitsfeld in der ersten Breslauer Zeit blieb die (im Aufbau begriffene) Zentralbibliothek.67 Er nahm sich der hier anfallenden Katalogisierungsarbeiten engagiert an 68 und entwickelte im Jahre 1812 eine neue Bibliotheksordnung, die erstmals dem Kollegialprinzip (statt des bisher üblichen Direktorialprinzips) Eingang in die Bibliotheksverwaltung verschaffen sollte.69 Am 25.3.1812 wurde die Schlesische Zentralbibliothek — gegen den entschiedenen Widerstand BÜSCHINGS — definitiv mit der aus Frankfurt/Oder übernommenen Universitätsbibliothek verbunden. Einen Monat später erfolgte die Berufung des Frankfurter Professors Johann Gottlob SCHNEIDER zum interimistischen Bibliotheksleiter und damit zum Vorgesetzten HAGENS und BÜSCHINGS, die fortan als Unterbibliothekar bzw. Archivar in Breslau wirkten. Das Verhältnis zu SCHNEIDER — „Ehrab-Schneider" 70 , wie ihn HAGEN gern bezeichnete — war von Anfang an durch Animositäten und Spannungen geprägt. Jahrelange Streitigkeiten, die zum Teil vor Gericht ausgetragen wurden, 71 vergifteten das Klima so sehr, daß HAGEN schließlich 1815 den Bibliotheksdienst aufgab, um sich in Zukunft ganz seiner Lehr-72 und Publikationstätigkeit zu widmen. Noch im Jahre 1812 hatte er die seit Ende 1810 unterbrochene publizistische Zusammenarbeit mit BÜSCHING wieder aufgenommen und zunächst mit der Sammlung für Altdeutsche Literatur und Kunst ( W l l ) das 1811 eingestellte Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst (W5) fortzusetzen versucht, war aber nicht über das erste Heft hinausgelangt. Größeren Erfolg hatten beide im Herbst 1813 mit der — als patriotischen Beitrag zur Erhebung gegen Napoleon gedachten — Ausgabe der Lebensbeschreibung Götzens von Berlichingen (W12), deren „reiner Gewinn für die freiwilligen Studirenden" bestimmt war, „die den vaterländischen Fahnen zueilten"73. Eine aktive Beteiligung an den Befreiungskriegen lag HAGEN fern. Vgl. HAGEN an das Ministerium, 17.1.1812 (B303) (ZSTA Merseburg Rep. 76 Va, Sekt. 4, Tit. 4, Nr. 1, Bd. 1, 251). 67 Vgl. HAGENS ersten Arbeitsbericht im Brief an UHDEN vom 1 1 . 1 . 1 8 1 2 (B302a). 68 Vgl. HAGENS Anfragen an die Göttinger Bibliothekare HEYNE (29.2.1812 [B233]) und BENECKE ( 1 1 . 3 . 1 8 1 2 [B45]). 69 Vgl. JESSEN (L211), S.283; MACKENSEN (L284), S.31. 70 HAGEN an SOLGER, O.O. u. D. [Breslau, Frühjahr 1814] (Β491). 71 Vgl. JESSEN (L210), S.296. 72 Einen Überblick über die in Breslau angekündigten Lehrveranstaltungen der Jahre 1 8 1 1 - 1 8 2 3 bietet SIEBS (L429), S.203F.; erneut bei ASSMANN (L10), S.30. 73 Götz "on Berlichingen (W12), S. VI. 66
22
Lebensbild
Er beließ es bei patriotisch-martialischen Worten wie „Es muß freilich eine herrliche Lust sein, die Franzosen zu jagen und zu schlagen"74 — und verschanzte sich im übrigen hinter seinem Schreibtisch.75 Die Buchveröffentlichungen der folgenden Zeit waren ausschließlich der altnordischen Literatur gewidmet: Den noch 1812 in Berlin publizierten Liedern der älteren oder Sämundischen Edda (W 10) schlossen sich 1813 die in Breslau verlegten Altnordischen Sagen und Lieder welche %um Fabelkreis des Heldenbuchs und der Nibelungen gehören (W13) an. Im selben Jahr wurden (vordatiert auf 1814) die ersten Bände der Nordischen Heldenromane mit der Übersetzung der Wilkina-Saga (W15) ausgeliefert, 1814/15 folgten Übertragungen der Edda-Lieder von den Nibelungen (W14) und der VolsungaSaga (W16) 76 . Die bedeutendste altdeutsche Veröffentlichung der frühen Breslauer Zeit war die Ende 1815 erschienene Neuausgabe des Nibelungenlieds Der Nibelungen Lied, %um erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Handschrift (W17), die im Gegensatz zu den voraufgegangenen Editionen und „Erneuungen" des Gedichts erstmals über eine solide handschriftliche Basis verfügte. In den Jahren 1816/17 gelang es HAGEN, mit Billigung und finanzieller Unterstützung der preußischen Regierung (namentlich des Staatskanzlers HARDENBERG) eine 15monatige Reise durch Deutschland, die Schweiz und Italien zu unternehmen — „überall altdeutsche Kunst zu schauen, Hdss. zu suchen und zu vergleichen, besonders von Nibelungen und Heldenbuch [...], und gleichgesinnte Freunde zu besuchen und zu finden"77. Den Verlauf der in Begleitung Friedrich von RAUMERS und Karl von LATTORFS unternommenen Fahrt schilderte er 1818—1821 in seinen Briefen in die Heimat (W20). Über den wissenschaftlichen Ertrag der Reise, der (nach der Rückgabe der altdeutschen „vatikanischen" Handschriften im Jahre 1816) nicht allzu groß war,78 sollten die Denkmale des Mittelalters „vollständige und genaue Rechenschaft"79 geben; die geplante Buchreihe gelangte jedoch nicht über den ersten, 1824 erschienenen, Band (W 30) hinaus. Bedeutsamer als die wissenschaftliche Ausbeute waren für HAGEN die auf der Reise gewonnenen persönlichen Kontakte: Er lernte u. a. JEAN PAUL kennen, begegnete Johann Georg MÜLLER, dem Bruder seines 1809 verstorbenen Mentors, und knüpfte Verbindungen zu 74
75 76
HOLTEI (L197) Bd. 1, S.268 (HAGEN an TIECK, 12.3.1813 [B 514]). Vgl. IMMERMANNS Spottverse im Tulifäntchen (IMMERMANN [L203] Bd. 1, S. 476). Die Nordischen Heldenromane wurden erst 1828 mit Übersetzungen der Ragnar- Lodbrokund Nornagest-Saga (W39) abgeschlossen.
77
REIFFERSCHEID ( L 3 7 3 ) , S . 1 4 6 (HAGEN a n GROOTE, 1 2 . 6 . 1 8 1 6
78
Wichtig für HAGENS weitere Arbeit waren eigentlich nur die Kollationen der Florentiner 7Wj7a«-Handschrift und des Hohenems-LASSBERGSchen Nibelungen-Kodex; vgl. SOLGER
79
Briefe (W20) Bd. 1, S. V/VI.
( L 4 3 7 ) B d . 1 , S. 5 7 0 f. (SOLGER a n KESSLER, 8 . 1 1 . 1 8 1 7 ) .
[B213]).
Breslauer Jahre ( 1 8 1 1 - 1 8 2 4 )
23
Peter CORNELIUS und den Nazarenern in Rom an. Entscheidend für sein weiteres Leben war das Zusammentreffen mit Johann Arnold KANNE in Nürnberg, dessen „etymologische und mythologische Schriften mit ihrer religiösen Wendung eine starke Wirkung" auf HAGEN ausübten und ihn, den „Umirrenden", in die „wahre Heimath"80 zurückwiesen, d. h. zu einem Christentum streng lutherischer Prägung bekehrten. Die bisherige preußisch-nationale Grundhaltung verband sich fortan mit puritanischprotestantischen Vorstellungen und ließ HAGEN zu einem engagierten Befürworter der konservativ-reaktionären „Heiligen Allianz" werden: „Endlich, in dieser neuesten Zeit, da so sichtbar durch Gottes und des Erlösers Hand das finstere Reich der Vernunftgöttinn, unter der Gestalt einer Schauspielerinn (der neuen Babylonischen Hure), und das darauf folgende Reich der Lüge, unter der Gestalt der eisernen Maske (genannt vultus tjranni), in den Abgrund gestürzt worden, ist die Abschaffung der Knechtschaft und Sklaven, welche aus ihrem Tartarus der neuen Welt der alten Welt über ihr den Untergang drohte, wenigstens ausgesprochen: ein h e i l i g e r Bund fast aller Christlicher Könige und Völker ist geschlossen, wie nie zuvor, — und kein Spötter soll uns abhalten, davon das segenreichste zu hoffen."81 Wenige Monate nach Abschluß der Italienreise erlangte HAGEN endlich das seit 1812 angestrebte Ordinariat: Laut Kabinettsordre vom 6.11.1817 wurde er zum „ordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät der Universität in Breslau"82 und damit zum ersten Ordinarius für germanische Philologie in Deutschland ernannt.83 Seine (ungedruckte) Antrittsvorlesung Oratio de Aeginetis widmete er am 30.7.1821 dem Skulpturenschmuck des Aphaia-Tempels von Aegina aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert;84 der Einladung zur Vorlesung lagen die Monumenta medii aevi I (W27) mit einem Abdruck des mittelgriechischen Gedichts von Artus und der Tafelrunde aus der Vatikanischen Handschrift bei.85 Auf HAGENS Lehrtätigkeit an der Universität hatte die Ernennung zum ordentlichen Professor keine Auswirkung. 86 Die thematische Streuung seiner Kollegs blieb gering und beschränkte sich vorwiegend auf die seit 1815 alljährlich wiederkeh80 81 82
83
84 85
86
Artikel Hagen (W182), S. 13. Nibelungen: Bedeutung (W22), S.214. Ministerum an HAGEN, 1 3 . 1 1 . 1 8 1 7 (B308) (ZSTA Merseburg Rep.76 Va, Sekt. 4, Tit. 4, Nr. 1, Bd. 4, 204). Zur Entwicklung der Germanistik im frühen 19. Jhd. an den deutschen Universitäten vgl. MOSER (L313), S. 3 5 - 3 7 ; JANOTA (L209), S. 1 - 6 0 . Vgl. Die Aegineten (W141); Rez. Monumenta (W27.1), S. 105. Erneut abgedruckt in den Denkmalen des Mittelalters (W 30); vgl. auch Über ein mittelgriecbisches Gedicht (W264). Vgl. SIEBS (L429), S.203F.; ASSMANN (L10), S.30.
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Lebensbild
rende Folge von Vorlesungen über Altdeutsche und Altnordische Götterlehre*1, Deutsche Sprachlehre sowie das Nibelungenlied. Ausnahmen blieben die für die Wintersemester 1820/21 und 1821/22 angekündigten Lehrveranstaltungen zur Deutschen Literaturgeschichte und die Vorlesung über Gottfrieds Tristan im Wintersemester 1821/22. Der Zulauf von Studenten ließ entsprechend zu wünschen übrig. Im Winter 1813/14 fanden sich zur NibelungenVorlesung ganze neun Hörer ein;89 und auch sieben Jahre später — im Sommer 1820 — mußte sich HAGEN mit derselben Zahl zufriedengeben: „Übrigens geht es mir wohl: ich lese zwei Colleg. und habe in den Nibel. 9 Zuhörer."90 HAGENS Hauptinteresse galt weiterhin der publizistischen Tätigkeit. Seine Arbeiten konzentrierten sich in den späten Breslauer Jahren vornehmlich auf die Dichtungen des „nazionalen Fabelkreises". 1819 erschien die mythengeschichtliche Studie Die Nibelungen: ihre Bedeutungfür die Gegenwart und für immer (W22). Ein Jahr später folgte eine neue — HAGENS umfassendste und beste — Ausgabe des Nibelungenlieds Der Nibelungen Noth %um erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Urschrift mit den Lesarten aller übrigen Handschriften (W25). Zugleich wurde Der Helden Buch in der Ursprache (W23) mit Abdrucken bislang unveröffentlichter heldenepischer Gedichte (voran der kurz zuvor entdeckten Kudrun) eröffnet. Im Zusammenwirken mit TIECK wurde schließlich in den Jahren 1819 bis 1823 die Lithographienfolge Heldenbilder aus den Sagenkreisen Karls des Großen, Arthurs, der Tafelrunde und des Grals, Attila's, der Amelungen und Nibelungen (W21) herausgegeben: ein reich kommentiertes, aufwendiges Bilderbuch, das sich — wie die 1824 erschienene zweite „Erneuung" des Nibelungenlieds (W 32) — vornehmlich an das breite, nicht wissenschaftlich vorgebildete Publikum wandte und bei den Fachgenossen allgemein auf Ablehnung stieß. Als einziges nicht zum „nazionalen Fabelkreis" des Heldenbuchs und der Nibelungen gehörendes Gedicht erschien 1823 im Rahmen der Werke Gottfrieds von Straßburg (W 28) der Tristan (in einem „verglichenen und berichtigten" Abdruck der 1817 kollationierten Florentiner Handschrift). Produkte seiner „Mußestunden" waren zu dieser Zeit neben einer Vielzahl von Beiträgen zur Neuen Breslauer Zeitung und zum Morgenblatt für gebildete Stände die Übersetzungen von Eduard von RACZYNSKIS Malerischer
87
88
89 90
Vgl. hierzu die Einladungsschrift Irmin, seine Säule, seine Straße und sein Wagen (W19) aus dem Jahre 1817. Eine undatierte (72seitige) Mitschrift der Nibelungen-Vorlesung befindet sich in Karl Otfried MÜLLERS Nachlaß (SuUB Göttingen, Sign.: C. O. Müller V). Vgl. HAGEN an ZEUNE, 19.12.1813 (B556). HAGEN an K R A U S E , Pfingsten 1 8 2 0 ( B 2 6 5 ) .
Zweiter Berlinaufenthalt ( 1 8 2 4 - 1 8 5 6 )
25
Reise in einigen Provinzen des osmanischen Reichs (W 33) aus dem Polnischen91 und die gemeinsam mit Maximilian HABICHT und Karl SCHALL unternommene Übertragung der Märchensammlung Tausend und Eine Nacht (W 36) aus dem Französischen.92 Trotz allgemeiner Reputation (und enger Verbundenheit mit dem geselligen und gesellschaftlichen Leben innerhalb und außerhalb der Universität)93 mochte sich HAGEN nicht mit dem Gedanken anfreunden, sein Leben in der schlesischen Provinzhauptstadt („Hier ist ultima Thüle"94) zu beschließen. Als im Herbst 1819 der seit den Hallenser Studientagen eng befreundete Friedrich von RAUMER einen Ruf nach Berlin annahm und Breslau verließ, setzte HAGEN alles daran, ebenfalls nach dort berufen zu werden: „Mir ist recht herzlich daran gelegen: ich bin hier fremd, fern von allen meinen Verwandten und Freunden, welche ich in Berlin wiederfinde."95 Dem durch HARDENBERG geförderten, vom Kultusminister ALTENSTEIN jedoch auf die lange Bank geschobenen Gesuch, wurde erst nach mehr als drei Jahren entsprochen: Am 28.1.1824 erfolgte schließlich HAGENS Ernennung zum ordentlichen Professor „für das Fach der deutschen Sprache und Litteratur"96 an der Universität zu Berlin, mit der ihm wider Erwarten der Vorzug vor seinem Mitbewerber Karl LACHMANN gegeben wurde. 97
1.4
Zweiter Berlinaufenthalt (1824 -1856)
Zum Sommersemester 1824 traf HAGEN in Berlin ein und übernahm dort seinen neuen Lehrstuhl mit vielen guten Vorsätzen: Ich werde dahin arbeiten, so viel an mir ist, ein gründliches und umfassendes geschichtliches Deutsches Sprachstudium, und die jetzo schon grammatisch und kritisch festbegrün-
" Eine eigenhändige Teilabschrift des Werks, die HAGEN unter dem Titel Gemälde von Konstantinopel im Morgenblatt veröffentlichen wollte, befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach (Cotta-Archiv. Stiftung der Stuttgarter Zeitung). 92 Zu den „Nebenarbeiten" zählt auch der 1824 gemeinsam mit Henrik STEFFENS und Ε. T. A. HOFFMANN herausgegebene Sammelband Geschichten, Sagen und Märchen (W31). 93
V g l . JESSEN ( L 2 1 1 ) ,
94
HAGEN a n GROOTE, 1 5 . 3 . 1 8 1 5
95
an HARDENBERG, 6.12.1820 (B220) - s. Anhang 1.54. Ministerium an HAGEN, 2 8 . 1 . 1 8 2 4 ( B 3 2 3 ) (ZSTA Merseburg Rep. 7 6 Va, Sekt. 2 , Tit. 4 , Nr. 5, Bd. 1 0 , 8 7 ) . Ob und inwieweit mit der Versetzung HAGENS nach Berlin ein (durch den freizügigen Lebenswandel seiner Frau hervorgerufener) Skandal in Breslau abgewendet werden sollte (vgl. MACKENSEN [L284], S. 3 7 ) , ist aus den vorhandenen Unterlagen nicht zu erkennen.
96
97
HAGEN
S.284. (B212).
26
Lebensbild dete Altdeutsche Philologie immer mehr und mehr auszubreiten und fruchtbar zu machen.98
Sein Engagement bei den Lehrveranstaltungen blieb hinter den Absichtserklärungen jedoch weit zurück. HAGEN hielt im großen und ganzen — aus bereits „vergilbten Heften" 99 — dieselben Vorlesungen wie in Breslau: 100 Deutsche Sprachlehre (SS 1824, 1826, 1828, 1831-1856 1 0 1 ), Geschichte der alten Deutschen Dichtkunst (WS 1824/25-1840/41 102 , 1842/ 43-1845/46, 1849/50, 1850/51, 1852/53, 1854/55, 1855/56), Altdeutsche und Altnordische Mythologie (WS 1825/26,1828/29,1837/38,1839/ 40-1855/56), Nibelungenlied (SS 1824, 1826-1828, WS 1828/29, SS 1829, WS 1829/30, 1830/31, 1832/33, 1833/34, SS 1834-1838, WS 1838/39, 1839/40, SS 1841-1856, WS 1851/52-1855/56), Tristan (SS 1825, WS 1825/26,1826/27, SS 1830-1833, WS 1834/35-1837/ 38, SS 1839, 1840, WS 1841/42-1850/51). Neu hinzu traten nur Kollegs über Altdeutsche und Altnordische Literatur (SS 1825, WS 1825/26-1827/28), Geschichte der Sprachwissenschaften (SS 1827), Altertümer des Mittelalters (SS 1829 - 1 8 3 1 , 1 8 3 6 - 1 8 3 8 , 1 8 4 2 - 1 8 4 6 , 1848-1856) und das Altdeutsche Heldengedicht Gudrun (WS 1840/41). Der Zulauf der Studenten blieb weiterhin überaus gering. Im Sommersemester 1 8 3 6 vermerkte LACHMANN, der sein Nibelungen-Kolleg vor „nur acht Zuhörer[n]" hielt: „aber ich tröste mich, da Hagen, der dasselbe Collegium liest, wieder nur Einen darin sitzen hat" 103 ; und 1840 hieß es in den Literarischen und kritischen Blättern der Börsenhalle, bei den Vorlesungen des „gemüthlichen, biedern, freundlich gefalligen, zu jeder literarischen Hülfsleistung stets bereiten v o n d e r H a g e n " bewahrheite sich der alte akademische Spruch „tres faciunt collegium" 104 . Die Themen der Berliner Lehrveranstaltungen zeigen keine Verbindung zu HAGENS gleichzeitigen Forschungs- und Editionsvorhaben, die vor allem der mittelhochdeutschen Lyrik und Kleinepik galten. Nach jahrzehntelangen, noch in die Breslauer Zeit zurückreichenden Vorarbeiten erschien 98 HAGEN an ALTENSTEIN, 99 100
2.12.1823 (B321).
BARTSCH ( L 1 5 ) , S. 1 3 6 . Vgl. ASSMANN (L 10), S . 2 9 f .
Eine von Georg WAITZ angefertigte Mitschrift der im SS 1833 gehaltenen Vorlesung zur Deutschen Sprachlehre befindet sich in der SBPK Berlin (Ms. germ, quart. 1076, 11.3). 102 Eine (nach vier Seiten abgebrochene) Mitschrift Jacob BURCKHARDTS vom WS 1840/41 befindet sich im Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt (Nachlaß J. BURCKHARDT); vgl. KAEGI (L212) Bd. 2, S.84f. 103 BAIER (L14), S. 87 (LACHMANN an BENECKE, 15.5.1837). 104 Aus den Denkwürdigkeiten eines Ungenannten. — In: Literarische und kritische Blätter der 101
Börsenballe 1840, S.46f.
Zweiter Berlinaufenthalt ( 1 8 2 4 - 1 8 5 6 )
27
im Dezember 1839 die (auf 1838 datierte) vierbändige Ausgabe der Minnesinger (W43); im Jahre 1850 Schloß sich, gleichsam als episches Pendant, die dreibändige Edition des Gesammtabenteuers (W49) an — die beiden einzigen Textsammlungen HAGENS, die sich „durch ihre bislang unwiederholte Stoffülle als unentbehrliche Quellenwerke im Innenhof seiner Wissenschaft" 105 fest einzuwurzeln vermochten. Der sonstige wissenschaftliche Ertrag der in Berlin verbrachten Jahrzehnte — Gelegenheitsarbeiten wie die Nibelungen-Ausgabe von 1842 (W46) 106 , die Edition des Orendel (W 48) oder der Abdruck von Ludwigs des Frommen Kreuzfahrt (W 52) aus den Jahren 1844 und 1854 — nimmt sich daneben eher bescheiden aus. In seinen „Mußestunden" widmete sich HAGEN weiterhin mit Vorliebe Übersetzungsarbeiten (meist aus dem Französischen) wie der Übertragung der Märchensammlung Tausend und Ein Tag (W 38) oder der Geschichte der neueren deutschen Kunst von Athanasius von RACZYNSKI (W 42). Wie schon von Breslau sandte er nun auch von Berlin aus eine Vielzahl kleinerer journalistischer Beiträge an verschiedene Zeitungen, vornehmlich an das CoTTAsche Morgenblatt und das von SCHORN herausgegebene Kunst-Blatt, wobei sich publizistischer Ehrgeiz und finanzielles Kalkül oftmals die Waage hielten. Eine „Herzensangelegenheit" war ihm 1832 die (auf eigene Kosten betriebene) Veröffentlichung des gegen BÖRNE, SAPHIR, HEINE und „noch so manche tiefverkappte Schandschreiber besonders über Preußen in den Pariser Tagesblättern" 107 gerichteten monarchistisch-patriotischen
Pamphlets Neueste Wanderungen, Umtriebe und Abenteuer des Ewigen Juden
(W40), in dem er sich (vorsichtshalber anonym) gegen die aufklärerischdemokratischen Strömungen seiner Zeit stark zu machen suchte: eine peinliche publizistische Entgleisung, die ihm keine Freunde einbrachte — „Der Titel zeigt schon, daß der Verfasser ein fader Patron ist, einer von der edlen Straßenjugend, die gleich hintenherlauft, wenn die löbliche Polizei etwa einen Fang gemacht hat" 108 (W. MENZEL) — und ihn zudem in finanzielle Bedrängnis brachte, wenn auch seine damalige Klage, er sei „wahrhaftig so arm wie eine Kirchenmaus" 109 , etwas übertrieben sein dürfte. Weitaus erfreulicher und seinem Ansehen förderlicher war HAGENS gleichzeitiges Engagement für die Berlinische Gesellschaftfür Deutsche Sprache und Alterthumskunde110, die — 1815 gegründet und wenig bedeutend — unter seiner Leitung (seit 1825) aufblühte und in den Jahren 1836—1853 105
MACKENSEN ( L 2 8 4 ) , S . 3 8 .
106 £) e r ergänzende Band mit der Klage ( W 5 0 ) erschien erst 1852. 107 Neueste Wanderungen (W40), S.4. 108 Rez. Neueste Wanderungen (W40.1), S.19. 109
HAGEN a n BARTH, 2 0 . 8 . 1 8 3 2 ( B 2 1 ) .
1,0
Zur Geschichte der Berlinischen
Gesellschaft
vgl. zuletzt J.J.MÜLLER (L318), S. 85 —88.
28
Lebensbild
mit dem von ihm redigierten Jahrbuch Germania (W41) auch in die Öffentlichkeit hineinwirkte. Als Krönung seiner wissenschaftlichen Laufbahn galt H A G E N die am 9. 3.1841 ausgesprochene Ernennung zum Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften,111 zu deren monatlichen Sitzungen er fortan bis 1855 eine beträchtliche Zahl von Vorträgen (vielfach über die Bilderhandschriften des Minnesangs) beisteuerte. Die letzten Jahre widmete H A G E N ansonsten dem Ordnen und Zusammenfassen seines weitgestreuten Lebenswerks: 1855 beendete er die nordischen Studien mit einer „verbesserten" Neuausgabe seiner 1813/14 erstmals vorgelegten Übertragung der Wilkina-Saga (Altdeutsche und Altnordische Helden-Sagen If II [W 54]) und Schloß im selben Jahr mit dem zweibändigen Heldenbuch (W53) seine 1820 eröffnete Sammlung Der Helden Buch in der Ursprache (W23) ab. Das Erscheinen des als fünften und letzten Teil der Minnesinger (W 43) konzipierten Bildersaals Altdeutscher Dichter (W 55) im Jahre 1856 markiert den Endpunkt der unermüdlichen Publikationsarbeit: Am 11.6.1856 — nach mehr als 45jähriger Lehrtätigkeit — verstarb in Berlin Friedrich Heinrich von der H A G E N , der Gründer und erste beamtete Vertreter der Universitätsgermanistik, im Alter von 76 Jahren.
1.5
Anhang: Briefe zum beruflichen Werdegang
1.51 Brief H A G E N S an das Ministerium des Innern (Sektion für den öffentlichen Unterricht) vom 11.8.1810 (B296) (Zentrales Staatsarchiv Merseburg Rep.76 Va, Sekt. 2, Tit.l, Nr. 2, Bd. 4, 126f.) Einer Königlichen Hochlöblichen Sekzion im Ministerio des Innern für den öffentlichen Unterricht. Einer Hochlöblichen Sekzion des öffentlichen Unterrichts nehme ich mir die Freiheit, mich mit einer ergebensten Vorstellung zu nahen, deren Gegenstand mir so sehr am Herzen liegt und durch seine Erheblichkeit mich auf eine höhere Berücksichtigung hoffen läßt. Schon vorlängst hatte ich die Ehre, einen Aufsatz zu überreichen, worin ich mich bemühte, die Deutsche Alterthums-Wissenschaft, als eine solche, und nicht bloß der Idee nach gültigen [!], sondern durch die Foderung der Zeit auch wirkliche, wenigstens in der Bildung begriffene Wissenschaft, nach ihrem ganzen Umfange darzustellen, und zugleich ihre allgemeine 111
Zu den Hintergründen vgl. LEITZMANN (L271), 6.3.1841).
S.267f.
(LACHMANN an J.GRIMM,
Anhang: Briefe zum beruflichen Werdegang
29
Anwendung, ihre Einführung in die höheren Lehr- und Gelehrten-Anstalten überhaupt anzudeuten, so wie zu wünschen. Gegenwärtig, da die Eröffnung der hier unter so glänzenden Begünstigungen aller Art reifenden Universität nahe ist, erachte ich es für meine Schuldigkeit, in Beziehung auf diese nochmals meine ergebenste Vorstellung zu wiederhohlen und darnach näher zu bestimmen. Darf ich voraussetzen, daß die Deutsche Alterthums-Wissenschaft wirklich eine solche und dabei an der Zeit ist, so kann sie jedoch nicht eher wahrhaft lebendig und fruchtbar werden, als bis sie auch von Seiten des Staats öffentlich anerkannt worden. Dazu könnte sich nun wohl keine günstigere und schicklichere Gelegenheit darbieten, als eben ihre Einführung und Einsetzung in die neue Universität. Ihre Anwendbarkeit und Fruchtbarkeit für dieselbe wird leicht aus der Reihe von Vorlesungen erhellen, die von einem für sie bestimmten Lehrstuhle zu erwarten und zu fodern wären, und unter denen einige zwar schon längst als nöthig erkannt, jedoch nur beiläufig oder zufällig vorgekommen sind, solchergestalt erst in ihrer vollen inneren Ausführung, so wie in ihrem ganzen Zusammenhange mit den übrigen, ganz neuen, erscheinen würden. Diese Vorlesungen sind etwa folgende: 1. Geschichte der Deutschen Sprache, nach den verschiedenen Zeitaltern und Mundarten, im weitesten Umfange, auch in Beziehung auf die verwandten Sprachen und mit Vergleichung der noch lebenden. 2. Geschichte der Deutschen Literatur: a) der poetischen, b) der prosaischen. 3. Ausgeführte Geschichte der Deutschen Poesie und Prosa, auf der vorigen Grundlage. 4. Über Sitten, Gebräuche, Religion, öffentliches und häusliches Leben ff, oder was man gewöhnlich im engern Sinn unter dem Nahmen der Deutschen Alterthümer begreift. (5. Die politische Geschichte, Diplomatik ff. muß, so weit sie in Beziehung steht, hier überall mitgenommen werden.) 6. Über einzele alte Schriftsteller und Werke, ganz nach Art der Klassiker; zuförderst zwar über die anerkannt vortrefflichsten, als: die Nibelungen, das Heldenbuch, den Titurel, den Tristan und den Reineke Voß. Zuvor wären freilich die zu diesen Vorlesungen nöthigen Handbücher und Ausgaben zu besorgen. Aber hier darf ich wohl Eine Hochlöbliche Sekzion des öffentlichen Unterrichts ergebenst darauf aufmerksam machen, daß ich selber, laut den verschiedenen Ankündigungen, hiemit beschäftigt bin, und jetzo schon eine solche Handausgabe der Nibelungen veranstaltet habe, welche, in der Hoffnung einer höheren Berücksichtigung, eigends dazu bestimmt ist, mit diesem großen Nazionalepos, auf welches das
30
Lebensbild
Vaterland mit Recht stolz sein darf, jenen Kreis von Vorlesungen auf eine würdige Weise zu eröffnen. Und so bin ich denn auch so dreist, Eine Hochlöbliche Sekzion des öffentlichen Unterrichts, wenn diese meine ergebenste Vorstellung nicht ganz unstatthaft befunden wird, dabei zugleich um geneigte Berücksichtigung meiner geringen Person gehorsamst zu bitten. Die zuversichtliche Hoffnung hierauf mit der Liebe zu einem Studio, dem ich meine beßten Kräfte gewidmet und mit dessen Aufstellung es mir so inniger Ernst ist, haben allein, unter den mancherlei äußeren Hindernissen und drückenden Umständen, mich demselben getreu erhalten mögen, und mich sogar vermocht, andere sichere Aussichten fest aufzugeben. Meine Wünsche in dieser Hinsicht sind so bescheiden und die Großmuth einer väterlichen Regierung hat so reichlich für diese neue Anstalt der Wissenschaften gesorgt, daß ich wohl hoffen darf, auch diese ächt Deutsche Wissenschaft werde sich, wie mäßig auch, derselben zu erfreuen haben. Auf jeden Fall ist es mir nur um die Wissenschaft selbst zu thun, und ich muß mich freilich schon glücklich schätzen, wenn nur irgend etwas für dieselbe von oben herab gethan wird. — Es bedarf hier vor einer erleuchteten Sekzion des öffentlichen Unterrichts nicht der Erwähnung ausländischer Beispiele, noch der auf einheimischen Universitäten schon bestehenden Lehrstühle für die Deutsche Sprache. Es könnte sehr wohl bei diesem herkömmlichen Namen verbleiben: sonst dürfte es, bei einer gewiß mit so vielem Eigenthümlichen der Zeit erscheinenden Universität, nicht unschicklich, ja nicht unzweckmäßig sein, auch diese neue Wissenschaft unter ihrem eigenen Namen auftreten zu lassen. Jedoch stelle ich dieß, so wie alles Übrige dem höheren Ermessen Einer Hochlöblichen Sekzion des öffentlichen Unterrichts anheim, und wiederhole nur meine gehorsamste Bitte, diesem meinem ergebensten Gesuch einige Berücksichtigung angedeihen zu lassen. Berlin d. Ilten August ganz gehorsamster Diener 1810 Dr. F. H. von der Hagen (Charlottenstr. Nr. 36.) 1.52
Brief des Ministeriums an HAGEN vom 2 1 . 8 . 1 8 1 0 (B 2 9 7 ) (Zentrales Staatsarchiv Merseburg Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 1, Nr. 2, Bd. 4, 129)
Berlin den 21H1 Aug. 1810. An den Herrn D. von der Hagen Hochwohlgeb. Charlottenstraße no. 36. hieselbst. Die Sektion des öffentlichen Unterrichts ist von dem Werthe des Studiums der deutschen Alterthümer, so wie auch davon ganz überzeugt, daß Ew. Hochwohlgeb. erfreulichen Bemühungen um dieselben sich noch
Anhang: Briefe zum beruflichen Werdegang
31
immer mehr bewähren werden. Was aber die von Ihnen in der Vorstellung vom 11ίη d.M. gewünschte Stiftung eines solchen Lehrstuhls bei hiesiger Universität betrifft, so bemerkt die unterzeichnete Sektion, wie es am angemeßensten scheint, daß der Staat in solchen Dingen der öffentlichen Meinung nur folgen [!] und ein neues Studium nicht eher als akademischen Lehrgegenstand aufstelle, als bis die allgemeine Stimme sich schon durch die That für diese Maaßregel erklärt hat. Es wird also der Sektion fürs erste nur übrig bleiben, Ew. Hochwohlgeb. den Wunsch zu erkennen zu geben, daß Sie als Privatdocent Vorlesungen über diese interessanten Gegenstände halten mögen, wozu es nichts weiter bedürfen wird, als daß Sie sich über Ihre rite erlangte Doktorwürde legitimiren. Sie muß sich damit um so mehr begnügen, als ihr in diesem Augenblick nicht einmal Fonds zur Gründung einer neuen Professur zu Gebote stehen. Wenn indeßen dies Studium, wie es zu wünschen und zu erwarten ist, sich gute Bahn macht, so wird die Sektion auch ihrerseits sobald es die Umstände erlauben, nicht verabsäumen, etwas dafür zu thun. Berlin den 21™ Aug 1810. Die Sekt. d. öff. Unterrichts Nicolovius Schleiermacher 1.53
Brief HAGENS an Karl Wilhelm Ferdinand SOLGER vom 20.3. [1811] (B490) (Deutsches Literaturarchiv, Schiller-Nationalmuseum, Marbach/Neckar) Berlin d. 20tn März.
Lieber Solger; Ich muß endlich an Dich schreiben, damit Du doch auch wieder einmal ein Lebenszeichen von Dir gebest. Ich bin Dir so noch wol einen Brief schuldig; unterdeßen aber hat Krause fleißiger die Mittheilung unterhalten, und mir mußt Du ein wenig nachsehen, da ich so weit und breit zu schreiben habe, was mir anfangt sehr lästig, auch immer kostbarer zu werden. Ich denke, es wird sich ändern, damit ich wieder mehr meinen lieben alten Freunden, von denen Du mir der liebste, angehöre. Viel kann und mag ich Dir von hier nicht erzählen, da Du ja wol bald herkommen wirst. Und dieß ist, was wir gern alle wissen möchten; Du wirst doch nicht abwärts etwa nach Schwedt wollen? Von hier allenfalls. Wir wollen uns, wenn Du da bist, recht ausreden, und Du sollst alles haarklein vernehmen, was Du gern von unserer Universität wissen willst. Ich für mein Theil bin sehr zufrieden, zuförderst mit mir selbst, was den Vortrag betrifft. Anfangs ward es mir sauer, ich schrieb erstaunliche Hefte, lernte auswendig und las: aber, zumals als ich an die besondere Einleitung zu den Nibelungen kam, gebot Zeit und Noth kurze Vorbereitung, und ich
32
Lebensbild
konnte nur die Grundzüge auf meinen Denkzettel schreiben, und es ging ganz trefflich: freilich war ich hier auch am meisten zu Hause. Jetzo lerne ich immer besser, und die Erklärung des Textes selbst, mit welchem ich übermorgen endige, geht wie geschmiert. Auch mit meinen Zuhörern bin ich sehr zufrieden: ich habe 6 sehr fleißige und beständige behalten, um deren willen ich auch noch fortlese, und mit welchen ich auch mehr zusammen bin, auf Spaziergängen pp. Sie fühlen die Trefflichkeit des unwiderstehlichen Gedichts und sind höchst begierig auf das Ende. Endlich hat auch die Sekzion, vielmehr der Staatskanzler, mich mit 200 rth. honorirt, und ich habe sogleich öffentlich gelesen, und hatte mit einmal ein volles Auditorium. — Was sagst Du nun zu meinem Plan in Breslau Bibliothekar mit Büsching zu werden. Und wie war' es, wenn Du mit der Universität auch hinkämst? Wollten wir nicht unseren Thee auf den Schlesischen Musenberg verpflanzen? Für Tollen sind auch schon Vorschläge gemacht, und er singt schon Kennst Du den Berg? (nämlich den Zofenberg bei Breslau) dahin, dahin, ruft er Dir, seinem Meister zu. Ich bin ganz entschlossen hin zu gehen, so ungern ich auch von Berlin und so vielen Lieben scheide: aber ich muß nachgerade wo unterkriechen. Ich habe es laut werden lassen, und jetzo höre ich, möchte man mich wol gern behalten. Ich werde sehen, was etwa geboten wird. Wolf sagte mir gestern noch, sie wollten mit mir Staat machen; aber leider aus meiner Tasche. Von diesem Wolf aber erhältst Du, nebst vielen Grüßen, die Beilage, die recht eigentlich an Dich gerichtet ist, und häufig der Gegenstand unserer Gespräche gewesen. Ich habe immer Dein System verfochten und thue es noch, und habe eben noch etwas dafür in Petto. Da wird's viel drüber zu reden geben und ich freue mich schon darauf. Komme nur ja recht bald; denn eure Ferien müssen doch wol vor der Thüre sein, da unsere bald zu Ende gehen. Der Freitag und meine Frau grüßen Dich beßtens. Behalte mich lieb, und lass Dich sehen oder hören, recht bald Dein treuer FHvdHagen 1.54
Brief HAGENS an Karl August von HARDENBERG vom 6.12.1820 (B 220) (Zentrales Staatsarchiv Merseburg Rep. 76 Va, Sekt. 4, Tit. 4, Nr. 1, Bd. 6, 167 f.)
Durchlauchtiger Fürst; Hochgebietender Herr Staatskanzlerl Ew Durchlaucht werden gnädigst verzeihen, wenn ich zwischen die wichtigsten Staatsverhandlungen über Europa's, ja der Welt Wohl, mich eindränge, und um ein geneigtes Gehör bitte. Ich kann aber nicht säumen, den eben vollendeten vierten Band der Reise, welche ich Ew Durchlaucht nie genug verdanken kann, gehorsamst zu überreichen, als Fortsetzung
Anhang: Briefe zum beruflichen Werdegang
33
dieses Ew Durchlaucht zugeeigneten und von Denselben so huldreich aufgenommenen Werkes. Möge auch dieser Band bei Ew Durchlaucht nicht unwürdig erfunden werden, und zugleich in der Wiederholung einer früheren ergebensten Bitte etwas für mich sprechen. Diese Bitte betrifft meine so sehr gewünschte Zurückversetzung nach Berlin, zu welcher durch die Gnade Ew Durchlaucht, und durch eine bestimmte Zusicherung des Freiherrn von Altenstein Exzellenz mir schon so gewisse Hoffnung erregt war, die jetzo wieder getrübt wird. Es ist, wie ich höre eingewendet worden, daß ich hier in Breslau durchaus nöthig, dagegen in Berlin die Professoren Hirt und von Raumer schon meine Stelle verträten. Dieß letzte ist aber eine Täuschung und gänzlich unrichtig. Meine Hauptvorlesungen sind bisher Geschichte der Deutschen Litteratur und Sprache, Deutsche Sprachlehre, Erklärung des Nibelungen-Liedes und anderer Altdeutscher Klassiker, Altdeutsche und Altnordische Mythologie. Von allem diesem wird in Berlin durchaus gar nichts gelesen, und ist auch niemand dort, der es könnte und möchte. Ich erbot mich außerdem noch zu Deutschen Alterthümern (der Sitte, Gebräuche pp) zur Deutschen Kunstgeschichte, und Diplomatik; welche sämtlich ebenfalls bisher dort nie gelesen worden, und auch den beiden genannten Professoren fernab liegen. Demnach fände also, in den Hauptsachen, durchaus keine Kollision statt. Dagegen kann und will der Professor Büsching hier, welcher diese letztgenannten Vorlesungen hält, auch meine bisherigen recht wohl mit übernehmen, zumal nach gegenseitigem freundlichem Austausche der Vorarbeiten. Mein ergebenstes Gesuch um Versetzung an die Berliner Universität bleibt also noch gut begründet, und ich bitte Ew Durchlaucht recht flehentlich um eine gnädige Gewährung desselben, welche ganz in Ew Durchlaucht gütigen Händen ruht. Mir ist recht herzlich daran gelegen: ich bin hier fremd, fern von allen meinen Verwandten und Freunden, welche ich in Berlin wiederfinde. Wie gern und wie innig würde ich Ew Durchlaucht auch diesen so sehr und lange schon gewünschten Zuwachs im Glücke meines Lebens und meines Berufs verdanken! In tiefster Ehrfurcht verharre ich Ew Durchlaucht gehorsamster Diener F. H. von der Hagen Professor Breslau den 6ten Dezember 1820.
2. Nibelungen-Forschungen 2.1
Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos
2.11 Vorgeschichte: Von Johann Jakob BODMER bis Johannes von
(1805) MÜLLER
erste literarhistorische Veröffentlichung datiert vom März 1 8 0 5 . Unter dem Titel Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos, mit Angabe der Grundsätze, welche bei der Bearbeitung desselben befolgt worden sind erschien in der Zeitschrift Eunomia — von einem wohlwollenden Kommentar des Redakteurs FISCHER 1 begleitet — die Übertragung der Nibelungen-Verse 5 8 3 8 - 6 0 9 7 2 (die sog. Donauepisode der XXV./XXVI. Aventiure). Bestimmend für die Textauswahl waren vornehmlich inhaltliche Momente: die motivische Prägnanz der Szene3 und die innere „Selbständigkeit" 4 des Abschnitts. Bereits August Wilhelm SCHLEGEL hatte in seinen (für HAGENS Entwicklung so bedeutsamen) Berliner Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst ( 1 8 0 3 / 0 4 ) auf diesem Teil des Gedichts insistiert, um an ihm die „meisterlich" abgestuften „Gradationen des Colorits"5 bei der Darstellung des Wunderbaren zu veranschaulichen. Zudem war HAGEN durch Johann Jakob BODMERS „poetische" Bearbeitung der Donauepisode in der 1781 publizierten Ballade Die wahrsagenden Meerweiber6 erstmals auf das Nibelungenlied aufmerksam gemacht worden. 7 Die Auswahl des Textes darf freilich kaum als Reverenz gegenüber den ebenso „treu und redlich" 8 gemeinten wie letztlich ineffektiven Bemühungen des Schweizers um die Popularisierung des Nibelungenlieds gewertet werden; HAGEN ergriff hier vielmehr die Gelegenheit, seine neuen (über BODMERS erfolglose Vermittlungsstrategien hinausweisenden) Bearbeitungsprinzipien wirkungsvoll zu präsentieren.9 Zur Zeit der Publikation von HAGENS Eunomia-Ptobz ( 1 8 0 5 ) war das Nibelungenlied der literarisch interessierten Öffentlichkeit selten mehr als HAGENS
NL 1805, S. 171 Anm.*. Verszählung nach der Nibelungen-Edition M Y L L E R S (L 328) Bd. 1,1. 3 Auch GOETHE war durch diese Verse zur ersten Lektüre des Liedes angeregt worden; vgl. Goethe und die Nibelungen (W196), S. 249. 4 NL 1807, S. 494 Anm. 69. 5 A.W. SCHLEGEL (L398) Bd.3, S. 122. 6 Vgl. NL 1807, S. 482. 7 Vgl. HB 1855, S. VII. 8 NL 1807, S. 483. » Vgl. Ueber die Grundsätze (W58), S.254. 1
2
Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos (1805)
35
dem Namen nach bekannt.10 Ein halbes Jahrhundert zuvor ( 1 7 5 7 ) hatte BODMER nach der ersten Hohenemser (später Donaueschinger) Handschrift C einen Teilabdruck des Nibelungenlieds (Chriemhilden Rache, und die Klage) vorgelegt. Vor allem die sprachlichen Hindernisse, die auch durch ein beigegebenes kurzes Glossar nicht ausgeräumt werden konnten, standen einem publizistischen Erfolg der Ausgabe von Anfang an im Wege; das Werk blieb „beynahe ganz" unverkauft „in der Verleger Gewölben"11 liegen. BODMER suchte daraufhin zehn Jahre später ( 1 7 6 7 ) mit einer freien Hexameter-Übertragung des zweiten Teils der Nibelungen (Die Rache der Schwester) das öffentliche Interesse für das Gedicht zu wecken, konnte freilich mit seinem literarisch anspruchslosen Werk wiederum keine Breitenwirkung erzielen.12 Den Abschluß seiner Popularisierungsbestrebungen bildeten die 1781 in den Altenglischen und altschwäbischen Balladen publizierten Romanzen Sivrits mordlicher Tod, Die wahrsagenden Meerweiber und Der Königinnen Zankxi, drei künstlerisch unbedeutende Bearbeitungen des Nibelungen-Stoffs14, die — wie zu erwarten — in ihrer Zeit ebenfalls nicht die gewünschte Resonanz fanden und den gutmeinenden Verfasser resignieren ließen. Die von BODMER angestrebten Impulse zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Nibelungenlied sollten erst von der Textausgabe seines Schülers Christoph Heinrich MYLLER ausgehen: 1 7 8 2 legte dieser mit Der Nibelungen Liet. Ein Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert15 die erste Gesamtausgabe des Werks vor, die freilich editionstechnisch selbst den damaligen nicht allzu hoch gesetzten Ansprüchen an eine altdeutsche Textausgabe nicht genügen konnte. Angesichts der mangelhaften Texteinrichtung sowie der fortbestehenden (durch kein Glossar aus dem Wege geräumten) Sprachbarrieren wäre der MYLLERschen Edition sicherlich eine ähnlich geringe Wirkung beschieden gewesen wie 2 5 Jahre zuvor B O D M E R S Chriemhilden Rache, wenn nicht 1 7 8 3 Johannes von MÜLLER dem Werk in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen eine Rezension gewidmet hätte, die für „die Erkenntnis des deutschen Epos [...] von derselben Bedeutung wie Lessings 17. Literaturbrief für die Erkenntnis Shakespeares"16 werden sollte. Überzeugt vom hohen künstlerischen Rang des Gedichts und enttäuscht von der unzulänglichen Leistung des Herausge10
Zur Kenntnis des Nibelungenlieds im 18. Jahrhundert vgl. KÖRNER (L230), S.3—18; EHRISMANN ( L 8 3 ) , S . 2 6 — 4 6 .
