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German Pages 234 [236] Year 2003
C A Ñ A D I ANA R O M A N I C A publiés par Hans-Josef Niederehe et Lothar Wolf Volume 17
Jens Unterberg
FREMDE UND FEINDE Phänomenologie des Heterogenen im Quebecer Roman
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
Für meine Mutter, Frau Karin Unterberg, und Michael Dickopf
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-56017-7
ISSN 0933-2421
© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de D a s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Danksagung Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum im Wintersemester 2000/2001 angenommen worden. Sie beschäftigt sich in zentraler Weise mit dem Phänomen des Fremden, dessen Existenz eine Störung, wenn nicht gar Verunsicherung tradierter Wahrnehmungsgewohnheiten darstellt und eine Herausforderung für die (post-)moderne Literaturwissenschaft und Philosophie bedeutet. Das Fremde verweigert sich aller Uniformierung und damit auch allen Tendenzen der Systematisierung und der Normalisierung. Es ist natürlich die Kunst, die sich diesem Unbekannten angenommen und Wege gesucht hat, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden. Das gilt insbesondere auch für die französischsprachige Literatur aus Quebec. Die langjährige Beschäftigung mit dem Heterogenen im Quebecer Roman gab mir Gelegenheit, meine während des Studiums der Romanistik und Philosophie gewonnenen Ideen zu überprüfen. Besonders inspirierend waren für mich die Veranstaltungen von Herrn Prof. Dr. Behrens. Unvergessenen bleiben seine bis lang in den Abend reichenden Seminare zur Literarischen Anthropologie. Viel zu verdanken habe ich auch den an der Ruhr-Universität Bochum gepflegten Auseinandersetzungen zur Literaturtheorie und Phänomenologie. Die modernen Romane aus Quebec bieten Unterhaltung und intellektuelle Auseinandersetzung, so dass es mir über die Jahre nicht langweilig wurde, diese Arbeit zu verfertigen. Ich hoffe, dass etwas von dieser Begeisterung bei der Lektüre dieses Buches zu spüren ist. Dass das Abenteuer meines Forschungsprojekts an ein Ende gekommen ist, verdanke ich insbesondere meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. Rudolf Behrens, der meine Vorstellungen aufnahm und die Arbeit in allen Stadien kritisch und wohlwollend begleitete. Danken möchte ich weiterhin Herrn Prof. Dr. Alfons Knauth für das Koreferat und Herrn Prof. Dr. Walter Moser (Université de Montréal) für seine Empfehlung. Den Herren Professoren Wolf und Niederehe danke ich für die Herausgabe meiner Arbeit in der Reihe Canadiana Romanica. Dr. Peter Klaus (FU Berlin) gilt mein Dank, weil er sich für die Quebecer Literatur einsetzt und mir viele Anregungen gegeben hat. Ohne die vorzüglichen Bibliotheken der Freien Universität Berlin und des Kennedy-Instituts für Nordamerika-Studien, das mir ein Stipendium gewährt hat, wäre die Arbeit nicht möglich gewesen. Das gilt natürlich auch für meine Freundinnen und Freunde, meinem Bruder und meiner Großmutter, die alle auf ihre Weise zum Gelingen beigetragen haben: Ich denke an Elke Süsselbeck, die während des Todes meiner Eltern da war, an Ulli Lange, die mir einen Schlafplatz in Montreal gewährte, an A.S., an Bernd Tischer und die Zeit am Prenzlauer Berg; nicht zuletzt denke ich an Dr. Judith Dickopf und Reiner Dickopf, die so wunderbar Korrektur gelesen haben. München, im April 2003
Jens Unterberg
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung
1
1.1. Homogener Kulturraum und heterogener Sinn
5
1.2. Exkurs: Die Romane von Gérard Bessette
9
1.3. Die Begegnung mit dem Fremden
13
2. Phänomenologie des Heterogenen
21
2.1. Wahrnehmung und Phantasie
21
2.2. Die Erfahrung des Heterogenen
26
2.3. Phantasie und Heterogenität
31
2.4. Das literarische Medium
34
2.5. Fremde und Feinde
39
3. Ein literaturhistorischer Überblick
43
3.1. Der Neonationalismus der sechziger Jahre
44
3.2. Der Feminismus der siebziger Jahre
54
3.3. Der Diskurs des Heterogenen der achtziger Jahre
61
3.4. Zur Auswahl der Romane
65
4. Feinde 4.1. Jacques Renaud: Le Cassé 4.1.1. Das Insignium der Macht 4.1.2. Der Blick des Anderen 4.1.3. Ein Text ohne Plot 4.1.4. Der Mensch in der Revolte 4.1.5. Der existenzialistische Blick 4.2.
Jacques Ferron: La Nuit (Les Confitures de coings) 4.2.1. Die andere Nacht 4.2.2. Das gewendete Objektiv 4.2.3. Die verkaufte Seele 4.2.4. Der Feind und der Fremde 4.2.5. Zusammenfassung
4.3.
Hubert Aquin: Prochain épisode 4.3.1. Das Scheitern der Originalität 4.3.2. Fiktion der Fiktion 4.3.3. Gute und schlechte Dialektik 4.3.4. Der imaginäre Strom 4.3.5. Quebec
71 71 72 75 76 79 81 82 83 87 89 91 92 95 95 97 101 105 108
VIII
Inhaltsverzeichnis
5. Waffen
Ill
5.1. Einleitung
Ill
5.2. Nicole Brossard: L'Amèr 5.2.1. Die Frau als Objekt 5.2.2. Der Blick des Mannes 5.2.3. Die Frau als Subjekt 5.2.4. Das Feminine 5.2.5. Sinn und Nicht-Sinn 5.2.6. Die Waffe
113 113 115 116 118 122 126
5.3. Zusammenfassung
127
6. Fremde
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6.1. Michel Tremblay: Chroniques du Plateau Mont-Royal 6.1.1. Das Heterogene und das Imaginäre 6.1.2. Verrücktheit und Lüge 6.1.3. Ausflucht und Wahrheit 6.1.4. Karneval 6.1.5. Zusammenfassung
131 133 135 140 143 148
6.2. Jacques Poulin: Volkswagen Blues 6.2.1. Auf der Suche nach dem Bruder 6.2.2. Der Held und der Schriftsteller 6.2.3. Das Heterogene 6.2.4. Das Ende eines Traums
152 153 154 155 157
6.3. Jacques Godbout: Une Histoire américaine 6.3.1. Das Exil 6.3.2. L'époque péquiste 6.3.3. Der Wahn-Sinn der Literatur 6.3.4. Der heterogene Sinn
160 161 162 166 169
7. Versuch einer synthetisierenden Lektüre: (Post-) Kolonialistisches Schreiben und das Heterogene
173
7.1. Der politische Diskurs: Kolonialismus und Befreiung 7.1.1. Parti pris und die littérature engagée 7.1.2. Hubert Aquin und der Nouveau Roman 7.1.3. Nicole Brossard und der Telquelismus 7.1.4. Tremblay, Poulin und Godbout und die Postmoderne
174 174 180 185 190
7.2. Der literarische Diskurs: Poetik des Heterogenen
196
7.3. Zusammenfassung
204
Bibliographie 1. 2.
Primärliteratur Sekundärliteratur
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Comme beaucoup de Québécois, j'ai une image exagérément positive de l'Autre: j e suis toujours prête à supposer que les étrangers sont mieux que nous. Il n'y a là rien de singulier; c'est une attitude de colonisé. Francine Noël, Nous avons tous découvert
l'Amérique
Indem sie [die traditionellen Philosophien] noch das Heterogene als sich selber, schließlich den Geist, deuteten, wurde es ihnen schon wieder zum Gleichen, Identischen, in dem sie sich, wie mit einem gigantischen analytischen Urteil, wiederholten, ohne Raum fürs qualitativ Neue. Theodor W. Adorno, Negative
Dialektik
Cela va prendre beaucoup de temps mais dans la relation mondiale d'aujourd'hui c'est une des tâches les plus évidentes de la littérature, de la poésie, de l'art que de contribuer peu à peu à faire admettre .inconsciemment' aux humanités que l'autre n'est pas l'ennemi, que le différent ne m'érode pas, que si j e change à son contact, cela ne veut pas dire que j e me dilue dans lui. Edouard Glissant, Introduction
à une poétique
du divers
1. Einleitung »J'ai commencé à écrire par réaction à tout ce qui était étranger ici.«1 Mit diesem Satz deutet der Schriftsteller Jacques Renaud eine Fremderfahrung an, welche für die Quebecer Literatur überaus prägend gewesen ist. Das zeigt die omnipräsente Figur des Fremden. Die Ursprünge dieser Erfahrung sind in der kolonialistischen Vergangenheit zu suchen 2 , und dennoch erscheint der Fremde als Fremder erst zu einer Zeit, als die konformistisch-traditionelle littérature canadienne d'expression française durch eine moderne und postkolonialistische littérature québécoise abgelöst wird. Hier deutet sich sowohl eine literarische als auch eine politische Schwierigkeit an, das Fremde schlechthin zur Sprache zu bringen, der ich in der folgenden Untersuchung auf den Grund gehen will. Warum hat die Literatur in Quebec erst so spät auf das Fremde reagieren können? Wie zu zeigen sein wird, hat Quebec mit großer Verspätung ein politisches Bewusstsein seiner selbst erlangt, dann aber innerhalb kürzester Zeit zwei durch die Fremdherrschaft quasi verlorene Jahrhunderte nachgeholt. So hat der bekannte Medientheoretiker Marshall McLuhan in den sechziger Jahren davon gesprochen, dass die Frankokanadier »viennent de passer du XVIIIe siècle au XXIe siècle« 3 , und Claude Filteau hat festgestellt, dass »la société québécoise entre à la fois dans la modernité et dans la post-modernité.« 4 Wie man beobachten kann, hat sich so in einer fulminanten Beschleunigung, innerhalb weniger Jahrzehnte nämlich, eine politische Standortbestimmung herausgebildet, die sich in einem Spannungsfeld nationalistischer Autonomiebestrebungen und postideologischer Moderne bewegt. 5 Erst in diesem Spannungsfeld hat eine Prosa entstehen können, die mithilfe moderner oder postmoderner Schreibpraktiken auf folgende Fragen eine Antwort zu geben versucht: Wie ist ein Sinn äußerbar, der fremd ist, der sich folglich dem Verständnis oder dem Wissen entzieht? Wie ist das Fremde als Fremdes
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Jacques Renaud, in: Bouthillette, Jean: »Le Cassé, c'était l'enfer« [Interview]. In: Perspectives (11. November 1967). Zitiert in: Major, Robert: Parti pris: Idéologies et littérature. LaSalle: Hurtubise HMH 1979, S. 64. Quebec ist zwar, wie der Soziologe Marcel Rioux (1919-1992) einmal bemerkte, eine der wohlhabendsten, aber auch eine der ältesten Kolonien der Neuzeit gewesen. Die politische Unterdrückung setzte nämlich um 1760 ein. Die Folgen dieser Situation reichten weit in das Alltagsleben hinein und wirkten selbst noch nach der so genannten Révolution tranquille (1960) fort, über zweihundert Jahre also. Vgl.: Rioux, Marcel: La Question du Québec. Paris: Éditions Seghers 1969, S. 9f. Zitiert in: Rioux, Marcel: Les Québécois. Paris: Seuil (Collection >Le Temps qui courtabsoluten Anfang< der Erfahrung vor aller Selbstkonstitution. 9 Ziel dieser Untersuchung ist also nicht, eine Sicht des Fremden nachzuzeichnen, so etwa der Migranten auf Quebec, sondern umgekehrt das Verhältnis und Verhalten der Quebecer auf das Fremde. Nur aus diesem Blickwinkel gesehen können sowohl definitorische Bestimmungen als auch ideologische Vereinnahmungsversuche des Fremden umgangen werden. Aufgrund vergleichbarer Strukturmomente lassen sich so eminente Charakteristika f ü r die Literatur dieses Landes herausarbeiten. Und dennoch tun sich trotz der oben genannten Konstanz der beobachtbaren Fremderfahrung bedeutsame Differenzen auf, welche die Romane nicht nur nach den literarischen Ausformungen des Heterogenen, sondern auch und in Verflechtung damit nach der ideologischen Kontextualisierung der Fremdbegegnung unterscheiden lassen. Diese zu unterscheidenden Kontexte lassen sich von dem weiter oben erwähnten Spannungsfeld ableiten. Neben der Frage nach dem literarischen muss also auch die nach dem politischen Diskurs gestellt werden. Erst wenn die ideologischen Inschriften dechiffriert sind, kann die Wahrnehmung des Fremden historisch systematisiert werden. Unter diesem Blickwinkel ist nämlich festzustellen, dass das Heterogene entsprechend der jeweilig prädominanten Ideologie in einen bestimmten Bedeutungszusammenhang eingeschrieben wird. Die Romane lassen sich unter diesem Gesichtspunkt in drei Gruppen einteilen, denen jeweils ein Motiv (»Feind«, »Waffe«, »Fremder«) und ein Jahrzehnt zugeordnet werden kann. Das 1. und das 3. Kapitel leisten diese politisch-ideologische Kontextualisierung der Romane. Das dient (1.) einer diskursiven Analyse der politischen Wahrnehmung im weitesten Sinne des Wortes >PolitikWahrnehmbarkeit des Heterogenem, die sich der normativen Kraft der Rationalität entzieht. Es kommt eine beredte Fremdheit in den Blick, die sich nicht mit einer auf Begriffe gebrachten Erfahrung verrechnen lässt. Eine phänomenologische Methode ermöglicht, das Verhältnis von natürlicher und imaginärer Perzeption zu erhellen (vgl. das 2. Kap.). Darüber hinaus vermeidet sie die Reduzierung der
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Sartre, Jean-Paul: L'Être et le néant: Essai d'ontologie phénoménologique. Paris: Gallimard 1943, S. 307. Vgl. auch Waelhens, Alphonse de: »Phénoménologie husserlienne et phénoménologie hégélienne«. In: Α. de W.: Existence et Signification. Louvain/Paris: Editions Nauwelaerts 1958, S. 7-30, S. 18: »Et c'est pourquoi la philosophie de Husserl est une philosophie qui définit la réalité comme rencontre, si l'on veut bien entendre ce dernier mot au sens le plus étendu possible.« Vgl. die Ausführungen von Bernhard Waidenfels in: B.W.: »Husserls Verstrickung in die Erfahrung«. In: Husserl, Edmund: Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von B. Waldenfels. Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 263-277.
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Einleitung
Fremdwahrnehmung auf Begriffe. Diese Methode geht nämlich von einer Seinsgebundenheit aller Wahrnehmungsperspektiven aus, die >Wirklichkeit< und >Wahrheit< nicht mehr als feststehende Größen betrachtet. Verschiedene Arbeiten von Ferdinand Fellmann zeigen das, wenn er davon spricht, dass die Phänomenologie von einem »Misstrauen gegenüber der gegebenen Wirklichkeit« 10 geprägt ist und letztlich alle Erkenntnisformen in eine Krise geraten: Pragmatismus, Neukantianismus und Phänomenologie bilden trotz aller Verschiedenheit der systematischen Ausgestaltung drei im Prinzip strukturgleiche Antworten auf die Problemlage, wie sie durch den erkenntnistheoretischen Positivismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geschaffen worden war. Die Problemlage lässt sich als Auflösung der altkantischen Architektonik der Vernunft mit ihren festen Einteilungen und stabilen Strukturen kennzeichnen. Die positivistischimpressionistische Auflösung des Gegebenen macht vor nichts halt: Zur Beweglichkeit der Welt gesellt sich die Beweglichkeit der Erkenntnisformen."
Was die Phänomenologie leistet, ist ein vorbehaltloses 12 Interesse am Fremden selbst, was Husserls wohl berühmtesten Satz: »Wir wollen zu den Sachen selbst zurückgehen« 1 3 sinnfällig erscheinen lässt. Eine solche Wissenschaft vermag es meines Erachtens am besten, der oben ausgeführten Begegnung mit dem Fremden gerecht zu werden, weil es sich um eine Begegnung vor der Freund-Feind-Erkennung handelt. Um sich dem Phänomen des Fremden in den Romananalysen zu stellen, müssen auch der Interpret und seine Leser bereit sein, sich auf eine solche Begegnung einzulassen. Einige Bemerkungen sind noch zu Wortwahl und Schreibweise nötig, die im Zusammenhang mit den politischen Implikationen stehen. Ich habe es aus zwei Gründen f ü r geboten gehalten, nicht vom >frankokanadischenQuebecer< Roman zu sprechen: Meine Untersuchung konzentriert sich nämlich (1.) ausschließlich auf Romane, die in Quebec selbst entstanden sind. Ich berücksichtige also keine kanadischen Romane französischer Sprache, die in anderen französischen Sprachräumen geschrieben worden sind (wie z.B. in der Acadie). Wie ich noch ausführen werde, wird (2.) die Literatur in Quebec selbst seit Mitte der sechziger Jahre ganz ausdrücklich littérature québécoise und nicht mehr littérature canadienne-française oder gar littérature canadienne d'expression française genannt. Nach meinem Dafürhalten wäre es also inkorrekt, sie weiterhin als >frankokanadische< Literatur zu bezeichnen. Auch die Orthographie der deutschen Übertragungen ist nach wie vor nicht gefestigt und schwankt von Autor zu Autor. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Quebecer Literatur in der deutschsprachigen Romanistik noch keinesfalls kanonisiert ist. So finden sich Schreibweisen des Substantivs wie >QuébecerQuébecker< oder eben >québécisch< und zwar mit oder ohne
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Fellmann, Ferdinand: Phänomenologie und Expressionismus. Freiburg/ München: Alber 1982, S. 11. " Fellmann, Ferdinand: Phänomenologie als ästhetische Wissenschaft. Freiburg/ München: Alber 1989, S. 25f. Als weiterführende Literatur zur phänomenologischen Literaturwissenschaft sind noch folgende Werke zu nennen: Konstantinovic, Zoran: Phänomenologie und Literaturwissenschaft: Skizzen einer wissenschaftstheoretischen Begründung. München: List 1973; Lobsien, Eckhard: Das literarische Feld: Phänomenologie der Literaturwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag 1988. 12 Jean-Paul Sartre sagte in diesem Zusammenhang: »sans préparation discursive«. Vgl. Sartre, JeanPaul: L'Être et le néant: Essai d'ontologie phénoménologique. Paris: Gallimard 1943, S. 276. 13 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Bd. 2: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil. Den Haag: Martinus Nijhoff Publishers 1984 (Husserliana XIX/1), S. 1.
Homogener Kulturraum und heterogener
Sinn
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Akut. Beispielsweise hat sich Klaus-Dieter Ertler in seiner jüngst erschienenen Geschichte des Romans 14 für >QuébecQuébecer< und >québécisch< entschieden. Das gleiche trifft auf Lothar Baier und Pierre Filion zu, die in ihrer Anthologie der Literatur aus Quebec 15 >québecer< allerdings mit Minuskel schreiben. Die Herausgeber einer weiteren Anthologie, HansJürgen Greif und François Ouellet 16 , schreiben wiederum >Québec< mit Akzent, das Adjektiv >quebecer< aber ohne. Es gibt aber keinen Grund, warum die Übertragungen nicht konsequent ins Deutsche durchgeführt werden sollten. Ich schlage deshalb vor, >Quebec< und >QuebecerMontreal< ohne Akzent zu schreiben.
1.1. Homogener Kulturraum und heterogener Sinn Im Jahre 1839 fertigte der Gouverneur der britischen Kronkolonie in Nordamerika, Lord Durham, einen berühmt gewordenen Report on the Affairs of British North America an. Der Bericht wurde nur kurze Zeit nach dem ersten und bis heute einzigen Versuch der Frankokanadier verfasst, sich gewaltsam aus den kolonialen Fesseln der britischen Krone zu befreien. Diese Rebellion unter der Führung von Louis-Joseph Papineau, die als révolte des Patriotes (1837/ 38) in die Geschichtsbücher einging, wurde niedergeschlagen, sodass sich Lord Durham in der Annahme der Minderwertigkeit der französischsprachigen Kultur in Nordamerika bestätigt sah. Er schloss daraus auf die Legitimation der britischen Vorherrschaft. In diesem Report findet sich ein Satz, der wie ein Fluch auf die kanadische Literatur französischer Sprache wirkte und noch bis in die Gegenwart widerhallt: »They are a people with no history, and no literature.« 17 Angesichts eines folgenreichen Verdikts gegen eine vollwertige Eigenständigkeit der frankokanadischen Kultur verwundert es daher nicht, dass sich die ersten Ansätze einer Literaturkritik in Quebec wie eine Replik auf diesen Satz lesen. Henri-Raymond Casgrain, einer der wichtigsten Verteidiger einer französisch-kanadischen Literatur um 1900, erwartet denn auch von dieser, den Gegenbeweis zu Lord Durham anzutreten, indem sie sich deutlich von der anglophon-protestantischen Kultur abgrenzen soll, um eine Identität Quebecs zu befördern. Entsprechend reaktiv werden der Katholizismus und die französische Sprache hervorgehoben, die in der ländlichen Abgeschiedenheit einen nationalen Schutzwall gegen das drohende Aussterben 18 der frankokanadischen Kultur bilden sollen. Casgrains Schriften,
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Ertler, Klaus-Dieter: Kleine Geschichte des frankokanadischen Romans. Tübingen: Gunter Narr Verlag (>Narr Studienbücher) 2000. Baier, Lothar/ Filion, Pierre (Hrsg.): Anders schreibendes Amerika: Eine Anthologie der Literatur aus Québec 1945-2000. Heidelberg: Wunderhorn 2000. Greif, Hans-Jürgen/ Ouellet, François (Hrsg.): Literatur in Québec: Eine Anthologie (1960-2000). Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2000. Lambton, John George (Lord Durham): Lord Durham's Report on the Affairs of British North America (vol. 2). Hrsg. von Charles P. Lucas in drei Bänden. New York: Augustus M. Kelley Publishers 1970, S. 294. Die 1. Auflage dieser Ausgabe erschien 1912 in Oxford. Noch 1911 war Stefan Zweig während eines Aufenthalts in Kanada vom wahrscheinlichen Untergang der Frankokanadier ausgegangen, bemerkte aber auch den geradezu heroischen Widerstandsgeist derselben: »Die Intransigenz des Katholizismus - und dann der berühmte und in Frankreich stets als Beispiel aufgezählte, aber nicht nachgeahmte Kinderreichtum der kanadischen Franzosen haben hier ein Bollwerk aufgerichtet, das ein Denkmal nationaler Energie ohnegleichen ist in unseren Tagen.« Aus: Zweig, Stefan: »Bei den Franzosen in Canada«. In: S.Z.: Auf Reisen: Feuilletons und Berichte. Frankfurt a.M.: Fischer 1987, S. 129-135, hier: S. 133.
