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German Pages 234 [236]
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz
Band 111
Vandenhoeck & Ruprecht
Christiane Tietz
Freiheit zu sich selbst Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstannahme
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-56339-6
© 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Vorwort
Von sich selbst frei zu sein – dies ist nach dem Urteil reformatorischer Theologie das fundamentale Kennzeichen glaubender Existenz. Denn im Glauben an die Rechtfertigung des Sünders bezieht sich der Mensch auf Gott und folglich nicht mehr wie in der Sünde zwanghaft auf sich selbst. Schließt reformatorische Theologie damit jeden Selbstbezug des Glaubenden aus? Die vorliegende Untersuchung behauptet: Nein! Der Glaubende darf sich auf sich selbst beziehen, ja er ist frei zu sich selbst. Und sie expliziert solche Freiheit zu sich selbst als Selbstannahme. Die grundlegende Bestimmung dieser Selbstannahme wird in der Arbeit im Anschluss an Paul Tillich vorgenommen: Der Glaubende darf sich selbst annehmen als von Gott angenommen trotz seiner Unannehmbarkeit. Die genauere inhaltliche Entfaltung dieser Selbstannahme erfolgt, indem Søren Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ als Negativfolie dient – ein klassischer Text zur Tragik des sich selbst ablehnenden Menschen. Ex negativo wird daraus eine Phänomenologie der Selbstannahme gewonnen. Die erreichten Einsichten werden dann im Licht der reformatorischen Rechtfertigungslehre präzisiert und weitergeführt. Am Ende ergibt sich: Freiheit zu sich selbst gründet in der Freiheit von sich selbst. Im Sommersemester 2004 wurde die Studie von der Evangelisch-theologischen Fakultät Tübingen als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Dank gebührt zuallererst meinem Lehrer Professor Dr. Drs. h.c. Eberhard Jüngel D.D., dem Erstgutachter dieser Arbeit. Seinen Seminaren verdanke ich die Freude an der fides quaerens intellectum; als seine Assistentin habe ich von ihm gelernt, einen eigenständigen denkerischen Weg zu beschreiten. Das Zweitgutachten im Verfahren hat freundlicherweise Professor Dr. Oswald Bayer übernommen. Beiden Gutachtern sowie der Tübinger Fakultät bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Denn als mich die Einladung erreichte, ein Semester am Union Theological Seminary in New York zu unterrichten, haben sie es mir möglich gemacht, noch vor meiner Reise in die Vereinigten Staaten zügig das Habilitationsverfahren abzuschließen. Den Herausgebern der Reihe Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, Professorin Dr. Christine Axt-Piscalar und Professor Dr. Gunther Wenz, sowie dem Lektor des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht
Vorwort
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Jörg Persch bin ich für die freundliche Aufnahme meiner Arbeit sehr verbunden. Die Verlagsmitarbeiterinnen haben mich bei der Erstellung der Druckvorlage freundlich unterstützt. Für unverzichtbare Hilfe beim Fertigstellen der Arbeit danke ich schließlich herzlich Dörte Bester, Professorin Dr. Kirsten Busch Nielsen, Annette Krüger, Jörg Maisch, Glenn Patten, Volker Rabens, Dr. Wolfgang Schröder, Ursula und Professor Dr. Reinhard Tietz, Dr. Susanne Tietz-Weber sowie Christian Weingart. Tübingen, im September 2005
Christiane Tietz
Inhalt
I) Einleitung .......................................................................................... § 1 Hinführung ............................................................................... § 2 Rechtfertigung als Gottes Annahme des Unannehmbaren – der Vorschlag Paul Tillichs ...................................................... 1. Ontologische Selbstbejahung............................................. 2. Bejahtwerden...................................................................... 3. Bejahung des Bejahtwerdens und Selbstbejahung............. II) Selbstannahme oder Verzweiflung – Überlegungen im Anschluss an Søren Kierkegaard ......................... § 3 Kierkegaards Definition des Selbst .......................................... § 4 Verzweiflung – das kranke Selbst............................................ Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 1 ........... § 5 Die Gestalten der Verzweiflung............................................... 1. Das Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis ...................................................................... 1.1 Das Missverhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit.................................................. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 2 ........... 1.2 Das Missverhältnis zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit................................................. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 3 ........... 2. Das Missverhältnis im Selbstverhältnis ............................. 2.1 Die sich ihrer selbst nicht bewusste Verzweiflung.......................................................... Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 4 ........... 2.2 Die sich ihrer selbst bewusste Verzweiflung......... 2.2.1 Das verzweifelte Nicht-man-selbst-sein-Wollen, oder besser: die Verzweiflung, nicht das von Gott gesetzte Selbst sein zu wollen........................ 2.2.1.1 Die Verzweiflung über etwas Irdisches resp. das Irdische.................................................... Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 5 ........... Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 6 ...........
11 11 16 17 20 23 27 34 40 48 54 55 55 61 63 67 69 70 71 72 73 73 75 78
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Inhalt
2.2.1.2 Die Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst............................................... Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 7 ........... 2.2.2 Das verzweifelte Man-selbst-sein-Wollen, oder besser: die Verzweiflung, ein anderes Selbst sein zu wollen ........................................................ 2.2.2.1 Handelnd ein anderes Selbst sein wollen............... Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 8 ........... 2.2.2.2 Leidend ein anderes Selbst sein wollen ................. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 9 ........... § 6 Verzweiflung und Sünde.......................................................... 1. Wann ist Verzweiflung Sünde?.......................................... Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 10 ......... 2. Die Fortsetzung der Sünde................................................. 2.1 Die Sünde, über die Sünde zu verzweifeln............ 2.2 Die Sünde, an der Vergebung der Sünde zu verzweifeln........................................................ 2.3 Die Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären.............................................................. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 11 ......... Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst: Zusammenschau..................................................... III) Weiterführungen ............................................................................... § 7 Das Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders .................. 1. Das Selbstverhältnis des Sünders – Gefangenschaft in sich selbst ............................................. 1.1 Die Struktur der menschlichen Existenz in der Sünde ........................................................... 1.2 Der Mythos von Narcissus..................................... 2. Das Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders als Freiheit von sich selbst....................................................... 2.1 Die Rechtfertigung des Sünders als seine Annahme durch Gott .................................... 2.1.1 Der neutestamentliche Befund............................... 2.1.2 Die Eigenart der göttlichen Liebe.......................... 2.1.3 Gottes Ja und Gottes Nein ..................................... 2.2 Ausrichtung des Glaubenden auf Gott................... 2.3 Freiheit von sich selbst als Freiheit vom alten Selbst – Rudolf Bultmann ....... 2.4. Selbstverleugnung..................................................
81 83 84 85 86 87 89 92 94 101 103 105 107 113 115 120 124 127 127 127 132 137 138 138 142 144 148 151 155
Inhalt
3. Das Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders als Freiheit zu sich selbst ......................................................... 3.1 Implizite Selbstannahme........................................ 3.1.1 Sich nicht als Sünder ablehnen .............................. 3.1.2 Sich nicht als von Gottes Handeln abhängig ablehnen ................................................................. 3.1.3 Sich nicht als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt ablehnen................................................ 3.1.4 Sich nicht als von seinem faktischen Selbst unterschieden ablehnen.......................................... 3.2 Explizite Selbstannahme........................................ 3.2.1 Sich als Sünder annehmen ..................................... 3.2.2 Sich als von Gottes Handeln abhängig annehmen ............................................................... 3.2.3 Sich als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt annehmen.............................................. 3.2.4 Sich als von seinem faktischen Selbst unterschieden annehmen........................................ 3.2.5 Die menschlichen Existenzbedingungen annehmen ............................................................... 3.3 Das Verhältnis von Selbstannahme und Glauben.. 3.4 Differenzierte Annahme des faktischen Selbst...... 3.4.1 Aufnahme einer Pindarschen Formel .................... 3.4.2 Die drei Schritte der differenzierten Selbstannahme ....................................................... 3.4.3 Differenzierte Annahme der eigenen Eigenschaften......................................................... 3.4.4 Differenzierte Annahme der eigenen Geschichte .. 3.4.5 Differenzierte Annahme der eigenen Umstände.... 3.5 Selbstannahme als Selbstliebe? ............................. § 8 Das Verhältnis des gerechtfertigten Sünders zu seinem Nächsten .................................................................. 1. Annahme des anderen ........................................................ 1.1 Annahme des anderen als von Gott angenommen........................................... 1.2 Differenzierte Annahme des faktischen Selbst des anderen............................................................. 2. Sich des anderen annehmen – Nächstenliebe .................... 2.1 Den Nächsten im Lieben liebenswert machen....... 2.2 Die Spontaneität der Nächstenliebe.......................
9 156 157 157 157 158 158 160 160 160 161 161 162 163 170 171 173 179 184 186 188 191 191 194 195 197 197 201
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Inhalt
IV) Ertrag................................................................................................. 206 Literaturverzeichnis................................................................................. 213 Abkürzungsverzeichnis........................................................................... 225 Personenregister ...................................................................................... 226 Sachregister ............................................................................................. 229
I) Einleitung
§ 1 Hinführung
Martin Luthers zentrale reformatorische Einsicht war, dass der Mensch sich vor Gott nicht selber rechtfertigen kann, sondern für sein Verhältnis zu Gott ganz auf Gottes Verhältnis zu ihm, genauer: auf Gottes ihn rechtfertigendes Handeln angewiesen ist. Dieses Verhältnis Gottes zum Menschen qualifiziert und konstituiert für Luther die ganze Existenz des Menschen. Luther hat entsprechend den Sünder als den bestimmt, der seine Existenz durch sich selbst, durch sein Handeln, meint konstituieren und rechtfertigen zu müssen. Die Struktur menschlicher Existenz in der Sünde hat Luther von dieser Einsicht her beschrieben: Weil der Sünder sich durch sich selbst konstituieren will, muss er sein ganzes Tun auf sich selbst ausrichten; alles wird für seine Selbstkonstitution funktionalisiert. Die Struktur menschlicher Existenz in der Sünde ist Gefangenschaft in sich selbst, zwanghafte Selbstbezogenheit. Im Glauben an die Rechtfertigung des Sünders wird der Mensch aus dieser Gefangenschaft in sich selbst befreit. Seine bisherigen Versuche, sich selbst zu rechtfertigen, finden ein Ende. Luther hat immer wieder geltend gemacht: Der die Rechtfertigung Glaubende, der gerechtfertigte Sünder, richtet sich im Glauben auf den ihn rechtfertigenden Gott aus. Die Struktur menschlicher Existenz im Glauben ist entsprechend eine fundamentale Freiheit von sich selbst, in der die zwanghafte Selbstbezogenheit des Sünders aufgebrochen und in eine Bezogenheit auf Gott (und den Nächsten) umgewandelt wird. Diese Strukturbeschreibungen sündiger sowie glaubender Existenz könnten nun leicht so verstanden werden, als wäre das Selbstverhältnis des Glaubenden nicht nur fundamental (d.h. sein ganzes Sein bestimmend), sondern ausschließlich Freiheit von sich selbst und als würde der Glaubende, wenn er sich explizit auf sich selbst bezieht, nur wieder in die zwanghafte Selbstbezogenheit des Sünders zurückfallen. Es gibt Formulierungen Luthers, die eine derartige Interpretation nahe legen, zum Beispiel diejenige in seiner Galaterbrief-Vorlesung: Wenn ich „überlege, was ich für einer bin
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Einleitung
oder sein muß, und was ich zu tun habe, verliere ich Christus aus den Augen“.1 Die vorliegende Studie stellt sich die Frage, ob das Selbstverhältnis des Glaubenden tatsächlich ausschließlich Freiheit von sich selbst ist. Sie fragt – anders formuliert: Ist auf der Grundlage dieser fundamentalen Freiheit des Glaubenden von sich selbst ein doch irgendwie explizites Verhältnis des Christen zu sich selbst denkbar, das zwar von Luther so nicht entfaltet wird, aber dennoch mit den Grundeinsichten lutherischer Rechtfertigungslehre vereinbar ist, ja diese vielleicht sogar in einer qualifizierten Weise zur Geltung zu bringen vermag? Die These der Arbeit ist: Es gibt ein derartiges explizites Selbstverhältnis des Christen. Es ist in der Freiheit von sich selbst begründet und als Freiheit zu sich selbst zu verstehen. Es besteht – so ist „Freiheit zu sich selbst“ gemeint – in einer durch die Rechtfertigung ermöglichten, erneuten wie auch erneuerten Hinwendung zu sich selbst. Dieses erneuerte Selbstverhältnis ist dadurch charakterisiert, dass der Mensch das, was in der Rechtfertigung über ihn gesagt wird, im Umgang mit sich selbst explizit geltend macht. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Mensch durch einen derartigen Selbstbezug nicht aus seiner Bezogenheit auf Gott heraus- und nicht in die zwanghafte Selbstbezogenheit des Sünders zurückfällt. Wie ist dieses erneuerte, als Freiheit zu sich selbst zu kennzeichnende Selbstverhältnis genauer zu begreifen? Um diese Frage zu beantworten, erfolgt im ersten Hauptteil der Studie eine Auseinandersetzung mit Søren Kierkegaard. Denn seine Definition des menschlichen Selbst als eines „Verhältnisses, das sich zu sich selbst verhält“, hat die Subjektivitätsdebatten der Moderne wie kaum eine andere Selbst-Definition geprägt, und zwar deshalb, weil Kierkegaard in besonderer Weise danach fragt, wie das Selbstverhältnis des Menschen den Vollzug menschlicher Existenz bestimmt. Rezeptionsgeschichtlich von herausragender Bedeutung war Kierkegaards Ausarbeitung dieses Selbstverhältnisses in seiner Schrift „Die Krankheit zum Tode“. Kierkegaard hat diese Schrift ausdrücklich als „christliche Erörterung“ gekennzeichnet. Insofern scheint die Hoffnung nicht unbegründet, von dieser eine genauere Aufklärung über das Selbstverhältnis des Christen, über das Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders zu erwarten. Im ersten Hauptteil der Arbeit (§§ 3–6) wird deshalb etwas ausführlicher diese Schrift Kierkegaards analysiert. Kierkegaard beschreibt in ihr eine
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Luthers Galaterbrief-Auslegung, 110 (= WA 40/I, 282,26–28: „Ibi in me conversus et considerans, qualis ego sim vel esse debeam, item quid mihi faciundum sit, amitto ex oculis Christum“).
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bestimmte Form des Verhältnisses zu sich selbst, nämlich dies, dass der Mensch nicht er selbst sein will. Diesem Menschen attestiert Kierkegaard eine „verzweifelte“ Existenz. Ein Mensch, der nicht er selbst sein will, ist ein Mensch, der sich selbst ablehnt. Es wird herausgearbeitet werden, dass für Kierkegaard umgekehrt ein Selbstverhältnis denkbar und wünschenswert ist, in dem der Mensch – in wohlverstandenem Sinne – er selbst sein will; dieses Selbstverhältnis vollzieht sich nach Kierkegaard im Glauben. Ein Mensch, der – in diesem wohlverstandenen Sinne – er selbst sein will, ist ein Mensch, der sich – nun wieder in wohlverstandenem Sinne – selber annimmt. Das aber bedeutet: Das Selbstverhältnis des Glaubenden ist nach Kierkegaard als Selbstannahme zu verstehen. Kierkegaard zeigt, dass der Mensch in ihr nicht aus seiner Ausrichtung auf Gott herausfällt. Kierkegaard hat in „Die Krankheit zum Tode“ eine differenzierte Phänomenologie der verzweifelten Existenz entwickelt. Die in der vorliegenden Studie unternommene, hermeneutisch noch zu plausibilisierende Interpretation des Textes wird daran sozusagen ex negativo eine Phänomenologie der Selbstannahme gewinnen, die differenziert entfaltet, wie christliche Selbstannahme gedacht werden muss. Die Idee, das Selbstverhältnis des Glaubenden als Selbstannahme zu denken, ist keine neue. Besonders prominent ist auf protestantischer Seite der Versuch Paul Tillichs. Tillich kam aus verschiedenen Gründen zu der Überzeugung, die Rechtfertigungsbotschaft sei im 20. Jh. angemessen nur dann zur Geltung zu bringen, wenn man sie als „Annahme des Unannehmbaren durch Gott“ verstehe. Bevor die Analyse von Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ beginnt, wird darum diese Interpretation der Rechtfertigungsbotschaft durch Tillich nachgezeichnet (§ 2). Von speziellem Interesse wird dabei eine Unterscheidung Tillichs sein: Im Glauben nimmt der Mensch seine Annahme durch Gott an. Ausdruck dieses Glaubens ist dann eine Selbstannahme, in der der Mensch sich als angenommen trotz seiner Unannehmbarkeit annimmt. Zentraler Kritikpunkt an Tillich wird sein, dass bei ihm der rechtfertigende Gott und entsprechend Gottes Annahme des Menschen nicht personal gedacht sind. Dennoch kann Tillichs Rede von Rechtfertigung als Annahme des Unannehmbaren durch Gott aufgenommen werden – und zwar deshalb, weil sich mit einem angemessenen, genauer gesagt: am Neuen Testament gewonnenen Begriff von „Annahme“ nicht nur der Fehler Tillichs vermeiden, sondern der personale und also relationale Charakter der Rechtfertigung durch Gott besonders gut zum Ausdruck bringen lässt. Nachdem dann mit Kierkegaard eine differenzierte Phänomenologie christlicher Selbstannahme entwickelt worden ist, wird im zweiten Hauptteil das an Kierkegaard Erarbeitete in eigenständiger dogmatischer Reflexi-
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Einleitung
on weitergeführt (§ 7), indem noch stärker als bisher auf die Grundeinsichten lutherischer Rechtfertigungslehre geachtet wird. Diese haben auch in dem an Kierkegaard erarbeiteten Verständnis von Selbstannahme ihren zentralen Ort, müssen nun aber ausdrücklich zum Gegenstand werden, damit gründlicher geklärt werden kann, ob das im ersten Hauptteil erarbeitete Konzept von Selbstannahme sich mit der lutherischen Rechtfertigungslehre vereinbaren lässt. Dazu muss zum einen die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders genauer dargestellt werden. Dies geschieht in einer (von Tillichs Versuch wohl unterschiedenen) am Neuen Testament entwickelten Terminologie der Annahme – einmal deshalb, weil, wie bereits gesagt, in einem angemessenen Annahmebegriff die Relationalität der Rechtfertigung besonders gut zur Geltung kommt, und sodann deshalb, weil auf diese Weise scharf die Bedeutung der Selbst-Annahme für den derart Angenommenen bestimmt werden kann. Zum anderen muss die eben nur angedeutete Auffassung von der Struktur glaubender Existenz als einer Freiheit von sich selbst genauer untersucht werden, damit erkennbar wird, ob diese Freiheit von sich selbst wirklich notwendig jeden weiteren expliziten Selbstbezug ausschließt. Durch eine Präzisierung dessen, wovon der Mensch eigentlich frei wird, wenn er von sich selbst frei wird, lässt sich diese Frage dann verneinen. So kann anschließend noch einmal, und zwar von der Rechtfertigungslehre her, die Kierkegaardsche Phänomenologie der Selbstannahme systematisiert, präzisiert und korrigiert werden. Dabei ist insbesondere auf eine der lutherischen Rechtfertigungslehre Rechnung tragende Verhältnisbestimmung von Selbstannahme und Glauben zu achten. Bei dieser wird sich die Tillich’sche Unterscheidung zwischen dem Glauben, in dem der Mensch seine Annahme durch Gott annimmt, und einer Selbstannahme aufgrund dieses Glaubens als außerordentlich fruchtbar erweisen. Den Abschluss der Arbeit bildet eine kurze Skizze über das Verhältnis des gerechtfertigten Sünders zu seinem Nächsten (§ 8) – die ebenfalls in der Begrifflichkeit der Annahme erfolgt. Sie dient implizit der Abweisung eines von Tillich erhobenen Vorwurfs, durch ein personales Verständnis der Rechtfertigungslehre bleibe der Mensch der Gefahr eines unangemessenen Individualismus ausgesetzt. In dieser Skizze wird nämlich nichts anderes dargestellt als die ethische Konsequenz daraus, dass sich die personale Annahme Gottes nicht nur auf mich, sondern auf alle Menschen richtet. Methodisch bedeutet das vorliegende Unternehmen: Die reformatorische Rechtfertigungslehre soll zur Geltung gebracht werden, aber es soll untersucht werden, ob mit ihrer These von der Freiheit des Christen von sich selbst alles über das Selbstverhältnis des Christen gesagt ist. Veranlasst ist
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diese Frage durch die für die Moderne fundamentale Thematik der Subjektivität oder des Selbst des Menschen.2 Die Arbeit ist insgesamt der dogmatische und also auch in dogmatischer Sprache sich vollziehende Versuch, einen mit der lutherischen Rechtfertigungslehre zu vereinbarenden, christlichen Begriff von Selbstannahme zu entfalten. Dass sozusagen nebenbei ein kritisches Gespräch mit anderen theologischen und mit psychologischen Auffassungen von Selbstannahme und Annahme geführt wird, versteht sich von selbst.
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Für einen ersten Überblick vgl. SCHRADER: Art. „Selbst II.“; SCHÖNPFLUG: Art. „Selbst III.“.
§ 2 Rechtfertigung als Gottes Annahme des Unannehmbaren – der Vorschlag Paul Tillichs Die inhaltliche Arbeit beginnt mit einer kurzen Darstellung von Paul Tillichs Versuch, die Rechtfertigung als Gottes Annahme des Unannehmbaren zu verstehen.1 Tillich will damit die reformatorische Rechtfertigungslehre in einer seiner Epoche angemessenen Weise zur Geltung bringen.2 Die SelbstAnnahme des diese Annahme Glaubenden spielt in diesem Versuch eine nicht unwesentliche Rolle. Mit einigen Grundbestimmungen sei begonnen. Rechtfertigung ist, so betont Tillich, „das Herz und Zentrum der Erlösung“.3 Sie ist „zuerst ein objektives Ereignis und dann ein subjektives Aufnehmen“.4 Die „objektive“ Seite der Rechtfertigung ist nach Tillich der vom Handeln des Menschen völlig unabhängige Akt, in dem Gott den Sünder annimmt, der Akt, „in dem Gott den annimmt, der unannehmbar ist“.5 Diese Annahme durch Gott – das ist die entscheidende rechtfertigungstheologische Einsicht – ist voraussetzungslos6 und als Annahme des Unannehmbaren durch ein „Trotzdem“7 Gottes gekennzeichnet. Die „subjektive“ Seite der Rechtfertigung ist der Glaube des Menschen, in dem der Mensch diese Annahme seinerseits annimmt und bejaht: „Es gibt zwar im Menschen nichts, das Gott veranlassen könnte, ihn anzunehmen, aber gerade das ist es, was der Mensch annehmen muß. Er muß bejahen, daß er von Gott bejaht ist; er muß die Bejahung bejahen.“8 Wie Gottes Annahme, so beinhaltet
1 Auf eine Gesamtdarstellung des Tillich’schen Versuches, die reformatorische Rechtfertigungslehre neu zu formulieren, sei hier verzichtet (vgl. dazu KORTHAUS: „Was uns unbedingt angeht“, 194ff; BAYER: Theologie, 185ff; WENZ: Die reformatorische Perspektive; SCHNÜBBE: Paul Tillich). Für die in dieser Arbeit interessierende Thematik ist die Beschränkung auf Tillichs Impuls, Rechtfertigung als Gottes Annahme des Unannehmbaren zu denken, angemessen. 2 Vgl. dazu besonders TILLICH: Auf der Grenze, 32f. Siehe dazu genauer unten § 2.2. 3 TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 2, 191. 4 Ebd. 5 Ebd. Vgl. TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 3, 258: „Annahme bedeutet: Wir sind von Gott angenommen, obwohl wir nach den Kriterien des Gesetzes unannehmbar sind“. 6 Tillich führt in Bezug auf die Annahme in der Psychoanalyse aus (siehe dazu auch unten Anm. 9): Der Patient „is accepted in the state in which he is, and he is not told to change his state before becoming acceptable“ (TILLICH: Morality, 674). Entsprechendes gilt für das Bejahtwerden durch Gott (vgl. DERS.: Die Verkündigung des Evangeliums, 273). 7 TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 2, 191. Tillich hebt hervor, dass dieses Trotzdem auch für die zentrale reformatorische Formel des simul iustus et peccator bestimmend ist: „In der paradoxen Formel: simul peccator simul iustus, die das Kernstück der Reformation darstellt, ist der ‚Trotzdem‘-Charakter entscheidend für alle Seiten der christlichen Botschaft“ (ebd., 191f; Hervorhebung im Original). Vgl. auch DERS.: Dennoch bejaht, 147: „Gnade hat die Form des ‚Obgleich‘: Gnade ereignet sich trotz Trennung und Entfremdung.“ 8 TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 2, 192. Vgl. DERS., Systematische Theologie, Bd. 3, 258: „Wir sind aufgefordert anzunehmen, daß wir angenommen sind.“ – Diese Annahme der
Rechtfertigung als Gottes Annahme des Unannehmbaren
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auch der aufnehmende Glaube des Menschen ein Trotzdem, ist er doch eine „Annahme trotz“ der Einsicht in die eigene Schuld und Unzulänglichkeit.9 Tillich hat in seiner Schrift „Der Mut zum Sein“10 das Verhältnis von Annahme durch Gott und Annehmen dieser Annahme durch den Menschen genauer bestimmt. Bei der nun folgenden Betrachtung dieser Schrift wird herausgearbeitet werden, dass in der menschlichen Bejahung des Bejahtwerdens durch Gott zwei Aspekte zu unterscheiden sind. Zunächst aber sind 1. Tillichs Behauptung einer ontologisch grundlegenden Selbstbejahung und 2. die Bedeutung des Bejahtwerdens durch Gott für diese Selbstbejahung nachzuzeichnen, damit dann 3. die zwei verschiedenen Aspekte innerhalb der menschlichen Bejahung dieses Bejahtwerdens vorgeführt werden können. 1. Ontologische Selbstbejahung Selbstbejahung ist nach Tillich ein ontologisch grundlegender Vorgang: Für das Sein eines jeden Seienden ist notwendig, dass das Seiende sich als solches bejaht.11 Nur dadurch hat es Sein. Annahme Gottes durch den Menschen ist kein verdienstlicher Akt des Menschen (vgl. DERS., Systematische Theologie, Bd. 2, 192). 9 Vgl. ebd. Tillich verwendet die Begriffe „Annehmen“ und „Bejahen“ synonym. – Für Tillichs Entfaltung der Rechtfertigung als Annahme war seine Begegnung mit Psychoanalyse und Psychotherapie entscheidend. Diese lebe nämlich vom Gedanken der Annahme und der darin begründeten Selbstannahme, worin Tillich nichts anderes wahrnahm als den „Grundgedanken der Reformation“: „[…] man muß spüren, daß man angenommen ist. Nur dann kann man sich selbst annehmen. Niemals geht es umgekehrt.“ (DERS.: Die Verkündigung des Evangeliums, 273; vgl. auch DERS.: Der Einfluß der Psychotherapie, 329) Zur Differenz zwischen psychoanalytischer und theologisch-seelsorgerlicher Annahmekonzeption vgl. aber DERS.: Seelsorge und Psychotherapie, 321. – Martin Seils weist darauf hin, dass der Begriff „Annahme“ in der Psychotherapie das erste Mal in einem Vortrag von C.G. Jung 1932 vorkommt (vgl. SEILS: Rechtfertigung, 333; siehe das Zitat unten § 7 Anm. 238). 10 Dieser Text wird hier, wenn nicht anders angegeben, nach dem Abdruck in Gesammelte Werke, Bd. 11, zitiert, einer erst vier Jahre nach Tillichs Tod, also 1969, vorgenommenen Übersetzung (vgl. dazu ALBRECHT/SEEBASS/STÖBER: Die Entstehung der einzelnen Bände, 59). Wo dies nötig scheint, wird im Folgenden sowohl auf den englischen Urtext von 1952 (TILLICH: The Courage to Be) als auch auf die durch Tillich „autorisierte“ Übersetzung des Textes von 1953 hingewiesen (zitiert nach DERS.: Der Mut zum Sein [Schriften zur Zeit, Neue Folge], 51964; das Stichwort „autorisiert“ fällt ebd., 4; vgl. dazu ALBRECHT/SEEBASS/STÖBER: Die Entstehung der einzelnen Bände, 58f). 11 Vgl. zum Beispiel TILLICH: Der Mut zum Sein, 34, und sehr deutlich DERS.: Liebe, Macht, Gerechtigkeit, 168: „Alles Seiende bejaht sein eigenes Sein. […] Jedes Wesen wehrt sich gegen die Verneinung seiner selbst. Die Selbstbejahung eines Wesens entspricht der in ihm verkörperten Seinsmächtigkeit.“ Diese Selbstbejahung vollzieht sich wertfrei: „Die ontologische Selbstbejahung hat Priorität vor allen Unterscheidungen zwischen metaphysischen, ethischen oder religiösen Definitionen des Selbst. Sie ist […] weder gut noch böse, weder immanent noch transzendent.“ (TILLICH: Der Mut zum Sein, 70) Entsprechend „liegen die Begriffe, die das individuelle Selbst
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Einleitung
Diese ontologisch grundlegende Selbstbejahung hat nach Tillich beim Menschen drei Gestalten: Sie ist ontisch als Bejahung des eigenen Existierens;12 sie ist geistig als Bejahung der eigenen sinnvollen Teilnahme am kulturellen Leben;13 und sie ist moralisch als Bejahung der Verantwortung für das eigene Sein.14 In jeder dieser Formen der Selbstbejahung wird immer schon das das Sein bedrohende und verneinende Nichtsein verneint.15 Tillich unterscheidet entsprechend drei Formen von Nichtsein: das von der ontischen Selbstbejahung verneinte Nichtsein in Form von Schicksal und Tod, das von der geistigen Selbstbejahung verneinte Nichtsein in Form von Leere und Sinnlosigkeit und das von der moralischen Selbstbejahung verneinte Nichtsein in Form von Schuld und Verdammung.16 Wie gesagt, impliziert jede Form der menschlichen Selbstbejahung immer schon eine Verneinung des Nichtseins. Dass aber das Nichtsein sein Sein bedroht und gefährdet, dessen ist sich der Mensch nicht immer bewusst. Wird er dieser Bedrohung gewahr, dann entsteht Angst,17 Angst vor der jeweiligen Form des Nichtseins: Angst vor Schicksal und Tod, Angst vor Leere und Sinnlosigkeit und Angst vor Schuld und Verdammung. Alle drei Angsttypen stehen miteinander in Zusammenhang. Sie sind „existentiell, d.h. sie sind in der Existenz des Menschen als Menschen […] enthalten“.18 Und sie können sich bis zur „Verzweiflung“19 steigern. Bis zu einem gewissen Grad vermag der Mensch diese verschiedenen Ängste selber zu überwinden. Dabei verdichtet sich die ontologisch grundlegende, implizit immer schon Nichtsein überwindende Selbstbejahung zu charakterisieren, vor den verschiedenen Wertbegriffen: Trennung ist nicht Entfremdung, Selbstzentriertheit ist nicht Selbstsucht, Selbstbestimmung ist nicht Sündhaftigkeit. Dies sind Strukturbeschreibungen und Voraussetzungen für Liebe wie für Haß, für Verdammung wie für Erlösung.“ (Ebd., 70f). 12 Vgl. ebd., 39. 13 Vgl. ebd., 42. 14 Vgl. ebd., 46: Die moralische Selbstbejahung des Menschen bezeichnet den Sachverhalt, dass dem Menschen sein Sein „nicht nur gegeben, sondern […] auch aufgegeben“ ist. „Er ist dafür verantwortlich; im wörtlichen Sinn ist er aufgefordert zu antworten, wenn er gefragt wird, was er aus sich gemacht hat.“ 15 Vgl. ebd., 29. 16 Vgl. ebd., 39. 17 Vgl. ebd. 18 Ebd., 48. 19 Vgl. ebd. Tillichs Beschreibung der Verzweiflung nimmt Bestimmungen Søren Kierkegaards auf, wie in § 4 noch deutlich werden wird: „Verzweiflung ist eine letzte Situation oder eine ‚Grenzsituation‘. Man kann nicht über sie hinausgehen.“ Sie ist eine Situation „ohne Hoffnung“. „Der Schmerz der Verzweiflung besteht darin, daß ein Sein seiner selbst bewußt wird als unfähig, sich gegen die Macht des Nichtseins zu bejahen. Folglich will es dieses Bewußtsein und dessen Voraussetzung, das Sein, das Subjekt des Bewußtseins, aufgeben. Es will sich selbst loswerden und vermag es nicht.“ (Ebd.).
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einer Selbstbejahung, die sich bewusst der Bedrohung durch das Nichtsein stellt: Sie wird „Selbstbejahung ‚trotz‘“20 oder – wie Tillich auch sagt – „Mut“: „Mut […] ist der Akt des individuellen Selbst, in dem es die Angst vor dem Nichtsein auf sich nimmt“.21 Subjekt – und damit auch Objekt – dieser „mutigen“ Selbstbejahung ist „das individuelle Selbst, das an der Welt partizipiert“.22 Mutige Selbstbejahung hat insofern zwei zu unterscheidende, aber nicht zu trennende Seiten. „Die eine Seite ist die Bejahung des Selbst als ein Selbst, nämlich als ein einzelnes, zentriertes, individualisiertes, unvergleichbares, freies, sichselbst-bestimmendes Selbst.“23 Tillich nennt diese an der Individuation24 orientierte Form von Bejahung den „Mut, man selbst zu sein“.25 Die andere Seite der Selbstbejahung ist die Bejahung des Selbst als eines partizipierenden: „Das Selbst bejaht sich als partizipierend an der Mächtigkeit einer Gruppe, einer Wesenheit, der Macht des Seins-Selbst“,26 wobei letzteres, das Sein-Selbst, Tillichs Begriff für das Sein Gottes ist.27 Diese Form der Selbstbejahung bezeichnet Tillich als „Mut, Teil eines Ganzen zu sein“.28 In beiden Formen des Mutes bleibt die Bedrohung durch das Nichtsein (in je anderer Weise) für den Menschen bestehen: Im Mut, er selbst zu sein, (den er der Macht des eigenen Selbst verdankt) ist der Mensch immer der Bedrohung des Nichtseins der Welt ausgesetzt; Individuation wird dann leicht zum „Individualismus“, d.h. zur „Selbstbejahung des individuellen Selbst als individuelles Selbst ohne Rücksicht auf seine Partizipation an der Welt“.29 Im Mut, Teil eines Ganzen zu sein, (den er der Macht seiner Welt verdankt) ist der Mensch immer der Bedrohung des Nichtseins des Selbst 20
TILLICH: Der Mut zum Sein, 56. Ebd., 117. 22 Ebd., 70. Dieser „polare Zusammenhang von Selbst und Welt“ ist für Tillich wesentlich; vgl. WENZ: Rechtfertigung und Freiheit, 296. 23 TILLICH: Der Mut zum Sein, 70. 24 Vgl. ebd., 89. 25 Ebd., 71; vgl. ebd., 89ff. Prominentestes Beispiel dieses Mutes, man selbst zu sein, ist für Tillich der Existentialismus Sartres, der besage, „daß der Mensch aus sich machen kann, was er will. Der Mensch macht sich [bei Sartre] zu dem, was er ist. Es ist ihm nichts gegeben, was seine Tätigkeit bestimmt. […] das, was er sein sollte – ist nichts, was er vorfindet […] Der Mensch ist, was er aus sich macht. Und der Mut, man selbst zu sein, ist der Mut, aus sich zu machen, was man sein will.“ (Ebd., 113) Tillich hält demgegenüber fest: „Aber der Mensch ist endlich, er findet sich als das, was er ist. Er hat sein Sein empfangen und mit ihm die Struktur seines Seins, die Struktur der endlichen Freiheit eingeschlossen, und endliche Freiheit ist nicht Aseität. […] Endliche Freiheit hat eine bestimmte Struktur, und wenn das Selbst versucht, gegen diese Struktur zu verstoßen, endet es mit dem Verlust seines Selbst.“ (Ebd., 115) Vgl. zu dieser Struktur der endlichen Freiheit DANZ: Religion als Freiheitsbewußtsein. 26 TILLICH: Der Mut zum Sein, 72. 27 Vgl. dazu DANZ: Religion als Freiheitsbewußtsein, 114ff. 28 TILLICH: Der Mut zum Sein, 72; vgl. ebd., 73ff. 29 Ebd., 89. 21
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ausgesetzt.30 Partizipation wird dann leicht zum „Kollektivismus“, in dem der Mensch das an sich verneint, „was nicht in der Selbstbejahung des Kollektivs mit eingeschlossen ist“.31 Diese zweifache Bedrohung und Vereinseitigung kann nach Tillich nur überwunden werden durch einen „Mut […], in dem beide Seiten vereint sind“,32 durch einen „Mut zum Sein, der beide Formen vereint, indem er beide transzendiert“.33 2. Bejahtwerden Einen derartig umfassenden „Mut zum Sein“ kann der Mensch nicht aus sich selbst heraus hervorbringen. Er entspringt allein daraus, dass der Mensch von Gott angenommen, bejaht ist.34 Tillich versteht dieses Bejahtwerden durch Gott als Teilnahme an der Macht des Seins-Selbst,35 welches sich ständig „gegen und durch das Nichtsein bejaht“.36 Diese Teilnahme kann drei verschiedene Charaktere haben: Sie kann „mystischen Charakter“37 haben, nämlich dann, wenn Partizipation das bestimmende Strukturmoment ist. Sie kann „personhaften Charakter“38 haben, nämlich dann, wenn Individuation das bestimmende Strukturmoment ist (Tillich ordnet hier die reformatorische Theologie ein39). Und sie kann den „Charakter des Glaubens“ haben, nämlich dann, „wenn beide Pole [Partizipation und Individuation] akzeptiert und trans30
Vgl. TILLICH: Der Mut zum Sein, 116. Ebd., 79. 32 Ebd., 72. 33 Ebd., 116. Die Formel „Mut zum Sein“ nimmt Ernst Fuchs auf (FUCHS: Glauben und Verstehen, 49). 34 Vgl. TILLICH: Der Mut zum Sein, 124: „Die Annahme durch Gott […] ist die einzige und letzte Quelle des Mutes zum Sein“. 35 Vgl. ebd., 117: „Der Mut, der diese dreifache Angst in sich hineinnimmt, muß in einer Seinsmacht wurzeln“, die das Nichtsein als solches transzendiert und „größer ist als die Macht des eigenen Selbst und die Macht unserer Welt“. Vgl. ebd., 124: „[…] die letzte Macht der Selbstbejahung kann nur die Macht des Seins-Selbst sein. Alles, was weniger ist, die endliche Macht des eigenen Seins oder die eines anderen, kann nicht die radikale Drohung des Nichtseins überwinden“. 36 Ebd., 132. Vgl. ebd., 133: „Nur weil das Sein-Selbst den Charakter der Selbstbejahung trotz des Nichtseins hat, ist Mut möglich. Der Mut partizipiert an der Selbstbejahung des Seins-Selbst, er partizipiert an der Macht des Seins, die sich gegen das Nichtsein behauptet.“ 37 Ebd., 118. Hier ist das mystische Einswerden mit dem Sein-Selbst und die darin sich ereignende Erfahrung seiner Macht die Quelle der eigenen Selbstbejahung (vgl. ebd., 118. 120). 38 Ebd., 118. Hier ist die persönliche Begegnung mit dem Sein-Selbst die Quelle der eigenen Selbstbejahung (vgl. ebd., 120). 39 Die Reformatoren beschrieben die religiöse Begegnung „in ausgesprochen personalistischen Begriffen […] Luther griff die objektiven, quantitativen und unpersönlichen Elemente im Katholizismus an. Er kämpfte für eine unmittelbare Ich-Du-Begegnung zwischen Gott und Mensch.“ (Ebd., 120f). 31
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zendiert werden“;40 „Glaube umfaßt beides, mystische Partizipation und persönliches Vertrauen“.41 Als Gegenstand dieses Glaubens bestimmt Tillich den „Gott über Gott“.42 Das Bejahtsein durch diesen „Gott über Gott“ ist ein „Bejahtsein[…] ohne jemanden oder etwas, das uns bejaht“.43 Mit dieser Vorstellung von einem unpersonalen „Gott über Gott“ will Tillich seiner Beobachtung Rechnung tragen, dass die Moderne nicht mehr von einer für die Reformationszeit selbstverständlichen Voraussetzung bestimmt ist: „der Gottesgewißheit und damit der Gewißheit der Wahrheit und des Sinnes“.44 Vielmehr wird an dieser Voraussetzung beständig gezweifelt.45 Mit der Lehre von einem Bejahtsein ohne jemanden, der uns bejaht, will Tillich diese Zweifel berücksichtigen. Die lutherische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders wird deshalb von ihm zu einer Lehre von der „Rechtfertigung des Zweiflers“46 ausgebaut, die zur Geltung bringen soll: „Nicht nur der, der in der Sünde ist, sondern auch der, der im Zweifel ist, wird durch den Glauben gerechtfertigt. Die Situation des Zweifelns, selbst des Zweifelns an Gott, braucht uns nicht von Gott zu trennen.“47 Durch den Glauben an den „Gott über Gott“ wird nach Tillich sowohl der „Verlust des Selbst durch Partizipation“ als auch der „Verlust der Welt durch Individuation“48 vermieden. Denn:
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TILLICH: Der Mut zum Sein, 118. Diese Transzendierung geschieht so, dass dabei weder das mystische noch das personhafte Element aufgelöst wird. Tillich führt das in Bezug auf die Mystik ausdrücklich aus: „[…] Mystik ist mehr als ein besonderes Verhältnis zum Seinsgrund; sie ist ein Element in jedem derartigen Verhältnis. Da alles, was ist, an der Macht des Seins partizipiert, kann das Element der Identität, auf dem die Mystik beruht, in keiner religiösen Erfahrung fehlen.“ (Ebd., 120). 41 Ebd., 120. Vgl. ebd., 128: „Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins von der Macht des Seins-Selbst, die alles transzendiert und an der alles partizipiert. Wer von dieser Macht ergriffen ist [mystisches Element], kann sich bejahen, weil er weiß, daß er bejaht ist [personales Element].“ 42 Ebd., 134. Dieser „Gott über Gott“ hat mit dem theistischen Gott nichts gemein. Der Fehler der theistischen Gottesidee liegt nach Tillich darin, dass Gott hier „ein Wesen neben anderen“ wird und damit „an die Subjekt-Objekt-Struktur der Wirklichkeit gebunden“ ist. „Er ist ein Objekt für uns als Subjekte, zugleich sind wir Objekte für ihn als Subjekt.“ Dadurch erscheint Gott als „das Wesen, dem gegenüber alle anderen Wesen ohne Freiheit und Subjektivität sind“. Dieser Gott muss nach Tillich überwunden werden, „weil niemand ertragen kann, zu einem bloßen Objekt absoluten Wissens und absoluter Beherrschung gemacht zu werden“ (ebd., 136). 43 Ebd., 136 (Hervorhebung von mir). 44 TILLICH: Rechtfertigung und Zweifel, 86. 45 Vgl. ebd., 85. 46 Ebd., 91 u.ö. 47 TILLICH: Die protestantische Ära, 14. Vgl. dazu KORTHAUS: „Was uns unbedingt angeht“, 196. 48 TILLICH: Der Mut zum Sein, 138.
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Die Bejahung des Gottes über dem Gott des Theismus macht uns zu einem Teil dessen, was selbst kein Teil ist, sondern der Grund des Ganzen. Deshalb ist unser Selbst nicht in einem Kollektiv verloren, das selbst begrenzt ist. Wenn das Selbst an der Macht des Seins-Selbst partizipiert, empfängt es sich zurück, denn die Macht des Seins wirkt durch die Macht des individuellen Selbst. Sie verschlingt es nicht […].49
Dieser Glaube, den Tillich auch als „Glaube ohne Gott“50 bezeichnet, ist nach Tillich in der „Kirche unter dem Kreuz“ zu finden; denn der Gekreuzigte rief „den Gott an[…], der Gott blieb, nachdem der Gott des Vertrauens ihn in dem Dunkel der Verzweiflung und der Sinnlosigkeit verlassen hatte“.51 Der „Gott über Gott“ ist der „Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist“.52 Gegen Tillichs Vorstellung von „Gott über Gott“ und von einem „Glauben ohne Gott“ hat Oswald Bayer mit Recht eingewandt, dass Tillich damit die Konkretheit und Personalität des Rechtfertigungsgeschehens übersehe.53 Die personale Dimension der Bejahung als einer von außen kommenden und außerdem die Orientierung am konkreten Christusereignis ist nach reformatorischem Verständnis für die Rechtfertigung unverzichtbar. Unverzichtbar ist, dass da jemand ist, der mich von außen darauf anspricht, was in und durch Jesus Christus mir geschehen ist. Oswald Bayer betont zu Recht: Es „muß dem […] Unannehmbaren in der klaren Differenz zur Gesetzeserfahrung, nämlich in dem ‚anderen‘ Wort des Evangeliums […] gesagt werden, worin er angenommen ist, weshalb und woraufhin“.54 Soll im Folgenden Tillichs Motiv, Rechtfertigung als Annahme des Unannehmbaren zu denken, aufgenommen werden, ohne dadurch reformatorische Grundeinsichten aufzugeben, dann ist das nur in einer Korrektur möglich: Die Annahme Gottes muss personal-relational gedacht werden. Tillich meint, nur durch einen nicht-personalen Gott könne der Gefahr eines Individualismus gewehrt werden, in dem der Mensch seine Zugehörigkeit zur Welt übergeht. Doch auch eine personale Annahme-Konzeption kann den Individualismus verhindern.55 Der personale Gott nimmt nämlich nicht nur mich, sondern auch alle anderen Menschen an. Der von Gott Angenommene ist nicht mit sich selbst (und Gott) allein. Die vorliegende Arbeit führt dies in § 8 aus. 49
TILLICH: Der Mut zum Sein, 138. TILLICH: Brief an Maria Klein, 121. 51 TILLICH: Der Mut zum Sein, 138. Gunther Wenz macht darauf aufmerksam, dass dieser Bezug Tillichs auf den offenbaren Gott in Jesus Christus nicht völlig eindeutig mit Tillichs Behauptung eines „Gott über Gott“ zu vermitteln ist (WENZ: Subjekt und Sein, 305). 52 TILLICH: Der Mut zum Sein, 139. 53 Vgl. BAYER: Theologie, 265. 267. 273 u.ö. 54 Ebd., 272. 55 Was dabei verloren geht, ist allerdings die mystische Partizipation an anderem Seienden. 50
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3. Bejahung des Bejahtwerdens und Selbstbejahung Tillich macht deutlich, dass der Mensch das Bejahtwerden durch Gott seinerseits bejahen muss.56 Dieses Bejahen des Bejahtwerdens vollzieht der Mensch im Glauben.57 Von diesem Glauben unterscheidet Tillich einen aus dem Glauben entspringenden „Mut zum Sein“. Es seien einige Formulierungen Tillichs genannt, die diese Unterscheidung beschreiben: Glaube ist „die Erfahrung […], die einem Seienden den Mut zum Sein gibt“;58 der „Mut zum Sein ist ein Ausdruck des Glaubens“.59 Glaube ist „die Bejahung dessen, daß man bejaht ist“;60 Mut zum Sein ist „die Selbstbejahung auf Grund dieser Bejahung“,61 ist der „Mut, sich zu bejahen als bejaht“.62 Während „Annehmen, daß wir angenommen sind, obwohl wir unannehmbar sind, […] die Grundlage für den Mut des Vertrauens“ ist (der nach Tillich ein „Element im Glauben“63 darstellt), ist „der Mut zum Sein
56 Vgl. KOCH: Gott, 180f (Hervorhebung im Original): „[…] Rettung aus der Verzweiflung ist das [extra nos] nur, wenn das Unwahrscheinliche […] geschieht, daß ein Verzweifelter diese ihm zugebrachte Rettung […] für sich selbst ergreift: […] für sich gelten läßt […] – […] also nicht ‚extra se‘ beläßt.“ 57 Die Bejahung ist nur möglich durch den göttlichen Geist: „[…] only he who is grasped by the Spirit can accept the tremendous paradox that he is accepted“ (TILLICH: Morality, 682; vgl. auch DERS.: Systematische Theologie, Bd. 2, 191). 58 TILLICH: Der Mut zum Sein, 128 (Hervorhebung von mir). 59 Ebd. (Hervorhebung von mir); so auch im englischen Urtext (TILLICH: The Courage to Be, 221: „The courage to be is an expression of faith“). – Doch braucht auch der Glaube Mut: „Aber selbst wenn wir persönlich angenommen sind, bedürfen wir eines selbsttranszendierenden Mutes, um diese Annahme anzunehmen“, d.h. zu glauben (DERS.: Der Mut zum Sein, 124). Vgl. auch DERS.: Wesen und Wandel, 180: „Der Mut ist das Element im Glauben, das sich auf das Wagnis des Glaubens einläßt. Man kann den Glauben nicht durch Mut ersetzen; aber man kann den Glauben auch nicht vom Mut trennen.“ 60 TILLICH: Der Mut zum Sein, 128 (Hervorhebung von mir). 61 Ebd. (Hervorhebung von mir). Auch die von Tillich autorisierte deutsche Übersetzung des Textes von 1953 bietet diesen Wortlaut (TILLICH: Der Mut zum Sein [1953 (51964)], 125). Im englischen Ursprungstext heißt es nur: „Faith […] is an experience which has a paradoxical character, the character of accepting acceptance“ (DERS.: The Courage to Be, 221); vom Mut als Selbstbejahung auf Grund dieser Bejahung ist dort keine Rede. Dieser Unterschied zwischen deutschem und englischem Text ist nicht überzubewerten, wie die in Anm. 64 zusammengestellten englischen Zitate zeigen. Außerdem stellt Tillich auch im englischen Urtext heraus, dass der Mut „self-affirmation“ ist (DERS.: The Courage to Be, 213; Hervorhebung von mir). 62 TILLICH: Der Mut zum Sein, 117ff (Hervorhebung von mir). Auch die von Tillich autorisierte deutsche Übersetzung von 1953 bietet die Formulierung „Der Mut sich zu bejahen als bejaht“ (DERS.: Der Mut zum Sein [1953 (51964)], 113). Im englischen Ursprungstext spricht Tillich nicht vom Mut, sich zu bejahen als bejaht, sondern nur von „The Courage to Accept Acceptance“ (DERS.: The Courage to Be, 213). Vgl. aber Anm. 64. 63 TILLICH: Der Mut zum Sein, 120.
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[…] der Mut, uns anzunehmen als angenommen trotz unserer Unannehmbarkeit“.64 Das bedeutet: Der Mensch muss zum einen Gottes Bejahung des Menschen bejahen; dies geschieht im Glauben. Der Mensch muss zum anderen – aufgrund seiner Bejahung der Bejahung Gottes – sich selbst als diesen Bejahten bejahen;65 dies ist Ausdruck des Glaubens. Tillich führt nicht weiter aus, worin die Pointe dieser Differenzierung liegt. Wird berücksichtigt, dass gegen Tillich Gottes Bejahung personal gedacht werden muss, dann bedeutet eine derartige Unterscheidung Folgendes: Im Glauben bezieht sich der Mensch auf etwas außerhalb seiner selbst, eben auf seine Bejahung durch Gott.66 Daraus entspringt aber ein neues Verhältnis des Menschen sich selbst gegenüber, das als Selbstbejahung aufgrund des Glaubens an das Bejahtsein durch Gott verstanden wer-
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TILLICH: Der Mut zum Sein, 123 (Hervorhebung von mir). In der von Tillich autorisierten Übersetzung heißt es fast völlig identisch: „Das Angenommensein annehmen, obgleich man unannehmbar ist, das ist die Basis für den Mut des Vertrauens.“ Und: „[…] der Mut zum Sein ist der Mut, sich anzunehmen als angenommen trotz seiner Unannehmbarkeit“ (TILLICH: Der Mut zum Sein [1953 (51964)], 119). Hier bietet auch der englische Text Entsprechendes: „Accepting acceptance though being unacceptable is the basis for the courage of confidence.“ Und: „[…] the courage to be is the courage to accept oneself [!] as accepted in spite of being unacceptable.“ (DERS.: The Courage to Be, 217) Vgl. zum Beispiel auch DERS.: Der Mut zum Sein, 128 (Hervorhebung von mir): „Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins von der Macht des Seins-Selbst […] Wer von dieser Macht ergriffen ist [d.h. glaubt], kann sich bejahen“ (ebenso in der Übersetzung von 1953 [51964], 125). Auch der englische Text spricht hier von Sich-Bejahen: „Faith […] is the state of being grasped by the power of being […] He who is grasped by this power is able to affirm himself [!]“ (DERS.: The Courage to Be, 221). Entsprechend differenziert Tillich zwischen einem „Trotzdem“, das im Glauben vollzogen wird, und einem „Trotzdem“, das zum Mut zum Sein gehört: „Der Glaube sagt ‚ja‘, weil er ‚trotzdem‘ sagen kann; und in dem ‚trotzdem‘ des Glaubens ist das ‚trotzdem‘ des Mutes zum Sein geboren.“ (DERS.: Der Mut zum Sein, 128; so auch – bis auf andere Interpunktion – in der Übersetzung von 1953 [51964], 125) Der englische Ursprungstext unterscheidet entsprechend: „Faith accepts ‚in spite of‘; and out of the ‚in spite of‘ of faith the ‚in spite of‘ of courage is born.“ (DERS.: The Courage to Be, 221) Ganz deutlich auch ebd.: „In both of them [mystical experience and personal encounter] faith is the basis of the courage to be.“ 65 Seinen Sitz im (kirchlichen) Leben hat dieses Sich-Bejahen-als-bejaht nach Tillich vor allem in der Seelsorge. Vgl. TILLICH: Seelsorge und Psychotherapie, 318: „Das erste und in gewissem Sinne auch das letzte Ziel, auf das hin wir in der Seelsorge zu wirken haben, ist ‚Annahme‘. Der Mensch muß sich selbst mit all seinen Mängeln annehmen, aber er kann das nur tun, wenn er erkennt, daß er trotz dieser Mängel schon angenommen ist.“ Vgl. ebd., 319: „Seelsorge muß […] zu einem Sich-Annehmen hinführen. Wir müssen die Tatsache annehmen, daß wir entfremdet sind und daß wir verantwortlich sind für das, was zugleich unausweichlich ist. Wir müssen die Tatsache annehmen, daß wir schuldig sein werden, solange wir leben, und daß niemand das Verhaftetsein an die Entfremdung aus eigener Kraft überwinden kann. Viele Menschen, die den Pfarrer aufsuchen, streben bewußt oder unbewußt nach Vollkommenheit. […] Sie können die Zweideutigkeit nicht annehmen, die auch ihren besten Taten anhaftet. […] Seelsorge führt zur Selbstannahme trotz der Zweideutigkeit des eigenen Seins.“ 66 Siehe dazu genauer § 7.2.2.
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den muss. Der Mensch, der Gottes Annahme annimmt, darf sich als angenommen trotz seiner Unannehmbarkeit annehmen. Es wurde bereits herausgestellt, dass auch die beiden anderen von Tillich genannten Formen des Mutes, sc. der Mut, man selbst zu sein, und der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, Selbstbejahung bedeuten. Selbstbejahung heißt hier entweder: Ich bejahe mich als individuelles Selbst – oder: Ich bejahe mich als Teil eines Ganzen. In beiden Fällen bejaht der Mensch nicht einfach sich selbst, sondern er bejaht sich selbst als etwas. Die Bejahung seiner selbst richtet sich mithin an etwas aus. Selbstbejahung ist, so begriffen, keine zweistellige Relation (ich bejahe mich), sondern eine dreistellige Relation (ich bejahe mich als etwas). Wenn der Mensch nun sich bejaht als von einem personalen Gott bejaht, ist Selbstbejahung nicht nur eine dreistellige Relation, vielmehr ist das dritte Relatum der Relation selber relational, nämlich die relational zu verstehende Bejahung durch Gott. Derart verstanden ist Selbstbejahung ein fundamental relationales Geschehen. Im Folgenden soll, wie gesagt, der Tillich’sche Impuls, Rechtfertigung als Annahme durch Gott zu beschreiben, aufgenommen werden. Allerdings soll diese Annahme – anders als bei Tillich – eben personal-relational begriffen werden (siehe unten § 7.2.1). Dies geschieht in Orientierung an der neutestamentlichen Verwendung der Annahme-Terminologie. Dabei wird deutlich werden, dass durch eine angemessene Interpretation des Annahmebegriffs das Beziehungsgeschehen der Rechtfertigung gerade besonders gut zum Ausdruck kommt. Im Folgenden soll aber auch Tillichs Unterscheidung zwischen der menschlichen Annahme des Angenommenseins durch Gott und einer darin begründeten, im Selbstverhältnis sich vollziehenden Selbstannahme des Menschen weitergeführt werden. Es ist dies der Versuch, das Selbstverhältnis des Glaubenden vom Rechtfertigungsgeschehen und von seiner Annahme dieses Geschehens her zu bestimmen. Von besonderer Bedeutung wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung dabei Tillichs Einsicht erweisen, des Menschen Annahme seines Angenommenseins vollziehe sich im Glauben, während Selbstannahme als Ausdruck des Glaubens zu verstehen sei (siehe unten § 7.3.3). Gegen ein Verständnis von Rechtfertigung als Annahme und eine christliche Rede von Selbstannahme ist von verschiedenen Seiten Kritik vorgebracht worden, die thesenhaft referiert sei: 1) Mit der Vorstellung der Rechtfertigung als Annahme werde die Schuld des Menschen nicht mehr in ihrer eigentlichen Schwere wahrgenommen.67 2) Normative Elemente kä-
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Vgl. beispielsweise den Bericht der Theologischen Kommission über ihre Arbeit zur Beob-
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men in einer vom Annahme-Gedanken her konzipierten Soteriologie und Anthropologie nicht vor.68 3) Die geforderte Selbstannahme des Menschen sei ein den Menschen konstituierendes Werk.69 Im Verlauf der Arbeit wird gegenüber diesen Anfragen Stellung bezogen werden müssen.
achtung der theologischen Gesamtentwicklung im Bereich des Bundes, Mitteilungsblatt des Bundes der Evangelischen Kirchen, September 1981, zitiert nach HAUSTEIN: Annahme, 278. 68 Vgl. SEILS: Rechtfertigung, 339. 69 Vgl. HAUSTEIN: Annahme, 278.
II) Selbstannahme oder Verzweiflung – Überlegungen im Anschluss an Søren Kierkegaard
Der neuere wissenschaftliche Diskurs über das Selbst und das Selbst-Sein des Menschen verdankt wesentliche Impulse und Motive dem dänischen Theologen und Philosophen Søren Kierkegaard. Wirkungsgeschichtlich besonders bedeutsam ist Kierkegaards 1849 erschienene Schrift „Die Krankheit zum Tode“.1 Epochemachend wurde die darin gegebene Darstellung des menschlichen Selbst durch ihren existentiellen Problemzugang. Kierkegaard bestimmt das menschliche Selbst als eine in ihrem Wesen existentielle Größe. Das Selbst ist für Kierkegaard nicht das Fichtesche unmittelbare Bewusstsein des Ich von sich selbst, auch nicht – wie bei G.H. Mead – ein durch die Bilder, die andere von uns haben, in uns entstandenes Bild von uns selbst, und nicht – wie bei William James – die Gesamtheit der Zustände, Qualitäten und Taten des Individuums.2 Das Selbst ist für Kierkegaard vielmehr, wie noch näher dargestellt werden wird, ein im Existieren sich in den Kategorien von Bewusstsein und Wollen vollziehendes Verhalten des Menschen zu den Bedingungen seiner Existenz. Kierkegaard beschreibt eine entsetzliche Krankheit, an der das menschliche Selbst leiden kann: Das menschliche Selbst kann verzweifelt sein. Der theologische Ort dieser Verzweiflung sowie die Frage, inwiefern Verzweiflung und Selbstannahme existentielle Alternativen des Menschseins sind, sollen im Folgenden anhand der genannten Schrift nachvollzogen werden. Leitend ist dabei eine hermeneutische Grundentscheidung: Die Interpretation bleibt nicht beim Nachbuchstabieren von Kierkegaards Beschreibung des kranken, verzweifelten Selbst stehen, da m.E. so noch gar nicht alles zu erfassen wäre, was in diesem Text über das Selbst des Menschen angedeu-
1 KIERKEGAARD: Sygdommen til Døden. En christelig psychologisk Udvikling til Opbyggelse og Opvækkelse af Anti-Climacus udgivet af S. Kierkegaard, in: Ders., Samlede Værker, 3. Aufl., Bd. 15, hg.v. P.P. Rohde, 1963 (= SV 15), 65–180. Der Text wird im Folgenden, wenn nicht anders kenntlich gemacht, nach der Übersetzung von Emanuel Hirsch zitiert: KIERKEGAARD: Die Krankheit zum Tode, übers. von E. Hirsch, Gesammelte Werke, 24./25. Abteilung, 41992 (= KT). – Die Sekundärliteratur zu Søren Kierkegaard ist Legion. Die Publikationen der letzten Jahrzehnte sind zusammengestellt von JØRGENSEN (siehe Literaturverzeichnis). Vgl. zur deutschen Rezeption Kierkegaards nicht nur in den letzten Jahrzehnten H. SCHULZ: Die theologische Rezeption Kierkegaards (dort weitere Literatur zur Rezeption). 2 Vgl. zu diesen Selbstbegriffen PANNENBERG: Anthropologie, 179ff.
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tet ist. Nein, die besagte Beschreibung wird auch als ein „Negativ“ dessen interpretiert, was ein nicht-krankes, ein gesundes, ein geheiltes Selbst wäre. Die entscheidenden Rechtfertigungsgründe für diesen hermeneutischen Ansatz liefert Kierkegaard selbst. So etwa in seinen Tagebüchern. Hier finden sich gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass das Buch „Die Krankheit zum Tode“ im Horizont dessen verstanden werden muss, dass Heilung möglich ist. Kierkegaard hatte nämlich nach eigener Auskunft ursprünglich den Plan, drei thematisch einander ergänzende Bücher zu schreiben:3 Das erste sollte „Hinterrücks verletzende Gedanken – zur Erbauung“ enthalten, das zweite sollte „Die Krankheit zum Tode“ sein und das dritte ein Text mit dem Titel „Die Heilung im Grunde. Die christliche Heilkunde“ („Helbredelsen i Grunden. den christelige Lægedom“), der sich mit der Versöhnung beschäftigen sollte. Der letztgenannte Text war gedanklich als „dialektisches Pendant“4 zu „Die Krankheit zum Tode“ angelegt. Bekanntlich liegt nur „Die Krankheit zum Tode“ vor. Das dritte wie auch das erste Buch wurden nicht verfasst. Was hingegen bestehen bleibt und für ein authentisches Verständnis von „Die Krankheit zum Tode“ unabdingbar sein dürfte, ist der implizite Zusammenhang dieses Werks mit dem Nachdenken über die Heilung von dieser Krankheit. Weitere Anhaltspunkte, die für die Berechtigung und Triftigkeit der hier vorgeschlagenen hermeneutischen Grundentscheidung sprechen, gibt der Text von „Die Krankheit zum Tode“ selbst – und zwar in den Abschnitten, in denen Kierkegaard beschreibt, was im Glauben mit dem Selbst des Menschen geschieht.5 Hier zeigt er: Das glaubende Selbst ist von dem kranken, verzweifelten Selbst fundamental unterschieden! Es ist ein Selbst, dem zwar die Situation der Krankheit, der Verzweiflung nicht fremd ist, bei dem aber durch den Glauben die Verzweiflung durchgestanden und überwunden ist. Das heißt: Es ist ein Selbst, das geheilt ist. Das glaubende Selbst ist eines, das nicht in einem „kranken“, „verzweifelten“ Verhältnis zu sich selbst steht, sondern in einem „gesundeten“, „geheilten“.6 Im Blick hierauf erscheint es nicht nur grundsätzlich legitim, sondern sogar geboten, bei der nachfolgenden Textuntersuchung immer wieder herauszustellen, wie denn im Gegensatz zu dem von Kierkegaard beschriebenen „kranken“ Selbstverhältnis ein „gesundetes“, „geheiltes“ Selbstverhältnis auszusehen hätte. Indes, in der Regel wird Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ gerade nicht so ausgelegt. Einige Interpreten halten einen Umkehrschluss, wie er 3 Vgl. Journalen NB4 Nr. 76, in: KIERKEGAARD: Skrifter, Bd. 20, 324; Journalen NB6 Nr. 25, in: DERS.: Skrifter, Bd. 21, 22–23, 22. Vgl. zum Folgenden CAPPELØRN: Am Anfang, bes. 132. 4 CAPPELØRN: Am Anfang, 132. 5 Siehe dazu unten Das geheilte Selbst Teil 1. 6 Zum Zusammenhang zwischen Selbst und Verhältnis zu sich selbst siehe unten § 3.
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hier angedeutet wurde, sogar für regelrecht unmöglich.7 Dies geschieht dann mit dem Verweis darauf, dass Kierkegaard „jede Möglichkeit des Sichverhaltens zu sich als ein Scheitern“8 verstehe und „die Möglichkeit eines gelingenden Verhaltens zu sich von vornherein und mit aller Konsequenz ausschließ[e]“.9 Befreiung aus der Verzweiflung gebe es nur, wenn der Mensch gerade nicht mehr versuche, sich auf sich selbst zu beziehen.10 Aber auch wenn zugestanden wird, dass im Glauben ein gesundes, geheiltes Verhalten zu sich selbst möglich ist – was bei den meisten Interpreten der Fall ist –, bleiben die bisherigen Analysen von „Die Krankheit zum Tode“ vornehmlich auf das verzweifelte Selbst beschränkt, indem sie dessen Verzweiflung in allen Schattierungen beschreiben.11 Soweit ich sehe, liegt keine Interpretation des Textes vor, die konsequent und in allen Facetten herausarbeitet, wie denn ein nicht-verzweifeltes Verhalten zu sich selbst auszusehen hätte. Hier besteht eine Lücke, die es zu schließen gilt. Der vorliegende Auslegungsversuch will hierzu beitragen, indem er im Ansatz berücksichtigt, was Michael Theunissen „Kierkegaards negativistische Methode“12 genannt hat. Diese besteht nach Theunissen unter anderem13 darin, „daß Kierkegaard an den ‚negativen‘ Phänomenen, an denen er sich ausrichtet, auch ansetzt, um aus ihnen gelingendes Menschsein zu erschliessen“.14 Jedoch geht das hier Unternommene über Theunissen – und, zumindest werkgeschichtlich gesehen, auch über Kierkegaard – insofern hinaus, als eben versucht werden soll, den von Kierkegaard (fast) „nur in der Analyse 7 Hayo Gerdes vermutet hinter Kierkegaards Nichtverfassen des Buches über Heilung systematische Gründe: „Kierkegaard hat erkannt, daß eine Darstellung des Glaubens […] keinen ähnlich durchläufigen […] Aufbau haben kann. […] Der Akt des Glaubens […] entzieht sich […] jeder psychologischen Ableitung und hat keine psychologisch darstellbare Stufung seiner Erscheinungen.“ (GERDES: Sören Kierkegaards ‚Einübung‘, 1f). 8 FIGAL: Lebensverstricktheit und Abstandnahme, 12 (Hervorhebung im Original). 9 Ebd., 16. 10 Vgl. ebd., 12: „[…] sofern das Leben ‚selbst‘ vollzogen wird, ist es [für Kierkegaard] ein Defekt.“ Der christliche Glaube ist Ausweg aus der Verzweiflung nur deshalb, weil er „Aufkündigung des Verhaltens [ist], Verzicht darauf, die Konkretion des Selbst aus eigener Kraft zu bewerkstelligen“ (ebd., 20). Für die „Möglichkeit eines gelingenden Verhaltens zu sich“ biete Kierkegaards Text selbst „keine Hilfe“ (ebd., 16). 11 Siehe aber unten Anm. 16. 12 So der Untertitel von Theunissens Studie zum Verzweiflungsbegriff Kierkegaards: THEUNISSEN: Das Selbst. 13 Nach Theunissen verfährt Kierkegaard auch noch in anderen Hinsichten in „Die Krankheit zum Tode“ negativistisch (vgl. THEUNISSEN: Für einen rationaleren Kierkegaard, 63). 14 THEUNISSEN: Das Selbst, 17f (sic). Vgl. ebd., 16: Kierkegaard entwickelt „aus dem Kranksein eine Idee von Gesundsein“. Vgl. THEUNISSEN: Selbstverwirklichung, 50f Anm. 6: „Einen Begriff von Menschsein erarbeiten – das kann für Kierkegaard unter den gegebenen Bedingungen nur heißen: aus dem faktischen Zustand, in welchem der Mensch sich selbst verloren hat, erschließen, was unter wahrhaft menschlichem Selbstsein zu verstehen wäre.“
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seiner Negation definiert[en]“15 Glauben und seine Auswirkung auf das Selbst ausdrücklich positiv zu beschreiben. Über die hermeneutische Legitimität eines derartigen Versuches wurde bereits das Entscheidende gesagt. Anders als in der Kierkegaard-Interpretation üblich, wird im Folgenden nicht nur betont, dass im Glauben die Verzweiflung überwunden und ein geheiltes Verhalten zu sich selbst möglich wird. Es wird überdies genau danach gefragt, warum und inwiefern die Verzweiflung im Glauben überwunden wird und worin dieses geheilte Verhalten zu sich selbst besteht. Die Beantwortung dieser Fragen geschieht etappenweise, nämlich in den die reine Textinterpretation unterbrechenden Abschnitten über das geheilte Selbst. In welche Richtung diese Antworten gehen, sei in einem kurzen Vorgriff angedeutet. Während – wie deutlich werden wird – das Selbst in der Verzweiflung dasjenige Selbst verneint, als das es von Gott gesetzt ist (und in manchen Fällen darüber hinaus ein von ihm selbst entworfenes Selbst bejaht), bejaht das geheilte Selbst dasjenige Selbst, als das es von Gott gesetzt ist. Die Bejahung dieses Selbst ist keine pauschale Bejahung des eigenen lebensweltlich-faktischen Selbst. Das geheilte, nicht mehr verzweifelte Selbst ist vielmehr durch eine ausgesprochen differenzierte Annahme seiner selbst gekennzeichnet.16 Diese Selbstannahme beschreiben die die Textinterpretation unterbrechenden Abschnitte über das geheilte Selbst. Sie stehen deshalb unter der Überschrift: „Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst“ und sind fortlaufend durchnumeriert. Sie sollen zur Klärung dessen beitragen, wie christliche Selbstannahme gedacht werden muss. Im Laufe der Darstellung wird deutlich werden: Der Mensch kann eine derartige Selbstannahme nicht aus sich selbst heraus vollziehen, sie muss aber gleichwohl vom Menschen selbst vollzogen werden.
15 THEUNISSEN: Das Selbst, 18 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu Søren Kierkegaards Papirer, Bd. 10,5, B 23: Anti-Climacus „beskriver blot Sygdommen, idet han tillige bestandigt definerer: hvad ‚Tro‘ er“; er „beschreibt nur die Krankheit, indem er gleichzeitig beständig definiert, was ‚Glaube‘ ist“. Vgl. GRØN: The Relation, 50: „In the negative account on the figures of despair, faith’s possibility is contrapunctually delineated.“ 16 Der Begriff der Selbstannahme als Gegenbegriff zur Verzweiflung fällt in der Literatur zu „Die Krankheit zum Tode“ immer wieder: zum Beispiel bei H. SCHULZ: To Believe is to Be, 170; ROBERTS: The Grammar of Sin, 152; PATTISON: „Before God“, 425; er wird aber kaum ausführlicher expliziert. Eine kurze positive Bestimmung der Existenz des Glaubenden aus „Die Krankheit zum Tode“ unternimmt BONGARDT: Der Widerstand der Freiheit, 274–280. Romano Guardini hat in GUARDINI: Die Annahme, wesentliche Einsichten aus „Die Krankheit zum Tode” aufgenommen und in seine eigene Begrifflichkeit überführt (siehe dazu aber unten § 5 Anm. 234); vgl. dazu BRÜSKE: Anruf der Freiheit, 234–238; PAULY: Subjekt und Selbstwerdung, 310–316. Pauly versucht selber kurz (ebd., 300–302), von „Die Krankheit zum Tode“ aus einen Annahmebegriff zu entwickeln. Auch TAYLOR: Quellen des Selbst, 779–781, rekurriert auf einen von Kierkegaard her gewonnenen Begriff der Selbstbejahung.
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Damit soll nicht behauptet werden, die Verzweiflung sei für den Glaubenden bedeutungslos geworden oder von ihm ein für allemal überwunden. Die Frömmigkeit des Christen ist „streitende Frömmigkeit“.17 Dies ist sie zwar „zunächst in sich selbst mit sich selbst, um Christ zu werden“.18 Sie bleibt es aber beständig, weil der Christ fortlaufend die Verzweiflung in sich überwinden, sein Leben also mehr und mehr im Glauben leben muss. Auch der Zustand des Christen bleibt „allezeit kritisch“.19 Zwei methodische Vorbemerkungen seien dem endgültigen Eintritt in die ausführliche Analyse noch vorausgeschickt. Die eine betrifft die Tatsache, dass die Schrift „Die Krankheit zum Tode“ unter dem Pseudonym „Anti-Climacus“ und als von Søren Kierkegaard lediglich „herausgegeben“ erschienen ist. „Die Krankheit zum Tode“ wird präsentiert als verfasst von einem Autor, welcher aus der Perspektive des Glaubenden spricht; er ist ein Christ, „der […] so stark im Glauben ist, daß er das innere Recht hat, der Christenheit die bitteren Wahrheiten dieser Schrift vorzuhalten“.20 Kierkegaard hat sich erst nach Abfassung des Textes dazu entschlossen, ihn unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen.21 Er wollte damit den Eindruck vermeiden, er wolle sich selbst als so stark im Glauben darstellen, dass er der Christenheit die bittere Wahrheit vorhalten dürfe.22 Die pseudonyme 17
KIERKEGAARD: „Die bewaffnete Neutralität“, 286. KIERKEGAARD: Einübung im Christentum (= EC), 286. 19 KT 21. Vgl. BOHLIN: Kierkegaards dogmatische Anschauung, 274: „Weil das Persönlichkeitsleben Aktivität, eine innere Bewegung, ein unablässiges Streben und Werden bedeutet, ist es nach Kierkegaard ein Widerspruch, etwas Fertiges und Abgeschlossenes im Bereich des Persönlichkeitslebens anzunehmen.“ Vgl. auch BÖSCH: Søren Kierkegaard, 363: „Selbst die mögliche Gesundheit des Geistes bleibt in kritischer Offenheit, weil sie als Vollzug der Freiheit in der ständigen Überwindung der Möglichkeit der Unfreiheit, der Nicht-Identität, der Verzweiflung besteht.“ Vgl. auch THEUNISSEN: Kierkegaard’s Negativistic Method, 416f: Das gesunde Selbstsein ist „such an unremitting process that it turns promptly into its opposite if the annihilation of the possibility of despair ceases for a single moment“. 20 E. HIRSCH: Geschichtliche Einleitung zur 24. und 25. Abteilung, KT X. 21 Vgl. ebd., IXf. 22 Vgl. zu Anti-Climacus Kierkegaard in seinen Tagebüchern 1849: „Das Pseudonym heißt: Johannes Anticlimacus im Gegensatz zu Climacus, der von sich sagte, er sei kein Christ; Anticlimacus ist der äußerste Gegensatz: Christ zu sein in außerordentlichem Maße – ich selber bringe es nur dahin, ganz einfältig ein Christ zu sein“ (KIERKEGAARD: Die Tagebücher, Bd. 3, 256 = Søren Kierkegaards Papirer, Bd. 10,1, A 510). Nach Kierkegaard hat Anti-Climacus zwar die „persönliche Schuld, daß er sich selbst mit der Idealität verwechselt […], aber seine Darstellung der Idealität kann völlig wahr sein, und ihr beuge ich mich. Ich habe mich höher bestimmt als Joh. Climacus, niedriger als Anticlimacus“ (DERS.: Die Tagebücher, Bd. 3, 257 = Søren Kierkegaards Papirer, Bd. 10,1, A 517). Vgl. DERS.: „Die bewaffnete Neutralität“, EC 285, zu dem Pseudonym Anti-Climacus: Ich wollte dem vorbauen, „daß irgendwie der Nachdruck darauf fallen sollte, daß ich Christ in außerordentlichem Maße sei, eine Art ausgezeichneter Christ“. – Vgl. dazu die Übersetzer-Anmerkung EC 299 Anm. 5: „Indem Kierkegaard […] die Scheingestalt AntiClimacus zwischen den Leser und sich als Herausgeber zwischenschaltete, machte er das Mißverständnis unschädlich, der Verfasser dieser Schrift fühle sich selbst als idealer Christ und nähme sich deshalb das Recht zu seiner Polemik. Dies Mißverständnis konnte ja nun nur Anti-Climacus 18
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Verfasserschaft der Schrift „Die Krankheit zum Tode“ ist insofern nur in demjenigen Sinne „Ausdruck einer vermittelten Gebrochenheit zum […] Standpunkt“23 des Autors der Schrift, als Kierkegaard den Unterschied zwischen der Glaubensstärke des Autors und seiner eigenen zur Geltung bringen will. Inhaltlich wird man den Text jedoch als Kierkegaards eigene Auffassung verstehen dürfen24 und zu den „unecht pseudonymen Schriften“ zählen müssen.25 Deshalb erscheint es angemessen, in der nachfolgenden Darstellung von Kierkegaards grundsätzlicher Bitte abzusehen, die da lautet, man möge, wenn man seine pseudonymen Texte zitiere, ihm „den Dienst erweisen […], den Namen des respektiven pseudonymen Verfassers zu zitieren, nicht meinen“.26 Die andere Vorbemerkung, die zu machen ist, lautet: Die Bestimmung des nicht mehr verzweifelten Selbst und die Bedeutung des Glaubens für das Ende der Verzweiflung soll im Folgenden konsequent aus der Schrift „Die Krankheit zum Tode“ erarbeitet werden. Um deren Verständnis des Glaubens nicht durch Aussagen anderer Texte Kierkegaards zu überlagern, wird im Folgenden (bis auf gelegentliche Hinweise auf die unter dem gleichen Pseudonym 1850 gedruckte Schrift „Einübung im Christentum“27) fast
und nicht mehr ihn treffen.“ – Vgl. auch Kierkegaard selbst in: „Die bewaffnete Neutralität“, EC 289f: Wer das „ideale Bild eines Christen“ aufrecht erhalten will, also zeigen will, wie der Christ sein müsste, der „muß zuerst und vor allem sich darunter demütigen, eingestehen, daß er, ob er gleich in sich selbst darum ringt, dies Bild zu erreichen, dennoch weit davon entfernt ist es zu sein“, und muss eingestehen, „daß er […] nur als Dichter, im Darstellen dieses Bildes, voraus ist“. Aus dem gleichen Grund ist es Kierkegaard so wichtig, dass sich Anti-Climacus mit der direkten Diagnostizierung der Krankheit zurückhält; vgl. Søren Kierkegaards Papirer, Bd. 10,5, B 23 (Übersetzung KT 184 Anm. 152; Hervorhebung im Original): „Anmerkung des Herausgebers [also Kierkegaards]. Dies Buch ist geschrieben wie von einem Arzte, es ist wahr. Aber er, welcher der Arzt ist, ist einer, der niemand ist; er sagt zu keinem einzigen Menschen: ‚Du‘ bist krank […] er beschreibt lediglich die Krankheit“. 23 DIETZ: Sören Kierkegaard, 43. 24 Vgl. HARTSHORNE: Kierkegaard, 66 (Hervorhebung im Original): „[…] it is probably accurate to speak of the author of The Sickness unto Death as Kierkegaard […], the content does indeed express his deepest Christian convictions“. 25 E. HIRSCH: Geschichtliche Einleitung zur 24. und 25. Abteilung, KT X. 26 KIERKEGAARD: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, 2. Teil, 341. 27 Entwurf und Reinschrift der „Einübung im Christentum“ enthalten mehrfach ein Kierkegaard selbst meinendes „ich“. Erst im Sommer 1849 entschließt sich Kierkegaard zur Verwendung eines Pseudonyms, um „Forderung und […] Gericht[…], welche seine Schrift gegen die bestehende Christenheit ausspricht“, abzuschwächen (E. HIRSCH: Geschichtliche Einleitung zur 26. Abteilung, EC X). Kierkegaard widerruft dieses Pseudonym im Frühjahr 1855 (vgl. KIERKEGAARD: Zu der neuen Auflage von „Einübung im Christentum“), weil er „im letzten Streit aus Gott den Mut gewonnen hat, sich zu der Forderung und Anklage gegen die bestehende Christenheit und Kirche rückhaltlos zu bekennen“ (E. HIRSCH: Geschichtliche Einleitung zur 26. Abteilung, EC XI). Die inhaltliche Nähe dieses Textes zu „Die Krankheit zum Tode“ ist wegen der Verwendung der Bilder der todbringenden Krankheit und des Arztes kaum zu übersehen (vgl. EC 8. 11f).
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völlig auf die Auseinandersetzung mit anderen Büchern Kierkegaards verzichtet. Die Analyse von „Die Krankheit zum Tode“ beginnt mit Kierkegaards introduzierender Definition des Selbst.