" CASPARSON (L60) Bd. 1, Vorrede, S.III. " Vgl. HAGENS Urteil in N L 1 8 0 7 , S . 4 8 1 . 13
BODMER (L31), S. 1 5 0 - 1 7 8 .
14
Vgl. HAGENS K r i t i k in N L 1 8 0 7 , S . 4 8 2 F .
15
MYLLER ( L 3 2 8 ) Bd. 1,1.
16
KÖRNER (L230), S.12.
36
Nibelungen-Forschungen
bers, forderte M Ü L L E R eine neue Bearbeitung und Ausgabe des Werks, die sowohl den Erwartungen des in der Lektüre mittelhochdeutscher Texte ungeübten Lesers17 als auch den literarischen Qualitäten des Liedes Rechnung tragen sollte: Dieses vortreffliche Gedicht, auf welches die Nation stolz thun darf, wird nie so allgemein bekannt werden, als es verdient, wenn ihm nicht gelehrte Hände den Dienst leisten, welchen Homer von denen empfing, die ihn zuerst allen Griechen zum Lieblingsbuch machten. 18 [...] aber das dürfen wir versichern, daß, wenn der Nibelungen Lied nach Verdienst bearbeitet wird (nicht aber z u s e h r , sondern seiner antiken Gestalt ohne Schaden), auch unsere Nation eine Probe wird aufstellen dürfen, wie weit es die Natur im Norden zu bringen vermochte. 19 M Ü L L E R schwieg sich zwar darüber aus, wie die geforderte behutsame Bearbeitung des Nibelungenlieds im einzelnen durchgeführt werden sollte; man darf jedoch davon ausgehen, daß er mehr als die bei M Y L L E R vermißten Leseerleichterungen (Einführung von Interpunktion, Verbesserung offensichtlicher Schreibfehler, Vereinheitlichung der Orthographie, Erläuterung grammatischer Grundfragen) erwartete. Der Hinweis auf die durch „gelehrte Hände" vorgenommene Redaktion der Werke Homers läßt darauf schließen, daß ihm neben einer sprachlichen Überarbeitung vor allem eine kritische Durchsicht und Herstellung des Textes auf der Grundlage der gesamten erreichbaren handschriftlichen Überlieferung vorschwebte, wie sie die homerischen Epen durch die sog. peisistratische Redaktion und später durch die alexandrinische Textkritik erfahren hatten. M Ü L L E R S Aufruf blieb nicht ohne Echo. Schon wenige Monate später ließ Gerhard Anton GRAMBERG, in der Hoffnung, der „Forderung des treflichen göttingischen Rezensenten des Nibelungen Liet einiger massen"20 gerecht zu werden, eine Bearbeitung der XXXIX. Aventiure in BOIES Deutsches Museum einrücken, die freilich — trotz der erklärten Absicht, „dem Ausdruck, der Versart, und den Reimen des Originals möglichst getreue Nachbildung zu geben" 21 — in Sprache und Form gleich weit von der Vorlage entfernt blieb, wie bereits der Vergleich der
17
18 19
Vgl. J . v. M Ü L L E R S Forderung nach Lesehilfen durch „Interpunction, kurze grammatische Erläuterungen und einige orthographische Erleichterungen": „Dieses würde der kritischen Benutzung eben so wenig nachtheilig seyn, als wenig man die Bibel nicht mehr kritisch bearbeiten kann, weil sie lesbar gedruckt worden. Vieles muß einem Herausgeber beifallen, das auch geübten Lesern entgeht. Endlich sollten wenigstens die offenbaren Schreibfehler verbessert werden [...]." ( J . v . M Ü L L E R [L320] Bd. 26, S. 36). Ebd., S. 37. Ebd., S. 40.
20
GRAMBERG ( L 1 3 4 ) , S. 57.
21
Ebd.
Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos (1805)
Anfangsstrophe mit der entsprechenden Passage bei läßt: 22
MYLLER
37
erkennen
MYLLER:23
Do suchte der herre dietrich selbe sin gewant. Do half daz er sich wafent meister hildebrant. Do chlaget also sere der chreftige man. Daz im das hus erdiezen gein siner stimme began. GRAMBERG:24
Da suchte nun Herr Dietrich Alsbald sein Kriegsgewand; Da half, daß er sich wafnet' Ihm Meister Hildebrand; Da jammerte so kläglich Der starke Rittersmann, Daß der Palast zu hallen, Vom Klaggeschrei began.
Aus den späteren 80er Jahren datieren die — erst im November 1806 in der Neuen Berlinischen Monatsschrift publizierten — Ubertragungsproben Dietrich Hermann HEGEWISCHS, die dem mittelhochdeutschen Text neben einer wörtlichen „Uebersetzung" auch eine freie „Nachahmung" an die Seite stellen, um „bei den Lesern eine noch größere Ahnung von den Schönheiten dieses alten Gedichts [zu] erregen"25: MYLLER:26
Von einer kemenaten sach man si alle gan. Do wart vil michel dringen von helden dargetan. Die des gedinge heten ob chunde daz geschehen. Daz si die mait edele solden vrolichen sehen. HEGEWISCH
(wörtlich): 27
Aus einem besondern Gebäude sah man sie alle gehn; Da geschah ein großes Drängen der Helden, Die das Anliegen hatten, ob es geschehen könnte, Daß sie das edle Mädchen fröhlich sehen möchten.
22
Vgl. HAGENS Urteil in N L 1807, S. 4 8 3 - 4 8 5 .
23
MYLLER (L328) Bd. 1,1, V. 9 0 9 8 - 9 1 0 1 .
24
GRAMBERG ( L 1 3 4 ) , S . 5 7 .
25
(L170), S.379. MYLLER (L328) Bd. 1,1, V. 1 1 0 8 - 1 1 1 1 .
26 27
HEGEWISCH
HEGEWISCH ( L 1 7 0 ) , S. 373.
38
Nibelungen-Forschungen
HEGEWISCH
(frei): 28
Aus des Schlosses entferntem Gemache sah man Jetzt kommen die Schönen. Es drängt sich heran Ein jeder der Helden; ein jeder will gehn Ganz nahe der Edeln, um nah sie zu sehn.
Weder die (keineswegs fehlerfreie) ängstlich-pedantische Prosaübersetzung noch die freie Bearbeitung, die den Wortlaut der Vorlage nur mehr ahnen läßt, 29 waren freilich dazu angetan, den Forderungen MÜLLERS auch nur in Ansätzen zu genügen. Von HEGEWISCHS wenig geglückten Bemühungen war (wie zuvor von GRAMBERGS bescheidenen Versuchen) die intendierte Breitenwirkung nicht zu erwarten, die das Nibelungenlied zum „Lieblingsgedicht der Nazion"30 hätte werden lassen können. 2.12
Grundsätze der „Wiedererweckung und Erneuung"
Im Jahre 1803 glaubte HAGEN, eine angemessenere Bearbeitungsform des Liedes gefunden zu haben, die nicht nur ein allgemeines Verständnis des Textes versprach, sondern zugleich — im Sinne MÜLLERS — das Werk in seiner „antiken Gestalt" weitgehend unangetastet ließ. Anregungen hierzu waren von August Wilhelm SCHLEGEL und Ludwig TIECK ausgegangen. 1803/04 hatte SCHLEGEL in seinen Berliner Vorlesungen ein „in die heutige Sprache übertragenes Stück" 31 des Nibelungenlieds zitiert — „mit sehr geringen Veränderungen, die bloß jede störende Erläuterung ersparen sollten"32. Den Besuchern des Kollegs wurde durch die (weitgehend auf die Modernisierung des Lautstands beschränkte) Bearbeitung33 der Eindruck vermittelt, das mittelhochdeutsche Gedicht erstmals nicht nur zu hören, sondern auch zu verstehen. Der Vortrag verfehlte seine Wirkung nicht, und HAGEN gestand später (in seinem Schreiben vom 30.9.1807) SCHLEGEL gegenüber ein, durch dessen „treffende Würdigung und würdige Darstellung des großen alten Epos" in seinem „Vorsatze zur Bearbeitung deßelben, so wie in deren Art und Weise bestärkt worden" 34 zu sein — 28 29 30 31 32
33
34
Ebd., S. 379. Vgl. HAGENS Kritik in NL 1807, S.485F. HEGEWISCH (L170), S.370. A . W . SCHLEGEL (L398) Bd.3, S. 111. A . W . SCHLEGEL (L397), S. 16; vgl. auch LOHNER (L279), S. 152 (A.W. SCHLEGEL an "I^ECK, 13.4.1804). Das Manuskript der Übertragung ist verloren; vgl. jedoch die Erneuerungen von Nibelungen-Versen bei A . W . SCHLEGEL (L396), S . 5 1 7 und 523. KÖRNER (L229) B d . l , S . 4 4 7 (HAGEN an A . W . SCHLEGEL , 3 0 . 9 . 1 8 0 4 [B461]).
Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos (1805)
39
freilich nur „bestärkt": Der entscheidende Impuls zur „Erneuung" des Gedichts war bereits kurz zuvor von TIECKS im Herbst 1 8 0 3 erschienenen Minneliedern aus dem Schwäbischen Zeitalter, einer Bearbeitung von BODMERS und BREITINGERS Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte ( 1 7 5 8 / 5 9 ) , ausgegangen, die erstmals Textausgabe und Übertragung zu verschmelzen suchte. Um einen authentischeren Eindruck von den mittelalterlichen Gedichten zu vermitteln, als dies die „meist zu sehr modernisirt[en] und verändert[en]"35 Bearbeitungen des 18. Jahrhunderts vermochten, hatte TIECK einen Weg der Vermittlung gewählt, der die sprachlichformale Integrität der Texte weitgehend wahren und zugleich — vor allem durch behutsame lautlich-orthographische Modernisierung — eine allgemeine Verständlichkeit gewährleisten sollte:36 Das Wichtigste schien mir, nichts an dem eigentlichen Character der Gedichte und ihrer Sprache zu verändern, daher durfte keine Form des Verses verlezt werden, dies war aber zu vermeiden nicht möglich, wenn man nicht manche der alten Worte so ließ, wie sie ursprünglich gebraucht waren. In der neuern Sprache verliehren alle diese Gedichte zu viel, daher ist es keine unbillige Forderung, wenn der Herausgeber verlangt, daß ihm die Leser auf halbem Wege entgegen kommen sollen, so wie er ihnen halb entgegen geht. Worte, die unsrer Sprache ganz unverständlich sind, sind daher weggeblieben, nicht aber solche, die wir noch, nur in einem etwas veränderten Sinne gebrauchen, oder deren Bedeutung sich leicht aus der Analogie errathen läßt. 37
Das von TIECK für die mittelhochdeutsche Lyrik entworfene (von erstmals auf einen epischen Text angewandte) Vermittlungsmodell wurde von HAGEN dankbar aufgegriffen und weiterentwickelt. Seine im April 1805 publizierten Grundsätze der neuen Bearbeitung vom Liede der Nibelungen können ihre Herkunft aus TIECKS Minneliedern zwar nicht verleugnen, weisen jedoch bereits in den ersten Sätzen programmatische Unterschiede auf: SCHLEGEL
Die im März der Eunomia mitgetheilte Probe ist weder eine eigentliche B e a r b e i t u n g , noch eine sogenannte f r e i e N a c h b i l d u n g , sondern, ihrer Absicht nach, nichts als eine W i e d e r e r w e c k u n g und E r n e u u n g des alten, so lange vergessenen Originals, bloß dadurch, daß es l e s b a r und v e r s t ä n d l i c h gemacht wird; für welches Original, wegen seiner hohen Vortrefflichkeit und, in seiner Art, vollendeten Bildung, meinem Urtheile nach, nur diese Behandlung schicklich und erlaubt ist. Den Beweis dieser Behauptung wird man hier nicht erwarten; er führt sich auch am besten durch die That und Sache selbst, und jeden, der sich dafür interessirt, hoffe ich eben durch meine Arbeit dazu in den Stand zu setzen [...]. 3 8
35
36
37
38
TIECK (L465), Vorrede, S. XXV. Vgl. hierzu die Analyse des Walther-Gedichts (L44), S. 126 f. TIECK (L445), Vorrede, S. XXVI/XXVII. Ueher die Grundsätze (W58), S.254.
(LACHMANN
45,37) in BRINKER-GABLER
40
Nibelungen-Forschungen
Im Mittelpunkt von Hagens Interesse steht nicht der einen leicht zugänglichen Text erwartende Leser; Hagen stellt sich vielmehr ganz in den Dienst des „großen, herrlichen und einzigen" Gedichts, dem bislang die angemessene „Wiedererweckung und lebendige Herstellung" 39 versagt geblieben sind. Der Leser und seine Belange rücken erst in das Blickfeld, wenn es gilt, Grad und Umfang der sprachlichen Erneuerung festzulegen: „Freilich zeigt sich dabei die nicht geringe Schwierigkeit, die rechte Linie zu treffen, so eigentlich zu wissen, was denn nun dermalen ganz veraltet, oder schon erneuet, was verständlich, wo ein Anstoß ist, oder nicht; was wieder aufzunehmen und was liegen zu lassen etc." 40 Bei seiner Suche nach der ,,rechte[n] Linie" sieht sich Hagen immer wieder auf sich selbst, auf sein eigenes Gefühl und Urteilsvermögen zurückverwiesen, da „es in Deutschland zur Zeit kein allgemeines, zum gültigen Regulativ dienendes Publikum giebt, und geben kann" und sich daher „jeder Autor, der ordentlich etwas will, ein solches gleichsam erst schaffen und sich darauf beschränken muß" 41 . Hagen verzichtet darauf, „sein" Publikum näher zu definieren. Er gliedert es nur grob in zwei Gruppen — in die, welche „ich dabei im Sinne habe" 42 bzw. „welche ich eigentlich damit meine" 43 , und „die Uebrigen" 44 . Zu ersteren zählt er alle, die ihm auf dem Wege seiner Bearbeitung ohne größere Mühe folgen können; ihnen sollen die sprachlichen Erneuerungen zum „eigenen und somit auch zum Commentare des Originals dienen" 45 . Zu den „Uebrigen" gehören alle „Mißvergnügten oder Wohlwollenden" 46 , die sich trotz unzureichender sprachlicher Vorkenntnisse auf die Lektüre des Werks „einlassen wollen" 47 . Anders als Tieck, der mit seinen Minneliedern dem „größeren Publikum" 48 auf halbem Weg entgegenzukommen suchte und von diesem den gleichen Schritt erwartete, fordert Hagen die breiteren Leserschichten auf, einseitig ihm (und seiner „Erneuung" des Gedichts) „unbefangen und mit gutem Willen etwas entgegen[zu]kommen". Er selbst ist — im Interesse des Werks, das in seiner „hohen Vortrefflichkeit" und „vollendeten Bildung" keine gravierenden Eingriffe in die einmal erreichte Textgestalt erlaubt — nur zu begrenzten Konzessionen bereit: „Auch die Uebrigen, wenn sie sich einlassen wollen, und mir unbefangen und mit gu-
47
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,
48
TIECK
39 40 41 42 43 44 45 44
S. 255. S. 254. S. 255. S. 257. S. 255, 257. S.257. S. 255. (L465), Vorrede, S . V .
Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos (1805)
41
tem Willen etwas entgegenkommen, hoffe ich nicht abzustoßen; doch hat man ihrem Verständniß lieber durch kurze erklärende Noten zu Hülfe kommen, als ihm sonst nachgeben wollen." 49 Die nachfolgende (zeilenmäßige) Gegenüberstellung der Verse 5838 — 5853 der Eunomia-Vtohc mit der entsprechenden Passage der Edition M Y L L E R S mag die Prinzipien der H A G E N schen Textgestaltung veranschaulichen: 5838 Da rit von Trony* Hagene zu aller vorderost** [HAGEN 1805] Do reit von trony hagne zaller vorderost. [MYLLER 1782] Er war den Nibelungen ein helflicher Trost. Er was den niblungen ein helflicher trost. 5840 Da stunde der Degen kühne nieder auf den Sand; De [!] erbeizte der degen küne nider uf den sant. Sein Ros er viel balde an einem Baume geband. Sin ros er harte balde zu eime boume gebant. Das Wasser war geschwollen und die Schiff verborgen; Daz wazzer was engozzen und die schif verborgen. Es erging den Niblungen zu großen Sorgen, Ez ergie den niblungen zen grozen sorgen. Wie sie kämen übere; die Flut war ihnen zu breit: Wie sie komen ubere der wal [I] was in ze bereit [I], 5845 Da stunde zu der Erden viel manich Ritter gemait***. Do erbeizte zuo der erden vil manich riter gemeit. „Leide," so sprach Hagne, „mag dir hie wol geschehen, Leide so sprach hagne mac dir hie wol geschehen. Vogt**** von dem Rheine, nun magst du selbe sehen, Vogt von dem rine nu maht du selbe sehen. Das Wasser ist geschwollen, viel starke ihm seine Flut; Daz wazzer ist engozzen zil [!] starke ist im sin fluot. Wol wähn' ich, wir hier verlieren noch heute manichen Rechen gut." — Ja wen wir hie Verliesen noch hiute manigen reken guot. 5850 „Was wisset ihr mir, Hagne?" sprach der König hehr; Waz wizet ir mir hagne sprach der kunic her. „Um euers selbe Tugende, untröstet uns nicht mehr. Durch iwers selbe tugende untröstet uns niht mer. Die Fuhrt solt ihr uns suchen hinüber an das Land, Den furt suit ir uns suochen hin über an daz lant. Daß wir hinüberbringen, beides Ross' und Gewand." — Daz wir von hinnen bringen beide ros und ouch gewant. * ** *** **** 49
T r o n y , Hagene's Burg. vorderst. g e m a i t , fröhlich, zierlich; von Mai. V o g t , Herr.
Ueber die Grundsätze (W58), S.255.
42
Nibelungen-Forschungen
HAGENS Eingriffe in die Textgestalt erweisen sich als vielfaltig und umfangreich. Der Forderung MÜLLERS entsprechend, werden zunächst moderne Interpunktion und Großschreibung der Eigennamen (und Substantive) eingeführt sowie offensichtliche Druckfehler50 verbessert. Die „Hauptveränderung" des Textes liegt sodann in einer durchgehenden Modernisierung der „Aussprache, in so fern diese sich hier in der Orthographie darstellt"51. Vorwiegend mechanisch wird dabei der Lautwandel vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen nachvollzogen. An die Stelle der Diphthonge uo, üe treten die Monophthonge u, ü (5848 f l u o t : Flut-, 5840 kii[e]ne : kühne). Die langen Vokale i , tu (= it), ü werden diphthongiert (ei, eujäu, au): 5840 sin : sein-, 5849 Mute : heute·, 5840 ü f : a u f . In offenen Tonsilben (sowie einsilbigen Wörtern auf Nasal oder Liquid) werden kurze Vokale gedehnt (5840 nider : nieder, 5844 in : ihnen·, 5845 v i l : viel). Insbesondere vor Nasalen erfolgt Senkung von u, ü zu o, ö;52 ou erscheint als au (5841 boume : Baume). An zahlreichen Stellen des oberdeutschen Textes wird der im Neuhochdeutschen übliche Umlaut eingeführt (5844 ubere : übere-, 5851 untrostet : untröstet). Im Zuge der Modernisierung der Graphie wird die mittelhochdeutsche Auslautverhärtung zurückgenommen (5840 sant : Sand; 5846 mac : mag). Die Spirans £ erscheint inlautend zwischen Vokalen als β (5843 großen : großen), auslautend als s j ß (5842 da% : das; 5853 da% : daß); %% wird als ss wiedergegeben (5842 washer : Wasser)53. In Anlehnung an den mittelhochdeutschen Gebrauch wird indes auf Gemination im Auslaut verzichtet (5838 rit statt ritt).54 Eingriffe in den Formenbau beschränken sich weitgehend auf die Zurücknahme funktionslosen Lautwechsels (5839 was / waren : war / waren) und den Systemausgleich innerhalb der Ablautreihen der starken Verben (5838 reit / riten : rit / ritten). HAGEN muß freilich eingestehen, daß die (weitgehend mechanische) Modernisierung des Lautstands nicht ausreicht, um ein allgemeines Verständnis des Textes zu sichern. Angesichts der Tatsache, daß zahlreiche mittelhochdeutsche Begriffe einen Bedeutungswandel erfahren haben oder gänzlich ausgestorben sind, sieht er sich gezwungen, in einem weiterführenden Schritt „veraltete und unverständliche Wörter [...], für welche es jetzt andere, ganz gleichbedeutende giebt", durch geläufigere — wenngleich, „um das Colorit zu erhalten", möglichst durch „ähnliche alterthüm-
50 51 52 53
54
Vgl. etwa 5840 De, 5844 mal, bereit oder 5848 y l . Ueber die Grundsätze (W58), S.256. Vgl. 5850 kumcjkünic : König, 5852 suit : sott. 5850 m%et ( = mi^et) wurde von HAGEN als wieget aufgefaßt und entsprechend (unrichtig) als wisset wiedergegeben. Vereinzelt anzutreffende Verdoppelung des auslautenden Konsonanten weist auf Pluralformen hin (vgl. etwa 5842 S c h i f f ) .
Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos (1805)
43
liehe, nur minder unverständliche"55 — zu ersetzen. So wird 5841 harte durch das archaisierende viel (statt sehr) wiedergegeben56 und 5840 (5845) erheizte — recht ungeschickt — durch das altertümelnde stunde ersetzt, das sich weder inhaltlich noch grammatisch-syntaktisch in den Vers einfügt.57 Geglückter erscheinen die Übertragungen engo^en : geschwollen (5842), wac [iwal\ : Flut (5844), ja : wol (5849) und durch : um (5849); überflüssig dagegen die Wiedergabe von 5853 von hinnen durch hinüber. Das Prinzip der Allgemeinverständlichkeit ist freilich nicht dominant in HAGENS Texteinrichtung; vielfach bleiben ausgestorbene oder in ihrer Bedeutung veränderte Wörter bewahrt.58 So wird, um den Reim auf b[e]reit (5844) nicht zu zerstören, in 5845 gemeit (gemait) übernommen und bedarf der Erläuterung in einer Fußnote59. Beibehalten werden grundsätzlich auch Begriffe wie RechefRecke oder Buhurt60, für die die moderne Sprache keine Synonyme kennt, da die Wörter mit der „Sache, die sie bezeichnen"61, untergegangen sind. Vorwiegend ästhetische Gründe bestimmen HAGEN schließlich, „viele alte treffliche Wörter" im Text zu belassen — „Theils wegen ihres schönen bedeutenden Klanges, Theils weil sie wirklich zur Bezeichnung einer Nüance dienen, [...] Z.B. U r l u g (Krieg), e r b o l g e n l i c h (erboßt), Voll and (Teufel)"62. Das Ergebnis der HAGENschen Bemühungen ist eine im Lautstand modernisierte, in Wortlaut und Syntax — von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen — eng der Vorlage verhaftete Bearbeitung des Gedichts, die wie TIECKS Minnesang-Erneuerung von 1803 auf dem Grenzrain zwischen Edition und Übersetzung verharrt. Während TIECK jedoch in seinen Minneliedern aus dem Schwäbischen Zeitalter einen Kompromiß zwischen den Wünschen des Lesers und den Belangen des Textes anstrebte, ist HAGENS Interesse vornehmlich darauf gerichtet, das „Alterthümliche und Urkundliche" des Gedichts „in Farbe und Ton"63 soweit irgend möglich zu bewahren und der sprachlich ungeübten Leserschaft eher das Erlebnis als das Verständnis des Gedichts zu vermitteln. Sein Vorgehen gleicht dem eines (über)vorsichtigen Restaurators, der das Kolorit eines im Laufe der Jahrhunderte an vielen Stellen verdunkelten Bildes nur so weit aufhellt, Ueber die Grundsätze (W58), S.257. Dagegen wird in 5957 Viel harte beibehalten und muß in einer Anmerkung ( h a r t e — sehr) erklärt werden. 57 Vgl. auch die unhaltbare Wiedergabe von 5841 eime bourne durch an einem Baume (statt an einen Baum). 58 Vgl. etwa 5839 Trost, 5847 Vogt, magst. 59 Vgl. auch 5838 vorderost. 60 Vgl. hier etwa 5840 Degen. 61 Ueber die Grundsätze (W58), S.258. 62 Ebd. " Ebd., S. 256. 55
56
44
Nibclungen-Forschungen
daß der dargestellte Gegenstand in seinen Konturen erkennbar wird, und der beim Betrachter lieber Mißverständnisse in Kauf nimmt, als dem Bild zuviel Patina zu entziehen: „[...] ich gebe das Original, so viel als möglich unverändert, wie es ist, und setze mein Verdienst darein, ein so kleines, als möglich, dabei zu haben."64 Die ersten Reaktionen auf die H A G E N s c h e Probe einer neuen Ausgabe des Nibelungenlieds waren vorwiegend positiv. FISCHER, der Herausgeber der Eunomia, wertete den Versuch als „Probe glücklicher und gelehrter Bearbeitung"65 und lobte die „Treue und Besonnenheit, mit der sie angefertigt" 66 . Der Berliner Freundes- und Bekanntenkreis zeigte sich von dem Werk überaus angetan („es hat den Beifal aller meiner Freunde und Bekanten gefunden"67). Ende November 1805 meldete HAGEN seinem Studienfreund ABEKEN mit deutlicher Genugtuung: Ich habe B i e s t e r n 6 8 die Probe aus den Nibel: vorgelegt, und er hat sie, wider mein Erwarten, der Grundsäze wie der Anwendung nach sehr glücklich gefunden, und mir sehr schmeichelhaft und mit ausführlicher Kritik darüber geschrieben: dergleichen Stimmen zu vernehmen, ist wenigstens immer erfreulich und macht Muth."
Im Juni 1 8 0 6 konstatierte FOUQUE, das Nibelungenlied habe in HAGEN einen „nicht unwürdigen Herausgeber gefunden", und hob lobend hervor, daß der Text in der Bearbeitung „mit aller geziemenden Scheu behandelt"70 worden sei. Wichtiger für HAGEN und seine weiteren altdeutschen Studien sollte jedoch die positive Würdigung der „Erneuung" durch Johannes von MÜLLER, den Rezensenten der Nibelungen-Ausgabe von 1 7 8 2 , sein,71 der sich am 1 8 . 3 . 1 8 0 5 unmittelbar nach Erscheinen der Eunomia-Vtohe, in einem spontanen Schreiben an den (ihm damals noch unbekannten) Herausgeber wandte: Mit Begierde erwarte ich, mein werthester Herr, was diese Probe verspricht: sie hat meinen vollen Beifall, indem sie keinen antiken Zug verwischt, und alles Dunkle genugsam beleuchtet. Das ergreifende, durchdringende Werk, voll Kraft, Schrecken und Wunder, ist Ihrer Bearbeitung würdig. 72
Einzig Jacob GRIMM meldete 1 8 0 7 im Literarischen Anzeiger grundsätzliche Bedenken gegen die Bearbeitungsprinzipien an: 64 65 66
Ebd., S. 254. NL 1805, S. 171 Anm.*. J.Ch. FISCHER (L101), S.271.
67
HAGEN an SCHEITLIN, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5
68
BIESTER, Johann Erich (Bibliothekar in Berlin).
(B454).
69
HAGEN a n ABEKEN, 2 0 . 1 1 . 1 8 0 5 ( Β 1).
70
KÖRNER ( L 2 2 9 ) B d . 1 , S . 3 3 9 (FouQufe a n SCHLEGEL, 1 6 . 6 . 1 8 0 6 ) .
71
V g l . DZIATZKO ( L 8 1 ) , S . 6 (HAGEN an HEYNE, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5
72
J . v . M Ü L L E R ( L 3 2 0 ) B d . 3 9 , S . 1 2 1 ( M Ü L L E R a n HAGEN, 1 8 . 3 . 1 8 0 5 [B 3 3 3 ] ) ; v g l . a u c h
[B222]).
KÖRNER ( L 2 2 9 ) B d . 1 , S . 3 5 7 ( J . v . M Ü L L E R an H . v . COLLIN, 2 0 . 8 . 1 8 0 6 ) .
Der Nibelungen Lied (1807)
45
hier ist zu bemerken, einmal, daß eine solche accommodation nicht mit consequenz durchgeführt werden kann, (man sieht, wie schwankend die regeln sind, die er sich aufstellt) schon wegen der reime, es bleibt allzeit ein zerstörender contrast zwischen den alten und neuen ausdrücken; hernach aber, daß, wenn es auch dem richtigen gefühl des dichters gelungen wäre, sich durch alle Schwierigkeiten hindurch zu arbeiten, immer noch gefragt werden kann, was ist damit gewonnen? das original übertroffen zu haben, wird er sich ohnehin nicht einbilden, und am ende hätte er nur denen, die zu träg waren, das original zu lesen, einige mühe erspart. 73
Die Ausführungen GRIMMS, die die zentralen Kritikpunkte der Rezensionen zu HAGENS Nibelungen-Bearbeitung von 1807 vorwegnehmen, 74 blieben zunächst ohne Wirkung: Als HAGEN sie im Frühjahr 1807 zur Kenntnis nehmen konnte, hatte er die Arbeiten an seiner vollständigen „Erneuung" des Nibelungenlieds bereits abgeschlossen.
2.2
Der Nibelungen Lied
2.21
Konkurrenz mit Ludwig
(1807) TIECK
Angesichts der überwiegend positiven Reaktionen war HAGEN bestrebt, der Eunomia-Vtobe möglichst schnell die Gesamtausgabe der Nibelungen„Erneuung" folgen zu lassen. Auf Anraten seines Mentors MÜLLER wandte er sich zunächst an den Berliner Buchhändler Johann Daniel SANDER, in dessen Hause 1801 — 1805 die Zeitschrift Eunomia erschienen war, und trug ihm das Projekt an, indem er sich (um alle kaufmännischen Bedenken zu zerstreuen) dazu bereit erklärte, mit seinem „ganzen gegenwärtigen und künftigen Vermögen" einzustehen, „auf den Fall, daß der Abgang [des Buchs] geringer als die Hälfte der Drukkosten" 1 ausfallen sollte. Eine solche Zusicherung erschien durchaus angebracht: Im Ostermeßkatalog 1805 war (gleich nach der Publikation der Eunomia-Vtobe., jedoch ohne ursächlichen Zusammenhang) durch die DiETERiCHsche Buchhandlung in Göttingen eine Neuausgabe des Nibelungenlieds angekündigt worden, für die der damals allgemein als kompetenter Sachwalter altdeutscher Literatur geltende Ludwig TIECK verantwortlich zeichnete;2 August Wilhelm SCHLEGEL hatte ein halbes Jahr später (am 1 6 . 1 0 . 1 8 0 5 ) im Intelligen^blatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung das TiECKSche Vorhaben der breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und erste Einzelheiten über das Projekt mitgeteilt:
73
J. GRIMM ( L 1 4 1 ) Bd. 4, S . 6 f .
74
S. u. Kap. 2.23. HAGEN an SANDER, 3.6.1806 (B453) - s. Anhang 2.251. Vgl. BRINKER-GABLER (L44), S.85.
1 2
46
Nibelungen-Forschungen Tiecks Herausgabe und Bearbeitung dieses Gedichtes ist schon lange angekündigt worden, er hat vor seiner Abreise von Deutschland den Codex in München verglichen. Man darf also hoffen, daß seine Arbeit, in kritischer Hinsicht, eben so schätzbar sein wird, als von der poetischen Seite, und daß endlich dieß urälteste und erhabenste Denkmal deutscher Ueberlieferung und Heldendichtung, welches zuerst Bodmer aus der Dunkelheit zog, womit sich dann Lessing beschäftigte, worauf nach dessen vollständigem, aber unkritischem, und von allen Hülfsmitteln der Erklärung entblößtem, Abdruck Johannes Müller mit Enthusiasmus aufmerksam machte; daß, sage ich, dieses unsterbliche Gedicht wieder in vollem Glänze erscheinen, und dem größeren Publikum zugänglich gemacht werden wird. 3
Als SCHLEGELS Ankündigung erschien, war TIECK in seinen Vorarbeiten bereits weit fortgeschritten.4 Er hatte im Dezember 1801 das Nibelungenlied in der MYLLERschen Edition kennengelernt und schon kurz darauf den Plan zur Bearbeitung des Gedichts gefaßt. Dabei dachte er an keine bloß sprachliche Erneuerung des Textes (wie bei den Minneliedern), sondern beabsichtigte, das mittelhochdeutsche Werk durch Ergänzungen aus anderen altdeutschen und nordischen Quellen zu vervollständigen: „[...] aus diesem Gedichte, wenn man die Nordische Mythologie daran knüpft, kann vielleicht eine Art von Ilias und Odyssee werden, u. ich fühle eine wahre Begeisterung, diese neue Bearbeitung u. Umdichtung über mich zu nehmen, ich bin auch überzeugt, daß jezt kein anderer es so machen kann, als ich, weil nicht leicht jemand die Studien dazu gemacht hat." 5 Angesichts des raschen Fortgangs der Arbeit 6 glaubte er im Juni 1804 das Erscheinen des Werks für die Ostermesse 1805 ankündigen zu können.7 Danach traten jedoch erhebliche Verzögerungen ein: Im Winter 1804/05 lernte TIECK in München die Nibelungen-Handschrift D kennen, verzeichnete deren Abweichungen vom MYLLERschen Druck und überarbeitete seine bisherigen Entwürfe, indem er den Spielraum der Erweiterungen einschränkte und das bislang gewählte Versmaß des Hexameters aufgab, um sich strenger an Metrik und Form der in D erstmals erkannten Nibelungenstrophe auszurichten.8 In der revidierten Fassung sollte das Werk im Herbst 1805 gedruckt vorliegen. 9 HAGEN, der bei der Veröffentlichung seiner Eunomia-Ptobe im März 1805 noch nichts von TIECKS Vorhaben wußte, sah sich unerwartet einer starken, ja übermächtigen Konkurrenz ausgesetzt; und SANDER zögerte 3
A . W . SCHLEGEL ( L 3 9 9 ) B d . 9 ,
4
Zu TIECKS Nibelungen-Studien vgl. zuletzt BRINKER-GABLER (L44), S. 82—85, 109f., 2 4 9 - 2 5 2 ; SCHWEIKERT (L425) Bd.2, S. 2 7 6 - 2 8 8 .
S.265F.
5
GÜNTHER ( L 1 5 9 ) , S . 2 3 2 (TIECK a n FROMMANN, F r ü h j a h r
6
V g l . LOHNER ( L 2 7 9 ) , S . 1 4 3 ( T I E C K a n F. SCHLEGEL,
7
V g l . BRINKER-GABLER ( L 4 4 ) ,
8
Die TiECKsche Bearbeitung gilt als verschollen; Teilabdruck (Das Lied der
S.84.
b e i HAGEN ( W 2 8 0 ) . 9
1802).
16.12.1803).
V g l . B R I N K E R - G A B L E R ( L 4 4 ) , S . 8 4 f.
Niebelungen)
Der Nibelungen Lied (1807)
47
seine Entscheidung hinaus, um zunächst die weitere Entwicklung des TiECKschen Unternehmens abzuwarten. In der Gewißheit, sich nicht neben dem namhaften Konkurrenten auf dem ohnehin sehr kleinen und auf dem altdeutschen Sektor kaum entwickelten Buchmarkt halten zu können, mußte H A G E N alles daran setzen, T I E C K zuvorzukommen. Es gelang ihm, seine Nibelungen-„Erneuung" — wenn auch nur auf der Grundlage der unzuverlässigen Ausgabe M Y L L E R S — in kürzester Zeit abzuschließen. Bereits am 2 0 . 1 1 . 1 8 0 5 konnte er O B E R L I N mitteilen, daß die „Bearbeitung des ganzen Gedichtes vollendet und zum Druke bestirnt" 10 sei, mußte allerdings eingestehen, daß die „Erneuung" durch das Fehlen einer sicheren Textgrundlage an vielen Stellen in ihrem Wert beeinträchtigt werde: Eine solche [Erneuung] sezt aber natürlich eine kritische Ausgabe des Originaltextes voraus; die freilich nicht vorhanden und auch so bald nicht zu erwarten stehen möchte. Der einzige Müllersche Abdruk ist höchst nachläßig und fehlerhaft, und enthält etliche Bogen offenbare Drukfehler; manche Stellen sind dunkel und nur aus Vergleichung der Hs: herzustellen, ebenso wie manche fehlenden Verse: ich muste mir also so gut helfen als ich konte, und ich glaube das meiste durch häufige Lesung des Ganzen — glüklich getroffen und hergestelt zu haben. 11 H A G E N legte dem Brief eine Liste mit unsicheren Konjekturen „zur Beurteilung und zur gütigen Verbeßerung und Belehrung" 12 bei, äußerte jedoch zugleich die Hoffnung, über O B E R L I N vielleicht Zugang zu den drei damals bekannten Nibelungenhandschriften zu erhalten: „Auch bin ich so dreist anzufragen, ob Sie — näher jenen Gegenden — mir nicht etwa eine nähere Nachricht von der H o h e n E m s i s c h e n , St G a l l i s c h e n , und M ü n c h e n , (s. Bragur IV. 2. S. 195) Hs. der Nibel., oder vielleicht gar Zugang zu denselben verschaffen könten: dies würde mir noch das Liebste von allem sein." 13 Neben der Einsicht in die Unkorrektheit des M Y L L E R schen Abdrucks und dem Wunsch seines Mentors M Ü L L E R nach einer gründlichen Sichtung und Auswertung der vorhandenen Textzeugen 14 dürfte vor allem S C H L E G E L S Hinweis auf die TiECKsche Kollation des Münchner Kodex D H A G E N dazu bewogen haben, auf eine sofortige Publikation seiner „Erneuung" zu verzichten und sich zunächst Zugang zu den Handschriften zu verschaffen.
10 11 12
HAGEN an OBERLIN, 20.11.1805 (B403). Ebd. Zur positiven Würdigung der HAGENschen Konjekturvorschläge durch OBERLIN vgl. HAGEN an OBERLIN, 2 4 . 2 . 1 8 0 6
13
HAGEN an OBERLIN, 2 0 . 1 1 . 1 8 0 5
14
S . o . Kap.2.11.
(B404). (B403).
48
Nibelungen-Forschungen
Seit Anfang 1806 bemühte er sich zwar gezielt bei Christoph von um die Übersendung von D aus der Münchner Bibliothek, 15 sein Hauptinteresse galt jedoch weiterhin den Hohenemser und St. Galler Handschriften. Der Vergleich der MYLLERSchen Edition mit den von BODMER in Chriembilden Rache mitgeteilten Passagen aus dem ersten Teil des Nibelungenlieds16 hatte ihm gezeigt, daß den beiden Ausgaben in diesen Partien verschiedene Handschriften zugrunde liegen mußten, und ließ ihn zu dem (unzutreffenden) Schluß gelangen, daß der bei MYLLER publizierte erste Teil des Textes nur aus der St. Galler Handschrift stammen könne. 17 Bereits am 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 teilte er diese Vermutung seinem Freunde Johann Peter SCHEITLIN mit: ARETIN
Nämlich das Original ist bis v. 6305 aus einer pergam: Hs: der damalig. A b t e i St. Gallen abgedrukt: — obwol es [bei MYLLER] am Schluße heist, daß es aus der HohenEmsischen Hs: abgedrukt, — aus welcher Bodmer zwar die lezte Hälfte unter dem Titel: Chriemhildett Rache p. Zürich. 1757. 4 abdruken laßen: denn in der Vorrede zu diesem lezten Buche S. X heist es daß die HohenEms. Hs: in diesem ersten Teil, den er weglies einen starken Defekt habe; wovon doch in der Müllersch: Ausg: nichts zu spüren: ferner stimmen der ebend: S. IV und V mitgeteilte A n f a n g und Überschriften, — so wie die col. 241—50 draus genommenen Fragmente gar nicht ganz überein [...]. 18 HAGEN versäumte es zwar nicht, den in St. Gallen ansässigen SCHEITLIN (wie zuvor OBERLIN) um Nachricht über den Verbleib der alemannischen Nibelungen-Handschriften zu ersuchen; seinen Bemühungen um Zugang zu den Hohenemser und St. Galler Kodizes war jedoch kurzfristig kein Erfolg beschieden.19 Für die „textkritische" Arbeit am Nibelungenlied (1807) stand ihm schließlich — als einzige Handschrift — der im Mai 1806 von ARETIN nach Berlin gesandte Münchner Nibelungen-Kodex zur Verfügung. Doch bereits der Vergleich dieses (relativ späten) Textzeugen mit der MYLLERschen Edition führte zu einer Vielzahl neuer Einsichten und Erkenntnisse:
Es ist ein wahrer Schaz, in dem ich gleichsam geschwelgt habe. Zur grösten Freude finde ich die meisten meiner Konjekturen, — die ich Oberlin vorgelegt — bestätigt: außerdem eine zahllose Menge beßerer und treflicher Lesarten: die meisten Drukfehler oder auch Schreibfehler im Abdruk verbeßert, alle fehlenden Verse (deren doch 8.) ergänzt und besonders an 500 ganz neue Verse mehr, und zwar keine überflüßigen, später hinzugedichteten, sondern treflich ergänzende und vervolständigende, ja oft wirklich zum Verständnis notwendige, und deutlich als Auslaßungen zu erkennende. Ferner in der Form die richtige,
15
16 17
18
19
Vgl. MOISY (L 309), S.89. Vgl. BODMER (L34), S.IV/V, Sp. 2 4 1 - 2 5 0 .
Vgl. NL1807, S. 596. Von der Existenz einer zweiten Hohenemser Handschrift erfuhr HAGEN erst 1810 (vgl. Aufklärung [W85]). HAGEN an SCHEITLIN, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 (B454).
S. u. Kap. 2.31.
Der Nibelungen Lied (1807)
49
und das Verständnis so sehr erleichternde Abteilung in Strofen. 2 0 Dies ist aber besonders merkwürdig und erfreulich, daß dieser Kodex, nicht etwa, — wie dies bei den Altdeutschen Gedichten fast Regel — eine spätere, beliebig ausgeführte oder verkürzte Bearbeitung — sondern vielmehr eine getreue Kopie eines gemeinschaftl. Originals ist, und mit dem Druke im Ganzen doch fast wörtlich übereinstimt: es scheint als wenn das Vortrefliche, gleich dem Golde, sich durch sich selbst am sichersten und längsten in seiner Reinheit bewahren kan: Zwar ist die Hs: etwas neuer als die Hohen Ems: (besonders schon häufiger ei für ZB ... sein, Rhein p) und überhaupt weicht sie häufig wol im einzelnen Ausdruk ab; aber eben dies ist für meinen nächsten Zwek, die poet: Belebung des alten Gedichts, so wilkommen, da ich dadurch einen so schönen Spielraum gewonnen, und die urkundlich dargebotene W a h l , ohne die W i l l k ü h r , habe. 2 ' Im Bewußtsein, jetzt — hinsichtlich der Textbasis — mit T I E C K gleichgezogen zu haben, versuchte H A G E N am 3 . 6 . 1 8 0 6 , den unschlüssigen SANDER endgültig f ü r sein Vorhaben zu gewinnen. A u f SCHLEGELS Bemerkung anspielend, die TiECKsche Nibelungen-Ausgabe sei „in k r i t i s c h e r Hinsicht" ebenso schätzbar wie „ v o n der p o e t i s c h e n Seite" 2 2 , verwies er darauf, daß nunmehr durch seine „ g e n a u e u n d v o l s t ä n d i g e k r i t i s c h e R e z e n s i o n d e s U r t e x t e s " der „ p o e t i s c h e " Z w e c k der Bearbeitung „überal eine feste historische Urkundlichkeit" 2 3 erhalten habe und dadurch dem K o n k u r r e n z p r o j e k t zumindest gleichwertig sei. A u s T I E C K S Berliner Freundeskreis hatte H A G E N zudem in der Zwischenzeit Einzelheiten über die K o n z e p t i o n der angekündigten Nibelungen-Bearbeitung erfahren und konnte den Verleger auf wesentliche Unterschiede in A n l a g e und A u s f ü h rung aufmerksam machen: Hierdurch ist auch das Verhältnis meiner Arbeit zur T i e k s c h e n [...] genau bestirnt: da diese, wie ich von Augen- und Ohren-Zeugen (ZB: Hr: Achim v: A r n i m , und Schulz — Hofmeister beim Hr. v. Fouquet (Pellegrin) zu Nennhausen —) weis — eine Verarbeitung noch anderer Nordischer und Deutscher Sagen, die mit den Nibelungen zusammenhangen, im Tone und Versart derselben — neben beliebiger Abkürzung und Erweiterung der Nibelungen selbst, die freilich die Grundlage bleiben — ist: — und obgleich er sich viel damit wißen und sich einen Deutschen P i s i s t r a t u s (Samler und Verbinder der Homerischen Rapsodieen) dünken sol: so scheint er mir doch eher mit den spätem Cyklischen Dichtern zu vergleichen, die Iiiades post Homerum verfasten: — dagegen ich mich bescheide nur ein D i a s k e u a s t zu sein.24 Die letzten verlegerischen Bedenken glaubte H A G E N durch den Hinweis zerstreuen zu können, daß es „mit Tieks Arbeit noch in weitem Felde" 20
21
22 23
24
In den Abdrucken BODMERS und MYLLERS war auf die Kennzeichnung der Strophen verzichtet worden. HAGEN an J. v. MÜLLER, O . O . U. D. [1806] (Β347) (StB Schaffhausen: J. v. M. Fase. 235/107); vgl. HAGEN an SANDER, 3.6.1806 (Β453) - s. Anhang 2.251. A.W. SCHLEGEL (L399) Bd.9, S . 2 6 6 (Hervorhebungen von mir). HAGEN an SANDER, 3 . 6 . 1 8 0 6 ( B 4 5 3 ) - s. Anhang 2 . 2 5 1 . Ebd.; zur Rolle der Diaskeuasten vgl. NL1807, S.488 Anm.59.