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Einleitung
die hauptsächlich in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Le Foyer canadien veröffentlicht worden waren, kulminieren deshalb in dem programmatischen Satz: »Notre littérature sera nationale ou elle ne sera pas«19, mit dem er ein Thema einführt, das die nachfolgenden Schriftstellergenerationen wieder aufnehmen werden. Casgrain scheint seine Ideen gegen Lord Durham formuliert zu haben, eine Überlegung, welche die defensive Haltung der frankokanadischen Gesellschaft unterstreicht, denn die nationale Identität manifestiert sich auf diese Weise in Absetzung von einer anderen. Marcel Rioux hat das sehr prononciert am Anfang seiner Studie Les Québécois dargestellt, indem er zeigt, wie die französischsprachigen Siedler Kanadas vor 1760, folglich vor der britischen Vorherrschaft, gegen Frankreich ihre Amerikanität (l'américanité) und später gegen die Anglokanadier ihre Französität (la francité) hervorhoben: »Dans une situation de domination politique ou économique, les dominés ont tendance à maximer les différences qu'ils perçoivent entre eux et les dominants, dans l'espoir de préserver leur identité et de justifier leur libération.« 20 Rioux spricht aufgrund dessen an anderer Stelle von einer »idéologie de défense et de conservation«21: Die frankokanadische Bevölkerung, die zu großen Teilen bis zum Zweiten Weltkrieg eine Agrargesellschaft blieb, widerstand so für lange Zeit allen äußerlichen oder fremden Einflüssen. So konnte jener homogene Kulturraum22 geschaffen werden, der wohl, wie man heute weiß, den Fortbestand der frankokanadischen Gesellschaft gesichert hatte. So schreibt der Quebecer Politologe Denis Monière: Dadurch, dass sie sich selbst als Kanadier definierten und ihren Status als Minorität anerkannten, haben die frankophonen Kanadier defensive Strategien entwickelt, die sich auf die Verschlossenheit gegenüber anderen und auf maximalen sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gruppe stützen. Jede ethnische Minderheit empfindet die anderen als eine Bedrohung, da ihr Überleben von diesen anderen abhängt. Sie hat also die Tendenz, sich zu schützen, indem sie Einflüsse von außen ablehnt und indem sie den Konformismus und die Homogenität ihrer Volksgruppe und Kultur begünstigt. Der Grad an Freiheit des Individuums ist immer der Situation der Gemeinschaft untergeordnet, sodass das Zugehörigkeitsgefühl die Entscheidungen des einzelnen stark beeinflusst und das Gruppenverhalten bestimmt. Die sich in der Minderheit befindende Gruppe neigt auch dazu, sich vor Fremden zu verschließen, da diese, wenn sie in großer Zahl auftreten, das demographische Gleichgewicht verändern und die Identität der G r u p p e bedrohen können. Da die Minderheitsnation aufgrund des Gesetzes der Mehrheit - das eine demokratische Spielregel ist - gefährdet ist, kann sie nicht umhin, ideologischen und politischen Monolithismus zu praktizieren. Tatsächlich ist der politische Pluralismus unvereinbar mit den Forderungen des kulturellen Nationalismus. 2 3
Die ländlich-katholischen Traditionen, die sich solcherart entwickeln konnten, boten für die Frankokanadier lange Zeit eine optimale Identifikationsfolie, weil sie die Menschen aus der
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Vgl. Bayard, Caroline: »Critical Instincts in Quebec: From the Quiet Revolution to the Postmodern Age (1960-1990)«. In: Lecker, Robert (Hrsg.): Canadian Canon: Essays in literary value. Toronto: University of Toronto Press 1991, 124-130, hier: S. 125: »When Casgrain writes that >notre littérature sera nationale ou elle ne sera pasLe Temps qui courtThe Quiet Revolution* taufte - ein Begriff, der schnell eine weit verbreitete Aufnahme in Quebec fand und als Révolution tranquille eine ähnlich bedeutende Zäsur in der Geschichte des Landes bezeichnet wie die révolte des Patriotes. Ich werde den Einschnitt, den diese stille Revolution in der Geschichte Quebecs bedeutet, zum Ausgangspunkt meiner Untersuchungen machen. Diese Revolution wurde deshalb durch das Epitheton tranquille in ihrer Wirkung abgemildert, weil diese eine Entwicklung einholte, die sich auf anderen Gebieten wie etwa der Wirtschaft längst ereignet hatte. Aufgrund dessen gibt es über die Tragweite und Bedeutung des Begriffs auch keine einheitliche Meinung, weil es tatsächlich nicht eindeutig ist, wieviel Veränderung die Jahre von 1960 bis 1966 wirklich gebracht hatten. 28 Man kann allerdings
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Vgl. Rioux, La Question du Quebec, S. 42: »Dès après la Conquête, l'administration anglaise va faire alliance avec le clergé québécois et ce qui reste ici d'aristocratie. C'est le >pacte aristocratique< dont parlent les historiens.« Maurice Duplessis (1890-1959) war von 1936-1939 und von 1945-1959 Regierungschef in Quebec und stand der Partei >Union Nationale* vor. Seine Amtszeit wurde verschiedentlich als Grande Noirceur oder als Noirceur duplessiste bezeichnet. Rioux, La Question du Québec, S. 97 u.ö. Bei der Zeitung handelt es sich um den Toronto Star. Die Révolution tranquille erstreckt sich auf den genannten Zeitraum, währenddessen die Parti Libéral Québécois (P.L.Q.) unter Jean Lesage die Regierung stellte. Mit der Frage, welche Bedeutung dieser Revolution zuerkannt werden kann, hat sich z.B. André-J. Bélanger beschäftigt. Vgl. A.-J. B.: »Les Leçons de l'expérience québécoise. L'accès inusité du Québec à la modernité«. In: Elbaz, Mikhaël/ Fortin, Andrée/ Laforest, Guy: Les Frontières de l'identité: Modernité et postmodernité au Québec. Sainte-Foy/Paris: Presses de l'Université Laval/L'Harmattan 1996, S. 4 6 - 6 4 : »Ladite Révolution tranquille n'intervient que comme complément et marque surtout une acceptation plus généralisée des valeurs de modernité.« (51)
Einleitung
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mit Sicherheit davon ausgehen, dass diese Revolution einen Reformstau auf kulturellem Gebiet aufzulösen begonnen hatte. Das zeigt sich in der Literatur besonders deutlich. In der Literaturwissenschaft wird daher das Jahr 1960 unisono als Beginn einer neuen Ära und als Gründungsdatum der littérature québécoise gewertet, weswegen meines Erachtens zu Recht von einer Kulturrevolution gesprochen worden ist: La révolution tranquille n'a pas entraîné de changements très importants dans la structure économique du Québec, ni dans les institutions principales de la société; elle n'a pas été une révolution sociale, mais une certaine révolution culturelle. Elle a provoqué des changements d'esprit, mais peu de transformations structurelles. 29
Unter veränderten Bedingungen - insbesondere auch im universitären und verlegerischen Bereich 30 - war man darangegangen, die Kluft zwischen den modernen Erfahrungen in einer größer gewordenen Welt (wie es in Jacques Ferrons Roman La Nuit heißt) und den tradierten Literaturmustern, die in veralteten Formen an der oben genannten Homogenität festhielten, zu schließen: Man begann eine neue Literatur zu schreiben. So schien es möglich geworden zu sein, den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft und seiner Menschen auf den Prüfstand und zur Sprache zu bringen. Zum ersten Mal war man bereit, in den Spiegel zu schauen und zu sehen, was zweihundert Jahre kolonialer Geschichte bewirkt hatten. Doch bemerkenswerterweise ging das Erblühen dieser Literatur mit ihrer eigenen Problematisierung einher: Welche Sprache musste gefunden werden, um einem modernen Quebec gerecht zu werden? Die Literatur und insbesondere der Roman war in Quebec bis dato von der oben genannten idéologie de conservation bzw. von der »idéologie de survivance nationale« 31 durchdrungen: das zeigt sich daran, dass es sich meistenteils um einen roman à thèse handelte, der die genannte Homogenität propagierte und sich damit zum Sprachrohr handfester politischer Interessen machte. Viele Literaturhistoriker haben darauf hingewiesen, so Réjean Beaudoin: Le roman québécois d'avant 1960 ne s'adressait la plupart du temps qu'à ceux qui partageaient les mêmes coutumes et la même origine dans le tout homogène d'une société patriarcale catholique et rurale. 32
Vergleichbar formuliert es Marcel Rioux: Ne serait-il pas utile de s'interroger non seulement sur la classe sociale des auteurs [littéraires] mais sur la société globale dans laquelle ils sont insérés? Cette démarche est d'autant plus profitable que la société globale est petite et homogène. Le Canada français répond à ces critères: c'est une société de taille restreinte et, encore aujourd'hui [1964], largement homogène. 33
Diese Thesenromane gingen bis zur Selbstverleugnung, hatte sich doch die Belletristik ganz der genannten Ideologie unterzuordnen, wie etwa Gilles Marcotte in seiner Geschichte des
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Rocher, Guy: Le Québec en mutation. Montreal: HMH 1973, S. 20. Lise Gauvin und Laurent Mailhot haben in Le Guide culturel du Québec (Montreal: Boréal Express 1982) gezählt, dass in Quebec seit 1960 über 70 Verlagshäuser, 50 Bibliotheken und Archive sowie 80 Kulturzeitschriften, 20 Literaturzeitschriften sowie 7 spezifisch wissenschaftliche Literaturzeitschriften gegründet worden sind. Rioux, Marcel: »Aliénation culturelle et roman canadien«. In: Durand, Fernand/Falardeau, JeanCharles: Littérature et société canadiennes-françaises. Québec: Les Presses de l'Université Laval 1964, S. 145-150, S. 147 u.ö. Beaudoin, Réjean: Le Roman québécois. Montreal: Boréal 1991, S. 75. Rioux, »Aliénation culturelle et roman canadien«, S. 145.
Exkurs: Die Romane Gérard
Bessettes
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frankokanadischen Romans schrieb: »Ainsi donc le roman naît, au Canada français, dans sa propre négation; c'est un enfant malvenu.« 34 Um das zu ändern, wurde es nach 1960 zum erklärten Ziel der Schriftsteller, eine Schreibweise zu finden, die der modernen Erfahrung gerecht zu werden verstand und die oben genannte Kluft zwischen der erlebten Wirklichkeit und den literarischen Formen zu schließen vermochte. Um das zu skizzieren, möchte ich einleitend auf drei Romane Gérard Bessettes eingehen (La Bagarre, Le Libraire, L'Incubation), an denen sich die Zäsur des historisch-kulturellen Prozesses und die Entwicklung hin zu modernen Schreibformen exemplarisch ablesen lässt. In Grundzügen wird dabei deutlich werden, worauf es mir im Weiteren ankommen wird: Die Literatur Quebecs beginnt in dem von mir untersuchten Zeitraum, also ab 1960, einen heterogenen Sinn zu artikulieren, der sich zur oben beschriebenen Ideologie in Widerspruch stellen wird und damit eine Fremderfahrung freisetzt, die nicht länger ihren beruhigenden Gegenpol in jener konstruierten Homogenität finden wird, die über zweihundert Jahre währte.
1.2. Exkurs: Die Romane Gérard Bessettes In Bessettes erstem Roman aus dem Jahr 1958, La Bagarre, möchte Jules Lebeuf, die Hauptperson der Geschichte, Schriftsteller werden, doch fühlt er sich völlig außerstande, in eine literarische Form zu bringen, was er erlebt. Er muss feststellen, dass seine literarischen Fähigkeiten, die an Balzac und den bisherigen Quebecer Romanen geschult waren, völlig unzureichend sind, seinen Erlebnissen und Erfahrungen gerecht zu werden: »Lebeuf s'arrêta pour relire son texte. [...] Ce n'était pas ça du tout! Trop grandiloquent. Une vue panoramique, oui. Mais à quoi est-ce que ça correspondait? Où était l'élément humain, la chaleur, la palpitation de la vie?« 35 Er bemerkt, dass sich zwischen seinem Leben und dem Schreiben ein Abgrund auftut. Da er in einem Milieu lebt, im dem sich das gesprochene Französisch besonders stark vom Standardfranzösisch unterscheidet, wird ihm jede Eloquenz zur Rhetorik: »>Parce que je parle mal dans le réel, on dirait que je me sens obligé d'employer de grandes formules quand je tiens la plume. [...] Si seulement j'avais un guide, un critique sûr.parler j o u a k C'est donc lui, et non pas moi, qui a inventé c e nom. Le nom est d'ailleurs fort bien choisi. Il y a proportion entre la chose et le nom qui la désigne. Le mot est odieux et la chose est odieuse. Le mot jouai est une espèce de description ramassée de ce que c'est que le parler jouai: parler jouai, c'est précisément dire jouai au lieu de cheval. C'est parler comme on peut supposer que les chevaux parleraient s'ils n'avaient pas déjà opté pour le silence et le sourire de Fernandel.«
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Einleitung
noch pejorativ verwendet hatte, aus einer phonetischen Deformierung des Wortes cheval ab, doch hatte das Joual Mitte der sechziger Jahre bereits eine solche Verbreitung gefunden, dass es in den allgemeinen Wortschatz als neutrale Bezeichnung aufgenommen worden war. Für Lebeuf bzw. f ü r seinen Autor Gérard Bessette gibt es folglich keine literarischen Vorbilder in Quebec, sodass La Bagarre als ein erster, tastender Versuch verstanden werden muss, eine neue Literatur zu schaffen. Gelingen wird Bessette das erst mit seinem nächsten Werk, Le Libraire (1960), das nicht nur sein berühmtestes Buch werden sollte, sondern mittlerweile überhaupt als Beginn einer neuen Ära verstanden worden ist, so von Jacques Allard: »Tout peut vraiment commencer avec la parution d'un roman de Gérard Bessette en 1960, à Paris, Le Libraire.«38 Tatsächlich kann man den Roman als einen Abgesang auf die von mir weiter oben beschriebene ländlich-katholische Ordnung werten, die der Ich-Erzähler, Hervé Jodoin, in dem Städtchen Saint-Joachin vorfindet. Es handelt sich dabei um eine Konfrontation zwischen dem Großstädter und eben dieser traditionellen Welt Quebecs, von der sich Jodoin längst verabschiedet hat. Wir finden hier also das Dispositiv vor, welches die Epochenschwelle Anfang der sechziger Jahre kennzeichnete: das Festhalten an traditionellen Werten, die innerlich aber bereits durch den Modernisierungsschub ausgehöhlt worden waren. Besonders deutlich zeigt sich das im Verhältnis Jodoins zur Literatur, die f ü r ihn keine Möglichkeit bereithält, diese Erfahrung der Schwelle oder der Krise zu artikulieren. Für den Buchhändler Jodoin nämlich sind die Bücher, die er verkauft, zu einer Ware wie jede andere auch verkommen, weil sie wie f ü r Lebeuf jeden Sinn verloren haben: »Le livre est un produit commercial comme les autres.« 39 Dass Le Libraire nun aus dieser Serie nutzloser Bücher ausschert und damit einen neuen Weg einschlägt, liegt in der Aufzeichnung dieses mangelnden Sinns (»dépourvu de signification« 4 0 ). So versucht Jodoin mithilfe seiner sonntäglichen Tagebucheintragungen, aus denen sich der Text von Le Libraire zusammensetzt, sein Leben in Ordnungsschemata vorgegebener Literaturmuster zu bringen (»Mais procédons par ordre.« 41 ), was aber letztlich scheitern muss, weil die Erfahrungen der Moderne mit den Maßstäben der tradierten Ordnung nicht mehr zu erfassen sind. Nur am Ende seines Aufenthalts in Saint-Joachin leuchtet - wenn auch nur kurz - ein Moment literarischen Engagements 4 2 auf: Jodoin hatte ein Buch aus jener heimlichen Kammer, in der die Bücher lagern, die von Seiten der Kirche auf dem Index stehen, an einen Schüler verkauft. Dieser Verkauf fliegt auf, und Jodoin wird von Léon Chicoine, dem Eigentümer der Buchhandlung, entlassen und damit zum Sündenbock gemacht. Doch anstatt widerstandslos Saint-Joachin zu verlassen, wie man es bei Jodoin in seiner indifferenten Einstellung angenommen hätte, nimmt er die verbotenen Bücher mit. Bemerkenswert ist dabei die Antwort, die Jodoin dem Fahrer gibt, mit dem er sich nachts trifft, um die Bücher zu verladen: >C'est vous, les livres?< me demanda-t-il en m'apercevant. Je lui répondis que, en effet, les livres, c'était moi.43
Allard, Jacques: »Le Roman québécois des années 1960 à 1968«. In: Europe, no. 478/9 (févr.-mars 1969), S. 41-50, S. 41. Bessette, Gérard: Le Libraire. Ottawa: Editions Pierre Tisseyre 1993, S. 39. A.a.O., S. 128f. A.a.O., S. 33. A.a.O., S. 116. A.a.O., S. 136.
Exkurs: Die Romane Gérard
Bessettes
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Das hier aufscheinende Engagement für die Bücher unterstreicht den Wunsch zu schreiben (und zu lesen). Doch kann Le Libraire nur negativ zur Sprache bringen, wovon sich die Literatur abzukehren hat, weswegen Jodoin das Schreiben in Montreal schließlich völlig aufgeben wird. Erst fünf Jahre später, in jenem entscheidenden Jahr 1965, entlädt sich eine Spannung, die eine ungeheure Literaturproduktion in Prosa, Vers und Drama nach sich zieht, die nach einem Gedichtsband von Roland Giguère als l'Âge de la parole bezeichnet worden ist. 44 Auch hier muss Bessette ein Platz an erster Stelle zugestanden werden. Sein Roman L'Incubation aus dem genannten Jahr ist einer der ersten formal anspruchsvollen und modernen (d. h.: zeitgemäßen) Texte der Quebecer Prosa überhaupt. Damit überwindet Bessette den Abstand, den er als Schriftsteller zwischen sich und der Welt empfunden hatte, und findet eine Sprache, die sich seinen Erfahrungen annähert. Auch hier, in L'Incubation, ist die Ausgangsbasis eine homogene, ländliche Ordnung, eine kleine Stadt, die bezeichnenderweise Narcotown heißt. An diesem Ort ereignet sich jedoch etwas Unvorhergesehenes, das einen heterogenen Sinn zu Tage treten lässt. Dieser heterogene Sinn wird aber vom Erzähler nicht voll erfasst, sondern lugt zwischen den Zeilen hindurch und lässt dem Leser die Korrosion der vormals homogenen Ordnung erahnen. Es handelt sich um den Selbstmord einer Engländerin (Néa), der L'Incubation überhaupt erst im doppelten Sinne des Wortes in Form kommen lässt. Der Erzähler versucht nun, durch das Schreiben die Ursache des Freitods zu ergründen. Das erweist sich als schwieriger, als er angenommen hat, weil er ein ganzes Jahrzehnt zurückzuverfolgen hat (der Roman ist um 1955 anzusiedeln und geht bis auf den Zweiten Weltkrieg in London zurück) und auf das angewiesen ist, was ihm Andere erzählen. Das gilt insbesondere für einen gewissen Gordon, der Néa in London kennen und lieben gelernt hatte: [...] je ne comprenais pas trop pourquoi il [Gordon] ne l'avait pas fait, il me racontait ça d'une façon labyrintheuse fragmentaire à coups de décalages de sous-entendus comme s'il prenait pour acquit queje me trouvais moi-même à Londres à cette époque-là sous les bombardements et queje pouvais par conséquent combler par le souvenir les interstices, cicatriser les lacunes qui béaient dans son récit où plutôt dans cette pénible laborieuse cahoteuse évocation de son passé militaire [...] 45
Lagarde, der Erzähler, bemüht sich folglich, Ordnung in die Ereignisse um den Selbstmord von Néa zu bringen. Doch seine Ordnungsliebe, derentwegen er wie Jodoin das Katalogisieren von Büchern zum Beruf gemacht hat (Lagarde ist Bibliothekar), scheitert ebenfalls, weil hier wiederum alles amorph und »dépourvu de signification« 46 erscheint. Es gelingt ihm nicht, Abstand zum Hergang des Freitods zu behalten - die Ordnung scheitert also diesmal aus umgekehrten Gründen im Verhältnis zu denen aus Le Libraire, wo sich zwischen der Ordnung und dem Leben eine unüberbrückbare Diskrepanz aufgetan hatte. Lagarde wird sich nämlich zunehmend bewusst, dass er selbst in die Geschichte verstrickt ist. Ganz im Gegensatz zur Emotionslosigkeit Jodoins nimmt der Erzähler hier an den Ereignissen teil, sodass seine Erzählung immer unterschiedsloser seine eigenen Erinnerungen und die der Anderen zugleich evoziert. Deutlich wird das daran, dass die Erzählung erst nach dem Selbstmord
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Im Jahr 1965 sind entscheidende Texte geschrieben worden: Für das Theater: Tremblay, Michel: Les Belles-soeurs (uraufgeführt 1968, geschrieben aber schon 1965; die Handlung ist ausdrücklich auf das Jahr 1965 datiert). Für die Lyrik: Giguère, Roland: L'Âge de la parole. Für den Roman: Bessette, Gérard: L'Incubation. Bessette, L'Incubation. Montreal: Québec/Amérique 1981, S. 13. A.a.O., S. 88.