§ 3 Kierkegaards Definition des Selbst Kierkegaard bestimmt im ersten Abschnitt1 der Schrift „Die Krankheit zum Tode“ das Selbst des Menschen wie folgt: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“.2 Das Selbst des Menschen ist – so gibt diese Definition zu verstehen – keine Substanz, sondern Relationalität. Es „besteht“ in einem Verhalten von etwas zu sich selbst, in dem Vollzug einer Selbstbezüglichkeit. Dieses Etwas, das sich zu sich selbst verhält, ist nach Kierkegaards Bestimmung ein „Verhältnis“, und zwar nicht irgendeines, sondern jenes Verhältnis zwischen den grundlegenden Polaritäten, die das Menschsein ausmachen:3 Der Mensch existiert nach Kierkegaard in den Polaritäten „von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit“.4 Was ist mit diesen paarweisen Polaritäten gemeint? Um dies zu umreißen, muss auf unten genauer Darzustellendes vorgegriffen werden.5 Zunächst sei das erste Paar betrachtet. Das Element der Endlichkeit bedeutet, dass der Mensch bestimmte Beschaffenheiten hat und in konkreten Umständen lebt. Das Element der Unendlichkeit bedeutet, dass der Mensch Phantasie besitzt, um von seinen eigenen Beschaffenheiten und den konkreten Umständen absehen, sich von ihnen durch Pläne und Vorhaben lösen zu können, und dass er als ein besonderes, originelles Selbst gesetzt ist. Das Element der Notwendigkeit – um nun zum zweiten Paar überzugehen – besagt, dass der Mensch nur dann er selbst ist, wenn er diese Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit ist. Das Element der Freiheit (das Kierkegaard auch Möglichkeit nennt) besagt, dass der Mensch nur dann selbst etwas ist, wenn er es frei wird. Die Polaritäten bezeichnen mithin die Existenzbedingungen des Menschen.6 Menschliche Existenz vollzieht sich jeweils unter diesen Bedingungen. 1
Zum Aufbau des ersten Abschnittes vgl. CAPPELØRN: Am Anfang. KT 8. – Kierkegaards Beschreibung der Strukturen des „Selbst“ kann nicht einfach, wie Schrempf das tut, als „nicht wissenschaftlich“ abgetan werden, weil sich „das Selbst […] überhaupt nicht definieren“ lasse (SCHREMPF: Nachwort, 128). Natürlich lässt sich nicht das einzelne Selbst definieren; gleichwohl lässt sich eine Beschreibung von Strukturen des Selbst geben. 3 Auch andere Denker beschreiben die Existenz des Menschen als durch Polaritäten gekennzeichnet, u.a. Friedrich Schleiermacher (zum Beispiel SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 191f; DERS.: Der christliche Glaube, Bd. 1, § 3) und Paul Tillich (zum Beispiel TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 1, 206ff). 4 KT 8. 5 Siehe unten § 5.1.1 und 5.1.2. Die Synthesis Zeitlichkeit-Ewigkeit buchstabiert Kierkegaard im weiteren Verlauf des Textes nicht in der gleichen Weise aus wie die beiden anderen Paare. Vgl. zur impliziten Verhandlung dieser Synthesis aber WESCHE: Kierkegaard, 35f. 6 TUGENDHAT: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 159f, macht deutlich, dass zum Beispiel das Paar Möglichkeit und Notwendigkeit nicht zwei „Bestandteile“ der „Basis der Struktur des ‚Selbst‘“ bezeichnet, sondern „gegensätzliche Bestimmungen bzw. Ausrichtungen der 2
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Jetzt lässt sich Kierkegaards Definition des Selbst besser verstehen: Diese behauptet, der Mensch sei ein Verhältnis, die „Synthesis“7 zwischen diesen Polaritäten. Das heißt offenbar: Bereits dadurch, dass er als Mensch existiert, setzt er die abstrakten Polaritäten in ein Verhältnis zueinander, stellt er eine Synthesis zwischen ihnen her. Denn im Existieren verhält er sich zu seinen Existenzbedingungen. In seinem Existieren stellt der Mensch die Synthese seiner Existenzbedingungen her, ist er diese Synthese. Jedoch: Ein Selbst ist der Mensch nicht schon dadurch, dass er diese Synthese ist, sondern erst dadurch, dass diese Synthese in ein Verhältnis zu sich selbst tritt, d.h. dass er, der diese Synthese ist, in ein Verhältnis zu diesem Synthese-Sein tritt.8 Ein Selbst ist also nicht nur durch seinen Synthese-Charakter, sondern immer auch durch ein Selbstverhältnis gekennzeichnet. Dieses Verhältnis vollzieht sich nach Kierkegaard in den Kategorien von Bewusstsein und Wollen,9 genauer: im Sich-nicht-des-SyntheseSeins-bewusst-Sein oder im Sich-des-Synthese-Seins-bewusst-Sein10 und im Nicht-die-Synthese-sein-Wollen oder im Die-Synthese-sein-Wollen.11 menschlichen Existenz“. Diese stehen „nicht für etwas Substantielles“, sind „auch nicht Prädikate, die geradezu auf die Person anzuwenden sind“, sondern sind „Prädikate zweiter Ordnung, die die Existenz, das Leben der Person qualifizieren“. 7 Vgl. KT 8: „Eine Synthesis ist ein Verhältnis zwischen Zweien.“ Synthesis meint dabei keine Aufhebung von Gegensätzen in einer höheren Einheit, sondern ein „bleibendes dynamisches Spannungsverhältnis“, „durch das die zwei Gegensätze als Gegensätze bestehen und in eine Einheit zusammengebunden werden“ (KIM: Der Einzelne, 78). 8 Vgl. KT 8: „Der Mensch ist […] eine Synthesis. Eine Synthesis ist ein Verhältnis zwischen Zweien. Auf die Art betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst.“ Denn ein Verhältnis zwischen zweien, eine Synthesis, ist nur eine „negative Einheit“ (KT 8), eine Einheit, die „gar nichts anderes [ist] als das Sein der Glieder in ihrem Verhältnis zueinander […] und nicht etwas […], das sich in seinem Sein ausdrücklich zu diesem Sein noch verhält“ (so zu Recht RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 64f; Hervorhebung im Original). Ein Selbst ist mehr: „Verhält dagegen das Verhältnis [sc. die Synthesis] sich zu sich selbst, so ist dies Verhältnis [gemeint ist: das Sich-zu-sichVerhalten] das positive Dritte, und dies ist das Selbst.“ (KT 8) Sehr deutlich auch KT 25: „Das Selbst ist die bewußte Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, die sich zu sich selbst verhält“. – FIGAL: Die Freiheit der Verzweiflung, 12 (Hervorhebung im Original), stellt heraus, dass das Verhalten zu den Elementen der Synthesis nicht ein „Verhalten zu etwas wie auch immer Vorliegendem“ ist, sondern vielmehr ein „Verhalten, das durch die Momente bestimmt wird“. Er schlägt deshalb vor, „statt von einem Verhalten zu diesen Momenten von einem Verhalten in ihnen zu sprechen“. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass das Verhalten in ihnen zugleich ein Verhalten zu ihnen ist. Zur Struktur des Selbst vgl. auch DEUSER: Grundsätzliches, 118f. 9 Ich formuliere ausdrücklich nicht: „bewusst und willentlich“. Denn der Mensch kann sich auch unbewusst zu seinen Existenzbedingungen verhalten (siehe unten die uneigentliche Verzweiflung § 5.2.1). Auch dann verhält er sich in der Kategorie des Bewusstseins zu ihnen. Das Gleiche gilt für die Kategorie des Willens. 10 Leider ließen sich im Folgenden solche Nominalkonstruktionen um der Präzision des Ausdrucks willen oft nicht vermeiden. 11 Vgl. KT 25: „Je mehr Bewußtsein, desto mehr Selbst; [denn:] je mehr Bewußtsein, desto mehr Wille, je mehr Wille desto mehr Selbst. Ein Mensch, der gar keinen Willen hat, ist kein Selbst; aber je mehr Willen er hat, um so mehr Selbstbewußtsein hat er auch.“
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Demnach ist der Mensch nur dadurch ein Selbst, dass er sich zu seinen eigenen Existenzbedingungen in den Kategorien von Bewusstsein und Wollen verhält. Wenn der Mensch existiert, verhält er sich aber immer schon in den Kategorien von Bewusstsein und Wollen zu seinen Existenzbedingungen. Insofern ist der Mensch immer ein Selbst.12 Aus dem bisher Erörterten ergibt sich eine erste wichtige Beobachtung, die für die weitere Textinterpretation maßgeblich sein wird. Sie lautet: Wenn Kierkegaard vom Selbst als einem Verhältnis spricht, das sich zu sich selbst verhält, meint er mit Verhältnis und Sich-Verhalten-zu-sich-selbst zwei unterschiedliche Dinge: zum einen die erwähnte Synthese („Verhältnis“) und zum anderen die – im eben beschriebenen Sinne zu verstehende – Selbstbezüglichkeit dieser Synthese („verhält“).13 Das bedeutet offenbar, dass es Kierkegaard hier nicht um ein irgendwie gedoppeltes Verhältnis geht, sondern zum einen um die Synthese von bestimmten gegensätzlichen Elementen und zum anderen um ein bestimmtes Verhalten (eben das zu sich selbst).14 Dass Kierkegaard für beides die gleiche Wortfamilie (Verhältnis, sich verhalten – dänisch: Forhold, sig forholde) verwendet, stellt eine gewisse Schwierigkeit bei der Interpretation seiner Aussagen dar, ist es doch nicht immer klar zu erkennen, was Kierkegaard jeweils meint, wenn er das Substantiv „Verhältnis“ (Forhold) benutzt: die Synthesis oder das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten. Der Klarheit halber wird im Folgenden dort, wo es eindeutig ist, von „Synthesis“ statt von „Verhältnis“ gesprochen. 12
Vgl. KT 8. So auch PRÖPPER: Das Faktum der Sünde, 277, und TUGENDHAT: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 159. Ebenso unterscheidet auch JANKE: Historische Dialektik, 402, und macht darauf aufmerksam, dass es gerade diese Unterscheidung ist, die garantiert, dass die Verzweiflung nicht einfach so den Menschen überkommt, sondern durch ihn selber verursacht wird: „Die Synthesisstruktur des Selbst zeichnet vielfältige Möglichkeiten verzweifelt überspannten Existierens vor. Aber sie ist nicht schon selber die Heraufkunft des Mißverhältnisses. Dann wäre Verzweiflung ein Erleidnis und Folge der gegensätzlichen Natur des Menschen […,] aber […] keine Krankheit des Geistes. Als solche kann sie der Tat und Wirklichkeit nach nur aus dem Selbstverhältnis entspringen. Schuld und Verantwortung für die Verzweiflung der Existenz trägt der Geist, und zwar in jedem Augenblick.“ (Ebd., 402f; Hervorhebung im Original). 14 Ringleben interpretiert anders: Es gehe Kierkegaard „um eine Einheit von Zweien […], die so eins ist, daß sie sich auch noch zu sich als Einheit verhält“ (RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 56), und „nicht [um] zwei voneinander strikt unterschiedene (oder unterscheidbare) Verhältnisse“ (ebd., 59); es gehe Kierkegaard um „eine Einheit im Unterschied von sich selber bzw. im Verhältnis zu sich selber“ (ebd.). Ringleben betont: „Nominale und verbale Bedeutung sind im dänischen Wort ‚forhold‘ denn auch nicht so unterscheidbar wie im Deutschen. Dieser Doppelsinn ist spezifisch angemessen, weil im Falle eines Selbst das Selbstverhältnis (als sich zu sich Verhalten) mit dem Verhältnis real identisch ist: das Sichverhalten (zu sich) liegt insofern differenzlos in dem Verhältnis, dessen Verhältnis zu sich das Selbst ist. Indem es Verhältnis (d.h. Beziehung von Zweien) ist, ist das Selbst darin ein Verhältnis (Verhalten) zu sich.“ (Ebd., 62; Hervorhebung im Original). 13
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Für die theologische Fragerichtung der vorliegenden Arbeit ist im Blick hierauf von Interesse, durch wen das so bestimmte Selbst konstituiert wird. Ist beides, also sowohl die Synthesis als auch das Sich-zu-sich-selbstVerhalten, durch den Menschen konstituiert? Oder ist etwas davon durch etwas anderes gesetzt? Oder gilt gar irgendwie beides? Kierkegaard behandelt in den einleitenden Passagen von „Die Krankheit zum Tode“ diese Fragen sofort: Hat sich das Selbst selber gesetzt, oder ist es durch ein anderes gesetzt?15 Die erste Alternative wird verneint. Kierkegaard begründet nicht direkt,16 wieso das Selbst des Menschen nicht durch sich selbst gesetzt sein kann, sondern behauptet einfach: „Ein solches abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist des Menschen Selbst“.17 Dabei ist nicht deutlich, ob mit „Verhältnis“ hier die Synthese oder das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten gemeint ist. So muss in Bezug auf dieses Zitat zunächst offen bleiben, ob nur die Synthese oder auch das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten abgeleitet, d.h. durch etwas anderes gesetzt ist. Nun: Was – oder wer – könnte dieses andere sein? Kierkegaard identifiziert das setzende andere zunächst nicht mit Gott. Im Laufe des Textes stellt sich aber heraus, dass damit letztlich Gott gemeint ist.18 Zur Klärung dessen, was genau durch das andere resp. Gott gesetzt ist, hilft eine Textstelle, an der Kierkegaard danach fragt, wie es zur Verzweiflung des Selbst kommen kann. Auf die Verzweiflungsthematik wird sogleich eingegangen. Im Augenblick jedoch sei nur Kierkegaards Antwort auf diese Frage betrachtet: „Woher kommt dann also die Verzweiflung? Aus dem Verhältnis, in welchem die Synthesis sich zu sich selbst verhält, indem Gott, der den Menschen zu dem Verhältnis gemacht hat, ihn gleich15
Vgl. KT 9. Als indirekten Beweis vgl. aber KT 9: „Hätte des Menschen Selbst sich selber gesetzt, so könnte nur von einer Form [der Krankheit] die Rede sein, von der, nicht man selbst sein zu wollen, sich selbst los werden zu wollen“. Denn das Selbst könnte sich jederzeit im Man-selbst-seinWollen problemlos (d.h. weit von irgendeiner Krankheit entfernt) neu und anders setzen. Es gibt nach Kierkegaard aber eben auch die Krankheit, verzweifelt man selbst sein zu wollen (siehe unten § 5.2.2.2). – Einen anderen indirekten Beweis bietet PAULY: Subjekt und Selbstwerdung, 174, an: „Es wäre kaum mehr zu erklären, warum das Selbst […] sich als ein instabiles, gefährdetes, in seiner Selbstwerdung bedrohtes relationales Gefüge setzen sollte.“ 17 KT 9. „Mit diesem Gedanken grenzt sich Kierkegaard gegen Fichte ab, der den christlichen Schöpfungsgedanken kritisch zersetzt hat und das Ich des Menschen nicht versteht als gesetzt, sondern als ein Ich, das sich selbst setzt.“ (H. FISCHER: Subjektivität und Sünde, 101). 18 Vgl. RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 78. Nicht recht zu überzeugen vermag die Argumentation von EVANS: Who Is the Other, 9, dass mit dem setzenden anderen nicht Gott allein gemeint sei, weil Kierkegaard zeigen wolle: das Selbst beziehe sich auch dann auf andere, wenn es sich nicht in Gott gründet. Evans bringt als ein Argument den Sachverhalt, dass es der erste Abschnitt von „Die Krankheit zum Tode“ mit einem Menschen zu tun habe, der kein Selbst vor Gott ist. Letzteres ist richtig, bedeutet aber nicht, dass nicht Gott diesen Menschen gesetzt hat, sondern bedeutet nur, dass der Mensch kein Bewusstsein von Gott hat (siehe unten § 6.1). Was soll es auch besagen, durch einen anderen Menschen gesetzt zu sein? 16
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sam aus seiner Hand losläßt, das heißt, indem das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“19 Soll heißen: Gott schafft den Menschen als Synthesis20 derart, dass seine Existenz sich jeweils in den Polaritäten von Endlichkeit und Unendlichkeit bzw. Notwendigkeit und Möglichkeit vollzieht; Gott legt die Bedingungen fest, unter denen sich menschliche Existenz vollzieht. Dass Gott den Menschen „aus seiner Hand losläßt“, bedeutet dann nichts anderes, als dass er ihn existieren lässt. Im Existieren vollzieht der Mensch die Synthese zwischen seinen polaren Existenzbedingungen selbständig. Er bestimmt selber, wie diese Synthese, dieses Verhältnis zwischen den Polaritäten, konkret beschaffen ist.21 Er bestimmt die Bedingungen seiner Existenz zwar nicht selber, bestimmt aber selbst, ob und wie sehr er ihnen gemäß lebt. Er bestimmt selber, ob er seiner Endlichkeit entsprechend leben will und ob er seiner Unendlichkeit entsprechend leben will usw. Solange der Mensch nicht aus Gottes Hand losgelassen ist, d.h. in die Existenz getreten ist, verhält er sich gar nicht zur gesetzten Synthese, zu seinen Existenzbedingungen, d.h. gibt es sein Selbst nur potentiell.22 (Gott lässt den Menschen nur „gleichsam“ los, weil er ihm zwar die Freiheit gibt, sich zu sich selbst zu verhalten, ihn aber trotzdem noch in seiner Hand hält, ihn nicht fallen lässt.) Gott lässt die Synthesis dabei so los, dass sie, wie Kierkegaard schreibt, „ursprünglich, [d.h.] so wie sie aus Gottes Hand kommt, in dem rechten Verhältnis“23 ist. Das besagt: Gott schafft den Menschen als eine Synthesis, in der die Elemente der Synthesis im rechten Verhältnis stehen. Das klingt zunächst recht metaphysisch, bedeutet aber: Gott schafft den Menschen als eine Synthesis, in der sich kein Element der Synthesis auf Kosten seines polaren Gegenübers durchsetzen soll. Zu den Existenzbedingungen des Men19
KT 11. Mit dem Verhältnis, zu dem Gott den Menschen gemacht hat, muss die Synthesis gemeint sein, weil es dasjenige Verhältnis ist, das sich zu sich selbst verhält. 21 Das bedeutet: Während in dem aus KT 11 Zitierten das erste Auftauchen des Begriffs „Verhältnis“ – wie der Relativsatz „in welchem […]“ zeigt – das Verhalten zu sich meint, ist mit dem zweiten und dritten Auftauchen des Begriffs die Synthese gemeint. – Vgl. auch KT 25: „Diese Synthesis […] ist ein Verhältnis, […] das, obschon abgeleitet, sich zu sich selbst verhält, welches Freiheit ist.“ – Ringleben meint: „Nicht eigentlich von sich aus vermag […] ein Verhältnis sich zu sich zu verhalten (d.h. ein Selbst zu sein), sondern es ist ein schöpferischer Akt Gottes, ein Verhältnis so auf sich zurückzuwenden, daß es sich zu sich selbst verhält.“ (RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 79; Hervorhebung im Original) Doch Kierkegaard spricht nicht davon, dass Gott die Synthesis auf sich selbst zurückwendet, sondern davon, dass er sie loslässt. 22 Vgl. dazu ganz deutlich KT 32: „Indem das Selbst, als Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, gesetzt ist, der Möglichkeit nach (kata. du,namin) ist, um nunmehr zu werden […]“. Kierkegaard kann deshalb sagen: „Das Selbst ist Freiheit.“ (KT 25) Diese Textstelle und damit zusammenhängende Formulierungen in „Die Krankheit zum Tode“ hat ausführlich interpretiert H. SCHULZ: To Believe is to Be, vor allem 171ff. 23 KT 11. 20
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schen gehören also nicht nur die polaren Paare, sondern gehört auch dies, dass menschliche Existenz nur glückt, wenn sich die polaren Elemente in einem Wohlverhältnis, in einer gelungenen Synthese befinden. Zusammenfassend ist festzuhalten: Gott schafft den Menschen als Synthese; er bestimmt, dass der Mensch in den genannten polaren Existenzbedingungen existiert. Dass Gott diese Synthese als ein Wohlverhältnis setzt, bedeutet die Festlegung: Menschsein gelingt dann, wenn die polaren Elemente in einem Wohlverhältnis zueinander stehen. Damit der Mensch ein Selbst werden kann, das sich selbständig zu dieser Synthese in Beziehung setzt, d.h. sich zu Unendlichkeit und Endlichkeit, zu Möglichkeit und Notwendigkeit seiner Existenz verhält, lässt Gott den Menschen los, lässt ihn existieren. Gott schafft die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass die Synthese sich zu sich selbst verhalten, also ein Selbst werden kann. Gottes Setzen des Selbst ist nichts anderes als die Schaffung des Menschen als Synthesis und die Freilassung dieser, so dass sie in ein Verhältnis zu sich selber eintreten, folglich ihr konkretes Wie vollziehen kann. Dieses Verhältnis der Synthesis zu sich selbst kann aber nur durch den Menschen, durch seinen Selbstbezug hergestellt werden. Das kann Gott nicht übernehmen. Erneut zusammengefasst, bedeutet dies: Kierkegaard unterscheidet beim Selbst des Menschen zwischen einem Gesetztsein der Synthesis sowie des Wohlverhältnisses in der Synthesis durch Gott und einem vom Menschen selber zu übernehmenden Sich-zu-dieser-Synthesis-Verhalten, in dem der Mensch ein neues Verhältnis der Elemente zueinander herstellt. Er betont das grundlegende Handeln Gottes für das Selbst und kennt gleichzeitig ein ebenso unverzichtbares, wenn auch nicht in gleicher Weise grundlegendes Handeln des Menschen in Bezug auf das eigene Selbst. Es muss also unterschieden werden zwischen einem „Konstituieren“ des Selbst im Sinne eines Konstituierens der Möglichkeitsbedingung des Selbstverhältnisses durch Gott und einem „Vollziehen“ des Selbst, d.h. des Selbstverhältnisses, durch den Menschen.24
24 Das jedoch bedeutet – wie gleich noch deutlicher werden wird –: Das Verhalten des Menschen zu sich selbst ist nicht als solches problematisch. Anders AXT-PISCALAR: Ohnmächtige Freiheit, 172 (Hervorhebung von mir): Aus Kierkegaards Bestimmung des Menschen als Synthesis aus Unendlichkeit und Endlichkeit etc. werde „sofort klar, daß der Mensch, indem er als Selbst sich zu sich selbst verhält, den Charakter seiner selbst als einer Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit im selbstbezüglichen Vollzug seiner selbst verfehlt“. Aber: Das Verhalten des Menschen zu sich selbst ist nur dann problematisch, wenn der Mensch in ihm nicht das Gesetztsein der Synthese durch Gott berücksichtigt, also in seinem Selbstbezug seinem Konstituiertsein widerspricht.
§ 4 Verzweiflung – das kranke Selbst Kierkegaard geht davon aus, dass das derart bestimmte Selbst krank sein kann. Und er untersucht eine bestimmte Krankheit des Selbst: die Verzweiflung. Kierkegaard schreibt: „Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann somit ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewusst sein ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen.“1 Was ist mit dieser Definition gemeint? Die Feststellung, die Krankheit der Verzweiflung gebe es nur im Geist, im Selbst, heißt offenbar: Verzweiflung ist eine spezifisch menschliche Krankheit. Nur der Mensch wird von ihr befallen, da nur er ein Selbst ist, d.h. sich in Selbstbewusstsein und Wollen zu seinen Existenzbedingungen verhält.2 Verzweiflung ist nur möglich im Existieren. Die Semantik des Begriffs „Verzweiflung“ suggeriert, es handele sich bei dieser Krankheit um ein affektives Phänomen, um „allerlei vorübergehende[…] Verstimmtheit, Zerrissenheit“.3 Tatsächlich bezeichnet der Begriff aber zunächst und vor allem eine bestimmte strukturelle Beschaffenheit4 1 KT 8. Kierkegaard identifiziert Geist und Selbst. Denn es ist der Geist des Menschen, der sich zu sich selbst verhält. Das „somit“ steht, weil das Selbst, wie schon deutlich wurde, sich durch Bewusstsein (daraus ergibt sich die erste Form der Verzweiflung) und durch Wollen (daraus ergibt sich die zweite und die dritte Form der Verzweiflung) auszeichnet. – Auch das kranke Selbst ist ein Selbst, denn es verhält sich – wie jedes Selbst – zu sich selbst (vgl. RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 44). Nur ist dieses Verhalten zu sich selbst beim kranken Selbst eben misslich. 2 Vgl. KT 10: „Die Möglichkeit dieser Krankheit ist des Menschen Vorzug vorm Tiere; auf diese Krankheit aufmerksam sein ist des Christen Vorzug vor dem natürlichen Menschen; von dieser Krankheit geheilt sein des Christen Seligkeit.“ 3 KT 20. 4 Wenn Verzweiflung im Folgenden vor allem als strukturelles Phänomen begriffen wird, dann wird sie im Sinne einer inneren Ent-zwei-ung verstanden – und zwar (wie gleich deutlich werden wird) zum einen im Sinne einer Entzweiung zweier zusammengehöriger Existenzbedingungen und zum anderen im Sinne einer Entzweiung des Menschen von seinen Existenzbedingungen insgesamt. – Das dänische Wort „fortvivlelse“ ist Kompositum zu „tvivl“- Zweifel. Das Gleiche gilt für das deutsche „Verzweifeln“. „Zweifel“ bezeichnet ursprünglich „den zustand des menschen, gespaltenen, zweigeteilten sinnes zu sein“ (GRIMM: Art. „Zweifel“, 997). „Zweifel“ enthält „zwei“ (vgl. ebd., 996); vgl. im Dänischen den Wortteil „tve-“ (zwei-). – Theunissen versteht den Begriff „Verzweiflung“ als „Totalisierung des Zweifels“ und mithin als desperatio, in der man „alle Hoffnung fahren läßt“ (THEUNISSEN: Der Begriff Verzweiflung, 68; Hervorhebung im Original). So auch GRØN: Kierkegaards Phänomenologie?, 115. Dies ist jedoch nur eine Form der Kierkegaardschen Verzweiflung, nämlich die, in der der Mensch keine Möglichkeit mehr sieht (siehe unten § 5.1.2). Der Begriff der Entzweiung trifft das, was Kierkegaard beschreibt, umfassender. – Kierkegaards Bestimmung der Verzweiflung ist später intensiv rezipiert worden. Tillich wurde bereits erwähnt. Als nur einer von vielen weiteren Rezipienten sei Rudolf Bultmann genannt: „[…] zwiespältig sein, nicht bei sich selbst sein, ist das Wesen des menschlichen Seins unter der Sünde.“ (BULTMANN: Theologie, 245; zur Differenz, die bei Kierkegaard aber zwischen der Zwiespältigkeit in der Verzweiflung und der Sünde besteht, siehe unten § 6.1).
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im Selbst, nämlich „das Mißverhältnis im Verhältnis einer Synthesis, die sich zu sich selbst verhält“.5 Ein Missverhältnis ist ein verfehltes Verhältnis, das den Gliedern des Verhältnisses nicht gerecht wird. Das Gegenteil ist ein Wohlverhältnis. Wenn berücksichtigt wird, was oben über die Bedeutung der Ausdrücke „Verhältnis/verhält“ herausgestellt wurde, dann stellt sich die Frage, was in der eben genannten, strukturellen Beschreibung der Verzweiflung mit „Verhältnis“ und entsprechend mit „Mißverhältnis im Verhältnis“ gemeint ist: Geht es um ein Missverhältnis im Verhalten zu sich selbst oder um ein Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthese? In den Entwürfen zu dem eben zitierten Satz („Verzweiflung ist das Mißverhältnis im Verhältnis einer Synthesis, die sich zu sich selbst verhält“) hatte Kierkegaard nur ein Missverhältnis, nämlich das zwischen den beiden Elementen der Synthese, herausgestellt: Verzweiflung war hier das Missverhältnis „zwischen dem Zeitlichen und dem Ewigen in dem aus dem Zeitlichen und dem Ewigen zusammengesetzten Menschen“.6 Dass Kierkegaard jetzt, in der Reinschrift, unschärfer formuliert, hat jedoch seinen guten Grund. Verzweiflung ist nämlich tatsächlich ein zweifaches Missverhältnis: Verzweiflung ist zum einen das Missverhältnis zwischen je zwei Elementen der Synthesis. Denn: Gott bestimmt den Menschen dazu, als eine Synthesis existieren zu sollen, in der ein „rechte[s …] Verhältnis“,7 ein Wohlverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis besteht, d.h. beispielsweise das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit ausgewogen ist. Im Existieren verhält der Mensch sich zu den Elementen der Synthesis. Ein Missverhältnis zwischen diesen tritt dann ein, wenn der Mensch eines der beiden Elemente auf Kosten des anderen durchsetzt.8 5
KT 11 (Hervorhebung von mir). Vgl. auch KT 6, wo Kierkegaard die Krankheit zum Tode ausdrücklich von „Seelenleiden, Kummer, Gram“ u.a. abgrenzt. Dieses Missverhältnis äußert sich dann auch in bestimmten affektiven Phänomenen (siehe zum Beispiel unten § 5.2.2.1.1), ist aber viel grundsätzlicher bestimmt. Vgl. LIESSMANN: Kierkegaard, 127 (Hervorhebung von mir): Verzweiflung ist hier „nicht als Oberflächenphänomen des Alltags verstanden, nicht als das Gefühl der Ausweglosigkeit oder des Unglücklichseins in bestimmten Situationen, sondern tatsächlich als eine Befindlichkeit, die den Menschen strukturell kennzeichnet und prägt und dadurch wohl auch die alltäglichen, gemilderten Erscheinungsformen derselben bestimmt.“ Die Differenz zur „alltäglichen Bedeutung des Gefühls“ betont auch BÖSCH: Søren Kierkegaard, 363. 6 Søren Kierkegaards Papirer, Bd. 8,2, B 168,3; Übersetzung Hirsch, KT 167 Anm. 7. 7 KT 11. 8 Dass Kierkegaard im Anschluss an den Satz „Verzweiflung ist das Mißverhältnis im Verhältnis einer Synthesis, die sich zu sich selbst verhält“ (KT 11) betont: „Die Synthesis aber ist das Mißverhältnis nicht, sie ist bloß die Möglichkeit, oder in der Synthesis liegt die Möglichkeit des Mißverhältnisses“, steht nicht – wie das PAULY: Subjekt und Selbstwerdung, 219, behauptet – im Widerspruch zu der These, dass Missverhältnis vollziehe sich (auch) zwischen den Elementen der Synthesis. Denn der zitierte anschließende Satz kann durchaus so verstanden werden, als betone
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Verzweiflung ist zum anderen aber auch ein Missverhältnis im Selbstverhältnis.9 Und zwar besteht sie (wenn man die uneigentliche Verzweiflung hier unberücksichtigt lässt10) entweder darin, dass man – wie Kierkegaard formuliert – verzweifelt nicht man selbst sein will, oder darin, dass man verzweifelt man selbst sein will. Kierkegaard charakterisiert diese beiden Formen der Verzweiflung im Laufe des Buches noch genauer, gibt aber bereits auf den einleitenden Seiten einige grundlegende Umschreibungen. Oft habe es, wenn ein Mensch verzweifle, den Anschein, als verzweifle er über etwas, beispielsweise – wie Kierkegaard sagt – darüber, dass er nicht Caesar geworden ist. Eigentlich aber verzweifelt dieser Mensch „über sich selbst“.11 Er verzweifelt darüber, dass er der sein muss, der er ist: „[…] dies Selbst, welches nicht Caesar geworden, ist ihm das Unerträgliche“.12 Der Verzweifelte kann es, „weil er nicht Caesar geworden, […] nun nicht aushalten […] er selbst zu sein“13 und will sich selbst als den Nicht-CaesarSeienden loswerden.14 Er will nicht dasjenige Selbst sein, das er ist. Gleichzeitig gilt aber für diesen15 verzweifelten Menschen, dass er wünscht, ein anderer zu sein, eben Caesar zu sein. Er will dasjenige Selbst sein, das Caesar ist. Insofern will er „verzweifelt er selbst sein“,16 aber eben er selbst nach seinen eigenen Vorstellungen. Er will „sich selbst erschaffen, sein Selbst zu dem Selbst machen, das er sein will“.17 Allgemein gilt also von dem verzweifelt er selbst sein Wollenden: „Das Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst[,] das er nicht ist“.18 Verzweifelt man selbst sein zu wollen heißt mithin: ein anderes Selbst sein zu wollen als das, das man ist. er: Nicht das Dass der Synthesis ist schon das Missverhältnis; das Dass der Synthesis ist nur die Möglichkeit für das Missverhältnis, d.h. für das Wie der Synthesis. 9 Ähnlich BÖSCH: Søren Kierkegaard, 364f. Theunissen hat umfassend kritisiert, „daß Kierkegaard alle Verzweiflung in das Verhältnis des Verzweifelten zu sich selbst einschreibt“, weil damit „jede Verzweiflung unberücksichtigt [bleibt], die jenseits des defizienten Selbstverhältnisses liegt“, und „der Verzweiflung eine Defizienz zugeschlagen [wird], die mit ihr unmittelbar nichts zu tun hat“ (THEUNISSEN: Für einen rationaleren Kierkegaard, 68; vgl. DERS.: Der Begriff Verzweiflung, 63ff). 10 Siehe zu dieser unten § 5.2.1. 11 KT 15 (Hervorhebung im Original). 12 KT 15. 13 KT 15. Entscheidend dafür, dass er nicht aushalten kann, er selbst zu sein, ist, dass er sich die Losung gegeben hat: „entweder Caesar oder gar nichts“ (KT 15). Schon in dieser Losung des „ganz oder gar nicht“ ist die Verzweiflung angelegt, weil sie der differenzierten Realität des Lebens nicht gerecht wird. 14 Vgl. KT 15. 15 Es wird deutlich werden (siehe unten § 5.2.2.1), dass dies nicht immer der Fall sein muss. 16 KT 16. 17 KT 68. 18 KT 16.
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Was aber bedeutet das? Wer ein anderes Selbst sein will als das, das er ist, „will […] sich selber los sein, das Selbst los sein, das er ist, um das Selbst zu sein, auf das er verfallen ist“.19 Darin, dass er ein anderes Selbst sein will, ist also insofern notwendig eingeschlossen, dass er nicht er selbst sein will. In diesem Sinne kann die „Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein [zu] wollen, zurückgeführt werden“20 auf die Verzweiflung, „verzweifelt nicht man selbst sein [zu] wollen“;21 die erstgenannte Verzweiflung impliziert immer die zuletzt genannte. Im Blick hierauf ist für Kierkegaard klar: „[…] verzweifelt sich selber los sein wollen, ist die Formel für alle Verzweiflung“.22 Aus dieser zuspitzenden Formulierung scheint sich ex negativo auch ein Hinweis darauf zu ergeben, wie die Verzweiflung des Selbst vermieden bzw. aufgehoben werden kann. In beiden oben aufgeführten Fällen galt ja: Der Verzweifelte will nicht dasjenige Selbst sein, das er ist. Es hat daher den Anschein, als werde die Verzweiflung dann überwunden, wenn der Mensch sein lebensweltlich-faktisches Selbst bejahe, im Sinne eines: Finde dich damit ab, wer du bist. Diese eher resignative Lesart ist aber nicht diejenige, die Kierkegaard im Sinn hat. Vor allem geht es ihm nicht schlicht um eine Bejahung des faktischen Selbst. Kierkegaard betont nämlich, der Verzweifelte wolle nicht das
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KT 16. Dieses Zurückgeführt-Werden (dänisch: føres tilbage) ist nicht im kausalen, sondern im analytischen Sinn zu verstehen – wofür die parallele Formulierung KT 9 (dänisch SV 15, 74) spricht: „kan opløses i og tilbageføres paa den“ – wörtlich: „kann in seine Bestandteile zergliedert und auf sie zurückgeführt werden“. 21 KT 16. 22 KT 16. Kierkegaard behauptet, dass auch das Umgekehrte gilt: Letztlich könne alle Verzweiflung in die Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen, „aufgelöst und auf sie zurückgeführt werden“ (KT 9; vgl. KT 16). Kierkegaard löst dies bei seiner Beschreibung der Gestalten der Verzweiflung nur teilweise ein. Nur in der Verzweiflung über sich selbst (die eine Form ist, nicht man selbst sein zu wollen) ist impliziert, dass der Mensch verzweifelt er selbst, genauer: ein anderes Selbst sein will (siehe unten § 5.2.2.2 Anm. 209). Für die vorangehenden Formen, nicht man selbst sein zu wollen, gilt dies aber nicht. – Entgegen Kierkegaards eigener Behauptung muss deshalb „ein Vorrang des Nichtselbstseinwollens“ (THEUNISSEN: Der Begriff Verzweiflung, 56) angenommen werden. Und tatsächlich ist ja auch einsichtig: Wer der sein will, der er nicht ist, will nicht der sein, der er ist. Aber wer nicht der sein will, der er ist, muss noch nicht jemand anderes sein wollen (siehe auch Anm. 29). – HANNAY: Basic Despair, 15 u.ö., versteht dagegen das verzweifelte Man-selbst-sein-Wollen als grundlegende Form der Verzweiflung. Arne Grøn meint, dass das verzweifelte Man-selbst-sein-Wollen „die primäre Form der Verzweiflung“ ist in dem Sinne, dass „sie zeigt, was es heißt zu verzweifeln“ (GRØN: Kierkegaards Phänomenologie?, 107). Hermann Deuser schließlich hält dafür, dass die Rückführbarkeit der beiden Verzweiflungsformen tatsächlich in beiden Richtungen – wie von Kierkegaard behauptet – gilt (wenn auch „nicht gleichrangig“), und zwar je nachdem, ob man die Perspektive auf das Gesetztsein des Selbst oder auf das sich zu sich als Synthesis verhaltende Selbst richtet (vgl. DEUSER: Grundsätzliches, 120f). 20
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Selbst sein, „das er in Wahrheit ist“.23 Dieses Selbst, das er in Wahrheit ist, ist nach Kierkegaard nun aber das Selbst, als das der Mensch von Gott gesetzt ist.24 Es ist dies keine transzendente Substanz,25 sondern die Synthesis-Struktur mit ihrem Wohlverhältnis. Das Selbst sein zu wollen, das man in Wahrheit ist, bedeutet dann, im Selbstverhältnis, im Verhältnis zu dieser Synthesis-Struktur, die eigenen Existenzbedingungen, also eben diese Synthesis-Struktur samt ihrem Wohlverhältnis, zu wollen und zu bejahen. Gegenstand des Wollens ist nicht das faktische Selbst, sondern das wahre, das von Gott gesetzte Selbst. Weist der Mensch das Selbst ab, das er in Wahrheit ist, dann ist er verzweifelt. Der Verzweifelte lehnt die ihm gegebenen Existenzbedingungen ab und will damit „sein Selbst losreißen von der Macht, die es gesetzt hat“.26 Damit ergibt sich klar das Differenzmoment der beiden vorgeführten Verzweiflungsformen: „Verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen“ und „verzweifelt man selbst sein zu wollen“ unterscheiden sich darin, dass der Mensch einmal das von Gott gesetzte Selbst nicht sein will und das andere Mal darüber hinaus27 ein anderes Selbst als das von Gott gesetzte Selbst sein will.28 Im ersten Fall wehrt er das von Gott gesetzte Selbst ab; im zwei23
KT 16 (Hervorhebung von mir). Vgl. KT 16. Wenn hier formuliert wird, es sei das Selbst, das von Gott gesetzt sei, so selbstverständlich mit der oben erarbeiteten Einschränkung, dass nur die Synthesis mit ihrem Wohlverhältnis von Gott gesetzt ist, nicht aber das Selbstverhältnis. Für eine derartige Interpretation spricht sich auch aus HANNAY: Basic Despair, 16: „[…] the self we don’t want to be is the Godestablished self“. Verzweiflung tritt immer dann ein, wenn der Mensch nicht dieses von Gott gesetzte Selbst sein will. Insofern ist „the theological premise […] essential to Kierkegaard’s analysis“ (ebd., 17). 25 In eine substantielle Richtung gehen beispielsweise Formulierungen wie die des noch jungen Bultmann: „Sich selbst finden, sein wahres Selbst finden heißt: es finden als den Gedanken Gottes.“ – „Und wenn unser eingebildetes und selbsterdachtes und selbstgebautes Ich, das uns lieb und wert war, darunter zusammenbricht – es muß verzehrt oder es muß durchleuchtet werden von jenem höheren Ich, unserem eigentlichen Selbst. Wir haben es uns nicht erdacht, es wird uns geschenkt.“ (BULTMANN: Predigt vom 13. Februar 1921, 179 und 181) Ähnlich substantiell BISER: Sich selbst annehmen, 90f: Der Mensch soll der werden, „der er sein könnte und sein sollte und zu dem er es noch immer nicht brachte“. 26 KT 16. Ursprünglich endete dieser Satz: „[…] i den Magt, som satte det (i Gud): in der Macht, welche es gesetzt hat (in Gott).“ (Søren Kierkegaards Papirer, Bd. 8,2, B 170,2). 27 Denn darin, dass er ein anderes Selbst sein will, ist ja – wie gezeigt – eingeschlossen, dass er nicht das von Gott gesetzte Selbst selbst sein will. 28 Etwas anders umschreibt Theunissen die beiden Formen des Missverhältnisses der Verzweiflung. Das verzweifelte „Nichtselbstseinwollen“ meine: „Wir wollen nicht sein, was wir sind.“ Das verzweifelte „Selbstseinwollen“ dagegen meine: „Wir wollen sein, was wir nicht sind.“ (THEUNISSEN: Der Begriff Verzweiflung, 56) Vgl. DERS.: Für einen rationaleren Kierkegaard, 65f: „Wir wollen unmittelbar nicht sein, was wir sind.“ Und: „Wir wollen unmittelbar sein, was wir nicht sind.“ Theunissen verzichtet bei diesen Umschreibungen bewusst auf den Selbstbegriff (vgl. ebd., 82). Zur Kritik an Theunissen vgl. neuerdings MJAALAND: X, 69ff. 24
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ten Fall strebt er darüber hinaus nach einem anderen Selbst. Einmal will er nicht das von Gott gesetzte Selbst sein, das andere Mal will er darüber hinaus ein nicht von Gott gesetztes Selbst sein.29 Nie aber will er das von Gott gesetzte Selbst sein. Dies bedeutet jeweils ein Missverhältnis zum von Gott gesetzten Selbst und insofern ein Missverhältnis im Selbstverhältnis. Besteht dieses Missverhältnis, ist Verzweiflung vorhanden. Diese Verzweiflung findet – wie noch deutlich werden wird – ein Ende nur dann, wenn der Mensch das von Gott gesetzte Selbst sein will und die darin gegebenen Existenzbedingungen bejaht.30 Darin zeigt sich eine bestimmte Logik des – in Kierkegaards Sinn – gelingenden Selbstbezugs: Das Selbst-sein-Wollen ist durch das von Gott gesetzte bzw. das vom Menschen entworfene Selbst und das dieses Selbst Sein-Wollen oder Nicht-sein-Wollen bestimmt, nicht aber durch einen Modus dieses Wollens oder Nicht-Wollens. Das Selbst-sein-Wollen ist dann angemessen, wenn der Mensch dasjenige Selbst sein will, als das er von Gott gesetzt ist. Dann bejaht er sowohl, dass er durch Gott gesetzt ist, als auch, wie er durch Gott gesetzt ist. Und das Selbst-sein-Wollen ist dann nicht angemessen, wenn der Mensch nicht dieses Selbst sein will oder darüber hinaus ein anderes Selbst sein will als dasjenige, als das er von Gott gesetzt ist. „Verzweifelt“ ist mithin nicht eine adverbiale Bestimmung des Wollens,31 so als ob es auch ein nichtverzweifeltes Nicht-das-von-Gottgesetzte-Selbst-sein-Wollen oder ein nichtverzweifeltes Ein-anderes-Selbstsein-Wollen geben könnte.32 Vielmehr ist „verzweifelt“ jeweils die Zusammenfassung für Nicht-das-von-Gott-gesetzte-Selbst-sein-Wollen bzw. Einanderes-Selbst-als-das-von-Gott-gesetzte-sein-Wollen.
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Diese Differenz nicht nur innerhalb der Ausrichtung des Wollens, sondern auch zwischen Nicht-Wollen und Wollen ist m.E. für die Kierkegaardsche Verzweiflungsanalyse entscheidend. Nicht man selbst sein zu wollen ist die Abwehr von etwas; es bedeutet, dass man von dem von Gott gesetzten Selbst Abstand nimmt. Das ist aber eben nicht damit identisch, dass man schon ein anderer sein will, d.h. dass sich das eigene Wollen konstruktiv auf die Vorstellung von einem anderen Selbst, d.h. von anderen, selbst gewählten Existenzbedingungen, richtet (anders GRØN: Der Begriff Verzweiflung, 39). 30 Friedrich Nietzsches Formel „Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Willen und Freiheit“ (NIETZSCHE: Also sprach Zarathustra, 111) ist von hier aus zu kritisieren. Nicht etwas Beliebiges zu wollen befreit; Freiheit tritt erst dort ein, wo der rechte Gegenstand gewollt wird. 31 Anders RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 47. Ähnlich wie die in dieser Arbeit vorgeschlagene Lesart HANNAY: Kierkegaard, 332: „Despair, for Anti-Climacus, just is wanting rid of the self. Consequently, ‚despair‘-expressions do not qualify this project but simply refer to it.“ 32 So – eher nebenbei – auch SCHRADER: Art. „Selbst II.“, 300, der durch Kommata deutlich macht, dass er in ähnlicher Weise interpretiert. Schrader zählt „drei Schritte“ auf dem „Weg der Verzweiflung“ auf: „verzweifelt, ohne S.[elbst] zu sein […]; verzweifelt, nicht man selbst sein zu wollen […]; verzweifelt, man selbst sein zu wollen“.
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Die oft zu findende Interpretation,33 Kierkegaard gehe es im Verzweifeltman-selbst-sein-Wollen um ein falsches, sc. eigenständiges, sich selbst konstituierendes Wollen des gesetzten Selbst, ist mithin offensichtlich nicht zutreffend. Es gibt für Kierkegaard nicht den Fall, dass der Mensch verzweifelt dasjenige Selbst sein will, als das er von Gott gesetzt ist; die Gefahr, „zu viel“ das Selbst sein zu wollen, als das man von Gott gesetzt ist, besteht nicht! Die beschriebenen Missverhältnisse im Selbstverhältnis und in der Synthese sind für das Selbst aus Kierkegaards Sicht in keiner Weise marginal; sie sind vielmehr derart grundlegend, dass er sie im Anschluss an Joh 11,4 als „Krankheit zum Tode“ bezeichnet: Das Selbst will sich selbst – als diesen von Gott Gesetzten, als den diesen Existenzbedingungen Unterworfenen – loswerden, d.h. will als dieses Selbst sterben – und kann sich doch nicht loswerden. Der Tod, das Ende dieses Selbst, ist für das Selbst „die Hoffnung geworden“, gleichzeitig aber hat das Selbst die „Hoffnungslosigkeit, noch nicht einmal sterben zu können“.34 Anders formuliert: „[…] Verzweiflung [ist] eben eine Selbstverzehrung, jedoch eine ohnmächtige Selbstverzehrung, die nicht vermag was sie selber will.“35 Es sei noch präzisiert, wie beide Formen der Verzweiflung, das Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis und das Missverhältnis in der Selbstbezüglichkeit, zusammenhängen. Aus dem zuletzt genannten Missverhältnis folgt nämlich – nicht zeitlich, sondern kausal – das zuerst genannte: Durch das Missverhältnis in der Selbstbezüglichkeit entsteht ein Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis.36 Konkret: In der verzweifelten Selbstbezüglichkeit verhält sich der Mensch so zu sich, dass er – indem er nicht so sein will, wie er gesetzt wurde – bestimmte Elemente 33 Vgl. zum Beispiel H. FISCHER: Subjektivität und Sünde, 102: Verzweifelt man selbst sein zu wollen bedeute, „daß das gesetzte Selbst sein Selbst übernehmen will, aber total“ – was heißt, dass das Selbst versuche, „das Abhängigkeitsverhältnis des Selbst zu überspringen“; RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 198: „Das Verzweifelte […] liegt in der Selbst-Widersprüchlichkeit, etwas erst werden zu wollen, was man doch immer schon ist“. Ähnlich VETTER: Alter Mensch, 182: Den Grundzug in der Krankheit zum Tode als der „Existenzform des Alten Menschen […] sieht Kierkegaard in der Bewegung des Willens zu sich. […] Das Selbst in seiner ‚natürlichen‘ Form – als der Alte Mensch – ist Wille zu sich selbst“. Vgl. auch BONGARDT: Der Widerstand der Freiheit, 261, sowie MJAALAND: X, 72 (Hervorhebung im Original): „Wenn ein Mensch […] von sich ausgehend sich selbst sein will, schließt er durch den eigenen Willen die Perspektive des Anderen aus“. 34 KT 14. „Krankheit zum Tode“ meint also gerade nicht, dass man „an dieser Krankheit stirbt […] Im Gegenteil, der Verzweiflung Qual ist gerade, daß man nicht sterben kann“ (KT 13). 35 KT 14 (Hervorhebung im Original). Vgl. KT 14: „[…] eben darüber […] verzweifelt er: daß er nicht sich selbst verzehren kann, nicht sich selber loswerden kann, nicht zu Nichts werden kann.“ 36 Vgl. KT 11: „Woher kommt dann also die Verzweiflung? Aus dem Verhältnis, in welchem die Synthesis sich zu sich selbst verhält“.
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dieser Synthesis abweist, wodurch das Missverhältnis in der Synthesis entsteht.37 Verzweiflung ist also ein Missverhältnis in dem Selbstverhältnis (ein nicht angemessenes Verhältnis des Menschen zu der von Gott gesetzten Synthesis-Struktur) und ein Missverhältnis in der Synthesis (die je paarweisen Elemente sind nicht mehr in dem rechten Verhältnis).38 Deshalb kann Verzweiflung von Kierkegaard auch unter zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, nämlich 1., indem Kierkegaard nur die Elemente der Synthesis in den Blick nimmt,39 und 2., indem Kierkegaard das Selbstverhältnis in den Blick nimmt.40 Kierkegaard ist der Überzeugung, dass jeder Mensch verzweifelt ist, wenngleich nicht jeder in gleicher Weise. Es lebt „kein einziger Mensch, ohne daß er denn doch ein bißchen verzweifelt sei“.41 Jeder Mensch muss als Selbst existieren, d.h. sich zu sich selbst verhalten.42 Dass sich dabei dann Verzweiflung einstellt, ist zwar logisch nicht notwendig, ist aber faktisch immer der Fall.43 Allerdings ist man nach Kierkegaards Beobachtung „normalerweise“ gerade nicht der Auffassung, dass jeder Mensch verzweifelt sei. Dies ist nach Kierkegaard kein Zufall. Vielmehr liegt es entscheidend daran, „daß es gerade eine Form von Verzweiflung ist […], nicht sich dessen bewußt zu
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Dies wird bei der Erörterung der einzelnen Gestalten der Verzweiflung deutlich sichtbar werden: Jedes Missverhältnis im Selbstverhältnis impliziert je zwei Missverhältnisse in der Synthesis (siehe unten die Übersicht zum Ende von § 5). 38 Mit den Bestimmungen „nicht angemessenes Verhältnis“, „nicht mehr in dem rechten Verhältnis“ wird Kierkegaards Behauptung, Verzweiflung sei ein Miss-Verhältnis, ernst genommen. 39 Vgl. KT 25ff. Siehe unten § 5.1. 40 Vgl. KT 39ff. Siehe unten § 5.2. 41 KT 18. 42 Vgl. KT 18. Dabei gilt: „[…] ob er verzweifelt, das liegt am Menschen selber“ (KT 11). Verzweiflung ist also nichts, dem der Menschen passiv gegenübersteht oder das über den Menschen hereinbricht. Vgl. dazu KT 169 Anm. 9 mit der früheren Fassung dieses Abschnittes: „[…] dies Mißverhältnis [ist] allezeit etwas zu Verantwortendes […] Ein Mensch kann an Schwindel leiden [Passivität!], aber niemals an Verzweiflung leiden.“ Der Mensch tritt eben selbst in ein Verhältnis zu sich – und ist deshalb auch für das Missverhältnis verantwortlich. Entsprechend behauptet Kierkegaard in „Die Krankheit zum Tode“, dass die Fortdauer des Missverhältnisses, d.h. der Verzweiflung, sich nicht von selbst aus dem Missverhältnis ergibt, sondern jeweils wieder beim Verhältnis selber ihren Anfang nimmt, d.h. darin, dass der Mensch weiter ein Missverhältnis einnimmt. Insofern unterscheidet sich die Verzweiflung als die „Krankheit zum Tode“ von jeder anderen Krankheit, bei der man eben ab einem bestimmten Zeitpunkt krank ist und sich nicht in jedem Moment die Krankheit wieder neu einfängt (vgl. KT 12). 43 Vgl. CAPPELØRN: Am Anfang, 134: Die Verzweiflung ist „nur als eine Möglichkeit in der Synthese angelegt […] Sie ist gerade nicht in und mit der Synthese als eine Wirklichkeit gegeben“. Ähnlich auch H. SCHULZ: To Believe is to Be, 170 Anm. 26.
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sein, daß man es ist“.44 „Nicht verzweifelt sein kann […] gerade verzweifelt sein bedeuten […] Sicherheit und Beruhigung kann verzweifelt sein bedeuten, eben diese Sicherheit, diese Beruhigung kann die Verzweiflung sein“.45 Eine derartige Form von Verzweiflung nennt Kierkegaard „uneigentliche Verzweiflung“; sie ist identisch46 damit, „verzweifelt sich nicht bewußt [zu] sein ein Selbst zu haben“.47 Es gibt allerdings noch ein anderes Nicht-verzweifelt-Sein, nämlich dasjenige des Glaubenden. Der Glaubende ist aus dem Verzweifeltsein „erlöst“:48 „Sicherheit und Beruhigung […] kann [auch] bedeuten Verzweiflung überwunden und Frieden gefunden zu haben.“49 Der Glaubende ist nicht mehr verzweifelt. Er lebt, so könnte man sagen, im Frieden mit sich selbst.50 Was es mit diesem glaubenden, nicht mehr verzweifelten Selbst auf sich hat, soll jetzt in einer ersten Annäherung dargestellt werden. Das glaubende, nicht mehr verzweifelte Selbst will sich nicht mehr loswerden, sondern nimmt sich selbst an. Es ist nicht mehr krank, sondern geheilt.51 Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 1 Das „geheilte“, nicht mehr verzweifelte, das glaubende Selbst will offenbar das Selbst sein, als das es von Gott gesetzt wurde. Das heißt: Es bejaht sich als die Synthese, die Gott gesetzt hat. Darin bejaht es, dass zu seiner Existenz jeweils beide polaren Bedingungen hinzugehören. Was das konkret bedeutet, wird in den nachfolgenden Abschnitten über „Das geheilte Selbst“ deutlich werden. In ihnen wird herausgestellt, was es heißt, die Endlichkeit der eigenen Existenz zu bejahen und ihre Unendlich44
KT 19. Vgl. KT 23: „[…] die meisten Menschen [leben] dahin […] ohne sich so recht dessen bewußt zu werden daß sie bestimmt sind als Geist – und daher denn alle die sogenannte Sicherheit, Zufriedenheit mit dem Leben usw., usw., welches eben Verzweiflung ist“. 45 KT 21. 46 Vgl. KT 39: „Die Verzweiflung, die unwissend ist darüber, daß sie Verzweiflung ist, oder die verzweifelte Unwissenheit, die nicht weiß, daß sie ein Selbst hat, ein ewiges Selbst.“ 47 KT 8. Siehe dazu genauer – wie gesagt – unten § 5.2.1. 48 KT 21. 49 KT 21. Dass die Überwindung der Verzweiflung für den Glaubenden nichts Besitzhaftes ist, sondern sein Zustand „allezeit kritisch“ (KT 21) bleibt, gilt nach wie vor. 50 Diesen Frieden gibt es nur durch Verzweiflung hindurch. Unmittelbar und direkt ist er nicht zu erreichen (vgl. KT 21). Weil nur durch Verzweiflung hindurch Frieden möglich ist, ergibt sich: „Verzweiflung ist […] diejenige Krankheit, von der gilt: es ist das größte Unglück sie nie gehabt zu haben“ (KT 22). 51 Es wird nicht von „gesund“, sondern von „geheilt“ gesprochen, um deutlich zu machen, dass der Mensch die Krankheit nicht aus eigener Kraft überwindet, sondern nur im Glauben an Gott.
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keit bzw. ihre Möglichkeit und ihre Notwendigkeit. Dabei wird erkennbar werden, inwiefern mit der Bejahung insbesondere des Elementes der Endlichkeit auch die konkreten Beschaffenheiten des faktischen Selbst in einer differenzierten Weise bejaht werden.52 Doch es sei zunächst begonnen mit einer Betrachtung desjenigen Menschen, der sich als die Synthese, die Gott gesetzt hat, bejaht. Bei diesem findet das Missverhältnis im Selbstverhältnis ein Ende: Während der Mensch in der Verzweiflung nicht das Selbst sein will, als das er durch Gott gesetzt wurde, oder gar ein anderes Selbst sein will, will er im Glauben aus freien Stücken das Selbst sein, als das er von Gott gesetzt wurde – und kein anderes!53 Man kann sogar pointiert formulieren: Gerade im Glauben will der Mensch er selbst sein!54 Er selbst (im Sinne des von Gott gesetzten Selbst) wollte der verzweifelte Mensch nie sein; er wollte entweder nicht dieses von Gott gesetzte Selbst oder er wollte darüber hinaus ein anderes Selbst sein! Kierkegaard ist offensichtlich der Ansicht, der Mensch müsse aktiv übernehmen,55 eben: anerkennen, bejahen, dass und wie er durch einen anderen gesetzt ist. Darin bejaht er nicht sich allgemein, sondern sich als den von Gott Gesetzten. Er muss dieses von Gott gesetzte Selbst, genauer: die 52
Siehe unten Das geheilte Selbst Teil 8 und Teil 9. Sehr deutlich KT 16: „[…] das Selbst sein wollen, das er [der Mensch] in Wahrheit ist, ist […] das […] Gegenteil von Verzweiflung“. Ähnlich auch EC 151. 54 Vgl. KT 30: „Ein jeder Mensch ist nämlich mit Ursprünglichkeit angelegt als ein Selbst, dazu bestimmt er selbst zu werden“. – Die angebotene pointierte Formulierung ist allerdings etwas missverständlich, weil mit dem „er selbst“ eben das von Gott gesetztes Selbst, nicht aber das faktische Selbst des Menschen gemeint ist. – Die Forderung, der Mensch müsse er selbst sein, ist alt. Bereits Platon meint, der Mensch solle mit sich selbst übereinstimmen: „[…] ich […] bin der Meinung, daß lieber auch meine Lyra verstimmt sein und mißtönen möge […] und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte [evmautw/| avsu,mfwnon ei=nai kai. evnanti,a le,gein].“ (Gorgias 482b+c, Übersetzung: PLATON: Werke in acht Bänden, Bd. 2, 375f) Ähnlich Aristoteles: Der ethisch hochstehende Mensch o`mognwmonei/ e`autw/| (Nikomachische Ethik IX, 1166a 13; im Folgenden zitiert nach ARISTOTELES: Ethica Nicomachea [Oxforder Ausgabe]), während die schlechten Menschen diafe,rontai e`autoi/j (ebd., 1166b 7). Für das 20. Jh. grundlegend diskutiert wird die Möglichkeit des Menschen, er selbst zu sein, dann bei Martin Heidegger: Existenz ist die Möglichkeit des Daseins, „es selbst oder nicht es selbst zu sein“ (HEIDEGGER: Sein und Zeit, 12). Ergreift das Dasein die Möglichkeit, es selbst zu sein, dann existiert es eigentlich; versäumt es sie, so existiert es uneigentlich. Dieses uneigentliche Existieren, diese Verlorenheit an das Man, „kann nur dergestalt rückgängig gemacht werden, daß sich das Dasein eigens aus der Verlorenheit in das Man zurückholt zu ihm selbst. Dieses Zurückholen muß jedoch die Seinsart haben, durch deren Versäumnis das Dasein in die Uneigentlichkeit sich verlor. Das Sichzurückholen aus dem Man, das heißt die existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein muß sich als Nachholen einer Wahl vollziehen. Nachholen der Wahl bedeutet aber Wählen dieser Wahl, Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst. Im Wählen der Wahl ermöglicht sich das Dasein allererst sein eigentliches Seinkönnen.“ (Ebd., 268; Hervorhebung im Original). 55 So explizit KT 53. 53
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von Gott gesetzte Synthese selbst sein wollen. Er muss sich nicht nur zu dieser Synthese verhalten (das tut er ja auch in der Verzweiflung). Er muss sich in einer ganz bestimmten Weise zu ihr verhalten, um nicht verzweifelt zu sein. Er muss sie sein wollen.56 Dass es Kierkegaard tatsächlich nicht nur um das Gesetztsein des menschlichen Selbst zu tun ist, sondern auch um einen bejahenden Akt des Menschen, zeigt sich übrigens bereits auf der ersten Seite des Buches „Die Krankheit zum Tode“. Kierkegaard macht hier deutlich, dass die Erbaulichkeit57 seines Textes eigentlich einen „christlichen Heroismus“ zum Ziel hat: Dieser bestehe darin, „daß man es wagt ganz man selbst zu werden, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch, einsam Gott gegenüber, einsam in dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortlichkeit“.58 Das Verhältnis des Menschen Gott gegenüber ist nach Kierkegaard nicht nur dankbares Empfangen, sondern auch Wagen, Anstrengung, Verantwortung – was sich jeweils im Bejahen des von Gott gesetzten Selbst vollzieht. Es muss noch einmal deutlich herausgestellt werden: Zu bejahen ist nicht nur die Synthese der polaren Existenzbedingungen, sondern auch das Wohlverhältnis der Synthese. Der Glaubende bejaht das Gleichgewicht zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit resp. Möglichkeit und Notwendigkeit. Er bejaht, dass sich kein polares Element auf Kosten des anderen durchsetzen darf. Damit findet das Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthese ein Ende. Mit der Betonung, dass der Glaubende das von Gott gesetzte Selbst bejaht, stellt sich die Frage, in welcher Beziehung Selbstverhältnis und Gottesverhältnis zueinander stehen. Kierkegaard bestimmt deren grundsätzliche Relation folgendermaßen: Das Selbst ist „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und, indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem Andern [sc. zu dem, der es gesetzt hat] sich verhält“.59 Das heißt: In seinem Selbstbezug bezieht sich der Mensch immer auch irgendwie auf Gott.60 Denn: 56 Vgl. GUARDINI: Der Ausgangspunkt, 31: „[…] die Existenz des Selbst [ist] nicht nur daran gebunden, daß ein Akt der Stellungnahme zu sich selbst überhaupt, sondern daß er richtig realisiert, daß der richtige Akt, die richtige Stellungnahme vollzogen werde“. 57 Vgl. KT 1. 58 KT 3. 59 KT 9. Im Dänischen steht (SV 15, 73): „[…] og i at forholde sig til sig selv forholder sig til et Andet“. „at forholde“ ist Infinitiv, so dass man wörtlich übersetzen müsste: „[…] und im SichVerhalten zu sich selbst sich zu einem anderen verhält“. Hirschs Übersetzung mit „indem“ gibt diesen Zusammenhang gut wieder. Ringleben paraphrasiert davon abweichend: „[…] das Selbstverhältnis [verhält] sich nur [!] zu sich […], indem es sich zu dem setzenden Andern verhält“ (RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 76; Hervorhebung im Original). 60 Anders AXT-PISCALAR: Ohnmächtige Freiheit, 208 (Hervorhebung im Original), die „die Lösung der Krisis endlicher Subjektivität“ schon darin sieht, „daß der Mensch […], indem er sich zu sich selbst verhält, zu einem Andern sich verhält“. Dies ist eine Umschreibung dessen, was
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Wenn das Selbst durch Gott gesetzt ist, so verhält sich dieses Selbst im Bezug auf sich selbst mindestens implizit immer auch zu dem, der es gesetzt hat.61 Weil das Selbst sich aber immer zu sich selbst und damit auch („indem“) zum Grund der Synthesis verhält,62 muss der verzweiflungsfreie Zustand, der Glaube, sich offenbar dadurch auszeichnen, dass sich das Selbst in einer ganz bestimmten Weise zu sich selbst und eben darin zu seinem Grund verhält. Ist das Selbst im Zustand des Glaubens, so gilt: „indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst [sich selbst63] durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat“.64 Nur so, immer der Fall ist. Entscheidend für die Lösung der Krisis ist aber das Wie des Verhaltens zu sich selbst und darin des Verhaltens zu Gott (siehe den nächsten Absatz). 61 Vgl. KT 9: „Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Andres gesetzt, so ist das Verhältnis freilich das Dritte, aber dies Verhältnis, dies Dritte, ist dann doch wiederum ein Verhältnis, [denn es] verhält sich zu demjenigen, welches das ganze Verhältnis gesetzt hat.“ 62 Vgl. KT 9. 63 Mit KT 26: „[…] allein dann ist das Selbst gesund und von Verzweiflung frei, wenn es eben dadurch, daß es verzweifelt hat, sich selbst [!] durchsichtig sich gründet in Gott“ (dänisch – SV 15, 88: „sig selv gjennemsigtigt grunder i Gud“). Vgl. auch die Übersetzung von H. Gottsched und Ch. Schrempf: KIERKEGAARD: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus. Hg.v. S. Kierkegaard. Kopenhagen 1849, übers. von H. Gottsched/Ch. Schrempf, 1938 (= KTGS), 11: „[…] indem es zu sich selbst sich verhaltend es selbst sein will, gründet sich das Selbst sich selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte“. Schrempf macht allerdings in seinem Nachwort deutlich, dass das „sich selbst“ zum besseren Verständnis von ihm eingetragen ist (KTGS 132). Vgl. aber die nächste Anmerkung. Zur Problematik der die Texte Kierkegaards identitätsphilosophisch verkürzenden Schrempf-Übersetzung insgesamt vgl. REST: Die kontroverstheologische Relevanz, 163ff. 64 KT 10; im Dänischen (SV 15, 74): „[…] i at forholde sig til sig selv, og i at ville være sig selv grunder Selvet gjennemsigtigt i den Magt, som satte det.“ Wörtlich wäre zu übersetzen: „gründet das Selbst durchsichtig in der Macht“ (so DIETZ: Sören Kierkegaard, 124 Anm. 80; vgl. auch REST: Die kontroverstheologische Relevanz, 164f). Ringleben macht deutlich, dass Hirschs Übersetzung „gründet sich das Selbst“ dennoch angemessen ist, „weil es sich um selbsthaftes Gründen in Gott […] handelt, das (als Glauben) von einem objektiv bestehenden Begründungsverhältnis zu unterscheiden ist“ (RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 89 Anm. 103). Die Formulierung, dass der Glaubende Gott als seinen Grund bejahe (siehe sogleich oben im Text), versucht dies in angemessener, unmissverständlicher Weise zur Geltung zu bringen. – Vgl. KT 47: „[…] ebendies ist […] die Formel für den Glauben: indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.“ (SV 15, 105: „[…] dette Samme er […] Formelen for at troe: i at forholde sig til sig selv og i at ville være sig selv grunder Selvet gjennemsigtigt i den Magt, som satte det.“) Vgl. auch den Schluss des ganzen Buches KT 134: „[…] die Formel für den Zustand […], in dem schlechterdings keine Verzweiflung ist: indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst [sich selbst] durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat. Eine Formel, die wiederum […] die Definition ist für Glaube.“ (SV 15, 180: „[…] Formelen for den Tilstand, hvori der slet ingen Fortvivlelse er: i at forholde sig til sig selv og i at ville være sig selv grunder Selvet gjennemsigtigt i den Magt, som satte det. Hvilken Formel igjen […] er Definitionen paa Tro.“) Vgl. auch die analoge Formulierung KT 81: „Glaube ist: daß das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig sich gründet in Gott.“ (SV 15, 136: „Tro er: at Selvet i at være sig selv og i at ville være sig selv gjennemsigtigt grunder i Gud.“).
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meint Kierkegaard, kommt das Selbst „zu Gleichgewicht und Ruhe“.65 Auch – und gerade! – im Glauben also verhält sich der Mensch zu sich selbst und will er etwas sein, aber eben das Selbst, als das er von Gott gesetzt ist. Genau darin („i at forholde“66) bejaht das glaubende Selbst Gott als seinen Grund, bejaht es sein Gesetztsein durch Gott, d.h. „gründet sich […] in der Macht, welche es gesetzt hat“. Der Glaube ist es also, in dem der Mensch sein Gesetztsein durch Gott bejaht, und zwar indem er das von Gott gesetzte Selbst sein will.67 Kierkegaards Verständnis von Glauben in „Die Krankheit zum Tode“ ist mithin nicht schon dadurch umfassend beschrieben, dass man kontextfrei darauf abhebt, das Selbst müsse sich in Gott gründen. Vielmehr vollzieht sich das Sich-in-Gott-Gründen nur in einem bestimmten Selbstverhältnis: nämlich in demjenigen, das von Gott gesetzte Selbst sein zu wollen. Es kann festgehalten werden: Im Glauben vollzieht sich eine fundamentale Bejahung. Der Mensch bejaht die Synthese, als die er gesetzt ist, d.h. er bejaht, dass seine Existenz durch Endlichkeit und Unendlichkeit, durch Notwendigkeit und Möglichkeit bestimmt ist. Und zwar bejaht er dies derart, dass sich ein polares Element nicht auf Kosten des anderen durchsetzt, sondern die Elemente der Synthese in einem Wohlverhältnis sind. Genau darin bejaht er sein Gesetztsein durch Gott und Gott als Grund seiner Existenzbedingungen. Dieses Bejahen ist ein existentielles, das ein Existieren in Entsprechung zu diesem „Ja“ einschließt. Für Kierkegaard ist dies – indem man sich selbst bejaht, Gott als Grund zu bejahen – die Definition,68 die Formel69 für den Glauben. Das aber bedeutet: Die Selbstbejahung gehört zum Glauben wesentlich hinzu. Und jemand, der sie nicht vollzieht, glaubt nicht. Im Glauben aber lebt der Mensch in Entsprechung zu den Bedingungen seiner Existenz. Im Glauben wird der Mensch mit seinem wahren Selbst identisch. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Forderung nach Glauben als der menschlichen Existenz nicht fremdartig aufgepfropft, sondern vielmehr als ihren eigenen Bedingungen entsprechend. Kierkegaard spricht in dem oben zitierten Satz noch von einem „Durchsichtigsein“ im Glauben. Auf die Bedeutung dieses Durchsichtigseins wird ausführlicher eingegangen, wenn die Gestalten der Verzweiflung genauer vor Augen stehen und abschließend das Verhältnis von Glauben und Sünde
65
KT 9. Siehe oben Anm. 59. 67 Das zeigt sich auch im noch darzustellenden Bezug der einzelnen polaren Elemente auf den Gottesbegriff. 68 KT 134. 69 KT 47. 66
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beschrieben wird.70 Dann nämlich erst wird einsichtig werden können, wie Durchsichtigsein und Gottesbewusstsein zusammenhängen. Zunächst wird aus Kierkegaards Beschreibung der Gestalten der Verzweiflung herausgearbeitet, wie die im Glauben sich vollziehende Bejahung und „Selbstannahme“ genauer gedacht werden muss. Was der präzise Gegenstand dieses Glaubens ist, kann – wie auch das eben genannte Durchsichtigsein – geklärt werden, wenn der Glaube in seinem Gegensatz zur Sünde dargestellt wird.71 Vorgreifend werden aber bereits jetzt einige Einsichten über den Glaubensgegenstand verwandt, um zu zeigen, warum im Glauben Selbstannahme geschieht.
70 71
Siehe unten Das geheilte Selbst Teil 10. Siehe unten § 6.1.
§ 5 Die Gestalten der Verzweiflung Kierkegaard beschreibt die verschiedenen Gestalten der Verzweiflung, indem er an dem einen Phänomen der Verzweiflung unterschiedliche Aspekte herausstellt.1 Das Einheitliche dieses Phänomens wurde ja bereits gezeigt: Jede Verzweiflung ist immer ein Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis und ein Missverhältnis im Selbstverhältnis. Für die Betrachtung der Gestalten der Verzweiflung trennt Kierkegaard diese zusammenhängenden Größen. Es ist eine Trennung in intellectu, nicht in re. Der erste Aspekt jeder Verzweiflung wird dadurch herausgestellt, dass Kierkegaard Verzweiflung „auf die Art betrachtet, daß nicht darauf reflektiert wird, ob sie bewußt ist oder nicht, so daß also lediglich auf die Momente der Synthesis reflektiert wird“2 und nur das Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis im Blick ist. Der zweite Aspekt jeder Verzweiflung wird dadurch expliziert, dass Kierkegaard Verzweiflung „unter der Bestimmung Bewußtsein“3 betrachtet, d.h. danach fragt, „ob die Verzweiflung bewußt ist oder nicht“4 und wie sehr das verzweifelte Selbst sich seiner selbst bewusst ist. Da Selbstbewusstsein immer Selbstbezug meint, kann unter dieser Perspektive das Missverhältnis im Selbstverhältnis thematisch gemacht werden. Weil es sich um unterschiedliche Aspekte jeder Verzweiflung handelt, ist bei dem zuerst genannten Aspekt nicht impliziert, dass das Selbst hier von vornherein sich „seiner selbst wenig oder nicht bewußt ist“.5 Es ist Kierkegaard, der in der Analyse des Missverhältnisses zwischen den Elementen der Synthesis vom Selbstbewusstsein des Verzweifelten absieht, der davon absieht, welches Selbstbewusstsein das verzweifelte Selbst jeweils hat.6 Es wird sich – trotz dieser methodischen Trennung der Aspekte – zeigen lassen, wie die beiden Aspekte der Verzweiflung jeweils konkret zusammenhängen.
1 Zum Verhältnis von Kierkegaards Verzweiflungsgestalten zur Hegelschen Phänomenologie des Geistes vgl. GRØN: Kierkegaards Phänomenologie?, bes. 109ff; STEWART: Kierkegaard’s Phenomenology. 2 KT 25; vgl. KT 25ff. 3 KT 39; vgl. KT 39ff. 4 KT 25. 5 LIESSMANN: Kierkegaard, 130. 6 Vgl. Kierkegaards Formulierungen „Verzweiflung auf die Art betrachtet [!], daß […]“ (KT 25) und „Verzweiflung gesehen […]“ (KT 39).
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1. Das Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis Bei seiner Reflexion auf das Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis betrachtet Kierkegaard 1. das Missverhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit7 und 2. das Missverhältnis zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit.8 1.1 Das Missverhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit Es wurde bereits herausgestellt, dass Kierkegaard das Selbst als eine gesetzte Synthesis aus Endlichkeit und Unendlichkeit versteht, die in einem Verhältnis zu sich selbst steht: „Das Selbst ist die bewußte Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, die sich zu sich selbst verhält“.9 Diese Synthese hat beim Zu-sich-selbst-Verhalten, wie auch bereits notiert wurde, eine bestimmte „Aufgabe“, eben die, „sie selbst zu werden“.10 Sie hat die Aufgabe, etwas zu werden, und zwar sie selbst. Kierkegaard nennt dieses Werden von bzw. zu dem, was man „ist“ (d.h. – wie eben gezeigt werden konnte – als was man gesetzt ist), „konkret werden“.11 Hier, im Fall der Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit, bedeutet das Konkret-Werden, den allgemeinen Existenzbedingungen von Endlichkeit und Unendlichkeit in der eigenen Existenz zu genügen, und zwar so, dass sie in einem Wohlverhältnis zueinander stehen.12 Wenn das Selbst sich stattdessen auf die eine Seite der Synthese reduziert, wenn es also beispielsweise nur in der Unendlichkeit existiert oder existieren will, dann entsteht ein Missverhältnis in der Synthesis, weil die Endlichkeit fehlt:13 „ein jeder Augenblick, in dem eine menschliche Existenz vermeintlich unendlich geworden ist oder bloß es sein möchte, ist Verzweiflung“;14 Kierkegaard nennt sie die „Verzweiflung der Unendlichkeit“.15 Was ist gemeint? 7
Vgl. KT 25–32. Vgl. KT 32–39. 9 KT 25. 10 KT 25. Zum freien Sie-selbst-Werden der Synthesis, das genau die Spannung zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit des Selbstseins bezeichnet, siehe genauer § 5.1.2. 11 KT 26. 12 Vgl. KT 26. 13 Es sind durchaus auch Zwischenstufen denkbar, bei denen ein Mensch mehr in der Unendlichkeit lebt und weniger in der Endlichkeit. Auch diese sind Verzweiflung, da kein Wohlverhältnis herrscht. 14 KT 26. 15 KT 26. 8
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Zunächst sei geklärt, was Endlichkeit bedeutet. Endlichkeit meint die endlichen Bedingungen menschlicher Existenz. Dieses sind: die (positiven wie negativen) Fähigkeiten und Anlagen des Selbst und die konkreten Verhältnisse, in denen es lebt. Die Endlichkeit des Selbst bedeutet, dass das Selbst „dies durchaus Bestimmte [ist], mit diesen Fähigkeiten, Anlagen usf., innerhalb dieser konkreten Verhältnisse usf.“.16 Es fällt auf, dass bisherige Interpreten dieser Textstelle die zitierte Aufzählung nicht mit der Endlichkeit, sondern vielmehr mit der Notwendigkeit identifiziert haben,17 lautet der Anfang des Zitates vollständig doch so: „Sein konkretes Selbst oder seine Konkretheit hat ja Notwendigkeit und Grenze, ist dies durchaus Bestimmte […]“. Bisher wurde die sich an „ist dies“ anschließende Aufzählung als Explikation dessen verstanden, was es heißt, dass das Selbst Notwendigkeit habe. Weil aber zum konkreten Selbst, d.h. zu dem Selbst, das es selbst im Sinne der von Gott gesetzten zweifachen Synthese geworden ist, sowohl Notwendigkeit als auch Endlichkeit gehört, kann „dies durchaus Bestimmte, mit diesen Fähigkeiten, Anlagen […]“ auch auf die Endlichkeit bezogen werden. Dann ist zu lesen: „Sein konkretes Selbst […] hat ja Notwendigkeit [… und] ist dies durchaus Bestimmte“. Für die hier vorgeschlagene Interpretation spricht einiges: Erstens sind die Fähigkeiten und Anlagen des Menschen und die konkreten Verhältnisse, in denen er lebt, das, was man spontan unter den Begriff Endlichkeit subsumieren würde. Zweitens ist kaum einzusehen, wieso die Fähigkeiten und Verhältnisse des Menschen, sein Faktisches, für ihn etwas Notwendiges sein sollten.18 Drittens wird bei den Autoren, die die genannte Aufzählung mit dem Begriff der Notwendigkeit identifizieren, der Unterschied zwischen Endlichkeit und Notwendigkeit fast völlig eingeebnet. Die Synthese Unendlichkeit/Endlichkeit und die Synthese Möglichkeit/Notwendigkeit bezeichnen dann beinahe dasselbe.19 Die Differenz zwischen beiden Synthesen ist aber nicht nur bedeutsam, sondern durchaus entscheidend.20 Und viertens hat die Nicht-Gleichsetzung dadurch eine 16
KT 68. Kierkegaard betont, dass das Selbst seine Fähigkeiten von Gott hat (vgl. KT 43). So zum Beispiel THEUNISSEN: Das Selbst, 43: Die Notwendigkeit bezeichne „das Sein des Menschen in bezug auf dessen Herkunft“, „sein vorgegebenes Dasein und seine Lebensgeschichte“, die „ihn festlegen“. Vgl. auch H. SCHULZ: To Believe is to Be, 178: „[…] the category of ‚necessity‘ actually covers the whole range of objects which could be conceived of and experienced as the opposite of the self’s freedom.“ 18 So behauptet das SLØK: Die Anthropologie Kierkegaards, 45f. Er kommt zu der fast fatalistischen Behauptung, auch etwas, was der Mensch an sich nicht leiden könne, sei „eine Notwendigkeit […], die Gott gesetzt hat“ (ebd., 46). Allerdings kann Gott, aber nur er, sie auch wieder aufheben (ebd.). 19 Siehe zum Beispiel unten Anm. 66. 20 Siehe unten § 5.1.2. 17
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Rechtfertigung am Text, dass Kierkegaard davon spricht, das konkrete Selbst habe Notwendigkeit21 (dänisch: har […] Nødvendighed), aber sei dies Bestimmte (dänisch: er dette ganske Bestemte22). Ist die proponierte Lesart richtig, dann kann etwas kürzer formuliert werden: Der Begriff der Endlichkeit bezeichnet die faktischen Eigenschaften und Umstände des Selbst. Sie sind insofern etwas „Begrenzendes“,23 als menschliche Existenz sich immer mit und in ihnen vollzieht. Gleichwohl gehört zur menschlichen Existenz auch Unendlichkeit. Kierkegaard sagt, sie sei etwas „Ausweitendes“,24 d.h. etwas dieses Begrenzende Verschiebendes. Die Verschiebung der Begrenzungen geschieht mittels der Phantasie.25 Die Phantasie eröffnet, was jenseits der bisherigen Begrenzungen liegt. Denn die Phantasie hebt den Menschen über das Endliche hinaus.26 In der Phantasie kann der Mensch sich anderes als das, was bereits der Fall ist, vorstellen. So kann er anderes fühlen, denken und wollen als das, was seine konkreten Beschaffenheiten und Umstände hergeben.27 Weil durch die Phantasie das Begrenzende verschoben wird, wird der bisherige äußere Rahmen der menschlichen Existenz mit ihr durchbrochen. Der Blick wendet sich weg von den tatsächlichen Beschaffenheiten und Umständen des Selbst, weg vom bisherigen Status Quo. Pläne können geschmiedet, Vorhaben können entwickelt werden. Derart ist – so kann gefolgert werden – Veränderung der Umstände, aber auch Veränderung der eigenen Beschaffenheiten möglich! Wenn aber die an sich gute Phantasie des Menschen das Begrenzende nicht nur verschiebt, sondern gar kein Begrenzendes mehr kennen will, wenn sie sich völlig vom Endlichen, vom Faktischen des Menschen löst, dann wird die Leistung der Phantasie zu etwas „Phantastischem“,28 in dem
21
Zur Bedeutung der „Notwendigkeit“ siehe unten § 5.1.2. SV 15, 122. 23 Vgl. KT 26 – dänisch: Begrændsende (SV 15, 88). Davon wird im Folgenden Kierkegaards Verwendung des Begriffs „Grenze“ als einer stärker inneren, strukturellen Grenze im Selbstwerdeprozess unterschieden (dänisch: Grændse, zum Beispiel SV 15, 94); siehe unten § 5.1.2. 24 Vgl. KT 26. Vgl. FAHRENBACH: Kierkegaards ethische Existenzanalyse, 223: „Unendlichkeit meint hier zunächst nichts weiter als die nicht-endliche, d.h. die durch die realen Gegebenheiten nicht bestimmte Seinsmöglichkeit der menschlichen Existenz.“ – Zu einer noch etwas anderen Bestimmung der Unendlichkeit siehe unten unter der Beschreibung der Verzweiflung der Endlichkeit. 25 Vgl. KT 27. Vgl. KT 27: „Die Phantasie ist die unendlichmachende Reflexion“. Vgl. zu Kierkegaards Phantasiebegriff insgesamt FERREIRA: Transforming Vision. 26 Vgl. KT 27. 27 Vgl. KT 27. 28 Vgl. KT 26. 22
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sich das Selbst verläuft. Die befruchtende Wirkung der Phantasie für das Selbst bleibt so aus.29 Es tritt Verzweiflung der Unendlichkeit30 ein. Dieses Sich-Verlieren im Phantastischen ist in Bezug auf Gefühl, Erkenntnis und Willen möglich. Ein phantastisches Gefühl bezieht sich nicht auf konkrete Beschaffenheiten und Umstände, sondern ist „abstrakte Empfindsamkeit“.31 Phantastische Erkenntnis ist zwar Anwachsen von Erkenntnis, aber von Erkenntnis, die nicht auf das faktische Selbst mit seinen Beschaffenheiten und Umständen zurückbezogen wird und deshalb für die Selbsterkenntnis nichts austrägt.32 Ein phantastischer Wille schließlich gewinnt zwar beständig neue Vorsätze und Entschlüsse, vermag diese aber nicht auf die Aufgaben im Hier und Jetzt anzuwenden, die immer nur im Horizont der Fähigkeit des Menschen und in den konkreten Verhältnissen zu bewältigen sind.33 Indem der Mensch damit ein Element der Synthesis abweist, verliert er, so sagt Kierkegaard, „sich selbst“.34 Die Gefahr eines solchen Selbstverlustes im Phantastischen kann sich nach Kierkegaard auch – das darf nicht unterschlagen werden – durch das Gottesverhältnis des Menschen einstellen. Das „Gottesverhältnis ist Verunendlichung“.35 Im Glauben entfernt sich der Mensch von den endlichen Bedingungen seiner Existenz;36 Glaube ist insofern Phantasie. „[…] aber diese Verunendlichung kann einen Menschen phantastisch derart hinreißen, daß sie lediglich ein Rausch wird.“37 Wenn die Verunendlichung, die sich durch das Gottesverhältnis ereignet, nicht zurückgebunden wird an die konkrete Endlichkeit des Selbst, seine konkreten Beschaffenheiten und Umstände, dann entfernt sich der Mensch im Gottesverhältnis von sich selbst.38 Ein derartiges Gottesverhältnis ist nach Kierkegaard nicht erstrebenswert – ist doch die „größte Gefahr […] die[,] sich selbst zu verlieren“.39 29 Vgl. KT 27: „Das Phantastische ist […] dasjenige, was einen Menschen dergestalt ins Unendliche hinausführt, daß es ihn lediglich von ihm selber fortführt und ihn dadurch abhält zu sich selbst zurückzukehren.“ Eine eindrückliche Beschreibung dieses Vorgangs gibt JANKE: Historische Dialektik, 407f. Anschaulich auch die Umschreibung von GUARDINI: Die Annahme, 14: „Bis zu einem gewissen Punkt ist das alles [das Treiben der Phantasie] ja unschuldig; man erholt sich darin vom Selber-Sein. Von da ab wird es aber zur Gefahr, sich selber wegzulaufen.“ 30 Vgl. KT 26. 31 Übersetzung CAPPELØRN: Am Anfang, 138f, in Korrektur von Hirschs Übersetzung KT 27. 32 Vgl. KT 27f. 33 Vgl. KT 28. 34 KT 29. 35 KT 28. 36 Siehe dazu Das geheilte Selbst Teil 6. 37 KT 28. 38 Der Mensch hat dann nach Kierkegaard den Eindruck, als ob es unerträglich wäre, für Gott da zu sein – nämlich immer, wenn es ihm nicht gelingt, in dieser Verunendlichung nun auch endlich zu werden, d.h. „zu sich selbst zurückzukehren, er selber zu werden“ (KT 28). 39 KT 29.