50
Nibelungen-Forschungen
sei und DIETERICH „nur erst 2 Bücher in Händen" habe, wogegen die eigene Nibelungen-„Erneuung" bereits in wenigen Monaten erscheinen und den Markt für sich gewinnen könne: „Vor allen müste man dem Tiek zuvorzukommen suchen: es würde sowol dem Absaz, wie auch der renommee des Werks vorteilhaft sein [,..]." 25 Dennoch gelang es H A G E N nicht, von SANDER eine verbindliche Zusage zu erhalten. Auch die daraufhin im August 1806 zu Georg Andreas REIMER aufgenommenen Kontakte26 blieben ergebnislos. Erst die wenig später mit Friederike Helene UNGER eröffneten Verlagsverhandlungen führten zu dem gewünschten Resultat: Die ersten Exemplare von H A G E N S Der Nibelungen Lied wurden im Herbst 1807 in den Buchhandel gegeben — zu einer Zeit, da TIECK nicht einmal an einen vorläufigen Abschluß seiner Arbeit denken konnte. 2.22
Einrichtung des Textes
Die Nibelungen-Bearbeitung von 1807 entspricht in Konzeption und Ausführung weitgehend dem in der Eunomia-Vtobe. vorgelegten Muster. Textgrundlage blieb, da H A G E N S Bemühungen um Zugang zu den Hohenemser und St. Galler Handschriften vergeblich waren, die aus C und A zusammengefügte Edition M Y L L E R S . Im Rahmen einer (stillschweigenden) ,,kritische[n] Rezension des Textes"27 fanden daneben die in BODMERS Chriemhilden Rache (1757)28 und Wolfgang L A Z I U S ' De gentium aliquot migrationibus (1557)29 publizierten Strophen, Verse und Überschriften aus C und c Berücksichtigung.30 Weit größeres Gewicht fiel der Münchner Handschrift zu: Aus D wurden nicht nur „alle [bei M Y L L E R ] fehlenden Verse und Halbverse", sondern auch sämtliche „wahrhaft ergänzenden und theilweise selbst zum Verständniß nothwendigen"31 Zusatzstrophen übernommen — insgesamt ein Plus von 293 Versen;32 D wirkte zudem — wie der nachfolgende Vergleich der Anfangsstrophen der Eunomia-Vtohe, und der entsprechenden Passage der Gesamt-„Erneuung" zeigt — vielfaltig auf Lautstand, Wortlaut, Strophenbau und metrische Form der Bearbeitung von 1807 ein:33 25
HAGEN an SANDER, 3 . 6 . 1 8 0 6 ( B 4 5 3 ) -
26
Vgl. HAGEN an REIMER, 8 . 8 . o. J . [1806] ( B 4 2 8 ) -
27
HAGEN an BÖTTIGER, 2 7 . 1 . 1 8 0 7 ( B 5 5 ) ; v g l . a u c h N L 1 8 0 7 , S . 4 8 9 .
28
BODMER ( L 34), S . I V / V , Sp. 2 4 1 - 2 5 0 .
29
V g l . MENHARDT ( L 293).
30
Vgl. NL1807, S. 596 f.
s. A n h a n g 2.251. s. A n h a n g 2.252.
31
Ebd., S.489.
32
Zur Handschriftenvermischung s. u. Kap. 2.32. Strophenabteilung und Verszählung nach der Bearbeitung von 1807.
33
Der Nibelungen Lied (1807)
51
Da ritt von Troneg Hagene zu allervorderost; [NL1807] 6110 Er war den Nibelungen ein helfelicher Trost. Da stunde der Degen kühne nieder auf den Sand, Sein R o ß er da viel balde zu einem Baume geband. Da rit von Trony Hagene zu aller vorderost [NL1805] Er war den Nibelungen ein helflicher Trost. Da stunde der Degen kühne nieder auf den Sand; Sein Ros er viel balde an einem Baume geband. Das Waßer war ergoßen und die Schiff verborgen; Es erging den Nibelungen zu größelichen Sorgen, 6115 Wie sie kämen übere; zu breit war ihnen die Fluth: D a stunde zu der Erden viel manich Ritter kühne unde gut. Das Wasser war geschwollen und die Schiff verborgen; Es erging den Niblungen zu großen Sorgen, Wie sie kämen übere; die Flut war ihnen zu breit: Da stunde zu der Erden viel manich Ritter gemait. „Leide — so sprach Hagene — mag dir hie wohl geschehen Voget von dem Rheine; nun magst du selber sehen, Das Waßer ist ergoßen, viel stark ist ihm seine Fluth: 6120 Wohl wähne, wir hie verlieren noch heut viel manchen Recken gut." „Leide," so sprach Hagne, „mag dir hie wol geschehen, Vogt von dem Rheine, nun magst du selbe sehen, Das Wasser ist geschwollen, viel starke ihm sein Flut; Wol wähn' ich, wir hier verlieren noch heute manichen Rechen g u t . " — Was wißet ihr mir, Hagene? — so sprach der König hehr — U m euer selbes Tugende, untröstet uns nicht mehr. Die Fuhrt sollt ihr uns suchen hinüber an das Land, D a ß wir von hinnen bringen beide, R o ß u n d auch G e w a n d . " „Was wisset ihr mir, Hagne?" sprach der König hehr; „ U m euers selbe Tugende, untröstet uns nicht mehr. Die Fuhrt solt ihr uns suchen hinüber an das Land, D a ß wir hinüberbringen, beides Ross' und G e w a n d . " —
Aus der Kenntnis von D verbessert H A G E N nicht nur Schreiberfehler wie 6122 euers selbe (statt euer selbesan verschiedenen Stellen kehrt er auch (auf D gestützt) zu dem in der Eunomia-Vrohe. unnötig vernachlässigten Wortlaut der Hohenems-Münchner Fassung Α zurück: So erscheint 6112 einem A D statt an einem, 6113 (6119) ergoßen {ergoßen D , engosgen A) statt geschwollen, 6124 von hinnen A D statt hinüber, beide A D statt beides, und auch A D statt und. Von D übernimmt H A G E N endlich — neben der
hier erstmals erkennbaren Strophenabteilung des Liedes —35 eine Anzahl 34
35
Fälschlich wird dagegen 6120 wen als Imperativ wiedergegeben: wähne (NL1807) statt wähn' ich (NL1805). Vgl. N L 1807, S. 490.
52
Nibelungen-Forschungen
metrisch-rhythmischer Glättungen. Da ihm die Einsicht in die Prinzipien mittelhochdeutscher Metrik (vor allem der Taktfüllung) fehlt,36 sucht er hier — in Anlehnung an die Gepflogenheiten des Redaktors der Münchner Fassung —37 vornehmlich durch Einschalten von Füllwörtern und silbenbildenden e einen möglichst gleichmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung zu erreichen. So wird 6110 helflicher durch belfelicber, 6112 viel durch da viel, 6114 Niblungeti durch Nibelungen, großen durch größelichen, 6117 (6121) Hagne durch Hagene, 6118 Vogt durch Voget und 6121 sprach durch so sprach ersetzt.38 Allgemein ist die „Erneuung" von 1807 durch ein größeres Entgegenkommen an den Leser gekennzeichnet. In der Orthographie werden Archaismen und Regionalismen zurückgedrängt (6109 ritt statt rit, 6117 wohl statt wol, 6120 Recken statt Rechen). Vor allem aber beharrt HAGEN nicht mehr so streng wie 1805 auf der möglichst genauen Reproduktion der Vorlage — wenn er etwa in V. 6116 das (unverständliche)39 Reim wort gemait zugunsten der Formel kühne unde gut aufgibt und dabei eine syntaktische Umstellung des voraufgehenden Halbverses breit war ihnen die Fluth statt die Flut war ihnen %u breit) in Kauf nimmt. Zugeständnisse dieser Art dürfen jedoch nicht als Abkehr von den 1805 entwickelten „Erneuungs"-Prinzipien verstanden werden. Die Beibehaltung von Begriffen wie 6110 Trost, 6111 Degen, 6118 Voget oder 6120 Recken, die HAGENS Zeitgenossen so wenig geläufig sind, daß sie in einem dem Werk beigegebenen Gloßar40 erläutert werden müssen,41 sowie die Wahrung des „alterthümlichen Ton[s] der Sprache"42 (in Wörtern wie 6109 allervorderost) zeigen, daß es sich hier nur um ein partielles Annähern an die Wünsche der Leser handelt, das zudem nicht einmal konsequent durchgehalten wird: „Nämlich, es ist dies alles nicht ängstlich gerade an derselben Stelle und jedesmal beibehalten, sondern, obwohl ich auch hierin nicht zu frei war, so oft, als es mir schicklich schien [,..]." 43 HAGENS oberstes Ziel bleibt es — wie bei der Eunomia-Vtohc. von 1805 —, in seiner Bearbeitung soviel wie möglich von Wortlaut, Klangbild und Form der mittelhochdeutschen Vorlage durchscheinen zu lassen und eine „Erneuung und Wiedererwekkung des alten, so lange unverdient vergeßenen Originals" zu erreichen, die das Gedicht „seiner Originalität möglichst unbeschadet" dem aufge36 37 38 39 40 41 42 43
Zu HAGENS gering entwickelten metrischen Kenntnissen vgl. ebd., S. 524—526. Vgl. ebd., S. 525. Vgl. auch 6120 heut viel manchen (entsprechend D) statt heute manichen. Vgl. die erläuternde Anmerkung in NL1805, S. 175. Vgl. NL1807, S. 5 2 8 - 5 9 5 . Vgl. ebd., S. 583, 537, 588 f., 570 f. Ebd., S. 501. Ebd., S. 499.
53
Der Nibelungen Lied (1807)
schlossenen Publikum „lesbar und verständlich" macht,44 wobei im Zweifelsfall den Belangen des Textes vor den Interessen der Leser der Vorrang eingeräumt wird. 2.23
Resonanz und Verkaufserfolg
Die „Erneuung" des Nibelungenlieds fand — wie zwei Jahre zuvor die Eunomia-Probe — eine zunächst überwiegend positive Resonanz.45 Johannes von MÜLLER lobte das Werk, das ihm bereits vor der Veröffentlichung im Manuskript zugänglich war, als „in der That schöne, wohlgerathene, das Alterthum so treu als verständlich darstellende Arbeit" 46 . GOETHE zeigte sich freundlich aufgeschlossen: „Man hatte bisher zu sehr mit den alterthümlichen Eigenheiten zu kämpfen, welche das Gedicht für einen jeden umhüllen, der es nicht ganz eigen studirt und sich hiezu aller Hülfsmittel bemächtigt. Beydes haben Sie gethan, und uns ist nun die Betrachtung um so viel bequemer gemacht."47 Selbst Friedrich SCHLEGEL, der dem Unternehmen zunächst distanziert gegenübergestanden hatte,48 erklärte sich mit HAGENS methodischem Vorgehen völlig einverstanden und würdigte das Werk als „Frühling im Winter" 49 der Literatur. Allein aus TIECKS Freundeskreis ließen sich kritische Stimmen vernehmen. Carl Friedrich von RUMOHR wies die Nibelungen-„Erneuung" als „elende Ausgabe, die weder gelehrt, noch poetisch"50 sei, zurück, und auch ARNIM zeigte sich wenig zufrieden: „[...] Hagen gefallt mir nicht in dem baroken Dialekte, in den langweiligen Anmerkungen und wegen der Auslassung aller andern Erzählungen [...]." 5 1 TIECK indes äußerte sich weitaus positiver. Er hatte im November/Dezember 1807 HAGEN in Berlin persönlich kennengelernt und sich — angesichts gleichgerichteter Interessen — sehr schnell mit ihm angefreundet. In seinem Antwortschreiben an RUMOHR hielt er (am 20.12.1807) dessen vernichtender Kritik entgegen: „[...] der Verf. hat es anders gemacht, als ich, und ich bilde mir ein, daß meine 44 45
Ebd., S. 488 f.; vgl. N L 1 8 0 5 , S.254. Vgl. HAGEN an BÖTTIGER, 6 . 1 2 . 1 8 0 7 (B58).
46
J . V . M Ü L L E R ( L 3 2 0 ) B d . 3 9 , S. 1 2 2 (MÜLLER a n HAGEN, O . O . U. D .
47
GOETHE (L122) Abt. 4, Bd. 19, S . 4 3 7 (GOETHE an HAGEN, 1 8 . 1 0 . 1 8 0 7 [B180]); zu GOETHES Nibelungen-Lektüre vgl. HECKER (L169), S. 110.
48
V g l . LOHNER ( L 2 7 9 ) , S. 1 6 2 (F. SCHLEGEL a n TIECK, 2 6 . 8 . 1 8 0 7 ) .
49
HOFFMANN
VON FALLERSLEBEN
(L194),
S. 1 9 4
(F.SCHLEGEL
an
[B349]).
HAGEN,
19.3.1808
[B 463]). 50
ZEYDEL ( L 4 9 5 ) , S . 1 0 2 (RUMOHR a n TIECK, 6 . 1 1 . 1 8 0 7 ) .
51
HOLTEI (L197) Bd. 1, S. 11 (ARNIM an TIECK, 3 . 1 2 . 1 8 0 7 ) ; vgl. dagegen die positiven S t e l l u n g n a h m e n b e i STEIG ( L 4 4 5 ) , S . 1 8 1 f . ( A R N I M a n BRENTANO, 1 4 . 6 . 1 8 0 6 ) u n d STEIG
(L446), S . 2 6 (ARNIM an W.GRIMM, 2 . 4 . 1 8 0 9 ) .
54
Nibelungen-Forschungen
Bearbeitung gelungener ist; indessen ist die seinige gründlich, und entspricht vielleicht dem Endzwecke, den er sich damit vorgesetzt hat."52 HAGEN selbst, der bei der Begegnung in Berlin erstmals verbindliche Auskunft über TIECKS Nibelungen-Projekt erhalten hatte, faßte seine Eindrücke wenig später in einem Schreiben an MÜLLER zusammen: „Deßgleichen habe ich kürzlich durch die Nibelungen Tiecks Bekanntschaft gemacht, der einer der liebenswürdigsten Menschen ist, und deßen Freundschaft gewonnen zu haben ich mich höchst glücklich schätze; [...] Tieks Bearbeitung der Nibel. ist wirklich das, wie ich sie im Anhang53 beschrieben; er ist aber ganz mit der meinigen zufrieden und hat seine, von welcher er gesteht, daß sie nur durch die That selbst gerechtfertigt werden könne, vorerst hingelegt; er meint ich habe ihm den Markt verdorben, und man würde nun sogleich nach dem Kritischen fragen." 54 Angesichts der weithin positiven „Privaturteile" mußte HAGEN die erste öffentliche Kritik um so unvermittelter treffen. Am 10.12.1807 erschien in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen eine anonyme Rezension des Werks, deren Verfasser (Friedrich BOUTERWEK) mit der Nibelungen„Erneuung" überaus hart ins Gericht ging. Er zollte zwar dem Fleiß und der Absicht des Herausgebers, das Gedicht „in größeren Umlauf' 55 zu bringen, seinen Beifall, wies jedoch den hierzu eingeschlagenen Weg als völlig verfehlt zurück. Statt (wie etwa WIELAND in seinen Verserzählungen) durch eine behutsam archaisierende Färbung der Sprache das „Colorit der romantischen Alterthümlichkeit" zu wahren und das „Altväterische so natürlich und unvermerkt in die moderne Diction hineingleiten zu lassen, daß das Ganze in der Form, wie es erscheint, sich von selbst gebildet zu haben scheine", sei HAGEN durchweg dem negativen Beispiel TIECKS und seiner „Schule" gefolgt und habe ein „neugemachtes Deutsch" angewandt, „das gewissermaßen auch Undeutsch heissen kann, weil es nie gesprochen worden und keinem Zeitalter angehört"56: „Bald sticht das Alte, bald das Neue, hervor, und es fehlt der ganzen Diction an einer bestimmten Haltung."57 HAGEN, der seine Betroffenheit kaum verbergen konnte, setzte sich mit einer eilig verfaßten Antikritik zur Wehr, in der er zugleich sein Verhältnis zur angegriffenen romantischen „Schule" näher zu bestimmen suchte:
52
ZEYDEL ( L 4 9 5 ) , S. 1 0 6 (TIECK a n RUMOHR, 2 0 . 1 2 . 1 8 0 7 ) ; v g l . e b d . , S . 1 0 7 (TIECK a n ARNIM, 2 0 . 1 2 . 1 8 0 7 ) .
53
Vgl. NL1807, S. 488.
54
HAGEN a n J . v . MÜLLER, 6 . 1 . 1 8 0 8 ( B 3 5 8 ) .
55
Rez. NL1807 ( W l . l ) , S.2025. Ebd., S. 2028. Ebd., S. 2028 f.
56 57
55
Der Nibelungen Lied (1807)
Wenn ich auch mit der letzten [Rezension] nicht überall zufrieden sein kann, so verdient doch immer diese Rücksicht auf mein Werk überhaupt allen Dank; Stillschweigen wäre noch viel niederschlagender. Auch sehe ich, daß es der Rezensent (wenn ich nicht irre H: Prof. Bouterweck) doch immer noch gut mir u. dem Ganzen meint, sowie mit dem alten Werke selbst, worauf es hier besonders ankommt. Ob meine Erneuung deßelben Grellheiten hat, darüber will ich nicht mit ihm streiten; andere urtheilen anders: ich frage aber, ob ZB in Wielands Geron, ja in Amadis u. Oberon nicht viel stärkere Dinge dieser Art vorkommen, u. natürlich in einem eigenen modernen Werke noch greller erscheinen? [...] Was übrigens die vielfach erwähnte S c h u l e betrifft, so irrt Rezensent in Ansehung meiner gänzlich; ohne näheren Zusammenhang mit derselben — wenn sie ja so zu nennen — habe ich nur von allen Seiten das angenommen, was ich billigte. 5 8
Bereits wenige Tage nach dieser „Richtigstellung" hatte HAGEN Gelegenheit, seinen Freund und Mentor MÜLLER auf die erste positive Besprechung der Nibelungen-„Erneuung" aufmerksam zu machen („Meine Nibel. erfreuen sich überall der beßten Aufnahme; im Jan. der Berl. Monatschr. ist ein sehr guter Aufsatz darüber."59). In der von Johann Erich BIESTER
herausgegebenen Neuen Berlinischen Monatsschrift
war gleich zu Beginn des
Jahres 1808 eine überaus freundliche Würdigung des HAGENschen Werks erschienen. Der anonyme Rezensent (BIESTER selbst?) nahm — anders als BOUTERWEK — keinerlei Anstoß an der sprachlichen Form der Bearbeitung und interpretierte die „Erneuung" als organische Weiterentwicklung des altdeutschen Gedichts: Allein nicht ist dasselbe eigentlich übersetzt, vollends nicht modernisirt; nur erneuet ist es oder aufgefrischt, nicht aber mechanisch durch fremde Zuthat von außen, sondern durch Eindringen in den innersten Organismus, und die von da heraus wirkende Lebenskraft: wie eine hundertjährige Eiche im Frühling sich mit jungem Laube bekleidet, doch ganz in Wuchs und Stellung wie vordem, und gleich auf den ersten Blick das ehrwürdiggraue Alter offenbarend. 60
Kurz darauf sah sich HAGEN erneut scharfer Kritik ausgesetzt. In der Zeitung für die elegante Welt erschien am 25.2.1808 eine ironisch zugespitzte Rezension, deren (anonymer) Verfasser sich an BOUTERWEKS Seite stellte, aus seiner Distanz zur altdeutschen „Mode" 61 kein Hehl machte und in HAGENS Nibelungen-„Erneuung" nur eine unzumutbare Entstellung, ja unfreiwillige Parodie des altdeutschen Gedichts erblicken konnte. Er war sich gewiß, daß „selbst die kühnsten" unter den Lesern „vor dieser langen Prüfung bald zurückzuschaudern, oder, falls sie sich ihrer l o b e b a r unterziehn, d e r g r o ß e n A r e b e i t früh erliegen"62 müßten. Statt in seiner 58
DZIATZKO (L81), S. 24 (HAGEN an HEYNE, 28.12.1807 [B231]).
59
HAGEN a n J.V.MÜLLER, 6 . 1 . 1 8 0 8 ( B 3 5 8 ) .
60
Rez. NL 1807 (W 1.2), S. 54; zur Baummetaphorik vgl. HB 1811, S. XII; W. GRIMM (L149) Bd. 2 , S . 4 3 . Rez. NL 1807 (W1.4), Sp.251. Ebd., Sp. 252.
61 62
56
Nibelungen-Forschungen
Ausgabe „das Antike mit dem Modernen unaufhörlich" zu mischen und dabei „weder dem gewöhnlichen, noch dem unterrichteten Leser Genüge"63 zu tun — der eine bleibe auf das Glossar angewiesen, der andere vermisse den originalen Wortlaut —, hätte sich HAGEN darauf konzentrieren sollen, „einen verbesserten Text zu geben und das Verstehen durch Abtheilungen, Unterscheidungen und kurze Worterklärungen zu erleichtern"64; in der jetzt gebotenen ahistorischen Verkleidung wirke das Nibelungenlied „wie ein wohlgeharnischter altdeutscher Ritter mit dem Hute unter dem Arm und dem Galanteriedegen an der Seite"65. Angesichts zunehmender Kritik fühlte sich BÜSCHING aufgerufen, im Mai 1808 in der Halleschen Allgemeinen Literatur-Zeitung eine positive Würdigung der Nibelungen-„Erneuung" seines Freundes HAGEN ZU publizieren und vor allem dem hier angewandten Bearbeitungsprinzip öffentlich seine volle Anerkennung auszusprechen: [...] diese Methode müssen wir völlig unterschreiben, obgleich wir die Menge Widersprüche, die sowohl Hagen, als uns, von allen Seiten erwarten, wohl voraussehen können. [...] Denn sie liefert uns dieß herrliche Gemälde in einer kernhaften, trefflichen Kopie, die, weder zu entfernt von dem Alten, noch dem Modernen zu nahe, eine richtige Mittelstraße hält, und, wir wiederholen es noch einmal, der einzige Weg jetzt ist, auf dem wir es erhalten mußten, da die Versuche von Hegewisch, Niemeyer und andern gänzlich zu verwerfen sind.64 BÜSCHINGS Gefälligkeitsrezension war freilich kaum dazu angetan, die weitverbreiteten grundsätzlichen Bedenken gegen die von HAGEN gewählte Form der „Erneuung" zu zerstreuen. Auf Widerstand stießen BÜSCHINGS Ausführungen vornehmlich bei Wilhelm GRIMM.67 Im Januar/Februar 1809 ließ dieser in den Heidelbergischen Jahrbüchern die umfassendste und zugleich schärfste Kritik des HAGENschen Werks abdrucken. Er sprach dem Herausgeber zwar „gründliche Kenntnis der altdeutschen Sprache"68 sowie allgemeine „Gelehrsamkeit", „Gründlichkeit und Neigung" 69 keineswegs ab, hielt dessen Nibelungen-Bearbeitung jedoch insgesamt für verfehlt. In Anlehnung an die bereits 1807 von seinem Bruder Jacob gegen die Eunomia-Probe erhobenen Einwände70 wies er die „Erneuung" als vom Ansatz her verfehlt zurück („wir halten die Idee, von der sie ausgeht,
63 64 65 66 67 68 69 70
Ebd., Sp. 253. Ebd. Ebd., Sp. 252 f. Rez. NL1807 (W1.3), Sp.l56f. Vgl. SCHOOF (L407), S. 57. W. GRIMM (L149) Bd. 1, S. 85. Ebd., S. 91. S.o. Kap.2.12.
Der Nibelungen Lied (1807)
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für durchaus falsch"71) und erklärte die „Arbeit geradehin für etwas Misslungenes" 7 2 : [...] jenes Modernisiren durch neue Formen macht den Anspruch, dasselbe Gedicht zu sein, währenddem es, ohne ihn durchsetzen zu können, viel weniger ist. 73 Es ist eine Modernisirung, die schlechter ist als das Original, und doch nicht modern. 7 4
Wie vor ihm BOUTERWEK 75 und der Rezensent der Zeitung für die elegante Welt76 lehnte GRIMM die von HAGEN neugeschaffene Sprache als ahistorisches Surrogat strikt ab („Die hier vorkommende [Sprache] ist eine solche, wie sie zu keiner Zeit gelebt hat. Wir halten dies für etwas gänzlich Unerlaubtes [-.·]·" 77 ) und kam zu dem Ergebnis, daß es für die Nibelungen„Erneuung" von 1807 eigentlich kein Publikum gebe: Daher glauben wir, dass uns ein Recht zusteht auf die Frage: für wen diese Bearbeitung bestimmt sei? Da der Verf. selbst nicht glauben wird, dass sie besser sei als das Original, für diejenigen nicht, welche dieses lesen können. Für die übrigen auch nicht, denn diesen ist es immer noch unverständlich, theils der ungewöhnlichen Wortstellung, theils einer Menge dunkler und veralteter Worte wegen, so dass sie bald abgeschreckt werden und nicht weiter lesen: und das ist das Urtheil, welches Ree. aus dem Munde geistreicher Personen gehört hat. S t r e n g d e m n a c h g e n o m m e n , [...], und wir glauben damit einen grossen Tadel auszusprechen, h a t d a s B u c h k e i n P u b l i c u m . 7 8 HAGEN zeigte sich der GRiMMschen Kritik gegenüber wenig aufgeschlossen („Ein gewisser Grimm, ich glaube zu Kassel, hat kürzlich in den Heidelberger Jahrb. angefangen meine Nibelungen sehr schnöde anzulassen: ich werde ihm gelegentlich das Maul stopfen."79) und hielt unbeirrt an dem einmal eingeschlagenen Weg der „Erneuung" fest, glaubte er sich doch nicht nur von den positiven Stimmen aus seiner näheren Umgebung, sondern vor allem auch durch den Publikums-„Erfolg" des Werks in seinem methodischen Vorgehen bestätigt: „Es ist vergeblich, darüber hin und her zu reden; der Erfolg hat aber für mich entschieden; gar viele, die sonst die Nibel. nicht angesehen hätten, haben sich dran erbauet: und wer will darnach fragen, ob sie es auf würdige Art gethan, oder ob es was frommt? Das steht allein bei den Göttern."80
71
W. GRIMM ( L 1 4 9 ) B d . 1, S . 7 2 .
72
Ebd. Ebd., S . 7 0 . Ebd., S. 73 (im Original gesperrt).
73 74 75
Vgl. Rez. N L 1 8 0 7 ( W l . l ) , S.2028.
76
Vgl. Rez. N L 1 8 0 7 ( W 1 . 4 ) , S p . 2 5 2 f .
77
W . GRIMM ( L 1 4 9 ) B d . 1, S . 7 6 .
78
E b d . , S . 7 5 ; v g l . a u c h STEIG ( L 4 4 6 ) , S. 81 ( W . GRIMM a n ARNIM, 2 5 . 1 0 . 1 8 1 0 ) .
79
HAGEN a n J . V . M Ü L L E R , 1 . 3 . 1 8 0 9 ( B 3 6 4 ) .
80
HAGEN a n J . G R I M M , 5 . 9 . 1 8 1 0 ( B 1 9 9 ) ; v g l . a u c h N L 1 8 1 0 , S . V I I I .
58
Nibelungen-Forschungen
Der buchhändlerische Erfolg der Nibelungen-Ausgabe von 1807 gestaltete sich freilich weit weniger überzeugend, als H A G E N glauben machen wollte.81 Das Werk erregte zwar allgemeines Aufsehen82 und war eine Zeitlang „ der vorherrschende Gegenstand der Unterhaltung in den besten Gesellschaften"83, konnte jedoch die verlegerischen Erwartungen nicht erfüllen; die Verkaufszahlen standen in keinem Verhältnis zur öffentlichen Resonanz des Buches.Im Frühjahr 1809 konstatierte Wilhelm G R I M M : „ [ . . . ] seine Bearbeitung ist so sehr nicht gegangen und von einer neuen Auflage keine Rede"84; und Johannes von M Ü L L E R bedauerte, daß „vor häufigem Kanonendonner das Waffengeklirre derselben alten Ritterschaft nicht von so vielen"85 habe gehört werden können, wie man es sich gewünscht hätte. Auch im vierten Jahr nach Erscheinen des Werks war von der (wohl ohnehin nicht allzu hoch angesetzten) Auflage noch ein Großteil unverkauft. Weit prosaischer als Johannes von M Ü L L E R ließ sich die enttäuschte Verlegerin Friederike Helene UNGER im Frühjahr 1811 vernehmen: „Die Niebelungen liegen wie Blei; und außer denen, die ich verschenkt habe, und der HE. v. d. Hagen verschenkte, kommen nur die verhaßten Remitenda; von 30. verschriebenen, remittirt 29. Dieß ist Buchstäblich wahr [...]." 86 Wenn es auch angebracht erscheint, an der negativen Aussage der resignierenden Verlegerin, die im Jahr zuvor den Vergleich hatte beantragen müssen, einzelne Abstriche vorzunehmen, so bleibt doch festzuhalten, daß die Nibelungen-„Erneuung" bei weitem nicht die Breitenwirkung erreichte, die H A G E N (und nach ihm die seiner Darstellung vertrauende wissenschaftsgeschichtliche Forschung)87 für das Werk beanspruchte. Die „Erneuung" von 1807 erregte zwar publizistisches Aufsehen und wußte das Interesse weiter Kreise auf das bis dahin vernachlässigte Nibelungenlied zu lenken, doch blieb ihr ein an Verkaufszahlen meßbarer Erfolg versagt. Es ist indes fraglich, ob die geplante Bearbeitung TIECKS ein überzeugenderes Verkaufsergebnis erzielt hätte. Der buchhändlerische Mißerfolg der vier Jahre zuvor erschienenen Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter88 erlaubt keine allzu hohen Erwartungen. Es läßt sich beim zeitgenössischen Publikum zwar eine verstärkte Hinwendung zur altdeutschen Literatur ausma81
Vgl. hierzu zuletzt KROHN (L248).
82
V g l . e t w a FÜRST ( L 1 0 7 ) , S . 3 1 0 ; BOISSEREE ( L 3 7 ) B D . l ,
83
Rez. N L 1 8 0 7 (W1.6), S.73.
S.31.
84
SCHOOF ( L 4 0 9 ) , S . 1 0 4 ( W . a n J . GRIMM, 2 0 . - 2 8 . 5 . 1 8 0 9 ) .
85
J . V . M Ü L L E R ( L 3 2 0 ) B d . 4 0 , S . 8 1 (MÜLLER a n HAGEN, 7 . 4 . 1 8 0 9 [B 3 6 5 ] ) .
86
KÖRNER (L229), Bd.2, S.208 (UNGER an A.W.SCHLEGEL, 2 4 . 5 . 1 8 1 1 ) ; vgl. auch ebd., Bd. 3, S. 490 (UNGER an A. W. SCHLEGEL, 2 . 4 . 1 8 1 1 ) : „Ich sitze mit meinem Nibelungen Lied [...] fort auf dem Sande." Erste Zweifel wurden von KÖRNER angemeldet (vgl. ebd., Bd. 3, S. 490).
87 88
V g l . BRINKER-GABLER ( L 4 4 ) , S. 1 4 4 f.
Der Nibelungen Lied (1807)
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chen, doch war das Interesse an der Dichtung des Mittelalters noch lange nicht so vertieft, daß sich weitere Kreise dazu bereit gefunden hätten, für den Erwerb entsprechender Editionen oder Bearbeitungen größere finanzielle Opfer zu bringen: Weit eher als die problematischen Bearbeitungsprinzipien dürfte dem merkantilen Erfolg von HAGENS Der Nibelungen Lied der für das Buch geforderte stattliche Preis von 3 Reichstalern im Wege gestanden haben. 2.24
Intention: „Der Bogen liegt da; spanne ihn, wer mag."
Die bis in die jüngste Zeit89 gegen die HAGENsche Form der „Erneuung" erhobenen grundsätzlichen Einwände erscheinen vom historischen und sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus vollauf berechtigt. Die Nibelungen-Bearbeitung von 1807 ist von ihrer Konzeption her verfehlt, in ihren Ergebnissen unhaltbar: Die „Erneuung" bleibt von einer Übersetzung ebensoweit entfernt wie von einer Edition; der hier eingeschlagene Weg der Vermittlung führt weder zum Original noch zu einem erheblich leichteren Verständnis des mittelhochdeutschen Textes. Dennoch werden zeitgenössische Rezensenten wie moderne Kritiker in ihrem Urteilsspruch der Leistung und vor allem der Intention HAGENS nur bedingt gerecht. Sie unterstellen dem Bearbeiter des Nibelungenlieds ein Ziel, das er sich nie gesetzt hat, legen an sein Werk einen Maßstab, an dem es nicht gemessen werden will. Es sollte zu bedenken geben, daß HAGEN für seine Bearbeitung an keiner Stelle den Terminus „Übersetzung" verwendet, vielmehr stets von „Erneuung" oder „Verjüngung" spricht. Diese Begriffe kennzeichnen nicht nur die für Der Nibelungen Lied charakteristische Form sprachlicher Modernisierung, sie stehen zugleich für ein über die bloße Vermittlung des Textes hinausweisendes Programm, in dessen Rahmen dem Nibelungenlied eine entscheidende Rolle für die Weiterentwicklung der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts zugedacht ist.90 Ausgangspunkt der HAGENschen Überlegungen ist die These, daß es in Deutschland — trotz regen literarischen Interesses —91 (noch) keine eigenständige Dichtung gebe. Die Grundlagen hierfür könnten und müßten erst durch eine Besinnung auf die Ursprünge der „Nazionalpoesie" 89 90
91
Vgl. etwa GINSCHEL (L115), S. 7 5 - 7 9 ; PRETZEL (L358), S.44. Vgl. LUBRICH (L282), S. 12: „[...] nicht ein historisches Phänomen gilt es hier unverbindlich zur Kenntnis zu nehmen; ein Idealbild von verpflichtender Kraft der Gegenwartswirkung will aufgenommen, will innerlich bewältigt und wiederum in Leistung umgesetzt sein." Vgl. NL1807, S.467; vgl. auch TIECK (L465), S.III; A.W.SCHLEGEL (L398) Bd.2, S. 1 6 - 1 8 .
60
Nibelungen-Forschungen
geschaffen werden: Die Geschichte habe gezeigt, daß sich die deutsche Sprache und Literatur „ungeachtet aller vorübergehenden Einflüße, stäts in ihrer Eigentümlichkeit und Freiheit bewahrt, oder hergestellt" habe, und dies „besonders durch Rückkehr zu sich selbst, durch Stärkung und Verjüngung aus dem inneren, unversieglichen Born ihrer Ursprache, und Belebung ihrer uralten und mannichfaltig gebildeten Nazionalpoesie"92: „Unserer Zeit scheint es nun glücklich aufbehalten, besonders jene alten Werke wieder hervorzuziehen, zu bearbeiten, lebendig zu machen, zu lesen u. zu lieben: u. dadurch wieder ein neues Leben in unserer Poesie zu entzünden."93 Gerade in der gegenwärtigen Phase politischer Ohnmacht und „nazionaler" Erniedrigung (nach den Siegen Napoleons über Preußen und Österreich) könne nur „in der Vorzeit, in ihrer Poesie u. Geschichte, kurz nur in der innern Welt Ruhm, Heil u. Leben" 94 gefunden werden: Wie man zu des Tacitus Zeiten die Altrömische Sprache der Republik wieder hervor zu rufen strebte: so ist auch jetzt, mitten unter den zerreißendsten Stürmen, in Deutschland die Liebe zu der Sprache und den Werken unserer ehrenfesten Altvordern rege und thätig, und es scheint, als suche man in der Vergangenheit und Dichtung, was in der Gegenwart schmerzlich untergeht.95
Aufgrund sprachlicher Barrieren und ästhetischer Überfremdung sieht seine Zeit jedoch von der ,,schöne[n] Blüthe der Deutschen Poesie" der Vorzeit abgeschnitten: „[...] ein langer dunkler, nur von wenigen lichten Punkten erhellter Raum liegt zwischen ihr und uns" 96 . Die Deutschen ständen bislang ausschließlich in einem „gelehrten", „poetisch" unwirksamen Verhältnis zu den literarischen Zeugnissen des Mittelalters; es sei daher das Gebot der Stunde, die weithin unbekannten (literarisch noch unverbrauchten)97 Werke der Vergangenheit wieder ans Licht zu ziehen und in Umlauf zu bringen — „als Denkmale einer hohen alten, und als kräftige Anregungen und Grundstoffe einer neuen Poesie"98. Hierzu erscheinen HAGEN die bislang vorgelegten handschriftengetreuen Abdrucke altdeutscher Texte ebenso ungeeignet wie die (den Charakter der Gedichte verfälschenden) Bearbeitungen und freien Übertragungen des 18. Jahrhunderts; eine sinnvolle, für die Poesie der Gegenwart wirksame Vermittlung der Texte lasse sich nur dadurch erreichen, daß diese „durch eine genaue und getreue, jedoch poetisch freie Übertragung ihrer veralteten HAGEN
92 93 94
95 96 97 98
NL1807, S. 467. DZIATZKO (L81), S. 5 (HAGEN an HEYNE, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 [B222]). Ebd., S. 12 (HAGEN an HEYNE, 20.1.1806 [B223]); vgl. auch HAGEN an J.V.MÜLLER, o.O. u. D. [1807] (B 357) (StB Schaffhausen: J. v. M. Fase. 243/19). NL 1807, Vorrede (unpag.). Ebd., S. 468. Vgl. NL 1807, S. 476. Ebd.
Der Nibelungen Lied (1807)
61
Sprache in eine jetzt verständliche, wieder neu belebt, allgemein zugänglich und mittheilbar gemacht, übrigens aber, so viel als möglich, in ihrer Originalität erhalten werden" 99 . Gerade das Nibelungenlied „als das erhabenste und vollkommenste Denkmal einer so lange verdunkelten Nazionalpoesie"100 erhebe Ansprüch auf diese „einzig würdige Art der Erneuung" 101 , die nicht nur die inhaltlichen, sondern auch die formalen und sprachlich-stilistischen Komponenten des Werks weitestgehend zu bewahren vermöge. Den spätmittelalterlichen Kopisten und frühen Buchdruckern vergleichbar, die die oft jahrhundertealten Dichtungen „für den unmittelbaren Gebrauch, in die Sprache des Ortes und der Zeit umschrieben"102, möchte H A G E N (mit Hilfe aller ihm zu Gebote stehenden grammatisch-lexikalischen Mittel) den altdeutschen Nibelungen-Text an die Sprachstufe seiner Zeit heranführen und die seit dem 16. Jahrhundert unterbrochene sprachgeschichtliche Entwicklung des Werks „auf künstliche Weise"103 nachholen. Dabei behält er sich freilich angesichts des „erhabenen, ernsten und strengen Karakters des alten Heldenliedes" vor, an einigen Stellen „eine etwas ältere und dunklere Sprache"104 zu belassen, als sie dem allgemeinen Verständnis förderlich ist: Das Nibelungenlied brauche dem Leser der Gegenwart nicht verständlicher zu sein „als etwa den Griechen in der dramatischen Periode die Homerischen Gesänge; welche, wenn sie sich auch bis zur ersten Fixirung durch die Schrift in der mündlichen Überlieferung mit der Zeit und Sprache verändert und lebendig erhalten haben, doch schon damals, und später noch vielmehr, philologische und antiquarische Schwierigkeiten und Dunkelheiten hatten, die, zum Theil aus einer uralten Zeit stammend, den erklärenden Unterricht nothwendig machten"105. H A G E N wendet sich mit seiner „Erneuung" altdeutscher Literatur vornehmlich an ein „höheres, unsichtbares Publikum", an einen Leserkreis „aus den größten und trefflichsten Männern" der Nation, „die außer und über ihrer Zeit stehen"106 und daher befähigt scheinen, die von der altdeutschen Poesie ausgehenden Impulse aufzunehmen und in eigenständige Werke umzusetzen. Das Verhältnis der neueren Literatur zu ihren mittelalterlichen Vorbildern soll dabei nicht durch getreue Nachahmung, sondern ausschließlich durch „schöpferische Aneignung" bestimmt sein, 99 100 101 102 103 104 105 106
Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.
Vorrede (unpag.) S. 476. S. 495. S. 477. S. 495. S. 494.
62
Nibelungen-Forschungen
indem der moderne Autor das vorgefundene Werk „entweder in seiner Art nur zu einer höheren Vollkommenheit ausbildet, oder es in eine generisch verschiedene Form verändert oder erhebt"107. Für beide Bearbeitungsformen glaubt HAGEN bereits „erfreuliche und allbekannte Denkmale"108 vorweisen zu können: Nicht meine ich hier die Bearbeitungen Wielands und seiner Nachahmer, welche, den Französischen ähnlich, und auch meist nur aus schon getrübten Französischen Quellen oder gar nur Auszügen genommen, und in der bekannten Manier und Formlosigkeit ausgeführt sind; obgleich sie noch zu den beßten der sämmtlichen Werke gehören: wohl aber meine ich Göthe's Faust, Reineke Fuchs, Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderten (worin die schöne Novelle von dem klugen Prokurator aus Alb. v. Eyb's Spiegel der Sitten. Augsb. 1511. f. genommen ist); TCeks Volksmährchen, Romantische Dichtungen und Oktavian; Fr. Schlegels Roland, und Lother und Maller; Pellegrins Galmy.' 09 HAGEN möchte kein Werk der älteren „Nazionalpoesie" von der modernen ,,schöpferische[n] Aneignung" ausgenommen wissen; auch nicht Dichtungen wie das Nibelungenlied, „die durch ihre vollkommene Ausbildung, und zugleich wegen ihres ehrwürdigen Alterthums, und als nazionales Gesammteigenthum, gegen jede andere Umgestaltung geweiht sein sollten". Voraussetzung ist freilich, daß der moderne Autor „etwas ganz Neues und Eigenes daraus schaffe und bilde, das zwar seine Quelle nie verläugnen [...], das aber doch zugleich auch abgelöst und frei für sich"110 bestehen könne. Zurückgewiesen wird jeder „Versuch einer Weiterbildung oder Ausführung dieser epischen Gesänge, und insbesondere der Nibelungen, in ihrer Gattung" 111 — dies nicht nur, weil die Gedichte ihre gültige epische Form schon gefunden haben, sondern weil für HAGEN das heroisch-epische Zeitalter abgeschlossen und ein direktes Anknüpfen an dessen Stiltraditionen nicht mehr möglich ist. In der Nachfolge August Wilhelm SCHLEGELS 112 sieht HAGEN die Aufgabe seines Jahrhunderts darin, den überlieferten epischen Stoffen eine dramatische Form zu geben: Nämlich, so wie bei den Griechen, nach Untergang des epischen Zeitalters, und mit ihm des ächten Epos, — deßen Unwiederbringlichkeit sie auch wohl fühlten — nach dem bis zum Höchsten stätig fortschreitenden Gange ihrer schönen poetischen Natur, sich das Drama entwickelte: also soll auch dem Dramatiker an dem Altdeutschen Epos sein Recht in alle Wege vorbehalten bleiben, und es wäre nur gar sehr zu wünschen, daß ein solcher, mit Kraft und Gewalt gerüstet, daherkäme, und sich deßelben bedienend, uns die große Geschichte in einer Reihe von Tragödien vor Augen stellte und vorüber führte, und uns
107 108 109 110 111 1,2
Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 474. S. 475 Anm. 15. S. 476. S. 478.
Vgl. A . W . SCHLEGEL ( L 3 9 8 ) Bd. 3, S. 125.
Der Nibelungen Lied (1807)
63
so endlich auch ein nazionales Drama erschüfe, wie es kein neueres Volk aufzuweisen hätte, und das, wie das Epos, nur allein mit dem antiken, zwar weniger der Form, als dem Geiste und Gehalte nach, verglichen werden dürfte. Der Bogen liegt da; spanne ihn, wer mag. 1 1 3
Der appellative Schlußsatz zeigt unmißverständlich die Grundintention der HAGENschen Nibelungen-Ausgabe an. Die „Erneuung" ist nicht primär dazu bestimmt, dem breiteren Publikum den Zugang zum Text zu erleichtern, sie ist vielmehr als Stimulans für den kleinen Kreis von Lesern gedacht, aus deren Mitte der „Sophokles"114 der neuen deutschen „Nazionalpoesie" — HAGEN denkt hier vornehmlich an TIECK 1 1 5 oder GOETHE116 — hervorgehen soll. Die Bearbeitung richtet sich zuerst und vor allem an den (des Mittelhochdeutschen meist unkundigen) Künstler und Dichter, dem das wegweisende Werk in einer dem Original nächststehenden Fassung geboten werden soll, die sowohl dem Bedürfnis nach Verständlichkeit als auch dem Verlangen nach Authentizität gerecht wird, um eine größtmögliche poetische Wirksamkeit zu erreichen. Für den von HAGEN vorgesehenen Zweck eignet sich eine bloße Edition des altdeutschen Textes (aufgrund der fortbestehenden Sprachbarrieren) ebensowenig wie eine freie (die stilistischen und formalen Charakteristika verwischende) Übertragung. Zur Wiederbelebung der Poesie erscheint es vielmehr notwendig, das „im erhabensten u. ergreifendsten, fast kolossalen Karakter, im gediegensten Stil ausgeführte]; kurz in Form wie Gehalt durchaus vollendet[e]"117 Gedicht auf dem Wege der „Erneuung" so unmittelbar und unverfälscht wie nur eben möglich darzubieten. Die Nibelungen-Bearbeitung von 1 8 0 7 , die nach HAGENS Vorstellung nur das erste Glied in einer langen Kette von „Erneuungen" mittelhochdeutscher Heldenepen bilden sollte, ist mehr als das fragwürdige Ergebnis sprachhistorischer Irrtümer und philologischer Unzulänglichkeiten. In ihr dokumentiert sich vor allem das Bestreben, romantische Dichtungstheorie in literarische Praxis umzusetzen. Wie später nur selten wieder zeigt sich HAGEN 1 8 0 7 dem Gedankengut TIECKS und der Brüder SCHLEGEL verpflichtet. Er nimmt Friedrich SCHLEGEL und seine Forderung, auf die Quellen der „eignen Sprache und Dichtung zurück[zu]gehn und die alte Kraft, den hohen Geist wieder frei [zu] machen, der noch in den Urkunden der vaterländischen Vorzeit [...] bis jetzt verkannt schlummert"118, beim 113
NL1807, S.478f.