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verfasst wird. Der Leser gewinnt aber zu keiner Zeit einen beruhigenden Überblick vom Ausgang her, sondern gerät ebenso wie der Erzähler selbst in einen Wirbel, der mehrere Zeitebenen gleichzeitig erfasst. Seine eigene Erzählung unterscheidet sich daher in nichts von den Erzählungen Gordons und Anderer: »mythique jeu de miroirs se reflétant à l'infini le long de labyrinthes superposés surimprimés grouillant fourmillant comme l'underground à Londres«47. Auf diese Weise bleibt das Resultat seiner Recherche zunächst unbekannt, ja mehr noch: Lagarde wird sich eingestehen müssen, zu keinem Schluss gelangen zu können. Der Text wird so mit seiner leitmotivisch gestellten Frage »Comment savoir?«48 zum Medium eines Nichtwissens: »[...] je me disais: Comment tout cela va-t-il finir, dans quelle paroxystique confrontation [...]«49 Über die annähernd 200 Seiten des Romans zieht sich daher letztlich auch nur ein Gespinst von Satzteilen ohne Interpunktion, ein tastendes, sich annäherndes Abklopfen von Erinnerungsbruchstücken. Auch Lagarde findet in den Büchern kein Vorbild für das, was er zu erzählen hat. Auch für ihn sind sie sozusagen mit Staub belegt wie seine eigene Existenz. Bezeichnenderweise beginnt er erst von dem Zeitpunkt an, wirklich zu leben (und die Bücher gewissermaßen mit ihm), als Néa ihrerseits in der Bibliothek zu arbeiten anfängt und seine Kollegin wird. Lagarde verliebt sich nämlich in sie: [...] moi qui vivais enfin à peu près complètement réussi à vivre parmi les livres parmi la fine fuligineuse poussière des livres [...]50
Gérard Bessette findet mit L'Incubation zu einer Sprache, in welcher dieser nicht-homogene »monde désaxé cataclysmique«51 adäquat ausgedrückt wird, und zwar in der Form eines »récit incohérent«52. Wir werden später feststellen, dass diese Erfahrung einer aus den Fugen geratenen Welt eine gemeinsame Erfahrung aller Schriftsteller jener Jahre war, die eine écriture de l'hétérogène, oder wie es bei Aquin heißen wird: eine >écriture désaxée et incohérenteÜbervater< Henri-Raymond Casgrain, der von der Literatur ein nationalreligiöses Engagement verlangt hatte: L'idéologie s'est toujours posée comme le préconstruit de l'écriture, elle a toujours investi la littérature, son langage, ses contenus et ses représentations. Et au Québec, peut-être plus qu'ailleurs, l'idéologie nationale en tant que manifestation institutionnelle des discours politiques, intellectuels et religieux dominants a depuis longtemps précédé les œuvres et la pratique littéraire.57
Mit der Révolution tranquille stellt sich eine literarische Autonomiebewegung ein. Das lässt sich an vielen Indizien festmachen wie z.B. an Gérard Bessette, der sich in La Bagarre kritisch mit dem bisherigen literarischen Kanon und insbesondere mit dem realistischen Roman 58 (Balzac) auseinander setzt. Epochal für die Quebecer Literatur ist die Ersetzung der Mimesis durch die Einbildungskraft und die damit gewonnene ästhetische Überschreitung von Wirklichkeit. Diese Überschreitung ermöglicht erst die Darstellbarkeit des Heterogenen. Mit dieser Implikation von Imagination und Heterogenität ist eine Emanzipation der Literatur von der idéologie
de conservation
realisierbar. So findet die kolonialisierte Gesellschaft zu einer ori-
ginellen Sprache, die den tatsächlichen gesellschaftlichen Umständen Ausdruck verleiht. Ein Merkmal der Quebecer Literatur seit 1960 ist das Aufkommen des Fremden. Fremde haben schon immer in der frankokanadischen Literatur für Beunruhigung gesorgt. Doch gibt es zu den Romanen ab 1960 einen grundsätzlichen Unterschied: Solange der Roman der Homogenität einer traditionellen Wertegemeinschaft verhaftet bleibt, erscheint der Fremde immer als der Andere der Wir-Gemeinschaft. Damit stellt er eine Bedrohung dar, doch steht die Homogenität selbst nicht zur Disposition - vielmehr wird sie dadurch, wie ich weiter oben bereits angedeutet habe, eher noch gestärkt: La notion d'étranger symbolisant à l'origine, tous les Anglais, s'étendra progressivement à tout individu pouvant porter atteinte aux aspirations les plus profondes des Canadiens français. 59
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Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Den Haag: Martinus Nijhoff Publishers 1954 (Husserliana VI), S. 416. Major, Jean-Louis: »Le Roman depuis 1960«. In: Liberté, vol. 7, no. 6 (nov./déc. 1965), S. 461-463, S. 461: »Le roman a mis beaucoup de temps à sortir de cette phase d'auto-réprobation à propos de laquelle Marcel Rioux parlait d'aliénation. Le roman a dû d'abord s'accepter comme roman; il s'est libéré des idéologies grâce à l'anecdote et à la description réaliste. Aujourd'hui - depuis 1960 environ - on découvre qu'il est un art. Et comme pour tous les autres arts contemporains, on prend conscience de ses possibilités et de ses exigences essentielles.« Kwaterko, Le Roman québécois de I960 à 1975, S. 15. Vgl. Kap. 2.4. Vanasse, André: »La Notion de l'étranger dans la littérature canadienne. Le Fait historique et les étapes littéraires«. In: L'Action nationale, vol. LV, no. 2 (oct.1965), S. 230-236, S. 235. A. Vanasse hatte sich in einer Folge von vier Aufsätzen mit dem Begriff des Fremden auseinandergesetzt. Vgl. A.V.: »La Notion de l'étranger dans la littérature canadienne I-IV«; In: L'Action nationale, vol. LV,
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Ein so verstandener Fremder kommt folglich, so könnte man sagen, immer schon zu spät, u m die Identität des frankokanadischen Volkes in seinen Grundfesten zu gefährden. Das zeigt sehr deutlich Louis Hémon in seinem berühmten Roman Maria Chapdelaine (1914): Autour de nous des étrangers sont venus, qu'il nous plaît d'appeler des barbares; ils ont pris presque tout le pouvoir; ils ont acquis presque tout l'argent; mais au pays de Québec rien n'a changé. Rien ne changera, parce que nous sommes un témoignage. [...] Au pays de Québec rien ne doit mourir et rien ne doit changer [...] 60
Diese Sätze, die in dem 1937 erschienenen Roman von Félix-Antoine Savard, Menaud, maîtredraveur, widerhallen (»Des étrangers sont venus! Des étrangers sont venus!« 61 ), zeigen, dass zu jener Zeit der Fremde als feindseliger >Barbar< wahrgenommen wurde. Erst viel später, nämlich nach 1960, ist eine Figur des Fremden in der Quebecer Literatur zu finden, welche die eigenen Identitätsentwürfe empfindlich stört. Man kann folglich eine auffällige Koinzidenz zwischen der Wahrnehmung des Fremden als Fremden und der radikalisierenden Selbstreflexion des Quebecer Romans feststellen. Dem werde ich in meiner Untersuchung nachgehen; der Quebecer Roman entwickelt nämlich - wie anhand von Bessettes L'Incubation angedeutet - literarische Strategien der Heterogenität, um eine Situation des Nicht-Wissens, der Fremdbestimmung oder des Wahn-Sinns zu signifizieren. Der Fremde wird nicht aus politischem Interesse im Vorhinein determiniert oder in einem Schema der Freund-Feind-Erkennung positioniert, sondern als Fremder selbst in den Blick genommen, und zwar mit Hilfe der Prosa, die sich als das literarische Medium par excellence des Heterogenen herausstellen wird. Meine Exkurse in die Poetik des Romans werden daher immer wieder auf diesen Punkt zurückkommen. Das Wort vom >âge de la prosel'âge de la parole< gesprochen hatte, werde ich demnach im Weiteren f ü r die Romane seit den sechziger Jahren gelten lassen: >L'âge de la prose< est aussi celui du divers et de l'hétérogène. 62
Eine Entfremdung ist zwischen dem Quebecer und »ce qu'on appelle la réalité« 6 3 seit den sechziger Jahren auszumachen - eine Entfremdung, die ich als Reaktion des Eigenen auf das Fremde verstehe und auf die der Roman erstmals auch formal reagiert. Die Sechziger bilden insbesondere deshalb in der Literaturgeschichte Quebecs eine Zäsur, weil zu der Zeit Romanformen hervorgebracht werden, welche die moderne demographische Entwicklung einzuholen vermöchten. Erst mit der Schaffung dieser neuen Formen des Schreibens scheint es ganz augenfällig möglich geworden zu sein, Erfahrungen der Heterogenität zur Sprache zu bringen. Alle von mir untersuchten Romane versuchen die Erfahrung mit dem Fremden wiederzugeben, und zwar unabhängig davon, welche Konsequenzen ideologisch daraus gezogen
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no. 2-5: No. I: »Le Fait historique et les étapes littéraires«. Vol. LV, no. 2 (oct.1965), S.230-236; No. II: »La Naissance de l'étranger«. Vol. LV, no. 3 (nov. 1965), S. 350-358; No. III: »Menaud ou le conflit de deux mentalités«. Vol. LV, no. 4 (déc. 1965), S. 484-488; No. IV: »La Rupture définitive«. Vol. LV, no. 5 (jan. 1966), S. 606-611. Hémon, Louis: Maria Chapdelaine. Montreal: Bibliothèque québécoise 1994, S. 194. Savard, Félix-Antoine: Menaud, maître-draveur. Montreal: Bibliothèque québécoise 1992, S. 154. Gauvin, Lise/Marcato-Falzoni, Franca: L'Âge de la prose: Romans et récits québécois des années 80. Rome/Montreal: Bulzoni Editore/VLB Éditeur 1992, S. 15. Bessette, L'Incubation, S. 52.
Die Begegnung
mit dem
Fremden
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werden. Das gilt außer für Gérard Bessette und die so genannten partipristischen 64 Romane auch für Autoren wie z.B. Hubert Aquin und Jacques Ferron, bei denen die Figur des Fremden allenthalben zum Problem wird, weil sie sich nicht identifizieren lässt, mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt und gerade in ihrer Unzugänglichkeit und Bezugslosigkeit 65 wahrnehmbar wird. So sehr die Romane allerdings, die seitdem in Quebec geschrieben worden sind, Ansätze einer Autonomieästhetik erkennen lassen, so sind sie doch nicht schlechterdings von den prädominanten Diskursen dieser Jahrzehnte nach 1960 abzukoppeln. Also spielt auch in diesem späteren Zeitraum die mit Rioux aufgeworfene Frage nach der Ideologie weiterhin eine wichtige Rolle. Doch im Unterschied zu jenem roman à thèse, der nach Rioux ganz in der konservativ-nationalen Ideologie aufging, wahrt der moderne Quebecer Roman aufgrund seines erhöhten Selbstbewusstseins eine gewisse Distanz zu ideologischen Konfigurationen. 66 Am Beispiel des Neonationalismus möchte ich das kurz verdeutlichen. In den Romanen jener Jahre wird erkennbar, dass eine Begegnung mit dem Fremden erzählt wird, die sich in einer Reaktion der Be- oder Entfremdung äußert. Man kann nun beobachten, wie versucht wird, diesen Fremden in einer bestimmten ideologischen Figuration als Feind erscheinen zu lassen. Die Romanfiguren Frank Campbell (aus Jacques Ferrons La Nuit), H. de Heutz (aus Hubert Aquins Prochain épisode) und nicht zuletzt der abwesende, ungenannte und unbekannte Fremde, der in Jacques Renauds Le Cassé wahrnehmbar ist (und den ich mit Sartre als >pränumerischen Anderen< deuten werde), sind durch diese Janusköpfigkeit des Fremden und des Feindes charakterisiert. Exakt an diesem Punkt der ideologischen Überzeichnung einer zunächst mit literarischen Mitteln wahrnehmbar gemachten Fremdheit lassen sich die neonationalistischen Implikationen dieser fiktionalen Texte beschreiben. Um das noch etwas deutlicher zu exponieren, werde ich noch einmal auf Marcel Rioux' und sein Modell der Ideologiegeschichte zurückkommen. Rioux nennt neben den zwei uns bekannten Ideologien des Konservatismus (1840-1945) und des Aufholens (1945-1960) eine dritte Ideologie, die er nach 1960 feststellt und als »l'idéologie de participation et de développement« bezeichnet. Das Ziel dieser Ideologie ist es, ein unabhängiges, sozialistisches und laizistisches Quebec zu gründen: Si l'on se place du point de vue des idéologies globales du Québec, on s'aperçoit que depuis 1840 trois idéologies sont apparues: l'idéologie de conservation qui est l'affirmation que le Québec doit préserver sa culture nationale; l'idéologie de contestation nie véhémentement l'idéologie de
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Die Bezeichnung geht auf die politisch-literarische Zeitschrift Parti pris (1963-1968) zurück, die auch einen eigenen Verlag des gleichen Namens hatte, in dem wichtige Romane und Lyrikbände erschienen. Ich werde weiter unten ausführlich darauf zu sprechen kommen. Der Fremde ist bezugslos, weil er sich nicht mit etwas anderem vergleichen lässt, wie ich weiter oben ausgeführt habe. Vgl. dazu auch die interessante Stelle bei Thomas Mann aus »Der Tod in Venedig«: »Was er suchte, war das Fremdartige und Bezugslose [...]. Wenn man über Nacht das Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende zu erreichen wünschte, wohin ging man?« Mann, Thomas: »Der Tod in Venedig«. In: T.M.: Frühe Erzählungen. Frankfurt: Fischer 1981, S. 559-641, hier: S. 573. Vgl. diesbezüglich die interessanten Ausführungen von Józef Kwaterko in Le Roman québécois de 1960 à 1975: »L'idéologie peut alors occuper une position surplombante et devenir un modèle générateur qu'un texte se bornera à reproduire, soit au contraire, subir de sérieux contre-coups venant de certaines pratiques d'écriture qui se réclament de la rupture; celles-ci participent d'une volonté de résistance ou de dissidence à l'égard de leur tutelle idéologique (au sens large, du mode dominant de représentation). Ce dernier type de rapport est propre aux avant-gardes littéraires et a fait largement l'objet de la recherche récente.« (30)
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Einleitung conservation du siècle précédent, elle donne comme but au Québec de rattraper la démocratie libérale des Nord-américains; enfin, depuis une décennie [depuis 1960], une troisième idéologie, l'affirmation de la société québécoise par le développement et la participation; c'est la négation de la négation que représente la deuxième idéologie-contestation et rattrapage: sur le plan des moyens, cette idéologie rejoint l'idéologie nationale des patriotes de 1837-1838 et milite en faveur de l'indépendance du Québec. 67
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass nach Rioux der Neonationalismus inhaltlich an den traditionellen Nationalismus anschließt, aber die politischen Ziele mit anderen Mittel (moyens) zu erreichen gedenkt, nämlich durch die Ausrufung eines unabhängigen Quebec 68 . Bezüglich der Wahrnehmung des Fremden aber sind beide Nationalismen eng miteinander verwandt, wie eine ganze Reihe literarischer Texte beweisen, die in den sechziger Jahren geschrieben worden sind (so etwa Claude Jamins Pleure pas, Germaine69). Unter diesen ideologischen Prämissen erscheint der Fremde in der Gestalt des Feindes. Der Grund für die Dominanz dieser Feindwahrnehmung im Quebecer Roman der sechziger Jahre lässt sich also allein politisch-ideologisch erklären; Der Nationalismus lässt sich begreifen als spezielle Form des Ethnozentrismus. Das Wir, das nun in den Mittelpunkt rückt, bestimmt sich auf Grund gemeinsamer Abstammung, gemeinsamer Sprache oder gemeinsamer Sitte. [...] Bei der defensiven Variante überwiegt die Geste der Abschirmung, der Abwehr und der Ausscheidung. Es kommt zu relativ geschlossenen Gesellschaften, die sich um Mikrozentren gruppieren und einen Hang zum Provinzialismus an den Tag legen. 70
Entsprechend drückt der Nationalismus »allem Fremden den Stempel eines potentiell Feindlichen«71 auf. Indem der Fremde nicht der nationalen Gemeinschaft zugehören kann, ohne dass diese ihre Homogenität verliert, erscheint er als Bedrohung oder eben als Feind. Als solcher aber stärkt er geradezu den Zusammenhalt der homogenen Gemeinschaft, weil sich diese ausschließlich in der Differenz zum Anderen bestimmen lässt. Man sieht, dass der Neonationalismus in diesem Punkte vom traditionellen Nationalismus der idéologie de conservation nicht weit entfernt ist. Zur vollen Geltung kommt die in den sechziger Jahren einsetzende Korrosion von Ideologien erst in den achtziger Jahren. Erst dann lässt sich keine prädominante Ideologie mehr konstatieren, sondern eine grundsätzliche Ideologie- oder Mythenkritik. Im Rahmen der Diskussion um die Postmoderne bzw. um den Postkolonialismus wird auch in Quebec von nun ab jegliche Ideologie entweder als »imaginäre Repräsentation«72 hinterfragt (Postmoderne) oder zumindest in Konfrontation mit anderen Ideologien relativiert (Postkolonialismus). Im siebten Kapitel werde ich ausführlich darauf eingehen. Für das Heterogene eröffnet sich aufgrund dessen ein Raum, der das Fremde nicht mehr ausschließt, sondern berücksichtigt. Der ideologiekritische Diskurs erlaubt gewissermaßen, den Fremden als Gast zu verstehen,
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Rioux, La Question du Québec, S. 99f. Vgl. dazu die Einleitung zum 3. Kapitel. Jasmin, Claude: Pleure pas, Germaine. Montreal: L'Hexagone (Typo) 1989. Der Roman erschien zuerst 1965 in Montreal im Verlag Parti pris. Waidenfels, Bernhard: Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 151. A.a.O., S. 150. Auf diese Weise definierte L. Althusser die >IdeologieFeind< und dem >Gastfreund< eingegangen. Er beschreibt am Beispiel von Homers ¡lias, wie sich Glaukus und Diomed als Feinde gegenübertreten, bis sie sich als ehemalige Gastfreunde wiedererkennen. Schiller zitiert hierzu u.a. Vers 224 aus dem sechsten Gesang: »Also bin ich nunmehr dein Gastfreund (ξένος) mitten in Argos« (Schiller, Friedrich: »Über naive und sentimentalische Dichtung«. In: Sämtliche Werke, Band 5. München: Hanser 1959, S. 694-780, S. 714). Der >Gastfreund< ist in diesem Zusammenhang nicht in seiner Doppelbedeutung >WirtGast< (zurückgehend auf das lateinische hospes) zu verstehen, sondern als >ein Fremder, welchen man als einen Gast bewirtet< (vgl. hierzu den Eintrag >Gastfreund< in: Grimm, Jakob/ Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 32 Bände. Leipzig 1854-1960). Damit ist nicht gesagt, dass es nicht auch noch danach Fremde gegeben hätte, die per definitionem als Feind aufgefasst worden wären. Ein populäres Beispiel ist Beauchemin, Yves: Le Matou. Montreal: Éditions Québec/Amérique (coll. >Littérature d'AmériqueMais le Québec ne sera en tout cas vraiment une nation digne de ce nom, [...] que dans la mesure où il aura su prendre en charge pour lui-même la problématique canadienne de l'image et de l'identité. Elle pourra prendre à sa source historique tout son sens comme creuset d'une post-modernité, en autant que le Québec arrive à se penser dans la tension d'une hétérogénéité constitutive.Apperzeption< ist hier nicht im Sinne von >Auffassung< oder >Deutung< verstanden (vgl. § 14 der V. Log. Untersuchung), sondern i. S. von >Adperzeption< (Hinzudeuten/Überschuss). Vgl. Münch, Dieter: Intention und Zeichen. Frankfurt a.M. 1993, S. 213: »Es zeigte sich in unseren Untersuchungen nicht nur, dass zwei Apperzeptionsbegriffe zu unterscheiden sind - die Apperzeption als Überschuss und als Urteil - , sondern auch, dass die Apperzeption als Überschuss durch imaginative und signifikative Intentionen zustande kommt, die wiederum durch Assoziationen gebildet werden.« Vgl. dazu Foucault, Michel: »Andere Räume«. In: Barck, Karlheinz (u.a. Hrsg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1990, S. 34-46.
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Einleitung
Erfahrung des Individuums, das sich, aus dem Schoß einer homogenen Glaubensgemeinschaft entlassen, mit der Heterogenität konfrontiert sieht. Die Romane, die ich im vierten, fünften und sechsten Kapitel interpretieren werde, haben alle diese Erfahrung gemeinsam - unabhängig davon, welchen ideologischen Prämissen sie unterliegen. Alle Romane sind sehr exemplarisch für ihre Zeit und werden meine These unterstreichen. Ich habe je drei Romane aus den sechziger und achtziger Jahren ausgewählt, die sehr deutlich die Entwicklung zeigen, die das Heterogene in den dreißig Jahren zwischen 1960 und 1990 genommen hat. Sozusagen als Scharnier zwischen der Sicht des Heterogenen als Feind und als Fremde(r) werde ich, stellvertretend für eine formalistische und feministische Literatur der siebziger Jahre, Nicole Brassards vierten Roman L'Amèr untersuchen. Der Roman hat den Exorzismus des Heterogenen mit den Sechzigern gemeinsam, weist aber wegen seiner grundsätzlichen Einsicht in die heterogene Konstitution des Subjekts auf das darauf folgende Jahrzehnt hin. Am Ende des dritten Kapitels werde ich, nach der literaturhistorischen Darstellung der Jahre ab 1960, ausführlicher die Auswahl des Korpus begründen und die Romanautoren vorstellen. Im siebten Kapitel wird eine Zusammenfassung versucht, die nicht einfach meine Ergebnisse wiederholt, sondern die spezifischen und historischen Umstände des Quebecer Romans unter der besonderen Berücksichtigung der französischen Einflüsse herausarbeitet. Der komparatistische Ansatz wird die besondere Relevanz der Kategorie des Heterogenen für die Quebecer Literatur nachweisen. Schließlich versuche ich in Grundzügen, eine Poetik des Heterogenen zu entwerfen, die zeigen soll, warum der Roman als das geeignete Medium betrachtet werden muss, das Heterogene zur Sprache zu bringen.
2. Phänomenologie des Heterogenen Erst wer in der Erfahrung lebt und von da aus in die Phantasie >hineinfassthorizonthaft< sein, und das heißt: eine potentielle Offenheit der Sinnstrukturen mit sich führen. Andernfalls wäre die Phantasie nur »en bloc« 2 denkbar, wovon Jean-Paul Sartre in
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Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter 1966, S. 58. Sartre, Jean-Paul: L'Imaginaire: Psychologie phénoménologique de l'imagination. Paris 1940, S. 21.