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Wichtige Konsequenz daraus ist, dass sich nach Kierkegaard durch das Gottesverhältnis offensichtlich nicht automatisch ein rechtes Selbstverhältnis einstellt. Zwar lässt sich die „Aufgabe“ der Synthesis, „sie selbst zu werden“, „nur vollbringen […] durch das Verhältnis zu Gott“.40 Aber sie ist nicht schon durch das Verhältnis zu Gott vollbracht. Vielmehr muss das Gottesverhältnis in einen Bezug zu den konkreten Beschaffenheiten und Umständen des Menschen gesetzt werden. Nur dann verliert sich der Mensch nicht im Gottesverhältnis, sondern ist das Gottesverhältnis für das Selbstsein des Menschen zuträglich.41 Der Mensch verliert nach Kierkegaards Überzeugung aber nicht nur dann sein Selbst, wenn er die Endlichkeit um der Unendlichkeit willen vernachlässigt, sondern auch dann, wenn er die Unendlichkeit um der Endlichkeit willen übergeht und nur in der Endlichkeit leben will.42 Auch hier tritt ein Missverhältnis in der Synthesis auf; denn es ist ebenfalls ein Missverhältnis, „sich selbst verloren zu haben […] nicht vermöge einer Verflüchtigung in das Unendliche, sondern damit daß man ganz und gar verendlicht wird, daß man anstatt ein Selbst zu sein eine Zahl geworden ist, ein Mensch mehr, eine Wiederholung mehr dieses ewigen Einerlei“.43 Kierkegaard nennt dieses Missverhältnis Verzweiflung der Endlichkeit.44 Worin besteht sie? Es muss noch einmal das Wesen der Unendlichkeit bedacht werden. Unendlichkeit bedeutet nach Kierkegaard nicht nur, dass der Mensch sich durch seine Phantasie von den konkreten gegenwärtigen Umständen lösen kann, sondern bedeutet auch, dass er seinen Ursprung im Unendlichen hat, weil er durch Gott gesetzt ist – und zwar als besonderes, originelles Selbst.45 Seine Endlichkeit ist als eine originelle qualifiziert. Der Mensch ist nicht mit einem anderen Endlichen identisch – so als ob er einfach als Vervielfältigung eines anderen Menschen angesehen werden könnte. Er hat, wie Kierkegaard in einem eindrücklichen Bild beschreibt, als Ich Kanten, die – in seiner Existenz im Endlichen – zwar zugeschliffen, also auf eine be40
KT 25f. Es ist deshalb wohl verkürzend, wenn RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 20, zusammenfassend formuliert, Kierkegaard verstehe Verzweiflung „als ein Selbstverhältnis […], dessen Verkehrung in einem mißlingenden bzw. abgewehrten (konstitutionellen) Gottesverhältnis bzw. Ewigkeitsbezug gründet“. Ähnlich ebd., 212, Verzweiflung sei insgesamt „ein verzweifeltes Ansich-Festhalten des Zeitlichen als solchen, ein Verstellen des Ewigkeitsbezuges durch das zeitliche Selbst“ und „das verzweifelte Sichbehaupten des Zeitlichen gegen die Ewigkeit“, ein „verzweifeltes Zeitlich-sein-Wollen und verzweifeltes Nichts-als-zeitlich-sein-Wollen“. Dagegen wird hier behauptet, dass man auf beiden Seiten vom Pferd fallen kann. 42 Selbstverständlich sind auch hier Zwischenstufen denkbar. 43 KT 29f. 44 Vgl. KT 29. 45 Vgl. KT 30. 41
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stimmte Form gebracht werden müssen, die aber nicht abgeschliffen, also jeglichen Profils beraubt werden dürfen.46 Denn gerade diese Kanten gehören zu seiner von Gott gewollten, „wesentlicheren Zufälligkeit“.47 Solche Originalität geht aber verloren, wenn der Mensch es „aus Menschenfurcht“ vorzieht – weil es „leichter und sicherer“ zu sein scheint –, „so zu sein wie die andern, eine Nachäffung zu werden, eine Ziffer zu werden, mit in der Menge“.48 Damit negiert er seine Phantasie, die ihm helfen könnte, sich von der Menge zu unterscheiden und nicht einfach das Imitat eines anderen zu sein. Auch das ist ein Missverhältnis in der Synthesis, eben Verzweiflung der Endlichkeit. Diese Verzweiflung, in der der Mensch vergisst, dass er etwas Besonderes ist,49 ist eine, die „einem das Leben bequem und behaglich macht“.50 Sie speist sich aus der Angst davor, etwas zu wagen, „[w]eil man dabei verlieren kann“.51 Wer seine Originalität nicht zu leben wagt, weist ein Element der Synthesis ab und verliert auch so, wie Kierkegaard sagt, „sich selbst“.52 Sowohl in der Verzweiflung der Unendlichkeit als auch in der Verzweiflung der Endlichkeit verliert der Mensch, so wurde gezeigt, „sich selbst“ in dem Sinne, dass der Mensch jeweils ein Element der Synthesis, eine Bedingung seiner Existenz, negiert. In beiden Formen der Verzweiflung will der Mensch nicht das von Gott gesetzte Selbst sein.53
46 Vgl. KT 30: „Ein jeder Mensch ist nämlich mit Ursprünglichkeit angelegt als ein Selbst, dazu bestimmt er selbst zu werden; und freilich ist ein jedes Selbst als solches voller Kanten, doch daraus folgt nur, daß es zugeschliffen, nicht daß es abgeschliffen werden soll, nicht daß es aus Menschenfurcht es ganz aufgeben soll es selbst zu sein“. 47 KT 30. 48 KT 30. Vgl. KT 31f: Viele Menschen verschreiben sich der Welt: „Sie brauchen ihre Fähigkeiten, sammeln Geld und Gut, treiben weltliche Geschäfte, rechnen klug, usw. usw., werden vielleicht genannt in der Geschichte, aber sie selbst sind sie nicht, sie haben, geistig verstanden [d.h. wenn man das Selbst im Sinne einer sich zu sich selbst verhaltenden Synthese versteht; CT], kein Selbst, kein Selbst um des willen sie alles wagen würden, kein Selbst vor Gott – wie selbstisch sie auch im übrigen sein mögen.“ (Egoismus und das Selbstsein vor Gott sind also wohl zu unterscheiden.) Vgl. Martin Heideggers Rede vom Man (HEIDEGGER: Sein und Zeit, 126–130). 49 Eine Ahnung seiner Originalität und Besonderheit kann jeder Mensch haben. Ein Mensch, der nichts von der Botschaft des Christentums weiß, kann nur nicht erkennen, dass er durch Gott als dieses besondere Selbst gesetzt ist. 50 KT 30. 51 KT 31. 52 KT 31. 53 Diese Bemerkung ist kein Widerspruch zu der bisherigen Behauptung, Kierkegaard sehe bei der Beschreibung des Missverhältnisses zwischen den Elementen der Synthesis vom Missverhältnis im Selbstverhältnis gerade ab. Denn mehr als dies, dass der Mensch hier nicht das von Gott gesetzte Selbst sein will (was oben als Formel für alle Verzweiflung herausgestellt wurde und was auch gilt, wenn der Mensch darüber hinaus ein anderes Selbst sein will, was also unabhängig von der konkreten selbstbewusstseinsabhängigen Form des Sich-Verhaltens zur Synthesis gilt), wurde nicht behauptet.
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Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 2 Ist im Glauben die Verzweiflung überwunden, dann bedeutet dies, dass sich beim geheilten, sich selbst annehmenden Selbst 1) nicht seine Endlichkeit auf Kosten der Unendlichkeit und 2) nicht seine Unendlichkeit auf Kosten der Endlichkeit durchsetzt. Die Elemente der Synthese zerreißen den Menschen nicht mehr, sondern werden zu einer konstruktiven Einheit. „Gesundheit ist […], daß man Widersprüche lösen kann.“54 Ad 1) Der glaubende Mensch lebt in konkreten Beschaffenheiten und Umständen. Er identifiziert sich mit ihnen aber nicht so, dass er „im Handel und Wandel“ der Welt „abgeschliffen wie ein rollender Kiesel, kursfähig wie eine gangbare Münze“55 wird. Im Glauben begreift und akzeptiert der Mensch nämlich, wie wichtig seine Individualität ist, wie besonders jeder Mensch ist. Er ist nicht die Wiederholung eines anderen Menschen, sondern ein originelles Selbst. Warum begreift und akzeptiert der Mensch das im Glauben? Der Glaube besteht – wie noch deutlich werden wird56 – wesentlich darin, dass der Mensch in einem persönlichen Verhältnis zu Gott, mit Gott „auf vertrautestem Fuße“57 lebt. Dass Gott mit jedem einzelnen Menschen ein persönliches Verhältnis haben will, zeigt nun aber die fundamentale Bedeutung der Individualität und Besonderheit des Menschen. Im Glauben begreift und akzeptiert der Mensch seine Besonderheit und Individualität, weil er begreift und akzeptiert, wie wichtig er selbst als individueller Mensch für Gott ist. Deshalb kann er es wagen, zu seiner endlichen Originalität zu stehen und sich von der Menge als individuelles Selbst zu unterscheiden. Er hat den Mut, er „selbst zu sein in jener seiner wesentlicheren Zufälligkeit“.58 Dass es für diesen Mut, ein besonderes, originelles Selbst zu sein, auch der Phantasie bedarf, um Vorstellungen davon zu entwickeln, wie ein Leben außerhalb der „Menge“ aussehen kann, liegt auf der Hand. Im Glauben entfaltet sich die Phantasie des Menschen. Denn der Glaube richtet sich auf Gott, bei dem alles möglich ist.59 Dass bei Gott alles möglich ist, bedeutet – so wird gleich klar werden60 –, dass Gott dem Menschen eine existentielle Freiheit schenkt: In jeder Situation eröffnet er dem Menschen die Möglichkeit, in Freiheit selber etwas zu werden. Diese existentielle Freiheit beflügelt die Phantasie des Glaubenden. Er fühlt sich 54
KT 37. KT 30. 56 Siehe unten § 6. 57 KT 84. 58 KT 30. 59 Vgl. KT 35. 60 Siehe unten Das geheilte Selbst Teil 3. 55
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durch seine Umstände und Beschaffenheiten nicht mehr erdrückt. Deshalb seine Umstände und Beschaffenheiten nicht mehr erdrückt. Deshalb vermag er sich ihnen gegenüber aktiv zu verhalten, sie zu gestalten. Ad 2) Damit sich der Glaubende aber in seiner Phantasie nicht verliert, muss die Phantasie immer wieder an seine konkrete Existenz zurückgebunden werden. Dies geschieht dadurch, dass im Glauben das durch die Phantasie mögliche Sich-Entfernen von den eigenen Umständen und Beschaffenheiten nicht zu einem Vor-sich-selbst-Weglaufen wird, weil der Mensch im Glauben seine konkrete Endlichkeit in einem differenzierten Sinne zu bejahen lernt.61 Das durch die Phantasie ausgeweitete Gefühl des Glaubenden bezieht sich immer auf seine konkreten Beschaffenheiten und Umstände. Seine durch die Phantasie ausgeweitete Erkenntnis bleibt auf sein faktisches Selbst bezogen. Und sein durch die Phantasie ausgeweiteter Wille orientiert sich an den konkreten Aufgaben im Hier und Jetzt.62 Wichtig ist dabei: Das Dass der Endlichkeit bejaht man nur dadurch, dass man ihr Wie bejaht! Wer sagt: „Ich bin zwar endlich – und das akzeptiere ich auch –, aber das Wie dieser Endlichkeit interessiert mich nicht“, der erkennt seine Endlichkeit gerade nicht an. Zu diesem ad 1) und ad 2) beschriebenen Wohlverhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit, zu der gelungenen Synthese, bedarf es nach Kierkegaard einer „Doppelbewegung“,63 nämlich der, „daß man unendlich von sich selber loskommt in Verunendlichung des Selbsts, und daß man unendlich zu sich selber zurückkehrt in der Verendlichung“.64 Der Mensch kann beispielsweise die allernächste Aufgabe nur deshalb erfolgreich ausführen, weil er in der Distanz zu dem vermeintlich Vordringlichsten eine über die beschränkte, kleine Situation hinaus weiterführende Perspektive für sein Handeln finden konnte. Nur ein derartiges Handeln ist wirklich gestaltend; 61
Siehe unten Das geheilte Selbst Teil 8 und 9. Vgl. dazu THEUNISSEN/GREVE: Materialien, 48f (Hervorhebung im Original): „Das Mögliche bedeutet nicht länger den grenzenlosen Bereich des Phantastischen, sondern ist jetzt das eingeschränkte Feld des mir Möglichen, des in meiner Existenz Realisierbaren und gemäß dem Willen Gottes zu Realisierenden.“ 63 Vgl. THEUNISSEN: `O aivtw/n lamba,nei, 346. Diese „Doppelbewegung“ ist für Theunissen die „Schlüsselfigur des Kierkegaardschen Denkens überhaupt“ (ebd.). Sie bedeutet nicht: in der größten Entfernung von sich selbst sich am nächsten zu kommen. So interpretiert aber RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 145 (Hervorhebung von mir): Das Selbst gewinnt im Gottesverhältnis unendlichen Abstand zu sich selbst. „Sofern es sich aber in Gott als es selbst begründet weiß, ist es gerade in solcher Unendlichkeit, in Gott wieder ganz bei sich, zu sich zurückgekehrt.“ Ringleben schlägt ebd., 145 Anm. 221 vor, dies mit Luthers Rede vom nicht in sich selbst lebenden Christenmenschen zu vergleichen, der durch den Glauben in Christus und durch die Liebe im Nächsten lebt (vgl. LUTHER: De libertate Christiana, 305,12–16). Aber: Kierkegaard denkt eine Doppelbewegung (siehe dazu auch Das geheilte Selbst Teil 9) – was Luther nicht tut, wenn er den Glaubenden bei Gott zu sich selbst kommen lässt. 64 KT 26. 62
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wer sich von den gegenwärtigen Aufgaben verschlingen lässt, kann sie nicht kreativ bewältigen. Wer aber eine weiterführende Perspektive gewonnen hat, muss dann65 wieder zur konkreten Endlichkeit, zu den konkret zu verändernden Umständen zurückkehren, in denen jene umgesetzt werden muss; sonst kommen seine tiefsten und weitestreichenden Pläne nicht zum Ziel. 1.2 Das Missverhältnis zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit Das Selbst des Menschen ist für Kierkegaard aber nicht nur eine sich zu sich selbst verhaltende Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit, sondern auch, wie bereits erwähnt, eine sich zu sich selbst verhaltende Synthese aus Möglichkeit und Notwendigkeit.66 Auch unter dieser Bestimmung betrachtet, ist das Selbst des Menschen genau dann verzweifelt, wenn sich ein Element der Synthese auf Kosten des anderen durchsetzt. Zunächst muss geklärt werden, was mit der Synthese aus Möglichkeit und Notwendigkeit gemeint ist. Es wurde schon gesagt: Gott setzt den Menschen als gelungene Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit. So betrachtet ist der Mensch aber noch kein wirkliches Selbst, sondern nur ein potentielles Selbst. Das „wirkliche“ Selbst zeichnet sich durch die „Einheit von Möglichkeit und Notwendigkeit“67 aus. Der Mensch ist nur dann ein „wirkliches“ Selbst und ist also nur dann wirklich er selbst, wenn er eine gelungene Synthese aus Möglichkeit und Notwendigkeit ist. Diesen Zusammenhang umschreibt Kierkegaard mit dem Satz „das Selbst soll […] frei es selbst werden“.68 So wird deutlich, was mit den Elementen Möglichkeit und Notwendigkeit gemeint ist: Das Element der Möglichkeit besagt, dass nur dann der Mensch selbst etwas ist, wenn er es in Freiheit wird. Der Mensch ist nur dann selber 65 Kierkegaard meint kein zeitliches Nacheinander. Ferne von sich und Nähe zu sich vollziehen sich „gleichen Augenblicks“ (KT 28). 66 Ringleben meint, Endlichkeit und Unendlichkeit bezeichneten die objektiv analysierbaren Seinsbestimmungen des menschlichen Selbst (es findet sich vor und ist doch nur es selbst, indem es sich übernimmt), während Möglichkeit und Notwendigkeit bezeichneten, wie der Mensch diese Seinsbestimmungen subjektiv erfährt (vgl. RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 134f). Er folgert deshalb, die Verzweiflung unter der Bestimmung Endlichkeit/Unendlichkeit bezeichne denselben Sachverhalt wie die Verzweiflung unter der Bestimmung Notwendigkeit/Möglichkeit, „nur […] bewußtseinsmäßig potenziert“ (ebd., 135 Anm. 195). Dies widerspricht aber Kierkegaards Notiz, er sehe im ganzen Abschnitt über die Momente der Synthesis davon ab, „ob sie [die Verzweiflung] bewußt ist oder nicht“ (KT 25). Ähnlich wie Ringleben FAHRENBACH: Kierkegaards existenzdialektische Ethik, 44: Notwendigkeit bezeichne „die Bestimmtheit des existierenden Selbst“ und bedeute „nichts anderes […] als das Moment der Endlichkeit (der Daseinsbestimmtheit)“. 67 KT 33. 68 KT 32.
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etwas, wenn es ihm nicht aufgezwungen wird, sondern er es in Freiheit selber wird. Offensichtlich macht es einen Unterschied, ob man etwas einfach nur irgendwie ist oder ob man etwas in der Weise ist, dass man es in Freiheit wird. Das Element der Notwendigkeit besagt, dass der Mensch nur dann er selbst ist, wenn er diese ganz bestimmte, gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit ist.69 Somit bedeutet Kierkegaards Behauptung, das Selbst sei eine Synthese aus Möglichkeit und Notwendigkeit, genau dies, dass „das Selbst […] frei [= Möglichkeit] es selbst [eben die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit; = Notwendigkeit] werden [= Möglichkeit]“70 soll. Zusammengenommen heißt das: Der Mensch ist nur dann ein wirkliches Selbst, kürzer: er selbst, wenn er in Freiheit die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit wird.71 Das Selbst, das er in Wahrheit ist, wird erst dadurch wirklich. Anders gesagt: Das dem Menschen „gegebene[…] Selbst [ist] die ihm gestellte [also von ihm selbst zu erfüllende; CT] Aufgabe“.72 Insofern gilt für den Menschen die Aufforderung: „Werde der, als der du durch Gott gesetzt bist.“ Oder kurz – aber missverständlich –: „Werde, der du bist!“73 Die verschiedenen von Kierkegaard verwendeten Selbst-Begriffe können nun zusammengestellt werden: Das „faktische“ Selbst ist das endliche Selbst mit seinen konkreten Beschaffenheiten und Umständen. Das „wahre“ Selbst ist das von Gott gesetzte Selbst der zweifachen Synthese. Das „wirk69
Vgl. KT 32: „Insofern es es selbst ist, ist es ein Notwendiges, und insofern es es selbst werden soll, ist es eine Möglichkeit.“ Vgl. KT 32: „Das Selbst ist der Möglichkeit nach […] ebenso sehr möglich wie notwendig; denn es ist ja es selbst, aber es soll es selbst werden. Insofern es es selbst ist, ist es ein Notwendiges, und insofern es es selbst werden soll, ist es eine Möglichkeit.“ Vgl. auch KTGS 32f (Hervorhebung im Original): Das Selbst „soll […] ‚es selbst‘ werden: soll das Selbst werden, als das es gesetzt ist. Als Selbst, das es selbst werden soll, ist es in der freien Möglichkeit des Werdens an die Notwendigkeit gebunden, zu werden was es ist.“ 70 KT 32. Ganz deutlich KT 32: „[…] das Selbst, als Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, [ist] gesetzt […], der Möglichkeit nach [d.h. potentiell …], um nunmehr zu werden“. Vgl. dazu GRØN: Subjektivitet og negativitet, 425 (Hervorhebung im Original), der herausarbeitet, „daß Kierkegaards normatives Verständnis von Freiheit [sc. ‚Man selbst werden heißt, sich selbst (wieder) zu gewinnen‘ – ebd., 421; CT] eine Transformation des Gedankens der Freiheit als Autonomie bedeutet. Man selbst zu werden erfordert, daß man sich selbst bestimmt, aber das, als was man sich selbst bestimmen soll, ist das Bestimmte, das man schon ist. Selbstbestimmung schließt somit Selbst-Bestimmtheit ein.“ Grøn versteht unter diesem Bestimmten, welches man schon ist und doch werden soll, zum einen „die gegebenen Lebensumstände“, zum anderen „das, als was man selbst bestimmt ist: als der, der dies gesagt, getan oder gedacht hat“ (ebd., 425). – Zum Werden des Selbst bei Kierkegaard hat sich auch geäußert HOLL: Kierkegaards Konzeption, 174ff. 71 Vgl. KT 32. Dies und nur dies ist in Kierkegaards Verständnis die christliche Definition für „er selbst sein“. 72 KT 68. 73 Siehe zu dieser Formel ausführlicher § 7.3.4.1.
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liche“ Selbst ist die je und je zu vollziehende Realisierung74 des von Gott gesetzten Selbst; es ist mit dem „konkreten“ Selbst75 identisch. Kierkegaard hat mit der Bestimmung Möglichkeit-Notwendigkeit mithin ein anderes Phänomen vor Augen als mit der Bestimmung UnendlichkeitEndlichkeit.76 Es ist diese ganz bestimmte Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit, die auch eine Synthese aus Möglichkeit und Notwendigkeit ist, d.h. die der Mensch frei werden muss, um er selbst zu sein. Die beiden Synthesen liegen also nicht parallel, sondern die Synthese aus Möglichkeit und Notwendigkeit beschreibt, welche Beziehung der Mensch zur Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit einnehmen muss, um er selbst zu sein. Während der Begriff der Endlichkeit die äußeren Grenzen des Selbstwerdens bezeichnet, das „Begrenzende“ im Sinne der Umstände und Beschaffenheiten, in deren Rahmen sich der Selbstwerde-Prozess des Menschen vollziehen muss, benennt der Begriff der Notwendigkeit den Zielpunkt des Selbstwerde-Prozesses und sozusagen die innere „Grenze“ des Selbstwerdens.77 Weil der Mensch aber die Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit werden soll, bedeutet das Selbstwerden keine tumbe Übernahme des Faktischen. Das Selbst muss zwar in der Endlichkeit seine konkreten Umstände und Beschaffenheiten übernehmen, vermag sich aber auch durch die Unendlichkeit von ihnen zu entfernen und sie gegebenenfalls zu verändern. Die gelungene Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, so wurde schon deutlich, bedeutet eine Entfernung von sich selbst im Sinne der eigenen Beschaffenheiten und Umstände und eine – dadurch um einige Perspektiven bereicherte – Rückkehr zu sich selbst. Die gelungene Synthese von Möglichkeit und Notwendigkeit bezeichnet dagegen – so sagt Kierkegaard – eine Bewegung am Ort,78 d.h. gar keine Entfernung von sich bzw. Rückkehr zu sich. Denn die Möglichkeit, frei etwas zu werden, ist immer meine Möglichkeit, trennt mich also nicht von mir selbst; und die Notwen-
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Diese Realisierung ist nie abgeschlossen. Sie ist in jedem Existenzmoment neu gefordert. Siehe oben § 5.1.1. 76 Gegen Ringleben und Fahrenbach (siehe oben Anm. 66) und THEUNISSEN: Das Selbst, 42ff. 77 Vgl. KT 33: „eigene Grenze“ (dänisch: „Ens Grændse“ – SV 15, 94). Kierkegaard selber unterscheidet die beiden Begriffe „Begrenzendes“ (dänisch: Begrændsende) und „Grenze“ (dänisch: Grændse) nicht so streng wie hier vorgeschlagen. Die Verzweiflung der Un-Endlichkeit umschreibt er durch den Begriff „Grændseløse“ (KT 26; SV 15, 88), d.h. mit Bezug auf Grændse, womit nach der hier vorgetragenen Interpretation nun gerade die Notwendigkeit bezeichnet sein soll. Um der Klarheit der – gut begründeten – Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Endlichkeit willen sei hier dennoch an der Unterscheidung zwischen „Begrenzendem“ und „Grenze“ festgehalten. 78 Vgl. KT 32 (dänisch: Bevægelse paa Stedet; wörtlich: Bewegung auf der Stelle – SV 15, 93). 75
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digkeit, nur ich selbst werden zu können, gibt als Ziel des Werdens das an, wo ich bereits bin.79 Ist nun deutlich, was mit der Synthese aus Möglichkeit und Notwendigkeit gemeint ist, so können die beiden Verzweiflungsformen Verzweiflung der Möglichkeit und Verzweiflung der Notwendigkeit präzise dargestellt werden. In beiden Fällen negiert der Mensch ein Element der Synthesis, eine Bedingung seiner Existenz, und will mithin nicht das von Gott gesetzte Selbst sein. Verzweiflung der Möglichkeit80 tritt dann ein, wenn der Mensch übergeht, dass er die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit werden soll, „so daß es [sc. das Selbst] nichts Notwendiges hat, zu dem es zurück soll“.81 Denn wenn das Selbst nicht realisiert, dass es eben nur, indem es diese Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit wird, wirklich es selbst ist, dann versucht es sozusagen, sich selbst loszuwerden, ohne dahin zu gelangen, wo es allein es selbst sein kann: nämlich im Vollziehen der gelungenen Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit.82 Diese Zerrissenheit im wahrsten Sinne des Wortes ist Verzweiflung. Wird vergessen, dass bereits vorgegeben ist, was man werden soll, dann verliert sich das Selbst in seiner Freiheit, so dass am Ende das Selbst meint, alles werden zu können,83 zum Beispiel auch jemand, der nicht mehr auf sein faktisches Selbst achten muss,84 oder jemand, der Veränderung ausschließt.85 Der derart Verzweifelte wird zwar, aber er wird nicht er selbst. Durch diese Orientierung an etwas bereits Vorgegebenem unterscheidet sich Kierkegaards Vorstellung vom Er-selbst-Werden fundamental von Gedanken, wie man sie beispielsweise in der Renaissance-Philosophie des Pico della Mirandola findet, der Gott zu Adam sagen lässt: Deine Natur sollst du „pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui“,86 selbst bestimmen. Du sollst dich „tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque“87 zu der Form ausbil-
79 Kierkegaards Satz: „Läuft die Möglichkeit nun die Notwendigkeit über den Haufen, so daß das Selbst in der Möglichkeit sich selber entläuft, so daß es nichts Notwendiges hat, zu dem es zurück soll“ (KT 32), der nahelegt, es gäbe auch in der Synthese von Möglichkeit und Notwendigkeit ein sich von sich Entfernen und zu sich Zurückkehren, ist gerade die Beschreibung von Verzweiflung, d.h. von einem Misslingen dieser Bewegung am Ort. 80 Vgl. KT 32. 81 KT 32. 82 Vgl. KTGS 33. 83 Vgl. KT 33. 84 Dies geschieht beispielsweise dort, wo der Mensch in der Verzweiflung steht, handelnd ein anderes Selbst sein zu wollen (siehe unten § 5.2.2.2.1). 85 Dies geschieht beispielsweise dort, wo der Mensch in der Verzweiflung steht, leidend ein anderes Selbst sein zu wollen (siehe unten § 5.2.2.2.2). 86 PICO DELLA MIRANDOLA: De hominis dignitate, 314. 87 Ebd.
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den, die du selber bevorzugst. Wir Menschen sind „nati […] conditione, ut id simus quod esse volumus“.88 Wer die Notwendigkeit derart aus den Augen verliert, dem mangelt es nach Kierkegaard an der „Kraft zu gehorchen, sich zu beugen unter das Notwendige im eigenen Selbst, unter das was man die eigene Grenze [im Selbstwerdeprozess] nennen muß“; er „wurde nicht aufmerksam auf sich selbst, [darauf] daß das Selbst, das er ist, ein ganz bestimmtes Etwas ist und somit das Notwendige“.89 Es gibt nach Kierkegaard aber auch eine Verzweiflung der Notwendigkeit;90 sie ereignet sich dann, „wenn ein menschliches Dasein dahin gebracht ist, daß es ihm an Möglichkeit mangelt“:91 „[…] ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam keine Luft bekommen“.92 Die Möglichkeit, um die es Kierkegaard geht, ist nicht die Möglichkeit, dieses oder jenes zu tun.93 Sie ist vielmehr die fundamentalere Möglichkeit, in Freiheit, also selber, etwas werden zu können. Wenn der Mensch diese Möglichkeit nicht mehr sieht, meint er nichts mehr selber werden zu können, erst recht nicht das Notwendige. Es gibt Situationen, die dem Menschen jedes „Werden“, jede Zukunft zu nehmen drohen. Er meint, keinen Handlungsspielraum mehr zu haben.94 Er fühlt sich nur noch als Wesen der Notwendigkeit, fühlt sich der Situation so ausgeliefert, dass er nicht mehr als handelndes Subjekt, als selber Werdender, vorkommt.95 Er hat das Gefühl, dass die eingetretene Situation ihn zugrunde richtet.96 Er ist zwar irgendetwas (vielleicht sogar eine ausgewogene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit), aber er wird es nicht selbst. Insofern ist er es nicht wirklich selbst. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 3 In Bezug auf das geheilte, das nicht mehr verzweifelte Selbst kann festgehalten werden, dass dieses im Glauben 1) nicht die Möglichkeit auf Kosten der Notwendigkeit und 2) nicht die Notwendigkeit auf Kosten der Möglichkeit durchsetzt. Warum geschieht das im Glauben? 88
PICO DELLA MIRANDOLA: De hominis dignitate, 315. KT 33. 90 Vgl. KT 34. 91 KT 34f. 92 KT 36. Vgl. KT 37: „[…] es ist unmöglich einzig und allein das Notwendige zu atmen, welches rein und bloß des Menschen Selbst erstickt“. 93 Letzteres wird vielmehr durch den Begriff der Unendlichkeit abgedeckt. 94 Vgl. KT 35. 95 Vgl. KT 35. 96 Vgl. KT 36 (Hervorhebung von mir): „sein Untergang“; „so geht er unter“. 89
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Ad 1) Im Glauben wird der Mensch sich selbst durchsichtig,97 und zwar sowohl in Bezug auf seinen Grund als auch in Bezug auf sein Ziel. Im Glauben erschließt sich das Gesetztsein der Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit als Gesetztsein durch einen guten Schöpfer. Der Glaubende erkennt an, dass er immer schon von Gott herkommt und also sich nicht einfach selbst bestimmt. Ihm wird einsichtig, dass er etwas ganz Bestimmtes werden soll (eben die Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit). Zusammengefasst: Im Glauben bejaht der Mensch Gott als seinen Grund und deshalb die von Gott gesetzte Synthese als das Ziel seines Selbstwerdens. Ad 2) Glauben heißt, als Einzelner vor Gott zu existieren.98 Der Glaubende lässt sich seine Beziehung zu Gott nicht von jemand anderem abnehmen. Er verhält sich selbst in Freiheit zu Gott. Weil dieses freiheitliche Verhalten zu Gott sich aber vollzieht, indem er sich zu sich selbst und also zu der von Gott gesetzten Synthese verhält, folgt, dass er sich auch in Freiheit zu der von Gott gesetzten Synthese verhält. Damit herrscht insgesamt ein Wohlverhältnis zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit. Zwar erlebt auch der Glaubende Situationen, die so aussehen, als würden sie ihn als ganzen zugrunde richten, als könne er in ihnen nicht mehr er selbst sein. Doch er glaubt daran, „daß alles möglich ist bei Gott“.99 Dass bei Gott alles möglich ist, soll nicht besagen, dass Gott in beliebiger Weise über alle beliebigen Möglichkeiten verfügt und alles Beliebige werden lässt. Vielmehr bedeutet es, dass auch in einer Situation, die der Mensch als ihn zugrunde richtend erlebt, Gott ihm die eine,100 existentiell unerlässliche Möglichkeit eröffnet, selber in Freiheit etwas werden zu können. Glaube heißt: „Verstehen, daß es menschlich sein Untergang ist, und dann doch an Möglichkeit glauben“.101 Weil der Glaubende die gelungene Synthese von Möglichkeit und Notwendigkeit vollzieht, ist diese Möglichkeit, an die geglaubt wird, nicht nur die Möglichkeit, selber etwas werden zu können, sondern die Möglichkeit, in Freiheit die von Gott gesetzte, gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit werden zu können. Das aber will sagen: Der Glaubende kann immer er selbst sein.
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Siehe unten Das geheilte Selbst Teil 10. Siehe unten § 6. 99 KT 36. 100 So auch GRØN: The Relation, 38f: „This ‚everything‘ must not be understood vaguely […] Faith is believing that for God everything is possible, that is to say, that there is possibility where, humanly speaking, there is no possibility.“ 101 KT 36. Insbesondere im Gebet atmet der Mensch diese Möglichkeit: „Beten ist auch ein Atmen“ (KT 37). 98
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2. Das Missverhältnis im Selbstverhältnis Wie oben bereits erwähnt, betrachtet Kierkegaard das Phänomen der Verzweiflung nicht nur in Bezug auf das Missverhältnis in der Synthesis, sondern auch in Bezug auf das Missverhältnis im Selbstverhältnis.102 Dabei zeigt Kierkegaard: Je mehr Selbstbewusstsein ein Mensch hat (d.h. aber auch: je mehr ihm bewusst wird, was Verzweiflung ist, und je mehr ihm mithin seine eigene Verzweiflung bewusst wird103), desto intensiver ist die Verzweiflung.104 Und umgekehrt gilt ebenso: Wenn einer noch nicht einmal von seiner Verzweiflung weiß (vorhanden ist sie, wie gesagt, aber immer), dann ist seine Verzweiflung am geringsten. Entsprechend unterteilt Kierkegaard seine Betrachtung des Missverhältnisses im Selbstverhältnis, d.h. der „Verzweiflung gesehen unter der Bestimmung Bewußtsein“, in zwei Abschnitte: 1. „Die Verzweiflung, die unwissend ist darüber, daß sie Verzweiflung ist, oder die verzweifelte Unwissenheit, die nicht weiß, daß sie ein Selbst hat, ein ewiges Selbst“105 und 2. „Die Verzweiflung, die sich dessen bewußt ist Verzweiflung zu sein, die mithin sich dessen bewußt ist ein Selbst zu haben, worin doch etwas Ewiges ist, und in der man nun entweder verzweifelt nicht man selbst sein will, oder verzweifelt man selbst sein will.“106 Dieses Bewusstsein des Selbst und der Verzweiflung kann unterschiedlich groß sein. Insgesamt wird sich in der nun folgenden Darstellung der Missverhältnisse im Selbstverhältnis zeigen, dass die je nachfolgende Verzweiflungsform eintritt, weil der Mensch das Bewusstsein, das ihm in der vorangehenden Verzweiflungsform fehlte, nun besitzt. Insofern gilt für die
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Vgl. KT 25. „[…] eine Steigerung des Bewußtseins vom Selbst“ ist eben immer auch „eine Steigerung des Bewußtseins von dem was Verzweiflung ist, und des Bewußtseins davon, daß der Zustand in dem man ist Verzweiflung ist“ (KT 47). 104 Vgl. KT 39. 105 KT 39; vgl. KT 39–44. Vgl. zur Bedeutung des „oder“ RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 164. 106 KT 45; vgl. KT 45–74. Aufgrund der bisherigen Interpretation ist deutlich: Der Ausdruck Ewiges im Selbst bzw. ewiges Selbst bezeichnet dies, dass es ein von Gott gesetztes Selbst, eben diese zweifache Synthese, gibt, die der Mensch sein wollen muss, um wirklich er selbst zu sein. Vgl. zu der Unterteilung auch die beiden Wiederholungen derselben KT 77: „Im vorhergehenden Abschnitt [gemeint ist KT 45–74] ist fortlaufend eine Stufenfolge im Bewußtsein vom Selbst aufgewiesen worden; zuerst kam die Unwissenheit darüber, ein ewiges Selbst zu haben […], sodann ein Wissen davon, ein Selbst zu haben, in dem doch etwas Ewiges ist […] und innerhalb dessen […] wurden wiederum Stufen aufgezeigt“, und KT 113f: „Zuerst kam […] die Unwissenheit darüber, ein ewiges Selbst zu haben; alsdann das Wissen davon, ein Selbst zu haben, worin doch etwas Ewiges liegt.“ 103
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verschiedenen Formen: „they develop out of one another“.107 Die Formen der Verzweiflung im Selbstverhältnis bezeichnen mithin sich auseinander entwickelnde Steigerungsformen der Verzweiflung. Sie beschreiben eine „Stufenfolge“108 der Verzweiflung, die nacheinander abgeschritten wird. 2.1 Die sich ihrer selbst nicht bewusste Verzweiflung Kierkegaard betrachtet zunächst die Verzweiflung, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist (dies ist – wie gesagt – die „uneigentliche Verzweiflung“109). Er betont, dass es für die Frage, ob jemand verzweifelt ist oder nicht, nicht von Bedeutung ist, ob er sich dieses seines Verzweifeltseins bewusst ist oder nicht. Dass er sich seines Verzweifeltseins nicht bewusst ist, bedeutet nur, dass er zusätzlich zu seiner Verzweiflung noch einem Irrtum aufgesessen ist, eben dem, nicht verzweifelt zu sein.110 Damit ist er von der Wahrheit im Vergleich zu dem, der um seine Verzweiflung weiß, nur noch einen Schritt mehr entfernt, eben den Schritt, dass er unwissend darüber ist.111 Allerdings ist die Unwissenheit um die eigene Verzweiflung „die gefährlichste Form von Verzweiflung“,112 weil der, der nichts von seiner Verzweiflung weiß, auch nichts unternehmen wird, um seiner Verzweiflung ein Ende zu bereiten. Was aber ist die uneigentliche Verzweiflung? Sie besteht darin, dass der Mensch „sich seiner als Geist nicht bewußt ist“113 und „das Sinnliche und das Sinnlich-Seelische ihn ganz und gar beherrscht“.114 Ein solcher Mensch ist sich nicht bewusst, dass er von Gott dazu bestimmt ist, nicht nur einfach so zu existieren, sondern sich in den Kategorien von Bewusstsein und Wollen zu seinen Existenzbedingungen zu verhalten. De facto verhält der Mensch sich auch so in der Kategorie des Bewusstseins zu seinen Existenzbedingungen, nur eben unbewusst. Auch so ist er ein Selbst, aber ein Selbst in – wie Kierkegaard dialektisch formuliert – „Geistlosigkeit“.115 Indem er sich bewusstlos zu sich als Bewusstseinswesen 107
STEWART: Kierkegaard’s Phenomenology, 128. KT 77. 109 KT 8. 110 Vgl. KT 41. 111 Vgl. KT 41. 112 KT 42. 113 KT 42. Vgl. auch KT 23. 114 KT 40. 115 KT 42. Vgl. KT 23: „[…] es ist das Allgemeine, daß die meisten Menschen dahin leben ohne sich so recht dessen bewußt zu werden daß sie bestimmt sind als Geist – und daher denn alle die sogenannte Sicherheit, Zufriedenheit mit dem Leben usw., usw., welches eben Verzweiflung ist.“ 108
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verhält, herrscht in seinem Selbstverhältnis aber ein Missverhältnis, eben Verzweiflung.116 Bei dieser Geistlosigkeit kann man nicht wirklich von einem NichtWollen des von Gott gesetzten Selbst sprechen. Man kann aber feststellen, dass der Geistlose auf keinen Fall das von Gott gesetzte Selbst sein will. Oben wurde behauptet, dass das Missverhältnis in der Selbstbezüglichkeit der Grund ist für ein Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis. Das kann jetzt in concreto gezeigt werden (wohl wissend, dass Kierkegaard das nicht tut): Durch das beschriebene Missverhältnis im Selbstverhältnis stellt sich zum einen die Verzweiflung der Endlichkeit ein, weil der Mensch sich ganz in den sinnlichen Umständen und Beschaffenheiten verliert. Zum anderen stellt sich dadurch die Verzweiflung der Notwendigkeit ein, weil der Mensch hier gar nichts in Freiheit, d.h. selber wird – ist er sich doch noch nicht einmal dessen bewusst geworden, dass er selber etwas werden soll. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 4 Im Glauben wird diese Verzweiflung überwunden, weil der Mensch im Glauben sich seiner selbst als eines Bewusstseinswesens, als Geist, bewusst wird. Im Glauben gewinnt der Mensch „Klarheit über sich selbst“.117 Der Glaube lässt den Menschen erkennen, dass er nicht im Leiblich-Seelischen aufgeht, sondern von Gott dazu gesetzt ist, sich zu sich selbst zu verhalten.118 Entsprechend leiden besonders diejenigen Menschen, die nicht darum wissen, dass sie von Gott derart gesetzt sind, an der uneigentlichen Verzweiflung.119
116 Versteht man Verzweiflung als strukturelle Bestimmung, dann erübrigen sich die Einwände gegen Kierkegaards Rede von einer „uneigentlichen Verzweiflung“, die u.a. Michael Theunissen formuliert hat: „Undenkbar ist […] Bewußtlosigkeit darüber, sich in einem Zustand der Verzweiflung zu befinden.“ (THEUNISSEN: Für einen rationaleren Kierkegaard, 67). 117 KT 45. Siehe zu diesem Gedanken unten die Rede vom Durchsichtigsein im Glauben (Das geheilte Selbst Teil 10). 118 Vgl. BONGARDT: Der Widerstand der Freiheit, 275: „Der Glaubende weiß sich […] in seine Freiheit eingesetzt.“ 119 Vgl. KT 42. Das bedeutet aber nicht, dass Menschen, die nicht darum wissen, dass sie von Gott derart gesetzt sind, automatisch an der uneigentlichen Verzweiflung leiden. Denn es ist durchaus denkbar, dass sie, obwohl sie nichts von Gott wissen, dennoch darum wissen, dass menschliche Existenz sich durch das Verhalten eines Menschen zu seinen Existenzbedingungen auszeichnet.
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2.2 Die sich ihrer selbst bewusste Verzweiflung Kierkegaard untersucht ausführlicher die Verzweiflung, die sich ihrer selbst bewusst ist. Er weist darauf hin, dass mit einem Bewusstsein von Verzweiflung noch nicht gesagt ist, dass der Mensch auch eine angemessene Vorstellung davon hat, was Verzweiflung ist. Das, was einer als Verzweiflung empfindet, kann von der Verzweiflung, in der er wirklich steht, völlig unterschieden sein.120 Hat der Mensch aber ein gewisses „Bewußtsein […] von dem eigenen Zustande“ der Verzweiflung, dann deshalb, weil er eine gewisse „Klarheit über sich selbst“121 besitzt. Kierkegaard beschreibt als Formen der sich ihrer selbst bewussten Verzweiflung 1. das „Verzweifelt nicht man selbst sein wollen“,122 das er auch als „Verzweiflung der Schwachheit“ bezeichnet, und 2. das „[V]erzweifelt man selbst sein […] wollen“,123 das er auch „Trotz“ nennt. Auch wenn die Begriffe „Schwachheit“ und „Trotz“ den Anschein erwecken, als bezeichneten sie etwas ganz und gar Gegensätzliches, so sind sie nach Kierkegaard „nur bedingte Gegensätze“.124 Denn schon darin, etwas nicht zu wollen, liegt Trotz.125 Entsprechend enthält auch die Verzweiflung der Schwachheit Elemente des Trotzes und der Trotz Elemente der Schwachheit.126
120
Vgl. KT 45. Zu diesem Fall siehe unten § 5.2.2.1.1.1. KT 45. 122 KT 47; vgl. KT 47–67. 123 KT 67; vgl. KT 67–74. 124 KT 47. 125 Vgl. KT 47. 126 Vgl. KT 47. Theunissen weist darauf hin, dass der Trotz in der Verzweiflung aus Schwachheit von dem Trotz in der Verzweiflung aus Trotz zu unterscheiden ist. Während Trotz im letzteren Fall „die Eigenmächtigkeit einer Konstruktion des eigenen Daseins“ bedeute, bedeute es im ersteren Fall „das Wollen von Unmöglichem im Bewußtsein der Unmöglichkeit“ (THEUNISSEN: Für einen rationaleren Kierkegaard, 67). Nimmt man diese Unterscheidung ernst, dann kann man die genannte Textstelle KT 47 nicht mehr als Beleg dafür nehmen, dass die Verzweiflung aus Trotz – weil sie eben als Trotz bereits in der Verzweiflung aus Schwachheit enthalten sei – die gegenüber der Verzweiflung aus Schwachheit primäre Verzweiflung ist (so zum Beispiel HANNAY: Basic Despair, 18). 121
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2.2.1 Das verzweifelte Nicht-man-selbst-sein-Wollen, oder besser:127 die Verzweiflung, nicht das von Gott gesetzte Selbst sein zu wollen Die Verzweiflung, nicht man selbst sein zu wollen, die Kierkegaard, wie gesagt, auch „Verzweiflung der Schwachheit“ nennt, kennt nach Kierkegaard zwei Gestalten: man kann 1. über etwas Irdisches resp. das Irdische verzweifeln;128 man kann aber auch 2. am Ewigen resp. über sich selbst verzweifeln.129 Die Verzweiflung besteht dabei letztlich immer darin, dass der Mensch nicht die von Gott gesetzte zweifache Synthese sein will. 2.2.1.1 Die Verzweiflung über etwas Irdisches resp. das Irdische Wann stellt sich Verzweiflung über etwas Irdisches resp. das Irdische ein? Kierkegaard meint, dann, wenn 1. der Geist des Menschen durch „reine Unmittelbarkeit“130 gekennzeichnet ist. Im Unterschied zu der sich ihrer selbst nicht bewussten Verzweiflung ist der Mensch sich zwar hier seiner selbst als Geist bewusst, sein Geist-Sein spielt für ihn aber keine wesentliche Rolle. Ein solcher Mensch wird verzweifeln, wenn ihm etwas Irdisches geraubt wird. Die Verzweiflung über etwas Irdisches resp. das Irdische wird sich aber auch dann einstellen, wenn 2. diese Unmittelbarkeit durch ein gewisses, allerdings geringes (Kierkegaard nennt es: „quantitatives“131) Maß an Reflexion unterbrochen wird. Dann wird der Mensch über die irdische Zusammensetzung seines Selbst verzweifeln. 2.2.1.1.1 Verzweiflung darüber, dass etwas Irdisches geraubt wird (d.h. Verzweiflung über Umstände des Selbst) Ein in der „reinen Unmittelbarkeit“ lebender Mensch existiert ohne alle Reflexion, ist „rein seelisch bestimmt, […] ein Stück mehr innerhalb des
127 Es wurde ja oben gezeigt: Es geht Kierkegaard nicht um einen bestimmten Modus des Nicht-Wollens, sondern darum, dass der Mensch nicht das von Gott gesetzte Selbst sein will. Das ist Verzweiflung. 128 Vgl. KT 48–60. 129 Vgl. KT 60–67. 130 KT 48. Kierkegaard schränkt allerdings sofort die Möglichkeit ein, dass „in der Wirklichkeit Unmittelbarkeit ganz ohne alle Reflexion vorkommen kann“ (KT 49). Vgl. CAPPELØRN: Am Anfang, 145: „Von der Unmittelbarkeit als Begriff her gesehen“ müsste Reflexion „eigentlich ausgeschlossen sein, aus der Sicht der Wirklichkeit aber ist es anders“. 131 Vgl. KT 48.
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Bereiches der Weltlichkeit und Zeitlichkeit“132 und wähnt sich mit „dem ‚Andern‘“133 außerhalb seines Selbst, d.h. mit dem Irdischen, innerhalb dessen er lebt, unmittelbar eins. Er kennt in seinem Leben keine anderen Kategorien als die von unmittelbaren Bezügen: „Seine Dialektik ist: das Angenehme und das Unangenehme“,134 also eine Dialektik, die nach Kant auch „vernunftlose Tiere“135 kennen und die sich daran misst, „was den Sinnen in der Empfindung gefällt“.136 „[…] seine Begriffe sind: Glück, Unglück, Schicksal“,137 also äußere Umstände, die er vermeintlich nicht selbst gestalten kann, sondern denen er sich ausgeliefert fühlt. Weil das Selbst keine Reflexion vollzieht, kommt eine Verzweiflung, die sich durch Reflexion, d.h. durch Selbstdistanz, einstellen könnte, hier nicht vor. Verzweiflung kann nur eintreten durch etwas, was dem Selbst zustößt: „was zur Verzweiflung bringt, muß von außen her kommen, und die Verzweiflung ist ein reines Erleiden“.138 Sein bisheriges, unmittelbares Glück wird dann zerstört, wenn dem Menschen dasjenige Irdische geraubt wird, das er als verantwortlich für sein Glück angesehen hat.139 Weil der Mensch sich mit seinen Umständen völlig identifiziert hat, wird er, „wie er es nennt, unglücklich“.140 Er fühlt sich selbst verzweifelt.141 Abhilfe erwartet dieser Mensch von einer Veränderung der Umstände. Wird sie ihm zuteil, dann kehrt in den Verzweifelten wieder Leben zurück. Und er meint, seine Verzweiflung finde nun ein Ende. Ändern sich die Umstände nicht, dann arrangiert sich dieser Mensch zwar damit, diesen Verlust erlitten zu haben. Zugleich aber meint er, nie wieder er selbst werden zu können.142 Kierkegaard betont, nicht das, was der Mensch dafür hält, – eben der Verlust von etwas Irdischem – sei seine Verzweiflung. Verzweiflung ist keine Stimmung, sondern ein Missverhältnis. Die wirkliche Verzweiflung „vollzieht sich […] hinter seinem Rücken“.143 Sie besteht genauer darin, dass der Mensch über den Verlust von etwas Irdischem derart „verzweifelt“ 132
KT 49. KT 49. 134 KT 49. 135 KANT: Kritik der Urteilskraft, § 5, 287. 136 Ebd., § 3, 281. 137 KT 49. 138 KT 50. Das Selbst ist hier „ein Dativ wie das ‚Mir, mir‘ des Kindes“ (KT 49). Es ist nicht selber handelnd, ihm stößt etwas zu. – Aber siehe unten Anm. 146. 139 Das unmittelbare Glück kann nach Kierkegaard allerdings auch dadurch zerstört werden, dass dem Menschen etwas zustößt, was er als zu großes Glück empfindet, – und er dadurch zum Reflektieren angeregt wird, wodurch unmittelbares Glück unmöglich wird (vgl. KT 50). 140 KT 50. 141 Vgl. KT 50: „[…] er erklärt[,] er sei verzweifelt“. 142 Vgl. KT 51. 143 KT 50. 133
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und „unglücklich“ ist. Die wirkliche Verzweiflung besteht bereits vor dem Verlust des Irdischen, sc. darin, dass der Mensch sich unmittelbar von den eigenen Umständen abhängig macht. Sie besteht darin, dass der Mensch „rein unmittelbar“,144 „rein seelisch“145 zu leben versucht und dabei sich selbst mit seinen Lebensumständen verwechselt.146 So lebt er in einem Missverhältnis im Selbstverhältnis. Das Unglück, die „Verzweiflung“, die er angesichts der eigenen misslichen Umstände empfunden hat, ist nur das Signal für die wirkliche Verzweiflung.147 Das beschriebene Missverhältnis im Selbstverhältnis bedeutet zum einen Verzweiflung der Endlichkeit. Denn auch hier verliert sich der Mensch ganz im Endlichen. Deshalb wird er auch nicht die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit, wird also nicht das, was er werden muss, um er selbst zu sein. Gleichwohl kann man nicht von einer Verzweiflung der Möglichkeit sprechen. Denn hier meint der Mensch, gar keine Möglichkeit zu haben, gar nicht mehr er selbst werden zu können.148 Insofern besteht hier Verzweiflung der Notwendigkeit. Nach Kierkegaard kann man nicht wirklich davon sprechen, dass ein solcher Mensch nicht er selbst sein will; denn ein unmittelbar lebender Mensch „hat eigentlich [!] kein Selbst, […] kennt sich selbst nicht“.149 Er wünscht deshalb auch nicht, sich selbst loszuwerden, sondern wünscht nur, „ein andrer geworden zu sein oder ein andrer zu werden“150 in dem Sinne, dass sich die Umstände, die sein Leben bestimmen, verändern sollen.151 Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 5 Soll die eben beschriebene Verzweiflung das Selbst nicht mehr bestimmen, so muss die reine Unmittelbarkeit, in der der derart verzweifelte Mensch sich mit der Welt wähnt, unterbrochen werden. Diese Unterbrechung geschieht im Glauben, und zwar dadurch, dass im Glauben, wie oben gezeigt wurde, ein Wohlverhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit besteht. 144
KT 51. KT 49. 146 Weil es der Mensch selbst ist, der dies tut, ist die Verzweiflung hier letztlich doch nicht reines Erleiden. 147 Hier zeigt sich, was oben behauptet wurde: Verzweiflung ist eine bestimmte strukturelle Beschaffenheit im Selbst, die sich in bestimmten affektiven Phänomenen äußert. 148 Vgl. KT 51: Er spricht: „er selber wird er nie wieder“. 149 KT 51. 150 KT 51. 151 Das bedeutet noch nicht, dass er selber ein anderes Selbst sein will (siehe unten § 5.2.2.2). Es macht einen Unterschied, ob man nur wünscht, dass die Umstände des eigenen Lebens sich ändern, oder ob man selber ein anderes Selbst sein will. 145
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Durch die Unendlichkeit, d.h. durch seine Phantasie, tritt der Glaubende bewusst in eine gewisse Distanz zur Welt. Wenn seine Phantasie gleichzeitig zurückgebunden ist an die Endlichkeit, dann öffnet sie ihm die Augen dafür, wie er selber (nicht alle, aber doch manche) Umstände, die sein Selbst vermeintlich bedrohen, aktiv gestalten und verändern kann. Seine Begriffe sind insofern nicht mehr „Glück“ oder „Unglück“. Weil im Glauben, wie ebenfalls bereits gezeigt, gleichzeitig ein Wohlverhältnis zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit besteht, begreift der Glaubende sich als Wesen, das Möglichkeit hat, das heißt als Wesen, das in jeder Situation, also auch dann, wenn ihm etwas Entsetzliches, ja etwas Unveränderbares, widerfährt, immer noch in Freiheit es selbst werden kann. 2.2.1.1.2 Verzweiflung über die (eben) irdische Zusammensetzung des Selbst (d.h. Verzweiflung über eigene Beschaffenheiten) Ein grundsätzlich unmittelbar lebender Mensch, der aber in einem gewissen, wenn auch geringen Umfang reflektiert, steht nach Kierkegaard in einer anderen Verzweiflung als der eben beschriebenen eines völlig unmittelbar, unreflektiert lebenden Menschen. Der Unterschied zur gerade beschriebenen Verzweiflung besteht darin, dass seine Verzweiflung nun vor allem durch Selbst-Reflexion, durch Betrachten seiner selbst, ausgelöst wird; dann ist sie nicht nur Erleiden (wie die gerade beschriebene Form152), sondern in einem bestimmten Maße auch „Selbsttätigkeit […], Handlung“.153 Durch diese Reflexion wird der Mensch dann „aufmerksam […] auf sich in seiner wesentlichen Verschiedenheit von der Umwelt“154 und auch darauf, dass es ein Selbst gibt, das er übernehmen muss, wenn er er selbst werden will.155 Er meint allerdings, das Selbst, das er übernehmen müsse, sei nur sein faktisches Selbst mit dessen Beschaffenheiten. Ein solcher Mensch entdeckt nun aber an seinem faktischen Selbst, das er annehmen will, dass er bestimmte Dinge nicht kann, bestimmte Fähigkeiten nicht besitzt, bestimmte Fehler und missliche Eigenschaften hat. Er wird damit konfrontiert, dass er nicht vollkommen ist.156 Ihm begegnet „die eine 152
Siehe aber oben Anm. 146. KT 53. 154 KT 53. 155 Diese Einsicht ist prinzipiell für jeden möglich. Ein Gottesbewusstsein ist für sie nicht vonnöten. Vgl. KT 54: Er hat „eine dunkle Vorstellung davon […], daß […] etwas Ewiges im Selbst sein muß“; siehe oben Anm. 106 zum Begriff des Ewigen im Selbst. 156 Vgl. KT 53: „Denn gleichwie kein menschlicher Leib der vollkommene Leib ist, so ist auch kein Selbst das vollkommene Selbst.“ 153
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oder andre Schwierigkeit in der Zusammensetzung des Selbsts, in der Notwendigkeit des Selbsts“.157 (Kierkegaard spricht gleichzeitig von der Zusammensetzung des Selbst, d.h. der endlichen Beschaffenheit des Selbst, und der Notwendigkeit des Selbst, weil der Mensch die Endlichkeit notwendig – wenn auch in differenzierter Weise – annehmen muss, um er selbst zu werden.) Sobald der Mensch die besagte endliche „Schwierigkeit“ an seinem faktischen Selbst wahrgenommen hat, „getraut er sich nicht […], zu sich selbst zu kommen“.158 Er getraut sich nicht, diese Schwierigkeit anzunehmen. Denn aufgrund seiner grundsätzlich unmittelbaren Haltung meint er, er müsse sie „unmittelbar“, direkt übernehmen, um sein Selbst zu übernehmen. Sie „unmittelbar“ zu übernehmen bedeutet aber, mit ihr als Person identisch zu sein. Mit dieser Schwierigkeit mag er aber nicht identisch sein; er „schaudert [vor ihr …] zurück“.159 Dieses Gefühl des Schauderns empfindet er als ein Verzweifeln über seine endliche Beschaffenheit. Es ist aber nur ein Zeichen für sein tatsächliches Missverhältnis zum von Gott gesetzten Selbst, wie gleich klar werden wird. Wer vor einer Schwierigkeit an sich derart zurückschaudert, der klammert sich an die Hoffnung, dass diese Schwierigkeit irgendwie verschwindet und er anders wird. Solange bis dies geschieht, „kommt er darum nur zwischendurch einmal sozusagen zu Besuch bei sich selbst, um nachzusehn, ob die Änderung nicht eingetreten ist“.160 Er will also in Bezug auf diese „Schwierigkeit“ nicht sein faktisches Selbst sein. Tritt dann (wodurch auch immer) eine Änderung der Schwierigkeit ein, so kehrt er zu sich selbst zurück – in der Meinung, nun endlich sein Selbst übernehmen zu können und er selbst zu sein.161 Doch er übersieht, dass er nur dann er selbst, d.h. ein „wirkliches“ Selbst wird, wenn er die Schwierigkeit seines faktischen Selbst übernimmt.162 Es besteht mithin ein Missverhältnis im Verhältnis zum faktischen Selbst. Weil dieses aber seine
157
KT 53. KT 54. 159 KT 53. 160 KT 54. 161 Vgl. KT 54. 162 Kierkegaard formuliert KT 54, es gehe darum, „sein wirkliches [!] Selbst mit allen seinen Schwierigkeiten und Vorzügen […] auf sich“ zu nehmen. Oben musste aber das „wirkliche“ Selbst als das Selbst verstanden werden, das die von Gott gesetzte zweifache Synthese übernimmt. Zu dieser Synthese gehören im Element der Endlichkeit auch die Schwierigkeiten und Vorzüge des faktischen Selbst. Präziser ist deshalb die Formulierung, das „wirkliche“ Selbst sei die Übernahme von den Schwierigkeiten und Vorzügen des faktischen Selbst, und es gehe darum, sein faktisches Selbst mit allen seinen Schwierigkeiten und Vorzügen auf sich zu nehmen. 158
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Endlichkeit ausmacht, besteht darin auch ein Missverhältnis zum von Gott gesetzten Selbst, ein Missverhältnis im Selbstverhältnis. Tritt die erhoffte Änderung der Schwierigkeit nicht ein, so bleibt diesem Menschen, da er die Schwierigkeit nicht annehmen kann, nur übrig, sich auf seine Talente zu konzentrieren und über seine Schwierigkeit nicht allzu viel nachzudenken. Er reduziert damit sein Selbst – eben auf diese Talente.163 Auch damit verweigert er die Übernahme der endlichen Schwierigkeit an seinem faktischen Selbst. Diese Verzweiflung ist eine Verzweiflung aus Schwachheit, weil der Mensch trotz aller Selbsttätigkeit an seinem faktischen Selbst leidet.164 Kierkegaard analysiert mit diesen Überlegungen eindrücklich, wie es um das Selbstverhältnis eines Menschen bestellt ist, der mit seinen endlichen Schwierigkeiten nicht umzugehen weiß. Er ist bei sich selbst sozusagen nur noch „zu Besuch“, ist nicht mehr bei sich selbst „zu Hause“ und zerreißt sich förmlich dazwischen, seine eigene Endlichkeit annehmen zu wollen und vor ihr wegzulaufen. Dieses Missverhältnis im Selbstverhältnis, das ist schon deutlich geworden, ist eine Verzweiflung der Unendlichkeit, weil der Mensch seiner eigenen endlichen Beschaffenheit, die eben konkrete Schwierigkeiten einschließt, aus dem Weg zu gehen sucht. Und es ist eine Verzweiflung der Notwendigkeit; der Mensch fixiert sich ganz auf die endliche Schwierigkeit, die zu dem Selbst, das er notwendig werden muss, hinzugehört, und lässt sich durch seine eigene endliche Schwierigkeit erdrücken. Er meint, er könne mit dieser Schwierigkeit nicht er selbst werden – und wartet deshalb einfach auf ihre Veränderung. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 6 Nach Kierkegaard kann die Überwindung dieser Verzweiflung nur dadurch geschehen, dass der Mensch die bei ihm selbst entdeckte Schwierigkeit und Unvollkommenheit annimmt. Der Mensch ist nur dann nicht verzweifelt, wenn er „sein wirkliches Selbst [gemeint ist – wie gesagt165 – sein faktisches Selbst] mit allen seinen Schwierigkeiten […] auf sich nimmt“.166 Wie ist eine derartige Annahme der Schwierigkeiten des faktischen Selbst möglich? Kierkegaard meint, dies sei nur über einen Zwischenschritt möglich. Dieser soll jetzt vorgestellt werden. Wie aufgrund dieses Zwi163
Vgl. KT 55. Vgl. KT 53. Der Gegensatz ist das trotzige Festhalten an den Eigenschaften des faktischen Selbst (vgl. KT 53); siehe unten § 5.2.2.2.2. 165 Siehe Anm. 162. 166 KT 54. 164
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schenschrittes dann die Annahme der Schwierigkeit geschieht, wird unter Das geheilte Selbst Teil 8 erörtert. Den Zwischenschritt stellt dasjenige Selbst dar – so formuliert Kierkegaard –, „welches gewonnen wird durch die unendliche Abstraktion von allem Äußerlichen“,167 d.h. von allen endlichen Beschaffenheiten des faktischen Selbst.168 Annahme der eigenen Unvollkommenheit ist nicht unmittelbar möglich, wie der Verzweifelte meint. Vielmehr braucht es eine „Abstraktion“ von ihr. Sie muss sich im Glauben vollziehen, wenn denn der Glaube dazu führt, dass der Mensch nicht mehr verzweifelt ist. Was mit dieser Abstraktion gemeint ist, führt Kierkegaard nicht aus. Tatsächlich ist eine derartige Abstraktion von den eigenen endlichen Beschaffenheiten nun aber nichts anderes als das, was Paulus als Rechtfertigung des Gottlosen (Röm 4,5) bezeichnet hat.169 In der Rechtfertigung unterscheidet Gott mich als Person von allen meinen Werken, von all meinen „Taten, Untaten, Leistungen und Fehlleistungen“.170 Der rechtfertigende Gott sieht nicht auf meine Unvollkommenheiten, sondern trennt mich von meinen Unvollkommenheiten, „abstrahiert“ sozusagen von ihnen. Und zwar trennt er mich darin von ihnen, dass er sie mir vergibt und mich als Person annimmt und bejaht.171 Diese Rechtfertigung gelten zu lassen, genau das ermöglicht erst die Auseinandersetzung mit den Unvollkommenheiten – in Kierkegaards Worten: Dieses „abstrakte[…] Selbst“ ist „das Vorantreibende in dem ganzen Prozeß, durch den ein Selbst sein wirkliches Selbst [d.h., wie gesagt, sein faktisches Selbst] mit allen seinen Schwierigkeiten […] unendlich auf sich nimmt“.172 Denn erst dadurch, dass ich mich von meinen Unvollkommenheiten unterscheiden lasse, kann ich ihnen ins Auge sehen und sie als die meinen (aber eben nicht als die mich konstituierenden) annehmen. Nur ein Mensch, der weiß, dass er als „Person“ (als „abstraktes Selbst“) noch einmal von seinen Unvollkommenheiten unterschieden ist, kann sich mit ihnen beschäftigen, weil mit der kritischen Analyse derselben nicht sein ganzes 167
KT 54. „Äußerliches“ schließt nach Kierkegaard auch die Umstände des Selbst ein; von diesen hat der in geringem Umfang Reflektierende sein Selbst „in einem gewissen Maße […] abgesondert“ (KT 53). Der Kontext KT 54 legt nahe, die „unendliche Abstraktion von allem Äußerlichen“ hier auf die endlichen Beschaffenheiten des Selbst, seine Fähigkeiten und Anlagen, zu beziehen. 169 Auch Kierkegaard geht von dieser aus (vgl. DEUSER: Kierkegaard, 83). Deuser erinnert daran, dass Kierkegaard aber desgleichen den „unauflöslichen Zusammenhang von Glaube und Handeln im Faktum der menschlichen Existenz“ und einen „handlungsintegrierende[n] Sinn der Gnade Gottes“ betont (ebd., 83f). Letzteres wird im Folgenden durch die Einsicht zur Geltung gebracht, dass die Rechtfertigung die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst keinesfalls überflüssig macht, sondern vielmehr fordert. 170 JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 191. 171 Siehe dazu ausführlicher § 7.2.1. 172 KT 54. 168
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Menschsein auf dem Spiel steht. Die Unvollkommenheiten gehören zwar zu seinem faktischen Selbst; er kann sie nicht wie einen Koffer einfach irgendwo abstellen. Sie entscheiden aber nicht über ihn als Person.173 Insgesamt kann man sagen: Im Gelten-Lassen und Annehmen der Rechtfertigung entfernt der Mensch sich von sich selbst.174 Darin ist eine erste Richtung der „Doppelbewegung“ zu erkennen, die zur Selbstannahme gehört.175 Es ist interessant, dass Kierkegaard meint, das „abstrakte“ Selbst sei auch Voraussetzung dafür, seine eigenen Vorzüge anzunehmen.176 Offensichtlich muss der Mensch sich in gleicher Weise mit seinen Vorzügen auseinandersetzen und sie als die seinen annehmen. Auch die Übernahme der eigenen Vorzüge ist nur möglich dadurch, dass der Mensch sich nicht mit seinen Vorzügen identifiziert, sondern in der Rechtfertigung von ihnen unterschieden wird. Die Begriffe „Schwierigkeiten“ und „Vorzüge“ scheinen im Rechtfertigungshorizont zu schwach zu sein, bedeutet Rechtfertigung doch, dass Gott dem Menschen seine Sünde vergibt und ihn insofern von seinen sündigen Taten unterscheidet. Kierkegaard führt den Sündenbegriff erst spät177 und mit enger Bedeutung ein. Deswegen sei er hier nicht verwendet. Gleichwohl wird man zu Recht sagen können, dass Gott den Menschen in der Rechtfertigung nicht nur von seinen sündigen Taten unterscheidet, sondern auch von allen seinen endlichen Beschaffenheiten, von allen seinen Schwierigkeiten und Vorzügen.178 Die beschriebene Verzweiflung „über etwas Irdisches“ (sei es im Bereich der Umstände, sei es im Bereich der eigenen Beschaffenheit) kann sich ausweiten zu einer Verzweiflung „über das Irdische“.179 Während die erst173
Allerdings ist für mein Selbstverhältnis entscheidend, wie ich mich zu diesen Unvollkommenheiten verhalte, d.h. ob ich diese Unterscheidung gelten lasse. 174 Vgl. dazu JÜNGEL: Zum Wesen des Christentums, 22f. 175 Siehe unten Das geheilte Selbst Teil 9. 176 Vgl. KT 54 (Hervorhebung von mir): Das „nackte[…], abstrakte[…] Selbst“ ist „das Vorantreibende in dem ganzen Prozeß, durch den ein Selbst sein wirkliches [gemeint: sein faktisches] Selbst mit allen seinen Schwierigkeiten und Vorzügen unendlich auf sich nimmt.“ 177 Siehe unten § 6. 178 Siehe dazu genauer unten § 7.2.1. 179 KT 59f (Hervorhebung von mir). Vgl. GRØN: Kierkegaards Phänomenologie?, 105: „Die nebengeordneten Glieder in der Überschrift […] zeigen in Wirklichkeit eine Bewegung an, eine Totalisierung oder Verunendlichung des Verlusts.“ Auch ebd., 107, weist Grøn ausdrücklich auf den Unterschied zwischen diesen beiden Verzweiflungsformen hin. Grøn behauptet gleichzeitig, jede Verzweiflung über etwas Irdisches sei „eigentlich“ Verzweiflung über das Irdische, weil man, „um über etwas zu verzweifeln, diesem Etwas eine unendliche Bedeutung beimessen“ müsse (GRØN: Der Begriff Verzweiflung, 50). Bei dem hier vorgetragenen Verständnis der Verzweiflung als etwas Strukturelles ist dieser Schluss nicht zwingend.
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genannte Form der Verzweiflung sich nur auf etwas Einzelnes richtet, wird – wenn sich „das Selbst mit unendlicher Leidenschaft der Phantasie“ auf dieses Etwas richtet – aus diesem Etwas das „Irdische[…] in Ganzheit“.180 Verzweiflung über das Irdische ist nur durch diese Phantasieleistung möglich. Denn nie wird ein Mensch wirklich alles Irdischen beraubt oder sind alle seine Beschaffenheiten Schwierigkeiten. Wird dem Selbst aber bewusst, dass es nur durch seine Phantasieleistung über das Irdische verzweifelt, dann ist eine neue Qualität des Selbstbewusstseins erreicht – und so kann das Verzweifeln über das Irdische als dialektisches Zeichen der nun zu beschreibenden Verzweiflung am Ewigen angesehen werden.181 2.2.1.2 Die Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst Die Verzweiflung, nicht man selbst sein zu wollen, kann sich auch in der Gestalt der „Verzweiflung am Ewigen oder über sich selbst“182 vollziehen. Um diese Verzweiflungsform plausibel zu machen, muss Kierkegaard zunächst eine Unterscheidung einführen: die Unterscheidung zwischen dem Verzweifeln an etwas und dem Verzweifeln über etwas. Während letzterer Ausdruck den „Anlaß“ der Verzweiflung bezeichnet, dasjenige, „das einen in der Verzweiflung festsetzt“,183 bezeichnet ersterer das, was aus der Verzweiflung erlösen könnte, aber bislang (aus welchem Grund auch immer) noch nicht wirksam geworden ist. Gerade, dass man in der Regel184 zwar deutlich erkennt, worüber man verzweifelt, aber meist nicht erkennt, woran man verzweifelt, d.h. was einen aus der Verzweiflung befreien könnte, macht, wie Kierkegaard hervorhebt, die „Dunkelheit“185 der Verzweiflung aus. Heilung ist nur dann möglich, wenn der Mensch erkennt, was ihn aus der Verzweiflung befreien könnte.186 180
KT 59 (Hervorhebung von mir). Vgl. KT 60. 182 KT 60. 183 KT 60 Anm. 184 Ausnahme ist der uneigentlich Verzweifelte und der, der über seine Umstände unglücklich ist, anstatt zu merken, dass dieses Unglücklich-Sein seine eigentliche Verzweiflung ist. Bei dem über eigene Beschaffenheiten Verzweifelnden liegt dieses Missverstehen nicht vor. Er schaudert vor seiner Schwierigkeit zurück und empfindet Verzweiflung, weil er sich in einem Missverhältnis zu seiner Schwierigkeit befindet. Sein Empfinden entspricht also der Struktur. 185 Vgl. KT 60 Anm. 186 Vgl. KT 60 Anm. Kierkegaard nennt als Beispiele von etwas, an dem man verzweifelt, das Ewige, das Heil, die eigene Kraft (vgl. KT 60 Anm.). Das letztgenannte Beispiel weist, wie Kierkegaard sogleich kenntlich macht, darauf hin, dass das Selbst sowohl Anlass der Verzweiflung ist als auch das sein muss, was einen aus der Verzweiflung erlöst, nämlich in dem Sinne, dass zum Beenden der Verzweiflung auch etwas vom Selbst vollzogen werden muss (nämlich das Glauben – siehe unten § 6.1). Deshalb ist das Selbst „zwiefach dialektisch“ (KT 60 Anm.). 181
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Der über etwas Irdisches oder über das Irdische verzweifelnde Mensch verzweifelt aus Schwachheit. Der Mensch der neuen Verzweiflungsstufe erkennt, dass er aus Schwachheit verzweifelt ist: „Der Verzweifelnde versteht selbst, daß es Schwachheit ist, sich das Irdische so zu Herzen zu nehmen“.187 Diese Einsicht in die eigene Schwachheit kann entweder dazu führen, „richtig abzubiegen von der Verzweiflung fort und zum Glauben hin“188 (siehe dazu Das geheilte Selbst Teil 7). Sie kann aber auch eine neue Form von Verzweiflung auslösen,189 nämlich wenn der Mensch bei seiner Schwachheit stehen bleibt: Er „vertieft […] sich in die Verzweiflung und verzweifelt über seine Schwachheit“.190 Das Selbst hasst sich dafür, dass es so schwach ist; der Mensch „verzweifelt über sich selbst, daß er schwach genug hat sein können, dem Irdischen so große Bedeutung beizulegen“.191 Anstatt zu dieser Schwachheit zu stehen, will das Selbst „sich nicht zu sich selbst bekennen, nachdem es so schwach gewesen“192 ist, will es „sozusagen von sich selbst nichts hören“.193 Aber auch diese Schwachheit gehört zu seinem faktischen Selbst, zu seiner Endlichkeit. Indem der Mensch sich nicht mit seiner Schwachheit annimmt, will er nicht in den Bedingungen der Endlichkeit leben, also wieder nicht das von Gott gesetzte Selbst sein. Es besteht damit ein Missverhältnis im Selbstverhältnis.194 Insgeheim ist diese Verzweiflung nicht nur durch Schwachheit bestimmt. Zwar verzweifelt der Mensch über seine Schwachheit, aber dies gerade deshalb, weil er gerne stolz auf sich wäre; „das Verlangen, auf sein Selbst stolz zu sein, [ist] der Grund [dafür …], daß er dies Bewußtsein seiner Schwachheit nicht auszuhalten vermag“.195 Kierkegaard nennt diese Form des Selbstverhältnisses „Verschlossenheit“,196 weil es so ist, als würde der Mensch, indem er die Beschaffenheit seines faktischen Selbst nicht annehmen will, sich selber hinter eine Tür wegschließen.197 Entsprechend lässt ein solcher Mensch auch niemanden an seinem Verhältnis zu sich selbst teilnehmen und verbirgt seine Verzweif187
KT 61 (Hervorhebung von mir). KT 61. 189 Vgl. KT 61. 190 KT 61 (Hervorhebung von mir). 191 KT 61. 192 KT 62. 193 KT 62. 194 Es wird noch einmal deutlich: Der Affekt, über die eigene Schwachheit zu verzweifeln, der Selbsthass (vgl. KT 62), hängt mit dem Missverhältnis zum von Gott gesetzten Selbst zusammen. 195 KT 65. 196 KT 62. 197 Das Bild von dem sich selbst wegschließenden Selbst – das sowohl hinter der zu verschließenden Tür steht als auch von außen den Schlüssel herumdreht – führt die Entzweiung im Selbstverhältnis eindrücklich vor Augen. 188
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lung vor anderen.198 Weil der Verzweifelte sich vor lauter Selbstverschlossenheit nicht helfen lassen kann,199 ist die Verzweiflung über sich selbst auch eine Verzweiflung am Ewigen.200 Gleichzeitig ist in dieser Verzweiflung eine höhere Stufe in Richtung auf die Erlösung erreicht, weil die Verzweiflung schlechter wieder weggeschoben werden kann – und mithin die Möglichkeit der Erlösung näher ist.201 Insofern ist sie ein durchaus dialektisches Phänomen.202 Auch bei dieser Verzweiflung bedeutet das Missverhältnis im Selbst, so muss gefolgert werden, ein Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthese: Zum einen besteht hier Verzweiflung der Möglichkeit: Das Selbst übergeht nämlich, dass es das schwache Selbst, als das es sich erkannt hat, werden soll. Das Selbst will dem Annehmen der eigenen Schwachheit, die zu seiner Endlichkeit gehört, aus dem Weg gehen, will nicht das schwache Selbst werden, das es notwendig werden muss – um Hilfe in der Schwachheit erleben zu können. Zum anderen besteht hier noch einmal Verzweiflung der Unendlichkeit, weil der Mensch seine Endlichkeit nicht annimmt. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 7 Das glaubende Selbst nimmt zwar auch wahr, dass es Schwachheit ist, sich das Irdische so zu Herzen zu nehmen. Aber es steht zu dieser Schwachheit, läuft nicht vor ihr weg. Es vermag „dies Bewusstsein seiner Schwachheit […] auszuhalten“.203 Es „demütigt“ sich „unter seine Schwachheit“.204 Es steht dazu, nimmt an, dass es so an seinen eigenen Schwierigkeiten leidet. Es bekennt sich dazu, dass ihm die Beschaffenheiten seines Selbst so wichtig sind. Damit bekennt es gleichzeitig, dass es Hilfe braucht, um sich das Irdische nicht so zu Herzen zu nehmen – eben die Hilfe, die durch die Rechtfertigung geschieht. Das Selbst hatte sich ja nur deshalb das Irdische so zu Herzen genommen, weil es meinte, dadurch als Person bestimmt zu sein. Der Glaubende sagt „Ja“ dazu, dass er Hilfe braucht, um von seinem Hängen am Irdischen befreit zu werden. Er gesteht ein, dass er sich nicht 198
Vgl. KT 63. Deshalb hat er nicht selten das Bedürfnis danach, einsam zu sein (vgl. KT 64). Vgl. KT 70. Dies ist etwas anderes als die von Theunissen in dieser Verzweiflungsform behauptete desperatio, bei der das Selbst alle Hoffnung verliert (siehe oben § 4 Anm. 4). 200 Theunissen interpretiert dieses Ewige – m.E. überzeugend – als das den Menschen „Rettende“ (THEUNISSEN: Der Begriff Verzweiflung, 108). Siehe auch oben Anm. 186. 201 Vgl. KT 62. Vgl. KT 65: „[…] du sollst durch diese Verzweiflung am Selbst hindurch zum Selbst“ – d.h. nicht bei dieser Verzweiflung stehen bleiben. 202 Vgl. KT 65. 203 KT 65. 204 KT 61. 199
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selbst von sich unterscheiden kann, sondern ein anderer ihn unterscheiden muss. Er erkennt an, dass er von der Rechtfertigung abhängig ist. Nur so nimmt er sie an und lässt er sie zu. Insofern findet hier eine andere Richtung der „Doppelbewegung“ in der Selbstannahme statt: Nur wenn der Mensch seine Schwachheit, sich das Endliche so zu Herzen zu nehmen, akzeptiert, also in gewissem Sinne eine Bewegung zu sich hin vollzieht, kann Gott ihr ein Ende machen. 2.2.2 Das verzweifelte Man-selbst-sein-Wollen, oder besser: die Verzweiflung, ein anderes Selbst sein zu wollen Kierkegaard schließt seine Aufstellung der verschiedenen Gestalten der Krankheit zum Tode, der verschiedenen Formen von Verzweiflung, mit der „Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen“, die er auch „Trotz“205 nennt, ab. Mit dem am Ewigen Verzweifelnden kann entweder eine „Umwälzung vor sich [gehen], so daß er auf den rechten Weg zum Glauben hin gelangt“.206 Er kann sich aber auch noch tiefer in der Verzweiflung verschließen. Wie kommt der Mensch von der Verzweiflung, nicht er selbst sein zu wollen, zur Verzweiflung, ein anderes Selbst sein zu wollen? Nach Kierkegaard ist dazu nur ein kleiner weiterer Bewusstwerdungsschritt nötig:207 Der Mensch erkennt nämlich, was der Grund für sein bisheriges Verzweifeltnicht-er-selbst-sein-Wollen ist. Er wird sich dessen bewusst, dass er ein viel besseres Bild von sich hat, als es in seiner Schwachheit zum Ausdruck kommt (er erkennt sein „Verlangen, auf sein Selbst stolz zu sein“, und begreift, dass er nur deshalb das „Bewußtsein seiner Schwachheit nicht auszuhalten“208 vermochte).209 Kierkegaard unterscheidet zwei Formen des Ein-anderes-Selbst-seinWollens: Das Selbst kann 1. handelnd und es kann 2. leidend ein anderes Selbst sein wollen.
205
KT 67. KT 65. Damit ist auch zwischen der Verzweiflung über die eigene Schwachheit und der aus Trotz grundsätzlich ein Abbiegen zum Glauben möglich. 207 Es wird noch einmal deutlich: Die Verzweiflungsformen sind nicht theoretische Einteilungen, sondern eine tatsächlich vollziehbare Stufenfolge. 208 KT 65. 209 Insofern ist in der Verzweiflung über sich selbst, die eine Verzweiflung ist, nicht man selbst sein zu wollen, tatsächlich die Verzweiflung, ein anderes Selbst sein zu wollen, impliziert (was aber eben nur in der Verzweiflung über sich selbst der Fall ist). 206
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2.2.2.1 Handelnd ein anderes Selbst sein wollen Will das Selbst handelnd ein anderes Selbst sein, so heißt das, dass es sich ständig neu zu entwerfen versucht. Der Mensch „will […] über sich selbst verfügen, oder sich selbst erschaffen, sein Selbst zu dem Selbst machen, das er sein will, bestimmen was er in seinem konkreten Selbst mit dabei haben will und was nicht“;210 das Selbst will sich insofern losreißen „von jeder Beziehung zu einer Macht, die es gesetzt hat“.211 Während der Mensch de facto nur dadurch ein konkretes Selbst wird, dass er sein wahres, sc. das von Gott gesetzte Selbst wird, versteht ein derartiger Mensch das KonkretWerden seines Selbst so, als gäbe es nicht das von Gott gesetzte Selbst, das er werden muss. Er möchte hinter das von Gott gesetzte Selbst zurückgehen und „ein wenig früher anfangen als andre Menschen, nicht mittels des Anfangs und mit dem Anfang, sondern ‚am Anfang‘; er will sich sein Selbst nicht anziehen, […] er will […] es selber konstruieren“.212 Er will also nicht die vorgegebene zweifache Synthese werden, sondern sein Selbst von Anfang an selber herstellen. Er will nicht das von Gott gesetzte Selbst sein, sondern will ein anderes Selbst sein. Das ist ein Missverhältnis im Selbstverhältnis. Das Selbst löst sich hier zwar von den Äußerlichkeiten, indem es von ihnen abstrahiert; es löst sich aber – wenn man so will – zu sehr von ihnen. Es weiß um seine Schwachheit und seine Schwierigkeit, will aber sich unabhängig von diesen neu erfinden. Es will „nicht in dem ihm gegebenen Selbst [mit seinen faktischen Beschaffenheiten] die ihm gestellte Aufgabe erblicken“.213 Insofern versucht es eine völlig abstrakte Möglichkeit seiner selbst zu realisieren. Die Abstraktion vom faktischen Selbst ist notwendig, in der der Mensch als Person von seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten unterschieden wird. Sie muss dann aber zu einer – durch die Unterscheidung der Person von ihren Fähigkeiten und Unfähigkeiten neu und anders ermöglichten – Annahme derselben führen. Weder darf der Mensch sich stattdessen neue Fähigkeiten und Unfähigkeiten andichten, sich selbst neu erfinden. Noch darf er bei dem durch diese Unterscheidung entstehenden „abstrakten“ Selbst stehen bleiben und ganz darauf verzichten wollen, faktische Fähigkeiten und Unfähigkeiten zu besitzen.214 210
KT 68. KT 68. 212 KT 68. 213 KT 68. 214 Vgl. KT 71 Anm.: Es gibt eine Art der Verzweiflung, in der der Mensch „sein abstraktes Selbst sein“ will, um „damit dem Leiden im Irdischen und Zeitlichen trotzen oder es ignorieren zu können“. 211
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Selbstannahme oder Verzweiflung
Was dagegen ein sich selbst entwerfender Mensch über sich selbst festlegt, kann er genauso gut in jedem Moment wieder auflösen.215 Er entwirft sich als Beliebiges.216 Sein neues Selbst wird nur ein „hypothetisches Selbst“.217 Er übersieht, dass es ein Selbst gibt, das er werden soll. Deshalb besteht Verzweiflung der Möglichkeit. Das Selbst wird so „schlechthin […] sein eigner Herr“.218 Weil dieses Herrsein sich nur im Abstrakten bewegt, kann Kierkegaard auch davon reden, dass dieses Selbst ein „König ohne Land“219 ist. Und gerade das führt zu einem weiteren Missverhältnis in der Synthese, weil das Selbst so tut, als sei es nur Abstrakt-Unendliches und nicht bereits durch bestimmtes Endliches bestimmt.220 So besteht hier Verzweiflung der Unendlichkeit. Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 8 Der Glaubende löst sich nicht so von seinen Beschaffenheiten und Umständen, dass er sich selbst neu zu erfinden versucht. Vielmehr erblickt er „in dem ihm gegebenen [d.h. faktischen] Selbst die ihm gestellte Aufgabe“.221 Er lässt sich in der Rechtfertigung als Person von seinen Fähigkeiten und Schwierigkeiten unterscheiden, nimmt jedoch dann seine Fähigkeiten und Anlagen, aber auch seine Schwierigkeiten als die seinen an. Der Glaubende realisiert: Die Unterscheidung von seinen Unvollkommenheiten und Vorzügen muss dazu führen, dass er seine Unvollkommenheiten und Vorzüge als die seinen auf sich nimmt. Während die Abstraktion von sich selbst ein Von-sich-weg bedeutet, ist hier die Notwendigkeit eines (in diesem Von-sich-weg begründeten) Zusich-hin beschrieben. Glauben bedeutet, sich so von sich selbst entfernen zu lassen, dass eine Annahme der Beschaffenheiten des faktischen Selbst möglich wird.