114
HECKER ( L 1 6 9 ) , S . 1 1 8 (HAGEN a n GOETHE, 9 . 1 0 . 1 8 0 7 [ B 1 7 9 ] ) .
115
Vgl. NL1807, S. 488 Anm.60.
1,6
V g l . HECKER ( L 1 6 9 ) , S . 1 1 8 (HAGEN a n GOETHE, 9. 1 0 . 1 8 0 7 [ B 1 7 9 ] ) ; HAGEN a n JEAN
117
DZIATZKO (L81), S. 5 (HAGEN an HEYNE, 28.11.1805 [B222]).
118
F.SCHLEGEL ( L 4 0 0 ) B d . 2 , S . 3 0 3 ; v g l . a u c h A . W . S C H L E G E L ( L 3 9 7 ) , S . 1 8 .
PAUL, 7 . 1 0 . 1 8 0 7 ( B 4 3 8 ) .
64
Nibelungen-Forschungen
Wort und ist wie T I E C K überzeugt, auf diesem Wege „der ganzen neuern Poesie ein Fundament"119 geben zu können. Der Nibelungen Lied stellt den vielleicht konsequentesten Versuch eines Brückenschlags zwischen altdeutschem Literaturstudium und modernem Literaturschaffen dar — ein Versuch, der freilich von seinen theoretischen Voraussetzungen wie von seiner praktischen Durchführung her zum Scheitern verurteilt war. 2.25
Anhang: Verlagskorrespondenz
2.251 Brief H A G E N S an Johann Daniel S A N D E R vom 3.6.1806 (B453) (Bayer. Staatsbibliothek München. Autogr. Hagen, F. H. v. d.) Berlin d. 3f Juni 1806.
Hochzuverehrender Herr; Ich kan nicht umhin diese mir von Ihrer Frau Gemalin so gütig dargebotene Gelegenheit zu benuzen, und Sie selbst mit meiner Angelegenheit bis zu dem Ort der Erholung und Entschlagung von allen Geschäften zu verfolgen: aber die Sache liegt mir selbst so sehr am Herzen und ist, für mich wenigstens, auch so wichtig und dringend — daß ich wol, besonders in diesen regnichten Herbst-tagen, von Ihrer Güte mir einige Aufmerksamkeit und Rüksicht darauf erwarten darf. — Ich habe endlich — ebenfals durch Vermittelung des edlen Joh: v: Müller — den höchstwichtigen, erst seit kurzen bekantgewordenen und noch ganz unbenuzten Münchenschen Kodex der N i b e l u n g e n erhalten, und schwelge gleichsam in demselben: es Übertrift derselbe meine kühnsten Erwartungen: — schon an 4000 V: habe ich davon abgeschrieben, und überal finde ich teils meine Konjekturen — zur größten Freude, bestätigt, — teils ganz neue beßere und lichtvollere Lesarten — und besonders — bis dahin, schon eine Zahl von 900 Versen mehr: — und zwar keine überflüßigen und später hinzugedichteten — sondern wahrhafte Ergänzungen und Vervolständigungen; — und es läst sich bei vielen auch noch deutlich erkennen, wie sie in der Abschrift, woraus der Druk genommen, nur durch Versehen des Schreibers, — wegen einer in der Nähe folgenden, änlichen Fräse oder Reims, — ausgelaßen worden: — außerdem werden auch alle im Druk offenbar fehlende Verse — wo die 2' Reimzeile zum Kuplet fehlte — und deren 6 — 8 sind — hier glüklich hergestelt. Übrigens ist es aber auch sehr merkwürdig, daß dieser Kodex — (der sehr nett und leserlich auf P e r g a m e n t , in Fol: — mit großen gemalten und vergoldeten Anfangsbuchstaben — wahrscheinlich im 13' Jahrh: geschrieben —) im Ganzen doch treu und fast wörtlich mit dem Müllerschen Druk übereinstimt — 119
SCHWEIKERT ( L 4 2 5 )
Bd. 2,
S . 2 7 6 (TIECK
an
FROMMANN,
Frühjahr
1802).
Der Nibelungen Lied (1807)
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und durchaus keine Bearbeitung oder auch nur Erneuung — wie dies bei den Altdeutschen Ged: so gewöhnlich — sondern eine genaue und sehr sorgfältige Kopie eines gemeinschaftlichen Originals ist: so daß auch hierin das Nibel: Lied einen großen Vorzug der treuen Erhaltung und Bewahrung — der es auch so sehr würdig, hat: — und dadurch noch mehr ein ächtes urkundliches Ansehen gewint. Dabei aber gewähren zugleich die dennoch vorkommenden Abweichungen in Ansehung des Ausdruks, der Beiwörter, der Formen ρ — dem Erneuerer der alten Sprache einen recht wilkommenen Spielraum —, gewähren ihm die W a h l , ohne ihm die W i l k ü r notwendig zu machen —: wie doch, in Ermangelung dieses Kodex, bei den vorhandenen Lüken und dunklen Stellen des Druks mir bevorstand: — weshalb ich mich auch immer noch vor öffentlicher Bekantmachung heimlich scheute, und zauderte: — Jezt aber erhält der nächste p o e t i s c h e , — lebendig wirksame — Zwek meiner Bearbeitung — zugleich überal eine feste historische Urkundlichkeit: und es liegt ihr durchaus eine g e n a u e und v o l s t ä n d i g e k r i t i s c h e Rezension des Urtextes zum Grunde; wie dies auch so sein mus. Hiedurch ist auch das Verhältnis meiner Arbeit zur T i e k s c h e n (von der Niemeierschen zu schweigen) genau bestirnt: da diese, wie ich von Augen- und OhrenZeugen (ZB: Hr: Achim v: A r n i m , und Schulz — Hofmeister beim Hr. v. Fouquet (Pellegrtn) zu Nennhausen —) weis — eine Verarbeitung noch anderer Nordischer und Deutscher Sagen, die mit den Nibelungen zusammenhangen, im Tone und Versart derselben — neben beliebiger Abkürzung und Erweiterung der Nibelungen selbst, die freilich die Grundlage bleiben — ist: — und obgleich er sich viel damit wißen und sich einen Deutschen P i s i s t r a t u s (Samler und Verbinder der Homerischen Rapsodieen) dünken sol: so scheint er mir doch eher mit den spätem Cyclischen Dichtern zu vergleichen, die Iliades post Homerum verfasten: — dagegen ich mich bescheide nur ein D i a s k e u a s t z u sein. Auf allen Fall wird aber Tieks Werk immer sehr merkwürdig sein — besonders wenn er auch eine Vorrede voranschikt, wie zu hoffen. In meiner historisch: kritischen Einleitung, zu der jezt das meiste vorgearbeitet — verfolge ich zuerst den Mythus von den Nibelungen und die damit zusammenhangenden, von dem ältesten Nord: Ursprung in der r h y t h m i s c h e n Edda — bis auf die neueste Zeit; — dabei: volständige literarische Notiz über alles, besonders die Nibel: — kurz, die Geschichte des Gedichts als Gedicht; im 2' Teil untersuche ich (besonders mit Müllers Unterstützung) die darin zum Grunde liegende w a h r e Geschichte, so weit sie auszumachen — ihre mannichfache Vermischung und Verschmelzung aus verschiedenen Zeitaltern p: — endlich zum Schlus wenige Worte zur ästhetischen Charakteristik des alten Werks wie es nun einmal durch alle jene Umstände entstanden und fertig ist. Dies würde als Einleitung vorangehören. Daran schlöße sich dann aber hinten eine kurze Rechtfertigung der gewälten Art und
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Nibelungen-Forschungen
Weise der Bearbeitung eben besonders aus der dargelegten Vortreflichkeit und Vollendung des alten Werks — wieder zur Einleitung der — berichtigten und vervolständigten — G r u n d s ä z e d e r s e l b e n besonders in Ansehung der S p r a c h e : worauf denn zum völligen Schlus — und um den Text nicht durch Noten zu verunstalten — ein kurzes G l o ß a r der nötigsten Wörter, und auch wol Formen, folgen würde: wobei man auch wol zugleich manche Anspielungen in Ansehung der Sachen erklären könte. Ob ich auch noch auf ein paar Blättern eine kurze Anzeige der ergänzten und verbeßerten Stellen aus dem Münch: Kodex, anhängen werde, wie M ü l l e r wil — weis ich noch nicht; mich dünkt es nicht recht nöthig — da eine Vergleichung mit dem Druk, der doch weit verbreitet, sie von selbst ergiebt: freilich gäbe es der Sache ein gewißes Ansehn. Endlich gedenke ich meine Arbeit dem verehrten Schöpfer derselben zu dediziren: er hat mir dagegen versprochen, sie sogleich zu rezensiren: und dies dünkt mich beßer und wirksamer als wie die Herausgabe durch ihn, die er mir erfoderlichen Fals auch gewis gewährte. — Dies ist nun der Plan und Umris meines Werks, das der Beendigung bald nahe gebracht ist — und ich komme um Ihnen daßelbe nochmals unter den bekanten Bedingungen, die gewis nicht eigennüzig, anzutragen. Das ehrlichste und billigste ist gewis daß wir gemeinschaftlichen Verlust und Gewin tragen: d:h: Sie besorgen gütigst die Veranstaltung des Druks: und ich verpfände mich mit meinem ganzen gegenwärtigen und künftigen Vermögen, auf den Fall, daß der Abgang geringer als die Hälfte der Drukkosten, zum Ersaz des Ausfalls: freilich müsten dabei gewiße Jahre bestirnt werden; deren Festsezung, so wie den Anteil, welchen Sie mir von dem etwannigen Gewinst wollen zukommen laßen, ich ganz Ihrer Güte und Bestimmung überlaße: so wie ich ja die ganze Berechnung in Ihren Händen laße. — Vor allen müste man dem T i e k zuvorzukommen suchen: es würde sowol dem Absaz, wie auch der renommee des Werks vorteilhaft sein: so viel ich aber aus guter Hand (durch den Geh. R: Uhdeti) weis, ist es mit Tieks Arbeit noch in weitem Felde: und Tiek ist in Rom das Dolce far niente viel zu lieb, etwas nur zu enden, ich wil nicht sagen, mit Fleis zu vollenden: und ich glaube D i e t r i c h hat nur erst 2 B ü c h e r in Händen, die durch die Bekantschaft mit Rom wol noch eine Veränderung und Umarbeitung erleiden möchten: — Sie könten vielleicht, näher an Göttingen, noch bestirntes darüber erfahren: Auf allen Fall ist meine Arbeit zu Michaelis bereit: zumal ja doch der Text das erste ist: — und ich, — sowie alle meine Freunde, wünsche jezt recht sehnlich, denselben, der durch den trefl. Kodex eine ganz neue, volkommene Gestalt gewint, möglichst bald gedrukt zu sehen. Ich bitte also nochmals um gütige Berüksichtigung meiner Sache und Genehmigung derselben. Nichts anders ist wahrhaftig dabei mein Zwek, als eben das Werk selbst, die Treflichkeit und Größe deßelben, — und bei meiner Bearbeitung deßelben nur zunächst Genugthuung
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meiner selbst, — und, ich wil es nicht läugnen — auch für meine Freunde und alle mir Wohl wollenden: endlich aber geht mir der Ruhm des Deutschen Vaterlandes — der eben nur noch in der Vergangenheit — in der Dichtung — zu suchen, a b e r a u c h zu finden, über alles. Schließlich bemerke ich noch, daß der ganze Text — mit Einschlus der K l a g e : (wo 2 kurze Verse immer für einen langen gerechnet) und der Vermehrung des Ganzen aus dem München Kod:, kaum 1 2 0 0 0 Verse betragen: also im Druk (gros 8, mit deutschen Lettern, die Seite zu 25 Zeilen) etwa 30 Bogen betragen möchten: — wozu noch 6 — 8 Bogen zur Einleitung und dem Übrigen kämen also etwa l 1 ^ Alfabet, E i n guter mäßiger Band. Ich bitte um eine recht baldige und auch befriedigende Antwort; wünsche Ihnen viel Vergnügen und von Herzen Erfüllung alles deßen, was Sie sich von Ihrer Badereise versprochen. Ihr
ganz ergebenster vdHagen
2.252 Brief HAGENS an Georg Andreas REIMER vom 8.8.1806 (B428) (Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität Berlin. Autogr. 461) [Berlin,] d. 8' August [1806] Werthgeschäzter Herr; Es ist Ihnen gewis nicht unbekant, welche Arbeit ich schon seit mehren Jahren mit den Nibelungen vorhabe; durch Hr. v. Müller, der sich so grosmüthig für mein Werk durch Rath und That intereßirt, veranlaßt, wolte ich daßelbe durch Sander bekant machen: aber der Zustand dieses Mannes auf der einen Seite, nochmehr aber meine eigene Scheu und Besorglichkeit, etwas Unreifes und Unvollständiges in die Welt zu schiken, hat die wirkliche Ausführung, ja selbst nur die definitive Unterhandlung darüber, noch bis dahin aufgehalten: wie Sie aus meinem beiliegenden Briefe, den ich, nach Erhaltung des Münchenschen Kodex, auf Mad. Sanders Verlangen an Ihren Gemal nach Pyrmont schrieb ersehen werden. Und da ich nun endlich mit meinem Werke zu einem erwünschten Grad der Selbstgenugthuung gediehen, und es für würdig achtete das Licht zu erbliken, muß ich zu meinem Leidwesen erfahren, daß bei dem Ihnen gewis auch nicht unbekanten höchst verschlimmerten Zustand jenes Mannes, mein Schreiben gänzlich ohne Zwek gewesen, und abermals ein unabsehlicher Aufschub und Hindernis entstanden. Dies ist die wahre Lage der Umstände, unter welchen ich mich nun nicht scheue, Ihnen, mit nicht ungegründeten Vertrauen eben dies mein Werk anzubieten. Es grün-
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Nibelungen-Forschungen
det sich dieses nicht nur in Ihrer nähern Bekantschaft mit allen diesen Verhältnissen, und in unserem längeren Verkehr — wenn derselbe auch durch einige widrige Umstände zulezt etwas getrübt sein sollte; als besonders in Ihrer eigenen kundigen Einsicht und mir bekanten Werthschäzung der Sache, des großen und treflichen alten Werkes selbst; so wie auch in Ihrer Billigung dieser Art der Behandlung — der treuen und genauen Übertragung oder vielmehr nur E r n e u u n g — die ich damit vorhabe. Um mich nicht zu wiederholen, so lege ich Ihnen jenen Brief, der ohne persönliche Beziehungen, den ganzen Plan und Umriß meines Werkes volständig darlegt, zur gütigen Einsicht bei: und erkläre, daß, wenn sie Ihnen genehm, ich auch die darin enthaltenen Bedingungen mit Ihnen eingehen will: und ich füge denselben nur noch hinzu, daß ich billigerweise auch noch für meine Hälfte der Drukkosten Ihnen die gebührenden Zinsen bezahlen will. — Auch Ihrer Billigkeit überlaße ich es, mir den Anteil des etwanigen Gewinnes zu bestimmen; — ich wünsche nicht mehr, als nur meine Kosten, die ich für Korespondenz, Porto und Kopiren aufgewendet nothdürftig ersezt: — und mache Ihnen daher eventualiter auch den Vorschlag mir ein geringes Quantum, etwa 45 Tlr (der Bogen \ x ji Tlr) überhaupt auszusezen, wofür Ihnen dann das Ganze überlaßen bliebe: wobei ich noch bemerke, daß ich keinesweges baar Geld, sondern nur den Werth deßelben nach und nach an Büchern verlange, welches ich auch im Fall des gemeinschaftlichen Unternehmens erkläre. Wäre Ihnen also einer von diesen, gewis nicht eigennüzigen Vorschlägen genehm, — oder hätten Sie mir etwa noch einen andern annehmlichen zu machen: so könte der Druk sogleich mit Anfang des folgenden Monats vor sich gehn, denn ich bin jezt mit der Kopie des trefl: Münchensch: Kodex ganz, und mit der Herstellung eines wahren und korrekten Textes beinahe zu Stande (auch äußerlich, in der Form gewint durch den Münch. Kod. das Gedicht eine ganz andere Gestalt, und erhält die richtige, — auch bei aufmerksamer Lesung in dem Müllerschen Druk wohl zu erkennende Abteilung i n S t r o f e n — je 2 Reimpaare zu einer verbunden —) und jezt schike ich mich an die histor. Einleitung zu der schon alles bereit liegt, nur zu komponiren und auszuarbeiten. Wünschen Sie etwa den gewis sehenswerthen Kodex, den ich mir noch etliche Tage behalte, zu sehen, so steht er Ihnen gern zu Dienst. Fände mein Wunsch und Antrag bei Ihnen Gehör, so hätte ich Ihnen auch wohl noch einen gewis annehmlichen Vorschlag zur endlichen F o r t s e z u n g der M ü l l e r s c h e n S a m l u n g zu machen: oder vielmehr zur Anhebung einer ganz neuen Saml:, die sich nur im Äußern wie im Inhalt an jene anschlöße; Koch bezeigt keine Lust zur Fortsezung und hat erklärt, daß er nur mit Ehren den 3' Bd. endlich auszugeben gedenkt; — auch läst sich mit ihm nicht entriren; er will gar zu gern gewinnen. — Doch vielleicht bald mehr hie von.
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Schließlich bitte ich noch, mir doch den 3' Bd. von S c h l e i e r m a c h e r s Pia ton- und Fichtes seligmachende Vorlesungen zukommen zu laßen. Um eine recht baldige und geneigte Antwort bittet Ihr ergebenster vdHagen.
2.3
Der Nibelungen Lied in der Ursprache (1810)
2.31 Entstehungsgeschichte Bereits in seinem programmatischen Brief an HEYNE vom 28.11.1805 hatte HAGEN als langfristiges Ziel seiner Nibelungen-Studien die Erstellung einer kritischen Edition des Werks auf der Basis aller erreichbaren Handschriften genannt: „[...] eine kritische Rezension des Textes kan nur aus ihrer Vergleichung hervorgehen, — besonders da der Druk [MYLLERS] aus der einen so nachläßig u. fehlerhaft ist; u. ich habe auch Hofnung, mich einst in den Stand gesezt zu sehen, eine solche kritische Ausgabe des Originals, nebst Kommentar usw. nach dem Vorbilde der alten Klaßiker an das Licht zu stellen: dieses dient aber mehr nur der Genugtuung der Gelehrten, u. ist eine Arbeit, die ihrer Natur nach langsam reift u. weitgreifende Untersuchungen erfodert."1 Angesichts der in seinem Freundeskreis wie in den Rezensionen der Nibelungen-„Erneuung"2 immer wieder erhobenen Forderung nach dem baldigen Erscheinen einer kritischen Ausgabe begab sich HAGEN jedoch schon weit früher als ursprünglich vorgesehen an die Verwirklichung dieses Vorhabens. Der erste Hinweis auf das Projekt datiert vom 6.1.1808 („Vielleicht kommt es bald an eine neue Ausgabe, und dazu muß ich schlechterdings jene Kodd. [Hohenems und St. Gallen] gebrauchen, auf daß sie wirklich eine neue werde." 3 ). Am Ende des Jahres zeichneten sich die Umrisse der geplanten Edition bereits deutlicher ab: „Zunächst denke ich aber eine kritische Rezension des Textes der Nibel., wozu ich noch [eine] Kopie der St. Galler Hds. erwarte, jedoch ohne Commentar und Varianten, herauszugeben, für Vorlesungen, die ich hier, sobald die Universität eingerichtet sein wird, darüber zu halten gedenke."4 1
DZIATZKO ( L 8 1 ) , S. 6 (HAGEN a n HEYNE, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 [B 2 2 2 ] ) ; v g l . HAGEN a n SCHEITLIN,
2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 ( B 4 5 4 ) ; HAGEN a n OBERLIN, 2 4 . 2 . 1 8 0 6 ( B 4 0 4 ) ; N L 1 8 0 7 ( W 1 ) , S. 4 7 5 , 4 7 8 2
Anm. 20. Vgl. Journal des Luxus (W 1.6), S. 79; Ztg. für die elegante Welt (W 1.4), Sp. 253; W. (L149) Bd. 1, S. 86.
3
HAGEN a n J . v. MÜLLER, 6 . 1 . 1 8 0 8 ( B 3 5 8 ) .
4
HAGEN a n ESCHENBURG, 2 0 . 1 1 . 1 8 0 8 ( B 1 6 5 ) .
GRIMM
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Nibelungen-Forschungen
Zur Vorbereitung der Neuausgabe intensivierte HAGEN zunächst seine schon vor 1807 aufgenommenen Bemühungen um eine Erweiterung der handschriftlichen Basis.5 Da seine Erkundigungen nach dem Verbleib der Hohenemser Handschrift A, die MYLLER 1 7 8 2 im Anfangsteil seiner Nibelungen-Edition abgedruckt hatte, zu keinem Ergebnis führten, richtete sich sein Interesse zunehmend auf den St. Galler Kodex B. Die von TIECK im Jahre 1 8 0 6 während seines Aufenthalts in der Schweiz genommene Kollation der Handschrift erschien HAGEN unzureichend: „Denn mir, dem kritischen Herausgeber, ist kein Buchstabe unwichtig, und es liegt mir alles daran eine diplomatisch genaue Abschrift zu haben. Eine blos flüchtige Vergleichung könnte ich hier schon haben, aber die genügt mir nicht." 6 Er bedrängte über Jahre hinweg seinen in St. Gallen ansässigen Freund SCHEITLIN, ihm eine sorgfaltige Kopie der Handschrift zu vermitteln, und erreichte es schließlich auch, daß dieser sich um einen verläßlichen Abschreiber (Johann Ulrich ROTHMUND) bemühte: Im Frühjahr 1 8 1 0 7 lagen HAGEN die ersten 1 1 3 4 Verse des Kodex in einer qualitätvollen Kopie vor; der zweite Teil der Abschrift erreichte ihn zu Beginn des folgenden Jahres 8 — zu spät, um noch bei der Textgestaltung berücksichtigt werden zu können. Der Druck der Ausgabe, die rechtzeitig zu HAGENS Bewerbung um eine Professur an der Berliner Universität erscheinen sollte, war Anfang 1810 so weit fortgeschritten, daß bereits die erste Sendung ROTHMUNDS nur mehr im Variantenverzeichnis ausgewertet werden konnte.
2.32 Herstellung des Textes „in seiner alten Herrlichkeit und Reinheit" Der Text der im Juni 18109 vom Berliner Verleger Julius Eduard HITZIG in den Handel gegebenen Edition gründet auf derselben handschriftlichen Basis wie die Nibelungen-„Erneuung" von 1807. Wiederum standen dem Herausgeber nur der Münchner Kodex D und die (Teil-)Abdrucke BODMERS ( C ) , LAZIUS' (C) und MYLLERS (A, C ) zur Verfügung. Obgleich ihm bereits bei den Arbeiten zur Ausgabe von 1807 Zweifel an der Verläßlichkeit der MYLLERSchen Edition gekommen waren, 10 konnte sich HAGEN nicht entschließen, seiner Neuausgabe den zwar jüngeren, jedoch in sich stimmigen Text der Münchner Handschrift zugrunde zu legen; er entschied 5 6
7 8 9 10
S. o. Kap. 2.21. an SCHEITLIN, 2 0 . 1 1 . 1 8 0 8 (B454). Vgl. HAGEN an SCHEITLIN, O . O . U . D . [vor dem 1 0 . 1 1 . 1 8 1 0 ] (B459). Vgl. ROTHMUND an SCHEITLIN, 2 0 . 2 . 1 8 1 1 (SBPK Berlin, Ms. germ. fol. Vgl. HAGEN an J. G R I M M , 30.6.1810 (B195). S.o. Kap.2.21; vgl. NL1810, S.X/XI. HAGEN
1022).
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sich wiederum für die bei M Y L L E R publizierte (aus Α und C zusammengefügte) Fassung des Gedichts,11 da diese nach seiner Ansicht „die stärkste Vermuthung der Ursprünglichkeit für sich" 12 beanspruchen konnte. Die Nibelungen-Ausgabe von 1810 bietet indes keinen (lediglich durchgesehenen und korrigierten) Wiederabdruck des MYLLERSchen Textes; HAGENS Ziel war es vielmehr, eine „wirklich und durchaus kritische" Edition zu erstellen, „wie wir sie von den Werken des Griechischen und Römischen Alterthums haben" 13 . Hierzu wurden folgende — in der Vorrede ausgewiesene — Schritte unternommen: 1. Einführung einer durchgehenden festen Schreibung der einzelen Wörter, oder der Rechtschreibung im eigentlichen Sinne. 14 2. In unzertrennlicher Verbindung damit, Aufstellung einer, in den Gränzen dieses Werkes, vollständigen Sprachlehre, in aller jener Mannichfaltigkeit der Töne und Formen. 3. Zusammenziehung oder Trennung der einzelen Wörter. 4. Einführung der Unterscheidungszeichen, zur Andeutung der Wortfügung und des Sinnes überhaupt. 5. Richtige Darstellung des Versmaßes, und darnach Abtheilung der Strophen und Verse. 6. Vergleichung, wo möglich, aller noch übrigen Handschriften. 15
Bei „widersprechenden Lesarten und sämmtlichen größeren und kleineren Abweichungen aller Art" 1 6 sollte darüber hinaus von Fall zu Fall nach angemessenen Lösungen gesucht werden (ohne die jeweilige Entscheidung durch das Leithandschriftenprinzip präjudizieren zu lassen). In Zweifelsfallen, in denen keine der zugänglichen Fassungen zu überzeugen vermochte, behielt sich der Herausgeber schließlich das Recht vor, nach seiner durch wiederholte Gesamtlektüre des Textes gewonnenen Einsicht in Sprache, Stil und Struktur des Gedichts Konjekturen vorzunehmen.17 H A G E N sah sein Verhältnis zum Nibelungenlied wie das der „Alexandrin[ischen] Kritiker zum H o m e r " 1 8 und erblickte seine Aufgabe darin, den "
Vgl. N L 1 8 1 0 , S . X I .
12
Ebd., S. X I I I .
13
Ebd., S. V I I .
14
Unter weitgehender Wahrung der „offenbar alterthümlichen Freiheit und Mannichfaltigkeit von Tönen und Formen in demselben Worte" (ebd., S. V I I I ) erscheinen die Diphthonge ou, ü[e], uo als 0, », ü, die Umlaute ö und tu als 6 und »; e an entsprechender Stelle als a; k wird in allen Positionen als (alemannischer Guttural) ck wiedergegeben; Affrikata c erscheint als
ZK. wird nach Länge vereinfacht, t nach kurzem Vokal
verdoppelt. Umlaut wird wiederholt zurückgenommen, um den oberdeutschen Charakter des Textes zu unterstreichen. 15
NL1810, S.VIII/IX.
16
Ebd., S. X I V .
17
Vgl. ebd.
18
HAGEN an HEYNE, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 ( B 2 2 2 ) .
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Nibelungen-Forschungen
im Laufe der Überlieferungsgeschichte vielfach veränderten und verderbten Text „in seiner alten Herrlichkeit und Reinheit herzustellen"19. Hieraus erklärt sich auch sein Bemühen, „ergänzende und vervolständigende, ja oft wirklich zum Verständnis notwendige" 20 Strophen der Münchner Handschrift zur Komplettierung des Gedichts an entsprechender Stelle einzufügen. 21 Das Ergebnis dieses — sowohl den Wortlaut als auch den Umfang der MYLLERschen Textfassung modifizierenden — Vorgehens ist eine eigenwillige Redaktion des Textes, die eher den Bearbeitungsprinzipien (spät)mittelalterlicher Schreiber und Redaktoren entspricht als den Gepflogenheiten neuzeitlicher Philologie. Die Ausgabe von 1810 bietet im Grunde nichts anderes als die mittelhochdeutsche Version des 1807 vorgelegten Gedichts; sie ist das Ergebnis der seinerzeit „stillschweigend" vorgenommenen ,,kritische[n] Rezension der Urschrift"22. HAGENS Leistung erschöpft sich darin, dem Leser eine sprachlich-stilistisch korrektere, metrisch-rhythmisch ausgewogenere und in ihrem Versbestand erheblich erweiterte Ausgabe des Nibelungenlieds an die Hand gegeben zu haben, als dies MYLLER in seiner Edition von 1782 vermocht hatte. Die nachfolgende Gegenüberstellung der ersten sechs Strophen des Nibelungenlieds in den Ausgaben von 1810 und 1782 mag die unterschiedliche Praxis der Textgestaltung illustrieren. Im Variantenverzeichnis der Edition von 1810 sind die bei HAGEN ausgelassenen Lesarten nachgetragen und durch Sperrdruck hervorgehoben.23 Die Handschriften werden mit den seit LACHMANN gebräuchlichen Siglen bezeichnet: Α (HAGEN: B) = Hohenems II (München, Bayer. Staatsbibliothek Cgm. 34) Β (HAGEN: G) = St. Gallen (St. Gallen, Stiftsbibliothek Ms. 857) C (HAGEN: E ) = Hohenems I (Donaueschingen, F. F. Hofbibliothek Ms. 63) D (HAGEN: M) = München (München, Bayer. Staatsbibliothek Cgm. 31). Uns von von von
ist in alten mseren Wunders vil geseit, [HAGEN 1810] helden lobebseren, von grozer arebeit, fröden und hochgeziten, von weinen und von chlagen, chüner rechen striten muget ir nu wunder hören sagen.
19
HAGEN a n SCHEITLIN, 2 8 . 1 0 . 1 8 0 9 ( B 4 5 8 ) .
20
an J. v. MÜLLER o . O . u . D . [1806] (B347) (StB Schaffhausen: J . v. M. Fase. 235/ 107). Wie bei der „Erneuung" (1807) werden die aus D übernommenen Zusatzstrophen im Druckbild nicht kenntlich gemacht. NL 1807, S. 489. HAGENS (auf Punkte beschränkte) Zeichensetzung wird differenziert.
21
22 23
HAGEN
Der Nibelungen Lied in der Ursprache (1810) Uns Von Von Von
ist in alten mären Wunders vil geseit. [ M y l l e r 1782] helden lobebeern [!] von grozzer chuonheit. fröden hochgeziten von weinen und von klagen. chuoner rechen strite moget ir nu wunder hören sagen.
5 Ez wühs in Burigunden ein edel magedin, daz in allen landen niht schonerz mohte sin, Chriemhilt was si geheizen, du wart ein schöne wip; darumbe müsen degene vil Verliesen den lip. Gz wuochs in burgonden ein schöne magedin. Oaz in allen landen niht chöners [I] mohte sin. Chriemhilt was si geheizzen unde was ein schöne wip. Darumbe muosen degene vil Verliesen den lip. 10 Der minnechlichen meide träten wol gezam, ir müten chune rechen, niemen was ir gram; ane mazen schöne so was ir edel lip, der iunchfröwen tugende die zierten anderu wip. Der minnechlichen meide truoten wol gezam. In muote kuoner recken niemen was ir gram. Ane mazen schöne so was ir edel lip. Der iunchfruowen [!] tugende eierten anderiu wip. Ir pflagen drie chunige edel unde rieh, Gunther unde Gernot, die rechen lobelich, 15 unde Giselher der iunge, ein uzerwelter degen; du fröwe was ir swester, die forsten hettens in ir pflegen. Ir phlagen dri kunige edel unde rieh. Gunthere unde gemot die recken lobelich. Unde giselher der iunge ein uozerwelter degen. Diu frouwe was ir swester die fursten hetens in ir pflegen. Die herren waren milde, von arte höh geborn, mit chraft unmazen chüne, die rechen üzerchorn; da zu den Burigunden so was ir lant genant: 20 si frümden starchü wunder sint in Etzelines lant. Die herren warn milte von arte höh geborn. Mit krefte un mazzen küne die recken uoz erkorn. Daz en [I] burgonden so was ir lant genant. Si frumden starkiu wunder sit in ezelen lant. Ze Wormez bi dem Rine si wonden mit ir chraft, in diende von ir landen vil stolzü ritterschaft, mit lobelichen eren unz an ir endes zit: sit stürben si iamerliche von zweier edelen fr&wen nit. Ze wormz bi dem rine si wonden mit ir kraft. In diende von ir landen vil stolziu riterschaft. Mit stolzlichen eren unz an ir endes zit. Sit stürben si iamerliche von zweier edelen frouwen nit.
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Nibelungen-Forschungen
Varianten (Nibelungenlied 1810): V. 1—4, die erste Strophe, fehlt in B. V.l. wunder D. V.2. heleden C; grozzer chuonheit A, gr. arbeit D. V. 3. freude C; und fehlt in A; vor chlagen fehlt von in C. V. 4. strite — moget A, st. m u g t D; nu fehlt in A24; h ö r n D. V. 5 burgonden AB (so fast immer); ein schöne A, vil edel Β. V. 6. s c h ö n e r s A, *schoners BD25. V. 7. was fehlt in B; unde (si B) was ein A; schönes D. V. 8. Dar vmme mvsten degen D (so fast immer in diesen 3 Wörtern). V. 9—12, 1 Str., fehlt in Β. V. 10. In muote kuoner A, mvtten D; nieman D (fast immer). V. 11. ir schöner D26. V. 12. schone die D; die fehlt in A; a n d r e v D. V.13. dri A, drei D; vnd D. V. 14. G u n t h e r e Α. V. 15. unde fehlt in D. V. 16. heten si D. Die folgenden 3 Str. stehen in D3, 1, 2. V. 17. warn D; milte AB; arde hohe erborn Β. V. 18. krefte Α. V. 19. Da zen AB. V. 20. sit in Etzelen AB (immer). V. 21. w o r m z A, Wurmtz D (oft). V. 23. Mit stolzlichen A; ern D. V. 24. si erstürben sit Β; Si st. i. sint v. z. vr. n. D.
Der Herausgeber ist zunächst bestrebt, vornehmlich in Anlehnung an D offenkundige Fehler der MYLLERschen Nibelungen-Edition von 1782 zu korrigieren.27 So entscheidet er sich in Vers 4 für die vom Reim (3 hochgesyten) geforderte Pluralform striten (statt strite) und wählt in 7 die von Sinn her gebotene Formulierung du wart ein schöne wip anstelle von und was ein schöne wip. Stilistische Erwägungen lassen ihn sodann 2 chuonheit durch arebeit, 5 schöne durch edel und 23 stol^lichen durch lobelichen ersetzen, um eine Wortwiederholung auf engem Raum zu vermeiden. 28 Aufgrund metrischer Erwägungen — Hagens Kenntnisse sind hier freilich nicht weiter entwickelt als 1807 —29 erscheinen schließlich 5 Burigunden (statt burgonden), 13 drie (statt dri), 20 Et^elines (statt e^elen) und 21 Worme^ (statt wormz), wird 12 das Pronomen die ergänzt und tritt in 19 Da den Burigunden an die Stelle v o n Da %en Burgonden.
Die HAGENsche Ausgabe von 1810 mochte dem vorwiegend an inhaltlichen und motivgeschichtlichen Aspekten interessierten Leser des Nibelungenlieds genügen; weitergehenden Anforderungen wurde sie nicht gerecht. Hierzu trug neben der problematischen Vermischung der Handschriften bei der Texteinrichtung vor allem die unbefriedigende Gestaltung des Lesartenapparats bei: Hagen brachte der Variantensammlung nur
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Hagen weist die Lesart irrtümlich der Münchner Handschrift D zu. Durch vorangestellte Sternchen sind die Lesarten der St. Galler Handschrift gekennzeichnet, die Hagen (bei rechtzeitigem Eintreffen der Kopie) in der Edition bevorzugt hätte. In Hagens Apparat ist die Sigle ausgelassen. Selbstverständlich werden die Druckfehler der M Y L L E R s c h e n Edition stillschweigend verbessert. Unnötig erscheint dagegen der Austausch von 10 In muote kuoner rechen gegen die in D überlieferte Lesart ir m&ten chime rechen. Vgl. chänheit (2) — chüner (4); schöne (5) — schoners (6), schöne (7); stattlichen (23) — stol^ü (22). Vgl. NL1807, S. 524-526.
Der Nibelungen Lied in der Ursprache (1810)
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geringes Interesse entgegen und wollte zunächst ganz auf sie verzichten.30 Erst „auf Verlangen mehrer achtbaren Stimmen"31 — wie er in der Vorrede freimütig eingesteht — entschloß er sich, der Edition eine Vergleichung der Handschriften des Nibelungenlieds32 anzufügen; die Lesarten der 1810 ebenfalls abgedruckten Klage wurden nicht publiziert. Der Apparat erhebt dabei den Anspruch, „bis auf unbedeutende Kleinigkeiten, fast vollständig" zu sein, „in Ansehung des Mehr und Minder, der Töne und Formen und der Stellung"33. Das selbstgesteckte Ziel einerlnöglichst umfassenden Variantensammlung erreichte HAGEN freilich nur in Ansätzen. Die Durchsicht seines Lesartenverzeichnisses zu den ersten sechs Strophen läßt mehrfach zumindest fragwürdige Bearbeitungsgrundsätze erkennen. So vermerkt HAGEN peinlich genau lautliche Unterschiede wie 4 muget] moget Α oder 17 arte] arde B, verzichtet jedoch ohne ersichtlichen Grund in einer Anzahl ähnlich gelagerter Fälle — wie 6 schönerj] schöners Α oder 17 milde] milte AB — auf eine Anzeige. Keinerlei Berücksichtigung finden (vornehmlich von D überlieferte) graphisch und metrisch abweichende Formen wie 2 arebeit] arbeit D, 4 muget\ mugt D, hören] hörn D, 12 anderii] andrev D, 13 unde] vnd D, 14 Gunther] Gunthere A, 17 waren] warn D oder 23 eren] erη D.34 Gravierender als diese Auslassungen erscheinen die wiederholt zu beobachtenden Ungenauigkeiten beim Verzeichnen gewichtiger Abweichungen im Wortlaut: So vermerkt HAGEN weder das in Α vor hochge^iten (3) ausgefallene und noch das im selben Vers in C vor klagen fehlende von·, in 5 führt er die Lesart der St. Galler Handschrift Β nur unvollständig an {edel statt vil edel) und verzichtet schließlich in 21 darauf, neben der Lesart wurmt% (D) auch die (für die Textherstellung wichtigere) Variante worm% (A) anzumerken. HAGENS Lesartenapparat vermag mit seinen augenfälligen Unzulänglichkeiten dem Benutzer nicht mehr als eine erste Orientierungshilfe bei der Suche nach den handschriftlichen Grundlagen der Ausgabe zu bieten. Eine verläßliche Rekonstruktion des Wortlauts der einzelnen Überlieferungsträger und damit eine Überprüfung der textkritischen Entscheidungen des Herausgebers ist kaum möglich. HAGEN selbst war sich der Vorläufigkeit seiner — unter Zeitdruck entstandenen — Nibelungen-Edition durchaus
30
V g l . HAGEN a n ESCHENBURG, 2 0 . 1 1 . 1 8 0 8 ( B 1 6 5 ) .
31
NL1810,
32
Vgl. NL 1810, Anhang, S . I I I - L X X X . NL 1 8 1 0 , S . X V . Ob HAGEN in dem (S. X V ) angekündigten (aber nicht realisierten) Supplementband zum Variantenverzeichnis hierfür eine plausible Erklärung geboten hätte, muß dahingestellt bleiben.
33 34
S.XV.
76
Nibelungen-Forschungen
bewußt und kündigte bereits in der Vorrede eine revidierte und erweiterte Fassung des Variantenverzeichnisses an: Sobald ich nämlich die von Scheitli[n]'s Versprechen gewiß nächstens zu erwartende vollständige Abschrift des St. Galler Kodex erhalte, werde ich die noch übrigen Lesarten desselben, mit denen der Klage aus allen Handschriften, und vielleicht auch die Ausbeute, welche die endlich ebenfalls zu hoffende Vergleichung des Hohen Emser Kodex gewährt, zusammen herausgeben, und diesen Bogen, als Einleitung zu der ganzen Lesartensammlung, jene, ihrem Gegenstande gemäß, freilich sehr in's Einzele und Kleine gehende orthographische Darstellung vorsetzen. Beifügen werde ich eine noch ausfuhrlichere, mit Beweisen versehene Geschichte des gedruckten Textes und vollständige literarische Notiz von dem sämmtlichen Handschriften. 35
Dieser Supplementband ist jedoch — wie die meisten von HAGEN angekündigten Ergänzungs- und Erweiterungsbände — nie erschienen.
2.33
Rezeption und Kritik
Die Textausgabe des Nibelungenlieds konnte zwar nicht entfernt das öffentliche Aufsehen erregen wie die „Erneuung" von 1807, doch läßt sich keineswegs von einer „fast kommentarlose[n] Aufnahme der Edition" 36 sprechen. Unerwartet freundlich waren die ersten Stellungnahmen Jacob GRIMMS, der am 7 . 1 0 . 1 8 1 0 in seinem Schreiben an BENECKE hervorhob: „Seine [HAGENS] critische Ausgabe der Nibelungen verdient meiner Meinung nach alles Lob und liefert einen guten Text"37, und in seinem Brief an HAGEN vom 7 . 2 . 1 8 1 1 betonte: „Ihre Ausg[abe] der Nibjelungen] ist des Lobs aller, die es verstehen, gewiß." 38 Positiv äußerte sich ebenfalls Friedrich SCHLEGEL, der seinen Bruder auf den korrekten Abdruck des
Textes hinwies und nur beanstandete, daß der „äußerlich sehr gut eingerichtetfen]" Ausgabe „keine e r s c h ö p f e n d e Vergleichung a l l e r Handschriften"39 zugrunde liege. Auf Ablehnung stieß das Werk zunächst allein bei Bernhard Joseph DOCEN; er ließ am 3 0 . 1 . 1 8 1 2 August Wilhelm SCHLEGEL
wissen:
Zehnmal besser hätte Hagen nach meiner Ueberzeugung gethan, den Münchner oder St. Gallener Codex (mit den nöthigen Einschaltungen aus andern HSS.) zu ediren; was soll izt dem L e s e r der endlose vom Text gesonderte Varianten-Haufe? So ist das Buch für
35
NL1810, S. XV; vgl. auch Aufklärung (W 85), S. 12.
36
EHRISMANN ( L 8 3 ) , S . 7 3 .
37
W . MÜLLER ( L 3 2 1 ) , S . 1 7 ( J . GRIMM
an
BENECKE, 7 . 1 0 . 1 8 1 0 ) ;
vgl. auch
REIFFERSCHEID
( L 3 7 2 ) , S . 1 0 ( J . GRIMM a n TVDEMAN, 2 9 . 8 . 1 8 1 1 ) . 38
39
HINRICHS (L180), S . 4 6 6 ( J . GRIMM an HAGEN, 7.2.1811 [B204]); vgl. auch die positive Reaktion W. GRIMMS (SCHMIDT [L404], S.30 [W. GRIMM an NYERUP, 20.9.1810]). KÖRNER (L229) Bd.2, S . 178 (F. an A. W. SCHLEGEL, 10.11.1810).
Der Nibelungen Lied in der Ursprache (1810)
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den freien Gebrauch gar nicht instructiv, wem könnte es einfallen, ohne ganz partielle Zwecke all die Varianten in den Text hineinzulesen?40
Die ersten öffentlichen Stellungnahmen in den Rezensionsorganen gaben sich weit weniger kritisch. Die am 12.1.1811 in der Halleschen Allgemeinen Literatur-Zeitung publizierte Besprechung erschöpfte sich in einer allgemeinen Laudatio auf die „verdienstvollen Bemühungen"41 des Herausgebers um eine angemessene Publikation des Nibelungenlieds, und auch BOUTERWEK, der mit HAGENS „Erneuung" von 1807 so hart ins Gericht gegangen war,42 fand diesmal in den Göttingischen Anzeigen kein Wort der Kritik; er betonte vielmehr die Vorzüge der „mit critischem Fleiße"43 erarbeiteten Neuausgabe (gegenüber der Edition MYLLERS) und würdigte HAGEN als „Wiederhersteller" des Nibelungenlieds, das durch ihn endlich „von dem Scheine der Mängel und Fehler befreyet" sei, „den die Lücken und ungeprüften Lesarten der Müllerischen Ausgabe übrig ließen".44 Erst nach drei Jahren wurde den — offensichtlich auf sehr flüchtiger Textlektüre gründenden — positiven Stellungnahmen ein Korrektiv entgegengestellt. Im März 1814 veröffentlichte DOCEN in der Jenaiseben Allgemeinen Literatur-Zeitung die erste (und einzige) ins Detail gehende kritische Würdigung der Nibelungen-Edition. Er räumte zwar der Ausgabe HAGENS grundsätzlich „eine bedeutende Stelle in unserer alten Dichter-Literatur"45 ein und respektierte die aufgewandte „große Mühe und Sorgfalt"46, fand jedoch bei der Analyse von Konzeption und Ausführung des Werks weitaus mehr Tadeins- als Lobenswertes. Wie schon in seinem Schreiben an August Wilhelm SCHLEGEL vom 30.1.1812 beklagte er es, daß HAGEN sich nicht hatte entschließen können, anstelle der Überarbeitung des MYLLERschen Textes einen wörtlichen „Abdruck des münchener Codex, mit allen nöthigen, durch Bodmer's und Myller's Copieen dargebotenen Ergänzungen und Berichtigungen einzelner Versehen"47 vorzulegen. Scharf ging er sodann mit den Editionsprinzipien ins Gericht; er monierte die Eingriffe in Orthographie und Metrik48 und wies entschieden das von HAGEN gewählte Verfahren der Textherstellung durch Handschriftenvermischung zurück, das der Ausgabe jeden Anspruch auf Objektivität nehme: „Kurz, dem Princip Hn. v. d. H's. gemäß mußten wir einen bunten, zusammenge(L229) Bd.2, S.244f. Rez. NL1810 (W6.1), Sp. 100. 42 S. o. Kap. 2.23. « Rez. NL 1810 (W6.2), S. 589. 44 Ebd., S. 588. 45 Rez. NL 1810 (W6.3), Sp.401. « Ebd., Sp. 413. 47 Ebd., Sp. 404. 48 Vgl. ebd., Sp. 4 1 0 - 4 1 3 . 40
4'
KÖRNER
(DOCEN
an A.W.
SCHLEGEL,
30.1.1812).