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Phänomenologie
des
Heterogenen
seinem Buch L'Imaginaire ausgeht. Das würde aber bedeuten, dass die Phantasiewelt sozusagen keinen Schatten würfe und vollständig erkennbar wäre - eben als ein Block, in dem nichts wahrgenommen, sondern lediglich gewusst sein würde. Das Fremde hat in einem solchen Konzept keinen Platz. Wenn hier hingegen von Wahrnehmungssyntax und Wahrnehmungsstruktur gesprochen wird, dann ist damit die (natürliche) Wahrnehmung als ein komplexes Sinngeschehen verstanden. Ihre Ausarbeitung ist meiner Ansicht nach Husserls größter Verdienst. Die wichtigsten Aspekte dieser phänomenologischen Auffassung von Wahrnehmung lassen sich aus seiner wissenschaftlichen Entwicklung erklären: Über seine frühen Arbeiten zur objektiven Wissenschaft der Mathematik und besonders der Logik gelangte Husserl zunehmend in einen Bereich philosophischer Fragen, die um subjektive Erkenntnisakte kreisten und zur Ausarbeitung seiner Phänomenologie führten. Diese ließ allerdings Mathematik und Logik nicht einfach hinter sich, sondern nahm deren objektivistisches Erkenntnisinteresse in sich auf. Mit seinem ersten philosophischen Hauptwerk, den Logischen Untersuchungen, hatte Husserl z.B. eine Theorie des sprachlichen Zeichens entwickelt, um anhand der Bedeutungsschicht der Sprache, der er ein ideales Sein zusprach, zu demonstrieren, wie objektive, d. h. logische Erkenntnis trotz subjektiver Erkenntnisakte möglich sei. Der besonders im letzten Paragraphen der ersten »Logischen Untersuchung« betonten Idealität der logischen Bedeutungen ist, so eine berühmte Formulierung Husserls, »das Gedacht- und Ausgedrücktwerden zufällig« 3 . Husserl unterscheidet also den objektiven oder idealen Bedeutungskern vom Akt des Bedeutens selbst, der zufällig oder subjektiv ist. Mit der fünften »Logischen Untersuchung« beginnt Husserl sodann, diese Idealität auf die Struktur der intentionalen Wahrnehmung zu applizieren. Husserl hatte somit in seinen umfangreichen phänomenologischen Forschungen zur Wahrnehmung eine Struktur aufgedeckt, die wohl nicht als semiotische bezeichnet werden darf (dagegen hätte sich Husserl verwahrt 4 ), die dennoch eine »signifikative Differenz« 5 impliziert, denn die Bedeutung fällt nicht mit dem bedeuteten Gegenstand zusammen. Die Auffassung von Wahrnehmung als Sinngeschehen findet hier ihr Fundament. Der Begriff signifikative Differenz< rechtfertigt sich allein schon dadurch, dass Husserl bezüglich der intentionalen Gerichtetheit der Wahrnehmung von »Wahrnehmungssinn« 6 oder in
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Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil. Den Haag: Martinus Nijhoff Publishers 1984 (Hua XIX/1), S. 110. Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Tübingen: Niemeyer 5 1993, S. 79. Im Weiteren zitiert als Ideen I. Waidenfels, Bernhard: Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 86. Vgl. auch Waidenfels, Bernhard: Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden. Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 19: »Das Erfahrungsgeschehen findet seine durchgehende Struktur in dem, was Husserl Intentionalität nennt. Abgelöst von den fragwürdigen Voraussetzungen einer Bewusstseinslehre und von den allzu engen Vorgaben einer Sprachanalyse bedeutet Intentionalität, dass uns etwas als etwas, also in einem bestimmten Sinn, einer bestimmten Gestalt, Struktur oder Regelung erscheint. Diese signifikative Differenz ist unhintergehbar; ein pures Etwas, das nicht als etwas Bestimmtes gegeben und gemeint wäre, wäre ein Nichts, das sich jedem Blick und jeder Rede entzöge. Die Phänomenologie gelangt einzig dann auf ihren Weg, wenn sie in dem, was erscheint, die Art und Weise, wie es erscheint, und die Grenzen, in denen es erscheint, mit bedenkt. Eine Phänomenologie der Erfahrung steht und fällt mit der Voraussetzung, dass Sachverhalt und Zugangsart nicht voneinander zu trennen sind.« Husserl, Ideen I, S. 184.
Wahrnehmung und Phantasie
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seiner in den Ideen I entwickelten Terminologie von »Wahrnehmungsnoema« 7 spricht. Dieser Sinn bzw. dieses Noema entsteht dadurch, dass ein Wahrgenommenes niemals der Gegenstand selbst oder an sich ist, sondern ihn repräsentiert. Doch über das Was hinaus beinhaltet dieser Sinn auch das Wie der Erscheinungsweise dieses Gegenstandes, der dadurch je nach räumlicher und zeitlicher Perspektive eine andere oder fremde Bedeutung annehmen kann: Das aus ihnen geformte Ganze, das gesamte geurteilte Was und zudem genau so genommen, mit der Charakterisierung, in der Gegebenheitsweise, in der es im Erlebnis >Bewusstes< ist, bildet das volle noematische Korrelat, den (weitest verstandenen) >Sinn< des Urteilserlebnisses. Prägnanter gesprochen, ist es der >Sinn im Wie seiner GegebenheitsweiseAls-Struktur< der Wahrnehmung bezeichnen kann: etwas erscheint als etwas. Er sieht darin nun aber nicht nur das grundsätzliche Strukturmoment der natürlichen W a h r n e h m u n g und ihrer Intentionalität, sondern auch der Phantasie, deren >Als-obEtwas-als-etwasBildobjekt< oder innerlich als >Phantasma< manifestiert sein. Dieser Inhalt repräsentiert aufgrund dieser Aufgefasstheit etwas, das selbst nicht da ist. Deshalb unterscheidet er zwischen dem Bildding, dem Bildobjekt und dem Bildsujet. Das Bildding ist der materialiter z.B. an der Wand hängende Gegenstand. Das Bildobjekt ist die wahrnehmbare Komposition von Farben und Linien, die wiederum ein Bildsujet repräsentieren. Um das zu verdeutlichen, sollen die verschiedenen Aspekte des Bildbewusstseins am Beispiel von Dürers Ritter, Tod und Teufel kurz erläutert werden. 9 Zunächst liegt uns das Kupferstichblatt vor, »dieses Blatt in der Mappe«. Auf diesem Bildding finden sich in schwarzen Linien die symbolischen Figuren des Ritters, des Todes und des Teufels gezeichnet. In der ästhetischen Wahrnehmung sieht der Bildbetrachter die Linien aber nicht als diese schwarzen Linien an, sondern geht darüber hinaus: »Diesen [Linien] sind wir in der ästhetischen Betrachtung nicht als Objekten zugewendet; zugewendet sind wir den >im Bilde< dargestellten, genauer, den >abgebildeten< Realitäten, dem Ritter aus Fleisch und Blut usw.« 10 Das Interessante ist hierbei, dass das Bildding und das Bildobjekt, mit Husserls Worten aus dem Text von 1904/5, denselben Auffassungsinhalt haben (die schwarzen Linien auf dem Papier), dass die schwarzen Linien aber durch einen
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A.a.O., S. 183. A.a.O., S. 194. Das Beispiel findet sich in den Ideen I, S. 226 f. Ebd.
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Phänomenologie
des
Heterogenen
Auffassungs- bzw. Einstellungswechsel das Bildsujet ergeben. Daraus resultiert die Potentialität zweier Auffassungen, die Husserl geradezu spannend als einen Widerstreit beschreibt 11 , denn beide Auffassungen sind im Bildobjekt angelegt, aber nicht simultan wahrnehmbar. Als Betrachter eines Bildes muss ich mich entscheiden, ob ich mich den Linien des Bildes als Linien zuwende oder dem, was sie repräsentieren: In beiden Fällen [bezüglich des Phantasmas und des physischen Bildes] sind die Bilder (verstanden als die erscheinenden, analogisch repräsentierenden Gegenstände) in Wahrheit ein Nichts, die Rede von ihnen als Gegenständen hat einen offenbar modifizierten Sinn, der auf ganz andere Existenzen hinweist als diejenigen, als welche sie sich selbst ausgeben. 12
Im weiteren Verlauf seiner Forschungen nun revidiert Husserl sein Inhalt-Auffassungs-Schema. Die Revision kann anhand des kodifizierten Sinns< erläutert werden, von dem Husserl in dem vorangegangenen Zitat spricht. Die Korrektur besteht darin, dass nicht allein eine andere Auffassung den Sinn eines Bildes modifiziert, sodass die Linien einmal als Linien wahrgenommen und dann als Figuren phantasiert werden, sondern auch der Inhalt ändert sich. In Husserls späteren Arbeiten zum Phantasiebewusstsein wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Inhalt gar nicht von der Auffassung zu trennen ist. Inhalt und Erscheinung bzw. Auffassung sind beides untrennbare Momente des Bewusstseins. Weiter oben war ja bereits vom Noema im Was (Inhalt) und Wie (Auffassung) seiner Erscheinung gesprochen worden. Es ist also vielmehr der gesamte Bewusstseinsakt, der sich modifiziert: das eine Mal ist es ein Akt der Wahrnehmung (von Linien auf einem Blatt Papier), das andere Mal ist es ebenfalls ein Akt der Wahrnehmung, aber der phantasierten Wahrnehmung (der Ritter aus Fleisch und Blut). Husserl stellt folgerichtig fest, dass Phantasie und Wahrnehmung die gleiche intentionale Struktur aufweisen. Er kann daher von einem »Wahrnehmen in der Phantasie« 13 sprechen. Wenn wir uns vergegenwärtigt halten, dass die Wahrnehmung ein komplexes Sinngeschehen ist, so gilt das folgerichtig auch f ü r die Phantasie, in der ebenfalls Raum und Zeit elementare Konstituenten sind, in deren Rahmen sich die Dinge perspektivisch in einer bestimmten Struktur oder Syntax anordnen. Wenn ich an dieser Stelle das Bildbewusstsein nach Husserl ausgeführt habe, so deshalb, weil hier die künstlerische Gestaltung von Phantasie zum Zuge kommt. Als Phänomenologe interessierte sich Husserl natürlich besonders für die Malerei, in der ein visuell Erfassbares zur Erscheinung kommt. Nichtsdestotrotz lässt sich hier sehr wohl mit Husserl eine Parallele zur Literatur ziehen, zumal Husserl selbst schon in dem frühen Text »Phantasie und Bildbewusstsein« von einer signitiv-symbolischen Vorstellung spricht, einem Vorstellen »durch Zeichen, die zu den Sachen völlig beziehungslos sind, mit ihnen innerlich nichts zu tun haben.« 14 Literatur stellt nicht durch perzeptiv erfassbare Bilder dar, sondern evoziert vielmehr Ansichten im Sinne Ingardens: »Durch Sprache können Gegenstandsvorstellungen nur evoziert und d. h. nicht wahrnehmungsmäßig vorgegeben werden.« 15 Es ist das Verdienst Ingardens, dem
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Vgl. Husserl, Edmund: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung: Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß. Den Haag Martinus Nijhoff Publishers 1980 (Husserliana XXIII), § 22. (Im Weiteren zitiert als Hua XXIII.) Hua XXIII, S. 21 f. Husserl, Ideen /, S. 225. Hua XXIII, S. 36. Smuda, Manfred: Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur. München: Fink 1979, S. 42.
Wahrnehmung und Phantasie
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mit seinem bekannten Schichtenmodell Rechnung zu tragen. Von der, wie wir heute sagen würden, Medialität der Sprache ausgehend, verfolgt Ingarden durch die verschiedenen semiotischen Schichten des literarischen Kunstwerks hindurch den Aufbau einer für den Lesenden perzipierbaren Phantasiewelt: Sollen die Ansichten dem Leser während der Lektüre eines Werkes aktuell sein und auf diesem Wege zum Bestand des gelesenen Werkes gehören, so muss er eine zum Wahrnehmen analoge Funktion vollziehen, da die im Werk durch die Sachverhalte dargestellten Gegenstände überhaupt nicht effektiv wahrnehmbar sind. 16
Ich möchte an dieser Stelle Ingardens Anatomie des literarischen Kunstwerks nicht weiter ausführen. Das einzige, was hier interessiert, ist weniger das Verhältnis von Werk und Lektüre, das die Rezeptionsästhetik in Bewegung hält 17 , sondern die Perspektivität der Wahrnehmung in der Phantasie. Ingarden spricht davon, dass in der Literatur aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit nur »ein Skelett, ein Schema« 18 der genannten Ansichten übrig bleibt, in dem diese nur >parat gehalten< werden und vom Lesenden >erlebt< werden müssen. Diese Ansichten können nur Aspekte der dargestellten Gegenständlichkeiten und Geschehnisse darstellen, weshalb in der perzeptiven Phantasie eine ebensolche Perspektivität eingebaut ist. Wenn es eine wahrnehmungsmäßige Intentionalität in der Phantasie gibt, dann muss z.B. der Raum in der Phantasie Unbestimmtheitsstellen haben, die theoretisch bzw. potentiell selbst in den Modus der Aufmerksamkeit bzw. Erfülltheit gesetzt werden können. Ingarden nimmt das so an. 19 Es liegt in der Phantasie wie in der Wahrnehmungswelt eine Horizontstruktur vor, in der jeder aktuelle Wahrnehmungs- oder Phantasiegegenstand einen Horizont von Verweisungen hat, sodass sich der Blick jederzeit anderem zuwenden kann. Es liegen uns zwei Welten vor, und zwar eine wirkliche und eine phantasierte Welt, welche die gleiche Wahrnehmungsstruktur aufweisen, deren eine aber realiter, die andere imaginär perzipiert wird: Dieselbe Erscheinung wird doppelt aufgefasst. In Beziehung auf das Phantasie-Ich ist es Wahrnehmungserscheinung: Ich phantasiere: >ich, in der und der Situation seiend, nehme das und das wahrFeld< vorfindet, das durch eine andere Perspektive eine neue Bedeutungsstruktur erfahren kann. Und genau darum wird es den von mir untersuchten Romanen gehen: einen heterogenen Sinn zu entwerfen, der mit einem ersten, sei es sedimentierten oder hegemonialen Sinn, kontrastiert. Grundlage dieses Verständnisses von Bedeutungsstrukturen ist die relativierende Auffassung von Ordnungen, die als kontingente Sedimentationen von Sinn interpretiert werden, die durch Neues und Fremdes relativiert werden können: Schließlich verweist die Erfahrung auf Ordnungen, die in bestimmten Grenzen variieren. Dass etwas als etwas erscheint, besagt zugleich, dass etwas so und nicht anders erscheint, dass also bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten ausgesondert, andere ausgeschlossen sind. Die gleichzeitige Selektion und Exklusion führt dazu, dass es bestimmte Ordnungen gibt, nicht aber eine einzige Ordnung. Diese Kontingenz begrenzter Ordnungen bildet die Vorbedingung dafür, dass es Fremdes gibt, und zwar in dem präzisen Sinne, dass etwas sich dem Zugriff der Ordnung entzieht. 24
Die Horizonthaftigkeit der Wahrnehmung und der imaginären Welt sind die Conditio sine qua non der Heterogenität. Und dennoch ist sie nicht die ausreichende Bedingung für eine Wahrnehmbarkeit des Heterogenen. Das liegt darin begründet, dass die Wahrnehmung in der natürlichen Einstellung immer bestrebt ist, das heterogene Sinn(es)feld in Vertrautheit umzuwandeln, wie das Alfred Schütz formuliert hat: Fremdheit und Vertrautheit [...] sind allgemeine Kategorien unserer Auslegung der Welt. Wenn wir in unserer Erfahrung etwas zuvor Unbekanntes entdecken, das deshalb aus der gebräuchlichen Wissensordnung herausragt, beginnen wir mit einem Prozess der Untersuchung. Zuerst definieren wir die neue Tatsache; wir versuchen, ihren Sinn zu erfassen; wir verwandeln dann Schritt für Schritt unser allgemeines Auslegungsschema der Welt auf solche Weise, dass die fremde Tatsache und ihr Sinn mit all den anderen Tatsachen unserer Erfahrung und mit deren Sinnbedeutungen verträglich werden und zusammengehören können. 25
Damit diese Assimilierung gestoppt werden kann, wäre es notwendig, dass sich die homogenen und heterogenen Sinn(es)felder in einer Art Spannung befänden, die beide simultan bestehen ließe, ohne sie zu vereinen. Auf diese Weise wäre eine Erfahrbarkeit des Heterogenen möglich, die weder eingemeindet noch ausgestoßen würde. Neben der Horizontstruktur ist deshalb als zweite Bedingung die Medialität notwendig. Nur in der Medialität können sich nach meiner Einschätzung zwei heterogene Sinnfelder simultan in einem Spannungsverhältnis aufrechterhalten. Wie ist das denkbar? Mir scheint, dass Husserl mit seinen Studien zur Intersubjektivität eine Antwort darauf gegeben hat.
2.2. Die Erfahrung des Heterogenen Wenn ich im Folgenden auf die Phänomenologie der Intersubjektivität Edmund Husserls eingehe, so geschieht das selektiv. Husserls Untersuchungen zur Wahrnehmung des Fremden dienen dem Zweck, die Konstitution einer objektiven Welt zur explizieren, die nach seinem
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A.a.O., S. 77. Waldenfels, Topographie des Fremden, S. 19f. Schütz, Alfred: »Der Fremde«. In: Gesammelte S. 53-69, S. 69.
Aufsätze
II. Den Haag: Martinus Nijhoff 1972,
Die Erfahrung
des
Heterogenen
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Verständnis eine >Welt für j e d e r m a n n ist. Es ist die eine Welt, an der alle partizipieren und die in ihrer Evidenz f ü r jeden nachvollziehbar ist. Hier interessiert der Aufbau der objektiven Welt weniger als die Erfahrung des Fremden, über die Husserl glaubt, zu der objektiven Welt gelangen zu können. Ich kann an dieser Stelle auch nicht hinreichend auf die Aporien dieses Entwurfs eingehen. Sie sind unisono von der Husserlforschung nachgewiesen worden und kulminieren darin, dass es Husserl nicht gelingt, einen Solipsismus zu überschreiten, der darin angelegt ist, dass Husserl aus einem jemeinigen transzendentalen Ego heraus den sinnhaften Aufbau der subjektiven und objektiven Welt angeht. Die Lösungsvorschläge, die von verschiedener Seite unternommen worden sind 2 6 , um Husserls Ansatz im Kern zu retten, ohne im Solipsismus verhaftet zu bleiben, scheinen mir darin ein Gemeinsames zu haben, dass der Fremde nicht vom Ur-Ich »appräsentativ gespiegelt« 27 wird, sondern in passiver Weise dem Ego vorausgeht. Der Fremde tritt nach Husserl wie die Phantasie im Modus der Vergegenwärtigung auf. In diesem Modus der Vergegenwärtigung ist bereits alles angelegt, was die Wahrnehmung des Fremden so problematisch macht. Denn vergegenwärtigt ist jemand, der nicht originär gegeben ist. Husserl spricht daher auch von einem »Mitgegenwärtig-Machen« (CM 112) oder kurz von »Appräsentation« (ebd.) 2 8 . Der Unterschied zur Erinnerung beispielsweise liegt darin, dass (1.) die Vergegenwärtigung des Fremden niemals auf einer vormaligen Präsentation beruhen kann (was bei der Erinnerung immer der Fall ist) und dass (2.) bei der MitGegenwärtigung etwas Gegenwärtiges mit etwas Nicht-Gegenwärtigem »in Verflechtung« (CM 112) gegeben ist, also in einer Art Spannung, wie ich das weiter oben am Beispiel des Bildbewusstseins genannt habe. Aufgrund der Horizontstruktur des Wahrnehmungsfeldes ist schon jede Dingwahrnehmung dichotomisiert in einer Vorderseite, die sich in einer (nichtwahrnehmbaren) Rückseite desselben Gegenstandes abschattet, die folglich appräsentiert ist. Der entscheidende Unterschied zwischen Ding- und Fremdwahrnehmung ist nun aber, dass der Gegenstand nach allen seinen Seiten hin zur Anschauung kommen, also in von Husserl so genannten Erfüllungssynthesen gegenwärtig gemacht werden kann, wohingegen dies beim Fremden ausgeschlossen bleibt. Das an sich Fremde ist niemals zu gegenwärtigen, es würde andernfalls seine Fremdheit verlieren. Statt in einer Gegenwärtigkeit verharrt das genuin Fremde in einer Abwesenheit: In dieser Art bewährbarer Zugänglichkeit des original Unzugänglichen gründet der Charakter des seienden >FremdenFremdesFremde< als Erfahrung haben, also nicht den Sinn objektive Welt als Erfahrungssinn haben, ohne jene Schicht in wirklicher Erfahrung zu haben, während nicht das Umgekehrte der Fall ist. (CM 9 8 )
Der Anknüpfungspunkt einer Begegnung mit dem Fremden bildet nun dessen Körper, der im Gegensatz zum eigenen Leib ein >Objekt in der WeltSubjekt für die Welt< aufzufassen. Husserl gelingt das dadurch, dass dessen Körper in einer »>analogisierenden< Auffassung« (CM 113) in ein Paarungsverhältnis zum eigenen Leib gebracht wird. Diesem Körper dort werden die gleichen Eigenschaften zugesprochen, die er aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem eigenen Leib
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Vgl. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil: 1929-1936. Den Haag: Martinus Nijhoff Publishers 1973 (Husserliana X V ) , S. 631: »Ich meine nun: Wir leben normalerweise in unserer Heimwelt, oder besser, in einer Umwelt, die für uns wirklich vertraute (obschon nicht in allen individuellen Realitäten vertraute) Welt ist, die für uns wirklich durch Anschauung zu verwirklichen ist. Im mittelbaren Horizont sind die fremdartigen Menschheiten und Kulturen; die gehören dazu als fremde und fremdartige, aber Fremdheit besagt Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit.« Blanchot, Maurice: L'Espace littéraire. Paris: Gallimard 1991 (1955), S. 353.