215 Vgl. KT 69: „Es gibt in der ganzen Dialektik, innerhalb deren es handelt, nichts Festes; was das Selbst ist, steht in keinem Augenblicke fest […] es kann durchaus willkürlich jeden Augenblick von vorne anfangen, und wie weit auch ein Gedanke verfolgt werde, die gesamte Handlung liegt innerhalb einer Hypothese.“ 216 Vgl. RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 202. 217 KT 69. Vgl. JANKE: Historische Dialektik, 419: „Was dem sich selbst konstituierenden Selbst zugrunde liegt, ist Nichts. […] das hypothetische Selbst ist willenhaft unbegrenzte Möglichkeit und darum bloßes Werden, ohne Festes und Umgrenztes, das wird.“ 218 KT 69. 219 KT 69. 220 Vgl. KT 69f. 221 KT 68.
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Diese Annahme erweist sich aber erst dann als wahrhaft heilsam, wenn die vorläufig letzte Stufe des geheilten Selbst erreicht wird. Um diese zu gewinnen, sei die vorerst letzte Verzweiflungsstufe betrachtet. 2.2.2.2 Leidend ein anderes Selbst sein wollen Das Selbst kann auch versuchen, leidend ein anderes Selbst zu sein, nämlich dann, wenn es sich von seinen Schwierigkeiten gar nicht lösen will, wenn es „einen Grundschaden, dieser sei nun welcher er wolle“,222 an sich wahrnimmt und diesen nicht loslassen will. Im Unterschied zur Verzweiflung über die irdische Zusammensetzung des Selbst will das Selbst hier die eigene Unvollkommenheit nicht vergessen oder wegschließen; es nimmt sie an, aber so, dass es sozusagen Gefallen an ihr, an seinem „Grundschaden“ hat. Es will deshalb auch nicht davon frei werden: „Hat er [der Verzweifelte] sich dessen vergewissert, daß dieser Pfahl im Fleisch […] so tief nagt, daß er nicht von ihm zu abstrahieren vermag, so will er gleichsam ihn auf ewig übernehmen“.223 Während der über die Zusammensetzung seines Selbst Verzweifelnde seine endliche Schwierigkeit noch nicht einmal vorübergehend als die seine übernimmt, will der leidend ein anderes Selbst sein Wollende seine Schwierigkeit „auf ewig“ übernehmen. Der Mensch übernimmt also seine endliche Schwierigkeit, seine „irdische[…] Not“,224 als seine eigene, er übernimmt sie aber – wenn man so will – zu sehr. Er will „nicht hoffen […] auf die Möglichkeit der Behebung einer irdischen Not, eines zeitlichen Kreuzes“.225 Er will mithin jede Veränderung der endlichen Schwierigkeit ausschließen.226 Kierkegaard hebt besonders darauf ab, dass diese Veränderung durch die Hilfe eines anderen, sei es Gott, sei es ein anderer Mensch, geschieht.227 Warum will der Verzweifelte Veränderung ausschließen? Er hat seine Schwierigkeit so sehr übernommen, dass sie für ihn nun doch wieder seine 222
KT 70. KT 71. 224 KT 70. 225 KT 70. 226 Vgl. KT 72. Vgl. dazu auch Kierkegaards Rede über den Hohepriester von 1849, die er zusammen mit einer Rede über den Zöllner und einer Rede über die Sünderin als Begleitschrift (vgl. E. HIRSCH: Geschichtliche Einleitung zur 24. und 25. Abteilung, KT XI) zu „Die Krankheit zum Tode“ verstanden hat: „Und darum du, der du leidest, wer immer du bist, schließ dich nicht verzweifelt ein mit deinen Leiden, so als ob niemand, auch Er nicht, dich verstehen könnte; klage auch nicht laut und ungeduldig über deine Leiden, als wären sie so fürchterlich, daß auch Er nicht vermöchte ganz sich zu setzen an deine Statt“ (KT 141). Vgl. auch KT 144. 227 Vgl. KT 71f. 223
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Selbstannahme oder Verzweiflung
Identität ausmacht. Würde sie sich verändern, wäre – so meint er – seine eigene Person in Gefahr. Der Mensch nimmt dabei eine Haltung des Trotzes ein: „er will dem ganzen Dasein zum Trotz oder im Trotz wider das ganze Dasein mit dem Pfahl im Fleisch zusammen er selbst sein, ihn mitnehmen, indem er trotzig auf seine Qual nahezu pocht“.228 Er will der diesen Pfahl Habende sein.229 Zwar legt diese Formulierung zunächst nahe, der Mensch wolle in dieser Verzweiflungsform doch in einem falschen Modus er selbst sein. Es hat den Anschein, als sei die oben gemachte Behauptung, „verzweifelt man selbst sein zu wollen“ müsse besser durch „Verzweiflung, ein anderes Selbst sein zu wollen“ wiedergegeben werden, nun doch nicht zutreffend. Aber: Der Mensch, der der diesen Pfahl Habende sein will, will jede Veränderung ausschließen. Insofern will er nur durch die Endlichkeit bestimmt sein und darin ein anderes Selbst sein als das Selbst, das eine gelungene Synthese zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ist. Er will also nicht wirklich er selbst im Sinne des von Gott gesetzten Selbst sein. Daran, dass Kierkegaard auch dies als Verzweiflung beschreibt, wird deutlich, dass Verzweiflung nicht schon dadurch ein Ende findet, dass man die eigenen Schwierigkeiten übernimmt (das tut ja der Mensch, der an seinem Pfahl im Fleisch festhält). Vielmehr geht es darum, zu unterscheiden zwischen den endlichen Dingen, bei denen keine Veränderung möglich oder erstrebenswert ist, und denen, bei denen Veränderung möglich und erstrebenswert ist, – und die Veränderung entsprechend zu suchen. Nur so trägt man dem Rechnung, dass man als Person eben gerade nicht mit den eigenen Schwierigkeiten identisch ist. Hier tritt eine Verzweiflung der Möglichkeit ein, weil der Mensch zwar frei etwas wird, nämlich der den Pfahl im Fleisch Habende. Er will aber nicht das Selbst sein, das durch Endlichkeit und Unendlichkeit bestimmt ist – also bei dem sich Veränderung einstellt. Er will nicht das Selbst werden, das durch beides bestimmt ist. Damit ist klar, dass hier gleichzeitig Verzweiflung der Endlichkeit vorliegt.
228 KT 71. Die Verzweiflung kann sich geradezu ins Dämonische steigern. Der Mensch klammert sich an seiner Qual fest, klammert sich daran fest, dass er der zu Unrecht Leidende ist. Dies will er nicht aufgeben, so dass das Schlimmste für ihn wird, „daß es der Ewigkeit in den Sinn kommen möchte, sein Elend von ihm zu nehmen“ (KT 73). Der dämonisch Verzweifelte will „zum Trotz“ er selbst sein. Er „meint, wider das ganze Dasein sich empörend, einen Beweis wider es, wider dessen Gutheit erhalten zu haben. Dieser Beweis meint der Verzweifelte selber zu sein, und das ist es, was er sein will, darum will er er selbst sein, er selbst in seiner Qual, um mit dieser Qual das ganze Dasein abzuweisen“ (KT 74). 229 Vgl. KT 71. Vgl. KT 71: „[…] es ist doch eben nicht so ganz wahr, was man da zu sagen pflegt, ‚es verstehe sich von selbst, daß ein Leidender so gerne Hilfe haben möchte, wenn nur einer da ist, der ihm helfen kann‘“.
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Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 9 Wenn der Glaubende sein Unterschiedenwerden von seinen Schwierigkeiten und Unvollkommenheiten in der Rechtfertigung hat gelten lassen und sie dann als die seinen annimmt, so identifiziert er sich doch nicht mit ihnen. Vielmehr hat er den Mut, sich als dieses unvollkommene Selbst zu verlieren.230 Der Glaubende hat die Unterscheidung seiner Person von seinen Unvollkommenheiten gelten lassen. Und er hat sie dann als seine eigenen übernommen. Damit ist aber die „Aufgabe“, die das ihm gegebene, faktische Selbst darstellt, noch nicht zu Ende. Zur „Aufgabe“231 gehört auch die Veränderung der eigenen Schwierigkeit.232 Seine Schwierigkeit wird durch ihre Annahme ja nicht einfach gut oder vollkommen. Sie bleibt eine Unvollkommenheit – die anders werden soll.233 Dabei ist entscheidend, dass Veränderung der eigenen Schwierigkeit nur bedeutet, anders zu werden, nicht aber meint, ein anderer zu werden.234 Der Glaubende kann anders werden; er unternimmt aber nicht den – notwendig missglückenden – Versuch, sein Selbst zu wechseln. Der Mensch muss seine Unvollkommenheiten wirklich als eigene übernehmen. Aber nur, wenn er sich auch von seinen eigenen Unvollkommenheiten zu lösen bereit ist, kann er in seiner Entwicklung einen Schritt weiterkommen. Wer es sich mit seinem eigenen Schaden gemütlich macht, der kann von ihm nicht geheilt werden. Die bisherigen Ergebnisse können zusammengefasst werden: Annahme der endlichen Beschaffenheiten des eigenen faktischen Selbst ist nicht unmittelbar möglich. Voraussetzung für sie ist vielmehr die Rechtfertigung als die Unterscheidung des Menschen von seinen Schwierigkeiten und Vorzügen, d.h. seinen endlichen Beschaffenheiten; diese Rechtfertigung muss der 230
Vgl. KT 67. Eine „Aufgabe“ darf man nicht nur übernehmen, man muss sie erfüllen. 232 Vgl. EISENSTEIN: Selbstverwirklichung und Existenz, 286, der zwischen einem „Akzeptieren und einem ‚Zementieren‘ der eigenen Schwächen“ unterscheidet. Eisenstein streicht heraus, dass Veränderung derselben nur durch „die Annahme des Gegebenen“ (ebd.) möglich ist, da der Wunsch nach Veränderung sonst im Bereich der Phantasie verbleibe. 233 Dass es im Glauben um Veränderung geht, wird auch in der „Einübung im Christentum“ deutlich: „Es ist in deinem wie in meinem wie in eines jeglichen Menschen Wesen vieles, das Er [d.h. Gott] fort haben will“ (EC 145). Christliche Selbstannahme ist keine Zementierung des Status Quo. 234 An diesem Punkt unterscheidet sich Guardini von dem Selbstannahme-Verständnis Kierkegaards, wenn er schreibt, der „Akt des Selbstseins“ werde „in seiner Wurzel zu einer Askese: ich muß auf den Wunsch verzichten, anders zu sein, als ich bin; gar ein Anderer als der, der ich bin.“ (GUARDINI: Die Annahme, 16) Nur der letzte Teil des Satzes trifft Kierkegaards Auffassung. 231
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Mensch annehmen (Das geheilte Selbst Teil 6). Die Annahme der Rechtfertigung wiederum ist nur möglich dadurch, dass der Mensch seine Unfähigkeit, sich selbst von seinen Schwierigkeiten und Vorzügen zu unterscheiden, und damit seine Abhängigkeit von der Rechtfertigung annimmt (Das geheilte Selbst Teil 7). Die „Abstraktion“ in der Rechtfertigung befreit den Menschen dann zu einer Bejahung der Schwierigkeiten und Vorzüge des faktischen Selbst als der eigenen (Das geheilte Selbst Teil 8), die Grundlage für eine Veränderung der Schwierigkeiten ist (Das geheilte Selbst Teil 9). Das ist eine differenzierte Annahme der eigenen endlichen Beschaffenheiten, das ist Annahme der eigenen Eigenschaften im christlichen Sinne. Sie ist, wie der letzte Schritt deutlich macht, keine Sanktionierung der eigenen endlichen Beschaffenheiten, sondern impliziert Veränderung. Der Mensch bedarf zu dieser Selbstannahme also einer mehrfachen Doppelbewegung: Der Mensch muss seine Schwachheit, sich seine Schwierigkeiten (und Vorzüge) so zu Herzen zu nehmen, bejahen (Bewegung hin zu sich), um sich dann in der Rechtfertigung von seinen Schwierigkeiten (und Vorzügen) unterscheiden zu lassen (Bewegung weg von sich). Nur durch diese Unterscheidung kann er seine Schwierigkeiten (und Vorzüge) als die seinen bejahen (Bewegung hin zu sich). Und nur dadurch wiederum ist eine Veränderung235 der Schwierigkeiten, und das heißt: der eigenen endlichen Beschaffenheiten möglich (Bewegung seiner selbst). Der Paragraph wird abgeschlossen, indem zusammengestellt wird, welche Zusammenhänge zwischen Missverhältnis im Selbstverhältnis und Missverhältnis in den Elementen der Synthesis im Verlaufe der Darstellung herausgestellt werden konnten:
235 Diese Veränderung ist, wie ganz zu Beginn (Das geheilte Selbst Teil 2) notiert wurde, ihrerseits nur durch die Doppelbewegung innerhalb der Synthese Endlichkeit-Unendlichkeit möglich.
Die Gestalten der Verzweiflung
Missverhältnis im Selbstverhältnis
Unbewusste Verzweiflung
=>
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Missverhältnis zwischen den Elementen der Synthesis Verzweiflung der Endlichkeit Verzweiflung der Notwendigkeit
Bewusste Verzweiflung Verzweiflung, nicht man selbst sein zu wollen Verzw. über etwas Irdisches resp. das Irdische (Verzw. aus Schwachheit) Verzw. über Umstände => Verzweiflung der Endlichkeit Verzweiflung der Notwendigkeit Verzw. über eigene => Verzweiflung der Unendlichkeit Beschaffenheiten Verzweiflung der Notwendigkeit Verzw. über sich selbst resp. am Ewigen (Verzw. über seine Schwachheit) => Verzweiflung der Unendlichkeit Verzweiflung der Möglichkeit Verzweiflung, ein anderes Selbst sein zu wollen (Trotz) handelnd => Verzweiflung der Unendlichkeit Verzweiflung der Möglichkeit leidend => Verzweiflung der Endlichkeit Verzweiflung der Möglichkeit
Das Schema belegt die oben formulierte These, dass die Synthese Notwendigkeit-Möglichkeit und die Synthese Endlichkeit-Unendlichkeit und also die entsprechenden Verzweiflungsformen nicht parallel liegen, sondern voneinander unterschieden sind. Denn es sind offensichtlich alle beliebigen Kombinationen möglich – was nicht der Fall sein könnte, wenn mit der einen Synthese letztlich das Gleiche gemeint wäre wie mit der anderen.
§ 6 Verzweiflung und Sünde Kierkegaards – und die hier unternommene – Erörterung über die Verzweiflung könnte eigentlich an dieser Stelle zu Ende sein. Das Phänomen der Verzweiflung wurde in seinen verschiedenen Gestalten beschrieben. Und es wurde gezeigt, dass es der Glaube ist, der der Verzweiflung ein Ende bereitet, weil er Selbstannahme in einem differenzierten Sinne bedeutet. Insbesondere bei Das geheilte Selbst Teil 2 und 3 wurde deutlich, dass für die Überwindung der Verzweiflung die Botschaft des Christentums bedeutsam ist, „daß dieser einzelne Mensch da ist vor [dänisch: for1] Gott“.2 In dieser Existenz des Einzelnen vor Gott liegt nach Kierkegaard die Pointe des Christentums: „[…] das entscheidende Christliche: vor Gott“.3 Es besagt, daß dieser einzelne Mensch, und so denn jeder einzelne Mensch, was er im übrigen auch sein möge, Mann, Weib, Dienstmädchen, Minister, Kaufherr, Barbier, Student usf., daß dieser einzelne Mensch da ist vor Gott […], er ist da vor Gott, kann reden mit Gott, jeden Augenblick den er will, dessen gewiß, von ihm gehört zu werden, kurz, diesem Menschen wird es angeboten, auf vertrautestem Fuße zu leben mit Gott!4
Lässt der Mensch sich darauf ein, glaubt er diese Botschaft (und – wie gezeigt werden konnte – die Botschaft von der Rechtfertigung), dann ist seine Verzweiflung überwunden. Nun glaubt aber nicht jeder Mensch diese Botschaft des „vor Gott“. Denn diese Botschaft ist „das Absurde, das Paradox“5 und insofern „die 1
Von Hirschs Übersetzung sei hier abgewichen; das dänische „for“ (SV 15, 138) kann sowohl „vor“ als auch „für“ bezeichnen. 2 KT 84. In anderen Teilen über das geheilte Selbst lag der Akzent zum Beispiel darauf, dass der Mensch im Glauben Klarheit über sich selbst gewinnt oder an den glaubt, bei dem alles möglich ist, insbesondere aber auf der Botschaft von der Rechtfertigung. Für die nachfolgenden Überlegungen ist die Botschaft davon, dass der Einzelne da ist vor Gott, entscheidend (zu deren Zusammenhang zur Botschaft von der Rechtfertigung siehe aber unten Das geheilte Selbst Teil 11). 3 KT 81. 4 KT 84 (Hervorhebung im Original). Kierkegaards Umschreibung dieses „vor Gott“ (nicht nur Dasein vor Gott, sondern Reden mit Gott, Gehörtwerden von Gott, Vertrautheit mit Gott) macht deutlich, dass es sich bei dem „vor Gott“ nicht um ein „regulatives Konzept“ handelt, das nur sage, dass man so leben solle, „als ob“ man vor Gott lebe (gegen PATTISON: „Before God“, 71f und 84). – Die bei Kierkegaard dem Zitierten nachfolgende Passage über Menschwerdung, Leid und Tod Gottes in Christus bezeichnet nicht den direkten Inhalt des „vor Gott“, sondern den Ort der Wahrheit des „vor Gott“ (siehe dazu unten § 6.2.2). Die dieser wiederum nachfolgende Passage über die Hilfe, die dem Menschen in Christus angeboten wird, bezeichnet die Vergebung der Sünden (siehe dazu ebenda). 5 KT 82.
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Möglichkeit des Ärgernisses“.6 In der Botschaft des „vor Gott“ wird der Mensch dadurch, dass er in eine vertraute Beziehung mit Gott treten kann, „zu etwas so Außerordentlichem“ gemacht, „daß er es nicht in seinen Kopf kriegt“.7 Daran kann der Mensch Ärgernis nehmen. Ärgernis ist dem Neid ähnlich, welcher einem anderen das Seine nicht gönnt. Ärgernis ist „aber ein Neid, der sich wider einen selbst kehrt“:8 „Des natürlichen Menschen Engherzigkeit vermag sich nicht das Außerordentliche zu gönnen, das Gott ihm zugedacht hat“.9 Wer sich ärgert, beneidet sich selbst. Er steht in einem missgünstigen Verhältnis sich selbst gegenüber. Die Botschaft von dem Außerordentlichen, in vertrauter Beziehung mit Gott leben zu dürfen, widerspricht aller menschlichen Weisheit. Menschliche Weisheit hält sich an die „goldene“ Regel: „Bloß nicht zuviel“.10 Gott aber gibt dem Menschen „das Allzuviel“.11 Das weist der sich selbst gegenüber Neidische zurück – und bleibt in der Verzweiflung. Kierkegaard unterscheidet drei Intensitätsformen, in denen sich der Neid sich selbst gegenüber, das Ärgernis, vollziehen kann.12 Sie sind abhängig davon, wie viel Phantasie und Leidenschaft ein Mensch besitzt. Ein Mensch ohne Phantasie und Leidenschaft nimmt in der Weise Ärgernis an der Botschaft des Christentums (d.h. glaubt die Botschaft nicht), dass er die Botschaft des Christentums dahingestellt sein lässt.13 Er sagt: „ich glaube nicht, aber ich verurteile nichts“.14 Ein Mensch, der etwas mehr Phantasie und Leidenschaft besitzt, kann die Botschaft nicht dahingestellt sein lassen und so weiterleben, als habe er sie nicht gehört. Vielmehr starrt er die ganze Zeit auf das Paradox der Botschaft in dem Wissen, dass er sich eigentlich dazu 6
Vgl. KT 82 (Hervorhebung im Original): „[…] die Möglichkeit des Ärgernisses […] ist, daß ein Mensch die Realität haben solle als einzelner Mensch zugleich Gott gegenüber [over for; SV 15, 136] da zu sein“. Vgl. KT 86: „Dessen Möglichkeit [sc. die Möglichkeit des Ärgernisses …] ist jenes: vor Gott.“ Dieses Ärgernis kann man nicht aufheben, ohne das Christentum aufzuheben (vgl. KT 82). 7 KT 82. Vgl. KT 84. 8 KT 84. 9 KT 85. Vgl. JÜNGEL: Thesen, 279 (mit christologischer Zuspitzung): „Das Wesen des Ärgernisses am Evangelium von Jesus Christus besteht darin, daß ich mir das Gute nicht gönnen können will, das Gott uns zugedacht hat, als er sich mit Jesus identifizierte.“ 10 KT 85. 11 KT 83. Zum „Zuviel“ vgl. auch EC 59 (Hervorhebung im Original): „Sich ganz buchstäblich mit dem Allerelendesten in eins setzen (und dies, nur dies ist göttliches Mitleiden) das ist für die Menschen jenes ‚Zu-viel‘, über das man gerührt schluchzt in einer stillen Sonntagsstunde, und über das man unwillkürlich in Lachen ausbricht, wenn man es in der Wirklichkeit sieht.“ 12 Kierkegaard beschreibt sie erst im Zusammenhang der „Sünde, das Christentum ausdrücklich […] für Unwahrheit zu erklären“ (KT 126; vgl. KT 126ff; siehe unten § 6.2.3). Seine Ausführungen KT 85 zeigen aber, dass diese Intensitätsformen bei jedem Gegenstand des Ärgernisses, also auch bereits bei dem Ärgernis an der Botschaft des „vor Gott“, vorkommen. 13 Vgl. KT 85 und 131. 14 KT 131.
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Selbstannahme oder Verzweiflung
entscheiden müsste, dieser Botschaft zu glauben.15 Ein Mensch voller Phantasie und Leidenschaft schließlich kann sich mit nichts anderem begnügen als damit, das, an dem er sich ärgert, „ausgerottet zu sehen, zunichte gemacht, in den Kot getreten“.16 Insgesamt heißt das: Gegenüber der Botschaft des Christentums, dass er vor Gott, d.h. in einer vertrauten Beziehung mit Gott leben darf, gibt es für den verzweifelten Menschen grundsätzlich zwei mögliche Verhaltensweisen:17 Entweder entscheidet er sich dazu, diese Botschaft zu glauben – und wird (wie in § 5 gezeigt wurde) von der Verzweiflung frei. Oder er entscheidet sich dazu, diese Botschaft nicht zu glauben, sondern sich an ihr zu ärgern – und wird nicht von der Verzweiflung frei. Der Unterschied zwischen beiden Fällen besteht nicht im Wissen. In beiden Fällen weiß der Mensch um die christliche Botschaft, hat er die christliche Botschaft gehört. Der Unterschied besteht vielmehr darin, wie er sich dieser Botschaft gegenüber verhält. Kierkegaard interessiert sich in „Die Krankheit zum Tode“ nicht ausführlicher für einen Menschen, der die Botschaft des Christentums glaubt. Ein solcher Mensch fällt ja nicht mehr unter die Kategorie des Verzweifelten, er ist nicht mehr zum Tode krank. Kierkegaard erörtert aber, nämlich im zweiten Abschnitt des Buches,18 ausführlich, was mit einem verzweifelten Menschen ist, der sich dazu entscheidet, die Botschaft des Christentums nicht zu glauben. 1. Wann ist Verzweiflung Sünde? Wird ein verzweifelter Mensch mit der Botschaft des Christentums konfrontiert, dass er als Einzelner vor Gott existiert, und entscheidet er sich dazu, diese Botschaft nicht zu glauben, dann findet seine Verzweiflung kein Ende. Er bleibt dann in der bereits beschriebenen Lage, entweder nicht er selbst oder ein anderes Selbst sein zu wollen. Sein verzweifeltes Selbst ist aber nun ein Selbst „vor Gott“,19 ein Selbst, das sich dessen bewusst ist,
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Vgl. KT 133. KT 85. Ein solcher phantasievoller und leidenschaftlicher Mensch ist aber gleichzeitig der Möglichkeit näher, gläubig zu werden (vgl. KT 85). 17 Bei beiden verhält sich der Mensch jeweils als Einzelner; er glaubt als Einzelner – und er ärgert sich als Einzelner. Weder Glaube noch Ärgernis kann er sich durch die Menge abnehmen lassen (vgl. KT 124). 18 Wenn dieser Abschnitt im Folgenden gründlich interpretiert wird, dann soll damit der Fehler vermieden werden, auf den Grøn hingewiesen hat (GRØN: The Relation, 35): „[…] ‚Part Two‘ is often ignored in the literature.” 19 KT 75. 16
Verzweiflung und Sünde
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„vor Gott da zu sein“,20 ein Selbst, das „die Vorstellung von Gott hat“,21 ein „Selbst Gott gegenüber“.22 Trotz des Bewusstseins des „vor Gott“ das „vor Gott“ nicht so zu glauben, dass man seine Existenz davon bestimmen lässt und also von der Verzweiflung frei wird, ist nach Kierkegaard aber Sünde: „Sünde ist: vor Gott, oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder verzweifelt man selbst sein wollen.“23 Dabei ist das erste „oder“ nicht im Sinne eines „Entweder nur [vor Gott] – oder auch [mit dem Gedanken an Gott]“, sondern im explikativen Sinne, im Sinne von „das heißt“ zu verstehen. Daran hängt viel. Andernfalls würde die Aussage bedeuten, dass alle Menschen vor Gott verzweifeln, also sündigen, weil alle verzweifeln und vor Gott existieren, dass aber nur manche mit dem Gedanken an Gott verzweifeln.24 Für das hier vorgeschlagene Verständnis spricht, dass – wie gleich noch deutlich werden wird – nach Kierkegaard Menschen, die kein Gottesbewusstsein haben, nicht im strengsten Sinne sündigen. Dafür spricht aber auch die alternative Sündendefinition Kierkegaards: „Sünde ist, nachdem man durch eine Offenbarung von Gott her darüber aufgeklärt worden, was Sünde ist, vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder verzweifelt man selbst sein wollen.“25 Sünde liegt für Kierkegaard da vor, wo ein Mensch weiß, dass das, was er tut (nämlich sein Verzweifeln mit dem Gedanken an Gott), Sünde ist, und er dennoch weiter sündigen will. Sünde ist für Kierkegaard kein Problem des Wissens, sondern ein Problem des Wollens. Die oben beschriebenen Gestalten der Verzweiflung sind mithin dann Sünde, wenn der Mensch, obwohl er darum weiß, vor Gott zu existieren und im Glauben von der Verzweiflung befreit werden zu können, weiter nicht er selbst oder ein anderes Selbst sein will, also sich dazu entscheidet, nicht zu glauben. Was es bedeutet, vor Gott verzweifelt zu sein, zeigt Kierkegaard am Beispiel eines religiösen Dichters, der über die Zusammensetzung seines irdischen Selbst verzweifelt. Der religiöse Dichter liebt Gott über alle Dinge […] und dennoch liebt er die Qual, sie will er nicht fahren lassen. Er möchte so gerne er selbst sein vor Gott [d.h. glauben], aber nicht in Hinsicht auf den festen Punkt, in dem das Selbst leidet, allda will er verzweifelt nicht er 20
KT 78 (mit Korrektur des „für“ wegen SV 15, 133: „for“). KT 79. Mit dieser Gottesvorstellung ist mehr gemeint als nur: eine Idee von Gott haben, von der dann das Wissen um die Existenz Gottes noch einmal zu unterscheiden wäre (gegen PATTISON: „Before God“, 70). 22 KT 77. 23 KT 75 (Hervorhebung im Original getilgt). 24 So beispielsweise Hermann Fischer, der deshalb von Sünde und „qualifizierter Sünde“ (H. FISCHER: Subjektivität und Sünde, 106f) spricht. 25 KT 96. 21
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selber sein; er hofft darauf, dass die Ewigkeit es fortnehmen werde, und hier in der Zeitlichkeit kann er sich, wie sehr er auch darunter leidet, nicht entschließen, es auf sich zu nehmen, kann sich nicht im Glauben darunter demütigen. Und dennoch fährt er fort, sich zu Gott zu verhalten.26
Die innere Zerrissenheit, in der der religiöse Dichter sich befindet, das Missverhältnis im Selbstverhältnis, ist offensichtlich. Sie hängt damit zusammen, dass es diesem Dichter nicht gelingt, seine Schwierigkeit als die seine anzunehmen. Er will diese Schwierigkeit und die Qual, die sie ihm bereitet, „aus sich heraushalten“, „sich von ihr so viel als möglich scheide[n]“.27 Dabei ist doch von ihm gefordert, „im Glauben unter sie sich zu demütigen und sie auf sich zu nehmen als mit zu seinem Selbst gehörig“.28 Der beschriebene religiöse Dichter ist „in strengem Sinne kein Gläubiger; er hat nur den Anfang zum Glauben“.29 Insofern ist er ein anschauliches Beispiel für einen Menschen, der die Botschaft des Christentums hört, sich aber nicht umfassend auf sie einlässt. Ein solcher Mensch bleibt trotz Gottesbewusstsein in den bereits beschriebenen Verzweiflungsformen stecken – hier eben in der Verzweiflung über die Zusammensetzung seines irdischen Selbst. Der religiöse Dichter verkennt, dass Gott eigentlich von ihm fordert, im Glauben diese Schwierigkeit anzunehmen. Indem der religiöse Dichter aber zugleich sein Gottesverhältnis nicht aufgeben will, ist er genötigt, „Gott ein klein bißchen anders zu dichten als Gott ist“.30 Indem er Gott anders dichtet, als dieser ist, tritt er in ein bewusstes Missverhältnis gegenüber Gott. Es wurde bereits erwähnt, dass Kierkegaard in „Die Krankheit zum Tode“ nicht jede Verzweiflung im strengen Sinne als „Sünde“ begreift,31 sondern nur die Verzweiflung, die sich mit dem Bewusstsein vollzieht, vor Gott zu existieren.32 Denn: Nicht jeder Mensch weiß darum, dass er vor Gott 26
KT 76. KT 76. 28 KT 76. 29 KT 77. 30 KT 76. Vgl. dazu auch EC 61: Gott „will sich nicht umschaffen lassen von den Menschen und ein gar lieber – menschlicher Gott werden: er will umschaffen, die Menschen umschaffen, und das will er aus Liebe“. 31 Auch wenn die Überschrift des zweiten Teiles, „Verzweiflung ist die Sünde“ (KT 75), dies nahe legt. 32 Anders als hier vorgeschlagen zahlreiche Autoren: H. FISCHER: Subjektivität und Sünde, 105 meint: „Verzweiflung und Sünde sind identisch“; ebd., 106: „Der natürliche Mensch sündigt ebenso wie der Christ, nur weiß der Christ um seine Sünde und potenziert sie dadurch zur qualifizierten Sünde“. PANNENBERG: Sünde, Freiheit, Identität, 291 (Hervorhebung im Original), behauptet, dass Kierkegaard das Selbstverhältnis des Menschen nicht nur als Möglichkeit der Sünde verstehe, „sondern als die Ausweglosigkeit der Verstricktheit in die Sünde, weil die Realisierung jener Synthesis vom Menschen so oder so immer nur auf der Basis der eigenen Endlichkeit vollzogen werden kann, während sie in der Seinsverfassung des Menschen tatsächlich vom Unendli27
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existiert. Darum weiß nur, wer mit der christlichen Botschaft konfrontiert wurde. Der Heide und der natürliche Mensch haben kein Wissen davon, dass sie da sind vor Gott.33 Kierkegaard formuliert ausdrücklich, dass „der Heide nicht in dem strengsten Sinne gesündigt hat, denn er hat nicht gesündigt vor Gott“.34 Eigentlich muss man nach Kierkegaard davon reden, „daß Sünde […] im Heidentum sich gar nicht findet, sondern allein in Judentum und Christentum [denn nur hier gibt es ein Wissen um das ‚vor Gott‘; CT] und allda wiederum wohl recht selten“.35 Es gilt eben: „Der meisten Menchen und Ewigen, von Gott her, begründet ist. Der Mensch der ‚Krankheit zum Tode‘ steht nicht mehr vor der Sünde […], sondern schon in ihr“. Ringleben begreift den zweiten Teil der Schrift so, dass in ihm nur eine andere Perspektive auf das gleiche Phänomen eingenommen wird: Die „Krankheit zum Tode, die ‚psychologisch‘ betrachtet Verzweiflung ist, [ist] theologisch gesehen eigentlich Sünde“ (RINGLEBEN: Die Krankheit zum Tode, 209). Vgl. auch ebd., 210 (Hervorhebung von mir): „Die neue Überschrift [des zweiten Teils, sc. ‚Verzweiflung ist die Sünde‘ (KT 75)] identifiziert die Verzweiflung, von der bisher die Rede war, als Sünde.“ Deshalb folgert Ringleben: Anthropologie „stößt durch Vertiefung in sich auf das theologische Thema, das ihr also nicht beziehungslos äußerlich bleibt und als fremdes aufgepfropft werden müßte, sondern sie kann es im Prinzip als letztgültige Deutung ihrer eigenen Erkenntnisse akzeptieren.“ (DERS.: Die Krankheit zum Tode, 211) Theologie fange „nicht unvermittelt – […] ‚offenbarungspositivistisch‘ – mit ihrer christlichen Thematik an, sondern erzeugt sich aus dem Anderen ihrer selbst, indem sie sich als Weiterführung der Vertiefung, Steigerung und sinnvoller Abschluß anthropologischer Einsichten in das Selbstsein darstellt“ (DERS.: Zur Aufbaulogik, 114). Anders allerdings DERS.: Die Krankheit zum Tode, 214, wo Ringleben das andere Bewusstsein des Selbst in der Sünde herausstreicht, sowie DERS.: Zur Aufbaulogik, 111: Erst das aus Trotz verzweifelnde Selbst sündige im eigentlichen Sinne. Vgl. auch ebd., 112: „‚Verzweiflung‘ ist also der Inbegriff der vorreligiösen Vorformen von Sünde“. Und ebd., 113: „[…] wenn auch schon als Verzweiflung die Krankheit zum Tode immer auf Gott bezogen, also sich nicht als solche durchsichtige Sünde ist, so ist sie doch erst als ihrer selbst vor Gott bewußte Verzweiflung Sünde im religiösen Sinn.“ BONGARDT: Der Widerstand der Freiheit, 258 und 266, bezieht das „vor Gott“ nicht auf das Bewusstsein des Verzweifelten, sondern auf das Bewusstsein des die Verzweiflung Analysierenden. Auch CAPPELØRN: Am Anfang, 131f, meint, die Überschrift des zweiten Abschnitts bestimme, „was der human-religiöse Begriff Verzweiflung christlich gesehen [!] ist: nämlich Sünde“. Noch einmal anders FONK: Zwischen Sünde und Erlösung, 210: „Ihre [der Verzweiflung] Ursache ist die Sünde; die Verzweiflung ist Ausdruck der Sünde“. So wie hier vorgeschlagen interpretiert aber JANKE: Historische Dialektik, 424: „Das In-der-Sünde-Sein ist die schwerste [!] Krankheit zum Tode“. Auch A. Grøn hebt hervor, dass sich der zweite vom ersten Abschnitt dadurch unterscheidet, dass „the self’s consciousness […] is changed. […] the self understands itself as placed ‚directly before God‘“ (GRØN: The Relation, 45). Die in dieser Arbeit vorgetragene Interpretation von Kierkegaards Sündenverständnis soll nicht besagen, dass nur der zweite Teil von „Die Krankheit zum Tode“ eine theologische Darstellung sei, während der erste rein anthropologisch sei. Auch der erste ist theologisch, geht es doch auch hier immer schon darum, ob der Mensch das durch Gott gesetzte Selbst sein will. 33 Vgl. KT 79. Mit Heidentum ist die historische Erscheinung gemeint, dass Menschen gar nicht in den Horizont des Christentums gekommen sind, d.h. die Botschaft des Christentums gar nicht hören konnten. Mit dem natürlichen Menschen ist „das Heidentum in der Christenheit“ gemeint (KT 42), d.h. der Mensch, der zwar im Horizont des Christentums lebt, die Botschaft des Christentums aber dennoch nicht gehört hat. 34 KT 79. 35 KT 101. Denn auch im Juden- und Christentum ist die Botschaft des „vor Gott“ viel zu selten zu hören. Dass die Sünde sich insbesondere im Christentum findet, ist eine Diagnose, die mit
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schen Leben ist, indifferent-dialektisch betrachtet, dem Guten (dem Glauben) derart ferne, daß es beinahe zu geistlos ist, um Sünde zu heißen, ja beinahe zu geistlos, um Verzweiflung zu heißen.“36 Gleichwohl gilt auch für diese Menschen, dass sie – wie oben gezeigt37 – in der Verzweiflung sind. Diese Verzweiflung ist zwar „des Menschen eigne Schuld“.38 Sie ist aber nicht „in dem strengsten Sinne“ Sünde. Sie wird erst zur „Sünde“, wenn „der Schuldige das Bewußtsein gehabt hat, da zu sein vor[39] Gott“.40 Nur in einem abgeschwächten Sinne kann man nach Kierkegaard auch jene Verzweiflung ohne Gottesbewusstsein Sünde nennen: Verzweiflung besteht immer dort, wo der Mensch nicht glaubt; alles, was nicht im Glauben geschieht, ist nach Gal 3,22 aber Sünde.41 Kierkegaard schreibt: „die Sünde des Heidentums ist eigentlich die verzweifelte Unwissenheit über Gott gewesen, darüber, daß man da ist vor Gott; sie ist: ‚ohne Gott in der Welt sein‘“.42 Diese Unwissenheit43 ist aber etwas anderes, als mit Gottesbewusstsein nicht man selbst oder ein anderes Selbst sein zu wollen. Im strengsten Sinne in der Sünde leben nach Kierkegaard insbesondere die Christen seiner Zeit. Sie werden zwar durch die christlichen Pastoren darüber aufgeklärt, dass sie vor Gott leben. Die Pastoren versäumen es aber, die Christen dazu zu bringen, nun auch demgemäß, d.h. im Glauben, zu leben. Denn die Geistlichen reden so vom Christlichen, „daß die große Menge der Menschen sich zuletzt schlechthin nichts dabei denkt […], so daß das Höchste und Heiligste schlechterdings keinen Eindruck macht, sondern klingt und vernommen wird wie etwas, das nun so einmal, Gott weiß warum, Schick und Brauch geworden ist gleich so vielem anderen“.44 Die Christen wissen um das „vor Gott“. Dieses „Wissen und Verstehen [übt aber] schlechterdings keine Macht über [ihr …] Leben“45 aus. Sie wissen um das, was sie aus der Verzweiflung erlösen würde, wollen es aber nicht glauben. Das ist Sünde. Es hat zunächst den Anschein, als sei es darum viel besser, kein Bewusstsein des Vor-Gott-Stehens zu haben; denn dann kann man gar nicht dem Schwerpunkt von Kierkegaards Arbeit in seiner letzten Schaffensperiode, der Kritik an der Christenheit seiner Zeit, gut zusammenstimmt (auch dann, wenn sie einem strengen dogmatischen Verständnis [siehe unten § 7.3.2.5] entgegensteht). 36 KT 101. Vgl. auch KT 104. 37 Vgl. auch KT 101. 38 KT 102. 39 Dänisch: for (SV 15, 134). 40 KT 79. 41 Vgl. KT 101. 42 KT 79 (mit Korrektur des „für“ wegen SV 15, 134: „for“). 43 Sie ist „verzweifelt“, weil der Mensch durch sie in der Verzweiflung bleibt. 44 KT 103. 45 KT 89.
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sündigen. Außerdem ist, wer Gott gegenüber ein Selbst ist, d.h. im Bewusstsein, vor Gott zu stehen, sein Selbstsein vollzieht, einem anderen „Maßstab“ (eben dem Maßstab „Gott“) unterworfen als derjenige, der sein Selbstsein ohne dieses Bewusstsein vollzieht, das heißt „dessen Maßstab der Mensch ist“.46 Jeder muss sich nach Kierkegaard daran messen lassen, wovor er sein Selbstsein vollzieht. Allerdings hat, wer im Bewusstsein lebt, vor Gott zu stehen, ein qualitativ anderes Bewusstsein als der, der nicht in diesem Bewusstsein lebt.47 Insofern ist auch die Qualität seines Selbst eine andere als die eines Menschen ohne Gottesbewusstsein. Deshalb ist es letztlich doch besser, ein Bewusstsein des Vor-Gott-Stehens zu haben.48 Der vor Gott Verzweifelnde, der Sünder, steht nicht nur wie der ohne Gottesbewusstsein Verzweifelnde in einem impliziten Missverhältnis zu Gott, sondern auch in einem bewussten, expliziten Missverhältnis zu Gott. Mit diesem Sündenverständnis bringt Kierkegaard die reformatorische Überzeugung zur Geltung, dass Sünde sich wesentlich in der Gottesbeziehung ereignet und sich nicht in diesen oder jenen Missetaten erschöpft.49 Kierkegaard verweist selber darauf, dass die „ältere Dogmatik“50 den richtigen, wenn auch manchmal verfälscht rezipierten Gedanken formuliert habe: „das, was die Sünde zu etwas so Furchtbarem mache, sei dies, daß sie vor Gott sei“.51 Verfälscht wird dieser Gedanke nach Kierkegaard dadurch, dass man sich dieses Sein-vor-Gott so vorstellt, als sei Gott eine äußerliche Instanz, vor der sich das eigene Leben vollziehe; der Mensch versteht sein Sein-vor-Gott als das ständige Leben vor einer richterlichen Instanz.52 Aber: Das Sein-vor-Gott ist das Gottesbewusstsein. Und Sünde ist dort, wo der Mensch seinem Bewusstsein, vor Gott zu leben, zuwider handelt. Weil aber Sünde immer bedeutet, dem eigenen Bewusstsein von Gott zuwider zu handeln53 – und eben nicht einfach nur einer externen Instanz –, ist Sünde ein (über die oben beschriebenen Missverhältnisse im Selbst hinausgehen46 KT 77. Vgl. KT 78: „Der Maßstab für das Selbst ist stets: was das ist, demgegenüber es ein Selbst ist“. 47 Vgl. KT 78: „[…] welch eine unendliche Realität erhält nicht das Selbst dadurch, daß es dessen sich bewußt wird, vor [dänisch: for (SV 15, 133)] Gott da zu sein“. 48 Sein ganzes Tun wird sich allerdings unter ethischer Perspektive daraufhin befragen lassen müssen, ob er diesem Bewusstsein entsprechend lebt – oder ob es zu einem Missverhältnis zwischen seinem Gottesbewusstsein und seinem Verhalten zu Gott kommt. Der „Maßstab“ des Menschen ist auch sein „Ziel“ (vgl. KT 78). 49 Siehe aber zur Kritik an Kierkegaards Sündenbegriff unten § 7.3.2.5. 50 KT 78. Hirsch weist darauf hin, dass Kierkegaard dabei an die lutherische Orthodoxie denke (vgl. KT 175 Anm. 66). 51 KT 78. 52 Vgl. KT 79. Kierkegaard betont, Gott sei nichts Äußerliches, so dass man sich ihn wie einen Polizeibeamten vorzustellen habe (vgl. KT 79). 53 Gerade dies, dass das Bewusstsein von Gott angemessen ist, man aber dennoch diesem Bewusstsein zuwider handelt, macht das Wesen der Sünde aus (vgl. KT 88).
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des) Missverhältnis im Selbst, etwas, das das Selbst entzweit und zerreißt. Pointiert formuliert: Wer sündigt, widerspricht auch sich selbst! Darüber hinaus ist Sünde die bewusste Zementierung der bisherigen Missverhältnisse im Selbst, weil der Mensch es abweist, sich durch den Glauben an Gott aus diesen Missverhältnissen befreien zu lassen. Zu dieser Zementierung der bisherigen Missverhältnisse in der Synthese und zum von Gott gesetzten Selbst kommt nun aber noch das bewusste Missverhältnis in der Beziehung zu Gott und (im Missverhältnis zum eigenen Gottesbewusstsein) ein neues Missverhältnis im Selbstverhältnis hinzu.54 Weil in der Sünde das bewusste Missverhältnis gegenüber Gott und das eben beschriebene neue Missverhältnis im Selbstverhältnis zur bisherigen, bestehen bleibenden Verzweiflung hinzukommt, ist „Sünde […] die Potenzierung der Verzweiflung“.55 Kierkegaard stellt selbst die Frage, ob seine Definition von Sünde nicht zu geistig ist,56 weil sie sich nur auf das Selbst, das Geistsein des Menschen bezieht und nicht ausdrücklich von einzelnen Untaten spricht. Doch zu geistig kann diese Definition nach Kierkegaard schon deshalb nicht sein, weil Sünde eben eine Bestimmung des Geistes, ein vor Gott sich vollziehendes Missverhältnis im Selbst ist.57 Außerdem sind nach Kierkegaard Untaten wie Mord, Diebstahl etc. unter die oben genannte Definition von Sünde ja durchaus subsumiert. Denn der im Wissen um Gott Mordende handelt seinem Bewusstsein von Gott (der gebietet, Menschen nicht zu ermorden58) zuwider. Kierkegaard hält seine Sündendefinition für viel umfassender als die Bestimmung der Sünde im Sinne von Untaten; denn es ist durchaus denkbar, dass ein Mensch äußerlich ganz ohne besagte Untaten durchs Leben geht, aber gleichwohl ignoriert, „in welch einem unendlich viel tieferen Sinne ein menschliches Selbst Gott zum Gehorsam verpflichtet ist […] hinsichtlich der Hörsamkeit im Auffassen und der Bereitschaft im Befolgen eines jeden, auch des geringsten göttlichen Winks darüber, was sein Wille sei mit diesem Selbst“.59 Kierkegaard will seine Definition nicht im Sinne einer „Buchstabenrechnung“ verstanden wissen, durch die man genau festlegen kann, was Sünde ist und was nicht, wohl aber im Sinne eines „Netzes“,60 das alle Formen von Sünde umspannt. 54
Zu weiteren Missverhältnissen siehe unten § 6.2. KT 75. Vgl. auch KT 110: „Die Sünde selber ist der Verzweiflung Kampf“. Die Verzweiflung kann nur deshalb um ihren Erhalt kämpfen, weil sie um das weiß, was der Verzweiflung ein Ende machen würde, eben das Glauben des „vor Gott“. 56 Vgl. KT 80. 57 Vgl. KT 80. 58 Vgl. KT 80. 59 KT 80. 60 Vgl. KT 81. 55
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Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 10 Von der Bestimmung der Sünde und der Tatsache her, dass „der Gegensatz zu Sünde […] Glaube“61 ist, lässt sich das Wesen des Glaubens noch einmal genauer in den Blick nehmen. Sünde ist: „vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder vor Gott verzweifelt man selbst sein wollen“.62 Glaube aber ist: dass „das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, [sich selbst63] durchsichtig sich gründet in Gott“.64 Das bedeutet (wie schon erarbeitet wurde): Das Vor-Gott-Sein in der Sünde spezifiziert sich im Glauben zu einem Sich-Gründen-in-Gott. Das Vor-Gott-Sein zu glauben bedeutet, Gott als Grund der eigenen Existenz anzunehmen. Das bisherige Nicht-das-von-Gott-gesetzte-Selbst- bzw. Ein-anderesSelbst-sein-Wollen wird im Glauben zu einem Das-von-Gott-gesetzteSelbst-sein-Wollen. Im Glauben will der Mensch endlich als ausgewogene Synthesis-Struktur existieren. Der Glaubende bejaht, dass seine Existenz sich in Endlichkeit und Unendlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit vollzieht; und zwar bejaht er dies derart, dass diese Elemente im Wohlverhältnis zueinander stehen. Und im Glauben ist der Mensch „sich selbst durchsichtig“65 (dänisch: „sig selv gjennemsigtigt“66). Diese Formulierung begegnete bereits zu Anfang und kann nun endlich ausgelegt werden: Im Glauben hat der Mensch ein vollständiges Bewusstsein davon, wie er beschaffen ist. Insofern erweitert sich im Glauben das bisherige Selbstbewusstsein, die bisherige Selbstsicht. Zu diesem vollständigen Bewusstsein von sich selbst gehört wesentlich das Bewusstsein vom eigenen Geist- oder Selbst-Sein, ein Bewusstsein, das bereits unter Das geheilte Selbst Teil 4 als Kennzeichen des Glaubens herausgestellt wurde. Weil der Glaubende erkennt, dass er von Gott dazu gesetzt ist, sich zu sich selbst zu verhalten, ist für den Glaubenden die Einsicht in das eigene Selbst-Sein „das Gleiche“ wie der „Eindruck […], daß da ein Gott ist und daß ‚er‘ [der Mensch], er selber, er mit seinem Selbst da ist vor[67] diesem Gott“.68 61 KT 81. Durch diese Entgegensetzung werden alle Werte umgewertet, wie nicht erst Nietzsche erkannt hat; vgl. KT 81 (Hervorhebung im Original): „Die Entgegensetzung von Sünde und Glaube ist die christliche, welche, christlich, alle ethischen Begriffsbestimmungen umbildet“. 62 KT 80. 63 Mit KT 26; siehe oben Anm. § 4 Anm. 63. 64 KT 81. 65 KT 26. 66 SV 15, 88. 67 Dänisch: for (SV 15, 85). 68 KT 23.
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Zu diesem vollständigen Selbstbewusstsein gehört aber auch die Einsicht, dass man durch Gott als diese doppelte Synthese gesetzt wurde und dass Menschsein nur gelingt, wenn die Elemente der Synthese in einem Wohlverhältnis sind. Durch dieses Sich-selbst-durchsichtig-Sein werden das Missverhältnis im Selbstverhältnis und das Missverhältnis in der Synthesis-Struktur verhindert. Ein Teil der Verzweiflungsformen hing ja damit zusammen, dass das Selbst keine Vorstellung von seinem Geistsein oder eine falsche Vorstellung von der eigenen Struktur bzw. davon hatte, was es bedeutet, sein Selbst auf sich zu nehmen, – also nicht darauf aufmerksam wurde, wie es beschaffen ist. Deshalb meinte das Selbst, sich von bestimmten (doch konstitutiven) Teilen seiner selbst verabschieden zu können. Kierkegaard sprach aber auch von Verzweiflungsformen, bei denen der Mensch zwar ein den Tatsachen entsprechendes Selbstbewusstsein hatte, aber entgegen dem eigenen Selbstbewusstsein existieren wollte (zum Beispiel beim über seine Schwachheit Verzweifelnden). Deshalb muss präzisiert werden: Das Sich-selbst-durchsichtig-Sein kann ein Missverhältnis in der Synthesis-Struktur bzw. im Selbstverhältnis verhindern. Es ist die Bedingung der Möglichkeit für ein entsprechendes Wohlverhältnis. Das Wohlverhältnis stellt sich aber nicht bereits durch das DurchsichtigSein ein. Es stellt sich weder dadurch ein, dass der Mensch eine Einsicht in sein Geist-Sein hat, noch dadurch, dass er erkennt, dass da ein Gott ist und er vor diesem Gott lebt. Es stellt sich erst dadurch ein, dass der Mensch nun auch diesem Bewusstsein entsprechend leben will, ja dazu sagt. Das Wohlverhältnis ist eine Frage des Willens, der willentlichen Bejahung – und zwar (wie schon ausgeführt) in zweifacher Hinsicht. Zum einen bejaht der Mensch im Glauben sein Gesetztsein durch Gott, akzeptiert Gott als seinen Grund. Zum anderen bejaht der Mensch im Glauben das von Gott gesetzte Selbst.69 Die Pointe des Glaubens liegt nach Kierkegaard – es sei noch einmal gesagt – nicht darin, nicht mehr man selbst sein zu wollen; sie liegt darin, das von Gott gesetzte Selbst sein zu wollen und die eigenen Existenzbedingungen zu bejahen. Dass dies eine differenzierte Annahme der eigenen faktischen Beschaffenheiten impliziert, wurde oben ausführlich gezeigt. Es sei nachgetragen, dass im Begriff „durchsichtig“ noch ein anderer Aspekt mitschwingt als nur das Sich-selbst-durchsichtig-Sein. Dieser Aspekt zeigt sich in Hirschs Übersetzung: „das Selbst [gründet sich] durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat“.70 Der dänische Text hat: „grunder Selvet 69 Vgl. das bereits Zitierte: Glaube ist, dass „das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, [sich selbst] durchsichtig sich gründet in Gott“ (KT 81). 70 KT 10.
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gjennemsigtigt i den Magt, som satte det“.71 Das „gjennemsigtigt“ bezeichnet hier nicht das Sich-selbst-Durchsichtigsein, sondern bezieht sich offensichtlich darauf, wie das Selbst sich in der Macht gründet. Dieses SichGründen ist dergestalt, dass man, wenn man auf das Selbst sieht, (wie bei einem klaren Gebirgssee) sozusagen auf den Grund des Selbst und d.h. auf Gott sieht. Verzweiflung ist dann ausgetilgt, wenn das Selbst so es selbst ist und sein will, dass man durch sein Selbstsein hindurch immer auch seinen Grund, eben Gott, wahrnehmen kann.72 In diesem Fall bezeichnet die Durchsichtigkeit nicht nur die Bedingung der Möglichkeit für ein entsprechendes Wohlverhältnis, sondern das Wohlverhältnis selbst. 2. Die Fortsetzung der Sünde Ein Mensch, der – statt der Botschaft des „vor Gott“ zu glauben – sich an ihr ärgert und mithin trotz seines Wissens um das „vor Gott“ in der Verzweiflung bleibt, also auf die eben beschriebene Art sündigt, kann sich nun in zweifacher Weise zu dieser seiner Sünde verhalten: Er kann seiner Sünde ein Ende machen wollen – und er kann in der Sünde beharren wollen. Was im erstgenannten Fall geschieht, wird ausführlicher unter Das geheilte Selbst Teil 11 erörtert. Kierkegaard selber lässt die Beschreibung dieses Falls bewusst aus.73 Nur der zweite Fall wird von ihm erörtert. Es kommt darin durch das bewusste Verharren des Menschen in der Sünde zu einer „Fortsetzung der Sünde“.74 Eine solche Fortsetzung der Sünde geschieht aufgrund der freien Entscheidung des Menschen, in der Sünde bleiben zu wollen. Gleichzeitig hat die Fortsetzung der Sünde aber auch eine gewisse Notwendigkeit. Denn die Sünde ist eine „Position, welche aus sich heraus [!] eine immer mehr ‚setzende‘ Kontinuierlichkeit entfaltet“.75 Diese Kontinuierlichkeit der Sünde hängt damit zusammen, dass der Mensch Geist ist. Das Geistsein des Menschen aber bedeutet, dass er immer 71
SV 15, 74. Insofern bedeutet die Aufforderung, zu glauben und d.h. das von Gott gesetzte Selbst sein zu wollen, nicht „eine gewisse Leere“ (THEUNISSEN: Der Begriff Verzweiflung, 65). Nach Theunissen ist das Sein, das der Mensch wollen soll, „abgesehen von seiner religiösen Auffüllung, durchaus leer“ (ebd.). Das stimmt nur insofern, als die so genannte „religiöse Auffüllung“ zwar das Sein des Menschen ausmacht. Von ihr darf aber gerade nicht abgesehen werden. 73 Vgl. KT 80, wo Kierkegaard von einem Menschen spricht, der nach seinem Sündigen lernt, „zu Gott seine Zuflucht zu nehmen und sich zum Glauben helfen zu lassen, der freimacht von aller Sünde“ – dann aber betont: „jedoch davon reden wir hier jetzt nicht“. 74 KT 105. 75 KT 106. Vgl. auch KT 107: „[…] die Sünde hat innerhalb ihrer selbst eine Folgerichtigkeit, und vermöge dieser Folgerichtigkeit des Bösen in sich hat sie auch eine gewisse Kraft“. 72
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gemäß einer „Folgerichtigkeit“76 oder „Konsequenz“77 leben will und sich gegen jede Folgewidrigkeit sträubt.78 Eine derartige Folgerichtigkeit besteht sowohl beim Gläubigen als auch beim Sünder. Der Gläubige, der aus der Verzweiflung entkommen ist, ruht „in der Folgerichtigkeit des Guten“.79 Seine Angst richtet sich darauf, durch die kleinste Sünde aus dieser Folgerichtigkeit auszubrechen. Umgekehrt hat der, der „in der Folgerichtigkeit des Bösen“,80 der Sünde, lebt, Angst davor, durch etwas Gutes aus dieser Folgerichtigkeit herausgerissen zu werden: „Allein in der Fortsetzung der Sünde ist er er selbst, allein in ihr lebt er, hat er einen Eindruck von sich selbst.“81 Von seinem Beharren in der Sünde, von seinem immer weiter und immer mehr82 Sündigen hat der Sünder selber kein Bewusstsein; er achtet immer nur auf seine punktuellen Einzelsünden und übersieht, dass er, solange er nicht im Glauben lebt, kontinuierlich in der Sünde ist.83 Die punktuelle Einzelsünde, die „Tatsünde“,84 ist aber „nicht die Fortsetzung der Sünde, sondern der Ausdruck für die Fortsetzung der Sünde; in der einzelnen neuen Sünde wird der Sünde Fahrt lediglich leichter sinnlich wahrnehmbar“.85 Kierkegaard nennt drei Formen, in denen sich die Sünde fortsetzt: 1. die Sünde, über die Sünde zu verzweifeln, 2. die Sünde, an der Vergebung der Sünde zu verzweifeln, und 3. die Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären. Sie kommen zu der Sünde hinzu, nicht durch den Glauben der Verzweiflung ein Ende zu bereiten.86 Die Verzweiflung, die sich in der ersten, in der zweiten, aber auch in der dritten87 Fortsetzung einstellt, kommt entsprechend zu der Verzweiflung hinzu, vor Gott nicht man selbst bzw. ein anderes Selbst sein zu wollen.
76
KT 107. KTGS 101. 78 Vgl. KT 107. Es ist gerade ein Zeichen von Geistlosigkeit, nicht in Folgerichtigkeit zu leben. Das Leben geistloser Menschen „besteht […] aus so ein bißchen Handlung, ein bißchen Widerfahrnis, bald dies, bald das; jetzt tun sie etwas, das recht ist, und dann wieder etwas, das verkehrt ist, und dann fangen sie wieder von vorne an; jetzt sind sie verzweifelt, einen Nachmittag lang, vielleicht drei Wochen lang, dann aber sind sie wieder obenauf und dann wieder für einen Tag verzweifelt“ (KT 107). 79 KT 108. 80 KT 108. 81 KT 109. 82 Denn die „Sünde […] wächst mit jedem Augenblick, da man nicht aus ihr herauskommt“ (KT 106). 83 Vgl. KT 105. 84 Der Begriff fällt KT 105. 85 KT 106. 86 So auch GRØN: The Relation, 46f. 87 Siehe unten § 6.2.3, wo das Missverhältnis zu sich selbst und das heißt die Verzweiflung in dieser Fortsetzung beschrieben wird. 77
Verzweiflung und Sünde
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Die drei Fortsetzungen der Sünde zeichnen sich jeweils durch Potenzierungen des Bewusstseins des Selbst88 und Potenzierungen der Sünde89 aus. Sie seien einzeln vorgestellt. 2.1 Die Sünde, über die Sünde zu verzweifeln Die erste Fortsetzung der Sünde geschieht dort, wo der Mensch über seine Sünde verzweifelt.90 Wie bereits im ersten Teil von Kierkegaards Schrift ist auch hier mit Verzweiflung nicht etwas rein Emotionales gemeint, sondern ein Missverhältnis, nämlich insbesondere ein Missverhältnis gegenüber der eigenen Sünde. Der Mensch kann seine Sünde bereuen91 und Gott für sie um Vergebung bitten.92 Wer aber über seine Sünde verzweifelt, verschließt93 sich in seiner Sünde. Er konzentriert sich ganz auf seine Sünde und verzagt darüber, dass er gesündigt hat. Seine Sünde will „nur sich selber vernehmen, nur mit sich selber zu schaffen haben“.94 Ein derartiger Mensch weiß, dass er sich, indem er der Botschaft des „vor Gott“ nicht glaubt, bereits vom Guten abgewandt hat.95 In dieser Abwendung vom Guten will er nun folgerichtig sein, indem er sich „zum zweiten Mal“96 von dem Guten losreißt. Seine Sünde „will mit dem Guten nichts zu schaffen haben […] und sich durch die Verzweiflung über die Sünde sichern gegen jeglichen Überfall oder jegliche Nachstellung seitens des Guten“.97 Deshalb verweigert sich ein derartiger Mensch bewusst dem ersten Schritt, der ihn aus der Sünde führen könnte, nämlich der Reue, in der der Mensch Gott um Vergebung für seine Sünde bittet.98 Er wehrt sich 88
Vgl. KT 109. 113. 126. Vgl. KT 109. 115. 126f. 90 Vgl. KT 109. 91 Vgl. KT 110. 92 Vgl. KT 112. Siehe – wie gesagt – Das geheilte Selbst Teil 11. 93 Vgl. KT 109. Vgl. dazu auch die oben beschriebene „Verschlossenheit“ in der Verzweiflung am Ewigen. 94 KT 109. 95 Vgl. KT 110: „Die Sünde selbst ist Losreißung vom Guten“. Vgl. KT 127: „Sünde ist Verzweiflung; hier kämpft man durch Ausweichen.“ 96 KT 110: „[…] Verzweiflung […] über die Sünde ist Losreißung zum zweiten Mal“. Vgl. KT 110: „Um die Potenzierung zu bezeichnen, die im Verhältnis von Sünde und Verzweiflung über die Sünde sich zeigt, könnte man sagen, das Erste ist der Bruch mit dem Guten, das Zweite der Bruch mit der Reue.“ Vgl. auch KT 127 (Hervorhebung von mir): In der Sünde als Verzweiflung vor Gott „kämpft man durch Ausweichen“, in der Sünde, über die eigene Sünde zu verzweifeln, „kämpft man noch einmal durch Ausweichen“. 97 KT 109. 98 Vgl. KT 112. In dieser bewussten Verweigerung, d.h. darin, dass der Mensch „bewußt […] die Brücke hinter sich ab[bricht]“ (KT 109), liegt die Potenzierung seines Selbstbewusstseins. 89
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Selbstannahme oder Verzweiflung
gegen die Reue und hält sie für seinen Feind.99 Damit verschließt er sich von vornherein der Möglichkeit der Vergebung.100 Diese Sünde findet sich nicht nur bei Menschen, die noch nie geglaubt haben. Sie findet sich auch bei Menschen, die, nachdem sie in der Sünde waren, begonnen haben zu glauben, nun aber wieder in die Sünde zurückgefallen sind.101 Ein solcher Mensch ruft angesichts seines Rückfalls in die Sünde nur zu gerne aus: „ich vergebe ihn mir niemals“.102 Zwar wirkt ein derartiger Mensch zunächst so, als sei er „eine tiefere Natur […], die sich daher ihre Sünde so zu Herzen nehme“.103 Tatsächlich aber achtet ein derartiger Mensch nur auf seine Sünde und nicht auf den Willen Gottes: „wofern nun aber Gott es ihm vergeben will, so könnte er ja doch gut und gern die Güte haben, es sich selber zu vergeben“.104 Kierkegaard betont zwar, dass der Mensch sich gar nicht selbst seine Sünden vergeben kann. Es ist immer Gott, der die Sünde vergibt.105 Dennoch ist offensichtlich entscheidend, dass, wenn Gott den Menschen nicht für immer auf seine Sünde festlegt, sondern ihn von seiner Sünde befreit, der Mensch sich auch selbst nicht für immer auf seine Sünde festlegt, sondern sie sich – wenn auch nicht vergibt, so doch – nachsieht. Wie kommt ein Mensch dazu, sich seine Sünde nicht nachsehen zu wollen?106 Die Sache ist die, er ist in der Zeit, da er der Versuchung siegreich Widerstand geleistet, in seinen eignen Augen ein innerlich besserer Mensch geworden als er wirklich ist, er ist auf sich selber stolz geworden. Das Interesse dieses Stolzes ist es nun, dass das Vergangene etwas ganz und gar hinter ihm Liegendes sein solle. Im Rückfall aber wird das Vergangene plötzlich wieder durchaus gegenwärtig. Diese Mahnung vermag sein Stolz nicht zu ertragen.107
Das heißt: Der Mensch kommt angesichts eines von ihm erfolgreich geleisteten Widerstandes gegen die Sünde zu dem Urteil, im Vergleich zu seiner 99
Vgl. KT 110. Vgl. KT 110. 101 Vgl. KT 111. 102 KT 112. 103 KT 111. 104 KT 112. Dass der Mensch sich seine Sünde so zu Herzen nimmt, mithin über sie meint „verzweifeln“ zu müssen, ist nur emotionaler Ausdruck für sein Missverhältnis zur Sünde. Vgl. auch die Ermahnung EC 15: „[…] verzweifelt nicht über jeden Rückfall, den zu vergeben er die Geduld hat, der Gott der Geduld, und unter den sich zu demütigen ein Sünder wohl den Duldemut haben sollte.“ 105 Vgl. KT 113. Vgl. zur Unangemessenheit der Rede davon, sich selbst zu vergeben, WEINGARDT: Der Prozeß des Vergebens, 56. 106 Wenn er behauptet, es sei Gott, der „ihm das niemals vergeben könne“ (KT 113), so täuscht er nur darüber hinweg, dass er es sich selbst nicht nachsehen will. 107 KT 112. 100
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Vergangenheit ein besserer Mensch geworden zu sein. Von dieser Vergangenheit will er nichts mehr wissen. Bringt sie sich durch den Rückfall in die Sünde in Erinnerung, so tritt bei ihm „tiefe Betrübnis“108 ein, nicht mehr „sein Selbst in Ehrgeiz genießen zu können“.109 Diese Betrübnis ist „versteckte Selbstliebe und versteckter Stolz“.110 Denn sie verdrängt, dass es Gottes Hilfe war, die ihn bisher vor der Sünde bewahrt hat.111 Insofern zieht die Betrübnis den Menschen „von Gott fort“.112 Dies ist ein Missverhältnis gegenüber Gott. Weil der derart Verzweifelte meint, er sei ein besserer Mensch, als er tatsächlich ist, besteht hier auch ein Missverhältnis im Selbstverhältnis. Der Mensch ist auf seine Freiheit von der Sünde stolz geworden. Weil die neuerliche Sünde das Bild von der eigenen Sündenfreiheit zerstört hat, kann er sie sich nicht nachsehen. Die Sünde, über die Sünde zu verzweifeln, gibt es also in zwei verschiedenen Formen. Sie liegt einmal vor, wenn der Mensch seine Sünde nicht bereuen will, deshalb auch nicht um Vergebung für sie bittet und sich so von vornherein der Möglichkeit der Vergebung verschließt. Und sie liegt vor, wenn der Mensch, obwohl ihm Gott seine Sünde vergibt, sich selbst diese Sünde nicht nachsehen will und sich damit der Auswirkung, die die Wirklichkeit der Vergebung für sein Selbstverhältnis haben soll, verschließt.
2.2 Die Sünde, an der Vergebung der Sünde zu verzweifeln Christus bietet dem Menschen eine „Hilfe“113 an, um aus der Sünde herauszukommen, nämlich die Vergebung seiner Sünde.114 Dieses Angebot der Vergebung der Sünde kann der Sünder annehmen; dann kann sein Verzweifelt-Sein vor Gott, seine Sünde, ein Ende finden.115 Der Sünder kann sich aber auch an der Vergebung der Sünde ärgern,116 d.h. an ihr verzweifeln.117 Er weiß um das Angebot der Barmherzigkeit,
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KT 112. KT 111. 110 KT 112. 111 Vgl. KT 112. 112 KT 112. 113 KT 84. 114 Vgl. KT 84. 115 Sein Verzweifelt-Sein vor Gott findet dann kein Ende, wenn er sich selbst dennoch die Sünde nicht nachsieht. Siehe dazu genauer unten Das geheilte Selbst Teil 11. 116 Vgl. KT 114. 117 Vgl. KT 126. 109
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weist es aber zurück.118 Damit tritt er in ein Missverhältnis gegenüber der Vergebung der Sünde. Während die eben behandelte Verzweiflung über die Sünde den Anlass der Verzweiflung benannt hat, richtet sich die Verzweiflung an der Vergebung auf dasjenige, das einen aus der Verzweiflung erlöst. Insofern liegt in der Verzweiflung an der Vergebung der Sünde eine Analogie zur Verzweiflung am Ewigen.119 Kierkegaard unterscheidet zwei Arten, die Vergebung der Sünde zurückzuweisen. In beiden Fällen sagt der Sünder: „nein, es gibt keine Vergebung der Sünden, es ist eine Unmöglichkeit“.120 Seine Zurückweisung der Vergebung geschieht entweder aus Trotz oder aus Schwachheit. Verzweiflung aus Trotz ist – wie gesehen – dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch ein anderes Selbst als das von Gott gesetzte Selbst sein will. Verzweiflung aus Schwachheit ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch nicht das von Gott gesetzte Selbst sein will. Beim Sünder, dem die Vergebung angeboten wird, ist das Phänomen umgekehrt: Im Trotz will er nicht der Sünder sein. Und in der Schwachheit will er ein anderes Selbst sein als das, dem die Vergebung angeboten wird.121 Die Vergebung aus Trotz zurückzuweisen bedeutet, dass der Zurückweisende nicht Sünder sein will. Der Trotzige weiß zwar, dass er Sünder ist; und er hat das Angebot der Sündenvergebung gehört. Aber er will nicht Sünder sein, will von seiner Sünde und deshalb auch von Sündenvergebung nichts wissen.122 Er meint, keine Vergebung zu benötigen. Seine Verzweiflung besteht darin, dass er „Ärgernis nehmend nicht glauben will“,123 dass ihm vergeben werden muss.124
118 Vgl. KT 127: „Verzweiflung an der Vergebung der Sünden ist eine bestimmte Stellungnahme gegenüber einem Angebot der göttlichen Barmherzigkeit“. 119 Vgl. KT 60 Anm. Kierkegaard weist auf den Unterschied zwischen „über“ und „an“ auch an der späteren Stelle ausdrücklich hin (KT 113 Anm.). Die Differenz zwischen der Verzweiflung an der Vergebung der Sünde und der am Ewigen liegt in dem im ersten Fall gegebenen konkreten Wissen darum, ein „Selbst Gott gegenüber“ zu sein (KT 114). 120 KT 115. 121 Vgl. KT 114. Es geht hier eben um ein „man selbst sein innerhalb der Bestimmung, daß man Sünder ist“; deshalb sind „hier Schwachheit und Trotz […] das Umgekehrte von dem, was sie sonst sind“ (KT 114). Gerade diese Veränderung von Schwachheit und Trotz in der Sünde gegenüber den Strukturen in der Verzweiflung macht deutlich, dass mit der Sünde eine andere Ebene als die in § 5 geschilderte Verzweiflung beschrieben wird. 122 Vgl. KT 114: „[…] hier ist es […] Trotz, daß man nicht man selbst sein will als das, was man ist, als Sünder, und auf Grund dessen der Vergebung der Sünden entraten will“. Es ist deutlich: Es geht um die Abwehr der Vergebung für einen selber. 123 KT 114 (Hervorhebung von mir); das Nicht-Wollen ist der Trotz. 124 Das „ihm“ ist kursiviert, da der Mensch hier die Notwendigkeit der Sündenvergebung für sich ablehnt. Insofern kann man auch davon sprechen, dass er nicht annimmt, dass er Sünder ist.
Verzweiflung und Sünde
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Die Vergebung aus Schwachheit zurückzuweisen bedeutet, dass der Sünder, dem die Vergebung angeboten wird, zwar Sünder sein will, d.h. sich als Sünder annimmt,125 dann aber dabei stehen bleibt. Er sagt: Ja, ich bin Sünder; aber das kann mir unmöglich vergeben werden. Damit will der Mensch nicht derjenige Sünder sein, dem Vergebung angeboten wird. Er will ein anderes Selbst sein; er will nämlich Sünder sein, aber einer, dem keine Vergebung angeboten wird. Der an der Vergebung der Sünde aus Schwachheit Verzweifelnde ist ein Mensch, der „Ärgernis nehmend sich nicht zu glauben getraut“,126 dass ihm die Vergebung gilt.127 In beiden Fällen, sowohl beim Zurückweisen der Vergebung aus Trotz als auch beim Zurückweisen der Vergebung aus Schwachheit, liegt ein Nicht-man-selbst-sein-Wollen vor.128 Der Mensch will nicht Sünder sein, oder er will nicht der Sünder sein, dem Vergebung angeboten wird. Kurz: Er will nicht der von Gott gerechtfertigte Sünder sein. Darin weist er die Botschaft von der Rechtfertigung zurück. Woran ärgern sich der Trotzige und der Schwache genau, wenn sie an der Vergebung verzweifeln? Das Ärgernis richtet sich jeweils auf die dem Sünder geltende Botschaft von Sünde und Sündenvergebung, nicht mehr auf etwas am Menschen. Entscheidend für das Ärgernis ist aber der Bezug der Botschaft auf den Sünder selbst: Der Mensch ärgert sich daran, dass die Botschaft von Sünde und Sündenvergebung ihm gilt. Der Schwache ärgert sich daran, d.h. glaubt nicht, dass ihm die Sünde vergeben werden kann. Der Trotzige ärgert sich bereits daran, dass er Sünder sein soll. Um zu verstehen, warum damit eine neue Potenzierung des Selbstbewusstseins gegenüber dem Selbst „vor Gott“ erreicht sein soll, muss noch einmal auf die Botschaft des „vor Gott“ und auf die Bedeutung Jesu Christi und der Lehre von der Sünde und der Sündenvergebung für diese Botschaft eingegangen werden. Die Botschaft des „vor Gott“, die Botschaft davon, dass der einzelne Mensch für Gott wichtig ist und in einer vertrauten Beziehung zu Gott leben darf, ist, wie schon notiert wurde, in zweifacher Weise für den Menschen bedeutsam: Das „vor Gott“ ist des Menschen „Ziel und Maßstab“.129 Die Botschaft des „vor Gott“ ist, wenn der Mensch ein Bewusstsein von ihr 125 Insofern schließen sich Verzweiflung an der Vergebung aus Trotz und Verzweiflung an der Vergebung aus Schwachheit aus. 126 KT 114 (Hervorhebung von mir); das Sich-nicht-Trauen ist die Schwachheit. 127 Hier ist das „ihm“ kursiviert, weil sich das Ärgernis darauf richtet, dass er selbst nicht länger Sünder sein soll. Insofern kann man auch davon sprechen, dass er nicht annimmt, dass ihm vergeben wird. 128 Vgl. KT 114. Wie gesagt, liegt beim Zurückweisen aus Schwachheit überdies ein Einanderes-Selbst-sein-Wollen vor. 129 KT 114. Siehe oben Anm. 48.
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Selbstannahme oder Verzweiflung
hat, für ihn Maßstab. Und sie ist des Menschen Ziel insofern, als der Mensch diesem Bewusstsein entsprechend leben soll. Doch „daß Gott des Menschen Ziel und Maßstab ist“, d.h. die Botschaft des „vor Gott“, dies ist nach Kierkegaard „erst in Christus […] wahr“.130 Denn durch Christus fällt ein „ungeheure[r …] Nachdruck“131 auf den Menschen, genauer dadurch, „daß Gott auch um dieses Selbsts willen sich hat gebären lassen, Mensch geworden ist, gelitten hat, gestorben ist“.132 Christus, der Gottmensch, ist der „seitens Gottes durch rechtskräftiges Zeugnis bestätigte Ausdruck dafür, welch eine ungeheure Realität ein Selbst hat“.133 Gott selbst hat „die Lehre vom Gottmenschen erfunden“,134 indem er sich zum Menschen machte.135 Und „[n]iemals hat irgendwie irgendeine Lehre auf Erden Gott und Mensch wirklich so nahe zusammengebracht“136 wie diese Lehre vom Gottmenschen. Sie ist die Lehre „von der Gleichheit zwischen Gott und Mensch“137 in diesem konkreten einzelnen Menschen.138 Doch hat die Nähe, die Gott durch seine Menschwerdung zwischen Gott und Mensch hergestellt hat, „die Christenheit frech gemacht“.139 Denn diese tut jetzt so, als ob Gott und Mensch eigentlich das Gleiche seien,140 indem sie den Unterschied zwischen Gott und Mensch, den Gott durch seine Menschwerdung überbrückt hat, „pantheistisch“141 aufhebt. Damit wird aus der von Gott hergestellten konkreten Nähe von Gott und Mensch in Christus eine pauschale Identifikation zwischen Gott und Mensch, „als ob es nun doch auf eins hinausliefe: Gott und Mensch“.142 Im Horizont dieser Verzerrung der Lehre vom Gottmenschen hat nach Kierkegaard die Lehre von der Sünde und von der Vergebung der Sünde 130
KT 114. KT 114. 132 KT 114. Genauso KT 84: „[…] um dieses Menschen willen [der vorher als der einzelne Mensch beschrieben wurde, der vor Gott leben darf; CT], auch um dieses Menschen willen kommt Gott auf die Welt, läßt sich gebären, leidet, stirbt“. 133 KT 114. Man könnte deshalb fragen, ob der Verzweifelte tatsächlich schon durch die Botschaft des „vor Gott“, ohne die Botschaft von Christus aus der Verzweiflung herauskommen kann. 134 KT 119. 135 Vgl. KT 128. 136 KT 118. 137 KT 122. 138 Vgl. auch EC 77: „Der Gott-Mensch ist die Einheit von Gott und einem einzelnen Menschen.“ 139 KT 119. 140 Vgl. KT 119: Es ist Gotteslästerung, wenn man, nachdem Gott Mensch geworden ist, diesen Schritt „alsdann etwa eitel nehme, so, als ob es nun doch auf eins hinausliefe: Gott und Mensch“. – Diese Aufhebung des Unterschiedes geschieht sowohl „auf spekulative Art“ als auch „neuerdings pöbelhaft auf Straßen und Gassen“; „spekulativ“ geschah sie durch Hegel, „pöbelhaft auf Straßen und Gassen“ durch Feuerbach (KT 118; vgl. mit Hg.-Anm. 117, KT 181). 141 KT 118. 142 KT 119. 131
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ihre zentrale Bedeutung. Denn sie befestigt den (auch nach Gottes Menschwerdung bleibenden) unendlichen „Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch“, und zwar „so tief, wie er noch niemals befestigt worden ist“.143 In nichts ist der Unterschied zwischen Mensch und Gott so deutlich wie darin, dass der Mensch vor Gott Sünder ist. Gott und Mensch unterscheiden sich in Bezug auf die Sünde qualitativ: „Sünde ist von alledem, was sonst über einen Menschen ausgesagt wird, das Einzige, das auf keinerlei Weise, weder auf dem Wege der Verneinung (via negationis[144]) noch auf dem Wege der Steigerung (via eminentiae) von Gott ausgesagt werden kann.“145 Die gleiche unendliche qualitative Differenz146 zwischen Gott und Mensch wird dadurch bezeichnet, dass Gott dem Menschen Sünden vergibt.147 Es ist die Lehre von der Sünde und von der Vergebung der Sünde, die den Menschen daran erinnert, dass er trotz der Nähe, in die Gott zu ihm in Christus gekommen ist, als Sünder auf die Hilfe Gottes angewiesen ist und dass es ihm nur aufgrund dieser Hilfe überhaupt möglich ist, in die Nähe des „vor Gott“ zu treten. Sie sichert Gott vor „naseweiser Zudringlichkeit“148 des Menschen und macht deutlich, dass der Mensch keinerlei Anspruch auf das „vor Gott“ hat. Gleichzeitig macht die Lehre von der Sünde und der Sündenvergebung den Menschen als Einzelnen thematisch. „Die Kategorie der Sünde ist die Kategorie der Einzelnheit“,149 Sünde ist etwas, das nur je und je von einem einzelnen Menschen ausgesagt werden kann. Der Ernst der Sünde besteht darin, „daß du und ich Sünder sind“150 – eine Einsicht, „welche unbedingt ‚die Menge‘ auseinanderscheidet“.151 Damit folgt nun, was oben bereits behauptet wurde: Das Ärgernis an der Lehre von der Sünde ist letztlich immer Ärgernis daran, dass man selbst Sünder sein soll. Entsprechend richtet sich das Ärgernis an der Lehre von der Sündenvergebung vor allem auf die Hilfe, die mir angeboten wird.152 143 KT 123. Deshalb liegt in dieser Lehre von Sünde und Sündenvergebung „die äußerste Konzentration des Ärgernisses“ (KT 123). 144 „Über Gott aussagen […], daß er nicht ein Sünder sei, ist Gotteslästerung.“ (KT 123). 145 KT 123. 146 Vgl. KT 129. Vgl. zum unendlichen qualitativen Unterschied u.a. H. FISCHER: Subjektivität und Sünde, 110: „Der Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch bedeutet […] gegen Hegel, daß es zwischen den Begriffen Gott und Mensch keine Bewegung gibt, die auf einer höheren Ebene zur Synthese führt. […] Daß dieser Qualitätsunterschied unendlich ist, besagt, daß es überhaupt keinen logischen Oberbegriff für Gott und Mensch gibt.“ 147 Vgl. KT 123. 148 KT 122. 149 KT 120. 150 KT 120. 151 KT 123. 152 Es kann sich aber auch darauf richten, dass überhaupt Sünde vergeben werden kann (vgl. KT 117). Vgl. zu der existentiellen Dimension des Ärgernisses auch EC 101: „[…] alles Reden
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Verzweifelt ein Mensch an der Vergebung der Sünde, so ist sein Bewusstsein vom Selbst gegenüber der im vorangehenden Abschnitt geschilderten Verzweiflung über die Sünde potenziert. Denn sein Selbst hat ein Bewusstsein von Christus, der ihm die Vergebung anbietet. Es ist „ein Selbst Christus gegenüber“.153 Es gilt: „[…] je mehr Vorstellung von Christus, desto mehr Selbst. […] Jedoch je mehr Selbst, umso intensivere Sünde“154 – wenn der Mensch weiter in der Verzweiflung bleiben will. Der Mensch tritt in seinem Sich-Ärgern in ein Missverhältnis zu Christus als dem, der ihm die Sündenvergebung anbietet. Der Mensch ist nicht mehr nur vor Gott, sondern vor Christus verzweifelt. Die Potenzierung der Sünde liegt jedoch nicht nur in dem Beschriebenen, sondern auch darin, dass der Sünder zum einen durch dieses Verzweifeln Gott näher rückt, weil er mit Gott streitet, es gäbe keine Vergebung der Sünde (Kierkegaard spricht sogar von „Handgemenge“155), zum anderen aber Gott ferner rücken muss, um überhaupt so reden zu können: „So weit von Gott entfernt wie nur möglich muß ein Mensch sein, damit dies Nein gehört werden könne, welches doch in gewissem Sinne Gott zuleibe will“.156 Wie die Verzweiflung über die eigene Sünde so wird auch die Verzweiflung an der Vergebung der Sünden von vielen Menschen fälschlich als Zeichen einer besonders tiefen Natur verstanden.157 Dieses Missverstehen kommt nach Kierkegaard dadurch zustande, dass man das „Du sollst“ im Bereich des Religiösen meint abschaffen zu müssen. Es gilt aber: „Du sollst glauben“.158 Und wenn von uns gefordert ist, der Vergebung der Sünden zu glauben, dann bedeutet das – wie Kierkegaard im Anschluss an Immanuel Kant behauptet159 –, dass jeder auch die Vergebung der Sünden glauben kann. Er braucht sich mithin weder der oben beschriebenen Verzweiflung der Schwachheit noch der oben beschriebenen Verzweiflung des Trotzes zu rühmen.160
vom Ärgernis in Beziehung auf das Christentum als Lehre ist Mißverständnis […] Nein, das Ärgernis geht entweder auf Christus [siehe dazu unten § 6.2.3] oder auf das selber Christ Sein“. 153 KT 113. 154 KT 114. 155 KT 115. 156 KT 115. 157 Vgl. KT 115. 158 KT 116. 159 Vgl. KANT: Kritik der praktischen Vernunft, A 54, 140. 160 Vgl. KT 116.