78
Nibelungen-Forschungen
stückten Text erhalten, der freylich der seine, nicht aber der Text des Alterthums ist." 49 Die Rezension gipfelt folgerichtig in der Forderung nach separatem Abdruck der wichtigsten Handschriften, da nur auf diese Weise den einzelnen Redaktionen des Nibelungenlieds zu ihrem Recht verholfen werden könne.50 Eine genauere Prüfung der Edition ließ schließlich auch Jacob G R I M M von seiner zunächst positiven Wertung des HAGENschen Werks abrücken; in seinem Schreiben an Wilhelm wollte er am 23.11.1814 von seiner früheren Position nichts mehr wissen: „Hagens Ausgabe als völliger Mischmasch ist unbrauchbar, zudem er vom Gallener Kodex nur wenige Varianten hatte."51 Wie D O C E N verurteilte nun auch er das „Zuschmelzen der Varianten" und empfahl, statt die Handschriften zu vermischen, die wichtigsten Textzeugen „besonders und rein für sich abdrucken zu lassen"52. Öffentlich nahm er 1815 in den Altdeutschen Wäldern zu der inzwischen fünf Jahre alten (und bereits vergriffenen) Edition des Nibelungenlieds Stellung: Die neuste durch von der Hagen 1810. besorgte Ausg. (denn von seiner einige Jahre früher herausgegebenen Modernisirung kann hier keine Rede seyn,) obgleich eine unvergleichbar mühsamere, gelehrtere Arbeit [als die MYLLERS], deren Werth ich anfangs bei mir selbst viel höher anschlug, mengt allerlei Lesarten nach bekanntgewesenen großen und kleinen Stücken verschiedener Texte untereinander und schwärzt eigne critische Verbesserungen ein. Dieser Herausgeber hatte nämlich außer der Münchener (zwar wichtigen, doch unter den übrigen geringsten) Hs. nichts mit eigenen Augen gesehen, aus der St. Gallener blos für nicht viel mehr als ein Neuntel des Ganzen sich die Abweichung der Lesarten zu verschaffen gewußt, und stand über das wahre Verhältniß der Handschriften in einer zu entschuldigenden, aber seinem Beginnen durchaus nachtheiligen Ungewißheit, dessen sonstigem subjectiven, aller Anerkennung werthen Verdienst damit nichts benommen wird. 53
Wie seinerzeit bei der Eunomia-Probe54 erschien jedoch auch diesmal die Kritik Jacob G R I M M S zu spät. Anfang 1815 hatte H A G E N schon weitgehend die Arbeiten an seiner nächsten Ausgabe des Nibelungenlieds abgeschlossen, die — nunmehr auf der Grundlage der St. Galler Handschrift — noch im selben Jahr auf den Markt kommen sollte.
49 50 51
52 53 54
Ebd., Sp. 406. Vgl. ebd., Sp. 413. SCHOOF (L409), S. 381 (J. an W. GRIMM, 23.11.1814). Ebd. J. GRIMM: Ueber die Nibelungen (L140), S. 146 f. S. o. Kap. 2.12.
Der Nibelungen Lied, aus der St. Galler Handschrift (1816)
2.4
79
Der Nibelungen Lied, %um erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Handschrift (1816)
2.41 Neue Nibelungen-Handschriften war zunächst tatsächlich bemüht gewesen, den durch Zeitdruck bedingten Mängeln seiner Edition von 1810 abzuhelfen, und plante, möglichst umgehend den angekündigten Supplementband erscheinen zu lassen. Noch 1811/12 kündigte er im Literarischen Grundriß das alsbaldige Erscheinen des Buches an: „Ein Nachtrag wird nächstens die übrigen Lesarten, besonders der St. Galler Hds. liefern."1 Im Stillen arbeitete er jedoch wohl schon zu diesem Zeitpunkt an einer Neuausgabe des Textes, die ihm — angesichts der inzwischen grundlegend veränderten Handschriftenlage — weitaus sinnvoller erschien als jede Nachbesserung und Ergänzung. Anfang 1810 (kurz vor Abschluß der Druckarbeiten an der damaligen Nibelungen-Ausgabe) war in Prag die (zweite) Hohenemser Handschrift (A) aufgetaucht und zum Verkauf angeboten worden. HAGEN, von BüSCHING hierauf hingewiesen, 2 hatte sich sofort — freilich ohne Erfolg — um den Ankauf bemüht;3 der Kodex gelangte schließlich in den Besitz der Münchner Bibliothek, wo DOCEN sogleich die Vorbereitungen zu einer neuen Nibelungen-Ausgabe traf.4 Der Münchner Bibliothekar hatte sofort erkannt, daß die aus Prag erworbene Handschrift nicht mit dem von BODMER in Chriemhilden Rache benutzten (und von MYLLER im zweiten Teil seiner Ausgabe erneut abgedruckten) Hohenemser Kodex übereinstimmte; er verzichtete jedoch darauf, seine Entdeckung umgehend zu veröffentlichen. So vermochte ihm HAGEN zuvorkommen: Er hatte seinerseits Anfang November 1810 durch den Berner Gelehrten Johann Jakob HORNER Aufklärung über die Existenz zweier verschiedener Hohenemser Nibelungen-Handschriften (A und C) erhalten, die beide in MYLLERS Ausgabe (A im ersten, C im zweiten Teil) benutzt worden waren.5 Er dachte nicht daran, diese Nachricht lange zurückzuhalten, und wollte sie (im Rahmen einer umfassenden Abhandlung über das Nibelungenlied) zunächst im Vaterländischen Museum6, sodann im Pantheon7 publizieren. Beide Zeitschriften stellten jedoch Ende 1810 ihr Erscheinen ein, und HAGEN
1 2
Grundriß (W 9), S.89. Vgl. NL1810, S.XI.
3
V g l . HAGEN a n W . G R I M M , 3 . 9 . 1 8 1 0
4
Vgl.
5 6 7
(B198).
(L409), S.207 (J. an W . G R I M M , 12. 9. 1810); SCHMIDT (L404), S.30 ( W . GRIMM an NYERUP, 20.9.1810). Vgl. HAGEN an T^ECK, 2 9 . 1 1 . 1 8 1 0 (B510). Vgl. HAGEN an HORNER, 1 0 . 1 2 . 1 8 1 0 (B242). Vgl. HAGEN an W. GRIMM, 2 5 . 1 2 . 1 8 1 0 (B202); Aufklärung (W85), S. 13 f. SCHOOF
80
Nibelungen-Forschungen
mußte zwei Jahre zuwarten, bevor er seine Aufklärung über den Müllerischen Text des Nibelungen Liedes8 in der Sammlung für Altdeutsche Literatur und Kunst (1812) an die Öffentlichkeit geben konnte. Angesichts der unhaltbaren Handschriftenverknüpfung in MYLLERS Abdruck von 1782, der der Nibelungen-Ausgabe von 1810 im wesentlichen als Textgrundlage gedient hatte, erschien es HAGEN wenig sinnvoll, an der (hierdurch ebenfalls entwerteten) Edition weiterzuarbeiten und den angekündigten Supplementband zusammenzustellen. Er nahm statt dessen neue Verhandlungen mit seinem Verleger Julius Eduard HITZIG auf und konnte ihn für die Übernahme einer „vorläufige [n] Handausgabe (bloß der Text der Nibelungen mit einem kurzen Glossar)"9 gewinnen, zu deren Textgestaltung erstmals die (seit Frühjahr 1811 komplett vorliegende) Kopie der St. Galler Handschrift herangezogen werden sollte; das Projekt zerschlug sich allerdings, als HITZIG 1815 seine Verlagsbuchhandlung an Ferdinand DÜMMLER abtrat. Noch im selben Jahr — die Ausgabe von 1810 war inzwischen vergriffen —10 erklärte sich jedoch Josef MAX in Breslau bereit, den Verlag von HAGENS zweiter Nibelungen-Edition zu übernehmen. HAGEN kannte zu diesem Zeitpunkt fünf verschiedene Fassungen des Nibelungenlieds: Er besaß vollständige Abschriften von Β und D; ein Großteil des Wortlauts von C war ihm aus den Veröffentlichungen BODMERS, MYLLERS und Jacob GRIMMS 1 1 bekannt, der Anfangsteil von Α aus dem Abdruck M Y L L E R S ; 1 2 dazu kamen die Zitate aus c bei LAZIUS. Obgleich ihm Α und C nur unvollständig vorlagen, versuchte HAGEN, das Verhältnis der vier wichtigsten Handschriften näher zu bestimmen,13 und gelangte zu dem „Hauptresultat", „daß die zweite Hohen-Emser [A], die Münchener [D] und die St. Galler [B] Handschriften zu einem gemeinsamen Stamme gehören, dem die erste Hohen-Emser [C] bedeutend entgegen steht"14. Damit sonderte HAGEN zugleich den einzigen Text der sog. „Iiet"-Gruppe15 HAGEN
Sammlung für Altdeutsche Literatur und Kunst (W11), S. 1 - 1 4 . ' Warnung?® WS) in: JALZ 1815, Intelligenzblatt, Nr. 35, Sp.279. 10 Vgl. ebd.; NL1816, S.XXV. 11 Die Handschrift C war 1813 in Wien wieder aufgetaucht und 1815 von Joseph von LASSBERG erworben worden (zur Rolle HAGENS vgl. GRUNEWALD [L157], S. 342 f.). Nach eigener Abschrift publizierte J. G R I M M 1815 in den Altdeutschen Wäldern die XVI. und Teile der XV. Aventiure (L 140). 12 Die Hoffnung, von DOCEN eine Kopie der zweiten Hohenemser Handschrift zu erhalten (vgl. HAGEN an W. G R I M M , 2 5 . 12. 1810 [B 202]), erfüllte sich nicht; HAGEN konnte den Kodex Α erst 1816 in München auswerten (vgl. Briefe [W20] Bd. 1, S. 108). 13 Vgl. NL 1816, S . V I - X . 14 Ebd., S. VI. 15 Vgl. ebd., S. X. 8
Der Nibelungen Lied, aus der St. Galler Handschrift (1816)
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von den Vertretern der „not"-Gruppe 16 ab. In C erkannte er eine eigenständige Redaktion, die das Nibelungenlied in einer „mehr ansprechenden, motivirten, milderen, breiteren und auf gewisse Weise mehr gebildeten Gestalt" 17 erscheinen ließ: Überall fanden sich hier Spuren der „aufnehmende^] und nachhelfende[n] Hand" 18 des Bearbeiters, die von „Abweichungen [...] im einzelen Ausdruck" bis zu „halben und ganzen Zeilen, Umstellung, Zusammenziehung oder Ausdehnung ganzer Versglieder, und durchaus sehr freier Behandlung"19 des Gedichts reichten. Unter textkritischen Gesichtspunkten mußte die eigenwillige Redaktion C, deren Qualitäten Hagen durchaus zu würdigen wußte,20 jedoch vor den Fassungen Α, Β und D zurückstehen, die „die ältere strenge Einfachheit, das Kühne, oft mehr nur Andeutende und Rhapsodische, oder vielmehr Romanzenartige des Deutschen Volks- und Heldenliedes"21 in weit größerem Umfang bewahrt hätten als C. Die Rangfolge der drei eng zusammenstehenden, jedoch voneinander unabhängigen Handschriften der „not"-Gruppe wurde von Hagen neu festgelegt: Er stufte die Münchner Handschrift (D), die er nach der ersten Durchsicht 1806 zu hoch angesetzt und 1807 — 1810 in überreichem Maße zur Textherstellung herangezogen hatte, in ihrer Bedeutung erheblich zurück, da sie „in Schrift und Sprache offenbar die jüngste" 22 Fassung biete, „viele Schreibfehler aus Mißverstand" aufweise und oftmals „überhaupt kein recht klares Verständniß" des Textes zeige: „Endlich ist auch ein späteres Streben sichtbar, dem Versmaaße nachzuhelfen, den vorherrschenden jambischen Fall mehr durchzuführen und die durchgehend schon durch Punkte abgetheilten Halbverse mehr zu füllen und in Gleichgewicht zu bringen." 23 Die bis dahin als sinnvolle, ja zum Teil unverzichtbare Ergänzungen betrachteten Zusatzstrophen von D wurden nunmehr als „meist überflüssig" und „wirklich nicht zum Verständniß nothwendig"24 abgewertet. Aufgrund der qualitativen Mängel und des späten Entstehungsdatums der Handschrift („aus dem Ende des dreizehnten oder Anfange des vierzehnten Jahrhunderts" 25 ) glaubte Hagen, der Fassung des Münchner Kodex fortan nur mehr eine untergeordnete Rolle zuweisen zu dürfen. 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
Vgl. ebd., S.VIII. Ebd., S. X. Ebd., S. VIII. Ebd., S. IX. Vgl. ebd., S . V I I I - X . Ebd., S. X. Ebd., S. VI. Ebd., S.VII. Ebd., S.XXV. Ebd., S. VI.
82
Nibelungen-Forschungen
Günstiger beurteilte er die zweite Hohenemser Handschrift (A): Diese stand für ihn „i n Sprache und Schreibart" 26 dem (favorisierten) St. Galler Kodex am nächsten und wurde von H A G E N wie Β in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert. Die Qualität des Textes erschien ihm freilich durch „Nachläßigkeit" 27 des Schreibers, die sich vor allem in einer Vielzahl von Auslassungen („besonders in Avent. 6. 7.',2S) niederschlug, zu sehr beeinträchtigt, um der Handschrift eine dominierende Position bei der Textherstellung einräumen zu können. In Anlehnung an BODMER, „der viele andere, und auch die beiden Hohen-Emser Handschriften gesehen" und „die St. Galler geradezu für die älteste aller" 29 erklärt hatte, gestand H A G E N der Fassung Β den ersten Rang unter den damals bekannten Versionen des Nibelungenlieds zu. Β bot ihm nicht nur „die älteste, und mit der Münchener, vollständigste" 30 Fassung des Textes, sondern stellte vor allem „die Schwäbische, d. i. damals zugleich Schweizerische Mundart, in welcher das Gedicht in dieser letzten Gestalt ist verfaßt und niedergeschrieben worden, am vollkommensten dar" 31 . Der paläographische Befund erlaube eine Datierung der Handschrift „auf den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts" 32 : „Daß sie nicht über das dreizehnte Jahrhundert aufsteigen kann, beweiset Wolframs von Eschenbach Parcival und Wilhelm von Oranse und Strickers Gedicht von Karl dem Großen, zwischen denen die Nibelungen geschrieben stehen. Doch bleibt sie dem Ursprünge immer sehr nahe, da das Gedicht selber in dieser Gestalt nicht viel älter sein kann." 33 2.42
Das Nibelungenlied in seiner „ältesten Gestalt"
H A G E N S Charakteristik der Handschriften läßt bereits Rückschlüsse auf die Einrichtung der Ausgabe von 1816 zu. Textgrundlage war nunmehr der St. Galler Kodex, aus dem „das Nibelungen-Lied zum erstenmal in seiner, so viel jetzo bekannt, ältesten Gestalt hervorgeht" 34 . Ziel war es, 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Ebd., S. XXIV. Ebd., S. XXIII. Ebd. Ebd., S. XXV. Ebd., S. VIII. Ebd., S. VII. Ebd. Ebd., S. VIII. Ebd., S. XXXI. Von daher erklärt sich auch der Titel der Ausgabe Der Nibelungen Lied lum erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Handschrift (Hervorhebung von mir), durch den sich später LASSBERG irritiert und verärgert fühlte (vgl. STUDER [L457], S. 1 7 4 ) .
Der Nibelungen Lied, aus der St. Galler Handschrift (1816)
83
den Text der Fassung Β möglichst unverändert wiederzugeben. Im Gegensatz zur Edition von 1810 wurde daher auf Eingriffe in Wortlaut und Lautstand sowie auf metrisch-rhythmische Glättungen weitestgehend verzichtet: Hieraus ergiebt sich nun das Verhältniß dieser Ausgabe zu der vorigen. Sie giebt hauptsächlich einen älteren, ächteren, einfacheren und gleichartigeren Text, der nicht aus zwei, eine verschiedene Darstellung enthaltenden Handschriften zusammengesetzt, noch aus den sämmtlichen, sich oft freilich einladend darbietenden Lesarten verschmolzen ist; der in Sprache und Schreibart alterthümlicher, in äußerer Abtheilung und Bezeichnung mannichfach verbessert ist, und auch in der Versart nicht auf die spätere Regelmäßigkeit] hinarbeitet.35
Der Herausgeber beschränkte sich darauf, die Orthographie zu systematisieren36, Abkürzungen aufzulösen 37 , moderne Interpunktion einzuführen 38 und die (in Β fortlaufend geschriebenen) Verse abzusetzen. 39 Zur Erleichterung der Lektüre wurden darüber hinaus offensichtliche (sinnstörende) Fehler der St. Galler Handschrift anhand der Parallelüberlieferung verbessert. Ergänzungsstrophen aus A, C und D, „die nicht bloße Variazion, sondern wirkliche Ausfüllungen und Zusätze enthalten" 40 , wurden zwar wie in der Ausgabe von 1810 eingeschaltet, jedoch durch vorangestellte Sternchen als Einschub kenntlich gemacht; ergänzt wurden schließlich die in Β fehlenden Aventiuren-Titel: I - X X V I I nach C, X X V I I I 4 1 — X X X I X nach A. 4 2 Die ersten sechs Strophen des Nibelungenlieds bieten sich in der Ausgabe von 1816 wie folgt dar: *Uns ist in alten maeren Wunders vil geseit, von heleden lobebseren, von grozer arebeit, von vreuden und' hochgeziten, von weinen und' von chlagen, von chuner rechen striten muget ir nu wunder hören sagen. 5 Ez wuchs in Burgonden ein vil edel magedin, daz in allen landen niht schoners mohte sin, Chriemhilt was si geheizen, si wart ein schöne wip; darumbe musen degene vil Verliesen den lip.
35 36 37 38 39 40 41 42
Ebd. Vgl. NL1816, S . X X V I . Vgl. ebd., S. X X V I / X X V I I . Vgl. ebd., S. XXVII. Vgl. ebd., S. XXV. Ebd. Die in Β nicht abgeteilte Αν. X X V I I I wird entsprechend Α gestaltet (vgl. S. X X X ) . Gegen Β (9636 „diz ist der Nibelunge not") wird der seit BODMER und MYLLER geläufige Titel Der Nibelungen Lief (nach A) beibehalten (vgl. S. X X X ) .
84
Nibelungen-Forschungen
•Der minnechlichen meide träten wol gezam, 10 it müt'ten chüne rechen, niemen was ir gram; ane mazen schöne so was ir edel lip, der iunchvräwen tugende zierten anderiu wip. Ir pflagen drie chunige edel unde rieh, Gunther unde Gemot, di rechen lobelich, 15 unde Giselher der iunge, ein uzerwelter degen; diu vr5we was ir swester, di fursten heten s' in ir pflegen. Di herren waren milte, von arde hohe erborn, mit chraft unmazen chüne, di rechen uzerchorn; da zen Burgonden so was ir lant genant: 20 si vrumten starchiu wunder sit in Etzelen lant. Ze Wormeze bi dem Rine si wonten mit ir chraft, in diente von ir landen vil stolziu ritterschaft, mit lobelichen eren unz an ir endes zit: si erstürben sit iaemerliche von zweier edelen vr&wen nit.
Sieht man von der (durch Sternchen ausgewiesenen) Ergänzung der in Β fehlenden Strophen I (V. 1 - 4 ) und III ( V . 9 - 1 2 ) ab, so stimmt der 1816 publizierte Text im Wortlaut über weiteste Strecken mit der St. Galler Handschrift überein. Gravierende Abweichungen finden sich nur an zwei Stellen: In V. 5 wird der fragmentarisch überlieferte Zeilenanfang wuchs i[n] ergänzt, in V. 7 der erste Halbvers (Chriemhilt geheimen) — entsprechend D — zum vollständigen Satz erweitert: Chriemhilt was sie geheimen. Veränderungen der Orthographie finden sich allein in den Versen 15/16 degenjpflegen (statt degnjpflegn) und 20 Etilen (statt Edelen). Um so erheblicher sind die Unterschiede zu der 1810 (auf der Grundlage von A und D) erarbeiteten Textfassung.43 Veränderungen des Wortlauts zeigen sich in V. 5 viel edel (statt edel), 7 si wart (statt du wart), 12 gierten (statt die Zierten), 17 hohe erborn (statt höh geborri), 19 %en Burgonden (statt den Burigunden) und 24 si erstürben sit (statt sit stürben si). Metrische Varianten bieten die Verse 2 (heleden statt beiden), 5 und 19 (Burgonden statt Burigunden), 20 (Etilen statt Et^elines) und 21 (Wormeze statt Wörmes^. Die Ausgabe des Nibelungenlieds von 1816 bietet keine „zweite Auflage der ersten, 1810 erschienenen"44 Edition des Textes, wie der Untertitel Zweite mit einem Wörterbuche vermehrte Auflage vermuten läßt. HAGEN legte vielmehr eine völlig neue Bearbeitung des Nibelungenlieds vor, die nicht nur auf einer erweiterten handschriftlichen Basis gründete, sondern vor allem dadurch, daß sie das Verfahren der „Mischredaktion" von 1810 zugunsten des Leithandschriftenprinzips aufgab, die Voraussetzungen zu 43 44
S. o. Kap. 2.32. NL1816, S.III.
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Der Nibelungen Lied, aus der St. Galler Handschrift (1816)
einer wirklich brauchbaren Edition erfüllte.45 Die Ausgabe von 1816 ist das respektable Ergebnis einer mehr als zehnjährigen Beschäftigung mit dem Nibelungenlied und HAGENS bis dahin beste Ausgabe eines mittelhochdeutschen Textes überhaupt. Der Wert der Edition wäre freilich noch erheblich höher anzusetzen, wenn sich HAGEN hätte entschließen können, außer den eingefügten Ergänzungsstrophen auch sämtliche anderen Texteingriffe im Schriftbild hervorzuheben. Die vorliegende Ausgabe läßt den Leser stets im unklaren, ob er den Wortlaut von B, eine Lesart der übrigen Handschriften oder gar eine Konjektur des Herausgebers vor sich hat: Der in der Vorrede angekündigte Fortsetzungsband, der neben der Edition der Klage (B) und Abhandlungen zu „Rechtschreibung und Sprachlehre" vor allem eine „vollständige Vergleichung der übrigen Handschriften"46 enthalten sollte, wurde von HAGEN nie ernsthaft in Angriff genommen. 2.43
Von Friedrich
BOUTERWEKS
Lob zu Karl
LACHMANNS
Tadel
Die ersten öffentlichen Stellungnahmen zu der bereits Ende 181547 erschienenen Nibelungen-Ausgabe waren — wie bei der Edition 1810 — durchweg positiv. Der HAGEN sehr gewogene Rezensent der Halleschen Allgemeinen Literatur-Zeitung hob im Februar 1816 anerkennend hervor, daß „durch die unermüdete Forschung des wackern von der Hagen" nunmehr der „Urtext unseres herrlichen National-Epos in einer so reinen und vollkommenen Gestalt"48 wie nie zuvor zugänglich sei. BOUTERWEK, der bereits der Edition von 1810 seine uneingeschränkte Zustimmung gegeben hatte,49 lobte in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen vom 27.7.1816 die „noch verdienstlichere" Neuausgabe und unterstrich HAGENS Grundsatz, „bey der Erneuerung der Deutschen Gedichte aus dem Mittelalter den ältesten Text aufzusuchen"50. Und auch BÜSCHINGS kurz zuvor in die Wöchentlichen Nachrichten eingerückte Anzeige ließ jeden kritischen Ton vermissen: Das hohe Lied hat in dieser neuen Ausgabe eine bedeutend andere Gestalt gewonnen und besonders ist die nicht zu billigende und leicht irrende Mischung der Lesarten, die auch häufig getadelt, aufgehoben worden, indem die St. Galler Handschrift zum Grunde
45
46 47 48 49 50
Die Aufnahme der Zusatzstrophen, die vielfach „nicht zum Verständniß nothwendig", ja „überflüssig" und mitunter „störend" (S. X X V ) sind, erklärt sich zu einem Gutteil aus dem Bestreben des Herausgebers, die Verszählung mit der des ersten Abdrucks zu harmonisieren, um ein einheitliches Zitieren zu ermöglichen (vgl. S. XXX). Ebd., S. XXXII. Vgl. NL1820, S . X X X V . Rez. NL 1816 (W17.1), Sp.216. S. o. Kap. 2.33. Rez. NL 1816 (W17.3), S. 1200.
86
Nibelungen-Forschungen gelegt ward, mit welcher indessen sorgfaltigst die übrigen verglichen wurden, auch die wenigen bekannt gewordenen neuen Bruchstücke der in Wien entdeckten Handschrift [C]·51
Um so unvermittelter mußte HAGEN die ein Jahr später (1817) in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung veröffentlichte kritische Besprechung des Werks durch Karl LACHMANN treffen. Der Rezensent legte nicht nur unnachgiebig den Finger auf Inkonsequenzen der Orthographie52, Ungenauigkeiten der Metrik 53 und Fehler bei der Textherstellung54, sondern stellte vor allem das von HAGEN angewandte Prinzip, der Edition die älteste erreichbare Handschrift zugrunde zu legen, in Frage, 55 um schließlich die Forderung nach einer wirklich kritischen Ausgabe zu erheben: Wir sollen und wollen aus einer hinreichenden Menge von guten Handschriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss. 56
In der Bewertung und Einordnung der Nibelungen-Handschriften vermochte er HAGEN zwar bei C und D zu folgen, räumte jedoch Α (entsprechend seinen Ausführungen Über die ursprüngliche Gestalt der Nibelungen Nothsl) den Vorrang vor Β ein, die für ihn nur „eine planmäßig und absichtlich verbesserte Ausgabe oder Recension des in B[odmers Handschrift A] erhaltenen Textes"58 darstellte. Er gelangte zu dem Schluß, daß B, C und D „aus einem Exemplare, das B[odmers Handschrift A] sehr ähnlich war, geflossen" seien, „alle drey aber nicht unmittelbar, und dass diese Urschrift der drey genannten nicht eine ganz neue gewesen, sondern eine alte, welcher der Verbesserer seine Änderungen beygeschrieben hatte"59, die in den einzelnen Fassungen in sehr unterschiedlicher Weise berücksichtigt worden seien. Auf der Grundlage dieser Konstruktion hielt LACHMANN zunächst nur die Herstellung der von B, C, D repräsentierten jüngeren Rezension des Textes „durch Vergleichung unserer Handschriften" für möglich; und er nahm die Gelegenheit wahr, seine „Gesetze" und „Regeln" der Nibelungen-Textkritik verbindlich zu formulieren: Die Gesetze sind, so viel wir gefunden haben, folgende: 1. Drey Handschriften unter unseren vieren überstimmen alle Mal eine. 2. Wo je zwey überein stimmen, ist AB < CD 51
Rez. NL1816 (W17.2), S.229.
52
V g l . LACHMANN ( L 2 5 8 ) , S . 9 0 - 9 6 .
53
Vgl. ebd., S. 9 6 - 9 8 .
54
V g l . e b d . , S . 9 8 - 1 0 1 ; c h a r a k t e r i s t i s c h LACHMANNS K r i t i k d e r V e r s e 9/10 ( S . 9 9 ) .
55
Vgl. ebd., S. 81. Ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 49 f. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87.
54 57 58 59
Der Nibelungen Lied, aus der St. Galler Handschrift (1816)
87
(d. h. in Stellen, wo Α mit Β übereinstimmt, die einstimmige Lesart von C und D vorzuziehen), BC > AD, BD > AC. 3. Wo drey Lesarten sind, da ist AB < C—D (die Lesart, welche Α und Β gemeinschaftlich haben, die beiden andern in C und D vorzuziehen), BC > A—D, BD > A—C; hingegen CD = Α—Β (die Übereinstimmung von C und D führt gegen die zwey Lesarten von Α und Β zu keiner sicheren Entscheidung), AD = B—C, AC = Β—D. 4. Eben so ungewiss bleibt die ursprüngliche Lesart, wo alle vier uneinig sind. 60
In der Hoffnung, hierdurch „einen neuen mit den nöthigen Hülfsmitteln versehenen Herausgeber zu einer strengen und sorgfaltigen Kritik zu ermuntern" 61 , legte L A C H M A N N zugleich die nach seinen Prinzipien eingerichtete Musteredition zweier Nibelungen-Strophen (V. 3685 —3692 nach H A G E N S Zählung) vor: Do gie der degen küne da er Kriemhilde vant. Do was nu uf gesovmet sin edel pirsgewant, Sin und der gesellen, si wolden über Rin. Do ne dorfte Kriemhilde nimmer leider gesin. Du sine trütinne du kust er an den munt. Got laze mich dich frovwe gesehen noch gesunt, Und mich du dinen ovgen. mit holden magen din Soltu kürzewilen, i ne mac hie heime niht gesin. 6 2
Die entsprechende Passage lautet in Do gie der degen chune, do was nu üfgesömet sin sin und' siner gesellen; si do ne dorfte Chriemhilde
HAGENS
Ausgabe:
da er Chriemhilde vant; edel pirsgewant, wolden über Rin: nimmer leider gesin.
Diu sine triutinne chust' er an den munt; „got laze mich dich, vröwe, gesehen noch gesunt, und' mich diu dinen ögen; mit holden magen din soltu chürzewilen: i ne mach hie heime niht gesin."
Der Vergleich der beiden Editionen führt zu dem überraschenden Ergebnis, daß die HAGENsche Version dem nach dem ausgeklügelten System seines Rezensenten konstruierten Text qualitativ keineswegs nachsteht. Was L A C H M A N N gewiß nicht beabsichtigt hatte: H A G E N konnte sich durch dessen Musteredition in seinem eigenen methodischen Vorgehen bestätigt fühlen und L A C H M A N N S grundsätzliche Kritik — „Jetzt müssen wir Hn. v. d. H. für den sorgfaltigen und berichtigten A b d r u c k einer der besten Handschriften danken, aber von einer A u s g a b e der Nibel., die diesen 60
Ebd. (Abweichend von der Rezension werden hier die seit 1826 üblichen HandschriftenSiglen verwendet.) Zu LACHMANNS Form der Recensio vgl. die kritischen Stellungnahmen TIMPANAROS ( L 4 6 6 ) , S. 9 3 - 1 0 0 , u n d LUTZ-HENSELS ( L 2 8 3 ) ,
61
LACHMANN ( L 2 5 8 ) , S . 8 8 f .
62
Ebd., S. 8 7 .
S.228-250.
88
Nibelungen-Forschungen
Namen verdiente, kann noch nicht die Rede seyn"63 — gelassen zur Kenntnis nehmen.
2.5
Der Nibelungen Noth \um erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Urschrift (1820)
2.51 Entstehungs- und Druckgeschichte Der von HAGEN in der Vorrede zur Nibelungen-Ausgabe von 1816 angekündigte Supplementband, der neben dem Abdruck der Klage vor allem das Lesarten Verzeichnis nachliefern sollte,1 gelangte ebensowenig in den Druck wie der sechs Jahre zuvor geplante Ergänzungsband zu Der Nibelungen Lied von 1810. Wiederum war durch neue Handschriftenfunde und -Veröffentlichungen eine Situation geschaffen worden, die eine Fortführung des eingeleiteten Projekts wenig sinnvoll erscheinen ließ. Im Februar 1816 hatte HUNDESHAGEN im Morgenblatt für gebildete Stände auf die von ihm Anfang Januar erworbene illustrierte Nibelungen-Handschrift (b) aufmerksam gemacht.2 Zur selben Zeit wies DOCEN auf sein Münchner Nibelungen-Fragment (H) hin. 3 Jacob GRIMM publizierte in den Altdeutschen Wäldern weitere 48 Strophen aus der Handschrift C;4 sein Bruder Wilhelm druckte kurz darauf zwei von GÖRRES entdeckte Nibelungen-Bruchstücke (e und f) ab. 5 Im Mai 1816 wurde HAGEN durch PRIMISSER auf das Ambraser Heldenbuch und die Fassung d des Nibelungenlieds aufmerksam gemacht;6 im September (zu Beginn seiner Italienreise) begann er in München die Kollation der Handschrift A 7 und wertete DOCENS Bruchstück (H) aus. 8 In St. Gallen verglich er ROTHMUNDS Kopie von Β mit dem Original 9 und erhielt wenige Wochen später in Mailand eine Kollation der Ambraser Fassung (d) durch PRIMISSER; 10 um dieselbe « Ebd., S. 83. 1 Vgl. NL1816, S. XXXII. 2 Vgl. HUNDESHAGEN (L201), erneut in Wöchentliche Nachrichten (L329) 1 (1816), S . 2 0 3 206; ders. (L200). 3
V g l . DOCEN ( L 7 1 ) .
4
Vgl. J.GRIMM (L139). Vgl. W. GRIMM (L144). Vgl. Noch eine neue Handschrift (W120). Vgl. Nibelungen: Die zweite Hohen-Emser Handschrift (W124), S. 337-341; die Kollation wurde durch SCHERER abgeschlossen (vgl. NL1820, S. XXXV). Vgl. Nibelungen: Die zweite Hohen-Emser Handschrift (W124), S. 341. Vgl. NL 1820, S. XXXVI. Abgedruckt in Nibelungen: DU zweite Hohen-Emser Handschrift (W124), S. 342-350.
5 6 7
8 9 10
Der Nibelungen Noth aus der St. Galler Urschrift (1820)
89
Zeit begann SCHOTTKY in Wien mit der von HAGEN zusätzlich erbetenen vollständigen Abschrift von d.11 Anfang 1 8 1 7 wies BÜSCHING auf die Entdeckung eines weiteren Nibelungen-Fragments (g) in Heidelberg hin 12 und veröffentlichte kurz darauf 24 Strophen aus dem HuNDESHAGENschen Kodex (b). 13 HAGEN selbst hatte auf seiner Rückreise aus Italien im Sommer 1817 Gelegenheit, die Bilderhandschrift HUNDESHAGENS einzusehen, das Heidelberger Fragment (g) zu kopieren14 und die inzwischen 16 ( 1 8 1 6 ) in LASSBERGS Besitz gelangte Handschrift C 1 5 zu kollationieren. Den Plan zur Neuausgabe des Nibelungenlieds hatte HAGEN bereits 1816 zu Beginn seiner Italienreise gefaßt, als er in St. Gallen die Kopie ROTHMUNDS an der Originalhandschrift ( B ) überprüfen konnte: Ich habe die mühselige Vergleichung mit Lust vollbracht, und bin nun ganz sicher in allen Stellen und Zweifeln. Manches hat doch der sonst wackere Abschreiber R o t h m u n d , dem ich gern auch mündlich gedankt hätte, nicht recht gelesen, und die neue Ausgabe erhält manche Verbesserungen. 17
Die Arbeiten an der Edition wurden nach der Rückkehr aus Italien (1817) jedoch nur zögernd aufgenommen; vordringlicher als der Textabdruck erschien HAGEN die Publikation der Ergebnisse seiner (nach der persönlichen Begegnung mit KANNE im Juli 1 8 1 6 1 8 intensivierten) mythologischen Nibelungenstudien. 19 Erst im Frühjahr 1819 konnten die Druckarbeiten aufgenommen werden. 20 Im Juli des folgenden Jahres wurde das Werk — in zwei unterschiedlichen Versionen — auf den Markt gebracht: Die zunächst fertiggestellte „kleine Ausgabe" (Der Nibelungen Lied %um erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Urschrift mit Vergleichung aller übrigen Handschriften) bot neben Einleitung (S. III —LXII), Wörterbuch (S. 287—431) und Verbesserungen (unpaginiert) einen Abdruck des Nibelungenlieds ohne Variantenverzeichnis und war für die breiteren Leserschich11
Vgl. NL1820, S. XXXVI. In den Wöchentlichen Nachrichten (L329) 3 (1817), S . 9 - 1 4 veröffentlichte S C H O T T K Y vorab ein Verzeichnis der wichtigsten Abweichungen der Fassung d (V. 1—603) von H A G E N S Edition (NL1816). Die von S C H O T T K Y begonnene, von Z I S K A und PRIMISSER abgeschlossene Kopie befindet sich in der SBPK Berlin (Ms. germ. fol. 1023; Ms. germ, quart. 775).
12
Vgl. BÜSCHING
(L54).
13
Vgl. BÜSCHING
(L55).
14
Vgl. Nibelungen: Heidelberger Bruchstücke (W133), S.162. Vgl. N L 1820, S. XXXVI. Am 26.2.1818 sandte LASSBERG zudem ein lithographisches Faksimile von Blatt 57' seines Kodex (Beilage zu Β 276). 16 Im Herbst 1818 konnte H A G E N in Wien auch die im Ambraser Heldenbuch überlieferte Fassung d durchsehen (vgl. HB 1855, S. XIV). 17 Briefe (W20) Bd. 1, S. 146. 18 Ebd., Bd. 1, S. 60. " Nibelungen: Bedeutung (W 22). 20 Vgl. NL 1820, S. XXXVII. 15
90
Nibelungen-Forschungen
ten eingerichtet. Für die wissenschaftliche Benutzung war die wenig später abgeschlossene (Karl von A L T E N S T E I N zugeeignete) „große Ausgabe" (Der Nibelungen Noth %um erstenmal in der ältesten Gestalt aus der St. Galler Urschrift mit den Lesarten aller übrigen Handschriften) gedacht, die den Text in einer nochmals überarbeiteten21 Fassung enthielt und vor allem erstmals die Lesarten der Parallelüberlieferung (unterhalb des Textes) zugänglich machte.22 2.52
Prinzipien der Edition
Bei Druckbeginn waren bekannt: Α
(HAGEN:
EM):
Β
(HAGEN:
C
(HAGEN:
G): EL):
D
(HAGEN:
M):
Η
(HAGEN: D ) :
b
(HAGEN:
c d
(HAGEN:
e g
(HAGEN:
Hh):
(HAGEN: L ) :
W):
(HAGEN: G S
Η):
II, I):
HAGEN
elf Handschriften des Nibelungenlieds
Hohenems-München (Teilveröffentlichung durch MYLLER; Kollation durch HAGEN und SCHERER) St. Gallen (Kopie durch ROTHMUND, verglichen von HAGEN) H o h e n e m s - L A S S B E R G (Teilveröffentlichung durch BODMER, M Y L LER und J. GRIMM; Kollation durch HAGEN) München (Kopie durch HAGEN) DOCENS Bruchstück ( I ) (Teilveröffentlichung durch DOCEN; Kollation durch HAGEN) HUNDESHAGENS Handschrift (Teilveröffentlichung durch BüSCHING; Einsichtnahme durch HAGEN) Bruchstücke bei LAZIUS Wien-Ambras (Teilveröffentlichung durch SCHOTTKY; Kollation durch PRIMISSER; Kopie durch SCHOTTKY, PRIMISSER und ZISKA) GÖRRES' Bruchstücke (Veröffentlichung durch W. G R I M M ) Heidelberger Fragment (Kopie durch H A G E N ) 2 3 .
Unzugänglich blieb H A G E N das im Spätjahr 1 8 2 0 von L E I C H T L E N veröffentlichte Nibelungen-Fragment (E).25 Das Karlsburger Bruchstück (F), das M A I L Ä T H am 7 . 7 . 1 8 2 0 abschriftlich mitteilte,26 konnte nur noch in „wenigen Exemplaren"27 der „großen Ausgabe" als Nachtrag zur Einleitung abgedruckt werden.28
24
21 22
23
Vgl. die unterschiedlichen Korrigenda-Listen (im Anschluß an das Worterbuch). Wie bei der Edition von 1816 sollte ein Supplementband (mit Abdruck der Klage, sagenkundlichem Kommentar und Abhandlungen zu Orthographie und Grammatik) die „große Ausgabe" beschließen (vgl. S. LXIV). Abgedruckt in Nibelungen: Heidelberger Bruchstücke (W133).
24
V g l . LEICHTLEN ( L 2 6 6 ) .
25
Vgl. NL1820, S. XXXVII. Vgl. MAILÄTH an HAGEN, 7. 7.1820 (B290). Nibelungen. Uebersicht {W195), S. 178. Vgl. HAGEN an M A I L Ä T H , 18.7.1820 (B291).
26 27 28
Der Nibelungen Noth aus der St. Galler Urschrift (1820)
91
Obgleich HAGEN seit der Ausgabe von 1816 sechs neue Handschriften kennengelernt hatte und seine Kenntnis der bis dahin nur in Teilveröffentlichungen zugänglichen Fassungen des Nibelungenlieds erheblich erweitern konnte, hielt er an der einmal getroffenen Bewertung und Einordnung der Textzeugen fest29 und legte der Edition wiederum die St. Galler Handschrift zugrunde: Diese hat sich nun auch bewährt, als die älteste, vollständigste und gebildeteste Urkunde des Liedes in seiner alten Gestalt: und wenn auch EM [A] in der Darstellung noch etwas älter erscheint, so steht sie doch ganz einzeln, und ist überhaupt mangelhafter, roher, später und örtlicher; dagegen G [B], als Haupt einer großen Reihe von Urkunden dasteht, und von ihnen fast völlig bestätigt wird, als die ächteste in der Sprache, die genauste in der Schreibart und die vollkommenste in der Form. 3 0
Auch in der Texteinrichtung orientiert sich die Neuausgabe an den 1816 entwickelten Prinzipien: Systematisierung der in Β vorgegebenen Orthographie31, Auflösung der Abkürzungen 32 , Korrektur offensichtlicher Fehler33 und Einführung moderner Interpunktion34. Neu ist die Kennzeichnung der Komposita durch Verbindungsstriche und -)35, die Wiedergabe von w durch vv (entsprechend der Graphie von B)36 und die Andeutung der alemannischen Affrikata kch durch das neugeformte Zeichen ch, das die Elemente des k und ch zu verbinden sucht.37 Beibehalten bleibt die Verszählung der Ausgaben von 1810 und 1816.38 Die aus der Wien-Ambraser Handschrift d neu aufgenommenen Verse sind als 1328 a—d, 1336 a—m usw. erfaßt, die Zusatzstrophen wiederum durch vorangestellte Sternchen kenntlich gemacht. Die Halbverse werden erstmals „durch einen etwas größeren Zwischenraum bezeichnet", der „in die Augen fallt, ohne durch Zeichen zu stören oder die Zeile zu brechen"39. Der eigentliche Fortschritt der Neuausgabe gegenüber der Edition von 1816 liegt jedoch in der (bei der „großen Ausgabe" vorgenommenen) Mitteilung der Varianten: Die dießmal unter den Text gesetzten L e s a r t e n enthalten [...] alle geringeren Abweichungen in Mehr und Minder, Stellung, Ausdruck, Formen, Tönen der Wörter, Abtheilung
29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Vgl. NL1820, S. X X I I - L I V . Ebd., S. LIV. Vgl. ebd., S. LV. Vgl. ebd., S. LV1I. Vgl. ebd., S. LIV. Vgl. ebd., S. LVIII/LIX. Vgl. ebd., S. LVIII. Vgl. ebd., S. LVI. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. LXII. Ebd., S. LIX.
92
Nibelungen-Forschungen der Lieder und Bezeichnung der Abschnitte. Selbst sichtliche Fehler und alte Verbesserungen sind aufgenommen: sie verrathen manchmal andre Lesarten, und auch ihr Mißverständniß ist oft lehrreich, oder doch wissenswerth. Bei dem größten unserer Heldengedichte ist uns wichtig, was bei anderen freilich nicht. 40
Das methodische Vorgehen H A G E N S bei der Gestaltung des Variantenapparats soll am Beispiel der ersten sechs Strophen (V. 1—24) der „großen" Nibelungen-Ausgabe von 1820 überprüft und erläutert werden. Zur leichteren Orientierung werden hierbei die seit L A C H M A N N geläufigen Handschriften· Siglen41 verwendet, moderne Satzzeichen eingeführt und die (nach H A G E N S eigenen Worten) „wie ein dicker Wald"42 unter dem Text stehenden Lesarten zeilenweise abgesetzt. In Sperrdruck werden die bei 43 H A G E N ausgesparten Varianten ergänzt. Beibehalten bleiben die Zeichen [...] für Auslassungen und — für Übereinstimmungen;44 ch wird als cb wiedergegeben. •Uns ist in alten mieren vvunders vil geseit, von helden lobebacren, von grozer chünheit, von vrouden und' hochugeziten, von weinen und' von chlagen, von chuner rechen striten muget ir nu w u n d e r hören sagen. 5 Ez vvühs in Burgonden ein vil edel magedin, daz in allen landen niht schoners mohte sin, Chriemhilt w a s si geheizen, si w a r t ein schöne w i p : dar-umbe musen degene vil Verliesen den lip. *Der minnechlichen meide träten w o l gezam, 10 in mute chüner rechen, niemen w a s ir gram; ane mazen schöne so w a s ir edel lip: der iunchuvrowen tugende zierten anderiu w i p . Ir pflagen drie chunege edel unde rieh, Günther unde Gernot, die rechen lobelich, 15 unde Giselher der iunge, ein üzuerwelter degen; diu v r o w e w a s ir swester, die fürsten heten-s' in ir pflegen. Die herren w a r e n milte, von arde hohe erborn, mit chraft unmazen chöne, die rechen uzuerchorn; da zen Burgonden so w a s ir lant genant: 20 si vrumten starchiu w u n d e r sit in Etzelen lant.
40 41
42
43
44
Ebd., S. LV. Um Verwechslungen zu vermeiden, wird im folgenden die HAGENSche Abkürzung A („für A l l e , die gerade in Vergleichung stehen, außer G [B]" [ebd., vor S. 1]) mit „Alle" wiedergegeben. H A G E N an S C H O T T K Y , O . O . u. D. [Anfang 1820] (B472). Die unter den Verbesserungen (NL1820, nach S. 640) aufgeführten Korrigenda zu V. 14, 17 und 24 sind berücksichtigt. Vgl. Vorbericht den Lesarten (ebd., vor S. 1).
Der Nibelungen Noth aus der St. Galler Urschrift (1820)
93
Ze VVormeze bi dem Rine si vvonten mit ir chraft, in diente von ir landen vil stolziu ritterschaft, mit lobelichen eren unz an ir endes zit: si erstürben sit iscmerliche von zweier edelen vrovven nit.
1.
2.
heleden C; lobebsern A , lobfiwern d; grozzer AD, grosser d (meist ss für ζ als unser ß); gr. ar[e]beit CD, arbait d (meist ai für ei).
3.
vreude47 C, fröden Α (δ für ou öfter, selten in C und in Β anfangs, in D immer ou, in d au, wo jetzo au), fremden d (häufig 4 für u); v r e u d e D ; [und] Ad; hoch Zeiten d (meist ei für i, wo jetzo ei); vn Α (oft in Allen für unt, unde); [von] C; chlagen C 4 8 D, kl. A, cl. d (so wechselt c, k, ch, in der Mitte noch ck, kk, für unser k, in Allen).