Die Erfahrung
des
Heterogenen
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apperzeptiv übertragen bekommt. Diese Übertragung ist aber, wie bereits oben erwähnt, eben appräsentiert und nicht präsentiert, weil die Eigenschaft >Subjekt für die Welt< des Anderen nicht originär erfahrbar ist. Das präsentierte, eigene Hier und das appräsentierte, fremde Dort bilden durch die analogisierende Auffassung eine »Deckung in Distanz« (Hua XIV, 531). Die Appräsentation des Fremden lässt sich nicht wie irgendein Ding in passiver Synthesis einheitlich-originär identifizieren, sondern lediglich assoziieren. 31 Aufgrund der nach wie vor bestehenden Tatsache, »dass vom übernommenen Sinn der spezifischen Leiblichkeit nichts in meiner primordialen Sphäre original verwirklicht werden kann« (CM 116), bleibt die Einfühlung quasi-positional, d. h., das Ego (>hierdortQuasi-dort-seinsPaarung in Distanz< wird uns deshalb neben der obigen >abwesenden Anwesenheit des Fremden< leitmotivisch immer wieder begegnen, so etwa bei Michail Bachtin: »Die konkreten Probleme von Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft hängen mit der Wechselbeziehung von Umgebung und Horizont des Ich und des Fremden zusammen. Das Eindringen in den Anderen (das Verschmelzen mit ihm) verbindet sich mit der Wahrung der Distanz (des eigenen Ortes), die den Erkenntnisüberschuss gewährleistet.« 32 Natürlich bereitet die wichtige Funktion der Phantasie bzw. der Fiktion, die ich hier propagiere, Schwierigkeiten, wenn man nämlich über die Intersubjektivität den Aufbau einer objektiven Welt begründen will. Das war immerhin, wie wir jetzt wissen, Husserls Anliegen, das scheitern muss, wenn die konstitutive Rolle der Phantasie nicht neutralisiert werden kann. Hier ist der Ansatzpunkt verschiedener Kritiker der Husserlschen Phänomenologie der Intersubjektivität zu finden, die uns im Weiteren wegen ihrer Ausführungen zur Phantasie interessieren werden: In einem viel beachteten Aufsatz 33 macht Klaus Held deutlich, dass die Intersubjektivitätstheorie Husserls gescheitert ist, weil ihm nicht überzeugend gelungen sei, das Fremde als Fremdes und nicht als >Analogon, Spiegelung< (vgl. CM 96) aufzuzeigen. Nach Held drücken sich im >wie wenn ich dort wäre< »zwei grundverschiedene Vermöglichkeiten« 34 aus: Es drückt sich im >wie< erstens eine fiktive Übertragung aus. Von meinem Hier, das gleichzeitig ein
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Vgl. Husserl, Cartesianische Untersuchungen, S. 115: »Sie [die Paarung] ist eine Urform derjenigen passiven Synthesis, die wir gegenüber der passiven Synthesis der >Identifikation< als >Assoziation< bezeichnen. In einer paarenden Assoziation ist das Charakteristische, dass im primitivsten Falle zwei Daten in der Einheit eines Bewusstseins in Abgehobenheit anschaulich gegeben sind und auf Grund dessen wesensmäßig schon in purer Passivität, also gleichgültig ob beachtet oder nicht, als unterschieden Erscheinende phänomenologisch eine Einheit der Ähnlichkeit begründen, also eben stets als Paar konstituiert sind.« Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von Rainer Grübel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 351. Held, Klaus: »Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen Transze ndentalphilosophie«. In: Claesges, U./ Held, Klaus (Hrsg.): Perspektiven transzendentalphänomen ologischer Forschung. Den Haag: M. Nijhoff 1972, S. 3 - 6 0 . A.a.O., S. 35.
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Phänomenologie
des
Heterogenen
relatives Hier im Verhältnis zu einem Dort und der Nullpunkt der Wahrnehmungsperspektive ist, stelle ich mir vor, ich wäre im Körper dort: Mit dem Hinzutreten dieses Quasi-dort-seins scheint sich die Differenz des originär Präsenten und des horizontal Appräsentierten aufzuheben, weil es sich ja bei der Einfühlung nicht um Appräsentation im primordinalen [sie] Sinne handelt, sondern um die phantasiemäßige Vorstellung der Präsentation des Anderen. 35 Es handelt sich also um eine fiktive Vorstellung, die sich bei Husserl durch die A l s - o b Charakterisierung manifestiert. Dieses >Als-ob< ist uns ja weiter oben schon begegnet. Held fährt fort: Mein Bewusstsein besitzt aber zweitens auch eine ganz anders geartete Vermöglichkeit, sich ein Dortsein seiner selbst zu vergegenwärtigen: Ich kann mir nämlich vorstellen, dass ich dort gewesen bin, sein werde oder überhaupt irgendwann realiter dort anwesend sein kann, indem ich mich von hier nach dort begeben habe bzw. mich dorthin begeben werde. Vorgestellt ist hier nicht eine. fiktive gleichzeitige Anwesenheit dort, sondern eine Anwesenheit dort in der Realität, allerdings nicht gleichzeitig mit meiner Anwesenheit hier, sondern früher oder später. Dieses Bewusstsein müsste sich in der Formel aussprechen: >wenn ich dort binwenn ich dort wärewäre< in diesem Falle nicht den Irrealis darstellte, wie in der Formulierung des fiktiven Bewusstseins, sondern den Potentialis. 36 Es handelt sich hierbei um den Unterschied zwischen positionalem und quasi-positionalem Bewusstsein. 3 7 Nach Held nun scheitert dieser Entwurf daran, dass beide Vermöglichkeiten nicht deckungsgleich sind. Während die quasi-positionale Vergegenwärtigung eine »Durchbrechung meiner Primordialität« 3 8 darstellt, allerdings um den Preis des bloßen A l s - o b , sodass die Hineinversetzung fiktiv bleibt, kann ich in der positionalen Vergegenwärtigung das Dort einnehmen, verlasse dann aber nicht meine rein primordiale Sphäre. D i e Simultaneität ist damit außer Kraft gesetzt. Diese Gleichzeitigkeit zweier (oder mehrerer) Positionen ist aber Voraussetzung der objektiven Welt, die konstituiert ist durch eine »Dezentrierung« 3 9 oder »Dezentralisation« 4 0 der primordialen Sphäre. In einer Kritik an Heids Position führt Antonio Aguirre aus, dass Held mit einem falschen Begriff von Phantasie arbeitet. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht, inwieweit eine Bewährung oder Bestätigung des Vergegenwärtigten möglich ist und ob es realiter oder nur leer m ö g -
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Theunissen, Michael: Der Andere. Berlin 21977, S. 89. Held, »Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen Transzendental philosophie«, S. 35. Vgl. Husserl, Edmund: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Den Haag: Martinus Nijhoff Publishers 1959 (Husserliana Vili), 115: »Sprechen wir von einer Welt schlechthin, so ist eine wirkliche Welt gemeint; wir können aber auch von PhantasieWelten sprechen, und meinen dann solche, die uns in Phantasieaktionen in der Modifikation des >als-ob< gegeben sind. Terminologisch bezeichnet die entwickelte Phänomenologie die einen Akte als positionale, die andern als quasi-positionale Akte.« Held, »Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen Transzendental philosophie«, S. 37. Vgl. ebd.: »Diese Vergegenwärtigung spielt f ü r die Apperzeption des Andern insofern eine entscheidende Motivationsrolle, als sie bereits eine erste Durchbrechung meiner Primordialität darstellt. Sie ist nämlich eine erste Dezentrierung meiner Wahrnehmungswelt, die primordial ausschließlich um mein einziges absolutes Hier als ihr Zentrum orientiert ist, - jedoch im bloßen Als-ob.« Iribarne, Julia V.: Husserls Theorie der Intersubjektivität. München: Alber 1994, S. 88.
Phantasie und
Heterogenität
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lieh ist. Husserl knüpft diese Bewährung an das »Gebaren« (CM 117) des anderen Körpers. Dieser Körper bewährt bzw. bestätigt die »apperzeptive Übertragung von meinem Leib her« (CM 113), indem er den vorab fiktiven oder antizipierten Horizont der Vorerwartung erfüllt (bzw. enttäuscht). Während für Held diese Erfüllung »den Charakter des Als-ob« 41 behält, widerspricht dem Aguirre: »Die wahrnehmungsmäßige Erfüllung der Vorzeichnung verwandelt die vergegenwärtigende Interpretation in Position.« 42 Die gegenseitigen Haltungen hierzu beruhen auf zwei unterschiedlichen Interpretationen von Phantasie. Nach Aguirre zieht Held die subjektive oder solipsistische Phantasie heran, sodass jede Vergegenwärtigung des Anderen rein willkürlich ist, wohingegen Aguirre für seinen Gegenvorschlag von einer »gebundenen Phantasie« 43 spricht, denn der reale Körper dort setzt der Phantasie Grenzen. Vergleichbar mit der Dingwahrnehmung (die Aguirre mit der Fremdwahrnehmung vergleicht), entwirft der Körper dort einen Horizont, der vom eigenen Ego her fiktiv antizipiert und positional bzw. real bewährt wird. Die gebundene Phantasie beruht daher auf der Mittelbarkeit der Fremdwahrnehmung. Der Fremde ist nämlich nicht direkt wahrnehmbar, weil er andernfalls nicht mehr fremd wäre. Husserl sagt es selbst ausdrücklich: Eine gewisse Mittelbarkeit der Intentionalität muss hier vorliegen, und zwar von der jedenfalls beständig zugrunde liegenden Unterschicht der primordialen Welt< auslaufend, die ein >Mit-da< vorstellig macht, das doch nicht selbst da ist, nie ein Selbst-da werden kann. Es handelt sich also um eine Art Mitgegenwärtig-Machen, eine Art >Appräsentationdas nie ein Selbst-da werden kanndort< kann niemals dazu führen, dass ich das fiktive Fungieren dort nicht als mein Fungieren vorstelle.« (38) In gleicher Weise muss nach Aguirre »das fiktive Bewusstsein diesen seinen Charakter« verlieren, damit »die Setzung eines zweiten absoluten Hier« (153) geleistet werden kann. Wie wir bereits gesehen haben, versucht Aguirre die Fremdwahrnehmung vor den Aporien des Husserlschen Ansatzes dadurch zu retten, dass durch den Leib des Fremden die Phantasie an die Positionalität gebunden ist. Held wie Aguirre schließen folglich aus, dass die freie oder, wie Husserl des Öfteren sagt, reproduktive Phantasie in der Lage sei, Fremdes zu erfassen; und Aguirre demonstriert an der Gebundenheit der Phantasie, wie diese in Positionalität zurückgeführt werden kann, um die Konstitution einer objektiven Welt denken zu können, ohne dem Solipsismus anheim zu fallen. Die Phantasie ist also beiden Autoren als Erkenntnisleistung suspekt. Wenn wir aber mit Husserl davon ausgehen, dass das fremde Ich unzugänglich oder gar - den zeitlichen Aspekt unterstreichend - abwesend ist und lediglich vergegenwärtigt werden kann, müssen wir uns fragen: wie, wenn nicht qua Phantasie, kann dem Fremden begegnet werden? Was würde es bedeuten, wenn sich die gebundene Phantasie nicht in Positionalität, also in unerschütterliche Objektivität überführen ließe? Sollte man nicht lieber, anstatt den Glauben an die Phantasie, vielmehr den Glauben an eine objektive Welt aufgeben? Mir scheint, dass der perzeptiven Phantasie, die einen Ausweg aus der Sackgasse des Solipsismus gewiesen hat, eine eminente Bedeutung zuerkannt werden kann, wenn man sich vom Postulat der objektiven Welt verabschiedet. Das möchte ich in diesem Kapitel ausführen: Husserl unterscheidet ganz ausdrücklich zwischen der reproduktiven und der perzeptiven Phantasie, und zwar im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum Bildbewusstsein: Es gibt zwei Grundformen der Vergegenwärtigung: 1. die reproduktive; 2. die perzeptive, d. h. die Vergegenwärtigung im Bild, in bildlicher Darstellung. (Hua XXIII, 475 f.)
Ich schlage daher vor, Husserls Arbeiten zur Intersubjektivität bzw. zur Fremdwahrnehmung und seine Arbeiten zu perzeptiven Phantasie und zum Bildbewusstsein an dem Punkt in Parallele zu setzen, wo die »gebundene, stets mit Wahrnehmung einhergehende Phantasie« 44 in beiden Bereichen zugleich eine entscheidende Bedeutung gewinnt. Beide, Fremdwahrnehmung und Bildbewusstsein, decken sich nämlich darin, dass es ein originär Wahrnehmbares gibt, das ein nicht-originär Wahrnehmbares anzeigt. Im ersten Falle gilt, dass der Fremde »>leibhaft abwesendleibhaft abwesend< ist.« Waldenfels bezieht sich mit dieser Bemerkung vorrangig auf die eigene Leiblichkeit, durch die ich mir selbst fremd bin. Gleiches gilt aber selbstverständlich auch für die Leiblichkeit aller anderen Mitmenschen.
Phantasie
und
Heterogenität
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Was hingegen die modifizierende Auffassung anbelangt, durch welche das Bild erst zum Bild wird, so ist sie evidentermassen gebunden an eine fundierende Erscheinung. Wo keine Erscheinung, da ist auch nichts da, was als Bild dazu dienen könnte, ein anderes zu vergegenwärtigen, ein Gegenstand muss uns vor Augen stehen, damit wir in ihm einen anderen vorstellig machen können. (Hua XXIII, 39 f.)
In einem anderen Text wird diese Gebundenheit noch plastischer als »bindende Nötigung« beschrieben, die den Betrachter eines Bildes oder den Leser eines Romans »einer empirisch gesetzten fremden Absicht« unterstellt (Hua XXIII, 520), sodass Husserl von der »intersubjektiven >Existenz< [...] nach seinem bestimmten Bildbestand und Bildzusammenhang« (ebd.) des Romans spricht. Mir scheint hier besonders deutlich zu werden, dass sich diese Art perzeptiver Phantasie von der reproduktiven dadurch unterscheidet, dass erstere aus dem solipsistischen Zirkel auszubrechen vermag, dem eine Reproduktion niemals entkommt. Wir werden feststellen, dass diese Unterscheidung zweier Konzepte von Phantasie f ü r die anstehenden Untersuchungen wesentlich sein wird, weil sich in den Romanen wiederholt die Frage stellt, wie die Imagination der Falle der Reduplikation vorgegebener Muster zu entgehen vermag - von Mustern, die in der viel gebrauchten Metapher des >Orbits< Ausdruck finden, also in jenem Bild vorherbestimmter Flugbahnen, welche die homogen-solipsistische Sphäre kennzeichnen. Die Imagination ist nämlich an sich nicht in der Lage, den Zirkel des Solipsismus zu überschreiten: Selbst eine noch so große phantastische Exotik bleibt eine willkürliche Phantasterei, oder, wie ich in der konkreten Textarbeit in den Kapitel 4 - 6 zeigen werde, eine Evasion (évasion), die keinen Beitrag zur Fremdwahrnehmung zu leisten vermag, gerade weil sie jede Verbindungslinie zur Wirklichkeit gekappt hat (vgl. das nächste Kapitel). Das Illusionsbedürfnis erweist sich als Evasionsbedürfnis (wie vielleicht am markantesten von Gustave Flaubert in der Figur der E m m a Bovary beschrieben). Wenn aber die Phantasie an das Erscheinen des anderen Körpers oder eines Bildes gebunden ist, so ist ein Entkommen aus dem gewohnten Orbit vorgegebener Bedeutungsstrukturen möglich, weil der Leib des Fremden kein Körper oder Ding unter anderen Dingen ist, sondern ein Stachel des Fremden oder ein begegnendes Antlitz (Lévinas), das sich außerhalb der Eigenheitssphäre befindet und diese stört. Und in diesem Punkt besteht die Parallele zum Bildbewusstsein, das eine »Erscheinung eines NichtJetzt im Jetzt« (Hua XXIII, 47) bedeutet. Die Phantasie führt in diesem Fall nicht auf einen Kern des »unzerbrechlich Selbigen im Anders« (Hua XVII, 255) oder des Identischen zurück (wie der hermeneutische Zirkel), sondern lässt den Phantasierenden aus seiner Perspektive heraustreten und eine fremde einnehmen. Wie wir beim Bildbewusstsein gesehen haben, widerstreitet das Phantasiebewusstsein dem Wahrnehmungsbewusstsein i.S. eines »Anderssein-Bewusstseins« 4 6 . Es gibt keine synthetische Deckung wie in der passiven Synthesis der Wahrnehmung, sondern eine, wie ich gezeigt habe, >Deckung in DistanzGebundenheit< zwar mehr en passant zu sprechen, doch gewinnt diese Überlegung ihr volles theoretisches Gewicht in Termini wie der >Mittelbarkeit< oder der >Vermitteltheit< des Bildsujet. Welchen Ausdruck Husserl denn auch verwendet, letztlich spricht er damit die Medialität der perzeptiven Phantasie an, auf die ich mit Nachdruck in Kapitel 2.1. (»Wahrnehmung und Phantasie«) am Beispiel des Bildbewusstseins hingewiesen habe: »Beispiel einer perzeptiven Phantasie ist das Bildobjektbewusstsein, das Unterlage eines jeden mittelbaren Anschauens der A r t ist, das wir Abbildbewusstsein, Anschauen >im< Bilde nennen.« 4 9 Es hat sich in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass die gebundene Phantasie eine Wahrnehmung des Heterogenen zu leisten vermag. Das wird ersichtlich, wenn die Aufmerksamkeit auf die Medialität selbst gerichtet wird. Die Arbeiten von Eckhard Lobsien und Manfred Smuda, die sich durchaus als Beiträge einer phänomenologischen Literaturwissenschaft verstehen, weisen den hier angesprochenen
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Theunissen, Der Andere, S. 88: »Die natürliche Objektivierung der Welt ist gewissermaßen deren Entperspektivierung und somit auch die Aufhebung der Differenz zwischen dem unmittelbar Erscheinenden und dem horizontal Mitgegebenen.« Hua XXIII, 504; Hervorh. von mir, J.U.
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Medium
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Sachverhalt sehr deutlich auf, auch wenn das nicht das eigentliche Thema ihrer Arbeiten ist. In den Untersuchungen zur Konstitution literarischer Gegenstände bzw. zur Illusionsbildung zeigen sie, wie die Illusion, fiktive Welten in literarischen Werken so wahrzunehmen, als ob sie reale seien, zur Voraussetzung hat, dass das Medium nicht selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit wird. Das ist für meine Überlegungen insoweit interessant, als eine solcherart verstandene Illusion als ungebundene Phantasie verstanden wird, also als eine, welche die solipsistische Welt des Wahrnehmenden oder Lesenden nicht überschreitet. So schreibt Lobsien: Denn jeder Leser vermag sich nur insoweit die in einem Illusionsroman eventuell programmierte Wahrnehmungsweise anzueignen, wie sie seinem individuellen Habitus entgegenkommt. Eine Illusion bildet sich für ihn ja gerade nur dann, wenn die dargestellten Gegenstände seinen Wahrnehmungsgewohnheiten oder besser, seiner Erwartung ihrer Wahrnehmbarkeit entgegenkommen, sodass sie für seine Vorstellung realen Gegenständen täuschend gleichen können. 5 0
Die im illusionistisch-literarischen Text evozierten Gegenstände müssen vom Leser folglich »nicht [in] gänzlich fremder Weise erfahren werden können«. 51 Interessanterweise ist dieses Illusionserlebnis besonders in realistischen Texten anzutreffen, wie Maupassant feststellte: »J'en conclus que les Réalistes de talent devraient s'appeler plutôt des Illusionnistes« 52 , weil die hierin entworfene Welt als wirkliche rezipiert werden soll. Die Phantasiewelt stellt sich demnach nicht als ein alternativer oder heterogener Sinnentwurf dar. Sie sorgt auch für keine Irritationen, welche die Wirklichkeit eventuell erschüttern könnte. Die Wirklichkeit erscheint vielmehr in einer Unbeschwertheit, die nicht weiter hinterfragt wird. Das unterstreicht die für den Realismus typische Allwissenheit (omniscience) des auktorialen Erzählers, wie Georg Lukács einmal bemerkte: »Die Allwissenheit des Autors macht den Leser sicher, beheimatet ihn in der Welt der Dichtung.« 53 Diesem allwissenden Autor bleibt nichts fremd, denn er scheint mit einem quasi göttlichen Blick alles erkennen oder wissen zu können. Diese Omnipotenz wird von einer neutralen Literatursprache bestätigt, denn das Medium bleibt in seiner Transparenz unwahrnehmbar und stellt keinerlei Widerstand dar: Voraussetzung für das Illusionserlebnis ist das Transparentwerden des sprachlichen Mediums [...]. Dabei muss der Text insbesondere die Grundbedingung jeder Wahrnehmung erfüllen, nämlich die, dass dem Leser der Blickpunkt nicht bewusst wird, sondern >diesseits von allem Sehen< bleibt. 54
Würde das Medium in den Blickpunkt gerückt, so würde der gleitende Übergang von der natürlichen Einstellung in die Modifikation der Phantasie nicht mehr reibungslos möglich sein und damit eben diese Modifikation selbst bewusst werden. Daraus ergäbe sich eine Störung, eine Reibung zweier oder mehrerer Standpunkte, die in ihrer Simultaneität »heterogene Ordnungen entstehen lassen« 55 könnten. Diese Simultaneität habe ich weiter oben bereits am Beispiel des perzipierbaren, also anwesenden Fremden gekennzeichnet, der gerade in
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Lobsien, Eckhard: Theorie literarischer Illusionsbildung. Stuttgart: Metzler 1975, S. 25. A.a.O., S. 23. Es handelt sich um das Vorwort des Romans Pierre et Jean. Vgl. Maupassant, Guy de: »Le Roman«. In: Romans. Paris: Gallimard (Pléiade) 1987, S. 703-716, S. 709. Lukács, Georg: »Erzählen oder Beschreiben? Zur Diskussion über Naturalismus und Formalismus«. In: Brinkmann, Richard (Hrsg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 3 3 - 8 5 , S. 54. Lobsien, a.a.O., S. 48/49. Waidenfels, Bernhard: »Gänge durch die Landschaft«. In: Smuda, Manfred (Hrsg.): Landschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 2 9 - 4 3 , S. 38. Hervorh. von B.W.