Verzweiflung und Sünde
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2.3 Die Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären In dieser letzten Fortsetzung der Sünde zeichnet sich der Sünder nicht durch ein noch einmal gegenüber dem Wissen um das „vor Gott“ und die Botschaft von Sünde und Sündenvergebung erweitertes Wissen aus. Es verändern sich aber Gegenstand und Intensität des Ärgernisses. Während in der eben beschriebenen Verzweiflung an der Vergebung der Sünde der Mensch sich selbst der Botschaft von Sünde und Sündenvergebung verweigert, will der Mensch in dieser Fortsetzung der Sünde von der Botschaft des Christentums insgesamt nichts wissen, und zwar derart, dass er das Christentum ausdrücklich für Unwahrheit erklärt.161 Ein solcher Mensch weiß (wie auch in der zweiten Fortsetzung) um die Botschaft des Christentums, weist sie aber nicht nur für sich selbst zurück, sondern bekämpft sie offensiv; die Botschaft selber erklärt er für unwahr. Das Selbst meint, nur dadurch „es selbst“ sein zu können, dass es die Botschaft des Christentums bekämpft. Tatsächlich würde es nur dann „es selbst“ werden können, wenn es dieser Botschaft glaubte. Sünde ist immer „Krieg zwischen Mensch und Gott“.162 In den anfänglich beschriebenen Formen war dieser Krieg ein Verteidigungskrieg:163 In der Sünde als Verzweiflung vor Gott „kämpft man durch Ausweichen“, in der Verzweiflung über die eigene Sünde kämpft man gegen Gott „noch einmal durch Ausweichen oder dadurch, daß man sich in seiner rückwärtigen Stellung verschanzt“.164 In der Verzweiflung an der Vergebung dann ist der Mensch „nicht lediglich defensiv“, ist sie doch nicht einfach ein Sichin-sich-selbst-Verschließen, sondern – wie gesagt – „eine bestimmte [bewusste] Stellungnahme gegenüber einem Angebot der göttlichen Barmherzigkeit“.165 Jetzt, in der Sünde, das Christentum für Unwahrheit zu erklären, geht der Sünder durch einen Angriff auf die Wahrheit des Christentums in den „offensive[n …] Krieg“166 über. Er lehnt nicht nur die ihm angebotene Vergebung ab, sondern bekämpft Christus offensiv. Er ärgert sich daran:
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Vgl. KT 126. Dass der Mensch die Botschaft des Christentums ausdrücklich für Unwahrheit erklärt, ist das Positive (vgl. KT 133), das Setzende, an dieser Sünde. Sie ist die „Sünde wider den Heiligen Geist“ (KT 126; vgl. Mk 3,29). 162 KT 126. 163 Vgl. KT 127. 164 KT 127. 165 KT 127. 166 KT 127. Vgl. KT 127: „Jetzt […] ist die Sünde im Angriff.“
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– dass Gott in Christus den unendlichen Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch überbrückt,167 „sich gebären läßt“168 und ein einzelner, armer, verlassener Mensch wird,169 und daran, – dass dieser Mensch Christus zugleich Gott ist,170 Sünden vergibt171 und macht, dass Taube hören und Blinde sehen.172 Wie Kierkegaard im zweiten Teil der „Einübung im Christentum“ ausführlich vorführt, kann man sich an Christus eben auf zweierlei Weise ärgern: an seiner „Geringheit, daß der, welcher sich für Gott ausgibt, sich als der geringe, arme, leidende, letztlich ohnmächtige Mensch erweist“,173 und an seiner „Hoheit, daß ein einzelner Mensch redet oder handelt als sei er Gott, von sich selbst sagt er sei Gott“.174 Angesichts dieser Möglichkeiten zum Ärgernisnehmen gehören „zur Verkündigung von Christus“ die „Worte: selig, der sich nicht an mir ärgert“175 wesentlich hinzu. Wie oben bereits erwähnt, gibt es unterschiedliche Intensitäten des SichÄrgerns. Das gilt auch und erst recht für das Ärgernis an Christus. In der Sünde, das Christentum und damit eben Christus176 für Unwahrheit zu erklären, ist die höchste Intensität dieses Ärgernisses erreicht. Ein solcher Mensch muss den Gegenstand des Ärgernisses selber zunichte machen. Er „leugnet Christus“, nämlich „daß er dagewesen ist und daß er der gewesen ist, der er nach seinem Worte sein wollte“,177 eben der Gottmensch. Damit tritt er in ein aggressives Missverhältnis zu Christus. Und indem der Mensch Christus für Unwahrheit erklärt, erklärt er alle christlichen Bestimmungen für Unwahrheit:178 die Sünde, die Sündenvergebung, selbst das „vor Gott“, das erst in Christus wahr ist. Damit kann er weder sein Sündersein noch dies, dass ihm vergeben werden soll, in den Blick bekommen. Er steht in einem Missverhältnis zu sich selbst, ist also verzweifelt. 167
Vgl. KT 128. KT 132. 169 Vgl. KT 130. Dieses Leugnen des wirklichen Menschseins Christi ist ein doketisches Leugnen Christi (vgl. KT 133). 170 Vgl. KT 129f. 171 Vgl. KT 117. 172 Vgl. KT 130. Dieses Leugnen des Gottseins Christi ist ein rationalistisches Leugnen Christi (vgl. KT 133). 173 EC 97; vgl. EC 97ff. Zur Christologie der „Einübung im Christentum“ vgl. H. FISCHER: Die Christologie des Paradoxes, 73ff. 174 EC 88; vgl. EC 88ff. 175 KT 130. Vgl. EC 69ff. 176 Vgl. KT 131. 177 KT 133. 178 Vgl. KT 133: „In diesem Leugnen Christi als des Paradoxes liegt natürlich wieder beschlossen das Leugnen von allen christlichen Bestimmungen: von der Sünde, der Sündenvergebung usf.“ 168
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Die Leugnung Christi „ist der Sünde höchste Potenzierung“.179 Insofern ist ein Mensch, der diese letzte Fortsetzung der Sünde vollzieht, ganz weit vom Glauben entfernt.180 Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst Teil 11 In den drei Fortsetzungen der Sünde wurde diese immer intensiver, und in der letzten Fortsetzung war der Mensch ganz weit vom Glauben entfernt.181 Um nicht weiter in der Sünde zu bleiben, bedarf es umgekehrt dreier Dinge: 1) Der Mensch muss seine Sünde bereuen und um Vergebung bitten. Und er muss, wenn ihm von Gott vergeben wird, sich auch selbst seine Sünde nachsehen. Dies ist nur dadurch möglich, dass er sich als bleibend abhängig von Gottes Hilfe annimmt. 2) Der Mensch muss die Botschaft von Sünde und Sündenvergebung für sich selbst annehmen und damit sich als Sünder und als jemand, dem die Sünde vergeben wird, annehmen. Während der, der weiter in der Sünde bleibt, nicht er selbst als der von Gott gerechtfertigte Sünder sein will, will der Glaubende er selbst als der von Gott gerechtfertigte Sünder sein. 3) Der Mensch muss an Christus glauben als Grund der Vergebung und als Bote der Vergebungsbotschaft. Da Christus „Ausdruck“ für das „vor Gott“ ist, glaubt der, der Christus glaubt, dann auch, dass er vor Gott leben darf – so dass er nicht mehr verzweifelt ist. Das aber heißt: Um aus der Sünde herauszukommen, braucht man auf der „objektiven“ Seite die Heilstat Christi und die Botschaft von Sünde und Vergebung. Auf der „subjektiven“ Seite kommt man aus der Sünde nur durch den Glauben an Christus und den darin implizierten Glauben an die Botschaft von Sünde und Sündenvergebung, durch die Annahme seiner selbst als eines Sünders, dem vergeben wird, und durch Reue und Sich-dieSünde-Nachsehen heraus. Ad 1) In der Reue steht der Mensch nicht mehr in einem Missverhältnis gegenüber der eigenen Sünde.182 Er verzagt nicht mehr über seine Sünde, sondern streckt sich danach aus, sie loszuwerden, indem er Gott um Vergebung bittet.183 In dieser Bitte nimmt er sich als jemand an, der von dieser 179
KT 133. Zur Potenzierung des Selbstbewusstseins vgl. KT 126. Vgl. KT 118 Anm.: „Ärgernis, mit der Richtung vom Glauben fort, ist Sünde.“ 181 Man kann durch logische Formalisierung der Sündenfortsetzungen zeigen, dass es sich bei diesen nicht um Stufen hin zum Glauben handelt, die sich auseinander entwickeln und nacheinander abgeschritten werden. Diese Formalisierung ist aber etwas mühsam, weshalb auf sie hier verzichtet sei. 182 Reue ist nämlich „der affektive Anteil […] an der Schuldanerkennung“ (M. HIRSCH: Schuld, 51). 183 Vgl. KT 112. 180
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Vergebung abhängig ist. Er bittet um Hilfe und öffnet sich damit für die Möglichkeit der Vergebung.184 Und wenn er später erneut in die Sünde zurückfallen sollte, so verzweifelt er nicht über seine Sünde. Vielmehr führt er sich vor Augen, wie er vormals, ohne Gottes Hilfe, war und dass er nur durch Gottes Hilfe in der Vergangenheit vor der Sünde bewahrt blieb.185 Dagegen war ja das Problem des über seine erneute Sünde Verzweifelnden, dass dieser meinte, stolz darauf sein zu können, ein besserer Mensch geworden zu sein. Deshalb konnte er über seine Sünde, die ihn an seine Vergangenheit erinnerte, nur verzweifeln. Wenn aber ein Mensch sich vor Augen führt, dass er seine Freiheit von der Sünde nur Gott verdankt (er existiert – mit Luther zu reden – als simul iustus et peccator186), dann kann der Stolz gar nicht aufkommen, der die Bitte um Vergebung der neuerlichen Sünde verhindert. Der Mensch kann nun den Gegensatz zwischen seinem – von Kierkegaard durchaus zugestandenen – „vielleicht bedeutenden Fortschritt im Guten“187 und seinem Rückfall in die Sünde aushalten. Dadurch kommt er – wie Kierkegaard sagt – zur „Identität mit sich selber“.188 Diese Identität des Glaubenden mit sich selbst ist eine „schmerzhafte“.189 Denn sie besteht im Zusammenhalten von zwei den Glaubenden fast zerreißenden Gegensätzen:190 Auf der einen Seite schreitet der Glaubende durch 184 Zur Phänomenologie der Reue vgl. die Studie von ESSER: Das Phänomen Reue. Esser betont mit Bezug auf Kierkegaard: In der Reue stellt sich eine „Freiheit zu mir selbst als dem Schuldigen“ (ebd., 167) ein. Vgl. zu diesem Buch die Rezension von Hünermann. Dieser arbeitet eindrücklich heraus, wie der Schuldige in sich selbst zerrissen ist: „In der Erfahrung der Schuld als Schuldtat erfaßt sich der Schuldige als selbst schuldig-seiend, als widersprüchlich und in sich selbst gespalten.“ Er ruft in Bestürzung aus: „Wie konnte ich solches tun!“ Reue dagegen ist „Schuldübernahme“, in der sich der Mensch „der Schuld und dem anklagenden anderen stellt, zugleich aber – als ein sich Stellen in die Wahrheit – auf die Versöhnung mit dem anderen hofft“ (HÜNERMANN: Rezension, 199; Hervorhebung von mir). 185 Vgl. KT 112. 186 Vgl. zum Beispiel LUTHER: Die dritte Disputation gegen die Antinomer. 1538, WA 39/I, 508,6–8: „[…] in quantum christianus, eatenus enim sum iustus, pius et Christi, sed quatenus respicio ad me et ad meum peccatum, sum miser et peccator maximus. Ita in Christo non est peccatum et in carne nostra non est pax et quies, sed pugna perpetua“. 187 KT 113. 188 KT 113. 189 Vgl. KT 113. 190 Dass sich die Identität des Menschen nur im Horizont polarer Gegensätze entwickelt, hat E.H. Erikson unter dem Begriff der Ich-Identität psychologisch geltend gemacht. Erikson behauptet eine Reihe von Krisen, „die jeder Mensch während seiner Kindheit bestehen muß“ (ERIKSON: Wachstum und Krisen, 56) und die „durch zwei ‚Pole‘, in deren Spannungsfeld sich die Entwicklung“ des Menschen vollzieht, gekennzeichnet sind (SCHWEITZER: Lebensgeschichte und Religion, 73), zum Beispiel die Polarität von Ur-Vertrauen und Ur-Misstrauen (ERIKSON: Wachstum und Krisen, 62ff). Dabei ist das eine Element der Polarität „ein Kriterium relativer psychosozialer Gesundheit“ und das „korrespondierende“ ein „Kriterium relativer psychosozialer Störung“ (DERS.: Das Problem der Ich-Identität, 149). Die Krisen werden bewältigt, indem das Kind „ein
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Gottes Wirken fort „im Guten“, d.h. im Freisein von der Sünde, auf der anderen Seite fällt er immer wieder in die Sünde zurück. Das innere Aushalten dieser Gegensätze (wenn man so will: des Partialaspekts der Rechtfertigung191) gelingt dem Menschen dadurch und nur dadurch, dass er sich das simul iustus simul peccator, seine Abhängigkeit von dem Rechtfertigungshandeln Gottes, präsent hält. Es gelingt nur dadurch, dass der Mensch sich vor Augen führt, wie er allein durch Gottes Hilfe aus der Sünde zu kommen vermochte. „Identität mit sich selbst“ kann der Mensch nur dadurch herstellen, dass er sich darauf besinnt, wie seine Existenz durch Gott bestimmt ist. Dann muss er sich nicht mehr an sein besseres Bild von sich selbst klammern, sondern kann sich seine Sünde nachsehen. Ad 2) Der Glaubende akzeptiert, nimmt an, dass er selbst Sünder ist und der Vergebung bedarf. Das heißt: Er will (zunächst) er selbst sein „innerhalb der Bestimmung, daß man Sünder ist“.192 Dabei ereignet sich ein dritter Modus der „Durchsichtigkeit“:193 Das dem Menschen seine Schuld anzeigende Gewissen bringt zum Ausdruck, dass „jeder Mensch Durchsichtigkeit ist vor Gott“.194 Es zeigt: Gott kennt den Menschen durch und durch. Der Glaubende nimmt außerdem an, dass ihm vergeben wird, er also nicht Sünder bleiben soll. Das heißt: Er will er selbst sein als das Selbst, dem die Sünde vergeben wird. Anders gesagt: Er nimmt sich selbst als jemand an, dem vergeben wird.
relatives Gleichgewicht zwischen positiv und negativ“ erwirbt; wenn dabei „die Waagschale sich mehr zum Positiven neigt“, ist allerdings die Chance, nachfolgende Krisen zu überwinden, größer (DERS.: Wachstum und Krisen, 69 Anm. 4). In der Pubertät bildet sich in der fünften Stufe aufgrund des erfolgreichen Durchlaufens der vorangehenden Stufen die eigentliche „Ich-Identität“ des Menschen aus (vgl. ebd., 107). Diese ist „das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (als das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten“ (ebd.; vgl. auch die Definition zum Beispiel in DERS.: Ich-Entwicklung, 17). Theologische Kritik an Eriksons Identitätsbegriff hat u.a. SCHNEIDER-FLUME: Die Identität des Sünders, geltend gemacht. Zu sozialwissenschaftlichen Einwänden vgl. SCHWEITZER: Lebensgeschichte und Religion, 98ff. – In der neueren Psychologie wird die Identität stärker selber als Prozess verstanden (vgl. KEUPP: Art. „Identität“). Der Identitätsprozess bestehe darin, „daß wir die verschiedenen, oft sich widersprechenden inneren Strebungen harmonisieren, so daß wir ihrer Widersprüchlichkeit zum Trotz ein Ich, eine ganze Persönlichkeit werden und bleiben“ (so BLEULER: Schizophrenie, 18 [zitiert nach KEUPP: ebd.]). Ohne Zweifel befindet sich dieses Identitätsverständnis in nicht geringer Nähe zu dem, was Kierkegaard als „Identität mit sich selber“ bezeichnet. Zur Frage der Identität siehe auch unten § 7 Anm. 95. 191 Vgl. zum so genannten Partialaspekt der Rechtfertigung zum Beispiel LUTHER: Disputatio de homine. 1536, WA 39/I, 177,11f: „Interea in peccatis est homo, et in dies vel iustificatur vel poluitur magis.“ Vgl. zum Partialaspekt auch O.H. PESCH: Simul iustus et peccator, 160f. 192 KT 114. 193 Die beiden anderen wurden oben in Das geheilte Selbst Teil 10 beschrieben. 194 KT 125.
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Entscheidend ist in beiden Fällen, dass der Mensch die Botschaft auf sich selbst bezieht. Er anerkennt nicht nur ihre objektive Wahrheit, er anerkennt, dass er selbst damit gemeint ist.195 Ad 3) Wenn der Mensch an Christus glaubt, dann ärgert er sich weder daran, dass der Mensch in Christus „Gott […] nahe […] kommen kann und kommen darf und kommen soll“,196 noch daran, dass nach wie vor ein „unendlich klaffende[r] Abgrund der Qualität“197 zwischen Gott und Mensch besteht. Er verhält sich aber auch nicht indifferent Christus gegenüber. Er tritt vielmehr in das einzig angemessene Verhältnis gegenüber Christus: Er betet ihn „gläubig an“.198 Dass diese „Anbetung“ Christi auch das Annehmen dessen impliziert, dass ich Sünder bin bzw. dass mir vergeben wird, kann man sich aus der „Einübung im Christentum“ gesagt sein lassen. Kierkegaard betont dort, dass Anbetung Christi nicht im Sinne einer „Betrachtung“ zu verstehen ist, in der ich zwar „in den Gegenstand hinein[gehe]“, also „objektiv“ werde, dabei aber „heraus aus mir [gehe] oder fort von mir“, mithin „auf[höre] subjektiv zu sein“.199 Die christliche Wahrheit kann ich nicht interessiert wie einen Gegenstand betrachten. Denn sie selbst betrachtet „mich […], ob ich tue, was sie sagt daß ich tun soll“.200 Insofern impliziert die Anbetung Christi, dass ich meine ganze Existenz von Christus bestimmen lasse – also auch seine Botschaft von Sünde und Sündenvergebung mir gesagt sein lasse. Während aus der Ablehnung der Barmherzigkeit für mich noch nicht zwangsläufig die Bestreitung der Botschaft insgesamt folgt (ich kann ja auch, wie Kierkegaard gezeigt hat,201 mich unentschieden gegenüber der Botschaft verhalten oder die ganze Zeit auf die Botschaft starren), schließt der Glaube an Christus immer ein, dass ich seine Botschaft für mich annehme. Der Glaube an Christus und das Annehmen dessen, dass ich Sünder bin und mir vergeben wird, impliziert zwar immer, dass ich meine Sünde bereue, bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass ich mir meine Sünde auch nachsehe. Zum Annehmen der mir geltenden Botschaft von Sünde und Sündenvergebung muss hinzukommen, dass ich mir meine Sünde selbst nachsehe. Nur dann hat die Verzweiflung über die Sünde ein Ende.
195
Vgl. auch EC 142: Es geht nicht nur darum, zur Gnade hinzufliehen, sondern es geht darum, zu einem ganz bestimmten Gnadengebrauch hinzufliehen. 196 KT 127. 197 KT 131. 198 KT 131 (Hervorhebung im Original). 199 EC 225. 200 EC 225. 201 Siehe oben die einleitenden Seiten von § 6.
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Es sei noch einmal zusammengefasst, warum durch den Glauben an Christus das unangemessene Selbstverhältnis in der Sünde ein Ende findet. Der Glaubende nimmt sich als Sünder an. Und er nimmt sich als jemand an, dem die Sünde vergeben wird. Außerdem kultiviert er keinen falschen Stolz auf sich selbst. Und, was für die Frage nach der Selbstannahme vielleicht das Wichtigste ist: Der Glaubende ist nicht mehr sich selbst gegenüber neidisch, sondern gönnt sich das Außerordentliche des „vor Gott“. – Insofern nimmt er sich selbst als von Gott gerechtfertigten Sünder an. Er will er selbst als der von Gott gerechtfertigte Sünder sein. Der vom Menschen geforderte Glaube wurde im ersten Teil von „Die Krankheit zum Tode“ als schlichter Glaube an das „vor Gott“, an die vertraute Beziehung zwischen Gott und Mensch, beschrieben. Wenn der Mensch sich erst einmal dem Angebot des „vor Gott“ verweigert hat, reicht dieser schlichte Glaube nicht mehr aus. Der Sünder muss an Christus glauben, an die Botschaft von Sünde und Sündenvergebung. Für den Sünder gibt es keinen direkten Weg zurück zu Gott. Die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders bekommt damit im zweiten Teil von „Die Krankheit zum Tode“ eine gegenüber dem ersten Teil der Schrift weitreichendere Relevanz. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das „vor Gott“ für den Menschen und für seine in § 5 skizzierte Selbstannahme dadurch hinfällig würde. Doch ist der Zugang dazu für den Sünder nur durch den Glauben an Christus möglich. Das aber heißt: Der Sünder kann sich nur als von Gott gesetztes Selbst annehmen, wenn er sich als von Gott gerechtfertigten Sünder annimmt. Kierkegaard schließt den Abschnitt über Sünde und Sündenvergebung mit der erneuten These, „Definition des Glaubens“ sei, „indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat“.202 Der Kontext, eben der Abschnitt über Sünde und Sündenvergebung, gebietet, diese Struktur nun auch auf das Sich-als-gerechtfertigten-Sünder-Annehmen zu beziehen. Insofern ist zu folgern: Sich als den von Gott gerechtfertigten Sünder zu bejahen, ist für Kierkegaard wesentlicher Bestandteil des für den Sünder notwendigen Glaubens. Nur in dieser Selbstbejahung ist dann für den Sünder die Bejahung des eigenen Selbst als eines von Gott Gesetzten203 möglich, in welcher wiederum das Selbst sich in der Macht gründet, welche es gesetzt hat. Auf diese Struktur wird in § 7.3.3 noch einzugehen sein. Legt die Botschaft von der Sünde und der Sündenvergebung und die Botschaft von Christus es dem Menschen nahe, sie zu glauben? Nein! Denn 202
KT 134 (Hervorhebung von mir). Auch diese Selbstbejahung gehört für Kierkegaard zum Glauben wesentlich hinzu (siehe oben Das geheilte Selbst Teil 1). 203
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dies, was der Mensch glauben soll, ist ja das, an dem er sich ärgern kann. Es ist etwas, darüber man „den Verstand […] verlieren“ kann.204 Die Botschaft von der Sünde und der Sündenvergebung ist ärgerlich, weil sie den Menschen auf seine Hilfsbedürftigkeit hinweist. Auch macht sie, weil sie den Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch befestigt, das Außerordentliche des „vor Gott“ noch viel außerordentlicher und vergrößert mithin das „Allzuviel“, an dem sich bereits der ärgerte, der sich an dem „vor Gott“ ärgerte. Und die Botschaft von Christus ihrerseits ist zwar Ausdruck für das „vor Gott“, liefert aber selbst genug, an dem man sich ärgern kann. Damit folgt: Der „Weg“ zum Glauben liegt nur darin, dass der Mensch sich dazu entscheidet zu glauben. Kierkegaard formuliert deshalb dialektisch: „[…] es [muss] dem Glauben anheimgestellt werden […], ob einer glauben will oder nicht“.205 Dazu braucht man „den demütigen Mut […] es sich zu getrauen das zu glauben“.206 Man braucht Mut,207 um überhaupt „auf Hilfe zu hoffen“,208 d.h. um zu bereuen und um Vergebung zu bitten. Und man braucht Demut, um sein eigenes Sündersein und die Hilfe der Vergebung anzunehmen. Immer aber bleibt das Ärgernis „als aufgehobene Möglichkeit ein Moment im Glauben“.209 Das geheilte, sich selbst annehmende Selbst: Zusammenschau Die Untersuchung der Kierkegaardschen Schrift „Die Krankheit zum Tode“ soll mit einer Zusammenschau der Einsichten über das nicht mehr verzweifelte, sich selbst annehmende Selbst abgeschlossen werden. Diese Zusammenschau soll nicht alle Beobachtungen wiederholen; sie beschränkt sich vielmehr auf dasjenige, was für das Thema der christlichen Selbstannahme relevant ist. Das Selbst des Menschen – so hieß Kierkegaards fundamentale Bestimmung – ist eine Synthesis, die sich zu sich selbst verhält. Diese Synthesis, d.h. die Existenzbedingungen des Menschen (einschließlich des Wohlverhältnisses zwischen den Synthesisgliedern), ist durch Gott gesetzt. Im Existieren verhält der Mensch sich zu dieser Synthesis, zu seinen Existenzbe-
204
KT 84. KT 98. 206 KT 84. 207 Wohl hier im Sinne von „Freimut“ (vgl. KT 84). 208 EC 17. 209 KT 118 Anm. Vgl. auch KT 131: „[…] im Glauben ist wiederum die Möglichkeit des Ärgernisses das dialektische Moment“. Vgl. auch EC 72: „[…] der Glaube überwindet […] jeden Augenblick den Feind […] im eignen Innern, die Möglichkeit des Ärgernisses.“ 205
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dingungen und ist erst darin ein Selbst. Konstituiert ist das Selbst durch Gott, vollzogen wird es durch den Menschen. Das aber führt zu einer grundsätzlichen Verschränkung von Gottes- und Selbstverhältnis: Das Selbst verhält sich, indem es sich zu sich verhält, immer auch zu Gott, der es gesetzt hat. Das Selbst des Glaubenden zeichnet sich dann dadurch aus, dass es sich in einer ganz bestimmten Weise zu sich selbst und darin zu Gott verhält. Es ist durch ein existentielles „Ja-Sagen“210 bestimmt, und zwar in mehrerlei Hinsicht:211 1) Der Glaubende bejaht Gott als seinen Grund (Das geheilte Selbst Teil 1 und 3). 2) Diese Bejahung ist vom Selbstverhältnis des Glaubenden nicht zu trennen. Denn sie geschieht, indem der Glaubende das von Gott gesetzte Selbst sein will, d.h. sich als die zweifache Synthese bejaht, die Gott gesetzt hat. Er bejaht, dass sich seine Existenz in den Bedingungen von Endlichkeit und Unendlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit vollzieht. Diese Bejahung geschieht derart, dass die Bedingungen seiner Existenz in einem Wohlverhältnis zueinander stehen, d.h. die Synthese eine gelungene Synthese ist (Das geheilte Selbst Teil 1). Dies ist möglich, weil der Mensch im Glauben sich selbst durchsichtig wird (Das geheilte Selbst Teil 10). 3) Sich als diese zweifache Synthese zu bejahen, bedeutet zum einen die Bejahung von Möglichkeit und Notwendigkeit: Der Glaubende bejaht, dass er nur dann „er selbst“ ist, wenn er in Freiheit genau die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit wird (Das geheilte Selbst Teil 3). a) Der Glaubende bejaht mit der Notwendigkeit, dass er eine Vorgabe für sein Er-selbst-Sein besitzt (eben die Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit); er kann nicht auf beliebige Weise er selbst sein. b) Der Glaubende bejaht mit der Möglichkeit, dass er nur dann er selbst ist, wenn er es in Freiheit wird; sein Verhältnis zu Endlichkeit und Unendlichkeit kann er nicht an jemand anderen delegieren; er muss es in einem selbständigen Prozess vollziehen. Er bejaht damit aber auch, dass er in jeder Situation in Freiheit die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit werden, also sie bejahen kann. 4) Sich als jene zweifache Synthese zu bejahen bedeutet zum anderen eine Bejahung der Endlichkeit und Unendlichkeit. Sie impliziert eine differenzierte Bejahung der konkreten Beschaffenheiten des faktischen Selbst
210 Dieses Ja-Sagen ist, wie zu Beginn betont, darin existentiell, dass es das Existieren in Entsprechung zu diesem Ja einschließt. 211 Es fällt auf, dass in der Zusammenschau Das geheilte Selbst Teil 4 fehlt. Das ist aber nicht verwunderlich, ging es darin doch nur um das Bewusstsein davon, sich zu sich selbst verhalten zu müssen, – und nicht um konkrete Formen des (willentlichen) Ja- oder Nein-Sagens.
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(Bejahung der Endlichkeit), eine differenzierte Bejahung der eigenen „Schwierigkeiten“ sowie der eigenen „Vorzüge“. a) Der Mensch kann die konkreten Beschaffenheiten seines faktischen Selbst nicht direkt bejahen, er muss sich von ihnen unterschieden wissen. Voraussetzung für die Annahme dieser Beschaffenheiten ist mithin die Rechtfertigung, in der der Mensch als Person angenommen und darin von seinen Schwierigkeiten und Vorzügen unterschieden wird. Diese Rechtfertigung muss der Mensch seinerseits annehmen. Er muss sich als durch Gott von seinen endlichen Beschaffenheiten unterschieden annehmen (Das geheilte Selbst Teil 6). b) Dies wiederum ist nur möglich dadurch, dass der Mensch seine Abhängigkeit von der Rechtfertigung annimmt (Das geheilte Selbst Teil 7). c) Der Glaubende, der sich durch die Rechtfertigung von seinen Schwierigkeiten und Vorzügen unterschieden weiß, kann seine Schwierigkeiten und Vorzüge als die seinen (nicht: die ihn konstituierenden) annehmen (Das geheilte Selbst Teil 8). d) Diese Annahme geschieht aber nicht als Zementierung des Status Quo (so bin ich, und so will ich bleiben). Da der Glaubende die Existenzbedingung der Unendlichkeit bejaht, impliziert die Annahme seiner Schwierigkeiten die Bereitschaft zur Veränderung derselben (Das geheilte Selbst Teil 9). e) Zur Unendlichkeit gehört auch die Originalität und Individualität des Menschen. Indem der Mensch seine Unendlichkeit bejaht, nimmt er seine Besonderheit an (Das geheilte Selbst Teil 2). Kriterium für die Veränderung seiner Schwierigkeiten darf deshalb nicht sein, wie er im Weltenlauf möglichst wenig auffällt und sich möglichst stark an andere anpasst. f) Die Bejahung der eigenen Endlichkeit impliziert für Kierkegaard nun interessanterweise nicht, dass der Mensch sein „Schicksal“, die Umstände, denen er sich ausgeliefert fühlt, bejahen muss. Der Mensch ist vielmehr – durch seine Phantasie – in der Lage, viele dieser Umstände aktiv zu verändern. Selbst wenn dies einmal nicht möglich sein sollte, so identifiziert sich der Glaubende nicht derart mit seinen Umständen, dass sie sein Er-selbstSein ausmachen oder bedrohen. (Das geheilte Selbst Teil 5) Der Glaubende kann in jeder Situation er selbst sein! g) Die christliche Bejahung der Beschaffenheiten des faktischen Selbst besteht in einer mehrfachen Doppelbewegung. Der Glaubende muss seine Abhängigkeit von der Rechtfertigung bejahen (Bewegung hin zu sich); er muss die Rechtfertigung bejahen und das Unterschiedenwerden von den eigenen Schwierigkeiten (und Vorzügen) gelten lassen (Bewegung weg von sich); er muss dann aber seine Schwierigkeiten (und Vorzüge) als die seinen bejahen (Bewegung hin zu sich), was Voraussetzung dafür ist, die Schwierigkeiten zu verändern (Bewegung seiner selbst).
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5) Für den Sünder ist die beschriebene Bejahung nicht unmittelbar möglich. Der Sünder wird zum Bejahenden nur durch den Glauben an Christus. Indem er an Christus glaubt, der die Botschaft von Sünde und Sündenvergebung verkündigt, bejaht er sich selbst als Sünder. Er bereut seine Sünde, d.h. sagt Nein zu seiner Sünde, und bittet um Vergebung, d.h. sagt Nein zu dem Irrtum, ohne Christus der Sünde entkommen zu können. Und er bejaht sich selbst als jemanden, dem seine Sünde vergeben wird. Schließlich sieht er sich selber seine Sünde nach, d.h. sagt Nein zu dem Irrtum, ohne Christus der Sünde widerstehen zu können. Indem der Mensch an Christus glaubt, gönnt er sich das Außerordentliche, als Einzelner vor Gott leben zu dürfen. (Das geheilte Selbst Teil 11) Er bejaht, dass Gott ihn dazu in die Lage versetzt, die in 1–4 beschriebene Bejahung zu vollziehen. 6) Für Kierkegaard ist entscheidend, dass sowohl die Annahme des von Gott gesetzten Selbst als auch die Selbstannahme des gerechtfertigten Sünders wesentliches Element des Glaubens sind. Glaube heißt in dem analysierten Text Kierkegaards: sich selbst als den von Gott gerechtfertigten Sünder und als den von Gott Gesetzten bejahen und darin Gott bejahen. Glaube ist wesentlich Selbstannahme und darin Annahme dessen, der das Selbst konstituiert hat. 7) Insgesamt geschieht diese Selbstannahme nicht ein für allemal. Sie muss täglich neu vollzogen werden. Der Zustand auch des geheilten, sich selbst annehmenden Selbst bleibt „allezeit kritisch“.212
212
KT 21.
III) Weiterführungen
Im ersten Teil dieser Studie wurde im Gespräch mit Søren Kierkegaard eine Phänomenologie christlicher Selbstannahme erarbeitet. Deren entscheidender Ertrag war: Zum Glauben gehört ein expliziter Selbstbezug, genauer: eine explizite Selbstannahme. In ihr nimmt der Mensch sich als von Gott gesetztes Selbst und als von Gott gerechtfertigten Sünder an. In dieser Selbstannahme fällt der Mensch nicht aus der Ausrichtung auf Gott heraus; denn in dieser Selbstannahme nimmt der Mensch implizit den an, der das Selbst konstituiert hat. Kierkegaard hat im Blick hierauf behauptet: Glaube ist wesentlich Selbstannahme. Diese Phänomenologie christlicher Selbstannahme greift der zweite Hauptteil der Arbeit kritisch auf. Genauer gesagt, konfrontiert er sie mit der eingangs zitierten lutherischen Bestimmung der Struktur menschlicher Existenz: Die Existenz in der Sünde ist Gefangenschaft und Verkrümmtheit in sich selbst, die Existenz im Glauben indes Freiheit von sich selbst. Was folgt daraus für die Einschätzung eines expliziten Selbstbezugs des Glaubenden? Muss jeder derartig explizite Selbstbezug – auch etwa der an Kierkegaard herausgearbeitete – aus lutherischer Sicht notwendig als Rückfall in die sündige Selbstverkrümmtheit verstanden werden? Oder ist ein expliziter Selbstbezug des Christen denkbar, der sowohl das Anliegen Kierkegaards als auch die Pointe der lutherischen Selbstbezogenheitskritik zur Geltung bringt? Die systematische Antwort hierauf wird schrittweise entwickelt. Zunächst wird die Struktur sündiger Existenz, die Gefangenschaft des Menschen in sich selbst (§ 7.1), beschrieben. In Abgrenzung dazu wird später die Struktur glaubender Existenz im Sinne der erwähnten Freiheit von sich selbst charakterisiert (§ 7.2.2). Ist dies geschehen, so lässt sich präzisieren, wovon der Mensch eigentlich frei wird, wenn er von sich selbst frei wird (§ 7.2.3). Die vorgenommene Präzisierung stimmt – so wird sich zeigen lassen – mit der neutestamentlichen Rede von Selbstverleugnung zusammen (§ 7.2.4). Insgesamt wird sich erweisen, dass ein expliziter Selbstbezug des Glaubenden möglich ist, der nicht ein Ende der fundamentalen Freiheit von sich selbst bedeutet. Wenn dem so ist, dann scheint tatsächlich eine Rezeption des im Blick auf Kierkegaard Entfalteten im Horizont lutherischer Rechtfertigungslehre möglich. Gleichwohl muss das Rechtfertigungsgeschehen jetzt noch aus-
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drücklicher als bisher zur inhaltlichen Orientierung dienen – um eine reformatorischer Rechtfertigungslehre verpflichtete Systematisierung, Profilierung und gegebenenfalls Korrektur des im ersten Hauptteil entwickelten Begriffs von Selbstannahme zu erreichen. Zu diesem Zweck wird die lutherische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders expliziert (§ 7.2.1). Dies geschieht in einer am Neuen Testament erarbeiteten Terminologie von Annahme – zum einen, weil in einem wohlverstandenen Annahmebegriff die Relationalität der Rechtfertigung besonders gut geltend gemacht werden kann; zum anderen, weil sich auf diese Weise scharf die Bedeutung der Selbst-Annahme für den derart Angenommenen bestimmen lässt. Die Profilierung des bisherigen Begriffs von Selbstannahme erfolgt unter dem Leitbegriff der „Freiheit zu sich selbst“ (§ 7.3). Unter einer derartigen Freiheit wird im Folgenden eine erneute und erneuerte Hinwendung des Glaubenden zu sich selbst verstanden, die nur aufgrund und in der Freiheit von sich selbst möglich wird. Insofern muss die sich als Freiheit zu sich selbst vollziehende Selbstannahme inhaltlich an dem ausgerichtet werden, was Gott in der Rechtfertigung über den Sünder sagt: Der Sünder ist der von Gott trotz seiner Unannehmbarkeit Angenommene. Von hier aus lassen sich die an Kierkegaard gewonnenen Aspekte der Selbstannahme in verschiedenen Hinsichten präzisieren. Von einer „impliziten“ Selbstannahme (§ 7.3.1), in der der Mensch sich nicht als den ablehnt, der er durch die Rechtfertigung ist, ist eine „explizite“ Selbstannahme (§ 7.3.2) zu unterscheiden, in der der Mensch sich als den annimmt, der er durch die Rechtfertigung ist. Zu dieser expliziten Selbstannahme gehört auch die differenzierte Annahme des faktischen Selbst (§ 7.3.4). Die Vereinbarkeit dieses Konzeptes von Selbstannahme mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre wird dort noch einmal besonders in den Blick kommen, wo das Verhältnis von Glaube und Selbstannahme diskutiert werden muss (§ 7.3.3). Zum Abschluss des Paragraphen wird dann die Frage behandelt, ob das, was nun als Selbstannahme bestimmt wurde, als christliche Liebe zu sich selbst verstanden werden sollte (§ 7.3.5). Daran schließt sich der letzte Paragraph der Untersuchung an, in dem in Kürze das Verhältnis des gerechtfertigten Sünders zu seinem Nächsten skizziert wird, und zwar ebenfalls in der Begrifflichkeit der Annahme. Das Kondensat hieraus wird lauten: Der Christ soll den anderen annehmen (§ 8.1); und er soll sich des anderen annehmen (§ 8.2). Mit diesem ethischen Ausblick soll die Konsequenz daraus gezogen werden, dass die Annahme Gottes sich nicht nur auf mich, sondern auf alle Menschen bezieht.
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Um den beschriebenen Gedankengang konzentriert abschreiten zu können, wird im Folgenden auf die Frage verzichtet, wie die KierkegaardInterpretation aus dem ersten Hauptteil der Untersuchung mit den anderen Kierkegaardschen Schriften zusammengeht. Von besonderem Interesse wäre hier sicherlich eine Bezugnahme auf „Kjerlighedens Gjerninger“ (Die Taten der Liebe), ein Werk, dem in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt wurde.1 Doch dies wäre eine andere Arbeit.
1
Vgl. dazu Kierkegaard Studies. Yearbook 1998, 1–244; DALFERTH (Hg.): Ethik der Liebe.
§ 7 Das Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders 1. Das Selbstverhältnis des Sünders – Gefangenschaft in sich selbst 1.1 Die Struktur der menschlichen Existenz in der Sünde Eingangs der Studie wurde in groben Zügen Luthers Sündenverständnis skizziert. Jetzt müssen die Linien etwas sorgfältiger gezogen werden, auf dass deutlich wird, inwiefern im Verständnis lutherischer Rechtfertigungslehre die Existenz des Sünders just als Gefangenschaft in sich selbst anzusehen ist. Für Martin Luther steht fest: Der Mensch, der ohne Gott leben will, ist in seiner Existenz konsequent selbstbezogen. Er sucht stets nur sich selbst. Auch kreist er in all seinen Unternehmungen allein um sich selbst. Seine Natur ist so beschaffen, dass sie „se solam videt, querit et in omnibus intendit“.1 Deshalb behandelt er alle Dinge seiner Welt derart, dass sie ihm selbst nützen; er verhält sich so zur Welt, „ut […] corporalia […] bona sibi inflectat et se in omnibus querat“.2 Alle seine Bemühungen sind selbstsüchtiger Art; sie richten sich nur auf ihn selbst. Diese Ausrichtung rein auf sich selbst besitzt aber nicht nur der Mensch ohne Gott. Sie prägt auch den, der meint, durch seine Werke seinen Wert vor Gott beeinflussen zu können. Auch der religiöse Mensch, der aufgrund seiner Werke von Gott gerechtfertigt werden will, richtet sich letztlich rein auf sich selbst. Denn er funktionalisiert Gott3 zu jemandem, der ihn – und zwar notwendig – anerkennt für das, was er selbst zustande gebracht hat. Ein solcher Mensch verhält sich so, „ut […] spiritualia bona sibi inflectat et se in omnibus querat“.4 Gott wird für ihn zu einem Moment innerhalb der eigenen Selbstrechtfertigung. In beiden genannten Fällen versucht der Mensch, sich selbst zu konstituieren. Er ist dann nicht mehr als das, „was er aus sich macht“.5 Er verlässt sich ganz auf sich und ist damit auch „als Garant seiner selbst gefordert“.6 1
LUTHER: Die Vorlesung über den Römerbrief. 1515/16, WA 56, 356,28. Ebd., 356,5f. 3 Vgl. dazu BAYER: Martin Luthers Theologie, 163f. 4 LUTHER: Die Vorlesung über den Römerbrief. 1515/16, WA 56, 356,5f. Vgl. auch ebd., 355,17: „[…] se et sua in omnibus querit, Non autem Deum“, und ebd., 357,2–4 (Hervorhebung im Original): „[…] Natura […] seipsam statuit in locum omnium et in locum etiam Dei solumque ea querit, que sua sunt, non que Dei.“ 5 JÜNGEL: Die Welt, 217. Vgl. DERS.: Zur Freiheit eines Christenmenschen, 150: „Dann bin ich meine Tat.“ 6 SCHNEIDER-FLUME: Die Identität des Sünders, 10. BAYER: Martin Luthers Theologie, 39, formuliert pointiert, ein derartiger Mensch wolle „nicht nur etwas aus sich machen, sondern sich machen“. 2
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Nun ermahnt aber das erste Gebot den Menschen, sich ganz auf Gott zu verlassen. Der Mensch soll sich ganz an Gott hängen, „ihm von Herzen trauen und gläuben […]; das ist, was Dir manglet an Gutem, des versiehe Dich zu mir und suche es bei mir und, wo Du Unglück und Not leidest, kreuch und halte Dich zu mir“.7 Dies aber tut gerade nicht, wer sich nur auf sich selbst ausrichtet und auf sich allein verlässt. Eine derartige Selbstbezogenheit ist mithin Unglaube und muss, weil sie dem ersten Gebot fundamental widerspricht, als Sünde identifiziert werden.8 Zur Veranschaulichung dessen, dass der Sünder sich allein auf sich selbst ausrichtet, sei kurz auf die von Paul Tillich behauptete Struktur menschlicher Existenz in der Sünde eingegangen. Die inhaltlichen Unterschiede, die zwischen Tillichs Begriff von Sünde und dem biblischreformatorischen Sündenverständnis bestehen,9 können hier unberücksichtigt bleiben. Denn sie betreffen nicht die Struktur der sündigen Existenz.10 Mehr noch: Tillichs Bestimmung der Struktur sündiger Existenz stellt die von Luther behauptete strukturelle Beschaffenheit des In-der-Sünde-Seins besonders eindrücklich vor Augen. Gemeint sind die Dominanz des sündigen Selbstverhältnisses über alle anderen Beziehungen des Menschen sowie die Einsamkeit des Menschen in der Sünde und seine damit gegebene Gefangenschaft in sich selbst. Sünde als die Existenz in der „Entfremdung“11 ist nach Tillich durch drei Merkmale gekennzeichnet: Unglaube, Hybris und Konkupiszenz.12 Diese korrumpieren die drei Grundbeziehungen, in denen der Mensch existiert: Gottesverhältnis, Selbstverhältnis und Weltverhältnis. Im Unglauben wendet sich der Mensch von Gott ab; er wendet sich allein sich selbst und seiner Welt zu.13 In der Hybris wird der Mensch selbstüberheblich und will sein wie Gott.14 Und in der Konkupiszenz ist er von dem unbegrenzten
7
LUTHER: Der große Katechismus. 1529, BSLK 560,14f. 36–40. Vgl. dazu BAYER: Martin Luthers Theologie, 162f; JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 114ff. 9 Vgl. dazu TRACK: Der theologische Ansatz Paul Tillichs, 394ff. 10 Track zeigt, inwiefern die von Tillich behauptete Struktur des Menschen in der Sünde im „Einklang mit der von der Christologie bestimmten Interpretation von Sünde im Neuen Testament“ ist (ebd., 395). 11 Vgl. TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 2, 52. Tillich selbst meint, der Begriff „Entfremdung“ sei von Hegel in die Philosophie eingeführt worden (vgl. ebd., 53). Tatsächlich hat der Begriff antike Wurzeln (vgl. zur Begriffsgeschichte PANNENBERG: Anthropologie, 260ff). Tillich macht darauf aufmerksam, dass er die inhaltliche Füllung seines Entfremdungsbegriffs in Auseinandersetzung mit Søren Kierkegaard gewonnen hat (vgl. TILLICH: Der Mut zum Sein, 97). – Vgl. zu Tillichs Verständnis der Entfremdung ANZENBERGER: Der Mensch, 123ff. 12 Vgl. TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 2, 55. 13 Vgl. ebd., 55f. 14 Vgl. ebd., 59. 8
Das Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders
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Wunsch getrieben, die ganze Welt sich anzueignen.15 Für die Sünde gilt mithin: Die Beziehung zu Gott ist abgerissen und ersetzt dadurch, selbst wie Gott sein zu wollen; auch die Beziehung zur Welt ist gestört; denn sie zielt nur darauf, sich der Welt zu bemächtigen. So werden alle Bezogenheiten des Menschen für die Beziehung des Menschen zu sich selbst funktionalisiert. Das Selbstverhältnis des Sünders dominiert alle anderen Verhältnisse des Menschen: „Der Sünder lebt nicht mehr in einem Selbstverhältnis […], sondern als Selbstverhältnis.“16 Nach Tillichs Überzeugung impliziert dies trotz aller Dominanz der Selbstbezogenheit auch „eine Trennung des Menschen von sich selbst“.17 Denn des Sünders Selbstbezogenheit ist bestimmt von „Selbstsucht und Selbsthaß“.18 Der erste Aspekt der Selbstsucht ist von Luther her vertraut. Der zweite, Selbsthass, erinnert an das, was bei Kierkegaard herausgearbeitet wurde. Ein Mensch, der sich selbst hasst, ist ein Mensch, der nicht er selbst sein will, d.h. in einem Missverhältnis zu sich selbst steht. Die Struktur menschlicher Existenz in der Sünde ist nach Tillich also durch ein Missverhältnis nicht nur im Gottes- und Weltverhältnis, sondern auch im Selbstverhältnis ausgezeichnet. Tillich hat die Struktur menschlicher Existenz auch noch anders als relational beschrieben: Der Mensch ist ein zentriertes Selbst,19 das in einer Welt verortet und in Gott als dem Zentrum der Welt gegründet ist. Unglaube ist so verstanden „der Drang des Menschen, sein Zentrum vom göttlichen Zentrum zu entfernen“.20 Hybris ist der Drang des Menschen, „sich selbst zum Zentrum seines Selbst und seiner Welt zu machen“.21 Konkupiszenz schließlich ist der Versuch des Menschen, „die ganze Welt in sich hineinzuziehen“.22 In der Sünde wird das Selbst des Menschen alles beherrschend, oder besser: alles besetzend. Das Resultat: Das Selbst ist mit sich selbst allein. Auf den ersten Blick mag verborgen bleiben, was das bedeutet. Denn Allein-Sein kann als Allmachtsposition erlebt werden und den Eindruck erwecken, als sei das Selbst darin, dass es alles besetzt und beherrscht, zur vollständigen Freiheit gelangt – gibt es jetzt doch nichts mehr, was es in irgendeiner Weise einzuschränken vermöchte. De facto aber ist das Selbst 15
Vgl. TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 2, 61. BAYER: Martin Luthers Theologie, 163 (Hervorhebung im Original). 17 TILLICH: Dennoch bejaht, 145; vgl. ebd., 149. 18 Ebd., 149. 19 Der Begriff des „zentrierten Selbst” besagt bei Tillich, dass das Individuum ein durch Selbstbewusstsein bestimmtes Zentrum besitzt, aus dem heraus es auf die Welt, in der es lebt, reagiert (vgl. TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 1, 200f). 20 TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 2, 60; vgl. ebd., 137. 21 Ebd., 60. 22 Ebd. 16
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ohne Gegenüber gerade dadurch unfrei, dass es zum ständigen Selbstbezug nun gezwungen ist. Es ist gefangen in sich selbst.23 Weil alles vom Selbst vereinnahmt ist, wird der Wunsch des Sünders, sich nur auf sich selbst auszurichten, zum Zwang, sich nur noch auf sich selbst ausrichten zu können. Tillichs Beschreibungen, so ausgelegt, veranschaulichen in vorzüglicher Weise das Dictum Luthers: Der Sünder ist der homo incurvatus in se,24 der in sich selbst verkrümmte Mensch. Sein Selbstverhältnis ist das einer zwanghaften Selbstbezogenheit. Das Warum dieser Struktur der sündigen Existenz hat Luther noch ausführlicher erörtert. Gefangen in sich selbst ist der sündige Mensch nach Luther vor allem aufgrund der oben bereits beschriebenen Selbstsucht. Diese ist für Luther nichts anderes als das Kennzeichen der Selbst- oder Eigenliebe. Denn „eygen lieb“ zeichnet sich dadurch aus, dass sie „das yhre sucht“.25 Sie „nympt gott was sein ist und den menschen was derselben ist, und gibt nit noch gott noch menschen etwas von dem, das sie hatt, ißt und mag“.26 Deshalb hat nach Luther Augustin zu Recht gesagt: „Der anfang aller sund ist die eygene seyns selbs liebe.“27 23 Vgl. LUTHER: Operationes in Psalmos. 1519–21, WA 5, 39,6–8, wo Luther davon spricht, dass die Gottlosen sich selbst gefangen nehmen: „Impii vero […] Clauduntur in angustiis suis, seipsos captivant et in operibus, temporibus, locis a se electis torquent“. Vgl. zum Ausdruck der Gefangenschaft in sich selbst z.B. JÜNGEL: Die Freiheit eines Christenmenschen, 122; BAYER: Martin Luthers Theologie, 166, der von „Selbstverfangenheit“ spricht. 24 Vgl. LUTHER: Die Vorlesung über den Römerbrief. 1515/16, WA 56, 356,5. Darin „schnürt“ der Mensch „sich selbst vom Leben ab“ (BAYER: Martin Luthers Theologie, 165). 25 LUTHER: Eine kurze Form der zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers. 1520, WA 7, 212,4f. Vgl. auch die Umschreibung dieser Selbstsucht in der Studie: KNUTH (Hg.): Von der Freiheit, 100: „In allem, was sie unternimmt, strebt sie immer nur eins an: die Behauptung oder Vermehrung ihres eigenen Ansehens, ihrer eigenen Macht, die expansive Mehrung ihrer eigenen Freiheit in der Welt im Dienste ihrer Selbstproduktion, ihrer Selbstausdehnung, ihrer Selbststeigerung und ihrer Selbstvervollkommnung. Was immer sie liebt, liebt sie letztlich wegen seines Nutzens, seines Steigerungseffekts für sich selbst.“ – Selbstsucht wird bereits im Zweiten Timotheusbrief negativ beschrieben: Bei der Schilderung des endzeitlichen Verfalls ist dort von a;nqropoi fi,lautoi (2Tim 3,2), von selbstsüchtigen Menschen die Rede; sie sind lieblos (2Tim 3,3). Denn „als Menschen, die nur sich selbst kennen“, wissen „sie auch von Liebe und Erbarmen nichts“ (GRUNDMANN: Art. avfila,gaqoj, 18). 26 LUTHER: Eine kurze Form der zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers. 1520, WA 7, 212,5f. 27 Ebd., 212,7. Luther bezeichnet sie deshalb auch als „böß lieb“ (ebd., 212,11). – Vgl. AUGUSTINUS: De trinitate, l. 12, IX, 14, Corpus Christianorum. Series Latina, Bd. 50, 368 (Hervorhebung im Original): „Potestatem quippe suam diligens anima a communi universo ad privatam partem prolabitur, et apostatica illa superbia quod initium peccati dicitur, cum in universitate creaturae deum rectorem secuta legibus eius optime gubernari potuisset, plus aliquid universo appetens atque id sua lege gubernare molita“. Vgl. auch DERS.: Sermo 96, 2, 2, Patrologia cursus completus. Series Latina, Bd. 38, 585: „[…] disce amare te, non amando te“. Vgl. dazu SCHLABACH: For the Joy, 45f. Augustin unterscheidet allerdings zwischen falscher und wahrer Selbstliebe. Vgl. dazu ebd., 47: „Where perverse self-love must prove its own power by determin-
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Luther kritisiert die Selbstliebe des Menschen aber nicht nur wegen dieser Selbstsucht. Er kritisiert an ihr auch, dass ein durch „Eigenliebe […], Wohlgefallen an sich selbst, […] Selbstvertrauen“28 bestimmter Mensch der Ansicht ist, sich auf seine eigene Gerechtigkeit verlassen zu können. Alle Formen eines hohen Selbstwertgefühls – wie die neuere psychologische Forschung derartiges nennt29 – scheinen den Menschen nach Luther daran zu hindern, auf Gott zu vertrauen und sich von ihm rechtfertigen zu lassen. Wilfried Joest hat die Struktur der Selbstliebe bei Luther als affektives Hängen an sich selbst beschrieben, in dem der Mensch „in eine narzißtische Bewegung“ hineingerate.30 Begrifflich verdankt sich die Rede von einer „narzißtischen Bewegung“ der Gestalt des Narcissus aus dem Ovidschen Mythos.31 Indem Joest als „narzißtisch“ die Struktur der Selbstliebe beschreibt, trifft er sich mit der landläufigen Interpretation dieses Mythos, für die Narcissus als der Inbegriff eines Menschen gilt, der an seiner Selbstliebe zugrunde geht. Die psychologische Rezeption des Mythos hat dagegen stärker die radikale Selbstbezogenheit des Narcissus betont. Und sie hat den Grund für das mit dem Namen „Narzissmus“ bezeichnete psychische Krankheitsbild32 nicht selten umgekehrt in einem Mangel an Selbstliebe ing its own good, right self-love receives its good in and from God. Where perverse self-love would make itself the center of the universe, right self-love recognizes God as the center.“ Vgl. zu Augustins Verständnis der Selbstliebe auch BRECHTKEN: Augustinus Doctor Caritatis, 50ff. 116ff. Brechtken arbeitet dort die Bedeutung der Unterscheidung von uti und frui für Augustins Verständnis der Selbstliebe heraus (zum Beispiel AUGUSTINUS: De doctrina christiana, l. I, 4, 4, Corpus Christianorum. Series Latina, Bd. 32, 8). – Später hat beispielsweise Jean-Jacques Rousseau vorgeschlagen, zwischen einer negativen „Eigenliebe“ (Amour propre) und einer positiven „Selbstliebe“ (Amour de soi-même) zu unterscheiden: „Man darf die Eigenliebe und die Selbstliebe nicht durcheinanderbringen – zwei Leidenschaften [passions], die ihrer Natur und ihren Wirkungen nach sehr verschieden sind. Die Selbstliebe ist ein natürliches Gefühl, das jedes Tier dazu veranlaßt, über seine eigene Erhaltung zu wachen, und das, im Menschen von der Vernunft geleitet und durch das Mitleid modifiziert, die Menschlichkeit und die Tugend hervorbringt. Die Eigenliebe ist nur ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft entstandenes Gefühl, das jedes Individuum dazu veranlaßt, sich selbst höher zu schätzen als jeden anderen, das den Menschen all die Übel eingibt, die sie sich wechselseitig antun, und das die wahre Quelle der Ehre ist.“ (ROUSSEAU: Diskurs über die Ungleichheit, 369; Hervorhebung von mir). Warum trotz der vorgeschlagenen Unterscheidungen nicht von christlicher Selbstliebe geredet werden sollte, dazu siehe unten § 7.3.5. 28 ALTHAUS: Die Theologie Martin Luthers, 131. 29 Vgl. SCHÜTZ: Psychologie des Selbstwertgefühls, 4. 30 JOEST: Ontologie der Person, 218. 31 Vgl. OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 339ff, im Folgenden (wenn nicht anders kenntlich gemacht) zitiert nach der Ausgabe von W.S. Anderson. Zu den Vorlagen Ovids vgl. KAMINSKI-KNORR: Zur Problematik, 121ff; zu literarischen Rezeptionen des Stoffes vgl. ebd., 133ff, und VINGE: The Narcissus Theme, 1967. 32 Als Kennzeichen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelten „ein tiefgreifendes Muster von Großartigkeit (in Phantasie oder Verhalten), Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie“ (SASS [Hg] u.a.: Diagnostisches und Statistisches Manual, 747; zur Geschichte der psychologischen Narzissmusforschung vgl. H.-J. ROTH: Narzißmus). Insbesondere der Psychoana-
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entdecken zu müssen gemeint.33 Werden diese Interpretationen dem Mythos gerecht? 1.2 Der Mythos von Narcissus Narcissus, so erzählt der Dichter, war das liebreizende Kind der wunderschönen Nymphe Liriope und des Flussgottes Cephisus. Schon früh fragte seine Mutter den Seher Tiresias, ob dem Knaben ein langes Leben beschieden sei; jener antwortete: „si se non noverit – wenn er sich selbst nicht erkennt“.34 Als Narcissus ein junger, ausgesprochen schöner Mann geworden war, wurde er von vielen Männern und Mädchen begehrt. Aber keines Menschen Liebe konnte ihn berühren, weil er so hochmütig war. Narcissus war unfähig, sich lieben zu lassen.35 Eines Tages verliebt sich die Nymphe Echo in den Jüngling. Sie kann ihn aber nicht selbständig anreden, weil sie von Iuno dazu verdammt wurde, immer nur die letzten Worte der Rede eines anderen zu wiederholen.36 lytiker Heinz Kohut hat später zwischen einem archaischen und einem reifen Narzissmus zu unterscheiden empfohlen (zum Beispiel KOHUT: Wie heilt die Psychoanalyse?, 266). Kohut sieht die Heilung für den Narzissten darin, dass der Narzisst in der Analyse Erfahrungen mit einem anderen machen kann, die ihm – werden sie in der Analyse durchgearbeitet – helfen, sein schwaches Selbst zu einer gesunden Selbststruktur zu verändern (vgl. ebd., 19f. 85. 121f. 248f. u.ö.). Das Selbst des Menschen (auch das gesunde) bleibt zeit seines Lebens auf derartige Erfahrungen mit anderen angewiesen (vgl. ebd., 120). Gunda Schneider-Flume betont deshalb zu Recht, dass die „Narzißmusforschung […] ein Gespür dafür [hat], daß der Mensch sich nicht zu leisten vermag und daß er sich nicht leisten muß, daß seine Lebensfähigkeit vielmehr daher rührt, daß er sich auf die ihn begründende Umwelt einläßt“ (SCHNEIDER-FLUME: Narzißmus, 106). 33 So beispielsweise BATTEGAY: Narzißmus, 7: „[…] Selbstliebe [gehört] zum normalen Menschen […] und nur bei dessen Beeinträchtigung [treten] – kompensatorisch –“ krankhafte narzisstische Phänomene auf. Vgl. ebd., 13. 34 OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 348. Rösch übersetzt: „Wird sich selbst er nicht schauen!“ (OVIDIUS NASO: Metamorphosen, übertragen und hg.v. E. Rösch, 105). Der Verlauf der Erzählung zeigt aber, dass das Todbringende die Erkenntnis, nicht schon das Schauen ist. Vgl. auch OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 349f, wo erklärt wird, worin sich das Seherwort erfüllt: „exitus illam resque probat letique genus novitasque furoris“. Worauf sich letum bezieht, ist klar: auf den Tod des Narcissus. Der Begriff furor, der ebenfalls die Erfüllung des Seherwortes benennt, wird erst in Vers 479 wieder aufgenommen, als Narcissus erkannt hat, dass er es ist, den er sieht. Das bedeutet: Das Seherwort erfüllt sich erst mit der Erkenntnis, dass er sich selbst im Wasser sieht. Insofern ist die oben angebotene Übersetzung des Seherwortes „wenn er sich selbst nicht erkennt“ angemessen. 35 RINGLEBEN: Woran stirbt Narziß?, 360, erinnert daran, dass dies zusammenhängt mit der Vergewaltigung seiner Mutter, die dem dabei Gezeugten „eingeschrieben [hat], daß er die Zuwendung der Andern als Erleiden von Gewalt scheuen muß“. 36 Iuno hatte dies verfügt. Denn wenn Iuno in den Bergen hätte Nymphen in den Armen ihres Gatten Iupiter entdecken können, hielt Echo Iuno mit Gesprächen so lange auf, bis die Nymphen sich versteckt hatten (vgl. OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 361ff).
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Zufällig entwickelt sich aus sicherer Entfernung ein „Gespräch“ zwischen Narcissus und ihr, bei dem Echo immer nur die letzten Worte des Geliebten wiederholen kann. Interessiert bittet der Jüngling schließlich um ein Zusammenkommen. Doch als sie sich ihm nähert, flieht er vor ihr. Echo entschwindet in den Wald und trauert. Vor lauter Schmerz verwandelt sich ihr Gebein in Stein, nur ihre Stimme bleibt zurück.37 Einer von jenen Männern, die Narcissus zuvor verschmäht hatte, spricht deshalb den Wunsch aus: „sic amet ipse licet, sic non potiatur amato: Möge er selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen!“38 Narcissus lässt sich alsbald an einer klaren Quelle nieder, erschöpft von einer Jagd. Und während er seinen Durst aus der Quelle stillt, erblickt er sein herrliches Spiegelbild im Wasser und wird von ihm hingerissen. Er bewundert alles an ihm, „quibus est mirabilis ipse“,39 und entbrennt in Liebe zu dem, was er sieht. Seine Liebe entzündet sich an dem an ihm Liebenswerten.40 Damit erliegt Narcissus einem zweifachen Irrtum:41 Er erkennt nicht, dass das Gesehene nur ein Spiegelbild ist, sondern hält es für einen wirklichen Menschen. Und er erkennt nicht, dass er sich selbst sieht. „se cupit inprudens“;42 „quid videat, nescit“.43 Narcissus liebt! Aber er liebt nicht sich selbst, sondern ein Bild von sich selbst, und zwar ohne zu wissen, dass er selbst darauf zu sehen ist. Narcissus sagt nicht zu seinem Spiegelbild: „Ach, was bin ich so schön!“ – eine Empfindung, die der junge Mann in Heinrich von Kleists „Über das Marionettentheater“44 hat, als er entdeckt, dass er sich mit der gleichen Grazie den Fuß trocknet, wie sie bei der römischen Statue des Dornausziehers zu bewundern ist. Narcissus sagt: „Ach, was bist du so schön!“ Er hält das Verhältnis zu seinem Spiegelbild für ein Ich-Du-Verhältnis. 37
Vgl. zu Echo ausführlicher die reizvolle Interpretation bei RINGLEBEN: Woran stirbt Narziß?, 354ff. Im Gegensatz zu Narcissus, dessen „Inneres unbeeinflußbar abgedichtet [ist …] gegen Außenkontakte“, ist Echo „nur Sein für andere und von diesem Außenbezug widerstandslos dominiert“ (ebd., 354; Hervorhebung im Original). Sie kann „nie […] von sich aus und als sie selber reden […] und [ist] so gar nicht als ein Selbst für ihn [Narcissus] wirklich“ (ebd., 355). 38 OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 405 (Übersetzung DERS.: Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, hg. und übersetzt von H. Breitenbach, 187). Sein Wunsch richtet sich also darauf, „daß dasselbe für Narcissus eintreten möge, was er anderen antut“ (OVIDIUS NASO: Metamorphosen, Buch I–III, Kommentar von F. Bömer, 551). 39 OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 424. 40 RINGLEBEN: Woran stirbt Narziß?, 362, stellt heraus, dass Narcissus nur zum Lieben eines körperlosen Bildes fähig ist, während er körperliche Andere aus Angst vor Gewalt zurückweisen musste. 41 Vgl. KAMINSKI-KNORR: Zur Problematik, 130f. 42 OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 425. 43 Ebd., 430. 44 Vgl. VON KLEIST: Über das Marionettentheater, 560f.
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Warum erkennt er sich nicht im Spiegel? Wohl deshalb, weil er keinen Menschen so nah an sich heranließ, dass dieser ihm sagen konnte: Das im Spiegel bist du! Und hätte er zusammen mit einem anderen in die Quelle geschaut, so hätte er sein Spiegelbild als solches ausmachen können. Denn das Spiegelbild des anderen hätte er als Spiegelbild des anderen erkannt und in Analogie dazu sein Spiegelbild als Spiegelbild seiner selbst. Doch weil er sich dieser Nähe verweigert, erkennt er sich selbst nicht. In gewisser Weise spielen sich nun Geliebtwerden und Lieben in ihm selber ab: Er erregt Wohlgefallen (als Spiegelbild) und empfindet Wohlgefallen zugleich selbst (als realer Mensch).45 Auch in gegenseitiger Liebe zwischen Ich und Du hat beides statt: Das Ich erregt Wohlgefallen (beim Du) und empfindet Wohlgefallen (am Du). Bei Narcissus jedoch ist das lebendige Du durch das tote Spiegelbild ersetzt. Narcissus merkt den Unterschied nicht. Denn er hat sich nie auf die Erfahrung eingelassen, wie es ist, bei einem anderen Wohlgefallen zu erregen; und er hat nie die Erfahrung gemacht, Wohlgefallen für einen wirklich anderen zu empfinden. So bleibt Narcissus’ liebendes Verlangen nach dem anderen ungestillt: „quod petis, est nusquam”.46 Immer, wenn er die Arme um den Nacken des Geliebten schlingen will, entschwindet dieser.47 Glückende Liebe – so wird daran deutlich – lebt von einem wohltuenden Verhältnis von Nähe und Distanz. Sie ist Bezogenheit auf den anderen, ohne ihn zu verschlingen oder zu vernichten. Genau dies gibt es bei Narcissus nicht: Weder kann er erfüllende Nähe herstellen (er kann nicht die Arme um sein Spiegelbild legen) noch kann er in Distanz zum Geliebten treten, ohne ihn zu zerstören (wenn er nicht mehr in der Nähe des Wassers ist, gibt es das Spiegelbild nicht mehr). Gleichwohl macht der Geliebte dem Narcissus fortwährend Hoffnung, dass Vereinigung mit ihm möglich ist: Er lächelt zurück und streckt, wenn Narcissus die Arme nach ihm ausstreckt, die seinen ebenfalls aus.48 Er freut sich, wenn Narcissus sich freut; und er trauert, wenn dieser trauert.49 An dieser völligen Gleichheit (die ein anderer Mensch bei aller Nähe nie hätte herstellen können) erkennt Narcissus schließlich, dass er selbst es ist, den er sieht: „iste ego sum! sensi; […] uror amore mei“.50 Jetzt erst erfüllt sich das Orakel. Jetzt erst begreift Narcissus, dass „seine Leidenschaft […] eine unerfüllbare“51 ist. Denn das, was er begehrt, ist 45
Vgl. OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 425f. Ebd., 433. 47 Vgl. ebd., 428f. 48 Vgl. ebd., 457. 49 Vgl. ebd., 459. 50 Ebd., 463f. 51 KAMINSKI-KNORR: Zur Problematik, 132. 46
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schon bei ihm: „quod cupio, mecum est“.52 Er „möchte [… s]ich schenken und kann nicht“.53 Diese verzweifelten Ausrufe des Narcissus zeigen: Zur erfüllten Liebe gehört, dass das Begehrte nicht schon bei einem ist.54 Und zu ihr gehört, sich an einen anderen verschenken zu können. Erfüllte Liebe hängt, das wird daran erkennbar, an einem wohltuenden Verhältnis von Nähe und Distanz zu einem anderen. Liebe bedeutet, einen von einem selbst Getrennten55 zu begehren, an den man sich selbst hingeben kann. Deshalb ist es Narcissus unmöglich, seine bisherige Liebe jetzt einfach auf sich selbst zu richten. Daran geht Narcissus schließlich zugrunde. Er stirbt. Sein Leib verschwindet. Stattdessen bleibt nur die Blume, die wir „Narzisse“ nennen.56 Es kann zusammengefasst werden, was im Verlauf der Nacherzählung bereits auslegend notiert wurde: Der Mythos beschreibt nicht – wie landläufig angenommen – einen sich selbst liebenden Menschen.57 Narcissus liebt nicht sich selbst, sondern sein ihm entzogenes, unerreichbares Spiegelbild.58 Sein Leiden besteht darin, dass seine „Selbstbezüglichkeit […] sich selbst nicht erreicht“.59 Nun könnte man aus dieser Beobachtung den Schluss ziehen, dem Leiden des Narcissus hätte ein Ende bereitet werden können, wenn Narcissus gelernt hätte, sich selbst zu lieben. Von seiner narzisstischen Verkrümmung hätte er dann frei werden können, wenn er Liebe zu sich selbst hätte entwickeln können.60 Entscheidend für den Tod des Narcissus ist aber doch wohl, dass es Narcissus dann, als er erkennt, dass er selbst es ist, nicht möglich ist, die bisherige Liebe nun auf sich selbst zu richten.61 Seine verzweifelten Ausrufe 52
OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 466. So die Übersetzung von „inopem me copia fecit” (ebd., 466) in: OVIDIUS NASO: Metamorphosen, hg.v. H. Breitenbach, 193. 54 Vgl. RINGLEBEN: Woran stirbt Narziß?, 371. 55 K. BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, 427: „Zur Liebe gehört ein Gegenüber, ein Gegenstand.“ Von dieser Einsicht her ist das Liebesverständnis Erich Fromms zu kritisieren, der behauptet, dass sich in der Selbstliebe die gleiche Liebe wie in der Nächstenliebe ausdrücke und nur das Objekt ein anderes sei (vgl. FROMM: Die Kunst des Liebens, 69ff). 56 Vgl. OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 509f. 57 So auch M. ROTH: Homo incurvatus, 18. 58 Vgl. LICHTENSTEIN: The Role of Narcissism, 51: “There is, of course, a considerable difference between being in love with oneself and being in love with one’s mirror image” (mit Verweis auf andere, die dies schon früher gezeigt haben). 59 M. ROTH: Homo incurvatus, 18. 60 So aus theologischer Perspektive Michael Roth ebd., 27: Die „perverse Selbstbezogenheit der Person, die in einer tief wurzelnden Selbstverachtung gründet, wird durch den Glauben geheilt, indem der Glaube zur Selbstliebe befähigt“. 61 Was er vor dieser Erkenntnis erlebt, ist nur die – zwar tragische und schmerzhafte, aber doch nicht seltene – Form des Nicht-zueinander-Findens trotz Liebe. – Ringleben meint, dass 53
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machen, wie gesagt, deutlich, dass zur Liebe die Bezogenheit auf einen anderen gehört. Narcissus stirbt, weil er erkennen muss, dass erfüllte Liebe zu sich selbst nie möglich sein wird. Damit aber folgt für den leidenden Narcissus: Seinem Leiden hätte nur dann ein Ende gemacht werden können, wenn seine bisherige Liebe zu einem vermeintlich anderen sich hätte umwandeln lassen in ein Verhältnis zu sich selbst, das nicht eines der Liebe ist. Insgesamt ergibt sich dann: Der Mythos beschreibt weder einen Menschen, der an seiner Selbstliebe zugrunde geht, noch einen Menschen, der sich selbst zu wenig liebt. Mit dieser Einsicht kann ein erneuter Blick auf das Selbstverhältnis des Sünders geworfen werden, welches als Selbstverkrümmung und Gefangenschaft in sich selbst zu verstehen war. Es soll auf keinen Fall behaupten werden, dass jeder Sünder an einem klinischen Narzissmus62 leidet. Es soll aber auf eine interessante Parallele zwischen dem Narcissus des Mythos und der Existenzstruktur des Sünders aufmerksam gemacht werden. Sie fällt ins Auge, wenn positiv formuliert wird, was der Mythos beschreibt: Narcissus, der sich die Liebe anderer nicht zugute kommen lässt, liebt radikal und ausschließlich ein Bild von sich.63 Und auch der sündige, in sich selbst verkrümmte Mensch, der sich Gottes Liebe nicht zugute kommen lässt, liebt ein Bild von sich: indem er nämlich dem Irrtum erliegt, sich selbst konstituieren und vor Gott rechtfertigen zu können. Stimmt das und gilt ferner, dass der Mensch im Glauben aus dieser selbstverkrümmten Ausrichtung auf sich befreit wird, dann folgt: Wenn der Mensch sich im Glauben Gottes Liebe zugute kommen lässt, wird er befreit davon, dieses Bild von sich zu lieben. Der Glaubende erkennt sich selbst, indem er erkennt, dass er sich selbst nicht konstituieren kann und nicht konstituieren muss. Genau dadurch aber – das wird im Folgenden zu zeigen sein – wird es ihm möglich, in ein anderes Verhältnis zu sich selbst als das der Liebe zu treten.
Narcissus „aufgrund der Erkenntnis, daß er selbst der Andere ist, nicht von seiner Liebe zu diesem schönen Anschein ab[läßt], vielmehr verschärft der Wegfall jener Bedingung seine Liebe – nun als eine zu sich selber als eine solche –“ (RINGLEBEN: Woran stirbt Narziß?, 369f). Jedoch: Die an die Situation der Selbsterkenntnis anschließenden Bezüge des Narcissus auf den „Geliebten“ sprechen von diesem, als wäre er immer noch ein anderer (der Geliebte möge länger leben als Narcissus [OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 472]; der Geliebte möge nicht den, der ihn liebt, allein lassen [ebd., 477f]); so redet nicht, wer zu sich selbst spricht; der Text spricht mithin auch jetzt nicht von „Selbstliebe“. 62 Zu dessen Charakteristika siehe oben Anm. 32. 63 Ovid macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass Narcissus nur eine „imaginis umbra“ (OVIDIUS NASO: Metamorphoses, l. III, 434) liebt.
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2. Das Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders als Freiheit von sich selbst Während der Sünder fundamental dadurch charakterisiert ist, dass er sich selbst zu konstituieren versucht, ist der Gerechtfertigte wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass er durch einen anderen, präziser: durch Gott konstituiert wird.64 Genau das ist der Inhalt der Botschaft von der Rechtfertigung: Des Menschen Sein als Person ist bestimmt durch das, was Gott für ihn tut, und darin relational konstituiert.65 Hier interessiert genauer die Frage, wie das Selbstverhältnis des derart gerechtfertigten Sünders beschaffen ist. Die Kierkegaard-Interpretation des ersten Hauptteils hat nahe gelegt, dieses Selbstverhältnis als Selbstannahme zu verstehen. Um das Verhältnis von Rechtfertigung und Selbstannahme des Gerechtfertigten genauer als bisher bestimmen zu können, empfiehlt es sich, als nächsten Schritt die Botschaft von der Rechtfertigung darzulegen. Dies geschieht in der von Tillich vorgeschlagenen Begrifflichkeit der Annahme durch Gott. Im Unterschied zu Tillich wird hier zwar nicht die Meinung vertreten, dass die Rechtfertigungsbotschaft in unserer Zeit nur in der Terminologie der Annahme angemessen beschrieben werden könne. Tatsächlich kann aber das Annahme-Motiv, wird es recht verstanden, besonders gut die für lutherische Theologie zentrale Relationalität des Rechtfertigungsgeschehens zur Geltung bringen. Insofern kann das nachfolgend Beschriebene als den lutherischen Formulierungen kongruent angesehen werden. Dies wird herausgestellt, indem an den jeweiligen Stellen auf die inhaltliche Entsprechung des Dargelegten zu den reformatorischen Exklusivpartikeln solus Christus, sola gratia, solo verbo und sola fide hingewiesen wird. Anschließend wird dann genauer die Struktur der glaubenden Existenz beschrieben, die sich als Freiheit von sich selbst verstehen lässt. Wie bereits gesagt, ist dabei von besonderem Interesse die Frage, wovon der Mensch eigentlich frei wird, wenn er von sich selbst frei wird. Die Antwort auf diese Frage wird dann zeigen, dass die Freiheit des Glaubenden von sich selbst durchaus mit einem expliziten Selbstbezug des Glaubenden vereinbar ist. 64 Vgl. H.-M. BARTH, Wie ein Segel, 54, der die christliche Botschaft umschreibt mit: „[…] du bist, unzerstörbar, außerhalb deiner selbst konstituiert, begründet“. Vgl. SCHNEIDER-FLUME: Die Identität des Sünders, 92: „[…] Leben in der Geschichte mit Gott [ist] Leben in Freiheit, befreit von dem Zwang, sich selbst zu konstituieren und sich selbst zu gewährleisten.“ 65 Eine Relationalität des Personseins, nun aber verstanden als Konstitution durch die Begegnung mit einem anderen Menschen, haben auch Philosophen zur Geltung gebracht, zu Beginn des 20. Jh. vor allem GRISEBACH: Die Grenzen des Erziehers; DERS.: Gegenwart, und BUBER: Das dialogische Prinzip. Zur theologischen Kritik daran vgl. zum Beispiel BONHOEFFER: Akt und Sein, 81ff.
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Tillichs Verständnis von Gottes Annahme als Teilnahme an der Macht des Seins-Selbst blieb wegen der fehlenden Konkretheit und Personalität des Rechtfertigungsgeschehens unbefriedigend. Und auch aus der Kierkegaard-Interpretation konnte keine genauere Profilierung des Rechtfertigungsereignisses gewonnen werden. Deshalb muss nun selbständig ein Verständnis der Annahme des Sünders durch Gott entwickelt werden. Dies geschieht, indem die neutestamentliche Verwendung des Annahme-Motivs untersucht wird. 2.1 Die Rechtfertigung des Sünders als seine Annahme durch Gott 2.1.1 Der neutestamentliche Befund Im Neuen Testament gibt es eine ganze Reihe von Texten, die von Gottes oder Jesu Annehmen des Menschen sprechen. Dazu werden verschiedene Begriffe verwandt (prosde,comai, proslamba,nomai, eivsde,comai und paralamba,nw). Zentral ist sicher Lk 15,2. Die Pharisäer und Schriftgelehrten murren über Jesus: Dieser nimmt die Sünder an (prosde,cetai)66 und isst mit ihnen. Jesus geht mit den Sündern eine Tischgemeinschaft ein – und zwar ohne zu fordern, dass diese erst sichtbar umkehren sollen, bevor er sich mit ihnen an den Tisch setzen kann. Damit widerspricht Jesus in seinem Verhalten dem beispielsweise bei Pharisäern Üblichen; diesen „war […] die Tischgemeinschaft mit Sündern unmöglich, sie konnte erst eintreten nach sichtbar erfolgter Umkehr, verbunden mit Fasten und Bußübungen“.67 Die rechtfertigungstheologische Bedeutung von Jesu Annahme der Sünder und seiner Gemeinschaft mit ihnen stellen die in Lk 15 anschließenden Gleichnisse heraus. Sie illustrieren nämlich, dass die in Lk 15,2 beschriebene „Zuwendung Jesu zu den Sündern als deren Annahme durch Gott“68 zu verstehen ist. Jesu Verhalten ist „Zeugnis für Gottes Sünderliebe […], so 66 Nur hier hat prosde,cetai bei Lukas die Bedeutung „annehmen“/„aufnehmen“, sonst den Sinn von „erwarten“ (vgl. GRUNDMANN: Art. de,comai und Komposita, 56f). – „Annehmen“ mit Akkusativ kann im Deutschen sowohl das Nehmen von etwas Angebotenem als auch das Ergreifen von etwas nicht Angebotenem sein (vgl. GRIMM: Art. „Annehmen“, 414). Man braucht wohl nicht überzubetonen, dass Jesus in Lk 15,2 diejenigen Sünder aufnimmt, die zu ihm kommen, so als ob Jesus nur auf deren Wunsch, mit ihm Gemeinschaft zu haben, reagierte. Gottes Wort ist ja entsprechend „ein Angebot, das jeder Nachfrage zuvorkommt“ (BAYER: Gegen Gott, 133). 67 WIEFEL: Das Evangelium nach Lukas, 281. 68 Ebd., 280 (Hervorhebung von mir). Zu lapidar ist wohl die Formulierung von FIEDLER: Jesus und die Sünder, 151, „Jesus sei für alle offen gewesen, die zu ihm kamen“. Ähnlich Linnemann, der in V. 2 nur von einer „Freude“ oder einem „Wohlgefallen“ Jesu an den Sündern statt von deren Annahme sprechen will (vgl. LINNEMANN: Gleichnisse Jesu, 75).