4.
chüner Dd 4 9 (u, ü, u wechselt hier in Allen); strite A; mugt 50 ir w. D, mögt ir hie w. d; hören Cd (öfter), hörn D.
5.
es Dd (meist s für z, als unser s); [z vvühs] B; wuchs D, wuchs d (meist ch für h, als unser h; und oft u für u), whs C; Bürgenden51 C, Burigunden52 D, Burgunden d (immer); [vil] AD; schöne m. A. schöners A; schöner mocht gesin d. [was si] CBd; sy53 d (häufig y, ^ und j, für i und ie); gehseizzen D (selten sei für ei); div wart C, die D (so fast immer für diu, auch in d); vnde was A; scön 54 Β (zuweilen sc für sch), schone C, schonez D, schön d. dar vmme (vmb) mvsten degen Dd (so meist in diesen Wörtern); mvsin C; [vil] d; v e r l i e r n d. [ 9 - 1 2 ] BC. minnichl. D (öfter), minnekl. d (öfter auch ck, gk, g, für unser g; in den übrigen Hdss. meist ch, c, selten k, ck); maid d; magde treuten D (meist eu für iu, in d immer); tröten d. ir mvtten chvne D, von milten küenen d; nieman D (wechselt in Allen), nyemand d (meist). on d (oft); schöner lip D; edler d. schone die zirten andrev D (selten eu für iu, als Endung, meist e; in d immer); die z. annder w. d.
6. 7.
8.
9.
10. 11. 12.
45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
[ 1 - 4 ] B. 4 5 Es ist d; meren D (in Allen öfter e für se), miren^d (meist & anstatt se); wnders A (öfter auch in Β und C wn für wun), wvnder D (in Allen fast immer w für vv, und häufig ν für u); g e s a g t d.
Das Fehlen der ersten Strophe in Β ist in HAGENS Apparat nicht angezeigt. waren} maren d. vreude} frevde C. Die Sigle C gehört hinter kl. A. chüner D, kuener d. mugt} mvgt D. Burginden} Bvr'gonden C. Burigunden] Bvrigundn D. sj d gehört unter die Lesarten der zweiten Halbzeile (nach die D). scön} seine B.
94
Nibelungen-Forschungen 13.
14. 15. 16.
17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.
phlagen Α (öfter ph für pf in Allen); dri AC, drei D (öfter ei für i, wo jetzo ei), d r e y d; chunige Alle (meist), künig d (u und ü wechselt hier in Allen); und Dd (immer in d). Gunthere Α (ü nur in B); di BD (oft, meist zwar als männliche Mehrzahl; vgl. 65). [unde] Dd; vz D (wechselt in Allen), aus d (immer au für u, ü, wo jetzo au); ein werlicher C; d e g n B. frövv(w)e BA (nicht oft so δ ν ν für ovv), fraw d (immer), vrouwe D (immer); s e s t e r d; fursten ADd 55 (wechselt in Allen), helde C; si in D; hetten jr gephlegn d (oft tt für t); p f l e g n B. Hier folgt 2 5 - 2 8 in CD. w a r n AD; m i l d e D, m i l t d; arte (art d) hoh(ch) geb. ADd; höh C. krefte A; mazzen AD (öfter); v e r m e s s e n d; k ü e n d. ze — [so] d; zv den Bvrigvnden D. frumden 56 Α (oft f für v, als f, in Allen), frümbdtn d (häufig b nach m, und dt für t), sint D; Ezelen Β (öfter ζ für tz, ts, in Allen), Etzeleines D (häufig), Etzel d. Wormze C, Wornitz A, zv Wurmtz D (immer), Wurmbs d (immer); R e i n d; wonden A; jrer crafft d (häufig). diende A, dienten Cd; l a n d e D; jren — stoltzer d; ritersch. Α (häufig, auch in Β u. C). mit stoltzlichen Α (selten tz für z, in d oft); eeren d (oft). stürben CDd; iaem. sit (sint D) CD; sit st. si iam. A; iämm. d (oft); [edelen] CD, e d l e n d.
Es fallt zunächst auf, daß das Variantenverzeichnis bei weitem nicht so vollständig ist, wie HAGEN in der Einleitung angibt. Es fehlen zwar keine gewichtigen Lesarten — vor allem sind sämtliche Eingriffe in den Wortlaut der Leithandschrift Β vermerkt —, doch erscheint die Einrichtung des Apparats immer noch nicht überall in sich stimmig und konsequent. So werden periphere orthographische Details wie 5 vvühs B] wuchs D, wuchs d oder 18 unma^en B] [un]ma%%en A D akribisch genau fixiert, jedoch die graphische Variante whs C (5) und die im Wortlaut abweichende Lesart vermessen d (18) übergangen. Ärgerlich sind zahlreiche Flüchtigkeitsfehler — wie die falsche Anordnung der Siglen in 3 (chlagen DC, kl. Α statt chlagen D, kl. AC), der unbegründete Wechsel in der Abfolge der Varianten (16: frau d vor vrouwe D), die fehlerhafte Eingliederung von Lesarten (7: sy unter den Varianten des ersten statt zweiten Halbverses) und die Ungenauigkeit bei der Wiedergabe des Lautstands in 1 mären statt maren
d, 3 vreude statt frevde C, 4 chüner Dd statt chüner D, kitener d, 5 Bürgenden statt Bvfgonden C, Burigunden statt Bvrigundn D, 7 sein statt seine Β und 20 frumden 55 56 57
statt frvmden
A. 5 7 Unnötig erschwert wird die Benutzung des
Sigle d fehlt. frumden] frvmden A. Es ist nicht auszuschließen, daß ein Teil der Fehler auf Ungenauigkeiten der HAGEN vorliegenden Abschriften und Kollationen beruht oder dem Setzer anzulasten ist.
Der Nibelungen Noth aus der St. Galler Urschrift (1820)
95
Variantenverzeichnisses schließlich dadurch, daß der Herausgeber orthographische Charakteristika der einzelnen Handschriften „in den Lesarten an der Stelle, wo sie zuerst vorkommen" 58 , umständlich anzeigt, anstatt sie in der Einleitung gesammelt vorzustellen. Trotz der aufgezeigten Mängel bestimmt sich der wissenschaftliche Wert der Nibelungen-Edition von 1820 zu einem Gutteil aus der umfassenden Mitteilung der Varianten. Die Ausgabe, die in Wortlaut und Lautstand noch näher als der Abdruck von 1816 an die St. Galler Handschrift heranrückt, stellt den Gipfelpunkt der textkritischen Bemühungen HAGENS um das Nibelungenlied dar. Sie steht in der Verläßlichkeit und Transparenz ihrer Texteinrichtung qualitativ ebensoweit über den bloßen Handschriftenabdrucken BODMERS (1757) und MYLLERS (1782), von denen die Nibelungen-Philologie ihren Ausgang nahm, wie über den fragwürdigen „Mischredaktionen" der Jahre 1807 und 1810, die die philologischen Anfange HAGENS markieren, ohne sich indes den LACHMANNschen „Regeln" zu fügen: Sie bietet den älteren achteren Text, in seiner ausgebildeten Gestalt, ohne Einmischung der Ueberarbeitung, aus der Urschrift völlig hergestellt und berichtigt, und durch die zu ihr gehörigen Urkunden vervollständigt und bestätigt, in Sprache und Schreibart alterthümlicher, im Versbau, Abtheilung und B e z e i c h n u n g , und sonstiger äußerer Einrichtung, mannigfaltig verbessert, und durch die Lesarten aller Handschriften begründet. Solches verdankt sie hauptsächlich der unschätzbaren St. Galler Urschrift, und darf daher wohl sagen, das [!] daraus das Nibelungen-Lied zuerst in seiner, so weit jetzo die Urkunden reichen, ältesten Gestalt hervorgeht. 59
2.53
Karl
LACHMANNS
Kritik
Die ersten Reaktionen auf das Erscheinen der neuen „Auflage" des Nibelungenlieds waren durchweg negativ. Gleich nach Erhalt des Werks vermerkte Jacob GRIMM in seinem Schreiben an Karl LACHMANN vom 19. —24.7.1820: „[...] das Ganze ist eine Demüthigung seines bisherigen Dünkels, demüthig seyn und lernen wollen wir aber alle." 60 Schon vor der Durchsicht der Ausgabe hatte LACHMANN grundsätzliche Bedenken angemeldet: „Seine abgöttische Verehrung der SGaller Handschrift läßt für den Text wenig hoffen [...]. Die für weise ausgegebene, eigentlich aber träge Beschränkung auf die Nibelungen wird ihn wohl bewahren allzugroße Sprachreinheit einzuführen, es werden aber viel Schreibfehler 58 59 60
NL1820, S.LV. Ebd., S. LXIII. LEITZMANN (L271) B d . l , S.185 ( J . G R I M M an LACHMANN, 1 9 . - 2 4 . 7 . 1 8 2 0 ) ; vgl. auch ebd., S. 211 ( J . GRIMM an LACHMANN, 24.10.1820).
Nibelungen-Forschungen
96
mit stehn bleiben." 61 Er ließ es sich dann auch nicht nehmen, ein zweites Mal öffentlich gegen HAGENS — seit 1 8 1 6 kaum modifizierte — Editionspraxis zu Felde zu ziehen; in seinem Brief an Wilhelm GRIMM vom 1 7 . 6 . 1 8 2 0 heißt es hierzu: Ich habe die neuen Nibelungen recensiert, und dabei ein wenig ausgekramt. Mit dem Ton werden Sie hoffentlich zufrieden sein. Die Gesinnung war hier von Haus aus eine ganz andere als gegen Zeunen 62 ; und was mir doch noch, im Ärger über die unzähligen neuen Erfindungen und das vernachlässigte grammatische Studium, entfahren war, habe ich beim Abschreiben und Durchsehen gemildert und meistens gestrichen. 63
Die v o n HAGEN später als „etwas Vossisch" 6 4 bezeichnete Rezension
gab sich allerdings nur scheinbar konzilianter als die Kritik von 1817 6 5 . LACHMANN konstatierte zwar, die neue Edition stehe „an Treue und Zuverlässigkeit" 6 6 hoch über den voraufgegangenen Ausgaben HAGENS
und biete einen „fast durchaus urkundlichen Text, lesbar und verständlich bis auf wenige Stellen, in der Schreibweise einer sehr guten Handschrift, die in einigen Puncten mit Sprachkenntniss noch geregelt" 67 sei, stellte sie dann jedoch im selben Atemzug auf eine Stufe mit Christoph Heinrich MYLLERS textkritisch antiquiertem A b d r u c k des Par^ival
aus dem Jahre
1784: Um aber mit Einem Worte den Werth und die Brauchbarkeit des neuen T e x t e s für den K e n n e r zu bezeichnen, setzen wir ihn dem Müllerischen Abdrucke des Parcivals gleich — nicht dem der Nibelungen, weil Hn. v. d. Hs Handschrift vorzüglicher ist — und rechnen dem Herausg. als überwiegendes Verdienst nur die vermiedenen Druckfehler an, und die Verbesserung einiger Versehen des St. Gallischen Schreibers. 68
Unerbittlich hielt er HAGEN Fehler und Unstimmigkeiten bei der Ein-
richtung des Textes (und des Apparats) 69 , der Regelung der Ortographie 70 , der Behandlung der Metrik 7 1 sowie der Gestaltung des Glossars 72 v o r 7 3
61
E b d . , B d . 2 , S . 7 4 8 (LACHMANN a n W . G R I M M , 1 7 . 6 . 1 8 2 0 ) .
62
Vgl.
63
LEITZMANN ( L 2 6 4 ) B d . 1, S . 2 0 1 (LACHMANN a n J . GRIMM, 1 7 . 9 . 1 8 2 0 ) .
LACHMANNS
Rezension von August
ZEUNES
Krieg auf Wartburg (L258), S. 140—156.
64
E b d . , B d . 1, S . 2 9 0 (LACHMANN a n J . GRIMM, 2 7 . 3 . 1 8 2 1 ) .
65
Vgl. Rez. NL1816 (W17.4).
66
LACHMANN ( L 2 5 8 ) ,
67
Ebd., S. 207. Ebd., S.217. Vgl. ebd., S. 2 1 7 - 2 2 2 . Vgl. ebd., S . 2 2 3 - 2 3 6 ; vgl. hierzu (relativierend)
68 69 70
S.217.
LEITZMANN ( L 2 7 1 )
Bd.l,
S.305F.
(LACHMANN a n J . GRIMM, 2 . - 4 . 9 . 1 8 2 1 ) . 71 72 73
Vgl. LACHMANN (L258), S. 2 3 6 - 2 4 1 . Vgl. ebd., S. 2 4 2 - 2 7 1 . Zur unterschiedlichen Einstufung der Nibelungen-Handschriften vgl. ebd., S. 208 und 216 f.
Der Nibelungen Lied (1824)
97
und unterstrich durch diesen Negativkatalog seine Forderung nach einer wirklich kritischen, d.h. im Sinne der Rezension von 1817 eingerichteten, Edition des Nibelungenlieds. Die HAGENsche Nibelungen-Ausgabe von 1820 ist in der Tat weit davon entfernt, dem von LACHMANN erwarteten Standard zu entsprechen. Sie bietet jedoch — und dies ist nicht wenig — einen weithin verläßlichen (durchgesehenen, verbesserten und orthographisch in sich folgerichtig gemachten) Abdruck der St. Galler Handschrift. Problematisch erscheint freilich — wie bereits 1816 — die Absicht HAGENS, das Werk nicht nur in seiner „ältesten Gestalt", sondern zugleich in seiner vollständigsten Fassung vorzulegen. Durch die nachträgliche Einfügung der über Β hinausgehenden Strophen entsteht eine äußerst fragwürdige Gesamtversion des Gedichts, tritt an die Stelle der von LACHMANN geforderten Rekonstruktion eine eher zufällige Kompilation des Textes, die keinen Anspruch auf historische oder philologische Gültigkeit erheben kann. In der Ausgabe sind zwar die Erweiterungen durch Sternchen gekennzeichnet, um eine separate Lektüre der St. Galler Fassung zu ermöglichen, doch drängen die fortlaufende Verszählung sowie die an Β ausgerichtete Orthographie der Zusätze dem Leser den Eindruck auf, eine in sich geschlossene und abgerundete Redaktion des Nibelungenlieds vor sich zu haben. HAGEN wäre gut beraten gewesen, sich auf den konsequent „berichtigten" und „verglichenen" Abdruck der von ihm mit Recht favorisierten Handschrift Β zu konzentrieren und den Zusatzstrophen unterschiedlichster Qualität und Provenienz den ihnen angemessenen Platz im Apparat zuzuweisen.
2.6
Der Nibelungen Lied (1824)
Das Bemühen um „kritische" Editionen bedeutete für HAGEN keineswegs die Abkehr vom Prinzip der „Erneuung"; beide Formen der Aneignung und Wiedergabe mittelhochdeutscher Texte standen für ihn vielmehr noch lange Zeit gleichberechtigt nebeneinander. Die Vorbereitungen zur Nibelungen· Ausgabe von 1820 hinderten HAGEN denn auch nicht, sich zugleich an einer zweiten Erneuerung des Textes zu versuchen. Der Entschluß hierzu war 1816 bei der Begegnung mit den deutschen Künstlern in Rom gefallen; vor allem die (durch die Bearbeitung von 1807 angeregten) Nibelungen-Zeichnungen Carl Philipp FOHRS1 und Peter CORNELIUS'2 bestärkten ihn in seinem Vorhaben: „Hätte meine Erneuerung der Nibelungen auch nur diese Bilder veranlaßt, so hätte sie genug gethan." 3 Noch 1 2 3
Vgl. Briefe (W20) Bd. 2, S.311. Vgl. ebd., S. 2 9 5 - 2 9 7 . Ebd., Bd. 1, S. 176; vgl. NL1824, S. VII/VIII.
98
Nibelungen-Forschungen
auf der Rückreise aus Italien gelang es H A G E N , in Frankfurt am Main Franz VARRENTRAPP als Verleger zu gewinnen. Der am 15.8.1817 unterzeichnete Vertrag4 sah eine revidierte Fassung der Nibelungen-„Erneuung" von 1807 vor („mit Weglassung der bey der frühern Ausgabe befindlichen: Die Klage — Anhang — Gloßar"). Bereits ein halbes Jahr später (zu Ostern 1818) sollte das druckfertige Manuskript beim Verlag vorliegen, um ein Erscheinen des Werks zur Herbstmesse sicherzustellen. Den übereilt zugesagten Termin konnte H A G E N freilich nicht einhalten; die Ausarbeitungen trafen erst um die Mitte des Jahres 1818 in Frankfurt ein. 5 Der Druckbeginn verzögerte sich jedoch um weitere zwei Jahre (bis Ende 1821)6. Das in der Zwischenzeit noch einmal überarbeitete und auf den Stand der Edition von 1820 gebrachte Werk erschien schließlich — vordatiert auf 1824 - Ende des Jahres 1823.7 H A G E N S zweite Nibelungen-„Erneuung" bietet keinen lediglich an einzelnen Stellen korrigierten Wiederabdruck der Ausgabe von 1807. Sie gründet nicht nur auf einer veränderten handschriftlichen Basis, sondern zeichnet sich vor allem durch erheblich modifizierte Bearbeitungsprinzipien aus: H A G E N versuchte 1824, dem mittelhochdeutschen Text entschieden näher zu bleiben als 1807. Vorbild war ihm hier vor allem die Redaktion des Ambraser Heldenbuchs (d), „welche, bei manchen Mißverständnissen, Nachlässigkeiten und Mängeln, doch dem alten Text fast Schritt für Schritt folget und ihn nur in die Schrift und Laute ihrer Zeit umschreibt"8. Wie der Schreiber des frühen 16. Jahrhunderts suchte sich H A G E N bei seiner „Erneuung" weitestgehend auf eine Modernisierung des Lautstands (unter möglichst umfassender Wahrung des Wortlauts, besonders in den Reimen) zu beschränken: Ich habe [...] bloß die Rechtschreibung und die durch sie bezeichneten Laute des alten, im Munde des Volkes meist noch lebenden Oberdeutsch in die daraus entstandene gegenwärtige Hochdeutsche Schriftsprache verwandelt, hauptsächlich nur das tiefkehlige ch (ζ. B. chranch) in k, i und u in ei und au (sin, Hus) und i u , ou, uo in e u , au, und u ( i u c h , V r o u , guot); aber alle alterthümliche Formen, die noch leicht, besonders aus der Bibel, und durch ähnliche Anklänge, auch aus den Mundarten, verständlich sind, und den alten freien Wechsel derselben habe ich behalten: nur höchst wenige, unbedeutende und gleichgültige (wie die obenaufgeführten) und andere in der Urschrift selber mit bekannteren wechselnde, sind vermieden oder vertauscht, innerhalb der Reimzeilen, in den Reimen selbst aber fast nie, und ist daher in der Wortstellung und Wortfügung durchaus nichts geändert. 9 4 5 6
S. u. Anhang: Verlagskontrakt. Vgl. HAGEN an die Brüder GRIMM, 1 . 8 . 1 8 1 9 (B206). V g l . REIFFERSCHEID ( L 3 7 4 ) , S. 82 (HAGEN a n GROOTE, 2 5 . 1 2 . 1 8 2 1 [B214]).
Vgl. Heldenbilder (W21) Bd. 2,1 (nach S. 792). NL 1824, S.XII. » Ebd., S. IX. 7 8
Der Nibelungen Lied (1824)
99
So werden in der ersten Aventiure 9 träten10 mit trauten (1807: mimen), 20 vrumten mit frommten (1807: schufen), 20 (72) sit mit seit (1807: nachmals), 27 ellens-richer mit Ellens-reicher (1807: tugendreicher) und 30 (36) eilen mit Ellen (1807: Tugend) wiedergegeben. Der auf diesem Wege gewonnene (der Vorlage eng verhaftete) Text kam den eigentlichen Adressaten der Ausgabe — allen, „die sich nicht auf schriftgelehrte Weise mit dem alten Werke beschäftigen können und mögen"11 — noch weniger entgegen als die Fassung von 1807. HAGEN sah sich daher gezwungen, seinen Lesern eine — im ursprünglichen Verlagskontrakt nicht vorgesehene — Übersetzungshilfe an die Hand zu geben. Er entschied sich hierbei nicht für ein Glossar, sondern wählte den aufwendigeren Weg des Zeilenkommentars: „[...] ich habe mich nicht verdrießen lassen, lieber auf jedem Blatte fast alle von Anfang her nöthigen Erklärungen zu wiederholen, als dieselben, viel leichter, in einem Wörterbuche zusammen zu fassen, weil ich weiß, wie wenig man zum Nachschlagen geneigt ist: und so wird man hier überall aufschlagen und anfangen können, und gleiche Verständigung finden."12 Die (mehr als 300 Seiten umfassenden) Anmerkungen %tt der Nibelungen Noth bieten neben Wort- und Sacherklärungen sämtliche „bloß Varianten enthaltenden Stanzen, und andere kleinere, doch bedeutsame Abweichungen"13 der Parallelüberlieferung sowie „Exkurse" mit detaillierten „Erläuterungen aus der Sage und Geschichte"14 der Nibelungen — insgesamt ein Aufwand, der eher einer Edition als einer neuhochdeutschen Bearbeitung angemessen erscheint. Deutlicher noch als die Ausgabe von 1807 läßt die revidierte Fassung von 1824 die grundsätzliche Problematik der auf der Grenze zwischen Edition und Übersetzung verharrenden „Erneuungen" HAGENS zutage treten. Wenn etwa im Kommentar zur ersten Strophe Uns Von Von Von
ist in alten Mähren Wunders viel gesait, Helden lobebären, von großer Arebeit, Freuden und Hochgezeiten, von Weinen und von Klagen: kühner Recken Streiten mögt ihr nun Wunder hören sagen.
vom Herausgeber nicht weniger als sieben Wörter {Mähre, Wunder, gesait, lobebären, Arebeit, Hochge^eit, Recken)15 erklärt werden, so erhebt sich die
10 11 12
13 14 15
Die mhd. Wörter werden in der Version der Edition von 1820 geboten. NL1824, S.VII. Ebd., S. IX; auf einem losen Blatt ist dem Textband außerdem (zur ersten Orientierung) eine Liste mit den „am häufigsten vorkommenden meist ritterlichen Ausdrücken" beigegeben, „welche man sich leicht einprägen kann" (S. X). Ebd., S. XIII. Ebd., S. XIV. Vgl. Anmerkungen zu NL 1824, S. 1 f.
100
Nibelungen-Forschungen
Frage, warum bei einem derart dicht geknüpften Netz von Übersetzungshilfen dem Leser nicht die Lektüre des Originaltextes zugemutet (oder zugetraut) werden kann. Mit Recht fragt der Rezensent der Halleschen Allgemeinen Literatur-Zeitung. „Was will diese zweyte Erneuung des Nibelungenliedes? Und wo ist das Publikum zu suchen, welches sie genießen soll?"16 Die „Erneuung" von 1824 war bereits vor ihrem Erscheinen überholt und zum Scheitern verurteilt. HAGENS Ansicht, die hier gewählte Form der Vermittlung sei „für den größten Theil der Leser [...] ein wahres Bedürfniß" 17 , erwies sich als Fehleinschätzung, die Ausgabe fand nicht entfernt das erhoffte Echo: Noch weniger als 1807 zeigte sich das breitere Publikum geneigt, HAGEN auf dem beschwerlichen Weg der „Erneuung" zu folgen, zumal in der Zwischenzeit durch die Übertragungen Joseph von HINSBERGS ( 1 8 1 2 ) 1 8 , August ZEUNES ( 1 8 1 4 ) 1 9 und Johann Gustav BÜSCHINGS ( 1 8 1 5 ) 2 0 weitaus bequemere Zugänge zum Nibelungenlied eröffnet worden waren. Auch unter den Fachgelehrten fand sich niemand zu einem positiven Urteil bereit. Wilhelm GRIMM meldete schon 1 8 1 9 (nach der Ankündigung des Werks) in einem Brief an HAGEN grundsätzliche Bedenken an: „Es kommt bei einer Übersetzung nur darauf an, daß sie so lebendig, als möglich sey und daher muß ich Ihre Erneuerung des NibelL., die endlich nur die Rechtschreibung ändert, tadeln. Sie wird bloß ein Hilfsmittel für Dilettanten seyn und vielleicht aus dieser Rücksicht Abgang finden." 21 LASSBERG klagte Ende 1 8 2 4 , HAGEN habe „das Nibelungen Lied in einer neuen Übersetzung verhunzt"22, und der Rezensent der Halleschen Allgemeinen Literatur-Zeitung wies 1825 die Ausgabe als vom Ansatz her verfehlt zurück: „Eben, weil wir erkennen, was uns Hr. v. d. H. schon gegeben hat und noch geben kann, genügen uns solche Leistungen schlecht, die dem Studium der altdeutschen Literatur eben so nutzlos oder gar nachtheilig seyn müssen, wie dem gelehrten Rufe ihres Vfs." 23 Dem Eindruck dieser doppelt negativen Resonanz vermochte sich auch HAGEN nicht zu entziehen. Er gestand zwar an keiner Stelle den Fehlschlag seines
16 17
18
Rez. NL1824 (W32.1), Sp.556. NL1824, S. VII; vgl. auch HAGEN an die Brüder GRIMM, 1.8.1819 (B206): „Die zweite Ausgabe der erneuten Nibel. mit Erklärungen liegt schon Jahr und Tag in Frankfurt und wird ja wohl bald ans Licht kommen. Die Zeit hat sie verlangt, und ich habe sie gern gegeben [...]." HINSBERG ( L 1 8 1 ) .
W ZEUNE (L492). 20
BÜSCHING ( L 5 3 ) .
21
SCHOOF ( L 4 0 8 ) , S. 4 8 ( W . GRIMM a n HAGEN, 1 3 . 1 1 . 1 8 1 9 [ B 2 0 8 ] ) .
22
PFEIFFER ( L 3 4 9 ) , S . 4 9 (LASSBERG a n UHLAND, 9 . 1 2 . 1 8 2 4 ) .
23
Rez. NL 1824 (W32.1), Sp.558.
Der Nibelungen Lied (1842) und Die Klage (1852)
101
Unternehmens ein, verzichtete jedoch in der Folgezeit darauf, noch einmal mit der „Erneuung" eines mittelhochdeutschen Textes an die Öffentlichkeit zu treten. Anhang:
Verlagskontrakt über Der Nibelungen Lied (1824) (Biblioteka Uniwersytecka Wroclaw)
Contract, Zwischen Herrn Profeßor von der Hagen aus Breslau als Verfaßer und dem Buchhändler Herrn Fran% Varrentrapp aus Frankfurt a/M als Verleger ist folgender Vertrag geschloßen worden: 1./ Der Herr Verfaßer überläßt die neue Bearbeitung der Uebersetzung des Niebelungen Lieds, mit Weglassung der bey der frühern Ausgabe befindlichen : Die Klage — Anhang — Gloßar Herrn Franz Varrentrapp zum Verlage und alleinigen Eigenthum. 2./ Verspricht derselbe, dieses Werk weder im Ganzen noch Einzeln, weder erweitert noch Auszugsweise abfaßen, drucken oder in's Publikum ausgehen zu laßen, vielmehr alles beyzutragen, der Verlagshandlung rechtmäßiges Eigenthum zu schützen, und den Debit nach Möglichkeit zu befördern. 3./ Das vollständige Manuscript die Leipziger Ostermeße 1818 zu liefern, so daß es 1818 Herbstmeße gedruckt erscheinet. 4./ Der Druck geschieht in der Form der frühern Ausgabe mit möglichst ähnlichen Lettern. 5./ Nach vollendetem Druck erhält der Herr Verfasser von der Verlagshandlung Eilf Gulden im Vier und Zwanzig Gulden Fuß Honorar p. Bogen. Getreu und aufrichtig ist dieser Kontrakt doppelt ausgefertigt unterschrieben und besiegelt, jedem Theil ein gleichlautendes Exemplar zugestellt worden. Frankfurt a/M d. 5 Aug[ust] 1817. Franz Varrentrapp Friedrich Heinrich von der Hagen
2.7
Der Nibelungen Lied in der alten vollendeten Gestalt (1842) und Die Klage (1852)
Nach Erscheinen der beiden Nibelungen-Ausgaben von 1820 unterbrach HAGEN — vielleicht durch LACHMANNS Rezension irritiert — seine textkritischen Bemühungen um das Werk und beschränkte sich darauf, in einer
102
Nibelungen-Forschungen
Reihe von Zeitschriftenaufsätzen die wichtigsten neuentdeckten oder noch unveröffentlichten Textzeugen vorzustellen: 1836: Nibelungen. Uebersieht der seit 1820 bekannt gewordenen NibelungenHandschriften und Bruchstücke, und Abdruck der letzten} Nibelungen. Goethe und die Nibelungen, die Nibelungen-Handschrift der Königlichen Bibliothek in Berlin, und Kaiser Maximilians Urkunde über die Wiener Handschrift.2 Nibelungen. Docens Bruchstücke.3 1839: Nibelungen. Neunzehnte Handschrift,4 1841: Nibelungen.5 Erst als gegen Ende der 30er Jahre — zur vierten Säkularfeier der Erfindung des Buchdrucks (1840) — von verschiedenen Seiten „Jubiläums"-Ausgaben des Nibelungenlieds angekündigt wurden, mochte auch H A G E N nicht abseits stehen. Vor allem als er erfuhr, daß L A C H M A N N eine (nach seiner Liedertheorie eingerichtete) Nibelungen-Edition erscheinen lassen wollte, fühlte er sich zu einer Replik herausgefordert. Es genügte ihm hierbei nicht, auf das Angebot seines Verlegers MAX einzugehen und die Edition von 1820 in Neuauflage vorzulegen; 6 er suchte vielmehr — in direkter Konfrontation mit L A C H M A N N — dessen von Α ausgehender Edition eine ebenfalls auf der Hohenems-Münchner Handschrift gründende Nibelungen-Ausgabe entgegenzusetzen, die das Lied als unteilbare Einheit darstellen und ihren Anspruch auf Gültigkeit durch repräsentative Aufmachung und aufwendige Illustration unterstreichen sollte: „Ich wünsche vor allen auch der hier [...] prächtig gedr. Verstümmelung der Nib. in 20 Nib. Lieder, — ein v o l l s t ä n d i g e s Prachtwerk entgegenzustellen."7 Das Vorhaben scheiterte am Desinteresse der Verleger, und H A G E N mußte sich damit bescheiden, zu der 1840/41 bei Friedrich Wilhelm G U B I T Z in Berlin verlegten — von Eduard H O L B E I N illustrierten — NibelungenÜbersetzung Heinrich BETAS 8 nachträglich die mittelhochdeutsche Textausgabe beizusteuern. Da B E T A seiner Übertragung die LASSBERGSCHE Edition der Donaueschinger Handschrift9 zugrunde gelegt hatte, war 1 2 3 4 5 6
Nibelungen. Uebersicht (W195): (Teil-)Abdruck von g. Nibelungen. Goethe (W196): zu I. Nibelungen. Docens Bruchstücke (W199): zu H. Nibelungen. 19. Handschrift (W218): zu K. Nibelungen (W233): zu h. Vgl. NL1842, S . I V - V I .
7
HAGEN an J . G . COTTA, 7 . 8 . 1 8 4 0 ( B 9 6 ) .
8
HAGEN steuerte zu BETAS Ü b e r s e t z u n g d a s V o r w o r t bei ( W 2 2 6 ) .
9
LASSBERG ( L 2 6 4 ) B d . 4 ( P r i v a t d r u c k 1825; B u c h h a n d e l s a u s g a b e 1846).
Der Nibelungen Lied (1842) und Die Klage (1852)
103
auch er gezwungen, C als Leithandschrift zu wählen — und seine gegen 10 LACHMANN gerichteten Ambitionen zurückzustellen. Der Wortlaut von C war HAGEN aus den Teilabdrucken BODMERS ( 1 7 5 7 ) , MYLLERS ( 1 7 8 2 ) und Jacob GRIMMS ( 1 8 1 5 / 1 6 ) , der Edition LASSBERGS (1821) und der 1817 auf Schloß Heiligenberg genommenen Kollation der Handschrift bekannt;11 außerdem standen ihm für die Textherstellung die ganz oder teilweise der „liet"-Gruppe angehörenden Handschriften und Fragmente F, E, G, H, D, d und I in Original oder Kopie zur Verfügung: Zur Vergleichung dienten hiebei zunächst die freilich nur in Bruchstücken zu Karlsburg, Offenburg und Luzern vorhandenen Pergament-Abschriften eben dieser, also früh und weit verbreiteten Ueberarbeitung; dann, von den übrigen Handschriften, die im Einzelnen ihr näherstehenden Bruchstücke Docens, die Münchener (nicht Hohen-Ems-Münchener), Wiener und Berliner Handschriften, welche vornämlich auch zur Ausfüllung der Lücke (Z. 5813-96. 5998-6379. 6481-583) angewandt sind. Vor allen aber ist die eigentliche Grundlage dieser Ausgabe, die Laßbergische Handschrift, so viel als möglich, in ihrer Wahrheit herzustellen gestrebt. 12 HAGENS erklärtes Ziel war kein „bloßer Wiederabdruck" von C, sondern „eine, dem gegenwärtigen Stande der Altdeutschen Sprachwissenschaft gemäß, nach Vermögen, mit allen [...] zu Gebote stehenden Mitteln unternommene wirkliche, berichtigte und verglichene Ausgabe"13. Die Eingriffe in den Text der Leithandschrift erweisen sich freilich — wie bereits der Vergleich der ersten Strophen der Edition mit der entsprechenden Passage in C zeigt — als überaus zurückhaltend:14
Uns ist in alten macren Wunders vil geseit [NL1842] von heleden lobebaeren, von grozer arebeit, von vröude und hoch geziten, von weinen unde klagen: von kuener rekken striten muget ir nu wunder hccren sagen. UNS IST In alten maeren wnd's vil geseit [Hs. C] von heleden lobebaeren vö grozer arebeit von frevde vfi hochgeciten von weinen νή klagen von kvner recken striten mvget ir nv wnd s hören sagen 5 Ez wuohs in Buregonden ein vil edel magedin, daz in allen landen niht schoeners mohte sin, 10
Die Edition erschien zwar erst 1842, doch konnte anläßlich der Jubiläumsfeier (1840) „ein Heft derselben zur Ausstellung" kommen (NL1842, S. VI). r 11 LASSBERG hatte ihm außerdem 1818 ein Faksimile von Blatt 57 der Handschrift zugeschickt, das H A G E N in einem Nachstich veröffentlichte (Beilage zu W133). 12 NL1842, S.VI. » Ebd. 14 Zur optischen Erleichterung werden die Verse und Strophen von C (gegen die Handschrift) abgesetzt. Die von H A G E N eingeführte Kennzeichnung der Komposita durch halben Wortabstand wird nicht übernommen.
104
Nibelungen-Forschungen
Kriemhilt geheizen,
diu wart ein schcene wip:
dar umbe muosen degene
vil Verliesen den lip.
Ez whs in Bvr'gonden daz in allen landen
ein vil edel magedin niht schon's mohte sin
Chriemhilt geheizen
div wart ein schone wip
dar v m b e mvsin degene Ir pflagen dri künige
vil v'liesen den lip
edel unde rieh,
10 G u n t h e r unde Gernot,
die rekken lobelich,
und Giselher der junge,
ein wsetlicher degen:
diu v r o u w e was ir swester, Ir pflagen dri kunige
die helde heten s' in ir pflegen. edel vft rieh
G u n t h e r ufi G e r n o t
die rechen lobelich
ν ή Giselher d ! iunge
ein wetlich 5 degen
div f r o w e was ir swester Ein richiu küniginne
die helde hetens inir pflegen
vrou Uote ir muoter hiez,
ir vater der hiez Dankrat, 15 sit nach sime lebene,
der in diu erbe liez
ein ellens richer man,
der ouch in siner jugende
grozer eren vil gewan.
Ein richiv chuniginne
f r ö Vte ir mvt s hiez
ir vat s d s hiez Dancrät
d s in div erbe liez
sit nach sime lebene
ein ellens rieh* man
d ! oveh insiner iugende Die herren waren milte,
grozer eren vil gewan v o n arde h ö h ' erborn,
mit kraft unmazen kuene, da zen Burgonden
20 si v r u m t e n starkiu w u n d e r Die h'ren waren milte
sit in Ezzelen lant. v o n arde h ö h erborn
mit kraft v n mazen chvne da zen Bvrgonden
die rekken uz erkorn;
so was ir lant genant:
die rechen vz erchorn
so was ir lant genant
si frvmten starchiv wnder
sit in Etzelen lant
HAGENS Aufmerksamkeit war zunächst auf die Systematisierung der Orthographie gerichtet. Anders als LASSBERG, der in seinem Abdruck die graphischen Eigenheiten des Donaueschinger Kodex so weit wie möglich zu bewahren suchte, war H A G E N bestrebt, dem Leser durch Vereinfachungen und Vereinheitlichungen des Schriftbildes entgegenzukommen, die von der Korrektur offensichtlicher Schreiberfehler über die Auflösung von Abbreviaturen bis zur folgerechten Gestaltung der Rechtschreibung15 reichen; die Lektüre wurde zudem durch die Einführung moderner Interpunktion erleichtert.
15
Abweichend v o n der gängigen „normalisierten" Orthographie wird auf die Kennzeichn u n g der Langvokale verzichtet, erscheinen umgelautetes α als e (statt a) und umgelautetes uo als ue (statt üe), werden cjck grundsätzlich als k\kk
wiedergegeben.
Der Nibelungen Lied (1842) und Die Klage (1852)
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Wie schon bei den voraufgegangenen Nibelungen-Editionen beschränkte sich HAGEN auch 1842 nicht auf den Abdruck des in einer Handschrift oder Handschriftengruppe überlieferten Textes, sondern fügte — durch Sternchen gekennzeichnet — sämtliche in den übrigen Handschriften enthaltenden Plus-Strophen16 an entsprechender Stelle ein; zudem wurden die in C durch Blattverlust bedingten Textlücken (XXIV, 28,1-48,4; XXIV, 74,2-XXVI, 6,3; XXVI, 32,1-57,3) anhand der Parallelüberlieferung geschlossen: Der Versumfang der Ausgabe von 1842 entspricht so dem der Edition von 1820.17 Insgesamt bietet die neue Ausgabe den mittelhochdeutschen Text in einer leicht zugänglichen (und im großen und ganzen verläßlichen) Fassung. Weitergehenden Ansprüchen wird die Edition freilich nicht gerecht. Vor allem mangelt es ihr durch Verzicht auf die Bekanntgabe der Editionsprinzipien wie der Varianten — beides sollte in einem (nie tealisierten) Supplementheft erfolgen —18 an der von einer philologisch korrekten Ausgabe zu erwartenden Transparenz. Die zeitgenössische Kritik überging das (optisch gefallige, in seiner Textdarbietung unverbindliche) Werk mit Schweigen. Ein buchhändlerischer Erfolg scheint ihm — neben LACHMANNS Edition — nicht beschieden gewesen zu sein. Jedenfalls verzichtete HAGEN zunächst auf die Publikation des 1842 angekündigten19 Fortsetzungsbandes mit dem Abdruck der Klage C und beschränkte sich in den folgenden Jahren wieder darauf, einzelne Nibelungen-Handschriften vorzustellen: 1843: Nibelungen. Ein und zwanzigste Handschrift,20 Nochmals Nibelungen. Würzburger 1844: Nibelungen. HohenEms-Münchener 1846: Nibelungen. St. Galler
Bruchstücke.21 Handschrift.22
Handschrift,23
1848: Nibelungen. Wien-Ambraser
Handschrift24
1852: Nibelungen. Zwei und zwanzigste
Handschrift,25
VI, 9; VIII, 38; X, 21; XIV, 12; XV, 11,40; XVII, 52f.,59; XXVI, 69; XXXI, 40; XXXIII, 62; XXXIV, 7 , 4 - 8 , 3 ; XXXVI, 67; XXXVIII, 88. 17 Vgl. NL1842, S.VIII. 18 Vgl. ebd. » Vgl. ebd. 20 Nibelungen. 21. Handschrift (W241): zu M. 21 Nochmals Nibelungen (W246): zu Ni. 22 Nibelungen. HohenEms-Münchner Handschrift (W248): zu A. 23 Nibelungen. St. Galler Handschrift (W257): zu B. 24 Nibelungen. Wien-Ambraser Handschrift (W265): zu d. 25 Nibelungen. 22. Handschrift (W276): zu O. 16
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Nibelungen-Forschungen
Erst 1852 — zehn Jahre nach Erscheinen der Nibelungen-Edition — konnte der zweite Band des Werks auf den Markt gebracht werden: Die Klage. Schlußgesang des Nibelungenliedes in der alten vollendeten Gestalt. Der (von HAGEN seit 1810 nicht mehr betreute) Text der Klage ist nach denselben Prinzipien gestaltet wie die Nibelungen-Ausgabe von 1842: Wiederum werden weder die Editionsgrundsätze noch die Varianten mitgeteilt, wiederum beschränkt sich die Texteinrichtung vorwiegend auf die Regelung der Orthographie, die Verbesserung von Schreibfehlern und die Einführung moderner Interpunktion.26 Hohen textkritischen Ansprüchen vermögen so beide Ausgaben nicht zu genügen. Sie wollen jedoch auch nicht an zu strengen Maßstäben gemessen werden: Es sind Jubiläumsdrucke, Gelegenheitsarbeiten, die ihren Reiz vornehmlich aus dem Zusammenspiel von Text, graphischer Gestaltung und Illustration beziehen und sich weniger an die Fachwelt als an das breitere gebildete Publikum wenden, das im Rahmen einer repräsentativen bibliophilen Ausgabe nur einen verläßlichen (nicht unbedingt überprüfbaren) und in sich stimmigen Text erwartet. Zur Erleichterung der Lektüre stellte HAGEN — gleichsam als Pendant zu BETAS Nibelungen-Übersetzung von 1840/41 — seiner Edition der Klage eine mit demselben Buchschmuck versehene Übertragung des Werks an die Seite (Der Nibelungen Klage. Zum ersten Male in neuhochdeutschen Reimen): Der Nibelungen Klage (Übertragung) Hier hebt sich an die Mähre, die gut zu singen wäre, Wenn nicht Jedermann auch finge drum zu klagen an, Denn wer Alles recht vernimmt, ist sicher trauervoll gestimmt. Verständ' ich doch die Kunst, daß Jedermann in Lieb' und Gunst Der Nibelungen Klagen sich ließe singen und sagen, Sie ist von alten Stunden als treu und wahr befunden; Man lasse, was wir sagen, sich ohne Haß behagen. Was von der Mähr' geblieben, ein Dichter hat's geschrieben In Büchern, wodurch zugleich bekannt, 26
Um das Druckbild dem der Nibelungen-Ausgabe von 1842 anzugleichen, werden je zwei Verse der Klage zu einer Langzeile verbunden.
Der Nibelungen Lied (1842) und Die Klage (1852)
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wie man sich in Burgundenland Betragen hat mit Ehren, wie's künden früh're Mähren.
Die Klage (Edition) Hie hebt sich ein macre, daz ist vil redebaere und ouch vil guot ze sagene, niwan daz ez ze klagene den liuten allen so gezimt; swer ez z'einem mal vernimt, der muoz ez jämmerliche klagen und immer jamer da von sagen. Het' ich nu die sinne, daz si'z gar ze minne heten, die ez ervunden; ez ist von alten stunden vür die warheit her gesaget: ob ez iemen missehaget, der sol ez lazen ane haz, und hcere die rede vür baz. Dizze vil alte maere het ein schribxre wilen an ein buoch geschriben, Latine, desn' ist ez niht beliben, ez ensi ouch da von noch bekant, wie die von Burgonden lant mit vröude in ir geziten in manigen landen witen ze grozem prise waren komen, als ir vil dikke habt vernomen, daz si vil eren mohten walten, heten si'z sit behalten. Iu ist nach sage wol bekant, Burgonden hiez ir lant, da von si herren hiezen; die in diu erbe liezen, die sol ich iu nennen, daz ir si muget erkennen.
Wie bereits aus dem Vergleich der Anfangsverse erhellt, bietet HAGEN die Klage weder in „erneuter" Form (wie 1807) noch in einer textnahen Übersetzung. Er geht vielmehr überaus großzügig mit dem Wortlaut der mittelhochdeutschen Vorlage um: Nicht nur einzelne Wörter, ganze Verse und Versgruppen werden in der Übertragung ausgelassen oder ersetzt; in kaum einer Zeile lassen sich mittelhochdeutscher und neuhochdeutscher
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Nibelungen-Forschungen
Text nebeneinander legen. 27 Die Bearbeitung ist so frei, daß eher von einer „selbständigen Neudichtung" 28 als von einer Übersetzung gesprochen werden kann. Am Ende seiner lebenslangen Bemühungen um die Popularisierung der altdeutschen Nibelungendichtung lenkt HAGEN hier in die Tradition BODMERS (Die Rache der Schwester, 1767) ein und sucht die inhaltlichen Längen und stilistischen Schwächen der mittelalterlichen Vorlage durch eine (dem Geschmack der Zeit angepaßte) straffende und glättende Bearbeitung auszugleichen. Als eine späte grundsätzliche Absage an die Methode der „Erneuung" darf die Bearbeitung der Klage von 1852 freilich nicht gewertet werden. Das ohne jeden Kommentar ausgegebene Werk erhebt keinen Anspruch auf prinzipielle Bedeutung, es ist nichts anderes als „die Arbeit eines Liebhabers in seinen Mußestunden"29 und steht jenseits aller Kritik. HAGEN tat sicherlich gut daran, seine Nibelungen-Forschungen und -Publikationen in der Folgezeit wieder auf die Bekanntmachung und Auswertung einzelner Handschriften zu beschränken. Hierfür bot sich ihm in den Monatsberichten der Akademie der Wissenschaften ein angemessenes Forum: 1853 veröffentlichte er die Fragmente N2 und N3 (Nibelungen. Drei und zwanzigste Handschrift30)·, 1854 beschloß er seine nun beinahe fünfzigjährige Publikationstätigkeit zum Nibelungenlied mit einer umfassenden Abhandlung über den (heute in Cologny bei Genf aufbewahrten) Kodex a: Nibelungen. Wallersteiner Handschrift^. Das eigentliche Ziel seiner letzten Jahre, neben den Fassungen Β (St. Gallen) und C (HohenemsLASSBERG) auch „den ä l t e s t e n e i n f a c h s t e n Text, wie er in der Hohen e m s - M ü n c h e n e r und einigen zunächst verwandten Handschriften enthalten ist" 32 , herauszugeben, um so das Gedicht in den drei wichtigsten Versionen editorisch betreut zu haben, sollte HAGEN nicht mehr erreichen. Die Handschrift Α wurde ihm zwar 1853 aus München zugeschickt, und HAGEN versäumte es nicht, in einem Vortrag vor der Akademie der Wissenschaften öffentlich auf die „bevorstehende neue Ausgabe der Nibelungen-Not" 33 hinzuweisen, doch fand der über Siebzigjährige nicht mehr Muße und Kraft, die geplante Edition zum Abschluß zu bringen. Sein Wunsch, „das wundervolle alte Heldenlied in seinen drei Hauptgestalten unabhängig von ein ander darzustellen"34, blieb unerfüllt. verzichtete daher auch beim Abdruck des nhd. Textes auf die Verszählung. (L10), S . 8 6 . Ebd., S. 87. Nibelungen. 23. Handschrift (W283). Nibelungen. Wallenteiner Handschrift (W285). HAGEN an J. G. COTTA, 21.5.1840 (B 94). Nibelungen. Einzige Handschrift (W282), S.335. HAGEN an J. G. COTTA, 21.5.1840 (B94).