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der Gleichzeitigkeit e i n e »einverstehende« 5 6 A u f f a s s u n g von Welt verhindert. Sie wiederholt sich hier, w o m a n ebenfalls von e i n e m Distanzverhältnis sprechen kann: D i e Wahrnehmung dezentriert sich und lässt das Heterogene zu. Auch Manfred Smuda hält es für unverzichtbar, dass das M e d i u m ganz in d e m Gegenstand aufgeht, den es repräsentiert, soll eine Einstellungsmodifikation in die Illusion erfolgreich sein. A u c h Smuda hat in diesem Z u s a m m e n h a n g w i e Lobsien die Arbeiten von Jean-Paul Sartre im Blick: Indem dieses Wissen in der ästhetischen Einstellung hervorgerufen wird und dabei auf sein verfügbares Erfahrungspotential angewiesen bleibt, ist das Vorstellungsobjekt mit dem Bewusstsein, das wir von ihm haben, identisch. Damit hängt es zusammen, dass der Vorstellungsgegenstand, wie Sartre sagt, >d'un bloc< geliefert wird und nicht, wie der Wahrnehmungsgegenstand, in einem kontinuierlichen Prozess der Kenntnisnahme. [...] Der Vorstellungsgegenstand wird also deshalb >d'un bloc< geliefert, weil der Widerstand wahrzunehmender Gegenständlichkeit in dem Augenblick aufgehoben ist, wo sich das Noema des Vorstellungsakts konstituiert. 57 In d i e s e m Falle ist also nichts in der fiktiven Welt, w a s d e m Leser nicht eigentlich schon bekannt sein würde - nichts ist i h m fremd. D i e primordial-solipsistische Sphäre w ä r e in der Tat nicht überschritten. Nun sind sich Smuda und Lobsien darin einig, dass mit Husserl die B e s c h r ä n k u n g , d i e das Imaginäre bei Sartre (und Ingarden) erfährt, ü b e r w u n d e n werden kann: Im Darstellungsverfahren der Künste des 20. lahrhunderts werden polyperspektivische Ansichten von Gegenständen entworfen, die nicht mehr, wie in der traditionellen Darstellung, zentral organisiert sind. Eine solche Darstellungsmodalität der Perspektivierung hat den Effekt, dass Gegenständliches in seinem Ansichtencharakter bloßgelegt wird, und das Medium statt des durch es vermittelten Gegenstands in den Blick gerät. [...] Die Möglichkeit eines solchen Unternehmens zeichnet sich in der Wahrnehmungstheorie Husserls ab, wurde jedoch z.T. durch die phänomenologische Ästhetik Ingardens und Sartres verdeckt, und zwar durch ihr nahezu ausschließliches Interesse am Typus der illusionsbildenden Kunst. 58 D i e Überlegenheit Husserls insbesondere gegenüber Sartre liegt darin, dass Husserl, w i e ich schon ausführlich dargestellt habe, auch die fiktive Welt des R o m a n s in Horizonten strukturiert annimmt, wodurch eine B e g e g n u n g mit d e m Unbekannten, d e m Fremden oder d e m N i c h t - W i s s e n zuallererst denkbar wird. D. h., dass die in der Phantasie vorfindliche Welt zu den B e d i n g u n g e n der Wahrnehmung aufgefasst werden muss 5 9 , w i e Husserl in e i n e m sehr interessanten Text aus d e m Jahre 1914/15 besonders deutlich gemacht hat, w o er von der »Phantasieraumwelt« (Hua XIII, 2 9 9 ) spricht. Er geht dabei von einem »Ich-Fiktum« aus, das in der Phantasie e i n e Welt in ebensolcher Aspekthaftigkeit wahrnimmt w i e das reale Ich in
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Auf diese Formulierung Husserls komme ich weiter unten zu sprechen. Smuda, Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur, S. 22/23. A.a.O., S. 76. Lobsien sieht insbesondere in seinem Buch Landschaft in Texten (Stuttgart: Metzler 1981) bei Husserl den Vorteil weitaus differenzierterer Beobachtungen hinsichtlich der Interferenzen von Wahrnehmung und Phantasie: »Allerdings unterscheidet Husserl schon hier schärfer als Sartre zwischen dieser bildlich sich vermittelnden Phantasie und der schlichten Phantasievorstellung.« (93) Vgl. Lobsien, Landschaft in Texten, S. 95: »Da die Phantasie durch und durch Modifikation ist und sich eine Modifikation nur bestimmen lässt als Modifikation von etwas, also die Phantasie als Modifikation der Wahrnehmung (oder des Urteils), so ist in aller Phantasietätigkeit stets eine fundierende Wahrnehmung in ihrem Aktcharakter mitgesetzt, folglich auch in der Reflexion antreffbar.«
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der natürlichen Einstellung. Es spürt seine Augen und »beim Herumgehen in der Phantasielandschaft« (Hua XIII, 305) seine Füße: »Eine Dingwahrnehmung setzt voraus ein Subjekt des hic et nunc\ eine Dingphantasie ein Subjekt in der Phantasiewelt, mit einem Phantasie-hic, einer Phantasie-Orientierung etc.« (Hua XIII, 305). In diesem Text vergleicht Husserl darüber hinaus expressis verbis Bildvorstellung und Fremdwahrnehmung, doch unterscheidet er beide irrigerweise durch das Kriterium der Vermitteltheit, also der Medialität. Während er annimmt, dass die Fremdwahrnehmung vermittelt bzw. gebunden ist und sich daher einer einverstehenden oder solipsistischen Auffassung entzieht, spricht er der Bildvorstellung eine Unmittelbarkeit zu, weil das Bildmedium (das Bildobjekt in der Sprache Husserls) durch Ähnlichkeit in dem Bildsujet aufgeht. Doch was ist, wenn sich dieses Medium dem verweigert? Ist diese Vorstellung [des Fremden] eine Bildvorstellung? Analogisiere ich, verbildliche ich in meinen Erlebnissen fremde? Versetze ich meine Erlebnisse statt in meinen Leib in einen anderen Leib? Davon kann doch keine Rede sein. Was ich verbildliche, das löst sich ein durch unmittelbar setzende Vorstellung und dann weiter durch Wahrnehmung. Davon ist hier nichts möglich. Die einverstehende Auffassung ist eine unmittelbare Auffassung, eine unmittelbare Erfassung einer >nicht gegenwärtigen Gegenwart^ motiviert durch eine äußere Wahrnehmung. (Hua XIII, 311. Hervorh. von J.U.) Man muss hier davon ausgehen, dass Husserl seine Auffassungen zur Ästhetik der Illusionskunst entnimmt. Das entspricht nicht mehr der modernen Kunst, die ihre eigenen Voraussetzungen, also insbesondere ihre Medialität, in den Vordergrund rückt. Und doch: Auch Husserl selbst, der von der Ästhetik als von der Gegenständlichkeit im W i e 6 0 spricht, hält es für ästhetisch bedeutsam, auf das Medium zu reflektieren und damit die Wahrnehmung selbst in den Mittelpunkt zu rücken: Ästhetische Wertung hängt wesentlich zusammen mit dem Unterschied zwischen Bewusstsein eines Gegenstandes überhaupt und Erscheinungsweise des Gegenstandes. (Hua XXIII, 388) Tritt nun das Medium in den Vordergrund, wird exakt der Punkt der Einstellungsmodifikation (von der lebensweltlichen zur fiktiven Wahrnehmung) markiert, sodass beide Wahrnehmungswelten in ein Widerstreitverhältnis eintreten können. D i e fiktive Welt erscheint so als, wie es Wolfgang Iser in seinem Werk Das Fiktive und das Imaginäre genannt hat, »Möglichkeitshorizont« 6 1 , als Alternativentwurf zur Wirklichkeit. Darin werden Anleihen aus der realen
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Gerade in dieser Formulierung sind wir wieder auf die Struktur der Wahrnehmung verwiesen, dessen Noema das Was des Gegenstands im Wie seines Erscheinens ausmacht. Vgl. auch Bensch, Georg: Vom Kunstwerk zum ästhetischen Objekt. München: Fink 1994, S. 11: »Die phänomenologische Ästhetik aber verfügt nicht nur nicht darüber, was Kunst ist - sie stellt sich diese Frage erst gar nicht; vielmehr ersetzt sie hier esse durch percipi und erhält sich so jenen Grad an Lebendigkeit, der die Rezeption von Kunstwerken genuin kennzeichnet und der verlorengeht, wenn man Kunst ungeachtet dessen betrachtet, dass sie immer schon wahrgenommene Kunst ist.« Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 393. Vgl. auch die sehr interessante Bemerkung einige Seiten weiter: »Diese [reine Möglichkeit fiktiver Welten] verkörpert nun insofern eine radikale Alternative zur Bezugswelt des Textes [d.h. der Lebenswelt], als sie aus deren Realität nicht ableitbar ist und gerade dadurch zum Modell für das Erzeugen von Welten wird. Denn sie ist das Analogon einer Vorstellbarkeit, und das bedeutet, zu einer Möglichkeit eine Realität hinzuzudenken. Das aber scheint dem durch Erfahrung eingeübten Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit zu widersprechen, welches uns glauben macht, dass es Möglichkeiten immer nur in Beziehung auf Wirklichkeiten - und nicht umgekehrt - gibt. Denn Möglichkeiten, so meint man, liegen den Realitäten nicht voraus. Wenn aber Realitäten ihrerseits Konstrukte sind, dann können sie nicht aus sich selbst hervorgegangen
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Welt durch bestimmte >Akte des Fingierens< (Selektion, Kombination) in eine neue »perspektivische Einstellung« (27) gebracht, die infolgedessen eine andere »Schattenhaftigkeit« und »Positionalität« (30) einführen. Doch mehr noch als ein anderer Sinn wird zuallererst ein Verfremdungseffekt erzielt, denn durch die beschriebene »kohärente Verformung« 62 der Realität wird zunächst jeglicher Sinn erschüttert und à l'état naissant erfasst. Indem nämlich die von Iser beschriebene »Qualität des Wahrgenommenwerdens« selbst, folglich das Medium, in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wird jeder Sinnentwurf hinterfragbar: Zunächst rücken die Bezugsfelder [der realen Welt] als solche in den Blick, da erst der selektive Eingriff in sie und die sich darin anzeigende Umstrukturierung ihrer Organisationsform diese als Bezugsfelder gewärtigen lässt. Solange sie als Systeme die Organisationsform der jeweiligen soziokulturellen Welt bilden, fallen sie so weitgehend mit ihren regulativen Funktionen zusammen, dass sie als solche kaum wahrgenommen werden; sie werden für die Realität selbst gehalten. Die Selektion reißt sie aus dieser Identifikation heraus und macht sie zum Gegenstand der Wahrnehmung. Die Qualität des Wahrgenommenwerdens ist jedoch kein integraler Bestandteil des jeweiligen Systems, weshalb erst der erfolgte Eingriff diese Möglichkeit erzeugt. 6 3
Indem also die Literatur durch eine Hervorkehrung ihres Mediums sich selbst als Fiktion anzeigt (die Selbstanzeige ist neben der Selektion und der Kombination nach Iser der dritte Akt des Fingierens) 6 4 , zeichnet sie eine Wahrnehmung der Wahrnehmung vor, also eine Besinnung auf diese selbst. Solcherart ins Visier genommen, verrät die Wahrnehmung ihre raumzeitliche Gebundenheit oder Begrenztheit an einen subjektiven Standpunkt, der kontingent ist, also keine absolute Wahrheit oder Wirklichkeit für sich beanspruchen kann - ein Vorgehen, das im besten Sinne eine Selbstkritik darstellt, die das >Scheiden< ihres Standpunkts von sich selbst impliziert. Die daraus resultierende Simultaneität zweier oder mehrerer Standpunkte bzw. Perspektiven ergibt eine Offenheit der Erfahrung, welche die Literatur in herausragender Weise in ihr Medium umsetzt, indem sie es vermag, Wahrnehmung wahrnehmbar zu machen und die habituell-natürliche Einstellung in der Lebenswelt mit dem Index des »Conjunctivus potentialis« 65 , um mit Musil zu sprechen, zu versehen. D. h., die Literatur ist in der Lage, durch die Fiktionalität oder mit Husserl: durch den Charakter des Als-ob eine Fremderfahrung zu ermöglichen. Pierre Ouellet 66 hat auf diesen Punkt einer Reflexion der Wahrnehmung auf sich selbst und im Weiteren der Literatur auf sich selbst hingewiesen und diesen Sachverhalt als Charakteristikum erster Ordnung der modernen Quebecer Literatur gewertet: Autrement dit, ce qui apparaît dans la littérature de la fin des années soixante au Québec, c'est la mise en valeur de l'expérience romanesque elle-même, soit de l'esthésis propre à l'activité de donner
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sein. Das Zusammenspiel von Fiktivem und Imaginärem bezeugt folglich, dass die Bezugsrealitäten des Textes - weil aus Möglichkeiten hervorgegangen - wieder in solche zerlegt werden, um weitere Möglichkeiten freizusetzen, die dem Hervorbringen anderer Welten dienen.« (S. 402) Vgl. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie in Frankreich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 194: »Neues entsteht [...] durch >kohärente Verformung< von Gesten, Lauten und sinnlichen Gestalten, d.h. durch eine Sinnverschiebung innerhalb eines bestehenden Ausdruckssystems, durch eine unmerkliche Abweichung vom Gewohnten.« Den Ausdruck von Merleau-Ponty nimmt auch Iser in der Übersetzung »kohärente Deformierung« auf S. 395 auf. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 24f. Hervorh. von mir, J.U. Bei Iser ist nicht klar, ob er die Selbstanzeige für alle fiktionalen Texte annimmt. Ist dem so, dann würde das den Ausführungen Smudas und Lobsiens zum Illusionsroman widersprechen. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek: Rowohlt 1978, S. 19. Ouellet, Pierre: Voir et savoir: La perception des univers du discours. Candiac: Les Editions Balzac (Collection: >L'Univers des discoursDeterritorialisierung< der minoritären Literatur, die im Falle Quebecs darauf beruhte, dass die französische Sprache keinen Zugriff auf die Wirklichkeit hatte. Diese war anglophon beherrscht, was sich allein schon am Beispiel der Ökonomie zeigen ließe. 4
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenenser Realphilosophie II (Natur- und Geistesphilosophie). Hrsg. von Johannes Hoffmeister. In: Sämtliche Werke, Bd. XX, hrsg. von Georg Lasson. Leipzig: Meiner Verlag 1931, S. 206. Diese Ausgabe gilt als editorisch nicht präzise. Die zitierten Sätze scheinen mir aber inhaltlich als durchaus dem Hegeischen Denken kongruent. Sie betonen die intersubjektive Konstitution des menschlichen Seins. Vgl. auch Simon, Sherry: »Culture and Its Values: Critical Revisionism in Quebec in the 1980s«. In: Lecker, Robert (Hrsg.): Canadian Canons: Essays in Literary Value. Toronto: University of Toronto Press 1991, S. 167-179, S. 168: »The hesitations of these first novels, their uncertain status as literature, become a haunting and persistent motif for the critics of the early 1960s.« Vgl. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Kafka: Pour une littérature mineure. Paris: Seuil 1975. Vgl. z.B. Klaus, Peter: »Zeitgenössische franko-kanadische Literatur (1): ein Beispiel an Selbstbehauptungswillen, (sprach-)politischem Engagement und integrativer Kraft«. In: Fremdsprachenunterricht, no. 1 (Jan./ Febr. 1996), S. 48-54, S. 49: »Die soziale Rangfolge und die ökonomische
Ein literaturhistorischer
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Überblick
Die Worte des Frankokanadiers schienen sich wie in einem luftleeren Raum zu befinden und ohne jeden wirklichen Sinn zu sein. Zur besseren Verdeutlichung dieser Situation kann man in Absetzung davon >Territorialität< definieren »first as a measure of the homogeneity of a culture and a measure of the closeness between word and world, and second, in the realm of semiotics, between signifier and signified.«5 Die Quebecer Literatur gelangte erst dann auf ihren Weg, als sie in den sechziger Jahren daran ging, diese klaffende Wunde zwischen den Worten und den Dingen zu schließen und den sowohl politischen als auch literarischen Anspruch auf ein eigenes, nationales Territorium zu erheben: Mit den sechziger Jahren begann eine Veränderung des Identitätsbezugs. Aus den Frankokanadiern sind Quebecer geworden; statt lediglich durch kulturelle Charakteristika definiert zu sein, ist die Nation von diesem Zeitpunkt an mit dem Territorium und dem Staat Quebec verknüpft. 6
Um dieses genuin postkolonialistische Projekt in seinen Anfängen zu beschreiben, werde ich nun in einem ersten Schritt darzustellen versuchen, wie diese Inbesitznahme oder Nationalisierung eines Territoriums verstanden worden ist. Es hat sich dabei in Anlehnung an Hegels Herr-Knecht-Dialektik um eine Überwindung der Entfremdung hin zu einer An-Eignung gehandelt, die versuchte, eine »adéquation entre les mots et les choses«7 herzustellen. Vornehmlich über die Sprache sollte ein homogener Nationalstaat geschaffen werden, und zwar, genauer gesagt, über das Joual (Parti pris) bzw. über das Französische (Hubert Aquin).
3.1. Der Neonationalismus der sechziger Jahre Die neuere Literatur Quebecs wurde mit der Révolution tranquille eingeleitet. Diese war keine industrielle oder ökonomische, wohl aber eine kulturelle Revolution. Während sich die wirtschaftliche Entwicklung hin zu einer modernen Industriegesellschaft typisch westlicher Prägung schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs abzeichnete, setzte der Prozess eines Laizismus, verbunden mit dem Gedanken nationaler Unabhängigkeit, erst in den sechziger Jahren ein. Die Literatur und die Literaturkritik haben diesen Prozess maßgeblich mitgestaltet, indem sie in herausragender Weise eine Ideologie der nationalen Identität lancierten. So wurde z.B. in der Zeitschrift Parti pris der von Henri-Raymond Casgrain bekannte Satz »Notre littérature sera nationale ou elle ne sera pas«8 umformuliert in den Satz: »Notre littérature s'appellera québécoise ou ne s'appellera pas«9.
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Allmacht und Allgegenwart des Englischen machten es quasi unmöglich, die Stufenleiter des Erfolgs auf Französisch zu beschreiten, und dies, obwohl Quebec zu gut 80 % frankophon ist. Noch 1961 stellt sich die brutale Einkommenshierarchie in Montreal wie folgt dar: 1) der einsprachige AngloKanadier; 2) der zweisprachige Anglo-Kanadier; 3) der einsprachig-englische Franko-Kanadier; 4) der zweisprachige Franko-Kanadier; 5) der einsprachige Franko-Kanadier.« Söderlind, Sylvia: Margin/Alias: Language and Colonization in Canadian and Québécois Fiction. Toronto/ Buffulo/ London: University of Toronto Press 1991, S. 15. Monière, Denis: »Zur politischen Kultur in Québec«. In: Kempf, Udo (Hrsg.): Quebec. Wirtschaft - Gesellschaft - Politik. Bochum: Brockmeyer 1994, S. 36. Beaudoin, Réjean: Le Roman québécois. Montreal: Boréal 1991, S. 68. Vgl. Bayard, Caroline: »Critical Instincts in Quebec: From the Quiet Revolution to the Postmodern Age (1960-1990)«. In: Lecker, Robert (Hrsg.): Canadian Canons: Essays in literary value. Toronto: University of Toronto Press 1991, S. 124-130, hier: S. 125f. Girouard, Laurent: »Notre littérature de colonie«. In: Parti pris, vol. I, no. 3 (1963), S. 30-37, S. 30.
Der Neonationalismus
der sechziger
Jahre
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Die Zeitschrift Parti pris, die von 1963-1968 erschien, verstand sich als Plattform politisch-literarischer Auseinandersetzungen mit dem prononcierten Ziel einer Dekolonisierung. Mit Hilfe des Marxismus, des Dekolonialismus (Berque, Memmi, Fanon) und des Existenzialismus (Sartre) schärfte man das Bewusstsein der eigenen Entfremdung. Nach Meinung der Partipristen war Quebec eine Kolonie der anglophonen Wirtschafts- und der französischen Kulturhegemonie. Daraus resultierte das Selbstverständnis als Anderer oder Entfremdeter im eigenen Land. Aus einer kämpferischen Attitüde heraus wurde eine Literatur konzipiert, die eine politische, wenn nicht sogar kriegerische Funktion zu übernehmen hatte. Im Sinne Sartres des »montrer c'est changer« 10 wurde einem réalisme critique das Wort geredet. Indem der Gesellschaft der Spiegel vorgehalten wurde, sollte diese verändert oder revolutioniert werden. Das politische Ziel, das den Partipristen vorschwebte, ging weit über das Erreichte der dévolution plutôt tranquille< (Jacques Godbout) hinaus. Für die Partipristen wurde es zum Problem, eine Schreibform zu finden, welche sowohl die verachteten Umstände der frankokanadischen Gesellschaft wiedergeben als auch den Weg der Befreiung weisen würde. Die wichtigste diesbezügliche Ausdrucksform und gleichzeitig das gemeinsame Band vieler partipristischer Romane war das Joual. Problematisch war die Verwendung deshalb, weil das Joual zum einen die Andersartigkeit der Québécois, also deren Besonderheit kennzeichnete, zum anderen aber das symbolisierte, was überwunden werden sollte: Celui-ci [le joual], dans une première étape, est la langue de la dénonciation, le hoquet de l'homme aliéné, la parole laide et grotesque du Québécois colonisé: [...] Mais le jouai n'est pas une réalité univoque et statique pour Parti pris: il est dialectique. Il est aussi le signe évident d'une québécité; il est notre peau noire: au départ, malédiction, il peut aussi, par contre, être la langue d'une profonde vérité, atteindre des accents inoubliables, signaler le départ d'une reconquête de l'homme québécois et être l'indice ambigu d'une présence québécoise en littérature."
Die neue littérature québécoise sollte im Unterschied zur überkommenen littérature canadienne d'expression française nicht nur als »arme d'une guérilla idéologique en territoire occupé« 12 dienen, also als ein Mittel im Kampf, sondern auch den Zweck haben, ein befreites, autonomes und sozialistisches Quebec zu gestalten. Während die erste Funktion erfolgreich war, muss man feststellen, dass der Entwurf eines autonomen Quebec nicht gelang. Der enorme Einfluss der Partipristen liegt alleinig im Aufzeigen der Missstände begründet. Hier ist zwar der Anfang eines nach Selbstbewusstsein ringenden texte national (Godbout) gemacht worden, doch hatte die écriture der Partipristen keine Zukunft, weil sie sich als ungeeignet erwies, dem sich zu einer hochtechnologisierten, spätkapitalistischen und multiplen Gesellschaft entwickelnden Quebec gerecht zu werden. Das Ziel der Partipristen ist folglich ein doppeltes: Einerseits geht es um eine »conscientisation« 13 der kulturellen Rückständigkeit und andererseits um den Versuch, den »écart entre la culture et la société québécoise« 14 zu überwinden. Das Jouai ist als eigentlicher Soziolekt
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Sartre: Qu'est-ce que la littérature? Paris: Gallimard (Folio) 1986 (1948), S. 105. Major, Robert: Parti pris: Idéologies et littérature. LaSalle: Hurtubise HMH 1979, S. 282. Beaudoin, Le Roman québécois, S. 70. Roy, Max: Parti pris et l'enjeu du récit. Québec: CRELIQ (Collection >Essais< no. 4) 1987, S. 28 u.ö. Marcel Rioux, zitiert in: Fortin, Andrée: »Les Trajets de la modernité«. In: Elbaz, Mikhaël/ Fortin, Andrée/ Laforest, Guy: (Hrsg.) Les Frontières de l'identité: Modernité et postmodernité au Québec. Sainte-Foy/Paris: Presses de l'Université Laval/L'Harmattan 1996, S. 23-28, S. 23.