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daß die Gemeinschaft mit ihm die Gemeinschaft mit dem Gott der Gerechtigkeit verbürgt“.69 Auch bei Paulus findet sich die Rede von einem Angenommensein durch Gott oder Christus: Die Gemeindeglieder sollen sich gegenseitig nicht verachten ob ihres Verzichtes auf Fleisch oder ihres Fleischessens; denn beide hat Gott angenommen (prosela,beto – Röm 14,3), beide gehören zur familia Dei, sind von Gott in die Gemeinschaft mit ihm gestellt.70 Dieses Angenommensein wird dann Grundlage für den Umgang der Christen miteinander: proslamba,nesqe avllh,louj( kaqw.j kai. o` Cristo.j prosela,beto u`ma/j eivj do,xan tou/ qeou/ (Röm 15,7).71 Der Begriff eivsde,comai kommt im Neuen Testament nur in 2Kor 6,17, einem Zitat aus Jes 52,11 und Zeph 3,20, vor und bezeichnet dort – im Unterschied zur Septuaginta, in der sich der Begriff auf die Aufnahme des verstoßenen Volkes Israel beschränkt72 – „die Aufnahme des Volkes Gottes in aller Welt in die Gemeinschaft Gottes“.73 Die eschatologische Annahme durch Gott schließlich kann durch den Terminus paralamba,nw tina, beschrieben werden (Mt 24,40 par.; Joh 14,3). Insgesamt beschreiben alle genannten Begriffe, dass Gott oder Jesus dem Menschen Gemeinschaft gewährt.74 Dieses Gewähren richtet sich auf die Sünder (Lk 15,2) aus aller Welt (2Kor 6,17); und es ist durch das Handeln des Menschen weder positiv noch negativ beeinflussbar (Röm 14,3).75 69
RENGSTORF: Das Evangelium nach Lukas, 182. Vgl. MICHEL: Der Brief an die Römer, 423. STUHLMACHER: Der Brief an die Römer, 206, stellt ausdrücklich einen Bezug zwischen dem von Paulus in Röm 15,7 beschriebenen Rechtfertigungshandeln Gottes und Lk 15,2 her: „Jetzt faßt der ehemalige Pharisäer Paulus eben diese Anschuldigung [in Lk 15,2] positiv und bezeichnet mit ihr die Quintessenz des Versöhnungswerkes Jesu.“ 71 Siehe unten § 8.1. Heinrich Schliers Wiedergabe von proslamba,nesqai mit „freundlich und hilfsbereit […] annehmen“, die er ausdrücklich auch auf Gottes bzw. Christi Annahme bezogen wissen will, ist hier wohl zu schwach (SCHLIER: Der Römerbrief, 402). Die Septuaginta verwendet den Begriff proslamba,nomai vor allem in den Psalmen (vgl. DELLING: Art. lamba,nw und Komposita, 16): Gott nimmt den, den er erwählt hat, zu sich, so dass er in den auvlai, Gottes wohnen kann (LXX Ps 64,5). Er zieht ihn zu sich aus großer Not (LXX Ps 17,17) und Verlassenheit (LXX Ps 26,10). Die Gemeinschaft, die sich durch dieses Zu-sich-Nehmen einstellt, ist gekennzeichnet durch „ein ganz einzigartiges Gefühl des Glückes […] und der Geborgenheit“ (DELLING: Art. lamba,nw und Komposita, 16; Hervorhebung im Original). 72 Vgl. GRUNDMANN: Art. de,comai und Komposita, 56. 73 Ebd. 74 Dieser Aspekt schwingt übrigens bereits bei Platon mit, der davon spricht, „die aus der Peloponnes als Mitansiedler auf[zu]nehmen“ (prosde,xasqai) (Nomoi D 708a; Übersetzung: PLATON: Werke in acht Bänden, Bd. 8/1, 231). 75 In der so genannten „New Perspective on Paul“ wird von J.D.G. Dunn geltend gemacht, dass Paulus sich nicht wie Luther mit der Frage menschlichen Handelns insgesamt auseinandersetzt, sondern mit „identity markers“ (Beschneidung, Sabbatheiligung, Speisegebote), die als Gesetz Grenzen zwischen Juden und Heiden ziehen (vgl. dazu die Einführung von WOLTER: Eine neue paulinische Perspektive, sowie den Band BACHMANN [Hg.]: Lutherische und Neue Paulus70
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Dieser Befund sei systematisch fruchtbar gemacht. Dass Gott den Sünder annimmt, heißt: Gott gewährt dem unannehmbaren Menschen, dem Sünder, Gemeinschaft mit ihm.76 Gott beruft den Sünder zum Glied der Gemeinschaft mit ihm. Er bejaht den sündigen Menschen – nicht an sich, sondern als Teil dieser Relation. Gott hat dieses gemeinschaftsstiftende Ja zum sündigen Menschen ein für allemal und alle Menschen einschließend in Jesus Christus gesprochen (solus Christus).77 Denn Gott der Vater hat die Gemeinschaft mit dem, der am Kreuz die Sünde und Strafe aller Menschen stellvertretend auf sich genommen hat, auch über den Tod hinaus aufrechterhalten und ihn dadurch von den Toten auferweckt. Darin ist dem Sünder seine Sünde vergeben, er ist gerechtfertigt und in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen. Deshalb gilt für den Sünder das, was in Christi Menschwerdung geschah: In ihr ist Gott mit dem Menschen einsgeworden, und zwar eins in seinem Unterschiedensein. Darin ist der Mensch in seinem Mensch-und-nicht-GottSein, in seinem Anderssein in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen.78 So gilt insgesamt: In Jesus Christus ist Gott mit dem sündigen Menschen „eine neue Seinsgemeinschaft“79 eingegangen. Diese „Seinsgemeinschaft“ qualifiziert das Sein aller Menschen neu. In ihr ist über das Sein aller Menschen entschieden. Von dieser Entscheidung spricht die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders. Diese Botschaft kann sich der Mensch nicht selber sagen; sie muss ihm gesagt werden (solo verbo).80 Im Glauben lässt der Mensch diese Entscheidung für sich gelten. Im Glauben nimmt der Mensch die Botschaft an, dass in Jesus Christus über ihn entschieden ist. So kommt es allein im Glauben (sola fide) zu einer ebenfalls als Annahme Gottes zu verstehenden konkreten „Lebensgemeinperspektive). Thomas Söding weist aber darauf hin: Wenn Paulus „von den ‚Werken des Gesetzes‘ spricht, denkt er gewiß vor allem an die Beschneidung und die Speisegebote […]. Aber sein Blick reicht weiter, seine These ist grundsätzlicher. Die Gesetzeswerke sieht Paulus als Ausdruckshandlungen eines Grundvertrauens in die Heilsbedeutung des Gesetzes.“ (SÖDING: Der Skopos, 414) Der Glaube bejahe nach Paulus, dass „[…] kein Mensch durch eigenes Tun, sondern jeder, ob Jude, ob Heide, nur durch die Herrschaft Jesu Christi in ihm […] gerechtfertigt werden“ kann (ebd., 421). Insofern scheint es mir legitim, den in Röm 14,3 zum Ausdruck kommenden Grundgedanken nicht auf die Speisegebote einzuschränken, sondern auf das Handeln des Menschen insgesamt zu beziehen. 76 Vgl. auch PLATHOW: Kreuz und Wirklichkeit, 106, der die Annahme Gottes beschreibt durch „Du bist mein“. 77 Vgl. FUCHS: Das Christusverständnis, 311: Jesus Christus ist „Gottes Ja zum Menschen“. 78 Vgl. K. BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. II/1, 312, und JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 89. Bejahung des anderen in seinem Anderssein ist als gegenseitige Bejahung das Kennzeichen der trinitarischen Gemeinschaft (vgl. JÜNGEL: ebd.). 79 JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 148. 80 Nur weil sie ihm gesagt wird, ist sie gewissmachend. Vgl. dazu BAYER: Promissio, bes. 168ff (mit Bezug auf das Absolutionswort).
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schaft“81 zwischen Gott und Mensch. Auf den Glauben wird unten noch ausführlicher eingegangen; jetzt sei zunächst nach weiteren Charakteristika der göttlichen Annahme gefragt. Der Mensch bringt selber nichts mit, was der Annahme Gottes wert ist.82 Gottes Ja ist ein gnädiges; es hat seinen Grund nur in sich selbst (sola gratia).83 Gottes Ja ist insofern keineswegs grundlos. Wohl aber ist es bedingungslos. Der Mensch muss nichts leisten, um von Gott bejaht zu werden. Und er kann Gottes Ja durch sein Handeln weder positiv noch negativ beeinflussen. Das aber heißt: Indem Gott den Menschen derart unabhängig von dessen Tun bejaht (solo verbo), macht er den Menschen zu einer von seinen Werken unterschiedenen Person.84 Weiter gilt: Auch durch seine Eigenschaften, seine gegenwärtigen Umstände oder das, was ihm geschehen ist, kann der Mensch Gottes Ja weder positiv noch negativ beeinflussen. Das aber heißt auch: Der Mensch muss sich nicht erst verändern, um von Gott angenommen zu werden. Gott bejaht den Menschen unabhängig von seinen Eigenschaften, Umständen und seiner Geschichte insgesamt (diese Trias Eigenschaften, Umstände und Geschichte wird im Folgenden als das faktische Selbst des Menschen bezeichnet85) und unterscheidet ihn damit von seinen Eigenschaften, 81
JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 206. Vgl. K. BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. II/1, 312 (Hervorhebung im Original): „Es geht in Gottes Lieben um ein Suchen und Schaffen von Gemeinschaft ohne Rücksicht auf eine schon vorhandene Eignung und Würdigkeit des Geliebten. Gottes Liebe ist nicht nur nicht bedingt durch irgend eine Gegenliebe, sondern auch nicht bedingt durch irgend eine sonstige Liebenswürdigkeit des Geliebten“. Insofern schlägt Gottes Liebe „immer eine Brücke über einen Abgrund“. 83 Vgl. EBELING: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 2, 108; K. BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. II/1, 313. 84 Vgl. JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 191f. Vgl. SAUTER: Die Wahrnehmung des Menschen, 495: „An die Stelle jeglicher denkbaren Selbstunterscheidung tritt hier der Gnadenakt, der den Menschen an die Seite Jesu Christi stellt und ihn sich selber und seiner selbstgestalteten Geschichte gegenübertreten läßt. Daß wir uns von uns unterschieden sehen können, ist nichts Geringeres als das Werk der Gnade.“ – Nicht selten wurde diese Unterscheidung so verstanden, als sei dann egal, was man als Christ tue. Luther wendet sich sehr früh gegen ein derartiges Missverständnis der Rechtfertigungslehre (vgl. Luthers Darstellung und Ablehnung einer derartigen Position zum Beispiel in: LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 285). – Hilfreich sind hier die Klarstellungen Wilfried Härles: Es gibt „kein Personsein […], das nicht als solches […] ein Bestimmtsein – sogar ein Genötigtsein – zum Verhalten und damit zu ‚Werken‘ ist […] Die Person existiert immer nur in der Aktualisierung durch ihre Werke.“ Insofern gilt: „Das Personsein konstituiert die Notwendigkeit der Werke (und insofern diese selbst); die Werke konstituieren hingegen nicht das Personsein, sondern sie aktualisieren es nur.“ (HÄRLE: Zur Gegenwartsbedeutung, 132; Hervorhebung im Original). 85 Im ersten Hauptteil dieser Studie war bereits vom faktischen Selbst des Menschen die Rede; damit waren dort die endlichen Beschaffenheiten und die Umstände des Menschen bezeichnet. Die endlichen Beschaffenheiten werden jetzt der Kürze halber Eigenschaften genannt. Kierkegaard meinte, von seinen Umständen sei der Mensch schon dadurch unterschieden, dass er bewusst in eine gewisse Distanz zur Welt trete. Die Rechtfertigung musste dafür nicht bemüht werden (§ 5.2.2.1.1.1). Hier soll herausgestellt werden, dass die Rechtfertigung auch für den 82
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seinen Umständen und seiner Geschichte, kurz: von seinem faktischen Selbst. Der gerechtfertigte Mensch ist nicht die Summe seiner Eigenschaften. Er ist mit seinen Umständen nicht identisch. Und er ist mehr als seine Geschichte. Er wird nicht durch sein faktisches Selbst konstituiert. Gottes Annahme richtet sich auf den Unannehmbaren. Mit diesem geht Gott eine Gemeinschaft ein. Weil Gott, der die Liebe ist (1Joh 4,8), dem unannehmbaren Menschen diese Gemeinschaft gewährt, ist sie durch Gottes Liebe qualifiziert. Durch die Liebe Gottes wird der unannehmbare, nicht-liebenswerte Mensch „liebenswert“. 2.1.2 Die Eigenart der göttlichen Liebe Martin Luther hat dies als die spezifische Eigenart der göttlichen Liebe beschrieben: Während die menschliche, natürliche Liebe sich am Liebenswerten entzündet, richtet sich die Liebe Gottes auf das Nicht-Liebenswerte und schafft erst das Liebenswerte: „Amor Dei non invenit sed creat suum diligibile, Amor hominis fit a suo diligibili.“86 Diese These könnte so verstanden werden, also würde die rechtfertigende Liebe den Gegenstand der Liebe erst ins Sein rufen.87 Soll die rechtfertigende Liebe als ihren Gegenstand den konkreten Menschen haben, dann kann dieses Verständnis kaum zutreffend sein.88 Dass Gottes rechtfertigende Liebe das Liebenswerte schafft, besagt vielmehr: Gottes Lieben macht den Menschen zu einem Liebenswerten, im
Umgang des Menschen mit seinen Umständen Bedeutung hat. Durch die zusätzliche Komponente der Geschichte soll außerdem die Geschichtlichkeit des Menschen geltend gemacht werden. Zur Geschichte gehört dabei sowohl das, was der Mensch getan hat, als auch das, was ihm geschehen ist. 86 LUTHER: Heidelberger Disputation. 1518, WA 1, 354,35f. Dass die menschliche Liebe derart verfährt, hängt am menschlichen intellectus, der nur urteilt secundum ea quae patent (vgl. ebd., 365,19f). 87 So die Übersetzung der These von BORNKAMM: Die theologischen Thesen Luthers, 133: „Gottes Liebe findet den Gegenstand ihrer Liebe nicht vor, sondern schafft ihn“. Bornkamm paraphrasiert, dies sei „die Liebe, mit der Gott sich den Menschen schafft, den er haben will“. – Im schöpfungstheologischen Horizont bedeutet die Heidelberger These dagegen genau dies, dass die schöpferische Liebe die Kreatur als Gegenstand ihrer Liebe schafft (siehe unten § 7.2.1.3). 88 Mit dem Abweisen dieses Verständnisses wird nicht der Lutherischen Vorstellung von der Rechtfertigung als creatio ex nihilo widersprochen. Wie SCHWANKE: Creatio ex nihilo, 270, gezeigt hat, besagt diese Vorstellung im rechtfertigungstheologischen Kontext nicht, dass „der Mensch […] aufhört zu existieren – wie auch immer dies aussehen würde –“. Vielmehr beschreibt sie die „tiefe Angewiesenheit und Abhängigkeit von Gott“ in der Rechtfertigung und dies, dass der Mensch gegenüber Gottes rechtfertigendem Handeln „rein empfangend“ ist. Vgl. LUTHER: Vorlesungen über 1. Mose. 1535–45, WA 42, 437,33f: „homo ex se nihil est, nihil potest, nihil habet nisi peccatum, mortem et damnationem.“
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Geliebtwerden durch Gott wird der Mensch liebenswert.89 Weil der Mensch von Gott geliebt wird – und aus keinem anderen Grund –, ist er der göttlichen Liebe wert. Derart liebenswert ist der Mensch nicht unabhängig von seinem Geliebtwerden, liebenswert zu sein ist keine dem Menschen anhaftende Qualität. Der Mensch ist liebenswert nur in diesem Geliebtwerden. Man wird aber nicht behaupten können, diese göttliche Liebe mache den unannehmbaren Menschen nun auch annehmbar. Der Begriff „annehmbar“ macht nämlich eine Möglichkeits-Aussage über einen Gegenstand und beschreibt dessen „Eignung […], daß die durch das Verb bezeichnete Handlung vollzogen werden kann“.90 Würde man davon sprechen, dass Gottes Liebe den Menschen annehmbar machte, dann würde damit eine Eignung des Menschen ausgesagt. Der Ausdruck „liebenswert“ dagegen bezeichnet immer einen bestehenden Zusammenhang zwischen liebenswertem Gegenstand und Liebe.91 Liebenswert zu sein und geliebt zu werden fallen zusammen: entweder derart, dass sich an einem liebenswerten Gegenstand notwendig Liebe entzündet (dann ist das Liebenswerte „Veranlassungsgrund zum Lieben“92), oder derart, dass ein Gegenstand im Geliebtwerden liebenswert wird. Wird der Mensch als in Gottes Lieben liebenswert bezeichnet, dann ist damit 89 Vgl. K. BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. II/1, 313 (Hervorhebung im Original): „Amabilis wird der von Gott Geliebte als amatus. Er wird aber nicht amatus, weil er amabilis ist!“ Was am Menschen je liebenswert sein sollte, ist immer Schöpfung der göttlichen Liebe (vgl. ebd., 312). Vgl. auch JÜNGEL: Zur Freiheit eines Christenmenschen, 105 (Hervorhebung im Original): „Wo der Blick der göttlichen Liebe hinfällt, da entsteht ein liebenswertes Objekt dieser Liebe, da wird aus dem der Liebe ganz und gar nicht würdigen, in sich selbst verkrümmten, häßlichen Sünder in den Augen Gottes und eben deshalb auch in Wahrheit ein in seiner neuen Gerechtigkeit aufrechter, Gott entsprechender Mensch.“ Entsprechend hat Albrecht Ritschl Gottes Rechtfertigung als „synthetisches Urteil“ verstanden, das „zu dem Begriffe des Subjekts ein Prädikat hinzutu[t…], welches in jenem gar nicht gedacht war“ (KANT: Kritik der reinen Vernunft, A7, 52). Dieses Urteil vollzieht sich nach Ritschl als „schöpferischer Willensact Gottes […], indem Gott durch die Offenbarung in Christus die durch die Sünde von ihm getrennten Menschen in die Gemeinschaft mit sich […] aufnimmt“ (RITSCHL: Die christliche Lehre, Bd. 3, 78). Vgl. zur Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen im Horizont der Rechtfertigungslehre kritisch HÄRLE: Analytische und synthetische Urteile. – Die Klarheit der Rechtfertigungsbotschaft hängt daran, dass das Liebenswert-Machen im Lieben selbst geschieht, und nicht etwa derart, dass Gott erst den Menschen verändert, um ihn dann lieben zu können. Zumindest missverständlich ist die Formulierung bei THAIDIGSMANN: Identitätsverlangen und Widerspruch, 41: „‚Amor Dei‘ ist […] die schöpferische Liebe Gottes, die dem, was […] nicht liebenswert ist, von seinem Sein mitteilt, ihm damit an seiner Vollkommenheit teilgibt und es auf diese Weise in die Beziehung und die Gemeinschaft mit sich einholt.“ Klarer dann aber der nachfolgende Satz: „Das wahre Sein des Menschen gründet so im schöpferischen Tun Gottes, das seinsbegründend, weil Gemeinschaft mit sich begründend ist.“ 90 Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, 393, zu den mit dem Suffix -bar gebildeten Adjektiven. 91 Vgl. dazu P. SCHULZ: Freundschaft und Selbstliebe, 158: Die Eigenschaft „liebenswert“ hat ein Gegenstand „niemals für sich allein genommen, sondern immer für ein konkretes Subjekt“. 92 UTZ: Freundschaft und Wohlwollen, 563.
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keine unabhängig von diesem Lieben bestehende Eignung des Menschen ausgesagt. Es kann also unterschieden werden: Gott geht in der Annahme mit dem Unannehmbaren und Nicht-Liebenswerten trotz seines Sünderseins eine Gemeinschaft ein, ohne ihn dadurch annehmbar zu machen. Weil diese Gemeinschaft durch das göttliche Lieben bestimmt ist, macht Gott genau darin den Nicht-Liebenswerten liebenswert. Auf diese Unterscheidung wird später zurückzukommen sein. Jetzt soll zunächst diese Annahme Gottes, d.h. die Gemeinschaft, die Gott dem Unannehmbaren gewährt, noch genauer betrachtet werden. 2.1.3 Gottes Ja und Gottes Nein Es gibt nichts am Menschen, was diese Gemeinschaft, die Gott in Jesus Christus mit dem Unannehmbaren eingeht, zerstören kann, hat sie doch ihren Grund allein in Gott. Deshalb braucht nichts am Menschen aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Der Mensch ist mit allem, was sein faktisches Selbst ausmacht, mit seinen Umständen, Eigenschaften und seiner Geschichte, in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommen. Durch Gottes Ja zum sündigen Menschen als Glied dieser Gemeinschaft kommt es aber zu einem Nein zu allem am Menschen, was diese Gemeinschaft zerstören würde, wenn Gott nicht trotzdem an ihr festhielte.93 Gottes Ja zur Gemeinschaft mit dem Menschen impliziert mithin ein Gericht über den Menschen. Gott bejaht den sündigen Menschen als Glied der Gemeinschaft mit ihm. Aber er bejaht nicht dessen Sünde. Gottes gemeinschaftsstiftendes Ja ist zunächst ein Nein zur Grundsünde des Menschen: seine explizite Feindschaft gegen Gott.94 Gottes Bejahung des Menschen bedeutet
93 Ähnlich EBELING: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 2, 109: Gottes unbedingtem Ja „korrespondiert ein ebenso unbedingtes Nein, dem Ja zu dem Leben und Walten der Liebe das Nein zu allem, was die Liebe erkalten und sterben läßt“. 94 Explizite Feindschaft gegen Gott ist die ausdrückliche Ablehnung Gottes, aber auch der Versuch, sich selbst für Gott annehmbar zu machen (dieser Versuch wurde bereits in § 7.1 in anderer Terminologie geschildert). Dieser Versuch, sich für Gott annehmbar zu machen, kann zweierlei Gestalt haben: die eine liegt in der Auffassung, man könne sich selbst vor Gott annehmbar machen, d.h. man könne etwas vorweisen, was Gott zum Annehmen des ganzen Menschen bewegen könne; und die andere in der Auffassung, man müsse sich selbst vor Gott annehmbar machen. In diesen Auffassungen ist wiederum die Meinung impliziert, dass etwas am Menschen für ihn als ganzen Menschen, für ihn als Person ausschlaggebend sein könnte. Der Mensch identifiziert sich mit etwas an ihm. Diese Identifikation bestimmt den Menschen ganz. Gottes Annahme des Menschen in der Rechtfertigung, ohne dass dieser dafür etwas tun kann oder tun muss, widerspricht beiden Auffassungen und lässt alle derartigen Versuche zum Scheitern verurteilt sein. Gott widerspricht mit seiner bedingungslosen Annahme der Vorstellung, „daß die Menschen sich zuerst
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ein Ja zum Anderssein des Menschen als Menschen, aber ein Nein zu dessen Feindschaft gegen Gott. Dieses Nein vollzieht sich darin, dass Gott dem Sünder dadurch, dass er mit ihm in Jesus Christus eine Gemeinschaft eingeht, seine grundsätzliche Feindschaft gegen Gott vergibt. Gottes gemeinschaftsstiftendes Ja ist auch ein Nein zu allem am Menschen, das nicht grundsätzliche Feindschaft gegen Gott ist, aber dennoch die Gemeinschaft mit Gott zerstören würde, wenn Gott nicht trotzdem an ihr festhielte. Man denke hier beispielsweise an des Menschen Trägheit in seiner Beziehung zu Gott (Hebr 6,12) oder sein Sich-Sorgen (Phil 4,6). Gott sagt in der Annahme aber Ja zu allem am Menschen, was dieser Gemeinschaft entspricht. So ist Gottes annehmendes Ja insgesamt Gottes fundamentales Ja zur Gemeinschaft mit dem Menschen.95 Weil Gott in Jesus Christus nicht nur mit diesem einen Menschen eine Gemeinschaft eingeht, sondern mit allen Menschen, ist Gottes Bejahung gleichzeitig ein Nein zu allem, was die Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch zerstört, und ein Ja zu dem, was die Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch fördert.96 (Wird hier und im Folgenden von „Gemeinschaft“ zwischen Mensch und Mensch gesprochen, dann ist damit immer eine heilvolle Gemeinschaft zwischen Menschen gemeint und nicht ein Zusammensein, das den an ihm Anteil nehmenden Menschen schädigt. Gemeint ist auch nicht ein Zusammensein, das anderen, nicht dazugehörenden Menschen Schaden zufügt.97) annehmbar machen sollten, um dann von Gott angenommen zu werden“ (TILLICH: Die Verkündigung des Evangeliums, 273). 95 Vgl. K. BARTH: Das Geschenk der Freiheit, 10: „Gott sagt Ja. Nur in und mit diesem Ja verneint er dann auch“. Wenn man so will, kann man dieses fundamentale Ja Gottes zur Gemeinschaft mit dem unannehmbaren Menschen als die Identität des gerechtfertigten Sünders bezeichnen. Denn es ist dieses Ja Gottes, das „Einheitlichkeit und Kontinuität“ (so die Formulierung für das, was die Identität vermag, bei ERIKSON: Wachstum und Krisen, 107) des Christen darstellt. (Ähnlich PLATHOW: Kreuz und Wirklichkeit, 104: „[…] die Identität des Menschen gründet nicht in dem, was er tut, will, erkennt, sondern in dem, was er ist: ein der Liebe und des Erbarmens Gottes gewürdigter und bedürftiger Mensch.“) – Die Auseinandersetzung mit Kierkegaard hat vor Augen geführt, dass es trotzdem „Identitätsprobleme“ des gerechtfertigten Sünders gibt, nämlich dies, wie sein Fortschreiten im Guten und sein Rückfall in die sündige Tat zusammenzuhalten sind (siehe oben Das geheilte Selbst Teil 11). Nur wenn der Glaubende diesen Gegensatz aushält, lebt er, so der Ausdruck Kierkegaards, in „Identität mit sich selbst“. An Kierkegaard wurde deutlich: Dies gelingt nur, wenn der Mensch sich seine Existenz als simul iustus et peccator, als bleibend abhängig von Gott, vor Augen führt. Jetzt kann formuliert werden: Nur wenn der Mensch sich seine in der Rechtfertigung liegende „Identität“ vor Augen führt, kommt er zu einer „Identität mit sich selbst“. 96 Beispiele für gemeinschaftszerstörendes Verhalten finden sich in den paulinischen Lasterkatalogen (z.B. Gal 5,19–21), Beispiele für gemeinschaftsförderndes Verhalten in den paulinischen Tugendkatalogen (z.B. Gal 5,22f); vgl. BECKER: Der Brief an die Galater, 90. 97 So z.B. Apg 17,5. Eine derartige Unterscheidung muss in Bezug auf die Gemeinschaft mit Gott nicht eingeführt werden, weil die Gemeinschaft, das Zusammensein mit Gott immer heilvoll ist (vgl. JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 88).
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Das beschriebene Nein Gottes ist nicht das Nein eines „stabilen Paradoxes“, das den Menschen auf das an ihm zu Verneinende festschreibt.98 Es ist vielmehr ein Nein, das auf Veränderung des Verneinten zielt.99 Wenn Gott dem Menschen in Jesus Christus Gemeinschaft gewährt, ohne dass dieser sich zuvor ändern muss, so bedeutet das nicht, dass Gott keine Veränderung des Menschen will. Vielmehr verändert Gott den Menschen gerade durch die Gemeinschaft mit ihm: durch die Sündenvergebung und die Unterscheidung des Menschen von seinem faktischen Selbst – und dadurch, dass der Mensch dieses glaubt.100 Insofern kann man pointiert sagen: Gott gewährt dem Sünder, so wie dieser ist, Gemeinschaft mit ihm; aber gerade dadurch bleibt der Sünder nicht, wie er ist. Das über Gottes Ja und Gottes Nein Ausgeführte macht deutlich, was mit Gottes Annahme nicht gemeint ist. Dass Gott den Menschen annimmt, bedeutet nicht, dass Gott den Menschen, so wie er ist, für „o.k.“101 erklärt. Dass Gott den Menschen annimmt, bedeutet nicht, dass Gott zum Menschen sagt: Du bist gut, so wie du bist! Die gerne verwendete Formel: „Gott liebt mich, wie ich bin“ ist in dieser Hinsicht äußerst missverständlich. Sie ist zutreffend, wenn damit gemeint ist, dass Gott dem Menschen, so wie dieser ist, Gemeinschaft gewährt und also dem Menschen als Person wohlwollend zugewandt ist. Sie ist aber unzutreffend, wenn damit ein Wohlwollen Gottes gegenüber „jede[m…] schillernden Aspekt“102 des Menschen bezeichnet sein soll. Dass Gott den Menschen annimmt, hat außerdem nicht zum Ziel, dass Menschen daran „die Berechtigung [erkennen], so zu sein, wie sie sind“103 – was die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki als das Ziel der therapeutischen Annahme beschreibt. Und dass Gott den Menschen annimmt, bedeu98
Mit K. BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. IV/2, 875. Vgl. ebd., 876. 100 Siehe dazu ausführlicher § 7.3. 101 Diese Redeweise wird in der Transaktionsanalyse gebraucht. Vgl. HARRIS: I’m OK – you’re OK; ROGOLL: Nimm dich, wie du bist, 104ff, bes. 112f. Der Mensch müsse sich (so Rogoll) „selbst von einer Nicht-o.k.-Haltung zu einer o.k.-Haltung beförder[n]“, indem er „ein ‚Ich tauge nichts‘ […] ersetze[…] durch ein ‚Ich bin ebensoviel wert wie die andern‘“. Dann brauche er „keine Gefühlsmaschen, wie Schuld, Verwirrung, Depression oder Ohnmacht, mehr aufrechtzuerhalten“, sondern könne sie „wesentlich einfacher durch echte positive Lebensgefühle ersetzen, wie z.B. Zufriedenheit, Glück, Freude, oder was immer […] persönlich wichtig ist“ (ebd., 112). Winkler korrigiert die Formel der Transaktionsanalyse: Rechtfertigung bedeute, „Du bist nicht o.k., aber ich nehme dich an, als wärest du o.k., und dadurch wird dein Leben neu“ (WINKLER: Annehmen statt ausgrenzen, 6). Diese Korrektur macht es nicht besser, weil unklar bleibt, was „annehmen, als wärest du o.k.“ bedeutet. 102 Letzteres bestimmt der Humanistische Psychologe Carl R. Rogers als Charakteristikum der psychoanalytischen Beziehung; vgl. ROGERS: Entwicklung der Persönlichkeit, 47. 103 WARDETZKI: Weiblicher Narzißmus, 241. Wardetzki umschreibt dies auch durch den Satz: „Ich bin gut, so wie ich bin“ (ebd.). Siehe dazu unten Anm. 263. 99
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tet nicht, dass seine Annahme nur etwas bestätigt, was auch ohne sie der Fall wäre.104 Gottes Bejahung ist schöpferisch und innovativ, indem sie den Menschen erst zu einer von ihren Werken unterschiedenen Person und liebenswert macht. Nach dem Vorgetragenen ist deutlich: Der hier vorgeschlagene Annahme-Begriff wird nicht von der in § 2.3 referierten Kritik getroffen, mit der Beschreibung von Rechtfertigung als Annahme werde die Schuld des Menschen nicht mehr in ihrer eigentlichen Schwere wahrgenommen. Denn des Menschen Schuld wird in Gottes Nein scharf verurteilt.105 Der hier entwickelte Annahme-Begriff wird aber auch nicht durch den ebendort genannten Einwand berührt, mit der Vorstellung von Rechtfertigung als Annahme würden normative Elemente aufgegeben. Denn der Angenommene soll sich verändern, und zwar orientiert am Ja und Nein Gottes, welche in der Annahme gesprochen werden. Schon in der Schöpfung spricht Gott zum Menschen ein Ja, schafft er den Menschen doch, um mit ihm in Gemeinschaft zu leben.106 Dieses ursprüngliche Ja kann man aber nicht gut als „Annahme“ bezeichnen. Annahme richtet sich auf etwas bereits Vorfindliches. Gottes rechtfertigendes Ja, seine Annahme, unterscheidet sich von jenem ursprünglichen Ja dadurch, dass Gott eine Gemeinschaft mit dem Menschen eingeht, der unannehmbar ist, also für eine derartige Gemeinschaft nicht nur keinerlei Eignung mitbringt, sondern ganz und gar ungeeignet ist. Während im schöpferischen Ja Gott „ins Nichts hinein liebt und […] aus nichts hervorruft, was erst durch sein Ja-Wort wertvoll wird (da es ohne dieses gar nicht wäre)“,107 liebt Gottes rechtfertigendes, annehmendes Ja den Sünder. Soll ein christlicher Begriff von Selbst-Annahme, der dem Sündersein des Menschen Rechnung trägt, entwickelt werden, dann ist dies nur von Gottes rechtfertigendem Ja her möglich.108 104 Vgl. dazu beispielsweise den Bericht Rogers über „ein Mädchen, das fast jeder als charmant und liebenswert bezeichnet haben würde und das sich dennoch innerlich als überhaupt nicht liebenswert empfand“. Die Therapie Rogers bestand dann darin, durch Zuwendung und Anteilnahme diesen unangemessenen Selbsteindruck des Mädchens zu verändern (ROGERS: Sechs Vignetten, 127). 105 Gottes Annahme ist deshalb missverstanden, wenn man sie schlicht paraphrasiert als: „Du darfst Sünder sein“ (STOLLBERG: Wahrnehmen und Annehmen, 50f). 106 Vgl. MOLTMANN: Gott in der Schöpfung, 89; JÜNGEL: Zum Wesen des Christentums, 11– 14. 107 SPLETT: Selbstverwirklichung als Antwort, 172 (Hervorhebung im Original getilgt). 108 Diese Orientierung fehlt dem wohl eindrucksvollsten katholischen Versuch, von christlicher Selbstannahme zu reden, dem Selbstannahmekonzept Romano Guardinis. Den Glauben, der der Grund für die Selbstannahme ist, bestimmt Guardini als dies, „daß ich meine Endlichkeit aus der höchsten Instanz, aus dem Willen Gottes heraus verstehe“ (GUARDINI: Die Annahme, 18). Glaube wird also ausdrücklich schöpfungstheologisch definiert. Entsprechend heißt Selbstannahme dann: „Ich soll sein wollen, der ich bin; wirklich ich sein wollen, und nur ich. Ich soll mich in
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2.2 Ausrichtung des Glaubenden auf Gott Im Glauben lässt der Mensch das beschriebene Handeln Gottes für sich gelten. Im Glauben nimmt der Mensch die Botschaft von Gottes Annahme seinerseits109 an (vgl. z.B. Mk 4,20: avkou,ousin to.n lo,gon kai. parade,contai; 1Kor 15,1: to. euvagge,lion … parela,bete).110 Dadurch lässt er sich auf Gottes gemeinschaftsstiftendes Handeln in Jesus Christus ein.111 So kommt es, wie gesagt, zu einer konkreten „Lebensgemeinschaft“ zwischen Gott und Mensch. Nach reformatorischem Verständnis rechtfertigt der Glaube allein. Denn der Glaube erkennt an, dass Gott bereits alles vollbracht hat, wessen es zu unserer Rechtfertigung bedarf.112 Insofern ist es in diesem mittelbaren113 Sinne der Glaube, der den Menschen zur Person macht: „Fides facit personam“114; „persona sit facta per fidem a Deo“.115 Damit schließt der Glaube jedes menschliche Werk als Beitrag zur Rechtfertigung des Menschen und zur Konstituierung seines Personseins aus: „allein der glaub [macht] on alle werck frum frey vn(d) selig“.116 So ist der Glaubende „nicht mehr durch das definiert, was er tut, er ist nicht mehr die Summe seiner Taten“.117 In diesem Sinne ist der Glaubende mein Selbst stellen, wie es ist, und die Aufgabe übernehmen, die mir dadurch in der Welt zugewiesen ist.“ (GUARDINI: Die Annahme, 14) Guardini geht zwar auch auf die Sünde ein, bringt sie aber bewusst nicht im Annahmebegriff zur Geltung (vgl. ebd., 24). Vgl. zu Guardinis AnnahmeVerständnis BRÜSKE: Anruf der Freiheit, 234 (Hervorhebung im Original): „Die Annahme seiner selbst ist die Antwort auf den Anruf, der an die Person ergangen ist, daß sie sei. In der Annahme seiner selbst verhält sich der Mensch zu seinem Anfang, indem er ihn in Freiheit bejaht.“ 109 Vgl. dazu DALFERTH: Kierkegaards Ethik, 18: „Kein Mensch ist als solcher schon Christ. Man muß es werden, und man wird es nur, wenn man es selbst will […] Keiner kann das im eigenen Fall anderen überlassen, und niemand kann es anderen abnehmen, sondern jeder muß es in seinem eigenen Leben selbst tun.“ 110 Das Neue Testament spricht auch von einem An- oder Aufnehmen Christi: Joh 1,11f (par)e,labon auvto,n; Kol 2,6: parela,bete to.n Cristo.n vIhsou/n to.n ku,rion. 111 PLATHOW: Kreuz und Wirklichkeit, 106, gibt das Einverständnis des Menschen mit Gottes annehmendem „Du bist mein“ (siehe oben Anm. 76) durch die Bonhoeffersche Wendung „Dein bin ich, o Gott“ (BONHOEFFER: Widerstand und Ergebung, 514) treffend wieder. 112 Vgl. JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 212f. 113 Vgl. ebd., 209. 114 LUTHER: Die Zirkulardisputation de veste nuptiali. 1537, WA 39/I, 283,1. 115 Ebd., 283,15f. 116 LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 271. 117 JÜNGEL: Das Entstehen von Neuem, 143 (Hervorhebung im Original). Vgl. SAUTER: Mensch sein – Mensch bleiben, 115: „Das Sein des Menschen ist nicht Produkt seiner Leistungen, es wird nicht konstituiert durch Verhaltensweisen“. – Darin, dass der Mensch nicht durch das definiert ist, was er tut, trifft sich die christliche Rechtfertigungsbotschaft mit dem existenzphilosophischen Begriff des Selbstseins, der darauf insistiert, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Rollen: „Daß ich ich selbst sein will, heißt auch und nicht zuletzt: Ich will mehr und anderes sein als das, was ich in meiner sozialen Funktion bin. Ich bin ich selbst, sofern ich nicht aufgehe in den Rollen, die ich als Mann, als Vater, als Hochschullehrer spiele. Der Begriff des
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ein mh. evrgazo,menoj (Röm 4,5).118 Weil er sich nicht mehr selbst vor Gott annehmbar machen muss, ist er in seiner Gottesbeziehung grundsätzlich „aus den Zwängen der Selbstthematisierung […] befreit“.119 Er ist in seiner Relation zu Gott „davon befreit, ständig über sich selber nachzudenken, darüber zu grübeln, was er alles falsch und vielleicht manches auch richtig gemacht hat“.120 Wenn der Mensch Gottes Rechtfertigung glaubt, dann richtet er sich auf Gott aus und nicht mehr wie der Sünder zwanghaft auf sich selbst. Damit findet auch das Bestreben, alle Dinge der Welt für sich selbst nutzbar zu machen, ein Ende.121 Die bisherige Gefangenschaft in sich selbst wird aufgebrochen. Deshalb kann das Selbstverhältnis des Menschen in der Rechtfertigung umgekehrt als Freiheit von sich selbst122 beschrieben werden. Martin Luther hat die Struktur dieser Freiheit von sich selbst im Glauben in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ klassisch formuliert: „durch den glauben feret“ der Christ „vber sich yn gott“.123 Der Mensch verlässt sich im Glauben – nämlich auf Gott. Der Glaubende ist der „an einem andern Hängende“.124 Er existiert in seiner Gottesbeziehung exzentrisch: „Ideo nostra theologia est certa, quia ponit nos extra nos“.125 Selbstseins entwirft geradezu eine Alternative zu diesem rollenhaften Als-Sein, zu dem Sein, das mir als Glied von Gemeinschaften zukommt. Er löst […] die persönliche von der sozialen Identität ab. [… Er will] dem Individuum einen Freiraum sichern, in welchem es nicht nach den Effizienzkriterien der techno-ökonomischen Gesellschaftssphären beurteilt wird.“ (THEUNISSEN: Selbstverwirklichung, 3f). 118 Vgl. dazu JÜNGEL: Evangelium und Gesetz, 204. 119 GUTMANN: Praktische Theologie, 22. 120 Ebd., 23. Darin besteht die christliche Selbstvergessenheit: „Selbstvergessenheit heißt […], daß der Mensch nicht mehr dazu getrieben ist, ständig in seinen Gedanken um sich selbst zu kreisen“; sie heißt aber nicht, „daß der Mensch […] sein Selbst vergißt“ (M. ROTH: Homo incurvatus, 32f). Vgl. auch ebd., 31: Betont man „nur die heilsame Abkehr von dem unheilsamen Kreisen um sich selbst […], [so] besteht die Gefahr, die Selbstannahme, ja das Ichsein des Menschen als Sünde aufzufassen; denn wird das Absehen von der eigenen Person als gottgewollte humane Existenzform beschrieben, wird das Ichsein der Person fataler Weise zum Signum der Sünde.“ 121 Vgl. BEINTKER: Thesen zur Aktualität, 116: Das Ich verliert durch die Rechtfertigung „den aufdringlichen Charakter eines alles gewaltsam in seinen Dienst stellenden Lebenszentrums“. 122 Diese Formulierung wird zahlreich verwandt. Vgl. zum Beispiel EBELING: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, 178; DERS.: Frei aus Glauben, 321; JÜNGEL: Zum Wesen des Christentums, 13 und 22; DERS.: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 209; MAURER: Selbstvergessenheit, 169. Zu Bultmann siehe § 7.2.3. – BAYER: Martin Luthers Theologie, 173, spricht auch von der „Befreiung […], nicht selbst Herr im eigenen Hause sein zu müssen“. Vgl. auch THEUNISSEN: `O aivtw/n lamba,nei, 336. – Diese Freiheit von sich selbst ist keine abstrakte Bindungslosigkeit, sondern Gebundenheit an Christus als Herrn (vgl. die neutestamentliche Rede vom dou,loj Cristou/ zum Beispiel Röm 1,1; 1Kor 7,22 u.ö.). 123 LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 305. 124 JOEST: Ontologie der Person, 250. 125 LUTHER: In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius. 1531/35, WA 40/I, 589,8. Vgl. ebd., 589,25–28: „Atque haec est ratio, cur nostra Theologia certa sit: Quia rapit nos a nobis et
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Nun ist die Gottesbeziehung des Glaubenden die seine ganze Existenz qualifizierende Beziehung.126 Muss damit jede andere Form des Selbstverhältnisses des Glaubenden, die nicht Freiheit von sich selbst ist, als Rückfall in die sündige Selbstverkrümmtheit verstanden werden? Auf den ersten Blick scheint Martin Luther dieser Ansicht gewesen zu sein. Es hat den Anschein, als hätte Luther die Meinung vertreten, dass der Christ sich ganz von der Beschäftigung mit sich selbst zu lösen hat. In seiner Galaterbriefauslegung schreibt Luther – diese Stelle wurde bereits eingangs zitiert –: „Wenn ich mich […] in mich kehre und überlege, was ich für einer bin oder sein muß, und was ich zu tun habe, verliere ich Christus aus den Augen“.127 Indes, im Kierkegaard-Teil (bei der mehrfachen Doppelbewegung in der Selbstannahme) konnten neben der für den Glaubenden fundamentalen Bewegung weg von sich auch verschiedene Bewegungen hin zu sich selbst herausgearbeitet werden. Kierkegaard meinte, diese seien durchaus mit dem Glauben zu vereinbaren. Im Folgenden wird deshalb untersucht, inwiefern die fundamentale Freiheit des Glaubenden von sich selbst von anderen Formen des Selbstverhältnisses begleitet werden darf. Der Kontext der eben zitierten Äußerung Luthers, der unten genauer zu betrachten ist,128 wird deutlich machen, dass ein solcher Gedanke auch bei Luther nicht prinzipiell ausgeschlossen ist. Zunächst ist zu prüfen, in welchem Sinne die Freiheit von sich selbst eine fundamentale ist. Ist sie in dem skizzierten Sinne fundamental, dass kein anderes Selbstverhältnis zulässig ist? Oder ist sie in dem Sinne fundamental, dass sie das Sein des Menschen fundamental bestimmt, nämlich indem sie ihn von etwas befreit, was sein Sein bislang fundamental bestimmt hat? Im letzten Fall wäre eine neue explizite Selbstbezogenheit mit der fundamentalen Freiheit von sich selbst durchaus vereinbar. Rudolf Bultmann hat versucht, einen derartigen Gedanken zu entwickeln. Er behauptet nämlich: Der Mensch wird nicht ganz allgemein von sich selbst frei, sondern von seinem alten Selbst. Dieses alte Selbst hat sein Sein fundamental bestimmt. Entsprechend bestimmt auch die Freiheit von seinem alten Selbst sein Sein fundamental. Diese Freiheit vom alten Selbst ist nicht identisch mit einem neuen Selbstbezug, führt aber nach Bultmann zu einem solchen, sc. zu einer Freiheit zum neuen Selbst. ponit nos extra nos, ut non nitamur viribus, conscientia, sensu, persona, operibus nostris, sed eo nitamur, quod est extra nos, Hoc est, promissione et veritate Dei, quae fallere non potest.“ Vgl. dazu ZUR MÜHLEN: Nos extra nos. 126 Vgl. zum Beispiel JOEST: Ontologie der Person, 250. 127 Luthers Galaterbrief-Auslegung, 110 (= WA 40/I, 282,26–28: „Ibi in me conversus et considerans, qualis ego sim vel esse debeam, item quid mihi faciundum sit, amitto ex oculis Christum“). Vgl. auch LUTHER: Die dritte Disputation gegen die Antinomer. 1538, WA 39/I, 508,6f: „quatenus respicio ad me et ad meum peccatum, sum miser et peccator maximus“. 128 Siehe unten § 7.3.3.
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2.3 Freiheit von sich selbst als Freiheit vom alten Selbst – Rudolf Bultmann Anlass dafür, zwischen einer Freiheit vom alten und einer Freiheit zum neuen Selbst zu unterscheiden, war Bultmanns – im Gespräch mit Martin Heidegger gewonnene – Überzeugung, das menschliche Dasein als durch Entscheidungen bestimmt verstehen zu müssen.129 Unter diesen Entscheidungen, vor die der Mensch existierend gestellt ist, hat eine Entscheidung nach Bultmann ausgezeichnete Bedeutung, nämlich die des Glaubens. Glaube ist Entscheidung par excellence, denn in der Glaubensentscheidung wird des Menschen „Sein […] in die Entscheidung gerufen“.130 Und diese Entscheidung ist nach Bultmann eine freie.131 Nun ist aber der Mensch nach Bultmann in seinen Entscheidungen nicht wirklich frei; denn er ist in ihnen gebunden an seine Vergangenheit.132 Er ist „durch seine früheren Entscheidungen geprägt“; damit sind „seine künftigen Entscheidungen immer schon determiniert“.133 Wie kann dann Glaube als freie Entscheidung überhaupt möglich sein? Nach Bultmann nur dann, wenn der Mensch von sich selbst befreit würde. Um sich wirklich frei entscheiden zu können, müsste der Mensch „frei sein von seiner Vergangenheit und das heißt frei von sich selbst, so wie er durch seine Vergangenheit geprägt ist“.134 Anders formuliert: „Um frei zu sein, […] müßte er gerade von sich selbst befreit werden – nämlich von dem Selbst, das er bisher aus sich gemacht hat, von seiner ihn bindenden Vergangenheit, christlich gesprochen: von seiner Sünde“.135 Bultmann versteht Befreiung von sich selbst also in dem Sinne, dass der Mensch von dem befreit werden muss, den er selber aus sich gemacht hat. Dieser ist sein „altes Selbst“.136 129
Vgl. zum Beispiel BULTMANN: Die Bedeutung der ‚dialektischen Theologie‘, 118 (Hervorhebung im Original): „Wir meinen das Dasein des Menschen richtiger [als Idealismus und Romantik] zu verstehen, wenn wir es als geschichtlich bezeichnen. Und wir verstehen unter der Geschichtlichkeit des menschlichen Seins dieses, daß sein Sein ein Sein-Können ist. D.h. daß das Sein des Menschen seiner Verfügung entnommen ist, jeweils in den konkreten Situationen des Lebens auf dem Spiele steht, durch Entscheidungen geht, in denen der Mensch […] sich selbst als seine Möglichkeit wählt.“ 130 BULTMANN: Gnade und Freiheit, 160. 131 Ebd., 157f: „Glaube ist nur Glaube als Entscheidung, und Entscheidung ist nur Entscheidung, wenn sie frei ist.“ 132 Vgl. BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 278. 133 BULTMANN: Der Gedanke der Freiheit, 48. 134 Ebd. OTT: Geschichte und Heilsgeschichte, 121, hebt hervor, dass der Mensch dadurch „nicht einfach seine Vergangenheit [verliert]; damit würde er ja auch seine Geschichtlichkeit verlieren“. Die Vergangenheit bleibt „erhalten, allerdings als vergebene“. 135 BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 278. Vgl. DERS.: Das Befremdliche, 210: Sünde besteht darin, „daß der Mensch sich selbst sichern, sich durch seine Leistung einen Anspruch vor Gott verschaffen will“. 136 Vgl. BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 278.
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Eine solche Befreiung geschieht nach Bultmann dann, wenn der Mensch „das Wort von der ihm in Christus geschenkten göttlichen Gnade hört“.137 Diese Gnade befreit ihn von seiner Vergangenheit, von seiner Sünde, von seinem durch ihn selbst konstituierten Selbst138 und versetzt ihn dadurch in die Lage, sich nun auch selber „gegen sein altes […] Selbst“139 entscheiden zu können. Mit dieser Befreiung vom alten Selbst, von der eigenen Vergangenheit, hat die Befreiung aber ihr Ziel noch nicht erreicht. Die göttliche Gnade befreit den Menschen vielmehr „in der Weise von sich selbst, daß er […] befreit ist zur Offenheit gegenüber der Zukunft“.140 Diese Offenheit gegenüber der Zukunft „bedeutet nicht passive Rezeptivität, Untätigkeit, sondern verantwortungsvolle Bereitschaft für das, was mir das Jetzt je entgegenbringt an Aufgaben, an Freuden, an Leiden“.141 In dieser Offenheit ist der Mensch dann tatsächlich „frei […] zur echten Entscheidung“142 in allen Begegnungen seines Lebens. Diese Freiheit zur echten Entscheidung ist nach Bultmann auch eine Freiheit des Menschen „zu sich selbst“.143 Denn sie ist „die Möglichkeit der Entscheidung gegen sein altes, für ein neues Selbst“.144 Wer sich für dieses neue Selbst entscheidet, d.h. glaubt, entscheidet sich dafür, „[d]em Zukommenden offen [zu] sein“;145 er entscheidet sich dafür, die ihm eröffnete Entscheidungsfreiheit auszuhalten. Erst in dieser freien Entscheidung je und je gegenüber dem, was ihm die Zukunft bringt, ist der Mensch er selbst.146 Insofern empfängt er sein Selbst „aus der Zukunft als Geschenk“.147 Im Glauben vollzieht der Mensch die Entscheidung zwischen altem und neuem Selbst, lässt er – wenn man so will – eine Unterscheidung Gottes
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BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 278 (Hervorhebung im Original). Vgl. BULTMANN: Gnade und Freiheit, 160 (Hervorhebung im Original): „[…] die göttliche Gnade schafft erst die echte Freiheit des Menschen. Denn echte Freiheit besteht […] in der Freiheit von uns selbst, – von uns selbst, so wie wir in jedem Jetzt sind als solche, die aus ihrer Vergangenheit kommen und durch sie bestimmt sind.“ Vgl. auch DERS.: Humanismus und Christentum, 141: Die „vergebende Gnade Gottes [befreit] den Menschen von sich selbst, von seiner Vergangenheit, von dem, was er selbst aus sich gemacht hat“. 139 BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 278 (Hervorhebung im Original). 140 Ebd. (Hervorhebung im Original). 141 BULTMANN: Das Befremdliche, 210. 142 BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 278. 143 Vgl. ebd. 144 Ebd. (Hervorhebung von mir). Ähnlich BULTMANN: Der Gottesgedanke, 347: Selbstlosigkeit ist „die Bereitschaft, uns nicht an unserem alten Selbst festzuhalten, sondern unser eigentliches Selbst immer neu zu empfangen“. 145 BULTMANN: Der Gedanke der Freiheit, 49. 146 Vgl. BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 282: Echte Freiheit heißt „Selbst-sein“. 147 BULTMANN: Der Gedanke der Freiheit, 49. 138
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zwischen Selbst und Selbst gelten.148 Er lässt die Unterscheidung gelten zwischen dem Selbst, das bestimmt ist durch die Entscheidungen seiner Vergangenheit, und dem Selbst, das sich frei entscheiden kann und damit wahrhaft offen ist für das, was auf es zukommt. Altes und neues Selbst des Menschen unterscheiden sich bei Bultmann also dadurch, dass das alte Selbst „durch seine Vergangenheit […] so gebunden [ist], daß [es …] seine Freiheit verloren hat“,149 während das neue Selbst von seiner Vergangenheit befreit wird, so dass es für die Zukunft offen und frei ist. In beiden Fällen wird der Mensch „durch seine Entscheidungen […] zu dem, der er ist“:150 Das alte Selbst, der alte Mensch ist durch seine bisherigen Entscheidungen der geworden, der er heute ist. Und das neue Selbst wird durch seine Glaubensentscheidung konstituiert; sie ist die
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Auch in zahlreichen psychologischen und philosophischen Selbstkonzepten wird eine derartige Unterscheidung zwischen Selbst und Selbst gefordert. Zwei prominente Beispiele seien genannt: Die Psychologin Karen Horney unterscheidet zwischen 1. wirklichem oder empirischem Selbst (ein Begriff, den sie bei William James entlehnt), 2. idealisiertem Selbst und 3. wahrem Selbst (HORNEY: Neurose, 176). Das wirkliche Selbst meint „alles, was ein Mensch zu einer gegebenen Zeit ist“ und was wir meinen, „wenn wir sagen, daß wir uns kennenlernen wollen“ (ebd.). Das idealisierte Selbst ist „das, was wir in unserer irrationalen Phantasie sind“ (ebd.). Das wahre Selbst schließlich ist „die ‚ursprüngliche‘ Kraft, die uns zur persönlichen Entwicklung und Erfüllung drängt“ und die wir meinen, „wenn wir sagen, wir wollten uns selbst finden“ (ebd.); es ist „die Triebfeder der emotionalen Kräfte, der konstruktiven Energien, der richtungweisenden und kritisch urteilenden Kräfte“ (ebd., 194). Jeder Mensch besitzt nach Horney Vorstellungen von einem besseren Selbst in sich, das er werden will; diese sind entweder erreichbar (dann gehören sie zum wahren Selbst), oder sie sind überhöht und unerreichbar (dann gehören sie zum idealisierten Selbst). Durch überhöhte Vorstellungen davon, wie das bessere Selbst sein sollte, kommt es nicht nur zu neurotischen Störungen, sondern auch zu einem Brachliegen der realisierbaren Möglichkeiten des Selbst. Vgl. GERHARDT: Kritik des Moralverständnisses, 34. Der Philosoph Hans Krämer unterscheidet zwischen faktischem, dispositionellem, normativem und WunschSelbst (vgl. KRÄMER: Selbstverwirklichung, 31 mit Anm. 41). Das faktische Selbst ist das Selbst, „als welches wir uns jeweils vorfinden“ (ebd., 31), das dispositionelle Selbst die Gesamtheit aller (bewussten wie unbewussten) nichtaktualisierten Möglichkeiten des Menschen. Das WunschSelbst zeichnet sich durch Normen aus, die über den „indizierten Dispositionen“ (ebd., 42 Anm. 41) liegen. Entscheidend ist das normative Selbst als „dasjenige Selbst, von dem her wir uns wählend verstehen, der Entwurf, auf den hin wir uns verwirklichen wollen, das eigentliche, wahre, selbsthafte Selbst, das Selbst im Selbst“ (ebd., 31). „Selbstsein“ ist dementsprechend „die approximative Identität von normativem und faktischem Selbst“ (ebd.). Sie vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern immer in Zusammenhang mit Welt. Insofern gilt: „Selbstzueignung ist Identifikation von faktischem und normativem Selbst, Weltzueignung hingegen der Vorgang, daß Welt zum normativen Selbst in ein angemessenes Verhältnis tritt – Welt, die nach Definition gerade nicht das Eigene, sondern nur das dem Eigenen Entsprechende sein kann.“ (Ebd., 35f; Hervorhebung im Original). 149 BULTMANN: Der Gedanke der Freiheit, 48. 150 Ebd., 47. Vgl. BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 277f. Vgl. auch DERS: Die Krisis des Glaubens, 15: Der Augenblick fordert „eine Entscheidung, in der der Mensch […] sein eigentliches Sein gewinnt oder verliert“.
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„freie Tat des Gehorsams, in der das neue Ich an Stelle des alten sich konstituiert [!]“.151 Nun scheinen die letztgenannten Formulierungen der Rechtfertigungsbotschaft nicht ausreichend Rechnung zu tragen. Denn diese hebt ja gerade darauf ab, dass der Mensch nicht durch seine Entscheidungen, sondern durch Gott konstituiert wird.152 Bultmann wusste das ohne Zweifel selber. Er betont ausdrücklich, es sei Gott, der die freien Entscheidungen des Menschen ermöglicht. Gott befreit den Menschen ja durch seine Gnade vom alten und zum neuen Selbst. Sich dann auch selber gegen das alte und für das neue Selbst entscheiden zu können ist Geschenk Gottes,153 die Entscheidung selbst dann „Akt des Gehorsams“.154 Berücksichtigt man dies, dann müsste das Ja zum neuen Selbst besser nicht als ein das neue Selbst konstituierendes, sondern als ein das Befreiungshandeln Gottes und damit das Konstituiertsein durch Gott zulassendes und akzeptierendes Ja bezeichnet werden. Gerade weil der Gerechtfertigte nicht mehr durch seine Entscheidung konstituiert wird, kann er sich angstfrei, in Offenheit und der jeweiligen Situation entsprechend entscheiden. Bultmanns Einsicht, dass der Mensch nicht pauschal von sich selbst frei wird, sondern von seinem alten Selbst, wird im Folgenden aufgenommen. Denn sie entspricht, wenn man sie ein wenig anders akzentuiert, dem, was bisher zum Selbstverhältnis des Sünders und des Glaubenden erörtert wurde. Die andere Akzentuierung besteht darin, das „alte Selbst“, von dem der Mensch befreit werden muss, weniger gegenständlich als denjenigen zu verstehen, der der Mensch durch seine Entscheidungen wurde; das alte Selbst ist vielmehr das alte Selbstverständnis des Sünders, in dem der Mensch sich als Garant seiner selbst ansah, und das alte Selbstverhältnis des Sünders, in dem der Mensch sich selbst konstituieren wollte. Beides war Kennzeichen der Gefangenschaft des Sünders in sich selbst. Freiheit von sich selbst heißt folglich präzise, von diesem alten Selbstverständnis und Selbstverhältnis befreit zu werden. Inhaltlich wurde in den Ausführungen über die Ausrichtung des Glaubenden nichts anderes gesagt. 151
BULTMANN: Theologie, 317. Vgl. zum Folgenden auch JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 202ff. 153 Vgl. BULTMANN: Der Gedanke der Freiheit, 51. 154 Vgl. dazu SCHMITHALS: Die Theologie Rudolf Bultmanns, 109f. Bultmanns Unterscheidung zwischen Werk und Tat hat gerade den Sinn, den Glauben nicht als Leistung des Menschen zu verstehen: „Glaube ist der Verzicht auf Werke; aber er ist Tat der Entscheidung“ – und zwar „gerade darin echte Tat, daß er sich bewußt ist, nichts sich selbst, sondern alles der ihm begegnenden Gnade zu verdanken“ (BULTMANN: Gnade und Freiheit, 156f). Vgl. auch BULTMANN: Theologie, 319: „Der Glaube beruft sich nicht auf das, was er als Akt oder Haltung ist, sondern auf Gottes vorangegangene, ihm zuvorgekommene Gnadentat“. Vgl. dazu SCHMITHALS: Die Theologie Rudolf Bultmanns, 107: Der Glaube als des Menschen „existentielle Stellungnahme zu dem Heilsgeschehen“ ist keine „Leistung“, auf die der Mensch „stolz sein darf“. 152
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Ist Freiheit von sich selbst insofern keine pauschale Freiheit von jedwedem Selbstverständnis und Selbstverhältnis, dann kann ein expliziter Selbstbezug durchaus mit ihr vereinbar sein. Und der explizite Selbstbezug ist es, wenn er die Freiheit von sich selbst nicht aufhebt. Die Einsicht, Freiheit von sich selbst sei präzise zu bestimmen als Freiheit vom alten Selbstverständnis und Selbstverhältnis, wird bestätigt durch das, was das Neue Testament als „Selbstverleugnung“ beschreibt.
2.4 Selbstverleugnung Die Aussage des synoptischen Jesus: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst (avparnhsa,sqw e``auto.n) und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mk 8,34 par.) macht Selbstverleugnung zum Kennzeichen der Nachfolge Jesu; sich selbst zu verleugnen gehört zum Bekenntnis zu Jesus wesentlich hinzu.155 Jesus zu verleugnen (avrnei/sqai Iv hsou/n) widerspricht dagegen dem Bekenntnis zu Jesus (Mt 10,32f). Was heißt es, Jesus zu verleugnen? Der Jesus verleugnende Petrus sagt: ouvk oi=da to.n a;nqrwpon (Mt 26,72). Kann man daraus Rückschlüsse darauf ziehen, was es heißt, sich selbst zu verleugnen? Wenn Jesus einen Menschen dazu auffordert: avkolou,qei moi (z.B. Mt 9,9), so kann die in diesem Zusammenhang, eben dem der Nachfolge, geforderte Selbstverleugnung nun gerade nicht darin bestehen zu sagen: Ich kenne den Menschen nicht, der dir nachfolgen soll.156 Selbstverleugnung kann keine pauschale Verneinung des ganzen Ich bedeuten.157 Denn wenn der Mensch sein ganzes Ich verneinen müsste: Wer wäre dann noch da, um nachzufolgen? Vielmehr liegt die in der Nachfolge geforderte Selbstverleugnung in der Unterordnung des eigenen Willens unter den Gehorsamsruf Jesu Christi158 155 Vgl. R. PESCH: Das Markusevangelium. 2. Teil, 59. Umgekehrt liegt die Treue Jesu Christi uns gegenüber gerade darin begründet, dass dieser sich selbst nicht verleugnet (2Tim 2,13). Vgl. zum Ganzen meinen Artikel „Selbstverleugnung“. 156 Anders SCHWEIZER: Das Evangelium nach Markus, 95: „‚Verleugnen‘ bedeutet […]: ‚Ich kenne den Menschen nicht‘, bezeichnet also eine Freiheit von sich selbst […], in der man sein eigenes Ich nicht mehr kennen will“. Dem widerspricht die Einsicht Luthers, dass „das Gottesverhältnis […] so unerbittlich ernst ist, daß vor Gott jeder unvertretbar als er selbst angegangen ist“ (EBELING: Frei aus Glauben, 322; zweite Hervorhebung von mir). 157 So zum Beispiel SCHÜRMANN: Das Lukasevangelium. Erster Teil, 541, zu Lk 9,23: „Das avrne,omai meint ein entschlossenes Nein zum eigenen Ich“; GRUNDMANN: Das Evangelium nach Markus, 226 (vgl. aber die nachfolgende Anmerkung). 158 So zum Beispiel GRUNDMANN: Das Evangelium nach Markus, 227. Vgl. auch BONHOEFFER: Nachfolge, 79: „Selbstverleugnung kann niemals aufgehen in einer noch so großen
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und in dem Verzicht darauf, das eigene Leben selber sichern zu wollen (Lk 17,33).159 Damit ergibt sich: Die vom Christen geforderte Selbstverleugnung ist Verneinung des alten Selbst, d.h. des Selbstverständnisses, in dem der Mensch sein Leben meinte selbst sichern zu können, und des Selbstverhältnisses, in dem der Mensch aus sich selbst leben wollte und nur um sich selbst kreiste. Selbstverleugnung bedeutet, dass sich der Mensch „von sich selbst als dem, der er gestern [d.h. vor dem Ruf in die Nachfolge] war, lossagt und abwendet“.160 Sich selbst zu verleugnen heißt mithin, nicht mehr hinter die beschriebene Freiheit von sich selbst zurückzugehen. 3. Das Selbstverhältnis des gerechtfertigten Sünders als Freiheit zu sich selbst Die christliche Freiheit von sich selbst, so konnte gezeigt werden, ist präzise als Freiheit vom alten Selbstverständnis und Selbstverhältnis zu verstehen. Im Anschluss an diese negative Bestimmung drängt sich die Frage auf, worin denn positiv das neue Selbstverständnis und das neue Selbstverhältnis des Christen bestehen. Sein neues Selbstverständnis nimmt der Glaubende nicht aus sich selbst. Vielmehr wird es ihm von außen durch den ihn rechtfertigenden Gott zugesprochen. Inhaltlich ist es durch das definiert, was Gott in der Rechtfertigung über ihn sagt: Du bist unannehmbar und wirst dennoch von mir angenommen! Deshalb versteht sich der Glaubende als ein von Gott trotz seiner Unannehmbarkeit Angenommener, als ein gerechtfertigter Sünder. Recht besehen, ist in diesem neuen Selbstverständnis 1. eine „implizite“ Selbstannahme enthalten. Das neue Selbstverständnis führt aber auch 2. zu einer „expliziten“ Selbstannahme, zu einem expliziten neuen Selbstverhältnis. Beide Formen der Selbstannahme sind nun zu skizzieren. Dabei wird Fülle einzelner Akte der Selbstzermarterung oder asketischen Übungen […] Selbstverleugnung heißt nur Christus kennen […], nur noch ihn sehen, der vorangeht“. 159 So SCHWEIZER: Das Evangelium nach Markus, 95, der neben dem in Anm. 156 Zitierten auch notiert, Selbstverleugnung bezeichne eine „Freiheit von […] allen Sicherungen, ob sie irdischer Besitz oder Anspruch auf himmlischen Lohn heißen“. 160 K. BARTH, Die kirchliche Dogmatik, Bd. IV/2, 609. Vgl. auch BOVON: Das Evangelium nach Lukas. 1. Teilbd., 483, zu Lk 9,23: „‚Sich selbst verneinen‘ bedeutet […] seine nichtauthentische Existenzweise verneinen“; Selbstverleugnung gibt „das Moment der Trennung von der eigenen Vergangenheit an“. – Bei Luther gibt es ähnliche Gedanken. Vgl. LUTHER: Die Vorlesung über den Römerbrief. 1515/16, WA 56, 334,28–335,2: „Iustitia Vero humana studet tollere et mutare peccata primum et conservare ipsum hominem; ideo non est Iustitia, Sed hipocrisis.“ Joest macht deutlich, dass mit „ipsum hominem“ der Mensch gemeint ist, der sich als „Subjekt der geistlichen Bestimmung“ seines Daseins versteht (JOEST: Ontologie der Person, 257). Es ist dieser Mensch, der aufgehoben werden muss.
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deutlich werden: Während die erste zum Glauben notwendig hinzugehört, ist die zweite ein Ausdruck des Glaubens. 3.1 Implizite Selbstannahme Wie oben dargestellt, gilt: Im Glauben nimmt der Mensch Gottes Annahme an und richtet sich darin ganz auf Gott aus. Dieser Glaube wird jedoch dann verhindert, wenn der Mensch sich selbst als derart angenommen ablehnt, also er selbst als dieser Angenommene nicht sein will. Denn damit lehnt er ab, was Gott in der Rechtfertigung über ihn sagt. Das ist nun auszuführen, indem umgekehrt geltend gemacht wird:161 Zum Glauben gehört notwendig, sich nicht als derart angenommen abzulehnen. Dies bedeutet viererlei: 3.1.1 Sich nicht als Sünder ablehnen Wenn der Mensch Gottes bedingungslos annehmendes Ja hört, dann erkennt er, dass er bisher Sünder war in seiner Feindschaft gegen Gott.162 Kierkegaard wies auf die Möglichkeit hin, dass ein Mensch zwar erkennt, dass er Sünder ist, doch von sich als Sünder nichts wissen will, also sich als Sünder ablehnt. Dann aber glaubt er nicht. Zum Glauben gehört mithin umgekehrt, dass der Mensch nicht sich derart als Sünder ablehnt. 3.1.2 Sich nicht als von Gottes Handeln abhängig ablehnen In der Rechtfertigung ist Gott der Handelnde. Der Mensch ist in ihr ganz von Gottes Handeln abhängig. Jemand, der sich als von Gottes Handeln abhängig ablehnt, lässt sich gerade nicht aus seiner Feindschaft gegen Gott befreien. Annahme der Rechtfertigung, Glaube, impliziert folglich, dass der Mensch sich nicht als derart abhängig ablehnt.
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Dabei werden Einsichten aus § 6.2 geltend gemacht. Insbesondere Lukas betont (z.B. Lk 5,8), dass „die Erkenntnis [der Sünde …] durch die Begegnung mit Jesus selbst veranlaßt“ wird. „Lukas gibt […] anschauliche Beschreibungen davon, wie Menschen, die Jesus begegnen und so in seinen göttlichen Kraftbereich treten, sich in ihrer Sündhaftigkeit erkennen“ (STROBEL: Erkenntnis und Bekenntnis, 41). Strobel notiert ebd., dass diese Erkenntnis zum Bekenntnis führt. Kierkegaard macht aber plausibel, dass das nicht immer der Fall sein muss (siehe oben § 6.2.2). 162
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3.1.3 Sich nicht als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt ablehnen Gott nimmt den Menschen an, obwohl dieser seine Annahme nicht verdient hat. Diese Annahme anzunehmen ist nur dann möglich, wenn der unannehmbare Mensch sich nicht vorwirft, sie nicht verdient zu haben, und wenn er nicht – wie Kierkegaard formulierte – neidisch auf sich selbst ist. Jemand, der umgekehrt dies tut, lehnt sich als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt ab – und damit Gottes Annahme. Sich nicht derart abzulehnen, gehört, so ist zu schließen, notwendig zum Glauben hinzu.
3.1.4 Sich nicht als von seinem faktischen Selbst unterschieden ablehnen Indem Gott den Menschen unabhängig von seinem faktischen Selbst, aber mit seinem faktischen Selbst in die Gemeinschaft mit ihm aufnimmt, unterscheidet er den Menschen von seinem faktischen Selbst. Wer sich aber als von seinem faktischen Selbst unterschieden ablehnt, also sich weiter durch sein faktisches Selbst konstituieren will, der lehnt Gottes Annahme ab. Insofern gehört, sich nicht derart abzulehnen, zur Annahme der Rechtfertigung zwangsläufig hinzu. So ergibt sich insgesamt: Dass der Mensch Gottes Annahme glaubt, ist nur möglich, wenn der Mensch sich nicht als Sünder, als abhängig von Gottes Handeln, als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt und als von seinem faktischen Selbst unterschieden ablehnt. Gottes Annahme anzunehmen ist nur möglich, wenn der Mensch nicht ein Selbstverhältnis vollzieht, in dem er sich als den von Gott gerechtfertigten Sünder ablehnt. Dieses vierfache Sich-nicht-Ablehnen kann als implizite Selbstannahme bezeichnet werden. In ihr ist der Mensch passiv in dem Sinne, dass er Gottes Annahme gelten lässt. In ihr löst sich der Mensch nicht aus seiner Bezogenheit auf Gott, denn er vollzieht nur ein bestimmtes negatives Selbstverhältnis gerade nicht, eben das der Selbstablehnung. Sich dieser impliziten Selbstannahme zu verweigern, würde, so wurde deutlich, nichts anderes bedeuten, als sich Gottes Annahme zu widersetzen. Implizite Selbstannahme ist deshalb im Glauben notwendig enthalten. Nun wurde bei der Auseinandersetzung mit Kierkegaard einsichtig, dass für den Menschen auch eine explizite Selbstannahme nötig ist. Kierkegaard meinte: Der Mensch darf und soll sich im Glauben als den annehmen, der er durch Gott ist. Rechtfertigungstheologisch zugespitzt: Der Glaubende darf und soll sich selbst als von Gott gerechtfertigten Sünder annehmen. Damit bringt er in seinem Selbstverhältnis zur Geltung, was Gott in der Rechtfertigung über ihn sagt. Er vollzieht in seinem neuen Selbstverhältnis nach, was
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sein neues Selbstverständnis bereits bestimmt. So wird die Annahme Gottes für seinen Lebensvollzug fruchtbar. Indem er sich als derart qualifiziert annimmt, steht er in einem, wenn man so will, aktiven Selbstverhältnis. Weil der Glaubende darin nicht nur das gelten lässt, was Gott in der Rechtfertigung über ihn sagt, sondern es auch in seinem Selbstverhältnis nachvollzieht, ist die explizite Selbstannahme nicht schon in der impliziten enthalten.163 In der Auseinandersetzung mit Bultmann wurde deutlich, dass ein derartiger expliziter Selbstbezug mit der fundamentalen Freiheit von sich selbst vereinbar ist. Vor diesem Hintergrund kann im Folgenden die explizite Selbstannahme entfaltet werden. Insgesamt lassen sich sechs verschiedene Aspekte der expliziten Selbstannahme ausmachen. Fünf von diesen sind zunächst darzustellen (3.2.1–3.2.5). Anschließend wird in 3.3 deren Verhältnis zum Glauben bestimmt. Der sechste Aspekt der expliziten Selbstannahme, die differenzierte Annahme des eigenen faktischen Selbst, wird, weil sie etwas ausführlicher erörtert werden muss, unten unter 3.4 expliziert. In der Darstellung der expliziten Selbstannahme werden die verschiedenen Facetten der an Kierkegaard gewonnenen Phänomenologie noch einmal aufgegriffen. Die nach Kierkegaard für den Übergang vom Sündersein zum Glauben notwendige Selbstannahme (Das geheilte Selbst Teil 11) lässt sich jetzt noch einmal ausdrücklich auf das beziehen, was in der Annahme durch Gott über den Menschen gesagt wird; sie findet sich im Folgenden unter 3.2.1–3.2.3.164 Die für Kierkegaard für eine gelingende Existenz notwendige Annahme der menschlichen Existenzbedingungen (Das geheilte Selbst Teil 1, 2 und 3) wird unter 3.2.5 wieder aufgenommen. Zu dieser Annahme der menschlichen Existenzbedingungen gehörte bei Kierkegaard die differenzierte Annahme der eigenen Endlichkeit (Das geheilte Selbst Teil 8 und 9); sie wird, wie gesagt, später unter 3.4 beschrieben – und dabei eindeutig von der Annahme durch Gott her qualifiziert.165 Möglich ist diese differenzierte Annahme aber nur dadurch, dass der Mensch sich als von seinem faktischen Selbst unterschieden annimmt (Das geheilte Selbst Teil 6); dies wird unter 3.2.4 rezipiert. Insgesamt wird im Folgenden Kierkegaards Phänomenologie von der Rechtfertigungslehre her systematisiert und präzisiert.166 163 Analog hatte ja Kierkegaard für den Glauben nicht einfach formuliert: Indem der Mensch nicht mehr nicht er selbst sein will (= implizite Selbstannahme), gründet er sich in Gott. Vielmehr war seine Formel für den Glauben: Indem der Mensch er selbst sein will (= explizite Selbstannahme), gründet er sich in Gott. 164 Abschnitt 3.2.2 nimmt auch Das geheilte Selbst Teil 7 auf 165 Das Verhältnis des Menschen zu seinen Umständen (Das geheilte Selbst Teil 5) wird dort ebenfalls thematisiert. 166 Das geheilte Selbst Teil 10, das Sich-selbst-durchsichtig-Sein, ist in dem bereits beschriebenen neuen Selbstverständnis aufgenommen. Das geheilte Selbst Teil 4, wo deutlich wurde, dass
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3.2 Explizite Selbstannahme 3.2.1 Sich als Sünder annehmen Der Glaubende darf und soll sich als Sünder annehmen. Heißt das, der Glaubende solle zu sich als Sünder in der gleichen Weise Ja sagen, wie er zu Gottes Annahme Ja sagt? Nein, denn die „Annahme“ des eigenen Sünderseins ist – das wurde bei Kierkegaard deutlich167 – nur als Zwischenschritt zu begreifen. Die Annahme des eigenen Sünderseins ist kein Ja zum eigenen Sündersein. Denn sie hat ihren Ort dort, wo der Mensch bekennt, Sünder zu sein, und sie findet ihr Ziel (was im nächsten Abschnitt 3.2.2 aufgegriffen wird) darin, dass der Mensch Gott um Vergebung bittet. Indem der Mensch für sein Sündersein um Vergebung bittet, zeigt er, dass er nicht in seinem Sündersein verharren, sondern von ihm befreit werden will, d.h. dass er sein Sündersein, seine Feindschaft gegen Gott, bereut. Die „Annahme“ des eigenen Sünderseins, des Menschen Bekenntnis zu sich als Sünder, hat mithin ihr Ziel in der Befreiung von dem derart „Angenommenen“.168 Sie ist – so könnte man sagen – eine „transitorische“ Selbstannahme. Sie hat ihren primären Ort im Sündenbekenntnis, also in der Ausrichtung auf Gott. 3.2.2 Sich als von Gottes Handeln abhängig annehmen Der Glaubende darf und soll sich als jemand annehmen, der von Gottes Handeln abhängig ist. Dazu gehört auch, sich als jemand anzunehmen, der Gottes Annahme nicht verdient hat. Die eben bereits genannte Bitte um Sündenvergebung, in der der Mensch um Befreiung von seinem Sündersein, von seiner Feindschaft gegen Gott, bittet (Lk 18,13: o` qeo,j, i`la,sqhti, moi tw/| a`martwlw/)| ,169 ist davon der unmittelbare Ausdruck. Denn der Mensch macht in dieser Bitte geltend, dass er sich nicht selbst aus seiner Sünde befreien kann und auf die Gnade Gottes angewiesen ist. der Mensch sich zu sich selbst verhalten muss, ist in dem Gedanken aufgenommen, dass explizite Selbstannahme wichtig ist. 167 Siehe oben § 6.2.2. 168 Weil sie ihr Ziel erst in der Vergebung Gottes findet, läuft eine derartige Selbstannahme nicht „auf Selbstvergebung hinaus“ – eine Kritik, die LANGE: Ethik in evangelischer Perspektive, 403, gegenüber psychoanalytischen Selbstannahme-Konzepten vorbringt. 169 Diese Bitte ist „die einzige Möglichkeit, […] bei der Überwindung der Sünde mitzuwirken, also als sunergo.j qeou/ mit Gottes Gnade gegen die Sünde zusammenzuwirken“ (JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 125 [Hervorhebung im Original]).
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Diese Selbstannahme ist ohne Zweifel keine transitorische. Es gehört zur bleibenden Signatur der glaubenden Existenz, von Gottes annehmendem Handeln abhängig zu sein. Denn der Mensch bleibt trotz seines Angenommenseins unannehmbar und also angewiesen auf Gottes Annahme.170 Er bleibt, obwohl iustus, simul peccator. 3.2.3 Sich als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt annehmen Der Glaubende darf und soll sich als jemand annehmen, der der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt wird. Er darf sich als jemand annehmen, dem seine Sünde vergeben wird. Er darf sich die Wohltat Gottes gönnen. Der Glaubende darf „sich selbst als Glied des Volkes Gottes so [wollen], wie Gott ihn will“.171 Zusammengefasst: Der Glaubende darf und soll sich als Sünder, als von Gott abhängig und als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt annehmen. Diese Selbst-Annahme kann in Anlehnung an Tillich umschrieben werden als: Sich annehmen als von Gott angenommen (= der Gemeinschaft gewürdigt) trotz (= abhängig) eigener Unannehmbarkeit (= Sünder), oder kurz: Sich annehmen als von Gott angenommen trotz eigener Unannehmbarkeit. 3.2.4 Sich als von seinem faktischen Selbst unterschieden annehmen Für den Lebensvollzug des Glaubenden ist entscheidend, dass der Mensch sich durch seine Aufnahme in die Gemeinschaft mit Gott als von seinem faktischen Selbst unterschieden bejaht. Diese Form der Selbstannahme ist die Voraussetzung für einen seiner Rechtfertigung entsprechenden Umgang mit seinem faktischen Selbst. Denn sie impliziert ein vollkommen neues Verständnis seines faktischen Selbst. Der Mensch versteht dann sein faktisches Selbst als das, was es ist: das seine, aber nicht das ihn konstituierende.
170 Es wird mithin nicht behauptet, der Glaubende müsse sich als annehmbar annehmen. Der Glaubende muss sich vielmehr als jemand annehmen, der unannehmbar ist und bleibt und dennoch von Gott angenommen ist. 171 K. BARTH: Das Geschenk der Freiheit, 12 (Hervorhebung von mir; Hervorhebung Barths getilgt).
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3.2.5 Die menschlichen Existenzbedingungen annehmen Gottes Annahme in Jesus Christus bedeutet, dass der Mensch als Mensch in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommen und damit in seinem Menschund-nicht-Gott-Sein bejaht wird. Gottes Annahme des Menschen ist eine Bejahung des Menschen in seinem Menschsein. Sie sagt dem Menschen, dass er Mensch und nicht Gott sein soll.172 Entsprechend ist der Mensch dazu aufgefordert, sich in seinem Mensch-und-nicht-Gott-Sein zu bejahen. Dies bedeutet – mit Kierkegaard zu reden – sich als von Gott gesetztes Selbst zu bejahen. Dabei gilt: Sich als von Gott gesetztes Selbst zu bejahen ist für den Sünder nur möglich, wenn er sich als von Gott gerechtfertigten Sünder bejaht. Kierkegaard hatte dies für den Sünder, der willentlich seinem Gottesbewusstsein zuwider handelt, ausdrücklich betont.173 Weil aber nicht jeder ein Gottesbewusstsein hat, hatte Kierkegaard zwischen Sündern im eigentlichen Sinne und Sündern im abgeschwächten Sinne unterschieden. Diese Unterscheidung ist jedoch nach biblischer (Röm 3,22–24) und reformatorischer Einsicht unangemessen. Sünder ist vielmehr jeder, der „sine metu Dei, sine fiducia erga Deum et cum concupiscentia“174 lebt. Für jeden derart Lebenden gibt es einen Zugang zum Glauben an Gott nur über Christus und den Glauben an ihn. Deshalb gilt: Nicht nur für den, der willentlich seinem Gottesbewusstsein zuwider handelt, sondern für jeden Sünder und also jeden Menschen ist die Bejahung des von Gott gesetzten Selbst nur möglich, wenn er sich als von Gott gerechtfertigten Sünder bejaht.175 Sich dann als von Gott gesetztes Selbst zu bejahen bedeutet nach Kierkegaard, die Bedingungen menschlicher Existenz, innerhalb deren das faktische Selbst existiert, anzunehmen. Kierkegaard hat diese Existenzbedingungen mit den beiden polaren Paaren Endlichkeit-Unendlichkeit und Möglichkeit-Notwendigkeit beschrieben. Diese Beschreibung sei hier noch einmal aufgenommen. Der Mensch existiert als endlicher Mensch, in bestimmten Umständen, mit bestimmten Eigenschaften und einer bestimmten Geschichte. Und seine Existenz ist räumlich und vor allem zeitlich begrenzt. Gleichzeitig ist er jemand Besonderes und hat Phantasie, so dass er das, was seine endliche 172 Vgl. LUTHER: Brief an Spalatin vom 30. Juni 1530, WA.B 5, 415: „Wir sollen menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa; Es wird doch nicht anders“. 173 Siehe oben § 6.1 und Das geheilte Selbst Teil 11. 174 Confessio Augustana, Art. 2, BSLK 53,5f. 175 Mit dieser Bestimmung wird zur Geltung gebracht, dass die „isolierende Macht der Selbstbezogenheit des Menschen“, die in seiner „Trennung von Gott“ wurzelt, erst durchbrochen werden muss und ein unmittelbarer Rückgriff auf schöpfungstheologische Gegebenheiten eben gerade nicht möglich ist (so die Kritik Dietz Langes an Entwürfen feministischer Theologie zur Selbstannahme; LANGE: Christliche Ethik, 97).