27 HAGEN
28 ASSMANN 29 30 31 32 33 34
Studien zu Mythos und Geschichte der Nibelungen
2.8
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Studien zu Mythos und Geschichte der Nibelungen
HAGENS Nibelungen-Forschungen erschöpften sich nicht darin, das mittelhochdeutsche Gedicht in immer neuen Editionen und Bearbeitungen an die Öffentlichkeit zu geben. Schon früh trat neben die Arbeit am Text ein intensives Studium der historischen und mythischen Hintergründe des Werks. Die sagengeschichtlichen Forschungen lassen sich bis in das Jahr 1805 zurückverfolgen. Damals wurde HAGEN durch Johannes von MÜLLER, der in seiner Rezension des MYLLERschen Nibelungenlieds 1783 erstmals die historischen Grundlagen des Gedichts offengelegt hatte,1 ermuntert, auf dem dort vorgezeichneten Weg weiterzugehen und seiner „Erneuung" des Nibelungenlieds eine „historisch-kritische Untersuchung über den Mythus u. die Fabel des Gedichts, von ihrem Ursprünge bis zu den entferntesten u. mannichfaltigsten Ausbildungen; so wie über die ihr zum Grunde liegende wahrhafte Geschichte"2 voranzustellen. Als Muster sollte (neben der Rezension von 1783) MÜLLERS geschichtlicher Abriß in der Einleitung zu HERDERS Cid dienen;3 in einem (undatierten) Brief des Jahres 1806 gab MÜLLER zudem — für den historischen Teil der Untersuchung — die zentralen Gesichtspunkte vor: Ich denke, Sie werden zuerst die Zeiten Gontahars und Etzels, wie die Völker, Länder und Sitten Europens dazumal waren, dann was über den Ursprung und die Gestalt des Werks muthmaßlich ist, hierauf die Ueberarbeitung desselben und wie die neuere Heldenzeit aus dem lOten Jahrhundert mit jener alten zusammengeworfen ward, was also aus der einen in die andere gehört, und wie national, wie groß aber auch, wie erhebend, hinreißend das Gedichte ist, beschreiben; mit den großen Epopöen anderer Völker dasselbe parallelisiren, und so die Erwartung und Lesbegier recht erwecken, auf daß man bereit sey, den ganzen Eindruck zu fassen. Gleichwie in den Perserkriegen die Τρωικά sehr aufgefrischt und Graecia Barbariae lento collisa duello das Factum wurde, womit Herodot alle Historie anfangen zu sollen geglaubt, so dürfte wohl auch die große Noth im zehnten Jahrhundert vor den fürchterlichen Ungarn, welche man für Hunnen hielt, Anlaß gegeben haben, den Mythos der Nibelungen, die Rache; die Klage Chriemhildens, wieder hervorzuziehen, und mit hochverehrten Namen der spätem Zeit in Verbindung zu bringen. 4
Die Arbeit scheint in der ersten Zeit recht schnell vorangegangen zu sein. HAGEN konzentrierte sich zunächst auf die Erforschung der mit der Gestalt Siegfrieds verbundenen (im Nibelungenlied vielfach nur kurz anklingenden oder als bekannt vorausgesetzten) Sagenelemente und teilte ESCHENBURG bereits am 28.3.1806 mit, daß er die „Geschichte Siegfrieds 1
Vgl. J.V.MÜLLER (L320) Bd.26, S . 3 6 - 4 0 .
2
DZIATZKO ( L 8 1 ) , S. 7 (HAGEN a n HEYNE, 2 8 . 1 1 . 1 8 0 5 [B222]).
3
Vgl. J.V.MÜLLER (L320) Bd. 25, S. 1 0 1 - 1 5 1 ; hierzu HAGEN an OBERLIN, 20.4.1806 (B 405). J.V.MÜLLER (L320) Bd.39, S. 123 (MÜLLER an HAGEN, o.O. u. D. [B349]).
4
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Nibelungen-Forschungen
[...] schon ziemlich im Reinen" 5 habe; auch die Untersuchungen zum allgemeinen historischen Hintergrund der Dichtung nahmen einen zügigen Verlauf und schienen im Frühjahr 1806 „der Beendigung bald nahe gebracht" 6 . In seinem Schreiben an SANDER gab HAGEN am 3.6.1806 detaillierte Auskunft über die Gesamtanlage der geplanten sagenkundlichen Erläuterungen: In meiner historisch: kritischen Einleitung, zu der jezt das meiste vorgearbeitet — verfolge ich zuerst den Mythus von den Nibelungen und die damit zusammenhangenden, von dem ältesten Nord: Ursprung in der r h y t h m i s c h e n Edda — bis auf die neueste Zeit; — dabei: volständige literarische Notiz über alles, besonders die Nibel: — kurz, die Geschichte des Gedichts a l s G e d i c h t ; im 2* Teil untersuche ich (besonders mit Müllers Unterstützung) die darin zum Grunde liegende w a h r e G e s c h i c h t e , so weit sie auszumachen — ihre mannichfache Vermischung und Verschmelzung aus verschiedenen Zeitaltern p: — endlich zum Schlus wenige Worte zur ästhetischen Charakteristik des alten Werks wie es nun einmal durch alle jene Umstände entstanden und fertig ist. 7
In der Folgezeit verzögerte sich jedoch der Fortgang der Arbeit erheblich. HAGEN hielt zwar (öffentlich) weiterhin daran fest, daß für die „historisch-kritische" Untersuchung „das Einzelne vorgearbeitet" 8 und das Ganze nur noch „zu komponiren und auszugestalten" 9 sei, sah sich jedoch immer weniger in der Lage, die Studie rechtzeitig abzuschließen. Der fehlende Zugang zu wichtigen Quellen wie dem ungedruckten Teil der Älteren Edda, 10 die unumgänglich erscheinende Ausweitung der Untersuchung auf die Texte des Heldenbuchs und nicht zuletzt wohl auch die mangelnde Unterstützung durch MÜLLER ließen HAGEN in seinem Elan erlahmen; der anfangliche Optimismus wich einer eher skeptischen Einschätzung: „Die Einleitung ist ein schweres Stück — und ich zaudere mit einer gewißen ehrfürchtigen Scheu — nicht vor dem was ich mache, sondern vor dem Ideal deßelben: doch ich hoffe es soll noch alles gut werden." 11 Vorerst sah es freilich nicht so aus: Nachdem es HAGEN nicht gelingen wollte, seine Untersuchungen in der gesetzten Zeit zum Abschluß zu bringen, mußte die Nibelungen-„Erneuung" im Herbst 1807 ohne die angekündigte „historisch-kritische" Einleitung erscheinen. Die Erläuterungen zu Mythos und Geschichte des Nibelungenlieds — inzwischen „fast so dick, als die Nibelungen selbst" 12 — sollten fortan separat, als „Prolego5 6 7
HAGEN an ESCHENBURG, 28.3.1806 (B157). HAGEN an SANDER, 3.6.1806 (B453) - Anhang 2.251. Ebd.
8
HAGEN a n HEYNE, 2 8 . 8 . 1 8 0 6 ( B 2 2 5 ) .
9
HAGEN an REIMER, 8 . 8 . O . J . [1806] (B428) - Anhang 2.252.
10
V g l . HAGEN a n NYERUP, 1 0 . 7 . 1 8 0 9 ( B 3 8 1 ) .
11
HAGEN an J . v. MÜLLER, o. O. U. D. [1807] (B353) (StB Schaffhausen: J. v. M. Fase. 235/ 118).
12
HAGEN a n J . v . MÜLLER, 6 . 1 . 1 8 0 8 ( B 3 5 8 ) .
Studien zu Mythos und Geschichte der Nibelungen
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mena zu einem vollständigen Deutschen .Heldenbuche'"13 veröffentlicht werden. Doch auch dieses — 1810 in der Vorrede zu Der Nibelungen Lied in der Ursprache offiziell angezeigte —14 Projekt ließ sich nicht realisieren. Es blieb schließlich bei einer Teilpublikation: Im Jahre 1812 veröffentlichte HAGEN das „Hauptstück der vorlängst [...] versprochenen Einleitung zu den Nibelungen" 15 im Vorwort zu seiner Ausgabe der Lieder der älteren oder Sämundiscben Edda. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen hier das Nibelungenlied und sein motivischer Umkreis in der altdeutschen, mittellateinischen und altnordischen Literatur. Vor allem die unterschiedliche Ausprägung der Genealogie16 und Jugendgeschichte 17 Siegfrieds, die abweichende Darstellung der zentralen Frauengestalten Brunhild und Chriemhild18 sowie die differierende Bedeutung des Horts19 und Namens20 der Nibelungen ließen HAGEN zu einer Trennung zwischen den Nibelungendichtungen nordischer und deutscher Tradition gelangen: Zu den ersten gehörten für ihn die Ältere und Jüngere Edda, die Volsunga-, RagnarLodbrok- und Nornagest-Saga sowie die Elskovs-Viser,21 zu den letzten neben dem Nibelungenlied und den einschlägigen Texten des Heldenbuchs auch der mittellateinische Waltharius, die dänischen Kämpe- Viser22 und vor allem die „aus einem verlorenen Altdeutschen Heldenbuche"23 übertragene (allerdings mit nordischen Sagenelementen durchsetzte) Wilkina- oder Niflunga-Saga. Die trotz aller motivischen und gestalterischen Divergenzen bei den Nibelungendichtungen beider Traditionsstränge durchscheinenden verwandten Grundstrukturen ließen HAGEN auf einen gemeinsamen Ursprung schließen. Dieser wird freilich — im Gegensatz zu MÜLLERS Vorgaben — nicht in der Historie gesucht (die hierzu notwendige „besondere, tiefe und weitgreifende Untersuchung" 24 stehe noch aus), sondern in einem nordisch-deutschen Urmythos, dessen Entstehung — hier schließt 13
HECKER ( L 1 6 9 ) , S . 1 0 8 (HAGEN a n GOETHE, 9 . 1 0 . 1 8 0 7 [ B 1 7 9 ] ) ; v g l . HAGEN a n ESCHENBURG, 2 6 . 9 . 1 8 0 7 ( B 1 6 2 ) ; HAGEN a n F. SCHLEGEL, 2 5 . 9 . 1 8 0 7 ( B 4 6 2 ) ; HAGEN a n BÖTTIGER, 4 . 1 0 . 1 8 0 7 ( B 5 7 ) ; HAGEN an HEYNE, 6 . 1 0 . 1 8 0 7 ( B 2 3 0 ) .
14 15
16 17 18 19 20 21 22 23 24
Vgl. NL1810, S.VII/VIII. Lieder der älteren Edda (W10), Vorrede, S.IV/V; vgl. HAGEN an die Brüder GRIMM, 3. 3.1812 (B205): „Die Einleitung zu den Eddaisch. Liedern ist ein Vorläufer zu der für die Nibel. und Heldenb. versprochenen." Vgl. Lieder der älteren Edda (W10), Einleitung, S. X X V I I - X X X I X . Vgl. ebd., S. X X X I X —LIII. Vgl. ebd., S. LIII—LXXI. Vgl. ebd., S. LXXI—LXXVIII. Vgl. ebd. S. u. Kap. 5.1. Vgl. Lieder der älteren Edda (W 10), Einleitung, S. IX/X. Ebd., S. XI. Ebd., S. XVI.
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Nibelungen-Forschungen
sich H A G E N G Ö R R E S ' mythengeschichtlichen Spekulationen 25 an — im „Osten" vermutet wird: „Die Grundzüge, vielleicht auch einzele Namen dieses unsterblichen, in sich immer neuen und wahren Mythus, sind gewiß uralt, dem Einen großen Volke der Norden und Deutschen gemeinsam, und mit ihnen wohl schon aus dem Osten eingewandert." 26 Der Nibelungen-Mythos habe im Laufe seiner jahrtausendelangen Tradition die Konturen immer wieder verändert, jedoch stets die zugrunde liegende Struktur bewahrt: Im Fortfluß der Zeiten, bei der wechselnden Trennung und Vermischung der Völkerschaften, gestaltete sich die unerschöpfliche alte Fabel natürlich nach Ort und Zeit mannichfaltig um, knüpfte sich anderen an, verschmolz damit, oder wurde frei fortgedichtet, und also vielfach gestaltet, vertauschte sie sich auch wohl wieder hin und her, oder mischte und versetzte sich doch gegenseitig. Besonders bei und an ähnlichen großen Thaten, Geschichten und Namen erneute sich die unverwüstliche alte Heldenfabel. Solches geschah auch in der heroischen Zeit der Völkerwanderung. Da nun in dieser, deren eigentlicher Schauplatz Deutschland war, die Deutsche Dichtung sichtbar beruhet, und manche Namen und ähnliche Züge sich in der prosaischen Geschichte derselben wiederfinden [...]: so scheint ein gewisser Grundstoff, der zu jener Zeit darin verwachsen, wohl ursprünglich Deutsch.27
Aus Deutschland seien später die (um die historischen Elemente der Völkerwanderungszeit bereicherten) Sagen in den nordischen Raum gelangt 28 und hätten von dort aus — wie einzelne Namensformen 29 und Genealogien 30 erkennen ließen — wiederum auf die deutsche Tradition eingewirkt. 31 Hier habe sodann (anders als im Norden) der NibelungenMythos sein germanisch-heidnisches Gepräge verloren und den für das um 1200 geschaffene Nibelungenlied charakteristischen „christlichen und ritterlichen Anstrich" 32 erhalten. In der nun erreichten endgültigen Form sei der Stoff ein letztes Mal in den Norden gelangt und habe dort Eingang in die um 1250 verfaßte Wilkina-Saga gefunden: Und wenn auch ein älterer Grund der Fabel ursprünglich Deutsch ist, so haben wir sie doch auf ähnliche Weise von dort zurückerhalten, wie die Norden später wieder die Deutsche Umbildung in der Wilkina- und Niflunga-Saga; welche wir uns nun in der abermaligen dortigen Veränderung und Vermischung mit der älteren Nordischen Darstel-
25 26 27 28 29 30 31
Vgl. hierzu KÖRNER (L230), S . 9 1 - 9 7 . Lieder der älteren Edda (W10), Einleitung, S. XVI. Ebd., S . X V I - X X . Vgl. ebd., S. X X - X X I I . Vgl. ebd., S. LXXXV—LXXXVII. Vgl. ebd., S. XXVI/XXVII. Vgl. ebd., S. X X I I I ; d a g e g e n LEITZMANN, ( L 2 7 1 ) Bd. 2, S. 782 u n d 796 (W.GRIMM an LACHMANN, 2 6 . 6 . 1 8 2 1 ) ; S. 818 (LACHMANN an W. GRIMM, 2 0 . 9 . 1 8 2 1 ) .
32
Lieder der älteren Edda (W10), Einleitung, S. XXIII.
Studien zu Mythos und Geschichte der Nibelungen
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lung wiederum zueignen können: so daß die Fabel wenigstens zum fünftenmale hin- und zurückgegeben wäre.33
Das um 1807 entwickelte, 1812 erstmals veröffentlichte mythengeschichtliche Modell wurde von HAGEN in der Folgezeit fort- und festgeschrieben. Die Einleitung zur Ausgabe des Nibelungenlieds von 1816 charakterisiert den Nibelungen-Mythos als „Deutsche Ur- und Stammsage", „die auf sich selber wurzelt, ruht und wächst". Zwar habe die „spätere Geschichte ihr auch mannichfaltig Namen und Gestalt gegeben", doch rage die Fabel in ihrer mythischen Struktur über die Historie hinaus und vermöge ihrerseits deren Verlauf zu beeinflussen: „Aber nicht minder umgekehrt, wirkt die Sage auf die Geschichte, nicht nur, daß sie deren Erzählung oft ihr bedeutsames Gepräge aufdrückt, sondern es begiebt und wiederholt sich auch wirklich wohl, was die Sage als längst vergangen weissagt."34 Seit dem Jahre 1818 findet sich in HAGENS mythengeschichtlichen Veröffentlichungen zum Nibelungenlied eine neue Komponente. Um 1815 war HAGEN erstmals mit Johann Arnold KANNES „tiefen mythologischen und etymologischen Untersuchungen"35 in Berührung gekommen. Im Juli 1816 hatte er in Nürnberg „den tiefsten Deuter der ersten Urkunden der Geschichte"36 persönlich kennengelernt und — von dessen theozentrischer Weltsicht geprägt — neue Impulse für seine sagenkundlichen Forschungen erhalten.37 Überzeugt von KANNES Lehre, daß „im Christlichen erst der Hauptschlüssel zur alten Welt gegeben und das lösende Wort aller Zungen wiedergeboren"38 sei, suchte er fortan in den unterschiedlich ausgebildeten abend- und morgenländischen Mythen die allen zugrunde liegende gemeinsame (auf den christlichen Erlösungsglauben hinzielende) Uroffenbarung zu ermitteln: „Ich bemerke hiebei ein für allemal, daß es zwei ganz verschiedene Aufgaben sind, die allgemeinen Ideen in den Mythen zu finden, und das, was sich bei jedem Volksstamm und in jeder Landschaft daran hängt und ihn verwandelnd zu ihrem Eigenthum macht, für die Geschichte daraus zu scheiden. Doch gehört beides nothwendig zusammen."39 Der umfassendste Versuch einer mythologischen Gesamtschau findet sich in HAGENS 1819 verfaßter Studie Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die
Ebd., S. XXVII. Μ NL1816, S. XI; vgl. NL1820, S. V; Nibelungen: Bedeutung (W22), S. 144. 35 Briefe {W20) Bd. 1, S.60. 36 Ebd., Bd. 3, S. 319 Anm. *. 37 Vgl. ebd., Bd. 1, S.60 f. 38 Ebd., Bd.3, S.319 Anm.*. 3» Ebd.; vgl. Nibelungen: Bedeutung (W22), S. 143 f. 33
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Nibelungen-Forschungen
Gegenwart und für immer.40 Ganz im Sinne K A N N E S und GÖRRES'41 glaubte H A G E N hier, den „mythischen Urgrund"42 der nordisch-deutschen Nibelungen-Sage in einem „unter mancherlei Namen und Gestalten überall vorkommende [n] Ur-Mythus von Leben, Tod und Wiedergeburt, von Schöpfung, Untergang und Wiederkehr der Zeiten und Dinge überhaupt"43 gefunden zu haben: „Aber es läßt sich darthun, daß auch bei uns S i e g f r i e d s Leben und Tod, die Klage, und der Nibelungen Noth, — welche sich in Roland und der R o n c e v a l l - S c h l a c h t , und in der letzten großen Schlacht des A r t u s gegen seinen Sohn M o r d r e k , noch mehr poetisirt, wiederholte, — nichts anders ist, als das Leben und der Tod Baldurs des Guten, der Untergang aller Götter in der G ö t t e r d ä m m e rung: wie der Götter- und Menschen-Krieg vor Troja Erneuung der Giganten- und Titanen-Schlacht, welche hier bedeutsam am Anfange der Mythologie steht, dagegen im Norden am Ende f...]."44 Charakteristisch für das methodische Vorgehen in der (mehr als hundertseitigen)45 mythengeschichtlichen Studie erscheinen H A G E N S Darlegungen zum Tode Siegfrieds, die einen Bogen vom altnordischen Baidur bis zum indischen Krischna spannen und in den „heidnischen" Mythen Vorausdeutungen auf die christliche Heilslehre aufzuspüren suchen: Unser vom Drachenblute, der besiegten Natur, bis auf eine verborgene Stelle unverwundbare Siegfried ist nämlich ganz der Nordische Göttersohn Baidur. Dieser, unverletzlich, weil alle Naturen seiner und der Götter Mutter geschworen haben, ihm nicht zu schaden, läßt zum Spiele nach sich hauen und schießen, wird aber von dem unscheinbaren, allein vergessenen M i s t e l r e i s (Misteltein), welches der böse Loki dem blinden Hödur in die Hand gibt, getödtet. Wie Baidur durch das Mistelreis, welches auf der Eiche und L i n d e wächst, getödtet, wird Siegfried durch das L i n d e n b l a t t verwundbar, und unter der L i n d e wird er mit seinem eigenen Speere durchstochen, welcher der L i n d w u r m und die Schlange selber ist, ihr Stachel, der Pfeil ihrer Giftzunge. [...] Eine Schlange ist auch der Pfeil, wodurch Achilleus (Eiche), als er sich mit Polixena vermählen wollte, von ihrem Bruder Paris in der allein verwundbaren Ferse getroffen wurde. Denn dem Krisna, Wischnu's achter Verkörperung, wird unter demselben Pappelbaume, wo seinem sterbenden Bruder Bala-Rama eine weiße Schlange aus dem Munde gegangen, ein tödtlicher Pfeil in die allein verwundbare glänzende Fußsohle geschossen: d.h. die S c h l a n g e s t i c h t ihn die Ferse. 40
Bereits 1818 hatte HAGEN in den Briefen in die Heimat (W20) eine Parallelisierung germanischer und mediterraner Mythen versucht und u. a. eine Brücke von den Kyklopen der griechischen Sage zum heimischen Berggeist Rübezahl geschlagen (vgl. W 20, Bd. 3,
41
Vgl. Nibelungen: Bedeutung (W 22), S.213. Ebd., S. 143. Ebd., S. 37 f. Ebd., S. 37. Vgl. ebd. vor allem S. 4 1 - 1 4 3 .
S. 321); hierzu kritisch die R e z e n s i o n e n W 2 0 . 3 (S. 336) u n d W 2 0 . 4 ( S p . 134). 42 43 44 45
Studien zu Mythos und Geschichte der Nibelungen
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In allen solchen Heldensagen erscheint diese Unverwundbarkeit, bis auf eine heimliche Stelle, mehr als Täuschung und Tücke der finsteren Natur oder Götter: es ist aber der faule Fleck alles Menschlichen, der böse Eigenwille, welchen der erste, als Gottes Ebenbild vollkommen geschaffene Mensch in sich selber erzeugte, der Ungehorsam gegen Gott an dem einzig verbotenen Baume der Erkenntniß, wodurch er sündig und sterblich ward. 46
Mit derart leichtfertigen und oberflächlichen Konstruktionen, die an anderer Stelle noch durch ähnlich gewagte etymologische47 und zahlenmystische48 Spekulationen ergänzt wurden, konnte HAGEN kaum auf die Zustimmung der Fachwelt rechnen. In den Rezensionsorganen der Zeit wurde das Werk mit Schweigen übergangen. Doch selbst aus HAGENS Freundeskreis ließ sich diesmal keine positive Stimme vernehmen. RAUMER stand den Ausführungen irritiert und ablehnend gegenüber: „Der Wein ist mir zu stark, ich werde darnach betrunken, meine Constitution behält dergleichen nicht bei sich [...]." 49 Und auch SOLGER, der sich schon vor Erscheinen der Studie über den zeitgenössischen „Hang nach Etymologie und speculirender Mythologie" 50 mokiert hatte,51 machte aus seiner Betroffenheit und Enttäuschung über das Niveau der HAGENschen Schrift kein Hehl:52 „Was ist denn nun am Ende der tiefe Inhalt [...]? Doch nichts weiter, als daß in allen Religionen am Ende die Hauptgedanken zu einer gewissen Einheit des göttlichen Wesens zusammenstreben, daß in allen die Rede ist vom Guten und Bösen, von den Banden des Körpers und der Freiheit der Seele und dgl. mehr. Alles dieses kann man aber eben so gut wissen, ohne sich im geringsten um die Geschichte der Religionen bekümmert zu haben."53 Auch die Brüder GRIMM, denen HAGEN das Buch als Geste der Versöhnung nach jahrelangen Querelen zugeschickt hatte,54 taten sich schwer, etwas Positives an dem Werk zu entdecken. Wilhelm sprach in seinem Dankschreiben zwar (ohne sich genauer festzulegen) von „glücklichen Zusammenstellungen und feinen Bemerkungen", wies jedoch die mythologische Gesamtschau zurück: 46 47 48
Ebd., S. 6 0 - 6 3 . Vgl. hierzu ASSMANN (L10), S.49f. Vgl. Nibelungen: Bedeutung (W22), S. 1 1 8 - 1 3 7 .
49
SOLGER ( L 4 3 7 ) B d . l , S . 7 3 6 (RAUMER an SOLGER, 1 0 . 9 . 1 8 1 9 ) .
50
E b d . , S . 6 4 6 (SOLGER an HAGEN, 1 6 . 6 . 1 8 1 8 [ B 4 9 2 ] ) .
51
„Ich sehe in der Methode vieler unserer berühmtesten heutigen Mythologen nichts anderes als eine völlige Unfähigkeit, den wahren Sinn ihrer Gegenstände zu begreifen. Sie wissen weder was Geschichte, noch was Religion, noch was Mythologie, noch was Philosophie ist, und wollen das alles in einander kneten" (ebd., S. 735 [SOLGER an RAUMER, 18.8.1819]); vgl. auch ebd., S. 7 5 3 - 7 5 8 (SOLGER an HAGEN, 19.9.1819 [B495]).
52
V g l . ebd., S . 7 3 5 (SOLGER an RAUMER, 1 8 . 8 . 1 8 1 9 ) .
53
Vgl. ebd., S . 7 4 5 (SOLGER an HAGEN, 1 1 . 9 . 1 8 1 9 [ B 4 9 4 ] ) .
54
Vgl. HAGEN an die Brüder GRIMM, 1 . 8 . 1 8 1 9 (B206).
116
Nibelungen-Forschungen
Ich leug[n]e eben nicht die allgemeine Verwandtschaft und ursprüngliche Einheit der Mythen; ich halte es aber für fruchtbarer und der beschränkten menschlichen Natur für angemessner, diese Einheit einstweilen vorauszusetzen und den Theil, der uns einzelnen zur Betrachtung und Erklärung übergeben ist, vorerst lediglich in freier Eigenthümlichkeit und, wenn der Ausdruck erlaubt ist, in seinem besondern Haushalt zu erörtern. [...] Stellt man sich so hoch, so, glaube ich, begegnet einem, was Reisende die hohe Berge bestiegen, bemerkt haben: die Landschaft verliert sich in ein einförmiges Grau und sogar die Sterne, denen sie doch entgegen gegangen waren, erscheinen als bloße helle Puncte. 55
Jacob Schloß sich dem Urteil seines Bruders an: „Um auf Ihre Betrachtung der Nibelungen zu kommen, so würde mir, nach dem jetzigen Standpunct, eine beschränktere und genauere Erforschung des Einzelnen auch für das Ganze mehr beweisen; so muß ich manches für in die Luft gebaut, manches für parteiisch halten [...]. Doch haben Sie Sich der Schrift nicht zu schämen, sie enthält scharfsinnige und einzelne überzeugende Wahrnehmungen."56 LACHMANN, ZU keiner Zurückhaltung veranlaßt, wurde in seinem Schreiben an Jacob G R I M M vom 11./12.12.1819 deutlicher: „Wenn doch Hagens Faseleien über die Nibelungen die letzten wären!" 57 HAGEN selbst konnte seine Enttäuschung über die negative Resonanz der Nibelungen-Studie, vor allem über die Kritik SOLGERS, nicht verbergen. 58 Er fühlte sich in seinen Absichten verkannt („Es ist [...] für mich keine Mode, welche ich mitmache, sondern ein Bedürfniß." 59 ), räumte jedoch ein, in seinem Werk „vieles falsch" 60 gemacht zu haben:61 „Es mag seyn, daß ich von mancherlei Religionen nichts verstehe, die Religion selber werde ich mir aber von niemand absprechen lassen; da erkenne ich keinen Menschen über mir. [...] Gewisse durchgehende Ideen und Bilder sind doch ganz offenbar; sie einzeln nachzuweisen, muß freilich oft fehlen." 62 Trotz dieses Zugeständnisses mochte er auch späterhin nicht auf das „Etymo-Mythologisiren" 63 verzichten. Ein großer Teil seiner Thesen von 1819 findet sich in der 1820 erschienenen Abhandlung Zur Geschichte der Nibelungen wieder 64 und wird vier Jahre später (1824) in die Anmerkungen (L408), S.46f. (W.GRIMM an HAGEN, 13.11.1819 [B208]); vgl. LEITZMANN (L271) Bd.2, S.730 (W.GRIMM an LACHMANN, 22.2.1820). 54 STEINMEYER (L453), S.96 (J.GRIMM an HAGEN, 13.11.1819 [B207]). 57 LEITZMANN (L271), S.16 (LACHMANN an J.GRIMM, 11./12.12. 1819). 58 Vgl. SOLGER (L437) Bd. 1, S.738 (HAGEN an SOLGER, 9.9.1819 [B493]), S.761 (HAGEN an SOLGER, 19.9.1819 [B496]). 59 Ebd., S. 740 (HAGEN an SOLGER, 9.9.1819 [B493]). 60 Ebd., S. 739. 61 Vgl. Nibelungen: Bedeutung (W22), S. 196 f. 62 SOLGER, S.738 f. (HAGEN an SOLGER, 9.9.1819 [B493]). 63 Ebd., S. 740. 64 Zu Siegfrieds Tod vgl. Zur Geschichte (W135), S.64. 55 SCHOOF
Hagens Nibelungen-Forschungen in ihrer Zeit
117
zur zweiten „Erneuung" des Nibelungenlieds übernommen. HAGEN scheint jedoch in der Zwischenzeit ein distanzierteres Verhältnis zu seinen mythologischen Spekulationen gewonnen zu haben. Hatte er 1819 die Kenntnis der sagengeschichtlichen Zusammenhänge noch für unverzichtbar für ein adäquates Verständnis des Gedichts gehalten, so äußerte er sich 1824 weitaus zurückhaltender: „Die [...] umständlich ausgeführten Erläuterungen aus der Sage und Geschichte, welche hier zum Theil die in der Ausgabe der Urschrift und in zwei besonderen Schriften65 enthaltene Einleitung vertreten, kann man als Excurse, nach Gefallen überschlagen." 66 Eher resigniert als überzeugt zog er damit einen Schlußstrich unter seine bald zwei Jahrzehnte währenden Studien zu Mythos und Historie der Nibelungen.67
2.9
HAGENS
Nibelungen-Forschungen in ihrer Zeit
Im Jahre 1819 — die Arbeiten an der „großen Ausgabe" waren gerade abgeschlossen — zog HAGEN eine Bilanz seines dem Nibelungenlied gewidmeten Lebens: „[...] ich darf es wohl bekennen: ich habe den beßten Theil meines Lebens an dies Werk gesetzt, und habe es gern und freudig gethan, und thue es noch, weil ich muß, und darin einen früh gesuchten Mittelpunkt all meines Thuns und Tagewerkes, eine unendliche Aufgabe, und meinen liebsten Beruf gefunden zu haben glaube." 1 Die Nibelungen — „diese sind mein Α und O" 2 — standen ein halbes Jahrhundert im Zentrum von HAGENS altdeutschen Studien und wurden auch während der zeitraubenden Arbeiten an den Großprojekten der Minnesinger und des Gesammtabenteuers in den 30er und 40er Jahren nie aus dem Blick verloren. HAGEN, der schon seinen Namen als Verpflichtung empfand und sich gern mit dem gleichnamigen Helden des Liedes identifizierte,3 betrachtete seine erste Begegnung mit dem altdeutschen Epos als schicksalhafte Fügung und teilte sein Leben in die Zeit vor und nach dem Auffinden des „lange dunkel gesuchte[n] Hort[s]"4 ein. Die Nibelungendichtung hatte den An65 66
67 1
Gemeint sind Nibelungen: Bedeutung (W22) und Zur Geschichte (W135). NL1824, Vorrede, S.XIV (Hervorhebung von mir). In seiner Selbstbiographie (W182) reiht er 1827 Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Gegenwart undfür immer nur mehr unter die „Nebenarbeiten" der Breslauer Zeit ein (vgl. S. 13). Zu vereinzelten späteren mythologischen Versuchen HAGENS vgl. ASSMANN (L 10), S. 48. Nibelungen: Bedeutung (W22), S. 196; vgl. HB 1855, Bd. 1, S. VII/VIII.
2
HAGEN a n DRONKE, 2 1 . 7 . 1 8 1 7
3
Vgl. etwa die Eintragung in FOUQUES ( = Volkers) Stammbuch: „Volker unde Hagene geschieden sich nie" (A. SCHMIDT [ L 403], S . 225). HB 1855, Bd. 1, S.VII.
4
(B142).
118
Nibelungen-Forschungen
stoß zu HAGENS germanistischen Forschungen gegeben, ihr galten seine ersten literarhistorischen Studien, und es schmerzte ihn ein Leben lang, daß er dem Werk nicht auch programmatisch seine erste Buchveröffentlichung widmen konnte (und aus verlagstechnischen Gründen 1807 der Publikation der unbedeutenderen Sammlung Deutscher Volkslieder den Vortritt lassen mußte)5. Die Nibelungen-„Erneuung" und die drei Jahre später (1810) publizierte Ausgabe des Liedes riefen zwar in der Fachwelt zum Teil energischen Widerspruch hervor, begründeten aber in der breiteren Öffentlichkeit seinen Ruf als kompetenter Sachwalter altdeutscher Literatur. Den Nibelungen-Forschungen vor allem verdankte HAGEN seine Berufung an die Berliner Universität. Das Nibelungenlied („Epos illud quod der Nibelungen Lied vocatur" 6 ) bildete den Gegenstand der ersten in Berlin gehaltenen Vorlesung im neuen Fach der „Deutschen Alterthums-Wissenschaft". Dichtung, Geschichte und Mythos der Nibelungen blieben fortan HAGENS eigentliches Forschungsgebiet und wurden von ihm, der hier Erstlingsrechte beanspruchen zu können glaubte, zum ureigensten Terrain erklärt. Noch im Jahre 1820 bemerkte LACHMANN indigniert: „Hagen hat sie [die Nibelungen] nun Einmahl gepachtet, er gilt für ihren Pfleger und Hüter, wenn er sie auch abwürgt." 7 Die Konzentration auf das Nibelungenlied darf freilich nicht als Beweis für die oft gerügte „Ansichreißigkeit" 8 des Herausgebers gewertet werden; HAGEN verstand seine Nibelungen-Studien vielmehr als selbstlosen Dienst an dem lange Zeit in Vergessenheit geratenen Werk und erblickte in der publizistischen Betreuung des Gedichts „Kern, Mittelpunkt und Ende" 9 seines Forscherlebens. Ergebnis dieses seines „eigentliche[n] Tichten[s] und Trachten[s]"10 waren nicht nur vier Editionen (1810, 1816, 1820, 1842) und zwei „Erneuungen" (1807, 1824) des Textes, sondern vor allem auch eine Vielzahl diplomatischer Abdrucke von neuentdeckten oder unveröffentlichten Textzeugen, die er mit buchhalterischer Präzision („Neunzehnte Handschrift", „Ein und zwanzigste Handschrift", „Zwei und zwanzigste Handschrift" etc.) auflistete. Mit gleicher Genauigkeit verzeichnete er die Zeugnisse der „Wiedererweckung" des Liedes in der Literatur (von FOUQUE bis R A U PACH), in der Musik (von DORN bis WAGNER) und in der bildenden
6
Vgl. Artikel Hagen (W182), S.12. Vorlesungsverzeichnis der Berliner Universität WS 1810/11 (ZSTA Merseburg Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. 1, Nr. 2, Bd. 6, 139).
7
LEITZMANN ( L 2 7 1 ) B d . 2 , S . 7 3 5 (LACHMANN an W . G R I M M , 1 3 . 3 . 1 8 2 0 ) .
8
GÖRRES (L120) Bd.2, S.233 (J.GRIMM an GÖRRES, 12.8.1811). HAGEN an SOLGER, O.O. u. D. [Breslau, Frühjahr 1814] (B491). Ebd.
5
9 10
Hagens Nibelungen-Forschungen in ihrer Zeit
119
Kunst seiner Zeit (von CORNELIUS bis SCHNORR von CAROLSFELD).11 Unter dem Einfluß von KANNE und GÖRRES propagierte er schließlich das Nibelungenlied als Manifestation eines „Ur-Mythus" von „Ursprung, Leben, Sünde, Tod und Wiedergeburt der ersten Menschen oder Götter, von Schöpfung, Untergang, Wiederkehr und Erneuung der Zeiten und Dinge überhaupt"12, dessen Tradition von Indien bis Island reiche und dessen Kraft bis in die Jetztzeit fortwirke: Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Gegenwart und für immer.13 HAGEN ließ keine Gelegenheit aus, das Nibelungenlied als „die größeste Geschieht', die zur Welte je geschach"14, im Bewußtsein seiner Zeit zu verankern. Ihn, den unermüdlichen Verkünder der Nibelungen, mußte es daher besonders schmerzlich treffen, auf diesem ureigensten und „fortwährend vor allen gern bearbeiteten Felde"15 in Karl LACHMANN einen starken, ja übermächtigen Gegner zu finden. Anders als die Brüder GRIMM, die zwar scharfe Kritik an den Nibelungen-„Erneuungen" der Jahre 1805 und 1807 und der Ausgabe von 1810 geübt hatten, jedoch keine Anstalten zu eigenen Übersetzungen oder Editionen machten, drang LACHMANN gezielt in HAGENS Gefilde ein und setzte alles daran, dessen führende Position zu erschüttern. Er beschränkte sich in seinen Besprechungen der Ausgaben von 1816 und 1820 nicht auf den bloßen Nachweis von Fehlern oder Ungenauigkeiten und beließ es auch nicht — wie vordem Jacob und Wilhelm GRIMM — bei der Forderung nach separaten Handschriftenabdrucken. LACHMANN nahm die Rezensionen vielmehr zum Anlaß, das seither mit seinem Namen verbundene System der Textkritik am Nibelungenlied exemplarisch vor Augen zu führen und damit zugleich allen vorangegangenen Editionen ihre Gültigkeit abzusprechen. HAGEN fand sich nicht bereit, den zukunftsweisenden Vorschlägen LACHMANNS ZU folgen, sah sich aber auch nicht in der Lage, das textkritische Modell seines Kontrahenten ernstlich in Frage zu stellen. Da er dem Gegner das Feld jedoch nicht kampflos überlassen wollte, konzentrierte er seinen — hier durchaus berechtigten — Widerstand auf die von LACHMANN seit 1816 öffentlich vertretenen Theorien Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Er nahm jede Gelegenheit wahr, gegen die „Verstümmelung"16 des Liedes zu opponieren:
11
12 13 14 15 16
Vgl. Nibelungen: Bedeutung (W22), S. 202f.; NL1824, S. VII; HB 1855, Bd. 1, S. LXXXIX/ XC; Klage (W50), S.XIII/XIV. Zur Geschichte (W135), S. 31. Hervorhebungen von mir. Motto auf der Titelseite von Nibelungen: Bedeutung (W 22). HB 1855, Bd. 1, S.VIII. HAGEN an DRONKE, 19.7.1839 (B143).
120
Nibelungen-Forschungen
Dieses hyperkritische Wittern, welches mit zweischneidigem Messer jetzo in der Litteratur, besonders in der klassischen, gespenstisch umgeht, vermißt sich nicht weniger, als dem alten Schriftsteller über die Schulter ins Buch zu schauen, wie er geschrieben hat oder eigentlich hätte schreiben sollen, ja was er für Urkunden vor sich gehabt, und wie er sie benutzt oder mißverstanden hat, — und verliert so allen Sinn für großartige Persönlichkeit. [...] Die Nibelungen, ihr Mythus in seiner ursprünglichen Vollständigkeit, waren von je an ein bedeutsames Ganzes.17 HAGEN war die von Friedrich August W O L F in den Prolegomena ad Homerum (1795) entwickelte Liedertheorie, auf der auch LACHMANNS Modell fußte, seit den Hallenser Studientagen vertraut, und er stand den Darlegungen seines akademischen Lehrers, dem er 1810 seine erste Nibelungen-Ausgabe widmete, anfangs keineswegs ablehnend gegenüber. Er wehrte sich jedoch bereits 1807 dagegen, die an den homerischen Epen gewonnenen Theorien ohne weiteres auf das Nibelungenlied zu übertragen. Zwar war auch er überzeugt, daß das Lied von den Nibelungen ursprünglich in einzelnen „Romanzen" lebte, „ehe es zu einem so engen und innigen Ganzen vereinigt wurde"18, doch hielt er daran fest, daß diese Balladen niemals isoliert für sich bestanden: „[...] sie weisen immer auf einen höheren Zusammenhang hin: wie sie denn auch von je an darin standen und nur allein dadurch zu einem so fest in einander greifenden Gedichte sich vereinigen konnten."19 Von Anfang an war HAGENS Interesse nicht auf das Herausschälen der Einzellieder gerichtet. Seine Aufmerksamkeit galt allein der Leistung des Nibelungendichters, „der aus jenen uralten lebendigen Überlieferungen, Volks- und Heldenliedern zuletzt das große ritterlich-christliche Heldengedicht von den Nibelungen geschaffen und gebildet hat"20:
Das Nibelungen-Lied, wie es da vor uns liegt, offenbar aus jener schönsten Zeit und Gegend, ist nun auch zwar ohne alle namentliche Beziehung auf einen Verfasser: aber das ist nicht zu verkennen, daß es in dieser Gestalt nur von Einem herrührt, und zwar von einem der größten und herrlichsten seiner Zeit, in welcher sich der neue Ritter- und Minnesang aufs innigste mit dem alten Volksliede verquickte, und es mit allem neuen Glänze erhob und verklärte, wie nirgend anderswo. Zwar wirkte hiezu die eben so einzig hervorragende alte Fabel mit, und der feste Zusammenhang und die tragische Einheit derselben war wohl im Großen schon gegeben: aber in der Richtung und Beschränkung derselben zeigt sich ein bestimmter eigener Sinn.21 Nibelungen: Bedeutung (W22), S. 185 f. NL1807, S. 481. " Ebd., S. 482 f.; vgl. dagegen die 1840 eingenommene Position: „Nicht sowol aus einzelnen kleinern, gleichmäßig verfaßten Stücken setzte sich das größere, reichere Gedicht zusammen, sondern auf den Grund eines das Ganze in den Grundzügen umfassenden kürzern Gedichts bildete und entwickelte sich das vollendete Heldengedicht." (Rez. Zwanzig Lieder [W227], S. 1037). 20 Ebd., S. 1033. 21 NL 1820, S. XXIII. 17 18
Hagens Nibelungen-Forschungen in ihrer Zeit
121
HAGEN verzichtete darauf, LACHMANNS Nibelungen-Ausgaben von 1 8 2 6 und 1 8 4 0 zu rezensieren. Er nahm vielmehr das Erscheinen von SIMROCKS Übertragung der nach „Lachmanns Andeutungen wiederhergestellten]" 22 Zwanzig Lieder von den Nibelungen ( 1 8 4 0 ) wahr, um auf dem Rücken des Übersetzers seine Fehde mit dem Herausgeber des Textes auszutragen: So haben wir denn anstatt des Einen Nibelungenliedes deren Zwanzig, „von vielleicht ebenso vielen Verfassern"; und wir mögen uns nun den vermeintlichen Einen Dichter desselben aus seinen abgerissenen Gliedern zusammensuchen, wenn es sich der Mühe ja noch verlohnt, einen so jämmerlichen Dichter aufzubewahren. [...] Aber diese ganze Vorstellung ist selbst aus der Luft gegriffen, oder eine Hypothese der sogenannten höhern Kritik, eine üble Anwendung und schriftgelehrte Überbietung der Wolfschen Homeriden, deren übermächtiges Oberhaupt jedoch Homerus blieb und welche sich doch nur auf Titel und Einleitung bescheideten und auch in der Prachtausgabe die „Ilias" ganz ließen.23
Mit Sachverstand legte HAGEN den Finger auf die Schwachstellen der LACHMANNschen Konstruktion und rügte vor allem das Zerstückeln und Zurechtstutzen des Gedichts, dem vornehmlich die ritterlich-höfischen und die christlichen Züge des Nibelungenlieds zum Opfer fielen. Nach einer sorgfältigen Einzelkritik, die vom Protest gegen das Wegschneiden des „ruhigen epischen Einganges" 24 der ersten Aventiure bis zum Zurückweisen der „völlige[n] Ausscheidung des Bischofs Pilgerin von Passau"25 reichte, gelangte er zu dem Schluß: „[...] wer immerhin eine dergleichen Zurückführung des alten Heldengedichts auf die eingebildete Urgestalt will, der darf uns nicht das würdig Alte in einer bloßen Zerstümmelung als das Urbild bieten, für welches wir es ebenso wenig erkennen, als uns einbilden lassen, daß der Torso des Herculesgottes immerdar nur ein Torso gewesen, oder durch die abgeschlagenen Glieder erst so vollkommen geworden sei; es gilt hier kein experimentum in corpore vili."26 LACHMANN war freilich nicht geneigt, sich der hier vorgebrachten Einwände anzunehmen, und beharrte unbeirrt auf seinen Ansichten über die „ursprüngliche Gestalt" des Nibelungenlieds. Dennoch blieb die (indirekte) Rezension seiner Textausgaben nicht völlig wirkungslos. Mit Befriedigung konnte HAGEN am Ende seines Lebens beobachten, wie die von ihm stets bekämpfte Liedertheorie LACHMANNS mehr und mehr an Geltung verlor und wie zunehmend Zweifel an dessen (auf der mangelhaften Handschrift Α gründenden) Nibelungen-Editionen laut wurden. Daß schließlich im Jahre 1 8 5 4 Adolf HOLTZMANN in seinen — bezeichnenderweise HAGEN zugeeigneten — Untersuchungen über das Nibelungenlied das 22 23 24 25 26
Untertitel zu SIMROCKS Zwanzig Liedern Rez. Zwanzig Lieder (W227), S. 1033. Ebd., S. 1034. Ebd., S. 1035. Ebd., S. 1037.