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des Montrealeser Proletariats aber nicht in der Lage, die ganze Bandbreite moderner Erfahrungen wiederzugeben. Das zeigt sich allein schon an der Diskrepanz zwischen den theoretischen Texten der Partipristen - die eine politische Utopie beschwören - und der Prosa, die in der Édition Parti pris erschienen ist und die mehr negativ, so etwa bei Jacques Renaud (Le Cassé) und André Major (La Chair de poule), Ausdruck der persönlichen Misere ist, aber keine direkt politischen Ambitionen aufweist. Am Beispiel von Claude Jasmin (Pleure pas, Germaine) hingegen, der versucht, das Joual positiv und objektiv als Sprachmodus einer >neuen Wirklichkeit, d. h. eines unabhängig-homogenen Quebecs zu verwenden, zeigt sich, wie dies nur unter Aufgabe des >kritischen Realismus< möglich ist. Nur durch die Ignorierung der faktischen Entwicklung Quebecs können die Konzepte von pays und peuple beschworen werden, die in ihrem Anachronismus wieder zum roman du terroir und damit zu einem erneuten Mystizismus führen müssen, aus dem sich die Partipristen gerade befreien wollen: »La parole, pour nous, a une fonction démystificatrice; elle nous servira à créer une vérité qui atteigne et transforme à la fois la réalité de notre société.« 15 Der transitorische Charakter der écriture partipriste, den die Herausgeber der Zeitschrift selbst erkannten, hat sich bestätigt: »Le misérabilisme et le joual ne constituent qu'une étape, l'étape de la négation dans la création d'un Québec nouveau. Cette étape permet de faire voir le vrai visage du Québec et ainsi de rendre >intelligent< le lecteur de Parti pris.«16 Wir können festhalten, dass den Partipristen das Joual als ein Charakteristikum nationaler Besonderheit (particularité) gegolten hat. Die radikale Revolution 17 , welche die Partipristen anstrebten, sollte sich auf zwei verschiedenen Ebenen vollziehen, die sich jedoch gegenseitig bedingen: auf der Ebene des Subjekts und auf der der Gesellschaft bzw. des Staates. Die »naissance de l'homme québécois« 18 ist nur realisierbar in einem freien und unabhängigen Quebec. Andersherum ist die Gründung eines solchen Staates von der Ent-Fremdung des Quebecers abhängig, indem er danach strebt, seine essentielle oder substantielle Identität zu erlangen. Vor dem Hintergrund dieser politischen Ziele beschreibt Paul Chamberland die koloniale Situation Quebecs und seiner französischsprachigen Bewohner in einem zentralen Text (»De la damnation à la liberté«), den ich im Folgenden zusammenfassen möchte. Er rekurriert darin auf zwei Schlüsselbegriffe, die er von Jacques Berques Schrift Dépossession du monde19 entlehnt: dépossession und dépersonnalisation. Die Enteignung benennt das Verhältnis der Quebecer zu den Dingen, den Reichtümern, den Bodenschätzen, kurz: zu dem Territorium überhaupt, das sich ökonomisch und sprachlich unter anglophoner Vorherrschaft befindet. Nach Chamberland und den anderen Partipristen ist nur eine Staatsgründung in der Lage, diese Enteignung zu beenden. Die >Entpersönlichung< beschreibt die bereits genannte Entfremdung der Quebecer, die sich in ihrem Ich vom Anderen bestimmt sehen: »Nous en venons à nous penser à travers la conscience et les valeurs de l'autre.« 20 Doch kann man sich dem Blick des Anderen völlig entziehen? Wie ist es möglich, »de chasser le regard de l'autre qui fausse le regard sur nous-même?« 21 Eine Selbstbestimmung
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Aus dem Prolog der ersten Nummer der Parti pris, vol. I, no. 1 (oct. 1963), S. 2. Major, Parti pris, S. 85. Vgl. das Motto des Textes von Paul Chamberland, »De la damnation à la liberté« (In: Parti pris, no. 9-11 (été 1964), S. 53-89), das von Karl Marx stammt: »Une révolution radicale ne peut être que la révolution des besoins radicaux.« (S. 53). Chamberland, »De la damnation à la liberté«, S. 78. Vgl. Berque, Jacques: Dépossession du monde. Paris: Seuil 1964. Chamberland, »De la damnation à la liberté«, S. 65. A.a.O., S. 58.
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in politischer und identifikatorischer Absicht hat für die Partipristen zur Prämisse, dass es eine substantielle Identität einer homogenen Wir-Gemeinschaft bzw. eines homo quebecensis gibt: La Révolution tranquille et le verbe nationalitaire qui l'animait ont longtemps donné l'impression que le Québec ne pouvait prendre fait et acte que par et dans l'imaginaire identitaire particulier et homogène de l'homo quebecensis - le >pure laineNatur< zur Geltung bringt; es geht um eine radikale Neugeburt eines Ich und eines Wir. Simon Harel untersucht diesen »discours de fondation« 24 und deckt dabei den verdeckten Mystizismus einer substantiellen Identität bzw. eines Essentialismus auf, der innerhalb der partipristischen Gruppe virulent war und sie im Widerspruch zu ihrem eigenen Projekt der Entmystifizierung brachte: L'affirmation compulsive d'une identité >propreque je suis< à la faveur d'une emphase narcissique comme si toute confrontation interculturelle devait produire une force réactive, un rejet épidermique. 25
Wie haben die Neonationalisten der sechziger Jahre aber zur Auffassung einer substantiellen Identität gelangen können? Harel gibt reichlich diffus die Antwort, dass sich die Partipristen eine simplifizierte Version der Psychoanalyse zurechtgelegt hätten, die davon ausgeht, dass es ein kollektives Unterbewusstsein gäbe, das sich in spezifisch historischen Situationen z.B. in einem gemeinschaftlichen Selbsthass äußern kann. Dieses Unterbewusstsein gälte es sich bewusst zu machen. Er übersieht hierbei aber die häufigen Andeutungen auf Hegel und seine Herr-Knecht-Dialektik, so etwa im genannten Text Chamberlands. Im Unterschied zu Harel bin ich deshalb der Auffassung, dass die Dialektik als Grundstruktur des neonationalistischen Gründungsmythos in Quebec zu lesen ist. Das gilt für alle Partipristen, so weit ich sehen kann, ebenso wie für Hubert Aquin, auf den ich später zu sprechen kommen werde. Chamberland beschreibt etwa die politische Situation der Frankokanadier als eine des Knechts und zeigt einen Weg auf, wie mit Hegel dessen Befreiung gedacht werden kann. Dabei rekurriert Chamberland nicht direkt auf die Phänomenologie des Geistes, wohl aber auf die linkshegelianischen Auslegungen von Karl Marx, Jean-Paul Sartre und Alexandre Kojève: Or n'en doutons pas, cette incertitude, inhérente au plus secret de nos fibres, trahit une hésitation fondamentale sur notre être. Un problème d'identité, ou d'identification. Qui sommes-nous? Voilà une question de saveur toute métaphysique. Elle l'est en un sens parce qu'elle engage l'intégralité
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Salée, Daniel: »La Mondialisation et la construction de l'identité au Québec«. In: Elbaz, Mikhaël/ Fortin, Andrée/ Laforest, Guy (Hrsg.), Les Frontières de l'identité, S. 105-125, S. 114. Chamberland, »De la damnation à la liberté«, S. 56. Alle Hervorhebungen von P.C. Harel, Simon: Le Voleur de parcours: Identité et cosmopolitisme dans la littérature québécoise contemporaine. Longueuil: Editions du Préambule 1990, S. 121. Harel, Le Voleur de parcours, S. 110.
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de notre existence. Elle exprime une expérience analogue à celle de l'esclave confronté à l'angoisse de sa propre mort qui lui apparaît par la domination du maître. 2 6
Die berühmte Herr-Knecht-Dialektik, die für den Diskurs des Quebecer Nationalismus von großer Bedeutung war, bedeutet eine einseitige Anerkennung, denn der Herr wird durch den Knecht als Herr in seiner Macht und Freiheit anerkannt, während der Knecht in der weiter oben ausgeführten Entfremdung und Enteignung erstarrt (figer): »Es ist dadurch ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden.«27 Der Knecht befreit sich aus diesem Zustand, indem er die Kluft zwischen der Welt, die ihm durch die Macht des Herrn »nur fremder Sinn« 28 war, und sich schließt: »Die Integrität, die Hegel als Ziel setzt, ist die Verneinung der Abhängigkeit von etwas Fremdem, das Erkennen des Selbst in allem, das ihm wesentlich ist.« 29 Paul Chamberland betritt exakt diesen Weg der Befreiung: On peut voir comment la dépossession entraîne nécessairement la dépersonnalisation. La personnalisation d'un individu ou d'une collectivité ne se réalise que dans la mesure où l'individu ou la collectivité a le pouvoir de dominer et de transformer le monde et les choses en objets, en univers culturel qui réfléchissent ses besoins, ses désirs et sa liberté. 30
Die Befreiung des Knechts bedeutet folglich die Aufhebung der Fremdherrschaft und die Gründung der Nation. Voraussetzung dafür ist demnach, dass der Fremde (der Herr) als Feind überführt werden kann: »Ici l'adversaire est nommé sans bavure, et cette nomination n'est que le prélude à la lutte qui doit entraîner la défaite de cet adversaire.«31 Mit diesem Satz macht Chamberland deutlich, dass er wie Hegel die Schaffung eines »État homogène« postuliert. Er trachtet aber nicht danach, diesen Staat auf einer universalistischen »synthèse du Maître et de l'Esclave, cette synthèse qu'est l'Homme intégral, le Citoyen de l'État universel et homogène« 32 zu gründen, sondern auf die Partikularität und Authentizität einer Nation. Im Unterschied zum Hegelianischen Universalismus beruft sich der Neonationalismus in Quebec also auf einen »partikularen Universalismus«33, der eine »Gesellschaft mit besonderem Charaktere«34 zum Ziel hat.35 Wenn Chamberland von einer »vérité du fondamental«36 spricht,
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Chamberland, »De la damnation à la liberté«, S. 64f. Hegel, G.W.F.: Phänomenologie des Geistes. (Hrsg. von Hans-Friedrich Wessels/ Heinrich Clairmont) Hamburg: Meiner 1988, S. 133. A.a.O., S. 136. Taylor, Charles: Hegel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 204. Chamberland, »De la damnation à la liberté«, S. 73. A.a.O., S. 81. Kojève, Alexandre: Introduction à la lecture de Hegel: Leçons sur la phénoménologie de l'esprit. Paris: Gallimard 1947, S. 172. Die Formulierung des Etat homogène findet sich bei Kojève leitmotivisch immer wieder. Vgl. die S. 172, 194, 467, 496, 508. Es handelt sich hierbei um ein Wort Otfried Höffes. Vgl.: Höffe, Otfried: »Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, nr. 170 (25. Juli 2000), S. 14: »Einige Elemente sind f ü r die Staatsbürgernation nicht bloß hilfreich, sondern sogar wesentlich; sie haben den Rang von partikularen Universalismen. Universal sind sie, weil jede Staatsbürgernation sie braucht, partikular, weil sie in einer mehr oder weniger eigentümlichen Gestalt zu Tage treten. Der aufgeklärte Nationalstaat verbindet also universale Universalismen< wie die Menschenrechte und die Demokratie mit >partikularen Universalismem, unter denen die Sprache eine hervorgehobene Bedeutung hat.« Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 46. Damit begibt sich Chamberland im genauen Gegensatz zu Hegel, der die Besonderheiten einer Ethnie etwa in einem universellen Staat erst garantiert sah. Vgl. Kojève, introduction à la lecture de
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dann erhebt er diese Partikularität der Frankokanadier in den Rang einer essentiellen Wahrheit - ein Fundamentalismus, der die Exorzierung des Heterogenen nach sich zieht. Er übernimmt also im Ergebnis die Hegeische Dialektik insoweit, als er am ihren Ausgang eine essentielle Authentizität oder Identität zu Tage treten sieht, ohne aber Hegels Universalismus zu übernehmen (der sich in mancher Hinsicht selbst als »verkleideter Partikularismus«37 erwiesen hat). Roberto Miguelez hat in einem Text (»Hegel et le Québec«) auf diese Pervertierung von Hegels Idealismus hingewiesen: Que l'on cherche l'essence de l'ethnie dans le territoire, dans la langue, dans la religion ou dans la combinaison abstraite des qualités qui produirait quelque chose comme >l'esprit du peuple< [...], le résultat de l'activisme particulariste est, certes, une unité du groupe, mais fondée sur l'exclusion. Dans la logique de cet activisme [particulariste], plus le groupe est ethniquement homogène, plus son unité est garantie. D'où, à la limite, l'élimination de l'hétérogène, la >purification< du particulier. D'un autre côté, la reconnaissance en nous-mêmes de ce qui ne nous aurait jamais quittés suppose l'idée d'une >authenticité< redevable du temps, authenticité dont nous ne sommes pas responsables, mais qui dorénavant fonde tous les droits - et du même coup, à la limite, prive de tous ces droits ceux qui n'ont pas cette >authenticitéde soucheGlobalisierung< - sie bedeutet nämlich die Schaffung eines integralen und homogenen Kulturraums, der nicht auf den Bereich der Kunst beschränkt bleibt, sondern das ganze Ensemble von Lebensweisen, Mentalitäten und Traditionen einbezieht. Eine Deglobalisation würde die Kultur hingegen auf eine reine Folklore, auf eine »curiosité touristique«40 herabwürdigen. Tatsächlich versteht sich das Postulat der Globalisation als eine Verteidigung von Partikularinteressen, also durch und durch politisch. Immer wieder heißt es denn auch, dass das
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Hegel, S. 508: »En fait, l'Individualité ne peut être pleinement réalisée, le désir de Reconnaissance ne peut être complètement satisfait, que dans et par l'État universel et homogène. Car dans l'État homogène, les >différences-spécifiques< (Besonderheiten [dtsch. i.O.]) de classe, de race, etc. sont >suppriméesQuébec 10/10combative< deviendra un archaïsme contre-révolutionnaire. 5 0
Solange die politische Sanktionierung eines homogenen Kulturraumes nicht erreicht ist, lehnt Aquin das literarische Schaffen überhaupt ab, wie er 1964 in einem Aufsatz für Parti pris (»Profession: écrivain«) ausführte, weil (1.) unter kolonialen Bedingungen jedes Tun, das nicht direkt der politischen Sache gewidmet ist, zu verwerfen ist und weil es Aquin (2.) für Augenwischerei hält, zu glauben, dass die Literatur einen politischen Beitrag zur Befreiung der Quebecer Bevölkerung leisten könnte. Dass Aquin im gleichen Jahr, also 1964, dennoch seinen ersten großen Roman schreibt, muss im Zusammenhang mit seinen persönlichen Umständen erklärt werden. Aquin wurde am 5. Juni 1964 wegen Waffenbesitzes verhaftet. Erst wenige Tage zuvor hatte er in Quebecer Tageszeitungen einen Aufruf zum bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit verfasst. Prochain épisode begann er sodann während seines Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik zu schreiben, wo er sich vom 15. Juli bis zur Entlassung aus der Gefangenschaft am 22. September 1964 aufhielt. Das fertige Manuskript ging im Januar des darauf folgenden Jahres an den Verlag. Aufgrund dieser Umstände stellt sich die Frage, ob für Aquin die zwangsweise Isolierung notwendig gewesen sein könnte, um zu schreiben - eine Spekulation, die in Quebec diskutiert wird. 51 Das würde bedeuten, dass Aquin sich der Literatur erst in dem Augenblick zuwenden konnte, als ihm die Gelegenheit zur Aktion verwehrt blieb. Und tatsächlich: Prochain épisode ist ein Roman über die Unmöglichkeit eines Romans in Zeiten der Unterdrückung. Es ist ein Roman der Révolution tranquille, aber noch mehr der gescheiterten Revolution. Zum Zeitpunkt der Redaktion von Prochain épisode machte sich in Quebec nämlich eine große Enttäuschung über die unzureichenden Maßnahmen zur Reformierung des Landes breit, die 1966 zur Abwahl der Parti Libéral Québécois (P.L.Q.) unter Jean Lesage führte. Zur gleichen Zeit gründeten sich einige Splittergruppen, welche die Unabhängigkeit Quebecs als vorrangiges Ziel auf ihre Fahnen schrieben. Im Jahr
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pas vécue en tant qu'hétérogénéité... Il s'agit d'une hétérogénéité vécue intérieurement comme homogénéité.« (S. 85) Aquin, Hubert: »Le Joual-refuge«. In: H.A.: Mélanges littéraires II. Comprendre dangereusement. In: Édition critique, t. IV, vol. 3. Montreal: Bibliothèque québécoise 1995, 329-341, S. 340. Vgl. die Einleitung von Aquin, Hubert: Prochain épisode. In: Édition critique, t. Ill, vol. 3. Montreal: Bibliothèque québécoise 1995, S. XXIIIff.
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der Studentenrevolten (1968) fusionierten viele dieser Gruppen zur Parti Québécois (P.Q.), die 1976 endlich an die Macht kommen sollte. Aquin, der selbst der Mitgliedschaft in der terroristischen Front de Libération du Québec (F.L.Q.) bezichtigt wurde, drückt mit seinem Roman in ungewöhnlich scharfer Form die Unzufriedenheit über die zu stille Revolution aus. Aquin entwirft am Beispiel des Erzählers ein Psychogramm des seit 200 Jahren Kolonisierten. Die expliziten Hinweise auf die Ebene von Abraham, auf Papineau 52 und Durham (»Voilà soudain q u e j e rêve que mon épopée déréalisante s'inscrive au calendrier national d'un peuple sans histoire! Quelle dérision, quelle pitié! C'est vrai que nous n'avons pas d'histoire.« 53 ) sowie die komplexe Intertextualität verweisen auf eine scheinbare Unentrinnbarkeit aus dieser Machtlosigkeit. In diesem Zusammenhang deckt er im Besonderen auf, dass die Literatur keinen direkten Einfluss auf die politischen Umstände nehmen kann. Mit Hinweis auf die von Maurice Blanchot interpretierten Gesänge des Orpheus und der Sirenen zeigt Aquin vielmehr, dass sich dem literarischen Diskurs gerade das, was er zu erreichen oder darzustellen sucht, immer aufs Neue entzieht. Daraus erklärt sich der Titel des Romans: »Mon récit est interrompu, parce q u e j e ne connais pas le premier mot du prochain épisode.« 54 Die mises en abyme und die Reflexion auf die Sprache gipfeln letztlich in der Forderung nach einer Autonomie der Literatur. Aquin wird in der Tat den Gegenentwurf einer aus ideologischen Zwängen befreiten écriture zeichnen, die es ablehnt, sich für die Befreiung des kolonialisierten Quebecers einnehmen zu lassen. Er wird sogar so weit gehen, jegliches Engagement abzulehnen (»L'art est enfin libre et l'artiste ne se sent plus engagé dans une entreprise de signification.«)55. Doch Voraussetzung ist und bleibt die politische Verwirklichung eines homogenen Kulturraums. Aquin muss somit eine wichtige Vorreiterrolle in den sechziger Jahren zuerkannt werden. Er hatte der Quebecer Literatur - im Unterschied zu den partipristischen Texten 56 - einen Weg gewiesen, der ihr wirklich zu ihrer (Be-) Gründung verhalf. So konnte er schon 1968 sagen: »La littérature du Québec n'est pas déphasée par rapport à la littérature produite en France ou même dans d'autres pays. Maintenant que les écrivains et les artistes québécois ont pris conscience de leur identité, ils manifestent un dynamisme formel assez impressionnant.« 57 Bis zu diesem Punkt sind demnach zwei Entwicklungslinien der Quebecer Prosa abzulesen. Auf der einen Seite hat sich die écriture partipriste der neonationalistischen Ideologie verschrieben. Auf der anderen Seite lässt sich von einer écriture sémi-référentielle (Aquin, Bessette, u.a.) sprechen, die einen Formalismus erkennen lässt, der um die Befreiung aus den ideologischen Implikationen ringt - ein schmerzhafter Prozess, wie man bei Aquin sehen kann, der nichtsdestotrotz unumgehbar ist. Réjean Beaudoin fasst beide Entwicklungslinien in seiner Geschichte des Romans in Quebec zusammen:
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Louis-Josepf Papineau gründete 1827 die erste kanadische Partei überhaupt, die Patriotes, die ursächlich an der gleichnamigen Rebellion von 1837/1838 beteiligt war und aufgrund ihrer GuerillaStrategie trotz gegnerischer Übermacht anfänglich siegreich war. Dass die Aufständischen dennoch letztlich verloren, wird von Aquin darauf zurückgeführt, dass die Patrioten an ihren eigenen Sieg nicht geglaubt hätten. Aquin, Prochain épisode, S. 90. A.a.O. 0., S. 165. Aquin, Hubert: »Littérature et aliénation«. In: H.A., Mélanges littéraires II, S. 247-264, S. 254. Das zeigt sich z.B. daran, dass zwei der wichtigsten partipristischen Schriftsteller, Jacques Renaud und Laurent Girouard, nach ihren fulminanten Veröffentlichungen von Le Cassé respektive La Ville inhumaine nichts Bedeutendes mehr folgen ließen. Aquin, »Littérature et aliénation«, S. 260.