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Existenz ausmacht, verändern (wenn auch nicht in seiner Endlichkeit überwinden) kann. Zu dieser Polarität von Endlichkeit und Unendlichkeit muss der Mensch sich verhalten. Kierkegaard hatte dies mit der Polarität MöglichkeitNotwendigkeit umschrieben. Um als er selbst zu existieren, muss der Mensch in Freiheit genau die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit werden. Das heißt: Er muss sich selbst in Freiheit mittels seiner Phantasie mit seiner Endlichkeit auseinandersetzen – und zwar so, dass seine Besonderheit dadurch nicht zerstört wird. Indem der Mensch zu seinen Existenzbedingungen (und damit zu seinem Da-Sein176) Ja sagt, sagt er – wie Kierkegaard deutlich gemacht hat – Ja dazu, eine differenzierte Annahme seines faktischen Selbst, die gerade die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit beschreibt, vollziehen zu müssen, um als er selbst existieren zu können. Diese differenzierte Annahme des faktischen Selbst, die der sechste Aspekt der expliziten Selbstannahme ist, wird sogleich unter 3.4 genauer erörtert. Jetzt aber muss erst einmal das Verhältnis von Selbstannahme und Glauben bestimmt werden. 3.3 Das Verhältnis von Selbstannahme und Glauben Bisher ist klar geworden: Im Glauben vollzieht sich notwendig eine implizite Selbstannahme; in ihr ist der Mensch passiv; er vollzieht nur ein bestimmtes Selbstverhältnis nicht. In der expliziten Selbstannahme dagegen ist er aktiv. Um das Verhältnis zwischen Glauben und expliziter Selbstannahme im Einklang mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre zu bestimmen, wird es hilfreich sein, auf Luthers Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen einzugehen. Mit ihr präzisiert Luther nämlich, inwiefern der Glaubende passiv und inwiefern er aktiv ist. In seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ hat Martin Luther eine grundlegende anthropologische Unterscheidung geltend gemacht: die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen. Als innerer oder „innerlicher“ Mensch wird die „Seele“ des Menschen, d.h. der Mensch „in seiner Beziehung zu Gott“ bezeichnet, als äußerer oder „äußerlicher“ Mensch der Mensch in seiner Beziehung „auf alles, was nicht Gott ist“,177 das heißt der Mensch in seiner Beziehung zur Welt und zu sich selbst. Die Begriffe „innerer Mensch“ und „äußerer Mensch“ bezeichnen 176
Vgl. dazu S.E. MÜLLER: Zustimmung, 101. JÜNGEL: Zur Freiheit eines Christenmenschen, 127. Vgl. LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 265. 177
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keine Teile des Menschen, sondern die unterschiedlichen Relationen, in denen sich menschliche Existenz vollzieht: „Innerer Mensch“ bezeichnet sein Gottesverhältnis, „äußerer Mensch“ sein Selbst- und Weltverhältnis. Ob der innere Mensch frei oder gefangen ist, d.h. ob seine Beziehung zu Gott „frum oder bo(e)ße“178 ist, das entscheidet sich nicht am äußeren Menschen; „keyn eußerlich ding mag yhn [den Menschen] frey noch frum machen“.179 Es entscheidet sich allein am inneren Menschen selbst; „seyn [des Menschen …] freyheyt widerumb seyn […] gefenckniß seyn nit leyplich noch eußerlich“.180 Der innere Mensch aber ist gefangen, wenn er meint, durch seine Werke vor Gott gerecht werden zu können; denn dann ist er abhängig vom äußeren Menschen mit seinem Handeln. Und er ist frei, wenn er sich von Gott rechtfertigen lässt, d.h. daran glaubt, dass er „keynis wercks“ bedarf, um „frumkeyt vnd seligkeyt zu erlangen“.181 Die Freiheit des inneren Menschen hängt also wesentlich daran, dass der Mensch sich rechtfertigen lässt. In Bezug auf die Freiheit des inneren Menschen muss und darf der Mensch nichts tun: „[…] wo er frey ist darff er nichts thun“.182 Hier ist er passiv. Er muss nur glauben. Nun ist aber der Mensch nicht nur ein innerer Mensch.183 Er bleibt auch als Gerechtfertigter „ynn dißem leyplichen lebenn auff erdenn“.184 Im Bereich des äußeren Menschen kann er „nit mu(e)ßsig gehen“.185 Hier muss er handeln, hier „muß er allerley thun“.186 Hier ist er aktiv. Zum „leiblichen Leben auf Erden“ zählt Luther in diesem Zusammenhang zwei Dinge: den Leib („corpus“) des Menschen und das Zusammensein mit den Mitmenschen.187 Der Mensch muss mit seinem Leib umgehen; er muss sich zu seinem Leib verhalten. Er kann ihn nicht einfach vergessen. 178
LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 267. Ebd. 180 Ebd. Vgl. ZUR MÜHLEN: Nos extra nos, 269: „Im inneren Menschen entscheidet sich, ob die Freiheit des Menschen schlechthin Sache Gottes oder Sache eigener Selbstverwirklichung ist.“ 181 LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 273. 182 Ebd., 285. 183 Vgl. ebd. 184 Ebd., 287. 185 Ebd. 186 Ebd., 285. Vgl. WENZ: Rechtfertigung und Freiheit, 299: „[…] indem er sich im Glauben auf die Zusage des Evangeliums Jesu Christi verläßt, gelangt der innere Mensch zum rechten Selbstverständnis, ist der Antagonismus zwischen innerem und äußerem Menschen aufgehoben […]: in gläubigem Gottvertrauen der Sorge ums Eigene und der Abhängigkeit von weltlichen Gegenständen ledig, ist der innere Mensch dazu befreit, sich fürsorglich im äußeren zu realisieren, welche Fürsorge sowohl der eigenen leibhaftigen Gestalt (Selbstpflege) als auch dem Mitmenschen (Nächstenliebe) sowie der gesamten Außenwelt (Liebe zu allem Kreatürlichen) zugute kommt.“ Vgl. auch JOEST: Ontologie der Person, 315. 187 Vgl. LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 287. 179
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Denn seine irdische Existenz vollzieht sich leibhaft. Dabei gilt insbesondere: Wie der Mensch mit seinem Leib umgeht, hat Auswirkungen darauf, wie er mit seinen Mitmenschen umgeht. Der Umgang des Christen mit seinem Leib188 hat nach Luther das spezielle Ziel, durch den Leib189 so mit dem Mitmenschen umgehen zu können, wie Christus selbst mit ihm umgegangen ist.190 Nun wird aber der Umgang mit den Mitmenschen nicht nur durch den Umgang mit dem eigenen Leib geprägt. Vielmehr wird der Umgang mit den Mitmenschen durch den Umgang mit dem eigenen faktischen Selbst insgesamt (zu dem auch der Leib gehört) bestimmt.191 Dies sei jeweils in Bezug auf die Geschichte des Menschen, seine Umstände und seine Eigenschaften kurz ausgeführt. Der Mensch begegnet der Welt nicht losgelöst von seiner individuellen Geschichte. Er ist beeinflusst und geprägt von dem, was er getan oder nicht getan hat und was ihm widerfahren ist. Er ist gekennzeichnet davon, wie er dies erinnert.192 Und er ist gekennzeichnet davon, wie er sich zu dem Erinnerten verhält. Der Mensch geht mit der Welt um als der, der eine bestimmte Geschichte hat und sich zu ihr in ein Verhältnis setzt. Auch der Glaubende ist davon nicht ausgenommen. Er weiß sich zwar in dem Sinne frei von seiner Geschichte, als sie nicht über sein Angenommensein durch Gott entscheidet. Weil Gott den Menschen annimmt, ist der Mensch mehr als seine Geschichte. Der Glaubende wird aber nicht in dem Sinne frei von ihr, als hätte er diese Geschichte nie gehabt. Sie bleibt seine Geschichte. Der Umgang des Menschen mit der Welt ist auch bestimmt von seiner gegenwärtigen Situation, seinen gegenwärtigen Umständen. Wie ein Mensch mit der Welt umgeht, hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil daran, in welchen Lebensumständen er gerade steht und wie er mit diesen zurechtkommt. Auch dies gilt für den Glaubenden, der zwar weiß, dass er nicht mit seinen Umständen identisch ist, der aus ihnen aber dennoch nicht entfliehen kann. 188 Luther versteht diesen Umgang vor allem als Kampf gegen den widerspenstigen Willen des Leibes (vgl. LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 287). Dazu zu Recht kritisch MOXTER: Rechtfertigung und Anerkennung, 40f. 189 Vgl. LUTHER: De libertate Christiana, 294, wo Luther betont, es sei der Leib des Menschen, mit dem der Mensch dem anderen diene. 190 Vgl. LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 299. 191 In Bezug auf das Bild von sich selbst betont das auch KORSCH: Dogmatik im Grundriß, 43 (Hervorhebung im Original): „[…] dem Handeln [liegt] immer schon ein Selbstbild, eine bestimmte Vorstellung vom Selbst und von seinem Verhältnis zur Welt zu Grunde“. Auf die Verschränkung von Umwelt- und Selbstbezogenheit weist auch die Studie KNUTH (Hg.): Von der Freiheit, 161f, hin. Sie macht aber zu Recht darauf aufmerksam, dass diese Verschränkung keine „Identität“ bedeutet; beide Bezogenheiten sind „ungetrennt“, aber doch „unterschieden“ (ebd., 162f). 192 Vgl. KETTNER: Nachträglichkeit, 57: „Was ich für meine Vergangenheit halte, bestimmt unmittelbar mit, wie ich gegenwärtig und auch in Zukunft erlebe und handle.“
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Und schließlich hängt der Umgang des Menschen mit der Welt daran, was für Eigenschaften der Mensch hat und wie er sich zu ihnen verhält. Seine Eigenschaften sind Dispositionen zu einem bestimmten Verhalten.193 Selbstverständlich gilt auch dies für den Glaubenden, der weiß, dass er nicht die Summe seiner Eigenschaften ist; sie bleiben aber die seinen. Das bedeutet insgesamt: Der Mensch wird in seinem Umgang mit der Welt von seinem faktischen Selbst und seinem Umgang mit seinem faktischen Selbst bestimmt.194 Der Mensch steht immer, auch wenn er beispielsweise seine Geschichte verdrängt, in einem sein Handeln in der Welt beeinflussenden Verhältnis zu seinem faktischen Selbst. Luther hat dasjenige Selbstverhältnis des Menschen, in Bezug auf das der Mensch „allerley thun“ muss, in der „Freiheitsschrift“ auf die Leiblichkeit des Menschen eingeschränkt. Hier wird darüber hinausgehend vorgeschlagen, auch die differenzierte Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Geschichte, seinen Umständen und seinen Eigenschaften, kurz: die differenzierte Annahme seines faktischen Selbst, in dieses „aktive“ Selbstverhältnis des äußeren Menschen mit einzubeziehen. So ergibt sich insgesamt für die Verhältnisbestimmung von Glaube und Selbstannahme: Die implizite Selbstannahme, in der der Mensch passiv ist und Gottes Annahme gelten lässt, hat ihren Ort beim inneren Menschen. Sie ist, wie bereits gesagt, im Glauben notwendig enthalten. Die differenzierte Annahme des faktischen Selbst hat ihren Ort dagegen beim äußeren Menschen. Sie ist mithin kein Bestandteil des Glaubens, wohl aber Teil des Lebensvollzugs des Glaubenden. Wurden damit der impliziten Selbstannahme und der differenzierten Annahme des faktischen Selbst ihre Berechtigung im Horizont Lutherischer Anthropologie zugestanden, so blieb bislang offen, wo die restlichen Aspekte der expliziten Selbstannahme (3.2.1–3.2.5) zu verorten sind. Kierkegaard hat eine explizite Selbstannahme als notwendig zum Glauben gehörend verstanden. Glauben hieß für ihn ja, das von Gott gesetzte und gerechtfertigte Selbst sein zu wollen und gerade darin Gott zu bejahen. Selbstverständlich kennt auch Luther eine selbstbezügliche Aktivität des Menschen, die das umfasst, was unter 3.2.1–3.2.3 beschrieben wurde. Das Bekenntnis zum eigenen Sündersein mit der Bitte um Vergebung ist ein von Gott gebotenes „Werk und Tuen“.195 Seine Sünden zu bekennen und um Vergebung zu bitten heißt zu „tuen, was ein Christen tuen soll“;196 es bedeu193
Siehe unten § 7.3.4.3. So auch S.E. MÜLLER: Zustimmung zum eigenen Dasein, 102: „In jede Beziehung zu Personen und Dingen geht seine Beziehung zu sich selbst mit ein, freimachend und fördernd oder einengend und behindernd.“ 195 LUTHER: Der große Katechismus, BSLK 729,12. 196 Ebd., 726,42f. 194
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tet, nach dem Evangelium zu leben.197 In diesem Tun thematisiert der Mensch vor Gott sich selbst. In dieser Selbstthematisierung liegt für Luther aber immer die Gefahr, in die Gefangenschaft in sich selbst zurückzufallen.198 Deshalb ist sie vom Glauben selbst als der Ausrichtung auf Gott unterschieden. Im Glauben macht der Mensch nichts anderes als eben – Gott glauben. Tillich schließlich hatte den Glauben als Annehmen der Annahme Gottes, die Selbstannahme aufgrund dieser Annahme dann aber als „Mut zum Sein“, der einem Menschen durch den Glauben gegeben wird, und mithin als „Ausdruck des Glaubens“ verstanden.199 Welche der genannten Positionen ist zutreffend? Luthers Auffassung hat für sich, dass der Glaube selbst streng als Ausrichtung des Menschen auf Gott, ohne expliziten Selbstbezug des Menschen, verstanden wird. Tillichs Unterscheidung zwischen Glauben und Mut zum Sein trägt dieser Position Rechnung. Sie gefährdet nicht die Strenge des Lutherischen Glaubensbegriffs. Kierkegaards Position hat für sich, dass die Bedeutung des Glaubens für das Selbstverhältnis des Menschen positiv zur Geltung gebracht und herausgestellt wird, dass der Gottesbezug nicht ersetzt, dass der Mensch sich zu sich selbst verhält. Der Mensch wird zwar durch Gott konstituiert, muss dies aber in seinem Selbstverhältnis explizit zur Geltung bringen. Der Gottesbezug macht nicht den expliziten Selbstbezug überflüssig (etwa im Sinne von: indem der Mensch sich zu Gott verhalte, verhalte er sich bereits in ausreichender Weise zu sich selbst). Tillich sieht die Bedeutung des expliziten Selbstbezuges auch, trennt aber stärker zwischen Gottesbezug und Selbstbezug. Indem er den durch den Glauben ermöglichten Selbstbezug als „Mut zum Sein“ bezeichnet, macht er gleichzeitig deutlich, dass die Selbstannahme nicht belanglos ist, sondern für den Lebensvollzug des gerechtfertigten Sünders höchst bedeutsam. Ist damit die Stärke von Kierkegaards Konzept herausgestellt, so muss doch an diesem auch eine grundsätzliche Kritik geübt werden. Sie richtet sich darauf, dass Kierkegaard den Glauben als Verschränkung von Gottesund Selbstbezug bestimmt. Kierkegaard behauptet, Glauben heiße: Indem der Mensch er selbst als der von Gott Gesetzte und Gerechtfertigte sein wolle, also sich selbst annehme, gründe er sich in Gott. Dies aber ist eine Unterbestimmung des Glaubens. Damit ist nämlich für den Glauben nur ein impliziter Gottesbezug ausgesagt, ein Gottesbezug nur im Verhalten zu sich selbst. Glauben ist – das ist gegen diese Formel mit Nachdruck herauszu197
Vgl. ebd., 726,40–42. Vgl. LUTHER: Der große Katechismus, BSLK 731,29ff. 199 Siehe oben § 2.3. 198
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stellen – aber wesentlich expliziter Gottesbezug. (Dass Kierkegaard an anderer Stelle selbstverständlich von einem expliziten Gottesbezug spricht, und zwar vor allem dort, wo er betont, der Sünder müsse an Christus glauben, steht außer Frage; hier interessiert jedoch gerade das Verhältnis von Selbstannahme und Glauben, das durch die paraphrasierte Figur beschrieben wird.) Was Kierkegaard aber überzeugend geltend machen konnte, ist: In der expliziten Selbstannahme, in der der Mensch sich als von Gott gesetzt und gerechtfertigt annimmt, fällt der Mensch nicht aus seinem Gottesbezug heraus. Denn er bezieht sich darin immer auch auf den, der ihn gesetzt und gerechtfertigt hat. Soll dieser Einsicht Kierkegaards Rechnung getragen werden, ohne Kierkegaards Unterbestimmung des Glaubens zu verfallen, dann folgt, dass die Position Tillichs hier die zutreffende ist. Das bedeutet: Explizite Selbstannahme ist kein Bestandteil des Glaubens, wohl aber ein Ausdruck des Glaubens und für den Lebensvollzug des gerechtfertigten Sünders – nicht aber für seine Rechtfertigung! – wesentlich. Mit dieser Entscheidung wird das, was bei Kierkegaard inhaltlich zur Selbstannahme erarbeitet wurde, nicht hinfällig. Nur ist eben die Formel „Indem der Mensch das von Gott gesetzte und gerechtfertigte Selbst sein will, gründet er sich in Gott“ keine Beschreibung des Glaubens, sondern eine Beschreibung der durch den Glauben ermöglichten Selbstannahme. Durch die hier vorgeschlagene Entscheidung für Tillichs Position wird nicht Luthers Einsicht widersprochen, der Mensch werde nur durch Gott konstituiert. Der Glaubende konstituiert sich nicht in der Selbstannahme. Er kann und soll aber das Konstituiertsein durch Gott in seinem Selbstverhältnis zur Geltung bringen.200 Diese explizite Selbstannahme kann als Freiheit zu sich selbst201 bezeichnet werden. Sie ist nämlich eine Zuwendung zu sich selbst, zu der der 200 Gänzlich im Widerspruch zum damit ausgesagten sola fide steht die Behauptung Eugen Bisers, Selbstannahme sei dem Glauben vorgängig. So BISER: Sich selbst annehmen, 92: Der „inwendige Lehrer“ „erweckt zu neuer Glaubensgewißheit und zu Glaubensfreude. Zuvor noch [!] erweckt er aber den auf seinen Zuspruch achtenden Menschen zu sich selbst. Er bewegt ihn zur Annahme seiner selbst“. Vgl. auch ebd., 94f: Die „Zustimmung zu sich selbst [… ist] zugleich Einstimmung und Fundament für Glaube, Hoffnung und Liebe. Nur der mit sich selbst Geeinte und Versöhnte kann sich zu ihnen erheben.“ 201 Diese Redeweise ist oben bereits bei Bultmann begegnet. Dieser weist auf die Idee der „Freiheit zu sich selbst“ im Griechentum hin (BULTMANN: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit, 275–277). Auch bei Martin Heidegger findet sich, freilich mit anderer Bedeutung als der hier vorgeschlagenen, eine ähnliche Formulierung (HEIDEGGER: Sein und Zeit, 144; Hervorhebung im Original): „Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.“ Karl Barth versteht den Gehorsam gegen das Feiertagsgebot, das den Menschen von der „Mühe seiner Arbeit“ und damit „von sich selbst frei macht“, als Freiheit des Menschen „für sich selbst“ (BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. III/4, 65). Luther kennt eine derartige Redeweise nicht. Er
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Mensch durch die Rechtfertigung befreit ist. Und sie vollzieht sich in Freiheit, weil der Mensch durch sie sich weder konstituieren will noch konstituieren muss. Das hier entwickelte Verständnis von Selbstannahme wird mithin nicht von der oben genannten202 Kritik an Selbstannahme als einem den Menschen konstituierenden Werk getroffen. Explizite Selbstannahme ist kein Rückfall in die Gefangenschaft in sich selbst. Um diesen Abschnitt abzuschließen, soll noch einmal auf Luthers These Bezug genommen werden: „Wenn ich mich […] in mich kehre und überlege, was ich für einer bin oder sein muß, und was ich zu tun habe, verliere ich Christus aus den Augen“.203 Diese These hatte den Anschein erweckt, dass Luther jeden Selbstbezug des Glaubenden kategorisch ausschließt. Doch muss der Kontext dieser Aussage beachtet werden. Er macht nämlich deutlich, dass der von Luther problematisierte Blick auf sich selbst ein Blick auf sich selbst im Horizont der Rechtfertigungsthematik ist. Luther sagt: „Wenn man […] über die christliche Gerechtigkeit disputieren will, muß man völlig von der Person absehen.“204 Wenn ich bei der Disputation über die christliche Gerechtigkeit dagegen so sehr auf mich selber blicke, dass ich dabei Christus aus den Augen verliere, also vergesse, dass Christus meine Gerechtigkeit ist, dann werde ich mich sogleich erneut fragen, wie ich zu Christus in den Himmel kommen kann.205 Dann werde ich darauf zurückgeworfen, was ich selber für meine Gerechtigkeit tun kann: „Ich will heilig leben und das, was das Gesetz fordert, tun und so will ich ins Leben gehen!“206 Damit folgt: Das Überlegen, „was ich für einer bin oder sein muß“, erweist sich dann als negativ, wenn ich überlege, was ich für einer sein muss oder was ich tun muss, um vor Gott gerecht zu sein.207 Denn genau damit verliere ich Christus aus den Augen! Es sei gefragt, ob die in dieser Studie vorgeschlagene Bestimmung der Selbstannahme damit zusammengeht. In der impliziten Selbstannahme (3.1) blicke ich gar nicht auf mich; ich lasse mir nur Gottes Handeln gefallen. In spricht nur davon, der Christ sei ein „freyer herr u(o)ber alle ding“ (LUTHER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 265). Denn dem Christen „muß […] alles vnterthan seyn vnd helffen zur seligkeit“ (ebd., 281). 202 Siehe § 2.3. 203 Luthers Galaterbrief-Auslegung, 110 (= WA 40/I, 282,26–28: „Ibi in me conversus et considerans, qualis ego sim vel esse debeam, item quid mihi faciundum sit, amitto ex oculis Christum“). 204 Ebd., 109 (= WA 40/I, 282,18f: „[…] cum disputandum est de iustitia Christiana, prorsus abiicienda est persona.“). 205 Vgl. ebd., 109f (= WA 40/I, 282,23–25). 206 Ebd., 110 (= WA 40/I, 282,25f: „Ego sancte vivam et hoc quod lex requirit, faciam atque ita in vitam ingrediar!“). 207 Vgl. ebd., 111 (Hervorhebung von mir): Es geht darum, „daß wir nichts anderes mehr sehen, wenns um die Rechtfertigung geht, als die Gnade” (= WA 40/I, 284,31f: „[…] ut nihil plane spectemus in ratione iustificandi quam gratiam“).
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der expliziten Selbstannahme in Bezug auf das, was in der Rechtfertigung mit mir geschehen ist (3.2.1–3.2.4), und in Bezug auf die eigenen Existenzbedingungen (3.2.5) frage ich nicht, was ich für einer bin oder sein muss oder was ich zu tun habe, sondern nehme an, was ich vor und durch Gott für einer bin. In der differenzierten Annahme des faktischen Selbst schließlich frage ich zwar – wie gleich dargestellt werden wird (3.4) – durchaus, was ich für einer bin oder sein muss und was ich zu tun habe; dies geschieht aber nicht mit dem Ziel, dadurch vor Gott gerecht zu werden; denn es ist die Frage dessen, der seine Rechtfertigung angenommen hat und sich ganz von dieser her versteht. 3.4 Differenzierte Annahme des faktischen Selbst Die in der Rechtfertigung durch Gott vollzogene Unterscheidung des Menschen von seinem faktischen Selbst ist fundamental und umfassend. Die durch diese fundamentale Unterscheidung ermöglichte208 menschliche Annahme des eigenen faktischen Selbst dagegen ist differenziert, denn sie bringt Gottes differenziertes Nein und Ja zu diesem faktischen Selbst zur Geltung, welches in seinem fundamentalen Ja zur Gemeinschaft mit dem Menschen impliziert ist. Diese differenzierte Annahme ist nun zu erläutern. Sie ist, wie gesagt, der sechste Aspekt der expliziten Selbstannahme. Die differenzierte Annahme des faktischen Selbst hat ihren Grund in der Annahme durch den ganz Anderen. Dieser nimmt mich auch mit dem, was mir an mir selbst fremd ist, in die Gemeinschaft mit ihm auf. Christliche Selbstannahme bezieht deshalb auch das mit ein, was dem Menschen an ihm selbst fremd ist und was er meint, nicht annehmen zu können. Anders eine Selbstannahme, die im Menschen selbst begründet wäre. In ihr bliebe der Mensch in seiner Annahme ganz auf das beschränkt, was er an sich selbst annehmen kann. Eine solche Selbstannahme wäre letztlich nur eine Wiederholung seiner selbst.209 In dieser differenzierten Annahme des faktischen Selbst handelt der Gerechtfertigte. Angesichts der Verortung dieser Annahme des faktischen Selbst beim äußeren Menschen ist deutlich, dass damit die Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade und ohne irgendein Werk des Menschen nicht in Gefahr ist. Die differenzierte Annahme des faktischen Selbst ge-
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Ähnlich LANGE: Christliche Ethik, 103: „Erst Distanz ermöglicht Selbstannahme.“ So zu Recht Dietz Lange ebd., 96: „Eine aus mir selbst kommende Selbstannahme entreißt mich ja gerade nicht dem Gefängnis des Selbst.“ 209
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fährdet nicht das „mere passive“210 des Menschen in der Rechtfertigung. Sie ist nichts, wodurch der Mensch sich selbst konstituiert. Sie hat vielmehr das Ziel, dass der Mensch – wie noch deutlich werden wird – seinem Hineingenommensein in die Gemeinschaft mit Gott entsprechend lebt.211 Sein Personsein steht in dieser differenzierten Annahme seines faktischen Selbst damit genauso wenig wie sein Heil zur Entscheidung.212 Dies bedeutet aber auch: Sein Personsein, seine Anerkennung durch Gott ist nicht abhängig davon, ob sein Versuch gelingt, sich in ein entsprechendes Verhältnis zu seinem faktischen Selbst zu stellen. 3.4.1 Aufnahme einer Pindarschen Formel Die differenzierte Annahme des faktischen Selbst kann in einer gewissen Analogie zu der Formel Pindars ge,noiV oi-oj evssi. maqw,n gesehen werden.213 Diese ist, wie Glenn Most gezeigt hat, zu übersetzen durch „Show yourself in your action as the sort of man you have learned that you are“:214 „Zeige dich in deinem Handeln als die Art Mensch, von der du weißt/erkannt hast,[215] dass du sie bist“. ge,noi(o) und evssi, sind nach Most nicht als zeitliches Werden und zeitloses Sein im platonischen Sinne zu verstehen. ge,noi(o) bezeichnet vielmehr
210 LUTHER: De servo arbitrio. 1525, WA 18, 697,28. Vgl. CALVIN: Institutio Christianae religionis, 220: „[…] quoad iustificationem res est mere passiva fides“. 211 Vgl. dazu JÜNGEL: Zur Freiheit eines Christenmenschen, 148: „Es gehört geradezu zur Funktion des inwendigen Menschen, den äußeren zu regieren und zu einer Tätigkeit anzuhalten, die dem Glauben des inwendigen Menschen entspricht“. 212 Vgl. SCHNEIDER-FLUME: Rechtfertigung und Persönlichkeit, 50: „Menschen selbst stehen nicht zur Disposition. Weil sie der Beweislast für ihr Seindürfen sola gratia enthoben sind, werden Menschen frei zu kreativer Leistung und zur Entfaltung aller ihrer Kräfte. Allerdings geschieht die Entfaltung aller Kräfte nicht abstrakt, sondern im Kontext der Geschichte der Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes und im Wissen darum, daß in diese Geschichte alle Menschen hineingehören; auch die, deren Persönlichkeitsentwicklung nach unserer Vorstellung nicht erfolgreich verlaufen ist und deren Identitätsfindung nicht gelingt.“ Vgl. dazu auch BAYER: Marcuses Kritik, 37: Das menschliche Denken und Handeln „wird durch den Glauben […] zum konkreten Wirken und einzelnen Werk befreit, weil der Glaubende im Werk nicht mehr das Ganze, das Heil, schaffen muß“. 213 PINDAR, 2. Pythische Ode 72 (zitiert nach MOST: The Measures of Praise, 101). 214 MOST: The Measures of Praise, 101. 215 Die hier angebotene Übersetzung von „learned“ mit „weißt/erkannt hast“ ist gerechtfertigt durch das, was Most darüber ausführt, inwiefern der mit der Aufforderung Angesprochene sich dadurch auszeichnet, dass er „knows oi-oj evssi,“ (ebd., 103; Hervorhebung von mir). – Ganz anders die Übersetzung der Pindarschen Formel bei Heidegger: „möchtest du hervorkommen als der, der du bist, indem du lernst“ (HEIDEGGER: Einführung in die Metaphysik, 77).
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„the manifestation of one’s nature in one’s behavior“,216 während evssi, „that nature as a private but fundamental tendency“217 benennt. Pindars Formel ist in ihrer Übersetzung durch Nietzsche („Werde, der du bist“218), die die Pindarsche Intention gerade verfehlt,219 von zahlreichen Theologen übernommen worden, um das Verhältnis zwischen dem Indikativ des Heils und dem Imperativ der Heiligung zu umschreiben.220 Diese Übernahme wiederum ist ihrerseits kritisiert worden.221 Denn die Formulie216 Allerdings ist ge,noi(o) Aorist, so dass Pindar den Adressaten, Hieron (ab 478 Herrscher von Syrakus; Pindar weilte an dessen Hof), nicht zu einer dauerhaften Handlung auffordert, sondern „to a specific action“, nämlich – wie Most zeigt – „Look with favor upon my poem“ (MOST: The Measures of Praise, 103). 217 Ebd., 102. 218 Vgl. zum Beispiel NIETZSCHE: Also sprach Zarathustra, 297; vgl. DERS.: Brief an Lou von Salomé, vermutlich 10. Juni 1882, in: Nietzsche Briefwechsel, 202–203, 203; vgl. DERS.: Brief an Lou von Salomé, Ende August 1882, in: ebd., 247–248, 247. – Nietzsche hat den Gedanken „Werde, der du bist“ mehrfach versucht fruchtbar zu machen. Vgl. DERS.: Die fröhliche Wissenschaft, 563 (Hervorhebung im Original): „Wir […] wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!“ Vgl. DERS.: Menschliches, Allzumenschliches, 219 (Hervorhebung im Original): „Begabung. – In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder hat angeborenes Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und Handlungen entladet.“ 219 Vgl. MOST: The Measures of Praise, 102. 220 Vor allem Bultmann hat eine Lanze für diese Formel gebrochen. „Es gilt […] in gewissem Sinne das ‚Werde, der du bist!‘“ (BULTMANN: Theologie, 334) Es gilt „aber nicht in dem idealistischen Sinne, daß die Idee des vollkommenen Menschen im unendlichen Fortschritt mehr und mehr verwirklicht werde“ (ebd.). Denn entgegen allen idealistischen Vorstellungen ist die entscheidende Bestimmung des menschlichen Seins, seine „Freiheit von der Macht der Sünde“, „in der dikaiosu,nh qeou/ schon verwirklicht“. „Das Werden dessen, was der Gläubige schon ist, besteht […] in dem ständigen glaubenden Ergreifen der ca,rij und d.h. zugleich in der konkreten, nunmehr möglichen u`pakoh, im peripatei/n“ (ebd.). Mit seiner Aufnahme der Formel will Bultmann zur Geltung bringen, dass „die dem Glauben geschenkte Möglichkeit des zh/n pneu,mati […] im stoicei/n pneu,mati ausdrücklich ergriffen werden“ muss (ebd., 335). Vgl. auch DERS.: Neues Testament und Mythologie, 45f. – Auch bei Tillich finden sich Anklänge an diese Formel. Vgl. TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 2, 103: Christus zeigt nämlich den Menschen, „die unter den Bedingungen der Existenz leben, was der Mensch essentiell ist und darum sein sollte“. Weil die Bestimmung des Menschen diesem „allererst von der Zukunft des Reiches Gottes her und im Aussein auf sie zukommt“, ist das Wesen des Menschen ein „Wesen im Werden“ (WENZ: Subjekt und Sein, 273). Zu Barths Verwendung der Formel siehe unten Anm. 284. 221 Vgl. KÄSEMANN: Gottesgerechtigkeit bei Paulus, 188: „Wenn man heute vielfach das Verhältnis zwischen paulinischem Indikativ und Imperativ mit der Formel ‚Werde, der du bist‘ beschreibt, so ist das zwar nicht falsch, aber angesichts der Herkunft dieser Formel aus dem idealistischen Denken auch nicht ungefährlich. Paulus ging es primär nicht um den Christen in einer nur abstrakt denkbaren Vereinzelung […] Daß man nur als einzelner glaubt, besagt, daß man Verantwortung hier wie im Dienen nicht von sich abschieben kann. Doch ist es mir völlig unmöglich zuzugeben, daß die Theologie und das Geschichtsbild des Paulus am Individuum orientiert sei [so BULTMANN: Geschichte und Eschatologie, 47ff]. Es rächt sich eben, wenn Gottesgerechtigkeit ausschließlich als Gabe verstanden wird, weil dann notwendig die paulinische Anthropologie in den Sog individualisierender Betrachtungsweise gerät. Der Sinn des paränetischen Imperativs als
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rung „Werde, der du bist“ erweckt den Anschein, als sei das Sein des Christen doch noch irgendwie von diesem erst zu realisieren – was der Lehre von der Rechtfertigung sola fide widerspräche.222 Wenn die Formel so aufgenommen werden soll, dass der Rechtfertigungsbotschaft ausreichend Rechnung getragen wird, dann muss zwischen dem Sein des Gerechtfertigten und seinem aus diesem Sein entspringenden Handeln unterschieden werden. Außerdem muss geltend gemacht werden: Was der Mensch ist („that you are“), ist nach theologischem Urteil nicht seine „nature“ oder seine „tendency“, sondern dies, dass der unannehmbare Mensch von Gott angenommen wird. Wenn nun die Formel auf den Vorgang der differenzierten Selbstannahme übertragen wird, dann bedeutet sie: Zeige dich in deinem Handeln gegenüber deinem faktischen Selbst als der, der von Gott trotz seiner Unannehmbarkeit angenommen ist.223 Was das konkret beinhaltet, ist nun zu zeigen. 3.4.2 Die drei Schritte der differenzierten Selbstannahme Kierkegaard hat die differenzierte Selbstannahme nur auf die endlichen Beschaffenheiten des Selbst, seine Eigenschaften, bezogen.224 Hier wird vorgeschlagen, auch die Umstände und die Geschichte des Menschen in die differenzierte Selbstannahme einzubeziehen. Denn Gott unterscheidet den Menschen in der Rechtfertigung nicht nur von seinen Eigenschaften, sondern auch von seinen Umständen und seiner Geschichte.225 Des Menschen Eigenschaften bezeichnen das, was der Mensch ist; seine Umstände benennen das, worin er lebt; und seine Geschichte ist das, was er getan und unterlassen hat, sowie das, was ihm geschah. Zusammengenommen bezeichnen die drei genannten Größen die verschiedenen Aspekte seiner faktisch-lebensweltlichen Existenz. Prinzipiell lässt sich die differender Konsequenz und Bestätigung des Indikativs wird viel besser durch die Formel beschrieben: Bleibe bei dem dir gegebenen Herrn und in seiner Herrschaft […] Denn Existenz ist bei Paulus jeweils durch den Herrn bestimmt, dem wir gehören.“ 222 Vgl. auch SCHRAGE: Ethik, 173, mit Bezug auf Käsemann. 223 Diese Verwendung der Formel wird wegen ihrer Orientierung am Aufgenommensein in die Gemeinschaft mit Gott nicht von der eben wiedergegebenen Kritik Ernst Käsemanns an der theologischen Aufnahme der Formel „Werde, der du bist“ getroffen. – Oben § 5.1.2 wurde die nach Kierkegaard dem Menschen in seiner Existenz gestellte Aufgabe beschrieben durch die Formel: „Werde der, als der du durch Gott gesetzt bist.“ Auch sie wird von der Kritik nicht getroffen. Denn die Aufgabe, die Kierkegaard meint, bezieht sich nicht auf das Sein des Christen, sondern auf die von Gott gesetzten Existenzbedingungen, zu denen der Mensch sich eben im Existieren verhalten muss. Dass er diese Aufgabe nur im Glauben angemessen erfüllen kann, wurde bereits gesagt. 224 Siehe Das geheilte Selbst Teil 8 und 9. 225 Siehe oben § 7.2.1.1.
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zierte Selbstannahme in Bezug auf alle drei Elemente in den gleichen Schritten beschreiben. Diese sind zunächst allgemein vorzuführen. Anschließend (3.4.3–3.4.5) werden diese Schritte noch einmal in Bezug je auf des Menschen Eigenschaften, seine Geschichte und seine Umstände konkretisiert. Weil es dabei um den grundsätzlichen Umgang des Menschen mit seinem faktischen Selbst geht, ist im Nachfolgenden eine gewisse Abstraktheit nicht zu vermeiden. Es lassen sich bei der differenzierten Selbstannahme drei elementare Schritte auszeichnen: Wahrnehmen, Annehmen und Unterscheiden (einschließlich ggf. Verändern).226 Dies ist nun zu erläutern. Das Angenommensein durch Gott befreit den Menschen erstens dazu, sein faktisches Selbst wahrzunehmen, das mit allem, was es ausmacht, in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommen ist.227 Der in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommene Mensch muss die Augen vor seinem faktischen Selbst, vor seinen Eigenschaften, Umständen und seiner Geschichte, nicht mehr verschließen – aus Angst davor, das, was er sehen könnte, würde die Gemeinschaft mit Gott gefährden.228 In einem zweiten Schritt, der eigentlichen Annahme, kann der Glaubende dann die wahrgenommenen Eigenschaften, Umstände und die wahrgenommene Geschichte als die seinen (nicht: die ihn konstituierenden) annehmen.229 Diese „Annahme“ meint keine Bejahung dieser Dinge als solcher, sondern bedeutet, sie „als uns zugehörig [zu] bejahen“.230 Indem der 226 Etwas anders unterscheidet GUARDINI: Tugenden, 30ff, zwischen 1) Annahme der eigenen „Kräfte und Schwächen, […] Möglichkeiten und Grenzen“, weil es das Gebot gibt, „der auch wirklich sein zu wollen, der man ist – überzeugt, daß dahinter […] Zuweisung aus ewiger Wahrheit steht“ (ebd., 32), 2) Annahme der eigenen „Lebenslage“ (ebd., 33f), 3) Annahme des eigenen „Schicksals“, weil „alles auf göttlicher Zuweisung ruht“ (ebd., 34f) und 4) Annahme des eigenen Daseins (ebd., 36f). Guardini betont, dass diese Annahme die Voraussetzung dafür ist, um etwas an diesen Dingen ändern zu können (vgl. ebd., 34), entwickelt aber keine Kriterien für die Veränderung. Die referierten Begründungen für die Selbstannahme sind außerdem nicht – wie hier vorgeschlagen – vom Rechtfertigungsereignis her konzipiert. 227 Vgl. zu diesem Sich-Wahrnehmen aus psychologischer Perspektive JUNG: Die Beziehungen der Psychotherapie, 19f: Es ist „das Allerschwierigste, ja das Unmögliche […], sich selber in seinem erbärmlichen So-sein anzunehmen. Schon der blosse Gedanke daran, kann Einen in Angstschweiss versetzen, deshalb zieht man mit Vergnügen und ohne Zögern das Komplizierte vor, nämlich das Nichtwissen um sich selbst und die geschäftige Bekümmerung um Andere und Anderer Schwierigkeiten und Sünden. […] Man ist […] sich selbst entlaufen.“ 228 Ähnlich STOLLBERG: Wahrnehmen und Annehmen, 47 (Hervorhebung im Original): „Wer glaubt und weiß, daß Gott den Menschen als Sünder liebt, kann […] seine Selbstwahrnehmung realistischer gestalten“. Sie bleibt allerdings immer bruchstückhaft; vgl. SCHNEIDER-FLUME: Narzißmus, 106 (Hervorhebung von mir): Der Mensch „bleibt […] sich letztlich immer unbekannt“. Vgl. dazu, wie anstrengend ehrliche Selbstwahrnehmung ist, aus psychologischer Perspektive BARZ: Stichwort: Selbstverwirklichung, 16f. 229 GRÜNDEL: Schuld und Versöhnung, 137, unterscheidet ähnlich zwischen Bewusstmachen und Annehmen. 230 Ebd., 138 (Hervorhebung von mir).
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Mensch seine Eigenschaften, Umstände und seine Geschichte derart als ihm zugehörig bejaht, kommt es zu einer Konkretisierung dessen, dass er sein faktisches Selbst insgesamt als von ihm unterschieden, aber als das seine angenommen hat.231 Gerade weil er sich von ihnen unterschieden weiß, braucht er sich nicht mehr wegen dieser Dinge zu verurteilen. Gott urteilt! Der Mensch braucht nicht mehr sein eigener Richter zu sein (1Kor 4,3f).232 Insofern hören bei dem, der sich selbst annimmt, „Selbsthaß und Selbstverachtung auf“.233 Die wahrgenommen Dinge als uns zugehörig annehmen bedeutet mithin, – wie Nietzsche formuliert – „es bei sich selbst aushalte[n]“.234 Grund dafür ist allein dies, dass Gott es mit uns aushält, ja mehr noch: in Jesus Christus eine durch Liebe gekennzeichnete Gemeinschaft mit uns eingeht. Der dritte Schritt schließlich ist die konkrete Unterscheidung des derart Angenommenen. Die im zweiten Schritt beschriebene „Annahme“ des faktischen Selbst bedeutet nicht, der Christ müsse oder dürfe sich pauschal mit ihm abfinden im Sinne eines: So bin ich, und so bleibe ich!235 Dass es darum nicht gehen kann, wurde bei der Kierkegaard-Auslegung im ersten Hauptteil deutlich: Der Glaubende darf – so hieß es dort – seine Schwierigkeit nicht so sehr als seine eigene übernehmen, dass er sie gar nicht mehr loslassen will und damit gerade hinter sein Unterschiedenwerden von ihr in der Rechtfertigung zurückgeht.236 Vielmehr können Kriterien entwickelt werden, wann eine „endgültige“237 Akzeptanz und wann Veränderung geboten ist. Im letzteren Fall wird der zweite Schritt, die eigentliche „Annahme“, zu einer transitorischen.238 Die Kriterien, ob eine „transitorische“ oder eine „endgültige“ Akzeptanz gebo231
Siehe oben § 7.3.2.4. „Daß der Mensch sein eigener Herr und Richter sei, ist die offensichtliche Unwahrheit des […] Unglaubens.“ (EBELING: Frei aus Glauben, 321). 233 TILLICH: Dennoch bejaht, 153. Es dürfte klar sein, dass dieses Ende der Selbstverachtung nicht ein Ende der Selbstverleugnung bedeutet, die oben als Verneinung des alten Selbstverhältnisses, aus sich selbst leben zu wollen, beschrieben wurde. 234 NIETZSCHE: Also sprach Zarathustra, 242 (dort allerdings als Umschreibung der „Selbstliebe“). Von dem Umgekehrten, nämlich davon, vor sich selbst zu fliehen, spricht schon Aristoteles (mit Bezug auf oi` mocqhroi,): e`autou.j de. feu,gousin (ARISTOTELES: Nikomachische Ethik IX, 1166b 14). 235 Vgl. auch S.E. MÜLLER: Zustimmung zum eigenen Dasein, 101: „Sich bejahen heißt nicht: sich damit abfinden, wie man nun mal ist.“ 236 Siehe oben § 5.2.2.2.2. 237 „Endgültig“ wird in Anführungszeichen gesetzt, weil der Mensch sich mit seinem faktischen Selbst immer nur aus seiner gegenwärtigen Perspektive auseinandersetzt. Ein späterer Blick auf diese Dinge kann bisher „Endgültiges“ dann doch veränderbar erscheinen lassen. 238 Psychotherapie lebt von der Einsicht in den Zusammenhang zwischen Annehmen und Verändern; vgl. beispielsweise JUNG: Die Beziehungen der Psychotherapie, 18f (Hervorhebung im Original): „Man kann nichts ändern, das man nicht annimmt. […] Will der Arzt einem Menschen helfen, so muss er ihn in seinem So-sein annehmen können.“ 232
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ten ist, ergeben sich aus dem differenzierten Nein und Ja, das Gott in seiner Annahme spricht. Was dies konkret bedeutet, wird unten unter 3.4.3–3.4.5 ausgeführt, wenn die differenzierte Annahme jeweils in Bezug auf Eigenschaften, Geschichte und Umstände beschrieben wird. Zuvor sei kurz zusammengefasst: Durch Gottes Annahme wird der Mensch befreit dazu, sich selbst wahrzunehmen und sich „anzunehmen“, und zwar entweder „endgültig“ oder transitorisch auf Veränderung zielend.239 Diese Freiheit zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit sich selbst ist Teil der durch die Rechtfertigung ermöglichten Freiheit zu sich selbst. Sie ist nur möglich dadurch, dass Gott den Menschen in der Rechtfertigung von seinem faktischen Selbst unterscheidet. In der differenzierten Selbstannahme wendet sich der Mensch seinem faktischen Selbst zu. Dies geschieht nun aber nicht in zwanghafter, weil sich selbst konstituieren wollender Verkrümmung, sondern – wie gesagt – in dem Wissen, durch Gott konstituiert zu werden.240 Primärer Ort dieser differenzierten Annahme des faktischen Selbst ist – das ist als nächstes zu zeigen – das Gebet als die Situation konzentriertester Gemeinschaft mit Gott.241 Gebet ist Gespräch des Menschen mit Gott: Es ist „ein ewig gespräch zwischen Gott und dem menschen, aintweder, das er mit uns rede, da wir still sitzen und jm zu hören oder das er uns höre mit jm reden unnd bitten, was wir bedürffen“.242 In diesem Gespräch spricht der Mensch – fast immer – auch von sich selbst. An den biblischen Psalmen ist das gut zu erkennen. Besonders deutlich wird, dass der Mensch im Gebet auch von sich selbst spricht, an den alttestamentlichen Klagepsalmen des Einzelnen, nämlich im Element der Ich-Klage (z.B. Ps 102, 4–8.10.12: Meine Tage sind vergangen 239
Ähnlich HÄRLE: Zur Gegenwartsbedeutung, 132. Insofern ist diese Freiheit zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit sich selbst nicht mit dem „Vermögen individueller Selbstverwirklichung“ zu verwechseln, als das Theunissen die neuzeitliche autonome „Freiheit zu sich selbst“ umschreibt (THEUNISSEN: `O aivtw/n lamba,nei, 323f). Theunissen unterscheidet diese von einer „vom Glauben getragene[n] Freiheit des Menschen zu sich“ (ebd., 337; Hervorhebung von mir; vgl. ebd., 365). 241 Wenn das Gebet hier als primärer Ort der differenzierten Selbstannahme bestimmt wird, dann soll damit nicht gesagt sein, dass das Gebet es nur mit Selbstannahme zu tun hat. Insbesondere in der Situation der selbstvergessenen Anbetung Gottes ist das Gebet der Ort einer umfassenden Freiheit von sich selbst. – Aus der zahlreichen Literatur zum Gebet sei nur einiges exemplarisch genannt: SCHARBAU (Hg.): Das Gebet; LUIBL: Des Fremden Sprachgestalt; SCHAEFFLER: Das Gebet und das Argument; EBELING: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, 192ff. 242 LUTHER: Predigt am 18. Mai 1539, WA 47, 758,24–26. Vgl. dazu BEUTEL: In dem Anfang, 466ff. Gerhard Ebeling hat darauf hingewiesen, dass das Gebet eine ganz einzigartige Form der Verwendung von Sprache ist: In ihm wird „ein anderweitig nicht feststellbarer Adressat angesprochen […], von dem aber zugleich aufs entschiedenste bestritten wird, daß es sich um einen nur potentiellen oder imaginären Adressaten handele“. Insofern wird im Gebet wie sonst nirgends die Wirklichkeit Gottes behauptet (EBELING: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, 201f). Ähnlich STOLT: Zum Katechismusgebet, 72. 240
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wie ein Rauch …). Doch auch in der Feindesklage (Ps 102,9: Täglich schmähen mich meine Feinde) und in der Gottesklage (Ps 102,11: Du hast mich hochgehoben und zu Boden geschleudert) spricht der Beter von sich („meine“, „mich“).243 Klage als die eine Grundform des Gebets zeichnet sich mithin durch „ein Ineinander von Gottesbezug […], Selbstbezug […] und Weltbezug“244 aus. Und auch im Dankpsalm spricht der Mensch von sich selbst.245 Insofern kann man sagen: Im Gebet spricht der Beter sich aus – und zwar auf Gott hin.246 Vollzieht sich die explizite Selbstannahme primär im Gebet, dann wird dadurch deren Grundstruktur eines impliziten Gottesbezugs (indem ich mich selbst annehme, beziehe ich mich auf Gott) in einen expliziten Gottesbezug überführt. Im Gebet nimmt sich der Glaubende in besonderer Weise wahr, hier vollzieht sich der erste Schritt der differenzierten Selbstannahme: Seine bisherige „Selbstreflexion“, die ihn „nur in den eigenen Wirkungszusammenhang einschließt“,247 wird unterbrochen;248 und er hört den, der ihn durch und durch kennt (Ps 139).249 Im Gebet vollzieht sich aber auch der zweite Schritt, die eigentliche Annahme, nämlich dann, wenn der Mensch sich Gott im Gebet zu erkennen gibt.250 Der Mensch bejaht das Wahrgenommene als ihm zugehörig, indem er sich so, wie er sich wahrgenommen hat, Gott zu erkennen gibt. Wer Gottes Annahme annimmt, der braucht sein faktisches Selbst nicht vor Gott zu verbergen. 243
Vgl. WESTERMANN: Lob und Klage, 48ff. JANOWSKI: Konfliktgespräche, 42 (Hervorhebung im Original getilgt). 245 Vgl. dazu WESTERMANN: Lob und Klage, 76f. Ganz auf Gott gerichtet ist der Blick des Beters dagegen in den JHWH-König-Psalmen und den Zionsliedern. 246 Vgl. EBELING: Das Gebet, 413. 247 SAUTER: Die Wahrnehmung des Menschen, 498. 248 In den alttestamentlichen Klagepsalmen zeigt sich diese Unterbrechung besonders eindrücklich. Denn es gibt „keinen Klagepsalm, der bei der Klage stehenbleibt“ (JANOWSKI: Konfliktgespräche, 46). 249 Vgl. SAUTER: Die Wahrnehmung des Menschen, 498: „Was theologisch vom Menschen gesagt werden kann, erschließt sich im Beten, und allein dort kann der Mensch erkennen, wer er ist. Dies können wir nur hörend erfahren.“ Vgl. auch CAPPS: Life Cycle, 93: In exploring „our experiences […] in the atmosphere of prayer, we orient ourselves to God’s own perspective on these experiences“. – Ganz entscheidend für diesen Gedanken ist, dass das Gebet eine personale Begegnung zwischen Gott und dem Menschen ist (vgl. BAYER: Theologie, 273) und nicht etwa ein Verhältnis zu dem, „an dem ich schon immer partizipiere, das in mir ist und ich in ihm“ (ebd. in Paraphrase der kritisierten Position Paul Tillichs, bei dem das Gebet „letztlich ein Selbstverhältnis“ sei [ebd.]). 250 Vgl. ULANOV/ULANOV: Primary Speech, 6: In prayer, we „stop denying, say yes to the moral bumps and rhythmic breaks and disfigurations […] We do not necessarily bless them this way, or even fully support them. We simply accept the fact that they exist in us, that they are part of us, and that they cannot be denied.“ 244
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Die Urgeschichte erzählt von Adam und Eva, die, als sie sich selbst251 wahrnahmen, sich vor Gott fürchteten und meinten verstecken zu müssen (Gen 3,7f),252 weil sie „sich gegenüber Gott nicht satisfaktionsfähig“253 fühlten. Der Mensch, der um Gottes Annahme weiß, kann dagegen sich Gott zu erkennen geben, weil er sich von Gott gerechtfertigt weiß. Er kann sich mit allem, was er an sich wahrnimmt, Gott zeigen, ohne die Angst haben zu müssen, Gottes Annahme dadurch zu gefährden und aus der Gemeinschaft mit Gott vertrieben zu werden. Er kann sich zu erkennen geben, weil er weiß, dass die Zuwendung Gottes nicht ein Ende findet, wenn er dies tut.254 251 Und zwar „wirklich“, weil im Wissen um Gut und Böse (vgl. DREWERMANN: Strukturen des Bösen, 72). 252 Drewermann macht deutlich, dass der Grund für das Verstecken beim Menschen zu suchen ist: „Was früher Schutz, Geborgenheit und Sicherheit versprach, daß Gott den Menschen sieht und schützt […], wird jetzt zur Quelle des Unerträglichen. […] Die Menschen setzen gewissermaßen schon voraus, daß Gott sie jetzt ‚nicht mehr sehen kann‘, und verstecken sich vor ihm.“ (Ebd., 79f). 253 SEEBASS: Genesis I, 123. 254 Ein ähnlicher Zusammenhang auf zwischenmenschlicher Ebene ist von der Psychologie immer wieder geltend gemacht worden – allerdings mit einem anderen Annahme-Verständnis als dem hier vorgeschlagenen (siehe zu dieser Differenz oben § 7.2.1.3). Vgl. zum Beispiel WARDETZKI: Weiblicher Narzißmus, 220: Für die psychische Genesung einer Person ist die Erfahrung entscheidend, „sich in einer Beziehung mit ihren tiefsten Gefühlen und Geheimnissen zeigen zu dürfen und [dennoch] die Zuwendung des anderen nicht zu verlieren, sondern zu spüren, daß sie unterstützt und ermutigt wird, immer mehr von sich zu zeigen“. Rogers bringt den gleichen Gedanken zur Geltung, wenn er betont: „[…] erst wenn ich […] Sie akzeptiere, fühlen Sie sich wirklich frei, all die verborgenen Winkel und ängstlich gemiedenen Nischen Ihrer inneren und oft begrabenen Erfahrung zu erforschen“ (ROGERS: Entwicklung der Persönlichkeit, 48). Diese Akzeptanz impliziert für Rogers „eine völlige Freiheit von irgendeiner moralischen oder diagnostischen Bewertung“; denn solche Bewertungen sind nach Rogers „immer bedrohlich“ (ebd.). Dazu ist zu sagen: Gottes Nein zu dem an uns, was die Gemeinschaft zerstören würde, wenn Gott nicht an ihr festhielte, ist nicht „bedrohlich“; denn es stellt die Gemeinschaft, die Gott uns gewährt, nicht in Frage. Weil diese Gemeinschaft dadurch eben gerade nicht gefährdet wird, muss Gottes Annahme sich auch nicht auf jeden „schillernden Aspekt“ (siehe oben § 7.2.1.3) unserer Persönlichkeit beziehen. – Der Gedanke, dass eine Atmosphäre der Annahme notwendig dafür ist, dass der Mensch sich einem anderen gegenüber öffnen kann, wird vor allem in der sog. „therapeutischen Seelsorge“ geltend gemacht. Vgl. dazu die Wiedergabe der Position bei HAUSTEIN: Annahme, 279: „Der Mensch vermag sein Inneres nur in einer bedrohungsfreien Atmosphäre zu erschließen. Offenbaren seiner selbst bedeutet immer eine riskante Auslieferung, die man allein auf der Grundlage des Angenommenseins und des Vertrauens vollzieht.“ Vgl. zu dieser Konzeption insgesamt STOLLBERG: Therapeutische Seelsorge. Thomas C. Oden stellt als theologische Grundlage der therapeutischen Annahme die Annahme Gottes heraus: „There is a significant analogy between the radical divine acceptance which is the subject of the Christian kerygma and the radical therapeutic acceptance which enables the client to accept himself.“ (ODEN: Kerygma, 63) Insofern gelte: „The counselor is not the source of acceptance; he only points to an acceptance that has its source beyond himself.“ (Ebd., 22) Kritiker wenden ein, dass aus dieser Analogie nur zu leicht eine „Identifikation“ werde, bei der „das rechtfertigende Handeln Gottes sich nicht anders konkretisiert als durch das akzeptierende Verhalten der miteinander kommunizierenden Menschen“ (TACKE: Glaubenshilfe, 141f).
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Wenn der Erzähler Gott fragen lässt: „Wo bist du?“ (Gen 3,9), dann nicht deshalb, weil Gott das nicht wüsste,255 und auch nicht deshalb, weil Gott den Menschen wie ein Richter verhören möchte.256 Vielmehr ist das Sich-zu-erkennen-Geben offensichtlich für den Menschen entscheidend.257 Das Sich-zu-erkennen-Geben ist des Menschen Antwort auf den Ruf „Wo bist du?“ (Gen 3,9). Diese Antwort ist für den Glaubenden ohne Angst möglich, weil der Ruf „Wo bist du?“ „‚in Christus‘ […] zum Ruf der Gnade geworden“258 ist. Schließlich hat auch der dritte Schritt, die konkrete Unterscheidung, seinen Ort im Gebet. Denn Gottes Anreden des Menschen im Gebet kann sich inhaltlich als ein kritiko.j evnqumh,sewn kai. evvnnoiw/n kardi,aj (Hebr 4,12) erweisen. Der Mensch antwortet darauf, indem er Gott um Veränderung dessen bittet, was unter Gottes Nein fällt – wohl wissend, dass man Gott nicht „um etwas bitten [kann], das man nicht in den Grenzen seiner Möglichkeiten herbeizuführen im selben Augenblick entschlossen und bereit ist“.259 Die drei vorgestellten Schritte der differenzierten Selbstannahme können nun in Bezug auf des Menschen Eigenschaften, seine Geschichte und seine Umstände entfaltet werden. 3.4.3 Differenzierte Annahme der eigenen Eigenschaften Als erstes Charakteristikum des faktischen Selbst seien seine Eigenschaften in den Blick genommen. Dabei interessieren insbesondere die Eigenschaften, die sich (wie eine bestimmte Richtung der differentiellen Psychologie behauptet) aus wiederkehrenden Verhaltensweisen eines Menschen als Dispositionen zu diesem Verhalten abstrahieren lassen260 und dazu benutzt werden, um das, was man vorwissenschaftlich unter der „Persönlichkeit“ 255 So allerdings GUNKEL: Genesis, 19; dagegen mit ausführlicher Begründung JACOB: Das Buch Genesis, 109. 256 Gegen ein derartiges Verständnis als Verhör spricht sich beispielsweise aus SEEBASS: Genesis I, 122, aber auch bereits JACOB: Das Buch Genesis, 109. 257 Vgl. DREWERMANN: Strukturen des Bösen, 80f: „Es geht Gott um den Menschen, wenn er fragt, und darum, daß die Menschen das Einzige tun, was ihre Lage jetzt noch retten könnte: daß sie eindeutig Stellung nehmen und Gott ihre Schuld gestehen“. 258 BULTMANN: Adam, wo bist du?, 116. 259 K. BARTH: Rechtfertigung und Recht, 42. 260 Vgl. SADER/WEBER: Psychologie der Persönlichkeit, 96ff, und PERVIN: Persönlichkeitstheorien, 225. „Die Eigenschaft ‚aggressiv‘ würde einem Menschen beispielsweise dann zugeschrieben, wenn er in unterschiedlichen Situationen […] immer wieder dazu neigt, sich schnell provoziert zu fühlen und eben aggressiv zu reagieren.“ (SADER/WEBER: Psychologie der Persönlichkeit, 96).
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eines Menschen versteht, zu umschreiben.261 Sie sind deshalb von besonderem Interesse, weil sie das am faktischen Selbst sind, was für des Menschen Verhalten, also für seinen Umgang mit der Welt, in ausgeprägter Weise bedeutsam ist.262 Ein Mensch, der sich als von seinen Eigenschaften unterschieden versteht, kann sich, das wurde bei Kierkegaard eindrücklich sichtbar, mit seinen Eigenschaften auseinandersetzen. Zwar wird der Sünder mit seinen Eigenschaften in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommen. Seine Eigenschaften werden damit jedoch nicht einfach „gut“. Die Botschaft der Rechtfertigung ist verkannt, wenn man sie mit einem „ich bin gut“ meint wiedergeben zu können.263 Christliche Annahme der eigenen Eigenschaften bedeutet entsprechend kein „Ich bin (eben), wie ich bin.“ Sie bedeutet vielmehr die oben beschriebene differenzierte Selbstannahme, in der letztlich zwischen Dingen, die „endgültig“ angenommen werden sollen, und Dingen, die verändert werden sollten, unterschieden wird. Christliche Selbstannahme heißt zu sagen: „Ja, so bin ich, aber ich muß nicht so bleiben“.264 Der erste Schritt dieser differenzierten Selbstannahme besteht darin, die eigenen Eigenschaften wahrzunehmen. Der Mensch nimmt wahr, wie er ist.265 Der zweite Schritt besteht darin, diese Eigenschaften als die seinen „anzunehmen“, d.h. zu sagen: Ja, so bin ich! Im dritten Schritt kommt schließlich die oben beschriebene Unterscheidung zur Geltung, wie nun zu explizieren ist. 261 Derartige Eigenschaften müssen nicht unveränderbar sein (vgl. ASENDORPF: Psychologie der Persönlichkeit, 83ff). 262 Die Eigenschaften, von denen im Folgenden gesprochen wird, sind von der grundsätzlichen Feindschaft des Menschen gegen Gott zu unterscheiden. Diese ist keine Eigenschaft des Menschen, sondern betrifft sein Sein als ganzes. 263 So MOLTMANN-WENDEL: Feministische Rechtfertigungslehre?, 354ff. Moltmann-Wendel versteht ihren Ansatz ausdrücklich als Explikation dessen, was es heißt, „sich von Gott angenommen zu wissen“, und als Interpretation von Luthers Satz (LUTHER: Heidelberger Disputation. 1518, WA 1, 365,11f): „[…] peccatores sunt pulchri, quia diliguntur, non ideo diliguntur, quia sunt pulchri“ (MOLTMANN-WENDEL: Feministische Rechtfertigungslehre?, 353). MoltmannWendel umschreibt die Rechtfertigungsbotschaft als „Botschaft, dass Menschen gut und gerecht vor Gott sind“ (ebd., 354), und betont, dass es darauf ankomme, „sich, so wie ich bin, als gut und richtig [zu] erleben“ (ebd., 355). Damit aber übergeht sie, dass Menschen nur in Gottes liebendem Hinsehen gut gemacht werden. Das „Gut-Sein“ des Menschen ist eben gerade keine „Seinskategorie“ (ebd., 357), sondern bleibt beständig auf Gottes „gutmachende“ Annahme angewiesen. In seiner Annahme unterscheidet Gott sehr wohl zwischen Gutem und Schlechtem am Menschen, nur macht er eben seine Zuwendung zum Menschen nicht davon abhängig. Was Moltmann-Wendel letztlich erreicht, ist eine Rechtfertigung der Eigenschaften des Menschen, die mit dem in dieser Arbeit vorgetragenen Ansatz gerade vermieden werden soll. 264 Vgl. GUARDINI: Gläubiges Dasein, 15: „[…] ich bin so; aber ich will anders werden“. 265 Die Frage, wer er ist, ist durch sein Aufgenommensein in die Gemeinschaft mit Gott beantwortet.
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Eigenschaften dürfen ohne Zweifel dann nicht „endgültig“ angenommen werden, wenn es sich um Dinge handelt, die unter Gottes Nein stehen. Dies ist, wie bereits entwickelt, alles am Menschen, was der Gemeinschaft mit Gott nicht entspricht und was die Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch zerstört. In diesem Fall wird die im zweiten Schritt skizzierte „Annahme“ zu einer „transitorischen“ Annahme entsprechend derjenigen des seine Sünde Bekennenden. Die Annahme dieser Dinge ist hier wieder nur der notwendige Zwischenschritt, um davon frei werden zu können.266 Ziel ist die Veränderung der gemeinschaftszerstörenden Eigenschaften. Primärer Ort dieser Wahrnehmung, differenzierten Annahme und Unterscheidung ist – wie bereits gesagt – das Gebet. Im Gebet kann der Mensch seine Eigenschaften unter dem Blick Gottes wahrnehmen. Indem der Beter zu Gott von seinen Eigenschaften spricht, gibt er sich Gott zu erkennen. Und indem er Gott um Veränderung seiner Eigenschaften bittet, bringt er Gottes Nein zu seinen gemeinschaftszerstörenden Eigenschaften zur Geltung. Man beachte: Es wird nicht behauptet, dass der Mensch in dieser Veränderung „das mit dem eigenen Selbst von Schöpfungs wegen Gemeinte […] verwirklichen“ soll.267 Die Veränderung orientiert sich nicht an einem irgendwie in der Schöpfung gesetzten, substantiellen268 Selbst, das der Mensch werden soll. Was verändert werden soll, orientiert sich allein an der Rechtfertigung, an des Menschen Aufgenommensein in die Gemeinschaft mit Gott.269 Des Menschen Eigenschaften sollen dem, dass Gott mit ihm und allen Menschen eine Gemeinschaft eingegangen ist,270 immer mehr entsprechen. Dieser Zusammenhang kann auch mit der Kategorie „Heiligung“ ausgedrückt werden, welche nach neutestamentlicher Vorstellung in zweifacher Akzentuierung zu verstehen ist: Der Christ ist durch die Aufnahme in die Gemeinschaft mit Gott, durch seine Rechtfertigung, bereits geheiligt (1Kor 266 Mit der Vorstellung von einer transitorischen Selbstannahme wird Formulierungen widersprochen wie Selbstannahme heiße: „Ich soll damit einverstanden sein, der zu sein, der ich bin. Einverstanden, die Eigenschaften zu haben, die ich habe.“ (GUARDINI: Die Annahme, 16) Differenzierter aber GUARDINI: Tugenden, 31: Annahme meint „kein schwächliches Über-sich-Ergehenlassen“, sondern bedeutet „die Wahrheit zu sehen“ und „die Arbeit an ihr, und, wo nötig, den Kampf für sie aufzunehmen“. Vgl. auch das in Anm. 226 Zitierte, das erkennen lässt, dass Guardini durchaus die Notwendigkeit der Veränderung im Blick hat. 267 So S.E. MÜLLER: Zustimmung zum eigenen Dasein, 103. 268 Auch Kierkegaards Rede vom Gesetztsein des Selbst hatte nichts Substantielles im Sinn (siehe oben § 4). 269 Siehe dazu oben zur Differenz von ursprünglichem und rechtfertigendem Ja Gottes § 7.2.1.3. 270 Insofern bringen die vorliegenden Ausführungen zur Geltung, was für die paulinische Bestimmung des Verhältnisses des Christen zu sich selbst kennzeichnend ist: Die individualethischen Überlegungen des Paulus sind „überwiegend gemeinschaftsbezogen“ (SCHRAGE: Ethik, 229).
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6,11), „[…] geheiligt wird der, den Gott mit sich verbindet und in die Gemeinschaft mit sich selbst hineinstellt“.271 Schon dadurch verändert sich, wie gesagt,272 der Mensch. Der Mensch soll aber diesem Geheiligtsein entsprechend und also heilig leben (1Thess 4,3; 2Kor 7,1); der Begriff Heiligung bezeichnet mithin „zugleich das Werden einer der Zugehörigkeit zu Gott entsprechenden Lebensgestalt“.273 Indem der Mensch nun darum bittet, dass seine gemeinschaftszerstörenden Eigenschaften in gemeinschaftsfördernde Eigenschaften verändert werden, bittet er darum, in seinen Eigenschaften (die sich in bestimmten Handlungen gegenüber der Welt äußern) seinem Hineingenommensein in die Gemeinschaft mit Gott immer mehr zu entsprechen. Er bittet darum, durch und durch geheiligt (1Thess 5,23) zu werden274 – wohl wissend, dass er in dieser Welt damit nicht ans Ende kommt und dass die „prozesshafte Heiligung […] sich nicht nach Graden feststellen“275 lässt. Dass diese Heiligung, also die Veränderung seiner Eigenschaften,276 nicht ohne des Menschen Mitwirkung geschieht, wird in der Konkordienformel deutlich gemacht: An seiner Heiligung kann und soll der Mensch „durch die Kraft des Heiligen Geists mitwirken“.277 Diese Mitwirkung oder cooperatio geschieht aber „non ex nostris carnalibus et naturalibus viribus […], sed ex novis illis viribus et donis, quae spiritus sanctus in conversione in nobis inchoavit“.278 Weil Heiligung nicht auf „sittliche Vervollkommnung“279 zielt, sondern ganz von dem Hineingenommensein in die Gemein271
JOEST: Art. „Heiligung III.“, 180. Siehe oben § 7.2.1.3. 273 JOEST: Art. „Heiligung III.“, 180. In § 7.3.4.1 wurde die Rede von einem Werden von etwas, was der Mensch bereits ist, abgelehnt. Hier ist aber nicht ein solches Werden gemeint, sondern das Werden einer durch Handeln bestimmten „Lebensgestalt“, welche ihrerseits aus dem entspringt, was das Sein des Menschen qualifiziert, sc. seine Zugehörigkeit zu Gott. 274 Einen ähnlichen Gedanken hat Stanley Hauerwas geltend gemacht: „If we are to be changed in any fundamental sense, then it must be a change of character.“ (HAUERWAS: Character, 203; vgl. ebd.: „Christian character is the formation of our affections and actions according to the fundamental beliefs of the Christian faith and life.“) Es gilt: „Sanctification is not a mysterious process that occurs behind or apart from our actual behavior but is worked out in and through our beliefs and actions.“ (Ebd., 207) Die Veränderung des Charakters ist „an affair of the ‚whole heart,‘ where each action is formed in relation to God’s being for us“ (ebd., 213). Vgl. dazu HÜTTER: Evangelische Ethik, 144ff. 275 BAYER: Martin Luthers Theologie, 265. 276 Eigenschaften, die für die Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen weder von negativer noch von positiver Bedeutung sind, die der Mensch aber an seinem faktischen Selbst meint nicht ertragen zu können, gehören nicht in den Bereich der Heiligung. Hier ist eine andere Form von „transitorischer“ Selbstannahme gefordert. Denn es ist nicht das Nein Gottes, unter dem diese Eigenschaften stehen, sondern das Nein des Menschen selbst. Hier hilft die Psychologie dabei, nach dem Grund für dieses Nein zu fragen. 277 Konkordienformel. Solida Declaratio II, BSLK 897,40f. 278 Ebd., 898,1–4. 279 So die Kritik von STÄHLIN: Art. „Heiligung II.“, 179f, an „manchen christlichen Gruppen“. 272
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schaft mit Gott her bestimmt ist,280 ist sie nichts, was zur Rechtfertigung als ihr fremd hinzukommt, sondern „eine Einübung im rechtfertigenden Glauben“.281 Ähnlich, wie hier vorgeschlagen, verortet auch Karl Barth den Umgang des Menschen mit seinen Eigenschaften: im Horizont der Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen. Er ordnet nämlich die Originalität der menschlichen Eigenschaften der Originalität seines Angeredetseins durch Gott unter. Letztere Originalität des Menschen besteht darin, „ein Original“ zu sein „[v]or Gott und als der, als den Gott ihn anredet“.282 Die Originalität der menschlichen Eigenschaften dagegen ist „der mehr oder weniger scharfe Umriß des Ich, als das jeder Mensch sich zu besitzen und zu kennen meint“, sein „Naturell“.283 Dieses „Naturell“ ist nach Barth „nur Material für seine besondere Lebensgestalt, die […] das Ziel seiner Geschichte ist“, für den „Charakter, den zu gewinnen ihm geboten ist“.284 Der „Charakter“ des Menschen aber ist „sein von seinem Sein von Gott her diszipliniertes Naturell“, wobei „diszipliniert“ meint: „geordnet, ausgerichtet, in seinen Schranken zurückgehalten, aber auch ausgestreckt“.285 Er ist „die eigentümliche Prägung und Bestimmung des Lebenslaufs und der Lebensgestalt eines Menschen von der Mitte jenes Du her, als das er von Gott angeredet ist“;286 diese hat ihr Ziel darin, 280 Vgl. JOEST: Art. „Heiligung III.“, 180 (Hervorhebung im Original): Heiligung ist „ein Verhältnis- und Zugehörigkeitsbegriff, der nicht eine Eigenschaft des Menschen in sich selbst, sondern sein Leben im Stand der Zugehörigkeit zu Gott bezeichnet“. 281 EBELING: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, 242. 282 K. BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. III/4, 441. Vgl. ebd., 443: „Es ist diese Anrede und also dieses Du [als das der Mensch von Gott angeredet ist], das sein Leben inmitten des Stroms des ganzen geschöpflichen Wesens unverwischbar auszeichnet, von dem her er aus einer Partikel in einer Masse, aus einem Exemplar eines bestimmten Typus in einen, diesen Jemand verwandelt wird.“ Vgl. ebd., 444: „Der Sinn der Einzigartigkeit des Lebens jedes einzelnen Menschen ist die Einzigartigkeit der Barmherzigkeit, in der Gott sich unter allen gerade ihm zuwendet“. Ähnliches konnte ja auch bei Kierkegaard herausgearbeitet werden: Seine endliche Originalität nimmt der Mensch an, wenn er begreift: Er selbst ist als individueller Mensch wichtig für Gott (siehe oben Das geheilte Selbst Teil 2). 283 Ebd., 442. 284 Ebd. Barth beschreibt diesen Prozess der Charaktergewinnung in Anlehnung an die Formel: „Werde, der du bist“: „Werde, was du bist! heißt also: Wachse hinein in deinen Charakter, bekenne dich zu dem Umriß deiner besonderen Lebensgestalt, zu der Existenzform, die sich in deinem besonderen Kampf des Geistes gegen das Fleisch immer deutlicher als die deinige, als die dir zugedachte, als die Form des gerade dir von Gott zugesprochenen und verliehenen Lebens herausstellen wird! Eben in dieser Form bist du nämlich in den Augen des ewigen Gottes (und darum in Wirklichkeit!) heute schon, was du bist. Eben dieser Form bist du also verpflichtet.“ (Ebd., 442f). 285 Ebd., 443 (Hervorhebung im Orginal). 286 Ebd. (Hervorhebung im Original getilgt). Barth nennt dieses Du das „Du-Ich“, wobei „Du“ nicht Gott meint, sondern eben das „von Gott geschaffene[…] und angeredete[…] Selbst“ (ebd., 441). Der Mensch ist dazu aufgefordert, in diesem „Du-Ich“ „er selbst zu sein“ (ebd.). Dieses DuIch zu bejahen ist die „dem Menschen durch Gott gebotene Selbstbejahung“ (ebd., 440).
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dass der Mensch sich Gott für den gehorsamen Dienst zur Verfügung stellt.287 Barth hält dafür, dass ein derartiger Prozess nie zum Abschluss kommt, sondern ein offener ist. Wer diesen eben beschriebenen Charakter „für eine abgeschlossene und also überblickbare und verfügbare Größe ansehen und sich dementsprechend – ‚ich bin nun einmal so!‘ – verhalten würde, der hätte ihn wohl schon wieder mit seinem Naturell […] verwechselt. […] das wirkliche Selbst […] ist bei aller Kontinuität, Disziplin und Prägung bis zuletzt auf der Fahrt nach immer neuen Ufern“.288 3.4.4 Differenzierte Annahme der eigenen Geschichte Zum faktischen Selbst des Menschen zählt auch seine Geschichte. Ein Mensch, der sich von seiner Geschichte unterschieden weiß, kann sich mit ihr auseinandersetzen. Denn er weiß, dass sein Wert als Person nicht davon abhängig ist, was er in seiner Vergangenheit getan oder nicht getan hat, was ihm geschehen oder nicht geschehen ist.289 Und er muss sich mit seiner Geschichte auseinandersetzen, um nicht von ihr dominiert zu werden und einem „Zwang zur Wiederholung“290 der Geschichte zu erliegen. Auch der Christ wird, wie gesagt, von seiner Geschichte nicht in dem Sinne frei, als sei sie nicht passiert. Im ersten Schritt der differenzierten Annahme erinnert er seine Geschichte. Erinnert wird dabei nicht ein „objektiv beschreibbare[r…] Erfahrungsweg“, sondern die „subjektive Geschichte eines bestimmten Wegs durch die erfahrbare Welt“.291 Im Erinnern kommt es zu einem „erneute[n…] Verstehen von schon einmal (irgendwie) Verstandenem“.292 Weil der, der Gottes Annahme glaubt, keine Angst davor hat, wegen der möglichen Entdeckung bislang verborgener Ereignisse Gottes Annahme zu verlieren, kann er seine Geschichte so ehrlich ansehen wie möglich.293 287
Vgl. K. BARTH: Die kirchliche Dogmatik, Bd. III/4, 444f. Ebd., 444. 289 Die Unterscheidung zwischen dem, was der Mensch getan hat, d.h. dem, wo er aktiv war, und dem, was dem Menschen geschehen ist, d.h. dem, wo er passiv war, ist keine scharfe. Der Mensch ist nur gegenüber dem rechtfertigenden Gott rein passiv. Dennoch kann diese Unterscheidung sinnvoll sein, weil der Mensch im einen Fall um Vergebung bitten, im anderen aber vergeben muss. Interessanterweise ist das Vergeben dann seinerseits durch den „Verzicht auf das Einnehmen der Opferrolle“, d.h. durch das Einsehen, gerade nicht immer nur passiv gewesen zu sein, gekennzeichnet (WEINGARDT: Der Prozeß des Vergebens, 115). 290 Ebd., 58 mit Verweis auf RICOEUR: Le pardon peut-il guérir?, 78. 291 KETTNER: Nachträglichkeit, 37. 292 Ebd., 38. Vgl. I. FISCHER: Erinnern als Movens, 12. 293 Zu diesem ehrlichen Erinnern gehört auch das Wahrnehmen der Perspektive der anderen Menschen, die an dieser Geschichte beteiligt waren. 288
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Im zweiten Schritt nimmt er sie als die seine „an“, d.h. bejaht, dass dies seine Geschichte ist. Letzteres geschieht, indem der Mensch Gott auf die Fragen: „Was hast Du getan?“ (Gen 4,10) und „Was wurde Dir getan?“ antwortet. Dieses Annehmen kann selbstverständlich nicht bedeuten, die Geschichte als solche zu bejahen. Gott hat nicht die Geschichte des Menschen angenommen, sondern den Menschen, der diese Geschichte hat. Er bejaht nicht pauschal dessen Geschichte, sondern ihn als Glied der Gemeinschaft. Die Geschichte steht vielmehr unter Gottes Nein und Ja. Unter Gottes Nein steht, was an Gemeinschaftsförderndem unterlassen und an Gemeinschaftszerstörendem getan wurde. Unter Gottes Ja steht, was Gemeinschaftsförderndes getan und Gemeinschaftszerstörendes unterlassen wurde. Sich der eigenen Geschichte im Gebet zu erinnern bedeutet wahrzunehmen, wo in der Geschichte Gemeinschaft mit Gott erfahrbar und Gemeinschaft mit anderen Menschen möglich war. Die Zeiten seiner Geschichte, in denen der Mensch sich auf die Gemeinschaft mit Gott eingelassen hat294 bzw. in denen Gemeinschaft mit den Mitmenschen möglich war, nimmt der Mensch darin an, dass er Gott für sie im Gebet dankt. Die Zeiten seiner Geschichte, in denen er selbst Gemeinschaftsförderndes unterlassen und Gemeinschaftszerstörendes getan hat, nimmt er darin an, dass er sie Gott im Gebet bekennt. Die Zeiten seiner Geschichte, in denen ihm von Menschen Gemeinschaftsförderndes verweigert und Gemeinschaftszerstörendes angetan wurde, bejaht er darin, dass er sie Gott im Gebet klagt. Und auch die Zeiten seiner Geschichte, in denen Gottes Nähe nicht erfahrbar war, obwohl Gottes Annahme ihm immer gilt, nimmt er darin an, dass er sie Gott im Gebet klagt. Nun ist die Geschichte eines Menschen vergangen. Sie kann nicht mehr verändert werden. Eine Frage nach dem, was verändert werden soll, wäre hier sinnlos. Sinnvoll ist es aber, die Unterscheidung zwischen dem, was Gemeinschaft zerstört, und dem, was Gemeinschaft gefördert hat, weiter fruchtbar zu machen: Das, was der Mensch selbst Gemeinschaftszerstörendes getan und Gemeinschaftsförderndes unterlassen hat, darf der Mensch nicht in dem Sinne annehmen, dass er sagt: Ja, das habe ich getan (resp. nicht getan); und das ist auch gut so! Seine Annahme muss vielmehr auch hier eine „transitorische“ sein, die nur ein Zwischenschritt ist dahin, Gott im Gebet um Vergebung für diese Taten und Unterlassungen zu bitten. Dass Gott dem Menschen tatsächlich Vergebung für seine Taten und Unterlassungen gewährt (nicht: seine Taten und Unterlassungen annimmt!), muss den Menschen dann seinerseits, so wurde bei Kierkegaard deutlich, 294
Gottes Annahme gilt immer. Aber der Mensch lässt sich nicht immer auf sie ein.
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dazu bringen, sich nun auch selbst wegen seiner Taten und Unterlassungen nicht weiter anzuklagen. Dies aber ist nur nach erfolgter Vergebung angemessen.295 Auch bei dem, was dem Menschen durch andere Menschen296 Gemeinschaftszerstörendes angetan bzw. Gemeinschaftsförderndes verweigert wurde, ist eine „transitorische“ Annahme gefordert, die ihr Ziel letztlich darin findet, dass der Mensch den anderen diese Taten oder Unterlassungen vergibt.297 Dieses Vergeben darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob der andere seinerseits seine Schuld einsieht und um Vergebung bittet. Es ist der vergebende Mensch, der „Verantwortung für die gestörte Beziehung“298 übernimmt; das „Entscheidende der Vergebung spielt sich […] im Vergebenden ab“.299 Indem er anderen vergibt, was sie ihm angetan haben, kann der Mensch mit seiner Vergangenheit versöhnt leben.300 Die beschriebene dreischrittige Annahme der eigenen Geschichte ist nicht etwas ein für allemal Abgeschlossenes – und zwar schon deshalb nicht, weil der Mensch seine Geschichte immer aus der jeweils gegenwärtigen Perspektive wahrnimmt.301 Sie ist aber in aller Vorläufigkeit notwendig dafür, sich den gegenwärtigen Umständen stellen zu können. 3.4.5 Differenzierte Annahme der eigenen Umstände Zum faktischen Selbst zählen schließlich die gegenwärtigen Umstände, unter denen der Mensch lebt, seine gegenwärtige Situation. Ein Mensch, der sich von seinen Umständen unterschieden weiß, kann sich mit den Umständen, in denen er lebt, auseinandersetzen. Auch hier ist der erste Schritt der differenzierten Annahme zunächst ein ehrliches Wahrnehmen der eigenen Situation. Weil der Mensch mit seinen Umständen in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommen ist, kann er
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Vgl. dazu WEINGARDT: Der Prozeß des Vergebens, 56f. Bei den leidvollen Dingen in seiner Geschichte, an denen kein Mensch beteiligt war, bleibt nur die Klage. 297 Dass dieses Vergeben ein langer und anstrengender Prozess ist, dazu vgl. WEINGARDT: Der Prozeß des Vergebens, 110ff. 298 Ebd., 44 (Hervorhebung im Original getilgt). 299 Ebd. (Hervorhebung im Original). Schuldeinsicht und Reue des anderen entscheidet nur darüber, ob es zur Versöhnung kommt (vgl. ebd.). 300 Vgl. STUDZINSKI: Erinnere dich, 89: Vergebung macht „uns von Gefangenen der Vergangenheit zu befreiten Menschen […], die mit ihren Erinnerungen an die Vergangenheit ihren Frieden haben“. 301 Vgl. KETTNER: Nachträglichkeit, 60: „[…] im Erinnern [wird] die Vergangenheit vom Verständnis der Gegenwart aus entworfen“. 296
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ehrlich analysieren, wie seine Umstände wirklich sind. Und er kann wahrnehmen, wie er bislang mit ihnen umgegangen ist. Kierkegaard war der Meinung, ein Mensch dürfe Umstände, denen er sich ausgeliefert fühlt, gerade nicht bejahen, weil er sonst übergehe, dass diese sehr oft veränderbar seien.302 Wenn hier dennoch davon gesprochen wird, dass der Mensch im zweiten Schritt diese Umstände als die seinen „annehmen“ soll, dann wieder im Sinne der „transitorischen“, d.h. Veränderung gerade nicht ausschließenden Annahme. Die eigenen Umstände anzunehmen heißt vor allem: sie als selbst zu gestaltende und zu verändernde zu übernehmen.303 Kriterium für deren Veränderung ist, ob in den gegenwärtigen Umständen die Gemeinschaft mit anderen Menschen gefördert oder zerstört wird.304 Wie gut derartige Veränderungen gelingen, wird mit davon abhängen, ob ein Mensch die beschriebene differenzierte Annahme der eigenen Eigenschaften und der eigenen Geschichte unternimmt. Denn seine Bemühungen um eine Veränderung der Umstände sind Umgang mit der Welt, also durch seinen Umgang mit seinen Eigenschaften und seiner Geschichte bestimmt.305 Auch diese differenzierte Annahme hat ihren primären Ort im Gebet. Im Gebet bringt der Mensch seine gegenwärtigen Umstände vor Gott und wird sich so dessen bewusst, dass er auch in dieser Situation in Gottes Hand ist.306 Er bittet Gott um seine Hilfe. Damit nimmt er seine notvollen Umstände als eigene an und bittet Gott darum, diese Umstände zu verändern und ihm selbst bei der Veränderung der Umstände zu helfen. In diesem Beten macht der Mensch seine Gewissheit, von Gott angenommen zu sein, geltend. Denn er betet in der Gewissheit, gehört zu werden. Gehörtwerden aber heißt nach Gerhard Ebeling nichts anderes als „Angenommensein“.307 Insgesamt versucht der Mensch in dieser in drei Aspekten dargestellten differenzierten Selbstannahme sein Angenommensein durch Gott in seinem Umgang mit seinem faktischen Selbst geltend zu machen. Sie ist je und je zu vollziehen und kommt nie zu einem endgültigen Abschluss. Sie ersetzt
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Siehe oben Das geheilte Selbst: Zusammenschau 4 f). In den Fällen, in denen die Umstände unveränderbar sind, heißt die Umstände anzunehmen: sich klarzumachen, dass man auch in ihnen man selbst sein kann (siehe Das geheilte Selbst Teil 5). 304 Mit Gott steht der Mensch ja immer in einer Gemeinschaft. 305 Siehe oben § 7.3.3. 306 Vgl. EBELING: Das Gebet, 425: „Der entscheidende Sprachvorgang des Gebets besteht darin, […] in der konkreten Situation die Grundsituation [d.h. ‚dasjenige Beziehungsfeld, das jederzeit menschliches Leben bestimmt und fordert‘, ebd., 422; CT] zur Geltung zu bringen.“ 307 Ebd., 426. 303
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nicht die anderen fünf Formen expliziter Selbstannahme und schon gar nicht die Annahme des von Gott Angenommenseins, den Glauben. 3.5 Selbstannahme als Selbstliebe? Es muss abschließend diskutiert werden, ob diejenige Selbstannahme, die in verschiedenen Facetten expliziert worden ist, als Selbstliebe bezeichnet werden kann. Am Mythos von Narcissus wurde ja entdeckt, dass zur Liebe das wohltuende Verhältnis von Nähe und Distanz zu einem anderen gehört; deshalb wurde die Möglichkeit der Selbstliebe für Narcissus ausgeschlossen. Jetzt stellt sich die Frage nach der Selbstliebe noch einmal aus rechtfertigungstheologischer Perspektive. Man könnte ja sagen, der Mensch trete durch die Rechtfertigung in eine derartige Distanz zu sich selbst, dass nun sein Verhältnis zu sich selbst quasi das zu einem anderen ist. Könnte dann die Selbstannahme des Glaubenden als christliche Selbstliebe verstanden werden? Zur Beantwortung dieser Frage sei zunächst auf einen klassischen Befürworter der Selbstliebe geblickt. Aristoteles befasst sich im achten Kapitel des neunten Buches seiner Nikomachischen Ethik ausführlich mit der Frage, „po,teron dei/ filei/n e`auto.n ma,lista h; a;llon tina,: ob man in erster Linie sich selbst oder einen anderen lieben soll“.308 Die Antwort ist nach Aristoteles darin zu suchen, dass es zwei Arten von Selbstliebe, eine negative und eine positive, gibt: „Selbstliebe“ (filauti,a) ist dann etwas Negatives, wenn „jemand sich [selbst] von Geld, Ehre und sinnlicher Lust den größeren Teil zuwendet“;309 denn wer so lebt, lässt sich von seiner Begierde und Leidenschaft und dem „irrationalen Teil [to. a;logon]“ seiner Seele bestimmen.310 Diese Selbstliebe wird mit Recht getadelt.311 Denn sie lebt von der Benachteiligung anderer.312 Wenn ein Mensch aber danach strebt, „in seinem persönlichen Tun vor allen Dingen das zu verwirklichen, was recht oder besonnen oder sonst mit sittlichem Wesen in Einklang ist, kurz, wenn er stets das Schöne und Edle für sich zu haben wünscht“,313 dann wird man ihn nicht egoistisch nennen. 308 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik IX, 8, 1168a 28f; Übersetzung: ARISTOTELES: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, übers. von F. Dirlmeier, 206. Vgl. dazu P. SCHULZ: Freundschaft und Selbstliebe, 248ff. 309 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik IX, 8, 1168b 15–17, Übersetzung F. Dirlmeier, ebd., 207. 310 Vgl. ebd., IX, 8, 1168b 19–21, Übersetzung nach F. Dirlmeier, ebd. 311 Vgl. ebd., IX, 8, 1168b 22f. 312 Vgl. THOMÄ: Erzähle dich selbst, 173. 313 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik IX, 8, 1168b 25–28; Übersetzung: DERS.: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, übers. von F. Dirlmeier, 207.