(L433).
122
Nibelungen-Forschungen
LACHMANNsche Gebäude von Grund auf erschütterte, indem er die Liedertheorie umstieß und der Handschrift Α ihre führende Rolle nahm, mußte HAGEN als späte Bestätigung seines jahrzehntelangen Kampfes um die Einheit des Nibelungenlieds erscheinen, und er versäumte es nicht, in seinem HOLTZMANN als Gegengabe gewidmeten Heldenbuch von 1855 dem „Tröste des Nibelungenhortes"27, der „in dem grösten und bedeutendsten Streit auf disem Gebiete, dem Nibelungenstreit, so kühn hervorgeritten ist, und sighaft das Feld behauptet"28, überschwenglich zu danken. HAGEN war sich bewußt, daß HOLTZMANNS Wendung gegen LACHMANN keineswegs eine Rückkehr zu seinen eigenen Positionen bedeutete — HOLTZMANN favorisierte die Handschrift C statt Β und hielt Distanz zu mythologischen Spekulationen —, es erfüllte ihn jedoch mit Genugtuung, noch den Anbruch der nach-LACHMANNschen Epoche der Nibelungen-Philologie miterlebt zu haben, wenn er sich auch darüber im klaren war, daß er diese Zeit selbst nicht mehr mitgestalten konnte: „Die freien Deutschen lassen sich [...] von diesem Dogma [LACHMANNS und seiner Schule] nicht imponiren, und werden ihren Protest auch hier sighaft durchfechten. Es freut mich, dass ich auch dises noch erlebe, und Teil daran nemen kann, auf jüngere Kräfte vertrauend."29
27 28 25
HB 1855, Bd. 1, S.V. Ebd., S. C. Ebd., S.CIV/CV.
3.
Heldenbuch-Projekt
3.1
Der Helden Buch I
3.11
Kooperation mit Ludwig
(1811) TIECK
Bekanntschaft mit dem Heldenbuch reicht bis in die Prenzlauer Schulzeit zurück: Durch einen Beitrag ESCHENBURGS1 in der Zeitschrift Bragur war er damals mit dem Inhalt des gedruckten Heldenbuchs (nach der Ausgabe Hagenau: Heinrich Gran 1509) vertraut gemacht worden. Ein weiterer Hinweis auf das Werk erfolgte 1 8 0 3 durch Ludwig TIECKS Vorrede zu den Minneliedern aus dem Schwäbischen Zeitalter·. „Das Heldenbuch, und diejenigen Erzählungen, welche dazu gerechnet werden müssen, haben noch Vieles vom Ton eines Epischen Zeitalters, es zeigt sich in ihnen eine Größe und Erhabenheit, die zuweilen sich herabstimmt und in ihren Schilderungen rauh und barbarisch erscheint: viele Erzählungen erinnern an die Niebelungen, auch sind manche wohl aus diesen entstanden, und wenn sie sich nicht zu der reichen Erhabenheit dieses Gedichtes erheben, so tragen sie doch noch viele Spuren einer alten Zeit und ergötzen durch eine starke und männliche Fröhlichkeit, die durchaus dem Gegenstande ihrer Darstellung angemessen ist." 2 In seinen Berliner Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst ( 1 8 0 3 / 0 4 ) Schloß sich August Wilhelm SCHLEGEL dem Urteil TIECKS uneingeschränkt an3 und widmete den (im gedruckten Heldenbuch vereinigten) Gedichten Ortnit, Wolf dietrich, Rosengarten und Laurin ausführliche Besprechungen;4 wie TIECK stufte auch er die Texte qualitativ unterhalb des Nibelungenlieds ein: HAGENS
[...] von den im Heldenbuche vorliegenden Stücken darf man aber dreist urtheilen, und wenn man das durch ungeschickte rohe Bearbeitung bey der Bekanntmachung im Druck verlohren gegangene noch so viel abrechnet; so muß man dennoch vom Liede der Nibelungen den Ton beträchtlich herabstimmen. Freylich sind auch die Ansprüche, welche diese Dichtungen machen, im Ganzen weit geringer: sie bilden nicht etwa eine Odyssee im Gegensatz mit jener Ilias, sondern vielmehr eine Heldenkomödie zur Aufheiterung des Gemüths nach jener großen Tragödie. 5
ESCHENBURG: Inhalt des Heldenbucbs TIECK (L465), S. VI/VII.
(L91).
3
V g l . A . W . SCHLEGEL ( L 3 9 8 ) B d . 3 ,
S.128.
4
Vgl. ebd., S. 130-133. Ebd., S. 127.
1
2
5
Heldenbuch-Projekt
124
H A G E N S Interesse war denn auch zunächst vordringlich auf das Nibelungenlied gerichtet; das Heldenbuch rückte — im Rahmen der Vorarbeiten zur „historisch-kritischen" Nibelungen-Einleitung6 — nur unter stoff- und motivgeschichtlichen Aspekten in den Blick. Erst vom Frühjahr 1806 an, als er den Umfang der erhaltenen Texte abzuschätzen vermochte,7 trug sich H A G E N mit dem Gedanken, eine (Sammel-)Ausgabe der mittelhochdeutschen Heldenepik zu veranstalten. Dabei hatte er zunächst keine „Erneuung" nach Art des Nibelungenlieds im Sinn, sondern plante von Anfang an eine Edition der Originaltexte:
Auch habe ich es in der Tat auf eine volständige und kritische Ausgabe eines Heldenbuchs deutscher Nazion angesehen [!]: worin alle noch übrigen Stüke in den mythischen Zusammenhang gesteh, sich durcheinander erläutern und erklären und überdem mit histor: literar: Einleitung, Kommentar, Gloßar, Gramatik und nötigem Realindex versehen werden sollen. Aber der Weg ist noch lang bis dahin und noch bei weitem nicht alles zusammengebracht, ja noch nicht einmal aller Vorrath b e k a n t . 8
Nach Abschluß der Nibelungen-„Erneuung" im Herbst 1807 revidierte allerdings seinen ursprünglichen Plan und bemühte sich fortan um eine Ausgabe des Heldenbuchs „zunächst in der Art, wie jetzt die Nibelungen, die darin gleichsam nur die letzte große Tragödie sind; jedoch mit Vorbehalt einer auch eigentlich kritischen Ausgabe" 9 . Im Nachwort zur „Erneuung" von 1807 kündigte er das Projekt erstmals öffentlich an,10 hielt jedoch zugleich seine Option für die nachmalige „kritische" Edition aufrecht: „Dabei soll es an meinem guten Willen nicht fehlen, auch einst eine ausführliche kritische Rezension des Originaltextes aus allen vorhandenen Handschriften, mit den dazu gehörigen historischen, antiquarischen und grammatischen Untersuchungen und vollständigem Apparat herauszugeben."11 HAGEN
Ohne es zu wollen, geriet H A G E N bei der geplanten Heldenbuch-„Erneuung" wiederum in Kollision mit einem gleichgerichteten Unternehmen TIECKS. Dieser hatte 1 8 0 5 / 0 6 in Rom Kopien der Heidelberger Handschriften von Dietrichs Flucht (Cpg. 3 1 4 ) 1 2 , der Ravenna-Schlacht (ebd.) und König Rother (Cpg. 390), den er ebenfalls zur Heldenepik zählte,13 angefertigt 6
S.o. Kap.2.8.
7
V g l . HAGEN a n OBERLIN, 2 0 . 4 . 1 8 0 6 ( B 4 0 5 ) .
8
E b d . ; v g l . HAGEN a n ESCHENBURG, 1 . 7 . 1 8 0 6 ( B 1 5 8 ) .
9
DZIATZKO ( L 8 1 ) , S. 2 3 (HAGEN a n HEYNE, 6 . 1 0 . 1 8 0 7 [ B 2 3 0 ] ) ; v g l . a u c h HAGEN a n BÖTTIGER, 4 . 1 0 . 1 8 0 7 ( B 5 7 ) ; HECKER ( L 1 6 9 ) , S. 1 0 8 (HAGEN a n GOETHE, 9 . 1 0 . 1 8 0 7 [B179]).
i» Vgl. NL 1807, S. 478. 11 Ebd., S. 478 Anm. 20. 12
E s h a n d e l t s i c h u m e i n e u n v o l l s t ä n d i g e K o p i e ; v g l . ZEYDEL ( L 4 9 5 ) , S. 1 1 3 (TIECK a n HAGEN, 1 0 . 1 . 1 8 0 8 [ B 5 0 8 ] ) .
13
V g l . BRINKER-GABLER ( L 4 4 ) , S . 8 9 A n m . 2 .
Der Helden Buch I (1811)
125
und trug sich mit dem Gedanken, das Heldenbuch wie das Nibelungenlied in freier „poetischer" Bearbeitung zu publizieren.14 Im September 1806 hatte BRENTANO den Heidelberger Verleger ZIMMER für das Unternehmen gewonnen, und im (Oster-)Meßkatalog 1 8 0 7 war TIECKS Projekt unter den künftigen Neuerscheinungen aufgeführt worden. Im Oktober 1807 — HAGENS Nibelungenlied mit der Ankündigung des Heldenbuchs war im voraufgegangenen Monat erschienen — schickte TIECK seine Bearbeitung des König Rother (als ersten von 1 3 geplanten Beiträgen)15 an ZIMMER. Wenige Wochen später lernte er H A G E N in Berlin kennen und gelangte bald zu der Überzeugung, daß — aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen und Bearbeitungsprinzipien — beide Heldenbuch-Projekte friedlich nebeneinander bestehen und sich gleichzeitig auf dem Markt behaupten könnten. Am 6 . 1 2 . 1 8 0 7 faßte H A G E N die Ergebnisse der Berliner Gespräche zusammen: „Ich habe mich auch mit Tieck verständigt, und unsere Arbeiten kollidiren eigentlich nicht; jeder hat einen besondern Zweck und Weise, wozu wir uns gegenseitig die Hand bieten." 16 Und in einem Brief an Johannes von MÜLLER heißt es vier Wochen später: „Zuförderst wird er [ T I E C K ] auf jene [poetische] Weise einige Stücke des Heldenbuchs bearbeiten; — wir tauschen also, um so williger unsere Samlungen aus, da auch mein Heldenbuch von jenem verschieden und nach Art der Nibel. ist." 17 TIECK und H A G E N verabredeten für die Folgezeit zwar keine direkte Zusammenarbeit, sagten sich jedoch gegenseitige Förderung und Unterstützung zu; vor allem versprach TIECK die Mitteilung seiner in Rom genommenen Abschriften.18 In der Tat konnte H A G E N 1 8 0 8 die TiECKSche Kopie des König Rother in den Deutschen Gedichten des Mittelalters I veröffentlichen. 19 Die übrigen Abschriften ließen freilich auf sich warten: TIECK hielt die vatikanischen Kopien von Dietrichs Flucht und von der RavennaSchlacht zunächst zurück, weil er 1808 selbst mit der Bearbeitung dieser Texte beschäftigt war, 20 und wollte sie anschließend — da ihm wohl in der Zwischenzeit berechtigte Zweifel an der Vereinbarkeit der beiden parallel laufenden Unternehmen gekommen waren — nur mehr zur Edition (nicht zur „Erneuung") weitergeben.21 14
15 16 17 18 19 20 21
Zu TIECKS Heldenbuch-Projekt vgl. ebd., S. 8 5 - 1 0 0 ; SCHWEIKERT ( L 4 2 5 ) Bd. 2, S. 2 8 9 - 3 0 4 . Vgl. BRINKER-GABLER ( L 4 4 ) , S . 8 9 . HAGEN an BÖTTIGER, 6 . 1 2 . 1 8 0 7 ( B 5 8 ) . HAGEN an J . v. MÜLLER, 6 . 1 . 1 8 0 8 ( B 3 5 8 ) . Vgl. ebd.; HAGEN an BÖTTIGER, 6 . 1 2 . 1 8 0 7 ( B 5 8 ) . S. u. Kap. 4.12. Vgl. ZEYDEL (L 495), S. 111 (TIECK an HAGEN, 1 0 . 1 . 1 8 0 8 [ B 5 0 8 ] ) . Vgl. ebd., S. 1 1 2 f.
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Heldenbuch-Projekt
In den folgenden Jahren kam keines der beiden Heldenbuch-Projekte entscheidend voran, und HAGEN spielte schließlich mit dem Gedanken, sich mit TIECK zur gemeinsamen Bearbeitung der Heldenepik zu verbinden: „Tieck ist noch immer in München und kränklich; es ist noch nichts von ihm erschienen. Ich hätte ihn so gern hier, vielleicht könnten wir manches zusammen arbeiten, ζ. B. das Heldenbuch, wovon ich doch auch dies Jahr noch gern einen Band geben möchte."22 Am 29. 11. 1810 teilte HAGEN, der seit dem Sommer 1808 nicht mehr mit TIECK in Verbindung gestanden hatte, diesem erstmals Einzelheiten über den Stand seiner Heldenbuch-„Erneuung" mit und lud ihn zur Kooperation ein: [...] ich lasse jetzt eben, in der Art der Bearbeitung der Nibelungen, ein Heldenbuch drucken, zuförderst die kleineren seltenen Lieder; gedruckt ist schon Hörnen Siegfried, Etzels Hofhaltung, das Rosengarten Lied, Alpharts Tod, Ecken Ausfahrt: es folgen noch Siegenot und Laurin, vielleicht auch Dietrichs Flucht zu den Hunnen (das ich von Glöckle gekauft) — und dabei, wenn Sie wollten, die Ravenna-Schlacht, welche sich zunächst an das neuentdeckte Ged. Alpharts Tod, das ich von Hundeshagen gekauft, anschließen würde (es betrifft auch die Kriege zwischen Dietrich und Ermenrich). Haben Sie es schon bearbeitet, modernisirt, so überlassen Sie es mir (5 rth. für den Bogen), so, daß es zugleich zum Heldenbuch gehört, unter Ihrem Namen, aber auch besonders erscheint; die Unger ist es gern zufrieden; oder wollen Sie mir die Bearbeitung überlassen? 23
Eine textnahe „Erneuung" von Dietrichs Flucht und der Ravenna-Schlacht, wie sie HAGEN vorschwebte, hielt TIECK angesichts der minderen Qualität der Gedichte (bzw. ihrer Aufzeichnung) für wenig sinnvoll. 24 Er lehnte das Kooperationsangebot ab und schlug statt dessen eine weitaus umfassendere Zusammenarbeit beim Heldenbuch-Projekt vor: Sie haben gesammelt zum Heldenbuch, auch ich, lassen Sie uns das Buch gemeinschaftlich jetzt, ohngefähr nach meiner Idee bearbeitet, herausgeben. Ich hatte die Absicht, diese Gedichte recht eigentlich populär zu machen, sie allen Classen von Lesern in die Hände zu geben, wo möglich den Kindern, dazu hatte ich die ungedruckten, und einige von seltenem Druck bestimmt, dann den Wolfdiet. nach der Dresdner Copie, (weil ich bei aller Künstlichkeit die Bearbeitung und Verschmelzung mit dem Ottnit nicht billigen kann). Dadurch würde das Buch ohngefähr nach meinem Ueberschlag 40 Bogen geworden sein, ich erhalte vom Verleger 2 Carol, f. B. und ich bin so dreist, (da ich weiss, dass es Ihnen bei Ihrem edlen Streben nicht um Gewinn zu thun ist) Ihnen die Hälfte anzubiethen. Dann vereinigten wir uns über unsre Ansicht, theilten ein, was jeder bearbeiten möchte, und das Buch könnte, wenn nicht Ostern, doch bald nachher fertig sein. 25 TIECK war offensichtlich nicht gewillt, sich dem HAGENschen Konzept, das für ihn nur eine marginale Rolle vorsah, anzuschließen. Er rechnete 22 23
24 25
HAGEN an
J. V. MÜLLER, 1.3.1809 (B 364). 29.11.1810 (Β510); vgl.
HAGEN an W. GRIMM, 25.12.1810 (B202): „Viell. werde ich beim Heldb. in der Folge mit ihm [TIECK] gemeinschaftl. Sache machen." Vgl. KLEE (L219), S.25 (TIECK an HAGEN, 24.12.1810 [B511]). Ebd., S. 25. HAGEN an "HECK,
Der Helden Buch I (1811)
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wohl kaum damit, HAGEN von der unmittelbar bevorstehenden Veröffentlichung von Der Helden Buch I abbringen zu können, dürfte jedoch gehofft haben, fortan den Publikationseifer seines Freundes und Konkurrenten in ihm genehmere Bahnen lenken zu können. HAGEN ließ sich mit der Antwort auf TIECKS Angebot Zeit und wartete zunächst das Erscheinen des Buches ab; am 5.7.1811 sandte er endlich das soeben ausgelieferte Werk nach Ziebingen: Es sollte mich herzlich freuen, wenn die Arbeit Ihnen nicht mißfiele; wenigstens werden Ihnen einige Stücke darin noch neu sein. Doch werde ich es aus mehrern Gründen mit diesem ersten Band bewenden lassen; dazu gehört auch, um Ihr ähnliches Unternehmen nicht weiter zu stören, an welchem ich, Ihrer gütigen Einladung zufolge, gern theilnehmen möchte; wenn Sie mich nur tüchtig dazu befinden.26
Als Beiträge zum geplanten Gemeinschaftswerk versprach HAGEN Bearbeitungen des Rosengarten27 und des Laurin. Trotz der neuen Impulse ließ sich das Unternehmen jedoch nur zögernd an. Eine von TIECK gewünschte Begegnung in Ziebingen28, bei der alle Einzelfragen besprochen werden sollten, kam nicht zustande.29 HAGEN — seit Ende 1811 durch die Breslauer Bibliotheksarbeit an der zügigen Fortführung seiner altdeutschen Projekte gehindert — nahm in der Sache erst am 12.3.1813 wieder Kontakt zu TIECK auf: „Ich denke noch oft an das Heldenbuch, wozu wir uns verbinden wollten, und habe mancherlei dazu vorgearbeitet. Wie steht's nun mit Ihnen? Denken Sie auch noch daran?"30 Als mögliche Beiträge stellte er nun „Erneuungen" von Ortnit, Wolfdietrieb und dem Rosengarten in Aussicht und drängte TIECK, die Ravenna-Schlacht, Dietrichs Flucht und vielleicht auch Laurin und König Rother zu übernehmen.31 Im Sommer 1814 kam es endlich zu dem klärenden Gespräch in Ziebingen; doch scheint man auch hier zu keiner verbindlichen Absprache gelangt zu sein. HAGEN jedenfalls sandte im Februar des folgenden Jahres seine eben fertiggestellte Bearbeitung des Hugdietrich nicht nach Ziebingen, sondern nach Köln, um sie in GROOTES Taschenbuch für Freunde altdeutscher Zeit und Kunst publizieren zu lassen.32 Der Kontakt zwischen den beiden Herausgebern war so lose, das Projekt so unscharf umrissen, daß HAGEN am 9. 6.1815 bei TIECK anfragen mußte: „Wie ist es denn aber nun: wollen Sie meine Beiträge noch, die 26
ZEYDEL ( L 4 9 5 ) , S. 1 1 5 (HAGEN an TIECK, 5 . 7 . 1 8 1 1 [ B 5 1 2 ] ) .
27
Rosengarten in der Fassung der Heidelberger Handschrift Cpg. 359 und des (1870 verbrannten) Kodex der ehem. Straßburger Seminarbibliothek.
28
Vgl. KLEE ( L 2 1 9 ) , S . 2 5 (TIECK an HAGEN, 2 4 . 1 2 . 1 8 1 0 [ B 5 1 1 ] ) .
29
Vgl. SCHWEIKERT (L424), S.337 (TIECK an HAGEN, 1 . 1 2 . 1 8 1 1 [B513]); HOLTEI (L197) Bd. 1, S. 266 (HAGEN an TIECK, 12.3.1813 [B 514]).
30
HOLTEI ( L 1 9 7 ) Bd. 1, S . 2 6 6 (HAGEN an TIECK, 1 2 . 3 . 1 8 1 3 [B 5 1 4 ] ) .
31
Vgl. ebd. Hugdietrich und Hildburg
32
(W 127); vgl. HAGEN an GROOTE, 15. 3. 1815 (B 212).
128
Heldenbuch-Projekt
wir damals verabredet?"33 Auch der (Herbst-)Meßkatalog 1815 brachte hier keine Klarheit, da er das Werk zwar ankündigte, aber jeden Hinweis auf die Mitarbeit HAGENS vermissen ließ.34 Seinem Verleger teilte TIECK erst ein halbes Jahr später mit, daß „der Prof. v. d. Hagen, einen Beitrag dazu"35 liefern wolle. An HAGEN selbst wandte er sich erst wieder, als dieser im Begriff war, nach Italien abzureisen, und bat ihn am 16.6.1816 dringend um die alsbaldige Zusendung aller bis dahin ausgearbeiteten Texte: Ich bitte auch um das Mscp. was Sie etwa zu unserm Heldenbuch fertig gemacht haben, denn die Buchhandlung will nun durchaus nicht länger warten, Michaelis muß der Band erscheinen: zwar haben wir eigentlich noch nichts Bestimmtes darüber verabredet, indessen denck' ich Ihre Arbeit wird zu der meinigen passen. Darum vergessen Sie ja nicht, mihr [!] alles recht schnell zu senden, damit es nicht zu spät wird [...]. Sollten Sie zu dem Heldenbuch nichts haben vollenden können, so muß ich freilich, so weh es mir thäte, es allein herausgeben, und d[en] Mangel, so gut es gehn will, zu ersetzen suchen.36 HAGEN konnte in der kurzen Zeit kein druckfertiges Manuskript bereitstellen und beschränkte sich darauf, die (ihm seit Jahren vorliegende) TiECKsche Kopie und Bearbeitung der Ravenna-Schlacht nach Ziebingen zurückzuschicken.37 Am 28.9.1816 sandte TIECK seine Erneuerung der Ravenna-Schlacht an den Verleger und kündigte in seinem Begleitbrief die Zusammenarbeit mit HAGEN auf („Er ist nun in Italien, und ich bin gezwungen, mein Versprechen, das ich ihm gab, zurückzunehmen, und die Ausgabe allein zu besorgen."38). Hierdurch wurde die Fertigstellung des Buches jedoch keineswegs beschleunigt. Als HAGEN im Spätsommer 1817 aus Italien zurückkehrte, war TIECK noch keinen Schritt weitergekommen, und H A GEN konnte die im Vorjahr unterbrochene Verbindung wieder anknüpfen. Am 20.10.1818 sandte er seine inzwischen fertiggestellte Bearbeitung des Ortnit nach Ziebingen:
Ich denke, besser spät als nie: darum komme ich heute noch mit dem Ortneit, ob er etwa noch zu der Sammlung Altd. Gedichte zu rechter Zeit kömmt. Zuvor aber ist die Frage, ob er auch dazu paßt. Ich habe ihn nochmals ganz umgeschrieben (daher die Zögerung), in der Art, die ich jetzo für solche Arbeiten gut halte; und bitte Sie nun, mir recht bald zu sagen, ob Sie das Lied so gebrauchen können; worauf denn auch der Wolfdietrich,
(L197) Bd. 1, S.269 (HAGEN an TIECK, 9.6.1815 [B516]).
33
HOLTEI
34
V g l . BRINKER-GABLER ( L 4 4 ) , S . 9 5 .
35
34
Bd. 2 , S . 2 9 9 (TIECK an die Buchhandlung 18.3.1816). ZEYDEL (L495), S. 117 (TIECK an HAGEN, 16.6.1816 [B 517]). SCHWEIKERT ( L 4 2 5 )
37
V g l . KLEE ( L 2 1 9 ) , S . 2 7 (TIECK a n M O H R , 2 8 . 9 . 1 8 1 6 ) .
Μ
Ebd.
MOHR UND WINTER,
Der Helden Buch I (1811)
129
der genau dazu gehört, bald folgen soll. Finden Sie zu große Verschiedenheit, so senden Sie mir die Handschrift zugleich zurück. Ich meine aber, es kömmt bei solcher Sammlung nicht so sehr auf Gleichartigkeit an. 39
TIECK, der sich durch HAGENS Beitrag unerwartet der Vollendung seines Heldenbuchs ein gutes Stück näher gebracht sah, erklärte sich sogleich mit allem einverstanden, 40 fand jedoch nicht mehr Kraft und Zeit, das sich seit fast einem Jahrzehnt hinziehende Unternehmen zu Ende zu führen. 41 Von dem umfassenden Heldenbuch-Projekt blieb schließlich nichts als HAGENS — ohne TIECKS Mitwirkung herausgegebener — Eröff-
nungsband: Der Helden Buch I. 3.12
Auswahl und Einrichtung der Texte
Erklärtes Ziel der HAGENschen Sammlung altdeutscher Heldenepik war die Herstellung eines „neuen und vollständigen Heldenbuchs Deutscher Nazion"42. Hierbei sollten zunächst die nur in wenigen Handschriften oder seltenen Einzeldrucken überlieferten Gedichte veröffentlicht werden 43 und Vorrang vor dem in den weitverbreiteten Heldenbuch-Drucken des 15./
16. Jahrhunderts publizierten Textkorpus (Ortnit, Wolfdietrich, Laurin, Ro-
sengarten) erhalten. In seinem Brief an Jacob
GRIMM vom 5 . 9 . 1 8 1 0 gab HAGEN einen ersten Überblick über das geplante Gesamtwerk: [...] im l t n Bd., nur ungedr. oder in seltnen einzelen Dr. vorhandene Stcke: 1) Hörnen Siegfried; 2) Etzels Hofhaltung; 3) das Rosengartenlied od. der Roseng. zu Worms (aus Hdss. hergestellt); 4) Ecken Ausfahrt; 5) Riese Sigenot; 6) Alpharts Tod (ein herrl. Gedicht, das nächste den Nibel. — etwas daraus und darüber steht von mir im vaterländ. Museum St. 2. — Ich habe die Hds. erkauft). 7) Dietrichs Flucht zu den Heunen (Göckle's Abschrift: viell. auch von Heck die Ravenna-Schlacht) 8) Laurin oder kl. Roseng. besonders nach der Straßb. Hds. — Auch möchte ich den Walther v. Aquitanien übersetzen. Der 21 Bd soll das Übrige, Otnit, Wolfdietr. pp enthalten, bis auf die Nibel., welche als 3" Bd wiederholt werden. Das Lied v. Hildebr. und Alebrand nicht zu vergessen. 44
39
HOLTEI ( L 1 9 7 ) B d . 1, S . 2 7 0 (HAGEN a n TIECK, 2 0 . 1 . 1 8 1 8 [ B 5 1 8 ] ) .
40
V g l . ZEYDEL ( L 4 9 5 ) , S . 1 1 9 (TIECK a n HAGEN, 3 . 2 . 1 8 1 8 [ B 5 1 9 ] ) .
41
In seinem Schreiben vom 9.1.1819 fragt HAGEN noch einmal beiläufig an: „[...] was macht unsre Bearbeitung?" (HOLTEI [L197] Bd. 1, S.277 [B 522]); fortan wird das Gemeinschaftswerk in der Korrespondenz nicht mehr erwähnt. Es bleibt ungewiß, ob die Bearbeitungen des Ortnit, Wolfdietrieb und Laurin noch fertiggestellt wurden, wie HAGEN in der Vorrede (S. XI) zum Heldenbuch 1855 (W 53) angibt. Der Versteigerungskatalog (L 51) führt nur das Or/n»V-Manuskript auf (S. 12, Nr. 289).
42
HAGEN an J . GRIMM, 5.9.1810 (B199).
43
V g l . H B 1 8 1 1 , S . V I I I ; HAGEN a n NYERUP, 1 9 . 9 . 1 8 1 0 ( B 3 8 4 ) .
44
HAGEN an J . GRIMM. 5.9.1810 (B199). Zu diesem Zeitpunkt hatte der Druck des Werks bereits begonnen; vgl. STEIG (L447), S. 111 (BRENTANO an die Brüder GRIMM, 3.9.1810).
130
Heldenbuch-Projekt
Bereits ein Vierteljahr später — das fünfte der im Brief genannten Gedichte (Sigenot) war soeben in den Druck gegangen — sah sich HAGEN gezwungen, erhebliche Abstriche am Inhalt des ersten Bandes vorzunehmen. Er hoffte zwar weiterhin auf die Zusendung der TiECKschen RavennaScblacbt, richtete sich im übrigen jedoch darauf ein, den Eröffnungsband seiner Sammlung mit der „Erneuung" des Laurin abzuschließen und vorerst auf Dietrichs Flucht und Waltharius zu verzichten.45 Angesichts der sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen Lage der UNGERSchen Verlagsanstalt — Friederike Helene UNGER mußte im Frühjahr 1 8 1 1 Konkurs anmelden — war er schließlich nur noch darauf bedacht, sein Heldenbuch so schnell wie möglich auf den Markt zu bringen. Als TXECK seine Bearbeitung der Ravenna-Schlacht nicht freigab, 46 entschloß sich HAGEN kurzerhand, auch auf seine Laurin-,,Erneuung" zu verzichten, und ließ Der Helden Buch I nut mit den sechs (bis Ende 1810 gedruckten) Gedichten Hörnen Siegfried, Etzels Hofhaltung, Rosengarten, Alpharts Tod41, Ecken Ausfahrt und Sigenot — gleichsam als ersten Teilband — erscheinen.48 In seinen Bearbeitungsprinzipien (Modernisierung des Lautstandes, Austausch unverständlicher Wörter, Absetzen der Strophen, Einführung von Interpunktion)49 zeigt Der Helden Buch I keine wesentlichen Unterschiede zur Ausgabe des Nibelungenlieds von 1 8 0 7 . HAGEN konnte bei den Heldenbuch-Gedichten jedoch in der Regel auf eine weitaus umfangreichere Textbasis zurückgreifen als bei der voraufgegangenen Nibelungen-„Erneuung". Hierüber geben der Anhang zu Der Helden Buch I und — ausführlicher — der (ebenfalls 1811 abgeschlossene) Literarische Grundriß50 nähere Auskunft: 1. Hörnen Druck Druck Stellen S. 369,
45
46 47
48
49 50 51
Siegfried:51 Nürnberg: Georg Wächter o. J. (Kopie) o. O . 1 5 8 5 (in HAGENS Besitz) aus einem (nicht identifizierten) Druck bei 450 f.
GOLDAST ( L 1 2 5 ) ,
Vgl. die Anzeige im Pantheon (L343) 3 (1810), S. 136; HAGEN an W. GRIMM, 2 5 . 1 2 . 1 8 1 0 (B 202). Vgl. KLEE (L219), S.25 (TIECK an HAGEN, 2 4 . 1 2 . 1 8 1 0 [B511]). Eine Teilveröffentlichung der „Erneuung" von Alpbarts Tod war zuvor im Vaterländischen Museum (1810) erschienen (W71). Das Werk geriet dennoch in den Strudel des Verlagszusammenbruchs und konnte erst im Sommer 1811 ausgeliefert werden. Auf das Honorar mußte HAGEN verzichten (vgl. HAGEN an die Brüder GRIMM, 3 . 3 . 1 8 1 2 [B 205]). Vgl. HB 1811, S.X. Grundriß (W9), Kap. A.I.l. c, d, e, g, h, n. Vgl. HB 1811, Anhang, S. 3; Grundriß (W9), S. 4 8 - 5 2 .
Der Helden Buch I (1811)
131
2. Etzels Hofhaltung.·52 Dresdner Handschrift (Sächs. LB Μ 201) (Kopie) 3. Rosengarten:53 Münchner Handschrift (Bayer. SB Cgm. 268) (Kopie) Dresdner Handschrift (Sächs. LB Μ 56) (Kopie) Stellen aus einer unbekannten Handschrift bei DOCEN (L70) Heldenbuch-Druck o. O . u. J . (in HAGENS Besitz) 4. Alpharts Tod.·Μ HUNDESHAGENS Handschrift (SBPK Berlin Ms. germ. fol. 856) (Kopie) 5. Ecken Ausfahrt:55 Münchner Fragment (Bayer. SB Cgm. 252) (Kopie) Dresdner Handschrift (Sächs. LB Μ 201) (Kopie) Druck Augsburg: Hans Schaur 1491 (Kopie) Druck Nürnberg: Wolfgang Huber 1512 (Kopie) Druck Straßburg: Christian Müller [d. J.] 1577 (in HAGENS Besitz) Stellen aus einem (nicht identifizierten) Druck bei GOLDAST ( L 1 2 5 ) , S. 356, 364, 392, 404 f., 428, 438 f. Einzelstrophe aus der Münchner Handschrift (Bayer. SB Cgm. 4660) b e i DOCEN ( L 7 2 ) , S . 1 9 4 .
6. Sigenot: 56 Dresdner Handschrift (Sächs. LB Μ 201) (Kopie) Straßburger Handschrift (ehem. Seminarbibl.; 1870 verbrannt) (Kopie) Druck Heidelberg: Heinrich Knoblochtzer 1490 (Kopie) Druck Nürnberg: Valentin Neuber o. J. [um 1565] (Teilkopie) Druck Straßburg: Christian Müller [d. J.j 1577 (in HAGENS Besitz) Druck Nürnberg: Michael und Johann Friedrich Endter 1661 (Kopie). Vor allem Rosengarten, Ecken Ausfahrt und Sigenot stellten HAGEN mit ihrer variantenreichen Überlieferung vor ungewohnte Aufgaben. Charakteristisch für das methodische Vorgehen des Herausgebers ist hier die Einrichtung der ersten Strophe des Sigenot·. Ihr Herrschaft, wollet ihr hie schweigen, Ich will euch Abentheur' anzeigen Von starken Stürmen harte, Wie daß von Bern Herr Dietrich ritt
Vgl. » Vgl. 54 Vgl. 55 Vgl. 56 Vgl. 52
HB HB HB HB HB
1811, 1811, 1811, 1811, 1811,
Anhang, Anhang, Anhang, Anhang, Anhang,
S.3; Grundriß, S.23f. S.3 —10; Grundriß, S. 5 6 - 6 2 . S. 10; Grundriß, S. 7 6 - 7 8 . S. 1 0 - 1 2 ; Grundriß, S. 3 4 - 42. S. 12f.; Grundriß, S. 2 4 - 33.
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Heldenbuch-Projekt
5 Und manchen Sturm er da durchstritt; Wenn ihn Gott nicht bewahrte, Es mochte anders nicht ergahn. Er ritt allein aus Berne, Durch manchen wilden finstern Tann, 10 Das mögt ihr hören gerne, Was Lieb' und Leid ihm da geschach: Von einem starken Riesen kam er in Ungemach.
Die der „Erneuung" voraufgehende „kritische Rezension" des Textes läßt sich recht sicher rekonstruieren. Zur besseren Orientierung wird beim folgenden Abdruck der erschlossenen mittelhochdeutschen Version der Verse 1 — 12 das (bei HAGEN fehlende) Verzeichnis der für die Textherstellung bedeutsamen Varianten ergänzt:57 Ir herschaft, weit ir hie betagen, Ich wil iu aventiure sagen Von starken stürmen herte, Wie daz von Bern her Dietrich reit 5 Und mangen stürm er do durchstreit; Wan daz in got ernerte, Ez mohte anders nit ergan. Er reit allein uz Berne, Durch mangen wilden finstern tan, 10 Daz muget ir hceren gerne, Waz liep und leit im do geschach: Von einem starken risen kam er in ungemach. 1. Wolt ir h. hie b. d; hie fehlt S. 2. (Groß d) Obenteuer wil ich euch s. Dd. 3. starken] grossen D. 4. Wie das D] Die S; Dieterich D; streit S; Die der Berner vn hiltpräd leyt d. 5. Do mit er m. S, Vnd manch D, Vil m. d; da fehlt D; erleit S, streyt d. 6. Piß das Dd. 7. mohtt Sd, moch D; im a. Dd. 8. von S. 9. Ouch d. S, Er rait d. manch D; finster D; wilden fehlt SD. 11. (Groß d) Liep Sd; beschach S. 12. Mit e. S; grossen D.
57
Im Apparat werden folgende Siglen verwendet: S (Straßburger Handschrift), D (Dresdner Handschrift), d (Druckfassungen).
Der Helden Buch I (1811)
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HAGENS Ziel ist die Herstellung eines in sich stimmigen, verständlichen58 und metrisch-rhythmisch glatten59 Textes. Hierzu trifft der Bearbeiter — ohne sein Vorgehen näher zu erläutern oder zu begründen — Vers für Vers (seltener Wort für Wort) seine „textkritische" Entscheidung: Er folgt in den Versen 2, 6 und 7 der Straßburger Handschrift S, schließt sich in 4, 5 und 11 dem Dresdner Kodex D an, in 9 der Druckfassung d, und nimmt in 1 die von S und D überlieferte Lesart in den Text auf. HAGEN unterläßt es, den Wert der einzelnen Textfassungen abzuwägen und verzichtet auf die Wahl einer Leithandschrift. Wie bei der „Erneuung" des Nibelungenlieds von 1807 sieht er seine Bearbeitung in der Tradition der „vielen, nur Sprache und Form auffrischenden Ausgaben des Heldenbuches und einzeler dazu gehöriger Lieder"60; im Gegensatz zu den meisten spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Redaktoren ist er jedoch bestrebt, alles, was „etwa aus Mißverstand und Ungeschicktheit in der Sprache, und durch steife meistersängerische Überarbeitung der poetischen Form verderbt"61 ist, aus älteren Textzeugen wiederherzustellen. Das Ergebnis seiner Bemühungen ist — wie 1807 — eine verspätete „Mischredaktion", die die vorliegenden Texte zwar in einer weithin lesbaren Form bietet, jedoch weder im Wortlaut noch im Lautstand Anspruch auf Historizität und Authentizität erheben kann. Bei gleichbleibenden Bearbeitungsprinzipien traf Der Helden Buch I auf ähnliche Reaktionen wie die „Erneuung" des Nibelungenlieds von 1807. GOETHE, dem der Band gewidmet war, zollte der „Behandlungsweise" der Texte seinen „völligen Beifall": „Denn diese schätzbaren Reste des Altertums hätten viel früher auf mancherlei Weise einen günstigen Einfluß auf mich ausgeübt, hätten sie mich nicht durch ihre rauhe Schale abgeschreckt, welche zu durchbrechen weder mein Naturell noch meine Lebensweise geeignet war."62 Der Rezensent der Halleschen Allgemeinen LiteraturZeitung53 fand an den Prinzipien der Texteinrichtung ebensowenig auszusetzen wie (der HAGEN freundschaftlich verbundene) Friedrich David GRAETER: „Vor der Hand sind diese Heldenlieder dem Freunde seines vaterländischen Alterthums durch die zweckmäßige Veränderung der Rechtschreibung u. der Unterscheidungszeichen [...] zum Genuß bereitet, und daß man so gerne dabey verweilt, und mit Begierde sein Auge darauf richtet,
58
59
60 61 62
63
So werden 1 betagen durch schweigen (entsprechend 2 sagen durch anzeigen) und 6 ernerte durch bewahrte (entsprechend 3 kerte durch harte) ersetzt. Nicht zu übersehen ist das Bemühen des Herausgebers um die Herstellung rein alternierender Verse (mit Auftakt). HB 1811, S.XIII. Ebd. GOETHE (L122), Abt. 4, Bd. 22, S. 161 (GOETHE an HAGEN, 11.9.1811 [B184]). Vgl. Rez. HB 1811 (W 7.1).
134
Heldenbuch-Projekt
dafür sey Hrn. v. d. H. auch von mir ein herzlicher Dank gesagt!" 64 Einzig Wilhelm GRIMM ließ es sich nicht nehmen, dem Werk eine ausführliche, kritische Besprechung zu widmen. Wie schon bei der „Erneuung" des Nibelungenlieds von 1807 stieß er sich vor allem an der von HAGEN geschaffenen Mischsprache, die — „weder alt noch neu"65 — „in keinem Punkt der Vergangenheit war und in keinem der Zukunft sein kann, weil sie ausser der Seele der Sprache liegt" 66 . Dem Gedanken an eine Modernisierung der altdeutschen Texte (freilich nicht in der von HAGEN gewählten Form) stand GRIMM zwar durchaus aufgeschlossen gegenüber, doch forderte er grundsätzlich dazu auf, vor jeder Bearbeitung den „reinen Text" zu publizieren, da „das Leben der alten Dichtungen aus der ursprünglichen Form am besten erkannt werden könne": „Man hat die alten Statuen, als sie aufgefunden worden, erst aufgestellt, ehe man daran gedacht, Gipsabdrücke für Akademieen zu nehmen."67 Im übrigen blieb es in den Rezensionsorganen der Zeit still um die Heldenbuch-Erneuerung von 1811. Eine öffentliche Resonanz wie vier Jahre zuvor die Nibelungen-Bearbeitung konnte Der Helden Buch I nicht erreichen, und HAGEN war gewiß gut beraten, sich für die geplante Fortsetzung mit TIECK zusammenzutun, um so — da offensichtlich das allgemeine Interesse an den Texten (und der Form ihrer Darbietung) nicht sehr ausgeprägt war — wenigstens durch den renommierten Namen des Mitherausgebers die Aufmerksamkeit des breiteren Publikums auf die „Erneuung" altdeutscher Heldenepik zu lenken.
3.2
Der Helden Buch in der Ursprache {Deutsche Gedichte des Mittelalters (1820-1825)
II)
3.21 Das Heldenbuch — ein Opfer der „Papiernot" Anders als beim Nibelungen-Projekt, bei dem die „kritische" Ausgabe in knapp dreijährigem Abstand auf die „Erneuung" folgte, sollten beim Heldenbuch fast zehn Jahre vergehen, bevor HAGEN die Edition der mittelhochdeutschen Texte erscheinen lassen konnte: Erst 1820 (der zweite Teilband 1824) gelangte Der Helden Buch in der Ursprache bei Georg Andreas REIMER in Berlin auf den Markt — als Fortsetzung der 1808 64
Rez. HB 1811 (W7.3), S. 156.
65
W. GRIMM ( L 1 4 9 ) Bd. 2 , S . 4 2 .
66
Ebd., S. 44. Ebd., S. 42.
67
Der Helden Buch in der Ursprache ( 1 8 2 0 - 1 8 2 5 )
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gemeinsam mit BÜSCHING eröffneten Sammlung Deutsche Gedichte des Mittelalters,1 HAGEN und BÜSCHING hatten seinerzeit (gleich nach Abschluß der Arbeiten am ersten Teil ihrer Deutschen Gedichte des Mittelalters) mit den Vorbereitungen für die Folgebände begonnen.2 Dabei war, wie aus HAGENS Schreiben an Johannes von MÜLLER vom 1 . 3 . 1 8 0 9 hervorgeht, den Gedichten des Heldenbuchs zunächst nur eine periphere Rolle zugedacht gewesen: Wir rüsten uns jetzo nicht minder auch schon zu dem 2m Bd. der Sammig. Altd. Ged. Bestimmt sind dazu: die Ravenna-Schlacht (zum Heldb. gehörig), die 7 weisen Meister, der Lanzelot, der Reinfried v. Braunschweig, vielleicht auch noch der Wigoleis oder Daniel v. Blumenthal. Im 3tn Bd. soll der Titurel folgen, und in einem 4™, so Gott will, eine neue vollständige lyrische Sammig. aus dem Maness., Weingartner, Jenaer pp Kodd. Ich hoffe dazu den ersten aus Paris herzukriegen. 3
Das groß angelegte Unternehmen kam nur zögernd in Gang, da es den Herausgebern an den notwendigen Handschriften bzw. Kopien mangelte. Im September 1 8 0 9 war — wie Wilhelm GRIMM seinem Bruder Jacob mitteilte — „noch nichts angefangen" 4 . Zu diesem Zeitpunkt hatten HAGEN und BÜSCHING die ursprüngliche inhaltliche Zusammensetzung des Bandes bereits erheblich modifiziert und dabei den Heldenbuch-Gedichten ein größeres Gewicht eingeräumt. Der zweite Teil der Deutschen Gedichte des Mittelalters sollte nunmehr folgende Texte enthalten: 1. Vieles aus dem Heldenbuch, ζ. B. die Dresden. Hds. größtentheils. 2. die 7 w. Mstr. 3. Reinfried v. Braunschw. 4. Lanzelot (viell. erhalte ich auch die alte Hds. Nr. 42 von Karl d. Gr. aus Wien) 5. Wigoleis. Ungewiß sind noch: Barlaam und Josaphat, Wilhelm v. Brabant. Kann ich Eschenbachs Gottfr. v. Bouillon aus Wien kriegen, geht er billig vor. 5
An ein alsbaldiges Erscheinen des Bandes war damals nicht mehr gedacht. Im Literarischen Grundriß machten HAGEN und BÜSCHING zwar 1811 die Öffentlichkeit auf das Projekt aufmerksam und kündigten einen Anhang mit „Untersuchungen über die Fabel und den Inhalt" 6 des Heldenbuchs an, riefen jedoch erst ein halbes Jahr später zur Subskription auf. In ihrer (vom April 1812 datierten) Anzeige 7 hielten beide an dem 1807/ 08 aufgestellten Grundsatz fest, vornehmlich die „wichtigsten noch ungedruckten" Werke der „besten Zeit" (insbesondere die „nur noch in einzigen
1
S. u. Kap. 4.1.
2
V g l . HAGEN a n ARETIN, 2 0 . 1 1 . 1 8 0 8 ( B 8 ) ; HAGEN a n ESCHENBURG, 2 0 . 1 1 . 1 8 0 8 ( B 1 6 5 ) .
3
HAGEN a n J . V . M Ü L L E R , 1 . 3 . 1 8 0 9
4
Vgl.
5
HAGEN a n J . G R I M M , 5 . 9 . 1 8 1 0
6
Grundriß {W9), S. 526. Vgl. Anzeige (W23.1).
7
SCHOOF ( L
409),
S.
159
(W.
an
(B364). J . GRIMM,
(B199).
nach dem 18.9.1809).
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Heldenbuch-Projekt
Handschriften übrigen") zu publizieren: In den zur Subskription gestellten Band sollten nunmehr, falls nicht „noch etwas Trefflicheres" gefunden würde, das Dresdner Heldenbuch Kaspars von der Rhön, Dietrichs Flucht, Ulrichs von Türheim 7Kr/