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La Situation a pourtant changé depuis Menaud et Euchariste 5 8 : nous sommes maintenant au milieu des années 60. Deux nouveaux facteurs interviennent dans les romans contemporains de la Révolution tranquille: d'une part, le renouvellement idéologique (la revue Parti pris, la radicalisation du discours politique, l'indépendantisme); d'autre part, la subversion de l'écriture (le recours à la langue parlée, l'intertextualité, l'éclatement des formes, la composition baroque). Les deux phénomènes sont simultanés, mais ne vont pas dans le même sens; ils conduisent même à des stratégies difficilement compatibles. Le néonationalisme traduit le désir de transformer l'ordre des choses, alors que le >plaisir du texte< invite à la dérive des mots et à l'autoaffirmation du sujet. L'issue du dilemme emprunte deux voies divergentes: d'un côté, le thème du pays, c'est-à-dire quelque chose qui n'existe pas, sinon comme un projet collectif qui mobilise le militantisme; de l'autre côté, la modernité littéraire dans sa version structuraliste, l'autonomie du texte, la subversion des codes. 5 9
Im Romanwerk Hubert Aquins lassen sich beide Entwicklungslinien ablesen, denn der Formalismus (im weitesten Sinne), also die Selbstreferenz der Prosa, und damit verbunden die Inkohärenz oder Heterogenität der Romanstruktur selbst müssen in Aquins ersten Roman ebenso als Kritik an der Realität gelesen werden wie die Texte der Partipristen. Wie ich im zweiten Kapitel (»Das literarische Medium«) im Zusammenhang mit Balzac ausgeführt habe, sind in den Werken der modernen Quebecer Autoren im Kontrast zum Realismus des französischen Romanciers lediglich heterogene Erfahrungswirklichkeiten wahrnehmbar, die sich auf keine innere Kohärenz oder Homogenität zurückführen lassen. Ihnen ist die Wirklichkeit, die Wahrheit oder die Geschichte suspekt bzw. gar nicht darstellbar, weil sie entfremdet ist: Le roman vit donc l'histoire, mais comme faute, double faute: faute de l'histoire elle-même, qui ne se présente plus qu'en pièces détachées, qui ne fournit plus à l'esprit une forme d'intégration possible des événements; faute contre l'histoire, car ce que le récit romanesque détruit en lui-même (la cohérence de l'action, des causes et des effets) interdit à ses personnages d'évoluer et de mûrir, écarte le Réel au profit de l'Imagination. 6 0
Gilles Marcotte, den ich hier zitiere, setzt an diesem Punkt an, um im Quebecer Roman einen Dialogismus im Sinne Bachtins zu konstatieren. Die moderne Prosa Quebecs, die das Medium stärker in das Blickfeld rückt, löst sich aus der homogenen Ideologie und öffnet sich einem >Polylogos< (Julia Kristeva). Hier wird Platz für die Stimme des Fremden geschaffen. »A ceci s'ajoute un autre élément s'indexant significativement au caractère dialogique du roman, celui que l'on pourrait désigner comme le discours de l'altérité.«61 Dieser Dialogismus nun muss hier der Dialektik Hegels gegenübergestellt werden. Während sich bei Hegel zwei Subjekte als homogene Ich gegenseitig anerkennen und sich zu einer universalen Vernunft erheben, impliziert der Dialogismus keine Aufhebung, sondern eine fortdauernde Konfliktsituation zweier oder mehrerer Ich oder Stimmen. Bachtin schließt folgerichtig die monologische Dialektik Hegels für das, was er als Dialogizität bezeichnet, aus: Wenn wir den Dialog in einen einzigen fortlaufenden Text verkehren, d. h. die Teilung der Stimmen (die Alternationen der sprechenden Personen) aufheben, was im Extremfall möglich ist (die
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Menaud ist der Titelheld eines Romans von Félix-Antoine Savard, Menaud, maître-draveur, aus dem Jahr 1937; Euchariste ist die Hauptfigur eines Romans von Ringuet (Philippe Panneton), Trente arpents, erschienen 1931. Beaudoin, Le Roman québécois, S. 68. Marcotte, Gilles: Le Roman à l'imparfait: La Révolution tranquille du roman québécois. Essais. Montreal: Hexagone (Typo) 1989, S. 233 f. Kwaterko, Józef: Le Roman québécois de 1960 à 1975: Idéologie et représentation littéraire. Montréal: Éditions du Préambule (Collection >l'Univers des discourspräfeministischen< Jahre, French Kiss66 (1974), mit einem programmatischen Satz auf der letzten Seite hindeutet: »La dépense du signe.« (157) Am Beispiel dieses Romans werde ich im Folgenden die nouvelle écriture zu erläutern versuchen, um bestimmte Charakteristika der formalistischen Literatur vorzustellen. Auch wenn im Text verschiedene Topoi auszumachen sind, die im Übrigen miteinander verwoben werden (die Stadt, der Körper, die Schrift), so gerinnt doch alles zum Zeichen, zum Simulacrum. Die visuellen und auditiven Wahrnehmungen während einer Autofahrt entlang der Rue Sherbrooke schreiben sich in ihrer Geschwindigkeit, ihrer Gleichzeitigkeit und in ihrem Verschwinden auf die Netzhaut ebenso ein wie in den Text. Die Zeichen verlieren so jede Verankerung in eine wie auch immer geartete Realität und verausgaben ihre Bedeutung - eine Verausgabung (dépense) oder ein Überschuss, auf den Bataille immer wieder zu sprechen kam. Brossard spielt geradezu lustvoll mit dem Wort rétine, das ebenso wie das deutsche Wort Netzhaut ein Netz, ein Textil oder ein Geflecht (lat. rete) konnotiert, auf dem die unterschiedlichsten Impressionen zusammenfinden, sich aber auch wie in einem »paysage cinématographique« (68) brechen: Suite et provocation. Répétition d'herbes mouvantes sur la rétine. L'œil s'ébranle dans son orbite, son astronef et décolle à la vitesse de la lumière. Les néons, les réverbères, les show de cinéma en ville. L'œil tourne sur lui: une référence sur la surface troublée du corps en transit. (125)
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international organisé par le Centre d'études canadiennes de l'Université libre de Bruxelles (27-29 novembre 1985). Université du Québec à Montreal (Editeur): Les cahiers du département d'études littéraires, no.ll. (1987), S. 185-189, S. 187. Gauvin, Lise: »Le Québec malgré tout. De l'autre à soi«. In: Klinkenberg/Gauvin (Hrsg.): Trajectoires: Littérature et institutions au Québec et en Belgique francophone. Bruxelles: Édition labor 1985, S. 24. Gauvin zitiert hier France Théoret: »L'Implicite et l'explicite de la nouvelle écriture«. In: La Nouvelle Barre du Jour, no. 90/91 (mai 1980), S. 165-170, S. 167: »Des faits, de '67 à '69, l'équipe de la Barre du Jour entend situer son travail, son action et ses interventions sur le plan de la littérature. Le travail culturel plus large se fait à Parti pris dont le dernier numéro paraît à l'été '68.«
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Ein Körper auf der Fahrt zur Geliebten (corps en transit), die Lichter einer nordamerikanischen Großstadt (les néons, les réverbères), der Stadtverkehr oder die Wahrnehmung all dessen - man hat French Kiss unter verschiedenen Gesichtspunkten gelesen, die alle zulässig sind: unter geographischen (Jean-François Chassay 67 ), feministischen (Lynne Huffer 68 ) oder wahrnehmungstheoretischen 69 (Brassards Text weist deutliche Parallelen zu den Arbeiten Paul Virilios auf) - und dennoch: das stärkste Charakteristikum dieses Romans wie der vorherigen von Brossard (Sold out\ Un livre) ist eine Konzentration auf die Schrift selbst. Die Verknüpfung des Textes geschieht vorrangig unter Gesichtspunkten, die ausschließlich linguistisch bzw. semiotisch zu beschreiben wären. Das zeigt z.B. ein Satz wie: »Un aprèsmidi que tu cherchais à comprendre pourquoi au beau milieu d'une pharse.« (14) Abgesehen von der syntaktisch abgebrochenen Wendung in der Mitte des Satzes, auf den Brossard ironisch hinweist, macht allein schon das Wort pharse gerade wegen seines Nicht-Sinns auf sich aufmerksam - ein Vorgang, der erst auf den zweiten Blick Sinn macht, indem er die Anagramme phrase, phare (des Autos), phase und farce ins Bewusstsein ruft, die an dieser Stelle alle ihre Gültigkeit hätten. Ein weiteres kleines Beispiel ist folgender Satz: »Et partant ainsi au petit matin de la nuit, Elle Desaulniers roulait cafard et café se suivant, se courcircuitant, cafard comme dans mémoire et pourquoi tant à la fois de souvenirs?« (16) Es fragt sich zunächst, warum cafard und café aufeinander folgen sollen, bis vier Seiten später die Bemerkung folgt: »Café, cafard, Lexa je t'aime.« (20) Und tatsächlich: im Lexikon folgt café unmittelbar auf cafard. Auf keinem anderen Grund als auf diesem alphabetischen beruht die Folge dieser beiden Lexeme. Die Beispiele könnten ins Unendliche weitergeführt werden, doch möchte ich stattdessen mit einem anderen, entscheidenden Gesichtspunkt zu French Kiss schließen: Die von mir gezeigten, sprachlichen Eigenwilligkeiten führen dazu, dass immer zwei oder mehrere heterogene Bedeutungen miteinander eine Beziehung im Netzwerk des Textes eingehen. Brossard bringt diese Simultaneität heterogener Elemente im Bild vom »hologramme« (131) auf den Punkt. Ein Speicherbild, das in seiner Dreidimensionalität verschiedene Seiten oder Aspekte sich spiegeln lässt. Immer wieder nimmt Brossard in verschiedenen Bildern diese Simultaneität für sich in Anspruch: [...] la rumeur, la commune mesure des paroles prononcées à dessein de faire taire d'autres ensembles de mots mais qui sont perçus c o m m e des bruits parasites des ho trames bi sonores manifestement sans dr [sic] charmes, coin c c. Diffusion du texte et de ses parasites réels et fictifs. [...] Lui [du texte] enlever progressivement tout son jeu (son lousse) et ses vides. Le combler de plaisir, au juste, avec la pointe du stylo. (38)
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Brossard: »Ce que pouvait être, ici, une avant-garde«. In: Voix et images, vol. 10, no. 2 (1985), S. 71. Brossard, Nicole: French Kiss: Étreinte/ exploration. Montreal: Les Quinze 1980 (1974). Vgl. Chassay, lean-François: La >Trilogie USA< de Nicole Brossard. In: J.-F.C.: L'Ambiguïté américaine: Le roman québécois face aux États-Unis. Montreal: X Y Z 1995, S. 127-150. Vgl.: Huffer, Lynne: »From Lesbos to Montréal: Nicole Brassard's Urban Fictions«. In: Yale French Studies, no. 9 0 (Same Sex - Different Text: Gay and Lesbian Writing in French.) (1996), S. 9 5 114. Vgl. Harel, Simon: »Départ ou retour«. In: S.H.: Le Voleur de parcours: Identité et cosmopolitisme dans la littérature québécoise contemporaine. Longueuil: Editions du Préambule 1990, S. 2 4 5 256.
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Diese Parasiten verstehe ich im Sinne von Gérard Genette als Palimpsest, also als einen zweiten, impliziten Text. Brossard versucht, diesen Text in einer Spannung zum ersten zu halten. Sie spricht an anderer Stelle denn auch davon, dass ihre Geschichte vom Rand oder von einer Grenze (le confiti) aus erzählt wird, was ihr erlaubt, den ersten Text von einem Außen aus zu betrachten: »Ma narration, le confín, la version d'amour.« (133) Dieses Außen dient jedoch keinem Gegenentwurf zum ersten Text und auch keiner Gegenkultur, es sei denn, man versteht die völlige Auflösung jeglichen ideologischen Entwurfs als Gegenkultur. Man muss daher feststellen, dass ihre Texte keine Botschaft enthalten. Zwar wird beispielsweise die lesbische Sexualität (»je pénètre les fantasmes homosexuels de Lucy« [83]) benannt, doch findet sich keinesfalls ein integrales Subjekt, das einem Anderen begegnen würde - vielmehr werden das Begehren und der Akt der Sexualität als Zirkulation, als Verkehr oder Metamorphosen von cellules toniques aufgefasst, die im Übrigen hier noch die männlichen >Anteile< (Alexandre und Georges) nicht ganz ausschließen. Im folgenden Roman wird das der Fall sein. Auch wenn manches in French Kiss auf Brassards nächsten Roman L'Amer (1977) hinweist, so sind wir doch noch weit davon entfernt, was Louise Milot provokanterweise mit Bezug auf die spätere, feministische Phase Brossards eine »nouvelle forme de littérature engagée« 7 0 genannt hat. French Kiss sollte der letzte, rein formalistische Text Nicole Brossards bleiben. Die nouvelle écriture, die 1980 anlässlich eines Kolloquiums nochmals in den Mittelpunkt der literarischen Öffentlichkeit gerückt wurde 7 1 , f ü h r t e nämlich in eine Sackgasse. So sehr die nouvelle écriture in der Lage war, in negativer Funktion die hegemoniale Ideologie zu unterminieren, so konnte sie nicht einen neuen positiven Sinn einführen; sie hätte sonst ihre Prämissen verraten, denn die Formulierbarkeit eines positiven Sinns wurde ja überhaupt bestritten. Wie sollte aber auf Dauer eine politisch-ideologische Aussage möglich sein, wenn Aussagen an sich gar nicht denkbar waren? Muss man hier von einem Versagen der nouvelle écriture sprechen, und zwar in vergleichbarer Weise, wie ich zuvor bezüglich des Joual davon gesprochen hatte, dass es keinen Entwurf zu einem modernen und autonomen Quebec zu leisten vermochte? Tatsächlich bezeichnete Brossard (mit Roger Soublière) an einer Stelle der Barre du Jour von 1970 die von ihnen lancierte nouvelle écriture als »nouveau joual syntaxique« 7 2 , um ihre Solidarität mit den politischen Zielen der Partipristen zu dokumentieren (»En 1963, nous avons lu Parti pris et nous avons compris« 7 3 ), ohne sich aber literarisch der Sprache der Dominierten und Entrechteten zu bedienen: Du même coup nous devenions tous des colonisés, mais des colonisés conscients et, par le fait même, dangereux. Pourtant notre révolte ne nous apportait que des mots d'impuissance à prononcer, à écrire. Et nous avons choisi de ne pas les écrire.74
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Milot, Louise: »Nicole Brossard: une influence coûteuse«. In: Allard, Jacques/ Frédéric, Madeleine (Hrsg.): Modernité/Postmodernité du roman contemporain. Actes du Colloque international organisé par le Centre d'études canadiennes de l'Université libre de Bruxelles (27-29 novembre 1985). Université du Québec à Montréal (Editeur): Les cahiers du département d'études littéraires, no.ll (1987), S. 77-86, S. 80. Die Arbeiten sind in einer Sondernummer der Nouvelle Barre du Jour veröffentlicht worden. Die Ausgabe vom Mai 1980 hat die laufende Nummer 90/91. Brossard, Nicole/ Soublière, Roger: »De notre écriture en sa résistance«. In: La Barre du Jour, no. 10 (1970), S. 3. Ebd. Ebd.
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Das Paradox einer nouvelle écriture, die sich selbst im Weg steht, wird im Zusammenhang mit meinen Ausführungen zu Brassards Roman L'Amer (Kap. 5) deutlicher. Der R o m a n nimmt eine dezidierte Botschaft, die politisch motiviert ist, in den fiktionalen Text auf. Die Botschaft aber schreibt in den fiktionalen Text einen positiven Sinn ein und setzt sich damit in Widerspruch zur nouvelle écriture: Tendance nihiliste: la théorie risque de réintroduire le sens, la littérature, et de transformer en capital symbolique une illisibilité subversive. 75
Pierre Nepveu unterscheidet in dem zitierten Satz die subversive Unlesbarkeit der nouvelle écriture vom hegemonial-ideologischen Symbolischen. Damit appliziert er die psychoanalytische Begrifflichkeit Jacques Lacans und Julia Kristevas, die uns im angekündigten Kapitel über L'Amèr wieder begegnen wird. Er weist mit diesem Vokabular auf das Dilemma des Formalismus der frühen siebziger Jahre hin, der sich in der eigentümlichen Position zwischen einer »sémiologie du non-sens« 7 6 und einem »retour du symbolique« 7 7 befindet. Nach Nepveu hat der Feminismus die Literatur aus diesem Dilemma geführt: Dans le paysage littéraire des années soixante-dix, il ne serait pas exagéré de dire que le féminisme a représenté pour le projet moderniste une planche de salut, en procurant un contenu historique tangible à l'entreprise de déconstruction. 7 8
Doch so richtig diese Beobachtungen sind, so darf doch nicht außer Acht gelassen werden, dass die nouvelle écriture nicht gänzlich aufgegeben wird. Es ist vielmehr ihre Instrumentalisierung festzustellen, mit der es dem Feminismus möglich wird, einen heterogenen Sinn zu statuieren. Darauf weisen z.B. die Arbeiten der Nummer 118/ 119 von La Nouvelle Barre du Jour aus dem Jahr 1982 hin, die dem Werk Nicole Brossards gewidmet sind. André Roy spricht beispielsweise von der »pratique d'écriture comme opération hétérogène« 7 9 und Louise Dupré von den »textes de Brossard [...] musiquant les pulsions hétérogènes« 80 (ich werde darauf zurückkommen). Die literarischen Texte von Brossard verzichteten also im Weiteren nicht grundsätzlich auf eine avantgardistische bzw. experimentelle Schreibweise, doch wird deren Begründung stärker als früher durch politische Argumente unterfüttert, wie z.B. durch eine Bemerkung Brossards aus dem Prolog der Femme et langage betitelten Sondernummer: La question-hypothèse qui fut à l'origine formulée était la suivante: comment la femme qui utilise quotidiennement les mots (comédienne, journaliste, écrivain, professeur) peut-elle utiliser un langage qui, phallocratique, joue au départ contre elle? C'était en fait poser la question à celles qui écrivent en leur demandant si, femmes, elles avaient, pouvaient avoir, pensaient avoir au langage un autre type de relation que celle établie et pratiquée par les hommes. 8 1
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Nepveu, Pierre: »BJ/ NBJ: difficile modernité«. In: Voix et images, vol. X, no. 2 (hiver 1985), S. 159-165, S. 160. A.a.O., S. 160. A.a.O., S. 164. Ebd. Roy, André: »La Verge au beau tarif: la différenciation signifiante généralisée«. In: La Nouvelle Barre du Jour, no. 118/119 (nov. 1982), S. 113-120, hier: S. 114. Dupré, Louise: »Les Utopies du réel«. In: La Nouvelle Barre du Jour, no. 118/119 (nov. 1982), S. 8 3 - 9 0 , hier: S. 84. Brossard, Nicole: »Préliminaires« (Femme et langage). In: Barre du Jour, no. 5 0 (hiver 1975), S. 6 - 9 , hier: S. 8f.
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Die Subversion der sedimentierten Sprachstrukturen und die Formulierung eines heterogenen Sinns sind also kein Selbstzweck und auch keine postmoderne Spielerei, sondern ein politisch zu verstehendes Mittel, um sich vom Patriarchat abzugrenzen und a posteriori eine homogene Identität des Weiblichen zu ermöglichen. Ich werde aber zeigen, dass sich diese Homogenität nur in Differenz zum anderen Geschlecht, das jetzt das männliche ist, konstituieren kann und daher wieder in eine Dialektik gerät, aus der die nouvelle écriture einst zu entkommen versuchte. Das zeigt beispielsweise Françoise Collin mit aller Deutlichkeit: Nous [les féministes] avons eu tendance à ramener toute différence à la différence des sexes, comme si une fois franchie celle-ci nous entrions dans une étendue étale et homogène, celle du monde des femmes. [...] Nous avons ainsi délimité deux territoires nettement distincts que nous avons pensés souvent en termes d'opposition - le masculin d'une part, le féminin d'autre part - (dans une logique binaire que nous récusions par ailleurs comme produit de l'idéologie phallocratique). 82
Nach der gewonnenen Wahl der Parti Québécois im Jahre 1976 und der Neugründung der Zeitschrift La Nouvelle Barre du Jour werden, wie man beobachten kann, die avantgardistischen Schreibexperimente von einer >lesbarenzweite Generation feministischer Autorinnen, die am Ausgang des Jahrzehnts einsetzt. Es lässt sich dabei feststellen, dass die manchmal auch postfeministisch genannten Autorinnen die Frage der geschlechtlichen Differenz mit der des Landes bzw. der allgemeinen Politik wieder auf das engste verknüpfen. Die Frau setzt sich weniger in Opposition zum Mann als in Opposition zur Fremdherrschaft schlechthin: ...l'aliénation se vit [...] au sens étymologique de l'étrangeté à soi-même sous le regard d'autrui. Dans les deux cas [celui de la femme et de la collectivité québécoise], sortir de l'aliénation, c'est sortir de l'image de soi imposée par l'autre, où les différences sont regardées comme des insuffisances. Dans les deux cas, le décentrement vis-à-vis de l'Histoire amène à raconter des histoires d'ordre privé en apparence, mais dont la résonance et la répercussion s'imprègnent de politique [...]. La relation de la femme à l'homme reproduit donc les modèles connus de la relation du Québécois à l'Anglais, à l'Américain, au Français. 84
Viele Autorinnen wären zu nennen, welche die formalistische Phase hinter sich gelassen haben, ohne dem Feminismus abzuschwören. Das zeigt sich am Beispiel der Romane Maryse (1983) von Francine Noël oder La Maison Trestler (1984) von Madeleine Ouellette-Michalska. In beiden Fällen wird die Einsicht, dass die offizielle Historiographie lückenhaft ist, weil die Frau als Subjekt gar nicht vorkommt, zum Anlass einer Revision der Geschichte genommen. Eine feministische Geschichtsschreibung hat aber nicht nur eine andere Sicht auf die Vergangenheit, sondern bedient sich auch ganz anderer Arbeitsmethoden. So wird in dem Roman von Ouellette-Michalska die Vergangenheit einer Frau durch den Körper der Erzählerin nachempfunden und erinnert. Der Text, der ohnehin schon fiktive und reale Anteile miteinander vermengt, weil er auf tatsächlichen Geschehnissen beruht, gewinnt durch die Einbeziehung
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Collin, Françoise: »La Même et les différences«. In: Les Cahiers du Grif : La Société des femmes. Bruxelles: Éditions Complexe 1992, S. 81-94, hier: S. 81. Es wird in diesem Zusammenhang übrigens ganz ausdrücklich von einer nouvelle lisibilité gesprochen. Vgl. Kap. 7.1.4. Vaillancourt, Pierre-Louis: »Nous connaissons-nous trop bien?« Zitiert in: Hodgson, Richard/ Sarkonak, Ralph: »Lire le roman québécois«. In: Leiner, Wolfgang (Hrsg.): Le Roman québécois contemporain (1960-1986) devant la critique. In: Œuvres & Critiques, vol. XIV, no. 1 (1989). Tübingen/Paris: Éditions Gunter Narr/Éditions Sedes, S. 7-18, hier: S. 10.
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der Erzählerin einen autobiographischen Zug. Erzielt wird eine enge Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, von Fiktion und Realität, was zu einer anderen Geschichte führt, denn die »chronique de la vie quotidienne« 8 5 beschreibt statt der Taten männlicher den Alltag weiblicher Helden: Elles [M. Ouellette-Michalska et Francine Noël] veulent, en y intégrant le quotidien, le personnel, le corporel et le subjectif, reconstituer une histoire plurielle, une histoire qui fasse place à la différence, à l'Autre que la tradition patriarcale a toujours tenté d'occulter. 86 B e i d e Autorinnen veröffentlichen ihre ersten Werke in den achtziger Jahren, und tatsächlich scheint in diesem Jahrzehnt der bellizistische U m g a n g mit dem Heterogenen endgültig passé zu sein: Et, malgré tout, si le roman est comme j e le crois en plein essor, éclaté, multiple, inscrit dans des tensions qui ne se nomment pas vraiment, il n'y a pas d'esthétique controversée susceptible d'animer un véritable débat sur le roman des années '80. Le texte du roman est travaillé par l'hétérogène actuellement. 87 D i e Romane der achtziger Jahre verzeichnen ein deutlich gelasseneres Verhältnis z u m Heterogenen. Mir scheint, dass dieses Verhältnis ohne die formalistischen und feministischen Texte nicht denkbar ist. Mit dem Feminismus führt der Blick auf das Fremde nicht mehr in ein Außerhalb (extérieur) des Territoriums, sondern mitten hinein in die eigene Gesellschaft und Familie, in das eigene Haus und in das eigene Ich. 8 8 Es kann keine eindeutige Feindschaftslinie mehr gezogen werden.
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Ouellette-Michalska, Madeleine: La Maison Trestler ou le 8e jour d'Amérique. Montreal: Québec/ Amérique 1984, S. 133. Neuville, Laure: »Ecrire pour >vivre le temps à l'enversNationVolk