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Dieser Mensch vollzieht vielmehr die positive Gestalt der Selbstliebe. Er dient nämlich, indem er sich derart verhält, „dem vornehmsten Teil [tw/| kuriwta,tw|] seines Selbst und gehorcht ihm in allem“; er ist „diesem seinem vornehmsten Teil in Liebe ergeben und willfährig“.314 Vornehmster Teil des Selbst ist der nou/j, der rationale, vernünftige Seelenteil, der „dem wahren Selbst des Menschen gleichzusetzen“315 ist. Wer dem rationalen Seelenteil am meisten dient, der ist im angemessenen Sinne fi,lautoj.316 Deshalb folgert Aristoteles, dass der tugendhafte Mensch sich selbst lieben soll, während der schlechte sich selbst gerade nicht lieben soll317 und nicht lieben kann.318 Liebe zu sich selbst ist nach Aristoteles mithin dann nichts Schlechtes, wenn der Mensch etwas Gutes in sich hat, was liebenswert ist.319 Sie wird ausgelöst durch das an einem selbst Liebenswerte. Indes wurde bereits bei der Beschreibung der Annahme Gottes die Behauptung Luthers herausgestellt, menschliche Liebe unterscheide sich von Gottes Liebe dadurch, dass letztere sich auf das Nicht-Liebenswerte, menschliche Liebe dagegen auf das Liebenswerte richtet.320 Aristoteles’ Beschreibung, was es heißt, sich selbst zu lieben, ist für diese menschliche Liebe ein tugendhaftes Beispiel. Die von ihm beschriebene Selbstliebe reagiert auf das, was am eigenen Selbst Gutes vorzufinden ist. Die Unterscheidung zwischen einer Liebe, die sich auf Liebenswertes richtet, und einer Liebe, die sich auf Nicht-Liebenswertes richtet, muss nun aber nicht so sehr auf die Differenz von Gott und Mensch bezogen werden. Sie benennt vielmehr, so die hier vertretene These, die Differenz zwischen christlicher und natürlicher Liebe. Im Horizont der Nächstenliebe wird dies ausführlicher begründet werden.321 Ist diese Auffassung zutreffend, dann folgt: Während die natürliche Liebe sich am Liebenswerten entzündet, kann von christlicher Liebe nur dort geredet werden, wo man sich auf das Nicht-Liebenswerte richtet: „[…] ein 314 ARISTOTELES: Nikomachische Ethik, IX, 8, 1168b 30f. 33f; Übersetzung: ARISTOTELES: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 3, 224. 315 P. SCHULZ: Freundschaft und Selbstliebe, 255. 316 Vgl. ARISTOTELES: Nikomachische Ethik IX, 8, 1168b 33f. 317 Vgl. ebd., IX, 8, 1169a 11–13. 318 Vgl. ebd., IX, 4, 1166b 17f: ouqe,n te filhto.n e;contej ouqe.n filiko.n pa,scousi pro.j e`autou,j. 319 Vgl. ebd., IX, 3, 1165b 14f: Nur tavgaqo,n ist liebenswert. Das ponhro,n dagegen ist nicht liebenswert. Vgl. ebd., VIII, 2, 1155b 18ff. P. SCHULZ: Freundschaft und Selbstliebe, 262, formuliert deshalb: Selbstliebe ist „Folge einer recht verstandenen Erziehung“. 320 Luther nimmt in der probatio zur 28. These der Heidelberger Disputation ausdrücklich auf Aristoteles Bezug (LUTHER: Heidelberger Disputation. 1518, WA 1, 365,5). Vgl. dazu DIETER: Amor hominis, 241–258. Zu des jungen Luthers Verhältnis zu Aristoteles insgesamt vgl. DERS.: Der junge Luther. 321 Siehe unten § 8.2.1.
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Christ sol seine liebe nicht schepffen von der person, wie die welt liebe thut, als ein junger gesell von einer schönen metzen […] Das heist alles ein geschepffte odder geborgte liebe, die klebt auswendig am gut, das sie an einer person sihet und nicht lenger weret, denn so lange das selbige da ist“.322 Der Christ „findet an jenem [Nächsten] nichts, daher er sie [die Liebe] schepffe“; der Christ zeichnet sich dadurch aus, „das er gegen jderman seine liebe heraus fliessen und sich nicht hindern lesset, die person sey, wer odder wie sie wolle“.323 Wie unten gezeigt werden wird, bedeutet das weiter: Christliche Liebe (auch die Nächstenliebe) macht in ihrem Lieben den anderen liebenswert. Gerade deshalb kann man nun aber nicht von christlicher Selbstliebe sprechen.324 Denn der Christ kann sich durch keinen wie auch immer beschaffenen Selbstbezug liebenswert machen. Er kann sich – um im Bilde zu sprechen – nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf des NichtLiebenswerten ziehen. Ein derartiger Versuch wäre gerade wieder der Rückfall in die Selbstrechtfertigung. Was der Christ aber vollziehen kann, ist die in diesem Paragraphen ausführlich beschriebene Selbstannahme. Denn während christliche Liebe die beschriebene „Umwertung“ vollzieht,325 vollzieht Annahme derartiges gerade nicht.326 Die vorliegende Untersuchung schließt, indem in aller Kürze die ethischen Konsequenzen skizziert werden, die sich daraus ergeben, dass Gott nicht nur mich, sondern alle Menschen angenommen hat.
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LUTHER: Predigt am 24. November 1532, WA 36, 360,5–10. Ebd., 360,23f. 26–28. 324 Zum Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, das nicht selten als Aufforderung zur Selbstliebe verstanden wird, siehe unten § 8.2.2. 325 Diese Umwertung ist das entscheidende Charakteristikum christlicher Liebe und nicht schon das an Narcissus herausgearbeitete Verhältnis von Nähe und Distanz in der Liebe. Deshalb reicht die Einsicht, dass der Mensch in der Rechtfertigung in eine wohltuende Distanz zu sich selbst tritt, nicht dafür aus, um von christlicher Selbstliebe sprechen zu können. Siehe dazu auch § 8 Anm. 23. 326 Siehe oben § 7.2.1.2. 323
§ 8 Das Verhältnis des gerechtfertigten Sünders zu seinem Nächsten 1. Annahme des anderen Gott hat in Jesus Christus nicht nur mich angenommen. Gott hat auch den anderen angenommen. Gott ist auch mit dem anderen eine unverdiente, gnädige Gemeinschaft eingegangen. Damit gehört zu der Gemeinschaft, die Gott mit mir eingeht, immer auch der andere hinzu.1 Zwischen mir und dem anderen besteht in Bezug auf das Angenommensein durch Gott kein Unterschied. In Bezug auf das Angenommensein durch Gott gilt vom anderen: Er ist wie ich. Es wurde oben herausgestellt, dass der Mensch seine Annahme durch Gott seinerseits glauben muss. Ich muss annehmen, dass Gott mich angenommen hat. Ist in gleicher Weise notwendig, dass ich annehme, dass Gott den anderen angenommen hat? Wohl kaum. Zwar liegt mein Einlassen auf die Gemeinschaft mit Gott an meinem Glauben. Aber ob der andere sich auf die Gemeinschaft mit Gott einlässt, liegt nicht an meinem, sondern an seinem Glauben. Für sein Teilhaben an der Gemeinschaft mit Gott ist ausreichend, dass er Gottes Annahme glaubt. Ob ich dessen Annahme durch Gott annehme, ist für das Dass seines Teilhabens bedeutungslos. Die Beziehung zwischen Gott und dem anderen ist von meiner Stellung dazu unabhängig. Paulus fordert in Röm 14,1ff die Christen aber dazu auf, sich untereinander anzunehmen. „Starke im Glauben“ und „Schwache im Glauben“2 sollen einander annehmen, wie Christus sie angenommen hat: Dio. proslamba,nesqe avllh,louj, kaqw.j kai. o` Cristo.j prosela,beto u`ma/j (Röm 15,7).3 Das Angenommensein durch Christus (Röm 14,3: durch Gott) ist Grund für die gegenseitige zwischenmenschliche Annahme, aber auch deren Orientierung (kaqw.j).4 Auch diese zwischenmenschliche Annahme bedeutet Gemeinschaft mit dem anderen.5 1
Vgl. dazu TROWITZSCH: Gott als „Gott für dich“, 170f. Die Charakteristik „schwach im Glauben“ gibt nicht das Selbstverständnis der Gruppe wieder, sondern das Urteil der anderen über sie (vgl. zum Beispiel WILCKENS: Der Brief an die Römer. 3. Teilbd., 81). Die Schwachheit im Glauben meint dabei „inhaltlich die Unsicherheit darüber, welche Reichweite und Bedeutung der Glaube an Christus für die religiöse Lebensgestaltung hat“ (STUHLMACHER: Der Brief an die Römer, 198). Vgl. dazu auch THEOBALD: Der Römerbrief, 32ff. 3 Diese gegenseitige Annahme ist gefordert, auch wenn „Paulus […] dem Standpunkt der ‚Starken‘ grundsätzlich recht“ gibt (MICHEL: Der Brief an die Römer, 419). 4 Vgl. SCHRAGE: Ethik, 177, und SÖDING: Das Liebesgebot, 260 Anm. 148. 5 Dazu, dass es auch in dieser zwischenmenschlichen Annahme um Gemeinschaft mit dem anderen geht, vgl. zum Beispiel WILCKENS: Der Brief an die Römer. 3. Teilbd., 101 (Hervorhebung im Original): „[…] den ‚Schwachen‘ anzunehmen […] heißt, die Gemeinschaft mit dem ‚Schwa2
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Diese Gemeinschaft soll insbesondere dem gelten, der anders als ich und mir fremd ist.6 Gerade ihm gegenüber ist Annahme gefordert. Das Annehmen des anderen hat seinen Grund darin, dass der andere wie ich ist in seinem bedingungslosen Angenommensein trotz seiner Unannehmbarkeit, richtet sich aber auf den, der sonst gerade nicht wie ich ist.7 Der Christ bietet dem anderen als anderem Gemeinschaft an, er nimmt „den anderen als anderen“8 an. Dies schließt ein, den anderen weder wegen seiner Schwäche zu verachten (Röm 14,3a) noch wegen seiner Stärke zu verurteilen (Röm 14,3b).9 Insofern darf der Christ nicht vom anderen fordern, ihm
chen‘ aufrechtzuerhalten“; SCHMITHALS: Der Römerbrief, 497; SÖDING: Das Liebesgebot, 164 (zu proslamba,nomai in Phlm 17). 6 Dies wird nicht nur durch den bestehenden Unterschied zwischen Schwachen und Starken betont, sondern auch durch die Röm 15,7 nachfolgenden Verse, die sich auf das Verhältnis von Juden und Heiden beziehen. WILCKENS: Der Brief an die Römer. 3. Teilbd., 113f, weist (wie andere auch) auf den sachlichen Zusammenhang zwischen Starken/Schwachen und Heiden/Juden hin, den Wilckens darin sieht, dass die „Schwachen“ ihr Verhalten „aus der Praxis jüdischer Gesetzesobservanz begründet haben“, wobei unter den „Schwachen“ auch Heidenchristen zu finden gewesen sein dürften. 7 Für christliche Nächstenliebe (siehe dazu genauer unten § 8.2) gilt entsprechend, dass die Offenheit für den Nächsten nicht über das hergestellt wird, was mir an ihm vertraut ist. 8 So LANGE: Ethik in evangelischer Perspektive, 437 (Hervorhebung im Original; dort mit Bezug auf die Liebe zum anderen; Lange differenziert aber nicht zwischen Annehmen und Lieben). Diese Annahme des anderen als anderen wird wohl dem besonders schwer fallen, der sich selbst nicht angenommen hat. Wer umgekehrt gelernt hat, es mit dem, was ihm an ihm selbst fremd ist, auszuhalten, dem wird es leichter fallen, es auch mit dem noch fremderen Anderen auszuhalten. – Astrid Schütz hat aus psychologischer Perspektive das Verhältnis zwischen Selbstakzeptanz und Akzeptanz anderer untersucht. Sie kommt durch empirische Studien zu dem Ergebnis, dass Selbstakzeptanz (verstanden als „wertneutrale Akzeptanz der eigenen Person“; SCHÜTZ: Psychologie des Selbstwertgefühls, 106 [Hervorhebung von mir]) mittelhoch mit der Akzeptanz anderer korreliert (vgl. ebd., 111). Positive Bewertung der eigenen Person, die nicht mit Akzeptanz der eigenen Schwächen verbunden ist, korreliert dagegen nicht mit der Akzeptanz anderer, wohl aber leicht positiv damit, sich anderen überlegen zu fühlen (vgl. ebd.). Nur wenn die positive Bewertung der eigenen Person mit der Akzeptanz der eigenen Schwächen verbunden ist, kann eine stärkere Akzeptanz anderer beobachtet werden (vgl. ebd., 112). Insgesamt ergibt sich: „Selbstakzeptanz scheint eher eine positive Bewertung der eigenen Person auf derselben Stufe mit anderen zu beinhalten, während die im Selbstwertgefühl repräsentierte positive Bewertung der eigenen Person tendenziell mit einem Gefühl der Überlegenheit über andere […] und der damit implizierten Negativbewertung anderer verbunden ist. […] Ist hohes Selbstwertgefühl aber mit dem Eingeständnis eigener Schwächen gepaart, so ist es anscheinend auch stärker mit sozialer Akzeptanz verbunden.“ (Ebd.) Schütz stellt deshalb die „Redensart: ‚Man kann andere nur lieben, wenn man sich liebt‘ […] in Frage“ (ebd., 115; so beispielsweise BATTEGAY: Narzißmus, 11: „[…] nur eine gesunde Selbstliebe [bietet] die Gewähr dafür […], daß sich jemand für die anderen einzusetzen vermag“). Man beachte, dass eine derartige Infragestellung für das Verhältnis „Akzeptanz seiner selbst – Akzeptanz anderer“ aus Schütz’ Untersuchung gerade nicht folgt. 9 SCHMIDT: Der Brief des Paulus an die Römer, 227, bemerkt dazu: „Es ist psychologisch gut beobachtet, daß der ‚Starke‘ durch Verächtlichmachung, der ‚Schwache‘ aber durch kleinliches Richten sich an der Gemeinschaft versündigt.“ Vgl. KÄSEMANN: An die Römer, 353: „Die theologische Verurteilung des andern, welche richtend oder verachtend die Gemeinschaft aufkündigt, ist
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erst gleich zu werden, um von ihm angenommen werden zu können. Die Gemeinschaft gilt dem anderen, so wie dieser ist.10 Nun unterscheidet sich die geforderte menschliche Annahme des anderen von der Annahme des anderen durch Gott in zwei wesentlichen Hinsichten. Erstens: Gott ist in Jesus Christus eine (Seins-)Gemeinschaft mit dem Menschen eingegangen; diese Gemeinschaft in Jesus Christus besteht unabhängig davon, ob der Mensch seinerseits dazu Ja sagt oder nicht. Und zweitens: Gott ist in Jesus Christus mit jedem Menschen diese Gemeinschaft eingegangen. Für menschliche Annahme aber gilt: Ein Mensch kann dem anderen nur bedingungslose Gemeinschaft anbieten; ob tatsächlich Gemeinschaft zustande kommt, liegt daran, ob der andere sich auf dieses Angebot einlässt.11 Und: Dieses Angebot bezieht sich jeweils auf den konkreten Menschen, mit dem Gott ihn zusammenführt.12 Das bedeutet insgesamt: Gott hat jeden Einzelnen angenommen, indem er mit ihm in Jesus Christus eine Gemeinschaft eingegangen ist; der Christ soll dem jeweils konkreten anderen Gemeinschaft anbieten. Der Mensch steht zwar immer – durch Gottes Annahme – in einer, wenn man so will, „indirekten“, vermittelten Gemeinschaft mit dem anderen; es soll aber auch zu einer direkten zwischenmenschlichen Gemeinschaft mit dem anderen kommen.13 Weil Gottes Annahme in Jesus Christus alle Menschen eingeschlossen hat, gilt die Forderung zur Annahme des anderen nicht nur innerhalb der Gemeinde. Die Gemeinde zeichnet sich aber durch die Gegenseitigkeit dieses Annehmens (avllh,louj) aus. Gegenseitige Annahme ist „das ekklesiologische Grundprinzip“.14
nicht erlaubt.“ Umgekehrt gilt: Wer den anderen nicht verurteilt, hält in der Beziehung zum anderen „Raum zum Wachsen und zur Kommunikation offen“ (ebd., 351). 10 Vgl. SCHMITHALS: Der Römerbrief, 516f (zu Röm 14,1–15,7 insgesamt; Schmithals differenziert nicht zwischen Liebe und Annahme): „Maßstab für die Liebe ist nicht primär das wirklich oder vermeintlich Gute, das der Liebende dem Nächsten zukommen läßt, sondern die Freiheit, die er ihm öffnet und beläßt, er selbst zu sein. Im konkreten Fall gebietet die Liebe nicht, daß der ‚Starke‘ den ‚Schwachen‘ mit dem Gut seiner Freiheit beglückt, sondern daß er ihn den ‚Schwachen‘ sein läßt. […] Liebe erlaubt dem Nächsten, er selbst zu sein.“ 11 Wenn der andere sich auf dieses Angebot einlässt, dann wird das Annehmen des anderen nicht überflüssig. Es verändert sich aber vom Anbieten der Gemeinschaft zum Aufrechterhalten der Gemeinschaft. 12 Vgl. WILCKENS: Der Brief an die Römer. 3. Teilbd., 105. 13 Vgl. zur umfassenden Bejahung der von Gott hergestellten Gemeinschaft mit mir und dem anderen auch HERMS: Art. „Nächstenliebe V.“, 18: „[…] Bejahung dieser Gemeinschaft durch die Menschen ist folglich Bejahung jeweils sowohl des eigenen Seins als auch des Seins des Nächsten als des nicht durch eigenes Tun gerechten, sondern als des der Versöhnung durch den Schöpfer bedürftigen und gewürdigten geschöpflichen Seins“. 14 THEOBALD: Der Römerbrief, 293.
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Zu dieser Annahme des anderen gehört, dass der Mensch den anderen als von Gott angenommen annimmt.15 Darin bringt er das, was Gott in seiner Annahme des anderen über den anderen gesagt hat, in seinem menschlichen Umgang mit dem anderen zur Geltung. 1.1 Annahme des anderen als von Gott angenommen Den anderen als von Gott angenommen anzunehmen bedeutet erstens, den anderen als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt zu bejahen.16 Es bedeutet, dem anderen die Wohltat Gottes, die in seinem Angenommensein durch Gott besteht, zu gönnen und nicht neidisch (vgl. Mt 20,1–15) darauf zu sein, dass Gott ihm gnädige Gemeinschaft gewährt.17 Den anderen als von Gott angenommen anzunehmen bedeutet zweitens, ihn als durch Gott von seinem faktischen Selbst unterschieden anzunehmen. Das hat konkrete Konsequenzen für den Umgang mit dem anderen, in welchem dann fortwährend zur Geltung zu bringen ist, dass der andere mehr ist als das, was sein faktisches Selbst an Eigenschaften, Geschichte und Umständen auszeichnet.18 Den anderen als von Gott angenommen anzunehmen bedeutet drittens, den anderen in seinem Mensch-und-nicht-Gott-Sein zu bejahen. Denn der andere ist ja als Mensch in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommen. Wer den anderen als angenommen annimmt, erwartet von ihm nicht etwas, was nur Gott zu geben vermag. Zu seinem Menschsein gehören die mehrfach dargestellten menschlichen Existenzbedingungen hinzu. Auch der andere wird nur dann „er selbst“, wenn er in Freiheit genau die Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit wird. Das Werden genau dieser Synthese muss der andere selbst vollziehen. Ihn anzunehmen bedeutet deshalb viertens, ihm dazu den nötigen Freiraum zu geben und anzuerkennen, dass dieses Er-selbst-Werden nur unter den Bedingungen von Endlichkeit und Unendlichkeit möglich ist. Das bedeutet konkret: Auch der andere Mensch ist durch Endlichkeit bestimmt; er lebt in bestimmten Umständen, hat bestimmte Eigenschaften und seine eigene Ge15 Anzunehmen, dass Gott den anderen angenommen hat, ist also nicht Voraussetzung für die Beziehung zwischen Gott und dem anderen, wohl aber für die angemessene Beziehung zwischen mir und dem anderen. 16 Es ist nicht davon die Rede, dass man den anderen als Sünder und als von Gott abhängig annehmen müsse. Denn diese Dinge betreffen nur sein direktes Gottesverhältnis. 17 Vgl. TROWITZSCH: Gott als „Gott für dich“, 176 (Hervorhebung im Original): „Daß der mir begegnende Andere […] ein Mensch göttlichen Wohlgefallens ist, kann und will ich wahrhaben. Ich heiße es gut […] – ja kann aufrichtig dafür danken.“ 18 Vgl. dazu JÜNGEL: Das Evangelium von der Rechtfertigung, 226ff.
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schichte, die er nicht einfach abstreifen kann. Wer den anderen als angenommen annimmt, der bejaht den anderen in seiner konkreten Endlichkeit. Der andere ist aber auch durch Unendlichkeit bestimmt; er ist ein origineller, besonderer Mensch, und er kann sich verändern. Wer den anderen als angenommen annimmt, der bejaht dessen Individualität. Und der bejaht, dass der andere sich verändern kann. Er schreibt den anderen nicht darauf fest, wie dieser gerade jetzt ist. Er sagt nicht: Du warst schon immer so; also wirst du auch immer so bleiben. Er lässt ihm vielmehr „Raum zum Wachsen“.19 Gibt es nun – analog zur Selbstannahme – auch die Notwendigkeit, das faktische Selbst des anderen im Sinne einer differenzierten Annahme anzunehmen? Ja, nämlich deshalb, weil ich zwar den anderen als von seinem faktischen Selbst unterschieden annehme, er mir aber gerade mit diesem faktischen Selbst begegnet. Deshalb ist die differenzierte Auseinandersetzung mit dem faktischen Selbst des anderen unumgänglich. Sie ist Ausdruck dessen, den anderen in seiner konkreten Endlichkeit zu bejahen. Bei dieser differenzierten Annahme des faktischen Selbst des anderen bleibt die fundamentale Annahme des anderen, d.h. das Angebot, mit dem anderen Gemeinschaft einzugehen, der beständige Cantus firmus. 1.2 Differenzierte Annahme des faktischen Selbst des anderen In seiner Annahme des anderen Menschen hat Gott ein Nein über dessen Grundsünde gesprochen. Und er hat ein Nein zu allem an dessen faktischem Selbst gesprochen, was gemeinschaftszerstörend, und ein Ja zu allem, was gemeinschaftsfördernd ist. In meiner Annahme des anderen Menschen ist dieses richtende Nein oder Ja nicht zu wiederholen. „Das Privileg des Gerichts steht allein Gott zu“20 (vgl. Röm 14,10). Wie bei der Selbstannahme das ehrliche Wahrnehmen der eigenen Eigenschaften bedeutend war, so gehört das Wahrnehmen der Eigenschaften des anderen zum Annehmen des anderen hinzu. Allerdings geschieht dieses Wahrnehmen nicht mit der Neugier, Dinge am anderen zu entdecken, die dieser selbst nicht preisgeben will. Gleichwohl: Unter den so wahrgenommenen Eigenschaften können auch gemeinschaftszerstörende sein. Solche Eigenschaften des anderen anzunehmen kann nicht heißen, diese Eigenschaften als solche zu bejahen; denn damit würde man hinter Gottes Nein zurückgehen. Vielmehr bedeutet es, den anderen trotz dieser Eigenschaften auszuhalten und zu ertragen (avn19 20
KÄSEMANN: An die Römer, 351. THEOBALD: Der Römerbrief, 294.
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e,cesqai avllh,lwn; vgl. Eph 4,2; Kol 3,13), d.h. das Gemeinschaftsangebot nicht wegen dieser Eigenschaften zurückzuziehen.21 Es kann sich bei den wahrgenommenen Eigenschaften aber auch um gemeinschaftsfördernde handeln. Diese anzunehmen heißt, sich auf das einzulassen, was der andere zur Gemeinschaft beitragen will. Während bei der differenzierten Selbstannahme der Gedanke der Veränderung des (transitorisch) Angenommenen zentral war, ist bei der Annahme des anderen der Wunsch nach Veränderung des Angenommenen zwar verständlich, darf aber nicht handlungsleitend sein. Der Christ hat nicht den Auftrag, den anderen zu verändern. Der Christ kann dem anderen bei dessen Veränderung aber helfen, indem er ihm zu verstehen gibt, dass er den anderen nicht auf bestimmte Eigenschaften festschreibt. Die Geschichte des anderen wahrzunehmen heißt de facto, sich vom anderen seine Geschichte erzählen zu lassen. Diese Geschichte annehmen im engeren Sinn kann nur der, um dessen Geschichte es sich handelt. Der Christ kann aber sein Leid und seine Freude über das Vergangene teilen (vgl. Röm 12,15). Genauso kann er ernst nehmen, dass der andere durch seine Geschichte geprägt und bestimmt ist, und im Umgang mit dem anderen dies berücksichtigen. Und ist er selbst Teil der Geschichte des anderen, dann ist er gefordert, den anderen dort um Vergebung zu bitten, wo er diesem Gemeinschaftszerstörendes angetan und wo er Gemeinschaftsförderndes ihm gegenüber unterlassen hat. Schließlich gehört zur Annahme des anderen das Wahrnehmen seiner Umstände. Dieses bedeutet vor allem: genau hinzusehen und sich vom anderen sagen zu lassen, wo dieser gegenwärtig Not empfindet. Dieses Wahrnehmen ist noch nicht dadurch ausreichend vollzogen, dass ich mir vorstelle, wie es mir in der Situation des anderen ergehen würde. Entscheidend ist vielmehr die Frage danach, wie es dem anderen in dieser Situation ergeht und was er als Hilfe braucht.22 Davon, die notvollen Umstände des anderen zu akzeptieren, kann nur dort geredet werden, wo keine Veränderung derselben möglich ist; diese unveränderbaren Umstände zu akzeptieren bedeutet, im Umgang mit dem anderen der Bedeutung dieser Umstände für den anderen eingedenk zu sein und ihn konkret erfahren zu lassen, dass er dennoch nicht allein ist. Dort, wo Veränderung der notvollen Umstände des anderen möglich ist, wäre es absurd, von einer Annahme der Umstände des anderen im Sinne von Akzeptanz zu sprechen. Die veränderbaren notvollen Umstände des anderen anzunehmen muss heißen, deren Veränderung als eigene Aufgabe 21
Zur Grenze dieser Annahme vgl. aber 2Thess 3,6 und Titus 3,10. Vgl. SCHMITHALS: Der Römerbrief, 517: „Die Arroganz dessen, der das Gute für den Bruder besser zu kennen meint als dieser selbst, ist lieblos.“ 22
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anzunehmen. Es bedeutet, kurz gesagt: dem anderen ein Nächster zu werden (vgl. Lk 10,36f) oder sich des anderen anzunehmen. 2. Sich des anderen annehmen – Nächstenliebe Den anderen annehmen und sich des anderen annehmen unterscheiden sich strukturell. Wer einen anderen Menschen annimmt, bietet ihm an, ihn – so könnte man sagen – zu sich zu nehmen; er vollzieht eine den anderen aufnehmende Bewegung. Wer dagegen sich eines anderen annimmt, der ist für den anderen da; er führt eine sich dem anderen hingebende Bewegung aus. Für den anderen da sein ist aber nichts anderes als Nächstenliebe. Der Übergang zwischen der Annahme des anderen und der Nächstenliebe liegt dort, wo ein Mensch die Veränderung der Not eines anderen Menschen als eigene Aufgabe erkennt und annimmt. Es mag erstaunen, dass hier zwischen Annahme des anderen und Nächstenliebe unterschieden wird. Diese Unterscheidung ist keine scharfe. Sie ist aber nicht nur wegen der eben skizzierten strukturellen Differenz hilfreich. Sie bringt auch noch eine andere Differenz zur Geltung. Es wurde ja gesagt: Während Gottes Annahme nur bedeutet, eine Gemeinschaft mit dem anderen, und zwar auch dem Nicht-Liebenswerten, einzugehen, macht seine Liebe den Nicht-Liebenswerten im Lieben „liebenswert“. Es wurde behauptet, dass Letzteres auch für die christliche Nächstenliebe gilt. Dies ist nun zu zeigen. 2.1 Den Nächsten im Lieben liebenswert machen Christliche Nächstenliebe richtet sich nicht darauf, dass Gott den Nächsten durch seine Liebe liebenswert gemacht hat – so als hafte dies dem Nächsten wie eine Qualität an. Denn dann würde sie sich nur wie die natürliche Liebe auf etwas Liebenswertes richten. Das aber ist – wie Luther in seiner Hebräerbriefvorlesung herausstellt – für die christliche Nächstenliebe ausdrücklich ausgeschlossen: Von der „gentilis charitas aut etiam bestialis, qua diligimus diligibiles, sapientes“ ist die charitas christiana zu unterscheiden, „qua diligimus odibiles, insipientes, indispositos, indoctos, pauperes“.23 23
LUTHER: Die Vorlesung über den Hebräerbrief. 1517/18, WA 57/III, 59,12–14. Wäre es anders, d.h. würde die christliche Nächstenliebe sich daran entzünden, dass Gott den Nächsten liebenswert gemacht hat, dann wäre entsprechend christliche Selbstliebe nicht auszuschließen. Denn auch sie könnte sich daran entzünden, dass Gott mich liebenswert gemacht hat. So behauptet das Lange: „Gottes Liebe befreit dazu, sich selbst zu lieben, nämlich als den von Gott geliebten Menschen“ (LANGE: Christliche Ethik, 104).
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Christliche Nächstenliebe liebt den Nächsten aber auch nicht nur deshalb, weil sie im anderen Gott entdeckt.24 Denn dann wäre der Nächste nicht „als er selbst gemeint“.25 Wie aber ist sie dann zu verstehen? Es sei noch einmal Luthers Heidelberger Disputation betrachtet. In der 28. These der Heidelberger Disputation unterscheidet Luther – darauf wurde schon eingegangen – zwischen amor Dei und amor hominis. Während ersterer sein Liebenswertes nicht findet, sondern schafft, entsteht letzterer am Liebenswerten: „Amor Dei non invenit sed creat suum diligibile, Amor hominis fit a suo diligibili“.26 Deutlich geworden ist an dem eben aus Luthers Hebräerbriefvorlesung Zitierten, dass christliche Nächstenliebe, weil sie die „odibiles, insipientes […]“ liebt, nicht unter die Kategorie des amor hominis fällt. Fällt christliche Nächstenliebe dann unter die Kategorie des amor Dei, von dem Luther behauptet: „[…] amor Dei in homine vivens diligit peccatores, malos, stultos, infirmos, ut faciat iustos, bonos, sapientes, robustos et sic effluit potius et bonum tribuit“?27 Oder ist christliche Nächstenliebe etwas Drittes, weil sie sich zwar auf das Nicht-Liebenswerte richtet, dieses aber nicht durch ihr Lieben liebenswert macht?28 Nun ist selbstverständlich, dass das rechtfertigende Handeln, durch welches aus für Gott Nicht-Liebenswerten für Gott Liebenswerte werden, allein Gott zukommt. Von der christlichen Nächstenliebe darf zweifellos nicht behauptet werden, sie mache den Menschen für Gott liebenswert. Wohl aber kann von der christlichen Nächstenliebe ausgesagt werden: Indem der 24 So K. BARTH: Der Römerbrief, 478 (Hervorhebung im Original): „Aufrichtig ist die Liebe [sc. die Agape], sofern sie […] im Andern den Einen sucht, dem Einen dient, den Einen meint“. So auch W.E. MÜLLER: Evangelische Ethik, 90: Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten sind „untrennbar miteinander verbunden, da man Gott im Nächsten liebt“. 25 LANGE: Christliche Ethik, 104. Zu Barths Position äußert sich kritisch BONHOEFFER: Sanctorum Communio, 110 Anm. 28: Liebe liebt „wirklich den anderen […], nicht den Einen im anderen. […] Gott hat den ‚Nächsten an sich‘ unendlich wichtig gemacht […] Der andere ist nicht nur ‚Gleichnis des ganz Anderen‘ […], sondern er ist an sich unendlich wichtig, weil Gott ihn wichtig nimmt. Soll ich denn letztlich doch wieder mit Gott allein in der Welt sein?“. 26 LUTHER: Heidelberger Disputation. 1518, WA 1, 365,2f. 27 Ebd., 365,9f. 28 Für eine derartige Interpretation spricht sich Theodor Dieter aus, weil andernfalls „Ungeheuerliches von dieser Liebe gesagt“ werde (DIETER: Amor hominis, 257). Dieter will deshalb den „amor Dei in homine vivens diligit peccatores“ auf die Liebe Gottes beziehen, „die den Menschen, in dem sie wohnt, gerecht macht“ (ebd.). Von der Nächstenliebe spreche Luther erst in den nachfolgenden Zeilen: „Et iste est amor crucis ex cruce natus, qui illuc sese transfert, non ubi invenit bonum quo fruatur, sed ubi bonum conferat malo et egeno.“ (LUTHER: Heidelberger Disputation. 1518, WA 1, 365,13–15) Dieter folgert deshalb: „Auch wenn der amor Dei und der amor crucis insoweit die gleiche Struktur haben, als sie nicht von der Gutheit des Geliebten motiviert sind, sondern von sich her in Bewegung sind, ihm Gutes zuzuteilen – der amor crucis vom amor Dei bewegt –, so ist doch das Gute, das sie mitteilen, völlig verschieden, so daß beide streng unterschieden sein müssen.“ (DIETER: Amor hominis, 257).
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Mensch seinen Nächsten liebt, macht er ihn dieser seiner Liebe wert. In diesem Sinne wird dem seinen Nächsten liebenden „Menschen an der schöpferischen Liebe Gottes teilgegeben“;29 in diesem Sinne lebt die Liebe Gottes selbst im Menschen. Wie sollte denn auch das Umgekehrte möglich sein, dass christliche Nächstenliebe sich auf das Nicht-Liebenswerte richtet, dieses aber nicht in diesem Lieben für dieses Lieben liebenswert macht? Das aber heißt: Wie die göttliche Liebe macht auch die durch Gott, den heiligen Geist (vgl. Röm 5,5), im Menschen gewirkte Nächstenliebe (= amor Dei in homine vivens“) den Nächsten in ihrem Lieben liebenswert. Sie „liebt nicht den, der sowieso schon liebenswert ist, sondern macht wie die Liebe Gottes den anderen Menschen durch ihre Zuwendung erst wirklich liebenswert“.30 Solches „macht“ die durch den heiligen Geist gewirkte Liebe, nicht der liebende Mensch.31 Liebe zum Nächsten ist immer Liebe zu einem konkreten Nächsten. Deshalb sei eine von Eberhard Jüngel geprägte Formel: Liebe sei „die inmitten noch so großer Selbstbezogenheit immer noch größere Selbstlosigkeit“,32 abgewandelt und also formuliert: Nächstenliebe ist die in noch so großer Selbstbezogenheit immer noch größere Du-Bezogenheit.33 So wird 29 So Edgar Thaidigsmann als Umschreibung der Formulierung: „amor Dei in homine vivens“ (THAIDIGSMANN: Gottes schöpferisches Sehen, 33). 30 LANGE: Christliche Ethik, 107. So interpretiert die Heidelberger These auch Reinhard Schwarz: „Im völligen Einklang mit dem Willen Gottes liebt die caritas nun auch in der Weise den Nächsten, wie uns Gott selbst in Christus liebt. Während sich der amor hominum auf ein liebenswertes Objekt richtet […], liebt der amor dei, wenn er in uns lebendig ist, die Sünder, die Schlechten, die Toren und die Schwachen, um sie im Lieben gerecht, gut, weise und stark zu machen. Diese Liebe schafft selber das Gute, indem sie sich dem zuwendet, der gar nicht liebenswert ist. Sie ist die schöpferisch verwandelnde, göttliche Liebe“ (SCHWARZ: Fides, spes und caritas, 412f). – Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass am faktischen Selbst des anderen ansehnliche Dinge zu finden sind, die man als „der Liebe wert“ im Aristotelischen Sinne beurteilen könnte. Nur entzündet sich die christliche Nächstenliebe nicht an diesen. Vgl. dazu J. FISCHER: Theologische Ethik, 128: „Die Liebe zum Nächsten ist […] durch kausale Unabhängigkeit von den individuellen Eigenschaften der Person charakterisiert […], auf die sie sich bezieht.“ 31 Die in der Heidelberger Disputation vorangehende probatio zu These 27 zeigt, dass die hier vorgeschlagene Interpretation nicht abwegig ist. Luther zitiert dort beim Beschreiben dessen, was die Christen tun sollen, Eph 5,1: „Imitatores Dei estote“ (LUTHER: Heidelberger Disputation. 1518, WA 1, 364,33). Und in Luthers Hebräerbriefvorlesung wird erkennbar, dass Luther die christliche Nächstenliebe durchaus als etwas „Ungeheuerliches“ (siehe oben Anm. 28) versteht: Dass die christliche Liebe sich auf das Verächtliche und Unwürdige richten soll, begründet Luther durch die matthäische Formel, wir sollten vollkommen sein, wie unser Vater im Himmel vollkommen ist (vgl. LUTHER: Die Vorlesung über den Hebräerbrief. 1517, WA 57/III, 225,2ff). 32 Vgl. zum Beispiel JÜNGEL: Gott als Geheimnis der Welt, 408. 33 Zur Bedeutung der Selbstbezogenheit auch in der Liebe vgl. LANGE: Christliche Ethik, 94: „Jedermann weiß, daß reiner Altruismus entweder eine Form getarnter Herrschsucht sein kann […] oder zu einem wirklichen Verlust des Selbst führen kann – wenn nicht zum physischen Tod, dann doch zu einem Schattendasein als ausgebrannte Hülle, die nichts mehr zu geben hat. Selbsthingabe ist dann die Hingabe von Nichts. Ein solches Selbst auch noch zu verleugnen, ist im Grunde nichts anderes als frommer Betrug“. Ähnlich SÖLLE: Phantasie und Gehorsam, 64: „[…]
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geltend gemacht, dass zur Liebe wesentlich die Bezogenheit auf dieses eine bestimmte Du gehört, wogegen Selbstlosigkeit die Bezogenheit auf einen anderen nicht notwendig implizieren muss. Insofern irrt Kierkegaard, wenn er meint: „Wenn ein Mensch auf einer einsamen Insel lebte und wofern er dann seinen Sinn nach dem Gebot [der Nächstenliebe] bildete, so könnte man von ihm sagen, er liebe den Nächsten, indem er der Selbstliebe absage.“34 Diese Bestimmung der Liebe als in noch so großer Selbstbezogenheit immer noch größerer Du-Bezogenheit unterstützt noch einmal die Weigerung, von einer christlichen Selbstliebe zu sprechen. Selbstliebe wäre sonst ja analog die in noch so großer Selbstbezogenheit immer noch größere Selbst-Bezogenheit. Das aber ist ohne Zweifel nichts anderes als Selbstsucht. Liebe zum Nächsten ist eine durch den heiligen Geist gewirkte affektive Zugewandtheit zum anderen und in dieser die Bereitschaft, sich für die Veränderung der Not des anderen in Anspruch nehmen zu lassen (vgl. 1Joh 3,17: Zu lieben heißt, sein Herz nicht vor der Not des anderen zu verschließen), und ein daraus entspringendes, dem anderen zugute kommendes Handeln. Zugewandtheit zum anderen und dem anderen zugute kommendes Tun sind in der Nächstenliebe nicht zu trennen: Diese ist „nicht gunst allein, sondern gunstige wolthat“.35
Gehorsam hat nur dann Sinn, wenn er in Übereinstimmung des Menschen mit sich selber geleistet wird“. Vgl. auch THEUNISSEN: `O aivtw/n lamba,nei, 359f (Hervorhebung im Original): „Die liebende Zuwendung zum Mitmenschen ist […] ein Sich-Einlassen auf ihn, setzt also Selbstbezüglichkeit voraus.“ – Friedrich Nietzsche hat das Problem plastisch vor Augen geführt (NIETZSCHE: Die fröhliche Wissenschaft, 577; Hervorhebung im Original): „[…] eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr […] Die ‚Selbstlosigkeit‘ hat keinen Werth im Himmel und auf Erden; die grossen Probleme verlangen alle die grosse Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen.“ 34 KIERKEGAARD: Der Liebe Tun, Bd. 1, 25. 35 LUTHER: Fastenpostille. 1525, WA 17/II, 98,32f. Die Frage, ob diese Liebe ein Affekt ist oder ein bestimmtes Tun und wie sich beide zueinander verhalten, wird in der theologischen Ethik unterschiedlich beantwortet. Für eine affektive Deutung der Nächstenliebe spricht sich aus BARTMANN: Das Gebot, z.B. 92ff. Gegen eine affektive Deutung des Nächstenliebegebotes wendet sich u.a. Bultmann, der die Liebe eines Menschen stattdessen als „eine Weise seines Seins zu anderen“ beschreibt. Liebe sei „ein von einem bestimmten (nämlich liebenden) Verstehen der Verbundenheit von Ich und Du geleitetes Tun“ (BULTMANN: Das christliche Gebot, 237. 235). Ähnlich MARXSEN: „Christliche“ und christliche Ethik, 192: Die Liebe „ist […] nicht richtig erfaßt, wenn man sie als Haltung oder Gesinnung oder gar als Gefühl versteht. Die Liebe soll vielmehr als konkretes Tun bei dem ankommen, dem sie gilt.“ Noch einmal anders der Versuch Johannes Fischers, mit Liebe nicht den Grund christlichen Handelns zu bezeichnen, sondern den Geist, in dem sich christliches Handeln vollzieht (vgl. J. FISCHER: Leben aus dem Geist, 152ff; vgl. DERS.: Theologische Ethik, 127ff).
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Dieses dem anderen zugute kommende, liebende Handeln vollzieht sich nach Luther „gratis (et) sponte“.36 Diese Spontaneität des liebenden Handelns ist es, die abschließend erörtert werden soll. Solches geschieht in Auseinandersetzung mit dem Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Dieses wird nicht selten so verstanden, als fordere es mit dem „wie dich selbst“ zur Selbstliebe auf. Ist damit das „wie dich selbst“ richtig begriffen? 2.2 Die Spontaneität der Nächstenliebe Das Gebot der Nächstenliebe ist klassisch formuliert in Lev 19,18: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.37 Die Reformatoren haben in dem „wie dich selbst“ keine Aufforderung zur Selbstliebe entdecken wollen.38 Das 36
LUTHER: De libertate Christiana, 296. Vgl. DERS.: Kirchenpostille. 1522, WA 10/I.1, 134,18–135,1: „Alßo thut die liebe auch, die hatt keyn gepot, sie thut von yhr selb alle ding, eylet und seumet nit, […] sie darff und leydet keynen treyber.“ Nach Luther ist der Glaubende allen Geboten spontan gehorsam (vgl. beispielsweise DERS.: Kirchenpostille. 1522, WA 10/I.1, 365,8– 11; Adventspostille. 1522, WA 10/I.2, 53,14–16). Das Gebot der Nächstenliebe, auf das der Glaubende spontan reagiert, ist nichts anderes als die Zusammenfassung aller Gebote (vgl. Röm 13,8f; Gal 5,14). Joest stellt heraus, dass Luthers „Begriff des Spontanen […] an dem Gegensatz des ‚von selbst‘ Hervorbrechenden gegen das ‚beflissene‘, sich selbst erst zwingende und aufraffende Verhalten“ (JOEST: Ontologie der Person, 278) orientiert ist. 37 Vgl. auch Mk 12,31 par.; Röm 13,9; Gal 5,14; Jak 2,8. Die Übersetzung des Nächstenliebegebotes mit: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“ (so der hebräische Dichter und Mitarbeiter an Mendelssohns Bibelübersetzung Naftali Herz Wessely; zitiert nach COHEN: Über Wurzel und Ursprung, 17) könnte eine letzte Vertrautheit mit dem anderen suggerieren. Eine solche legt auch die Übertragung von BUBER, Vorbemerkung, 6, nahe: „Sei liebend zu deinem Genossen als zu einem der wie du ist“. Buber führt dazu aus: „[…] der ‚wie ich‘ ist: liebesbedürftig wie ich, der Liebestat eines Rea bedürftig wie ich […] ihr kennt ja die Seele des Menschen, dem es nottut, daß man liebend zu ihm sei, denn Menschen seid ihr und leidet selber die Menschennot.“ (Ebd., 6f) Zu ähnlichen Übersetzungsversuchen vgl. MATHYS: Liebe deinen Nächsten, 6f. Zur sprachlichen Problematik dieser Übersetzung vgl. ebd., 7–9; vgl. gegen Bubers Übersetzung auch NISSEN: Gott und der Nächste, 283f Anm. 841; für Bubers Übersetzung spricht sich aus SCHÜLE: „Denn er ist wie Du“, 518ff. – Dass die Formulierung „er ist wie du“ allerdings nicht notwendig im Sinne einer in den Menschen selbst liegenden Gleichheit verstanden werden muss, macht COHEN: Über Wurzel und Ursprung, 17, deutlich: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du. Das ist der neue Gedanke: daß die Menschen als Menschen einander gleich sind, nämlich [!] als Kinder und Ebenbilder Gottes.“ Vgl. zu dem, was Martin Buber mit seiner Übertragung verfolgt, SCHÜLE: „Denn er ist wie Du“, 516: „Es geht nicht um ein Gefühl der Nähe oder Ferne, das die Wahrnehmung des Nächsten leitet“, es geht vielmehr um eine „Aussage von nahezu ontologischer Qualität, die keinerlei Einschränkung mit sich hat“ und die dem Menschen von Gott zugesagt wird. 38 Vgl. zum Beispiel LUTHER: Die Vorlesung über den Römerbrief. 1515/16, WA 56, 518,4–8: „Igitur Credo, Quod isto precepto ‚Sicut teipsum‘ Non precipiatur homo diligere Se, Sed ostendatur vitiosus amor, quo diligit se de facto, q.d. Curvus es totus in te et versus in tui amorem, A quo non rectificaberis, Nisi penitus cesses te deligere et oblitus tui solum proximum diligas.“ Noch schärfer in der Disputatio contra scholasticam theologiam. 1517, WA 1, 228,29: „Diligere deum est seipsum odisse“. Vgl. auch die Scholien zum Galaterbrief. 1516/17, WA 57/II, 101,2f, in
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„wie dich selbst“ zeigt nach Luther vielmehr, wie Nächstenliebe zu vollziehen sei. Denn es beschreibe eine inhaltliche Analogie zwischen dem, was man in der natürlichen Selbsterhaltung für sich selbst tut, und dem, was man für den Nächsten tun soll: […] es wird yhe yderman mussen bekennen, das er fule, wie er sich liebet. Er fulet ia, wie hefftig er fur seyn leben sorget, wie vleyssig er seynes leybs wartet mit speys, kleyder und allem gut, wie er den tod fleucht und alles ungluck meydet. Nu das ist die liebe deyns selbs, die sihestu und fulestu. Was leret dich nu dis gepott? eben dasselb [!] gleich zuthun, das du dir thust, das du seyn leyb und leben sollt dyr gleich so viel lassen gelten als deyn leyb und leben.39
Eine inhaltliche Analogie zu fordern zwischen dem, was der Mensch in der natürlichen Selbsterhaltung für sich tut, und dem, was er für den Nächsten tun soll, ist zweifellos dort legitim, wo die Not des anderen und damit die von uns geforderte Liebe Fragen seiner natürlichen Lebenserhaltung anbelangt. Doch betrifft die Not des Nächsten eben auch noch anderes als nur seine natürliche Lebenserhaltung.
denen Luther Liebe zum Nächsten und Selbsthass verbindet: „Idcirco ordinata charitas est verum odium sui et amor proximi.“ – Vgl. auch CALVIN: Commentarius in Epistolam ad Galatas, 251f, der fordert, dass der amor nostri „vertatur in caritatem“. Dass Selbstliebe umgekehrt notwendig für die Nächstenliebe sei, meint beispielsweise ERASMUS VON ROTTERDAM: Enchiridion militis christiani, 42 E: „nemo enim alium amare potest nisi se prius amarit“; vgl. DERS.: Mwriaj Egkwmion, 421 D: „Quaeso num quemquam amabit, qui ipse semet oderit?“ – Zahlreiche neuere Theologen verstehen das Gebot so, als fordere es dazu auf, ein rechtes Maß zwischen Selbst- und Nächstenliebe zu finden. Vgl. W.E. MÜLLER: Evangelische Ethik, 91, der von einer „Balance zwischen Selbst- und Nächstenliebe“ spricht. Von einer solchen redet auch STOLLBERG: Seelsorge im Wandel, 202. Ähnlich auch der Versuch von van de Spijker, der einen Begriff der „narzißtischen Kompetenz“ entwickelt, welche die Fähigkeit bedeute, „so zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe zu balancieren, […] daß das eigene und mitmenschliche Humane sich entwickeln kann“ (VAN DE SPIJKER: Narzißtische Kompetenz, 345). EBERSOHN: Das Nächstenliebegebot, 246 (Hervorhebung im Original), meint, die Selbstliebe verliere zwar angesichts der „Bedürftigkeit des Gegenüber“ „an Bedeutung“, sie werde aber „nicht grundsätzlich verworfen; es heißt gerade nicht, man solle den Nächsten mehr lieben als sich selbst“. 39 LUTHER: Fastenpostille. 1525, WA 17/II, 102,31–37. Ähnlich: Luthers GalaterbriefAuslegung, 308 (WA 40/II, 72,18–25): „Itaque si cupis scire, quo modo diligendus sit proximus, et habere exemplum illustre huius rei, considera diligenter, quo modo Tu teipsum diligas. Certe cuperes anxie in necessitate aut periculo te amari et iuvari omnibus consiliis, facultatibus et viribus non solum omnium hominum sed etiam omnium creaturarum. Quare nullo libro indiges, qui te erudiat et admoneat, quomodo proximum diligere debeas, habes enim pulcherrimum et optimum librum omnium legum in corde tuo: Wenn du daher wissen willst, wie der Nächste zu lieben sei, und wenn du ein ausgezeichnetes Beispiel dafür haben willst, dann überlege genau, wie du dich selbst lieb hast. Gewiß würdest du in der Not oder Gefahr ängstlich wünschen, daß dir Liebe und Hilfe zuteil werden durch alle nur möglichen Ratschläge, durch Darbietung von Mitteln und Kräften und das nicht nur von seiten aller Menschen, sondern auch durch alle Kreaturen. Daher hast du kein Buch nötig, aus dem du Belehrung und Ermahnung nehmen müßtest, wie du den Nächsten zu lieben hast, du hast das schönste und beste aller Gesetzbücher in deinem Herzen.“
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Nun könnte man zwar eine vollständige, auch Bereiche jenseits der Lebenserhaltung betreffende inhaltliche Analogie zwischen dem, was man für sich selbst tut, und dem in der Nächstenliebe Geforderten behaupten. Doch liegt darin die Gefahr, dem anderen mit etwas helfen zu wollen, was zwar einem selbst, dem anderen aber womöglich gar nicht helfen würde. Für die Liebe zum Nächsten ist entscheidend, „das für ihn jeweils Richtige und Nötige [zu] tun“.40 Das aber bedeutet: Es besteht keine umfassende inhaltliche Analogie zwischen dem, was man für sich selbst tut, und der Nächstenliebe.41 Auch zahlreiche neuere exegetische Arbeiten beziehen das „wie dich selbst“ auf die natürliche Selbsterhaltung.42 Luthers Anregung, an der natürlichen Selbsterhaltung sei etwas für die Liebe des Nächsten abzulesen, kann deshalb aufgenommen werden. Sie muss aber etwas anders akzentuiert werden. Das Gebot fordert – wie gezeigt – zwar keine umfassende inhaltliche Analogie zwischen natürlicher Selbsterhaltung und Nächstenliebe, wohl aber eine Analogie der Art und Weise. In der Aufforderung, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, steckt die Aufforderung, den Nächsten in der gleichen Weise43 zu lieben, wie man sich um die eigene Selbsterhaltung kümmert. Natürliche Selbsterhaltung vollzieht sich unmittelbar, reflexhaft und spontan. Wenn nun gefordert wird, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, dann heißt das: Nächstenliebe soll sich unmittelbar, reflexhaft und spontan vollziehen.44 Wie eine derart spontane Nächstenliebe aussieht, ist eindrücklich im so genannten „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“ (Lk 10,29–37) geschildert.45 Spontan ist die Nächstenliebe darin, dass sie nicht erst fragt, wer
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NISSEN: Gott und der Nächste, 283 (Hervorhebung von mir). Darin wird die so genannte Goldene Regel Mt 7,12 par. von der Nächstenliebe überboten. Vgl. dazu LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, 505ff, bes. 513f. 42 Vgl. NISSEN: Gott und der Nächste, 283f; MEISINGER: Liebesgebot, 10; SÖDING: Das Liebesgebot, 52f. 43 So interpretiert das „wie dich selbst“ offensichtlich auch SÖDING: Das Liebesgebot, 52f (Hervorhebung von mir): Das Liebesgebot in Lev 19,18 geht „von der selbstverständlichen (und sittlich keineswegs verwerflichen) Sorge eines jeden Menschen für sich selbst aus[…], um […] dann einzuschärfen, sich die Sache des Nächsten in gleicher Weise angelegen sein zu lassen“. 44 Knud E. Løgstrup hat die Nächstenliebe als „spontane“, „unmittelbare“ „Daseinsäußerung“ entfaltet (vgl. LØGSTRUP: Solidarität und Liebe, 114ff; DERS.: Norm und Spontaneität, 14ff). Der Einwand, man könne Spontaneität nicht fordern, übersieht, dass spontanes Handeln immer schon und gerade auf einen Anspruch des anderen reagiert. Das Gebot, den Nächsten wie sich selbst, also spontan, zu lieben, fordert, sich für diesen Anspruch zu öffnen. Ähnlich DERS.: Die ethische Forderung, 73. Løgstrup betont, die Radikalität dieser ethischen Forderung liege in deren Absicht, als Forderung gerade überflüssig zu werden (vgl. DERS.: Solidarität und Liebe, 118). 45 Zur Frage, ob das Gleichnis bereits ursprünglich eine Erklärung des Nächstenliebegebotes Lk 10,27 war, vgl. die unterschiedlichen Positionen von SELLIN: Lukas als Gleichniserzähler, 31, und HARNISCH: Die Gleichniserzählungen Jesu, 271–273. Für die hier interessierende Thematik 41
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denn der Nächste ist (vgl. Lk 10,29).46 Spontan ist sie darin, dass sie, wo sie Not sieht, so im Innersten berührt47 wird (Lk 10,33), dass sie dem Notleidenden unmittelbar hilft.48 Gerade dadurch wird dann die Frage, wer denn mein Nächster sei, überflüssig.49 Insofern „lebt [die Liebe], längst bevor ihrem Träger vielleicht in den Sinn kommt, daß sie auch vom Gesetz gefordert ist“.50 Spontan ist die Nächstenliebe weiter darin, dass sie keine Grenzen für die Kosten der Hilfe setzt (Lk 10,35b). Spontan ist sie schließlich darin, dass sie nicht danach fragt, ob die Hilfe sich irgendwann auszahlt. Sie ist „gratis“ und erwartet vom anderen nichts zurück.51 Auf den Punkt
kann dies unentschieden bleiben, da unstrittig ist, dass das Gleichnis die Nächstenliebe zum Gegenstand hat. 46 Vgl. LUTHER: Evangelium von den zehn Aussätzigen. 1521, WA 8, 366,28–31: „Es wil nit gnug sein, den armen helffen und dich martern, den feynden mustu auch liebe ertzeygen und […] nit erwelen [!], wem du gutt thuist fur einem andern.“ Vgl. BULTMANN: Das christliche Gebot, 231: „Der Nächste ist einer, der immer schon da ist, den ich immer schon habe und den ich nicht erst zu suchen brauche.“ Vgl. auch BARTMANN: Das Gebot, 91 (Hervorhebung im Original): „Daß das Mitleid des Samariters einem a;nqrwpo,j tij gilt, bedeutet eine ausdrückliche Universalisierung: Wer mit irgendeinem Menschen Mitleid hat, ist bereit, im Prinzip allen Menschen in Not beizustehen.“ Ähnlich betont auch SCHWEIZER: Das Evangelium nach Lukas, 122: „Wer der Nächste ist, kann und muß nicht definiert werden; sonst würde er ja zum ‚Objekt‘ der Fürsorge, und Tür und Tor wären offen für eine demütigende ‚christliche Liebe‘, die ein hilfebedürftiges Objekt für eine gute Tat sucht.“ – Zur Frage der Universalität der Nächstenliebe bei den Synoptikern vgl. EBERSOHN: Das Nächstenliebegebot, 240ff. Zur Frage der Universalität der Nächstenliebe bei Paulus vgl. SÖDING: Das Liebesgebot, 268f: „Die Agape ist für Paulus in allen Briefen vordringlich innerekklesiale Philadelphia. […] So unbezweifelbar aber die starke ekklesiale Note der Agape ist, macht der Apostel doch […] immer wieder deutlich, daß die Liebe nicht an den Grenzen der Ekklesia enden darf, sondern auch die Nicht-Christen einbeziehen muß“. Dabei ist die „Plausibilität der Mahnung, daß Liebe auch Nicht-Christen gebührt, […] für Paulus letztlich in der Universalität des Heilswillens Gottes begründet“. Johannes dagegen gebietet Liebe nur innerhalb der Gemeinde (vgl. SCHRAGE: Ethik, 320ff; BECKER: Feindesliebe, 16). Zur Frage, ob Geschwisterliebe eine „Verfallsform“ der eigentlichen christlichen Nächstenliebe darstellt, vgl. MÜHLING-SCHLAPKOHL: Geschwisterliebe. Mühling-Schlapkohl spricht sich dafür aus, dass „beide einander notwendig ergänzen“ (ebd., 176). – Zur Frage, ob das Nächstenliebegebot erst im Neuen Testament universale Geltung erlangt, vgl. NISSEN: Gott und der Nächste, 284f; EBERSOHN: Das Nächstenliebegebot, 243f, die sich dafür aussprechen, und SCHÜLE: „Denn er ist wie du“, 528ff, der sich dagegen ausspricht. 47 Vgl. BOVON: Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilbd., 90. 48 Vgl. KAMLAH: Art. „Barmherzigkeit II.“, 227. 49 Vgl. MARXSEN: „Christliche“ und christliche Ethik, 95: „Wenn er selbst Nächster ist, dann ist er immer dem ein Nächster, dem er gerade begegnet. […] Wenn er aber Nächster ist, dann kann er sich denjenigen, dem gegenüber er als Nächster handeln will, nicht mehr aussuchen.“ 50 SCHWEIZER: Das Evangelium nach Lukas, 122. 51 Auch LØGSTRUP: Solidarität und Liebe, 114, versteht dies als die Spontaneität der Nächstenliebe, und sieht genau darin die „Verschärfung“, die in Jesu Verkündigung mit dem Begriff des Nächsten vorgenommen wird: „Der Nächste ist der, der Hilfe braucht und von dem man kein Gegengeschenk erwarten kann, wie das bei Freunden, Verwandten und Gleichgestellten sonst der Fall ist.“
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gebracht: Der liebende Dienst am Nächsten ist darin spontan, dass der „der Hilfe bedürftige Mensch […] das einzige Gesetz des Handelns“52 ist. Solche Spontaneität53 ist wesentlich für die Nächstenliebe. Vor diesem Hintergrund wird dann aber die Frage nach dem rechten Maß der Nächstenliebe54 obsolet. Offenkundig ist sie dem Wesen der Nächstenliebe zuwider. Sie ist eine rein theoretische Frage, die sich im spontanen Lieben gerade nicht stellt. Die beschriebene Spontaneität, die die Nächstenliebe kennzeichnet, bezeichnet die Art und Weise, wie sich die Hilfe für den anderen vollzieht. Die inhaltliche Bestimmung, worin die Hilfe für den anderen besteht, wird im den anderen Annehmen gewonnen, in welchem die aufmerksam wahrgenommene Not des anderen zu unserer Aufgabe wurde.55
52 SCHWEIZER: Das Evangelium nach Lukas, 122. Vgl. dazu auch LØGSTRUP: Solidarität und Liebe, 116: „[…] wenn wir die Barmherzigkeit als spontan bezeichnen, so bedeutet dies, daß die Tat einzig und allein durch den Zustand und die Lage, in der sich der andere befindet, hervorgerufen ist, und daß nicht außerdem noch alles mögliche andere aus der Tat herausspringen soll, sei es für einen selber, für einen Dritten oder für eine Institution.“ 53 Ähnlich unterscheidet auch Erich Fromm zwischen einer „zwanghafte[n] Tätigkeit“ und einer Tätigkeit „aus freien Stücken“ (FROMM: Die Furcht, 187). Letztere ist dann als „spontan“ zu bezeichnen, wenn der Mensch darin „alle seine emotionalen und intellektuellen Möglichkeiten […] zum Ausdruck bringt“ (ebd.). Voraussetzung für diese Spontaneität ist nach Fromm, „daß man die Persönlichkeit in ihrer Totalität annimmt und die Spaltung zwischen ‚Vernunft‘ und ‚Natur‘ beseitigt; denn nur wenn der Mensch nicht wesentliche Teile seines Selbst verdrängt, nur wenn er sich selbst transparent wird und nur wenn er die verschiedenen Sphären seines Lebens grundsätzlich integriert hat, ist spontanes Tätigsein möglich.“ (Ebd.) Fromm bezeichnet als „wichtigste Komponente einer solchen Spontaneität […] die Liebe – aber nicht die Liebe, bei der sich das Selbst in einem anderen Menschen auflöst, und auch nicht die Liebe, die nur nach dem Besitz des anderen strebt, sondern die Liebe als spontane Bejahung der anderen, als Vereinigung eines Individuums mit anderen auf der Basis der Erhaltung des individuellen Selbst. Die dynamische Eigenschaft der Liebe liegt eben in dieser Polarität, die darin besteht, daß sie aus dem Bedürfnis entspringt, die Absonderung zu überwinden und zum Einssein zu gelangen und trotzdem die eigene Individualität nicht zu verlieren.“ (Ebd., 188f). 54 So die oben genannten Versuche, eine „Balance“ zwischen Nächsten- und „Selbstliebe“ herzustellen. 55 Dabei ist selbstverständlich: Wenn ein Mensch von Räubern überfallen im Graben liegt, ist es nicht vordringlich, ihn insgesamt, mit seiner Geschichte und seinen Eigenschaften anzunehmen. Hier gilt es schlicht, die Veränderung seiner Not als eigene Aufgabe anzunehmen.
IV) Ertrag
Aufgabe dieser Studie war es, einen christlichen Begriff von Selbstannahme zu entfalten. Es sei abschließend geprüft, ob die Arbeit dieser Aufgabe hinlänglich gerecht geworden ist. Der erste große Hauptteil diente einer ausführlichen Interpretation von Kierkegaards sich als „christliche Erörterung“ verstehender Schrift „Die Krankheit zum Tode“, in der Kierkegaard in für die moderne Subjektivitätstheorie maßgeblicher Weise nach der Bedeutung des menschlichen Selbstverhältnisses für den gelingenden Vollzug menschlicher Existenz fragt. Diese Schrift mit ihrer Schilderung verschiedener Gestalten eines kranken, verzweifelten Selbstverhältnisses wurde dabei als Negativfolie verstanden für eine Kierkegaards Ansatz gerecht werdende Entfaltung eines geheilten, nicht mehr verzweifelten Selbstverhältnisses (wohl wissend, dass dessen Zustand „allezeit kritisch“ bleibt). Verzweifelt ist für Kierkegaard ein Selbst, das nicht das Selbst, als das es von Gott gesetzt ist, sein will und also sich als dieses von Gott gesetzte Selbst ablehnt. Nicht verzweifelt ist dagegen ein Selbst, das das Selbst, als das es von Gott gesetzt ist, sein will und mithin sich als dieses von Gott gesetzte Selbst annimmt. Die sukzessiv fortschreitende Beschreibung des geheilten, nicht mehr verzweifelten Selbstverhältnisses konnte deshalb der präzisen Erhellung dessen dienen, wie christliche Selbstannahme gedacht werden muss. Zunächst (§ 3) wurde Kierkegaards Definition von „Selbst“ geklärt, die da lautet: Das Selbst, das der Mensch ist, ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Es wurde deutlich, dass dies bedeutet: Der Mensch ist darin ein Selbst, dass er sich im Existieren in den Kategorien von Bewusstsein und Wollen zu seinen von Gott gesetzten Existenzbedingungen verhält. Indem sich der Mensch zu diesen Existenzbedingungen verhält, verhält er sich aber immer auch zu dem, der sie gesetzt hat; in seinem Selbstbezug bezieht sich der Mensch immer auch auf Gott. Die von Gott gesetzten Existenzbedingungen sind nach Kierkegaard Endlichkeit und Unendlichkeit sowie Möglichkeit und Notwendigkeit. Zu Gottes Setzen dieser Existenzbedingungen gehört, dass Menschsein nur dann gelingt, wenn ein Wohlverhältnis zwischen den jeweils polaren Existenzbedingungen besteht. Im nächsten Schritt (§ 4) wurde Kierkegaards Diagnose, ein derartiges Selbst könne krank, genauer „verzweifelt“ sein, nachvollzogen. Entschei-
Ertrag
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dend war dabei zunächst die Einsicht, dass Verzweiflung weniger etwas Affektives als etwas Strukturelles ist. Verzweiflung ist ein Missverhältnis, also das genaue Gegenteil eines Wohlverhältnisses. Ein solches Missverhältnis begegnet sowohl innerhalb der Synthese als auch innerhalb des Verhältnisses des Menschen zu dieser Synthese, d.h. in seinem Selbstverhältnis; dabei führt letzteres zu ersterem. Ein Missverhältnis innerhalb der Synthese besteht dann, wenn sich ein Element der Synthesis auf Kosten des jeweils polaren anderen durchsetzt. Ein Missverhältnis innerhalb des Selbstverhältnisses besteht dann, wenn der Mensch nicht das von Gott gesetzte Selbst sein will oder wenn er darüber hinaus ein anderes Selbst als das von Gott gesetzte Selbst sein will. Mit dieser Einsicht konnte eine oft zu findende Interpretation des Kierkegaardschen Textes abgewiesen werden, das Verzweifelt-man-selbst-sein-Wollen bezeichne ein falsches, eigenständiges, sich selbst konstituierendes Wollen des gesetzten Selbst. Die Verzweiflung des Menschen findet nur dann ein Ende, wenn der Mensch das von Gott gesetzte Selbst sein will, wenn er also sich als den von Gott Gesetzten annimmt. Diese Annahme vollzieht sich nach Kierkegaard im Glauben. Im Glauben verhält sich der Mensch in einer ganz bestimmten Weise zu sich selbst (er will er selbst als der von Gott Gesetzte sein) und bejaht darin Gott als seinen Grund. Im Glauben bejaht der Mensch, dass und wie Gott ihn gesetzt hat, und zwar indem er das von Gott gesetzte Selbst sein will. Kierkegaards Beteuerung, die Formel: „indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat“ sei die „Definition […] für Glaube“,1 führte zu dem Schluss, dass für Kierkegaard Selbstannahme wesentlich zum Glauben gehört. Die anschließende Interpretation der von Kierkegaard dargestellten verschiedenen Gestalten der Verzweiflung (§ 5) ermöglichte – aufgrund der bereits erwähnten Verstehensperspektive – eine differenzierte Phänomenologie christlicher Selbstannahme. Wenn der Mensch sich als von Gott gesetztes Selbst bejaht, bejaht er die zweifache, durch Wohlverhältnis gekennzeichnete Synthese, als die Gott ihn gesetzt hat. Er bejaht das Wohlverhältnis von Möglichkeit und Notwendigkeit, das, so wurde gezeigt, darin besteht, dass er nur dann „er selbst“ ist, wenn er in Freiheit genau die gelungene Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit wird. Darin bejaht er das Wohlverhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit. Dieses impliziert eine differenzierte Bejahung der eigenen Schwierigkeiten und Vorzüge und die Bereitschaft zu deren Veränderung. Für die differenzierte Bejahung der eigenen Schwierigkeiten und Vorzüge ist das Rechtfertigungsereignis die entscheidende Voraussetzung: Diese 1
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Ertrag
Bejahung ist dem Menschen nämlich, so wurde deutlich, nicht direkt möglich; sie ist vielmehr nur möglich durch die Rechtfertigung, in der der Mensch als Person von seinen Schwierigkeiten und Vorzügen unterschieden wird. Diese Unterscheidung und damit auch die eigene Abhängigkeit von der Rechtfertigung anzunehmen entbindet den Glaubenden nun aber gerade nicht davon, in den eigenen Schwierigkeiten die, so sagte Kierkegaard, „ihm gestellte Aufgabe“ zu sehen. Durch die Rechtfertigung ist der Glaubende vielmehr dazu befreit, diese seine Schwierigkeiten nun auch als die seinen (aber nicht die ihn konstituierenden) anzunehmen. Dies geschieht allerdings nicht so, dass der Mensch dadurch jede Veränderung dieser Schwierigkeiten ausschließt; vielmehr findet die Aufgabe, die dem Glaubenden durch die eigenen Schwierigkeiten gestellt ist, ihr Ziel erst darin, dass diese verändert werden. So wurde deutlich: Christliche Selbstannahme ist keine Zementierung des Status Quo. Strukturell konnte die christliche Selbstannahme als mehrfache „Doppelbewegung“ beschrieben werden: Der Mensch muss seine Abhängigkeit von der Rechtfertigung bejahen (Bewegung hin zu sich), um sich dann in der Rechtfertigung von seinen Schwierigkeiten (und Vorzügen) unterscheiden zu lassen (Bewegung weg von sich). Nur durch diese Unterscheidung kann er seine Schwierigkeiten (und Vorzüge) als die seinen bejahen (Bewegung hin zu sich). Und nur dadurch wiederum ist eine Veränderung der Schwierigkeiten möglich (Bewegung seiner selbst). Entscheidend für die Überwindung der Verzweiflung ist, dass der sie überwindende Glaube sich auf die Botschaft des Christentums richtet, dass der Einzelne vor Gott existiert. Weil diese Botschaft des „vor Gott“ aber das „Absurde“ ist, kann der Mensch, der sie hört, sich an ihr ärgern, so dass er sie nicht glaubt. Dann bleibt er in der Verzweiflung. Durch die Tatsache, dass der Mensch, der die Botschaft gehört hat, jetzt aber ein Bewusstsein davon hat, vor Gott da zu sein, potenziert sich seine bisherige Verzweiflung zur Sünde (§ 6). Diese kann sich dann ihrerseits potenzieren, wenn der Mensch sich dafür entscheidet, weiter in der Sünde zu bleiben. Von der Sünde und ihren Potenzierungen wird der Mensch nur durch die Heilstat Jesu Christi und die Botschaft von Sünde und Vergebung befreit. Er muss diese glauben – und eine dieser Botschaft entsprechende Selbstannahme vollziehen: Der Glaubende nimmt sich (transitorisch) als Sünder an und (bleibend) als jemand, der von Gottes Vergebung abhängig ist; und er nimmt sich als jemand an, dem vergeben wird. Für das Verhältnis zwischen dem in § 5 und dem in § 6 Erörterten ergab sich: Für den Sünder ist die in § 5 beschriebene Selbstbejahung (sc. sich als von Gott gesetztes Selbst bejahen) nicht unmittelbar möglich. Er kann sie nur vollziehen, wenn er die Heilstat Jesu Christi glaubt und die in § 6 beschriebene, dieser Heilstat entsprechende Selbstbejahung (sc. sich als von
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Gott gerechtfertigten Sünder bejahen) vollzieht. Gegen Kierkegaard musste geltend gemacht werden, dass dies nicht nur für den gilt, der seinem Gottesbewusstsein zuwider handelt, sondern für jeden Sünder. Der zweite Hauptteil dann diente in seinem zentralen Paragraphen (§ 7) einer rechtfertigungstheologischen Systematisierung und Präzisierung des an Kierkegaard gewonnenen Verständnisses von Selbstannahme, die sich den reformatorischen Grundeinsichten verpflichtet wusste. Rechtfertigung wurde dazu in Aufnahme einer Idee Paul Tillichs zunächst als Annahme des Unannehmbaren durch Gott skizziert. Tillichs Ausführungen dieser Idee waren dort kritisiert worden, wo Tillich die Relationalität und Konkretheit der Rechtfertigung überging (§ 2). In einer eigenen, am Neuen Testament orientierten Entfaltung von Rechtfertigung als Annahme wurde versucht, diesen Fehler Tillichs nicht mitzumachen. Anhand des neutestamentlichen Begriffsbefundes wurde nämlich deutlich: Dass Gott den Menschen annimmt, bedeutet, dass er dem sündigen, unannehmbaren Menschen Gemeinschaft mit sich gewährt. Gott nimmt den Menschen an, heißt: Er bejaht den unannehmbaren Menschen – nicht an sich, sondern als Glied dieser Gemeinschaft. Insofern ließ sich gerade durch den Annahmebegriff die Relationalität des Rechtfertigungsgeschehens zur Geltung bringen. Diese Annahme hat Gott ein für allemal und alle Menschen einschließend in Jesus Christus vollzogen. In ihr ist über das Sein aller Menschen entschieden. Gottes Annahme ist allein in Gott begründet. Und sie ist bedingungslos. Der Mensch kann Gottes Annahme weder durch seine Eigenschaften, seine gegenwärtigen Umstände noch durch seine Geschichte, kurz: durch sein – so war der hier verwendete Ausdruck – faktisches Selbst beeinflussen. Indem Gott den Menschen annimmt, unterscheidet er ihn von seinem faktischen Selbst. Gottes Ja zum unannehmbaren Menschen als Glied dieser Gemeinschaft ist gleichzeitig ein differenziertes Nein Gottes gegenüber allem am Menschen, was diese Gemeinschaft mit Gott zerstören würde, wenn Gott nicht trotzdem an ihr festhielte, und was die Gemeinschaft mit anderen Menschen zerstört. Und es ist ein differenziertes Ja Gottes gegenüber allem am Menschen, was dieser Gemeinschaft mit Gott entspricht und für die Gemeinschaft mit anderen Menschen förderlich ist. Gottes Nein zum sündigen Menschen bedeutet nicht, dass Gott den Menschen auf das an ihm Verneinte festschreibt; es zielt vielmehr auf Veränderung. Umgekehrt heißt Gottes fundamentales Ja gerade nicht, dass Gott zum Menschen sagt: Du bist gut, so wie du bist! Im Glauben nimmt der Mensch die in Jesus Christus vollzogene Annahme Gottes seinerseits an. Im Glauben lässt der Mensch Gottes rechtfertigendes Handeln für sich gelten. Insofern kommt es im Glauben zu einer
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Freiheit des Menschen von sich selbst, und zwar, so konnte gezeigt werden, im Sinne einer Freiheit von seinem bisherigen Selbstverständnis und Selbstverhältnis als Sünder. Während der Sünder sich als Garant seiner selbst versteht und meint, sich durch sich selbst konstituieren zu können und konstituieren zu müssen, und sich deshalb zwanghaft auf sich selbst bezieht (eine Struktur, die als Gefangenschaft in sich selbst zu beschreiben ist), versteht der Glaubende sich gerade nicht mehr so. Er ist frei von seinem alten Selbstverständnis und Selbstverhältnis. Sein neues Selbstverständnis ist umgekehrt positiv durch das definiert, was Gott in der Rechtfertigung über ihn sagt; der Glaubende versteht sich als von Gott trotz seiner Unannehmbarkeit angenommen. Dieses neue, durch Gottes Annahme fundamental qualifizierte Selbstverständnis schließt ein, dass der Mensch das, was Gott in der Annahme über ihn sagt, gelten lässt; es bedeutet, so wurde gezeigt, eine vierfache implizite Selbstannahme, in der der Mensch sich nicht als trotz seiner Unannehmbarkeit von Gott angenommen ablehnt: Wenn der Mensch Gottes Annahme gelten lässt, dann heißt das, dass er sich nicht als Sünder, als von Gottes Handeln abhängig, als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt und als von seinem faktischen Selbst unterschieden ablehnt. In dieser impliziten Selbstannahme ist der Mensch passiv, weil er ein bestimmtes negatives Selbstverhältnis, eben das der Selbstablehnung, gerade nicht vollzieht. Es konnte plausibel gemacht werden: Wenn der Mensch sich dieser impliziten Selbstannahme verweigert, glaubt er nicht. Implizite Selbstannahme gehört mithin zum Glauben notwendig hinzu. Die Einsicht Kierkegaards, dass der Glaubende aber auch eine ausdrückliche Selbstannahme vollzieht, in der er gleichwohl nicht aus seiner grundsätzlichen Ausrichtung auf Gott herausfällt, führte zur Entfaltung einer (die verschiedenen Phänomene der an Kierkegaard gewonnenen Selbstannahme aufnehmenden) expliziten Selbstannahme. Diese wurde als Freiheit zu sich selbst bestimmt. In ihr vollzieht der Mensch in seinem Selbstverhältnis nach, was Gott in der Rechtfertigung über ihn sagt. In dieser expliziten Selbstannahme ist der Mensch aktiv. Zu der expliziten Selbstannahme gehört: Der Glaubende darf und soll sich erstens (transitorisch) als Sünder, zweitens als von Gott abhängig und drittens als der Gemeinschaft mit Gott gewürdigt annehmen. Kurz: Er darf und soll sich als von Gott angenommen (= der Gemeinschaft gewürdigt) trotz (= abhängig) seiner Unannehmbarkeit (= Sünder) annehmen. Voraussetzung für einen der Rechtfertigung entsprechenden Umgang mit seinem faktischen Selbst ist, dass der Mensch sich viertens als in der Rechtfertigung von seinem faktischen Selbst gerade unterschieden annimmt. Dies bedeutet ein vollkommen neues Verständnis seines faktischen Selbst. Er
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versteht dann sein faktisches Selbst als das, was es ist: das seine, aber nicht das ihn konstituierende. Explizite Selbstannahme bedeutet fünftens, dass der Mensch die Bedingungen seiner Existenz, innerhalb deren sein faktisches Selbst existiert, annimmt. Dazu gehört sechstens eine differenzierte Annahme seines faktischen Selbst. Dieser letztgenannten, sechsten Form der Selbstannahme konnte ihr Ort im Horizont von Luthers Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen, präziser: beim äußeren Menschen zugewiesen werden; sie ist kein Bestandteil des Glaubens, wohl aber Teil des Lebensvollzugs des Glaubenden. Diese differenzierte Annahme des faktischen Selbst, d.h. von des Menschen Eigenschaften, Umständen und seiner Geschichte, wurde als der Dreischritt Wahrnehmen, (transitorisches) Annehmen und Unterscheiden (und ggf. Verändern) des derart Angenommenen entwickelt. Das Kriterium dafür, wann eine transitorische Selbstannahme geboten ist, ist das Rechtfertigungsereignis selbst. Ihren primären Ort haben die drei Schritte der differenzierten Selbstannahme im Gebet als der Situation konzentriertester Gemeinschaft mit Gott. Aus Kierkegaards Auffassung, Selbstannahme gehöre wesentlich zum Glauben, hätte der Schluss gezogen werden müssen, die beschriebenen fünf anderen Formen der expliziten Selbstannahme gehörten wesentlich zum Glauben selbst. Dies aber steht in direktem Widerspruch zu der reformatorischen Einsicht, dass der Mensch im Glauben nichts anderes macht als Gott glauben. Angesichts dieses Dilemmas half eine Unterscheidung Paul Tillichs weiter: Tillich unterscheidet zwischen dem Glauben als der Annahme des Angenommenseins durch Gott und einem Sich-Annehmen als derart angenommen, das Ausdruck des Glaubens ist. Mit dieser Unterscheidung wird die Strenge des Lutherischen Glaubensbegriffs bewahrt, gleichzeitig aber zur Geltung gebracht, was an Kierkegaard deutlich wurde: Der Gottesbezug des Menschen ersetzt nicht, dass der Mensch sich im Existieren zu sich selbst verhalten muss. Gegen Kierkegaard musste geltend gemacht werden, dass es eine Unterbestimmung des Glaubens ist, wenn man ihn – wie in der bereits genannten Glaubensdefinition2 – nur als impliziten Gottesbezug (indem der Mensch sich auf sich selbst bezieht, bezieht er sich auf Gott) versteht. Glaube ist wesentlich expliziter Gottesbezug. Trotz dieser Kritik konnte Kierkegaard
2 KT 134: „[…] indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat. Eine Formel, die wiederum […] die Definition [!] ist für Glaube.“
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aber mit seiner These überzeugen, dass ein Mensch, der sich selbst in der beschriebenen Weise bejaht, nicht aus seinem Gottesbezug herausfällt. So ergab sich insgesamt: Die explizite Selbstannahme ist kein Bestandteil des Glaubens, aber ein Ausdruck des Glaubens; sie ist für den Lebensvollzug des gerechtfertigten Sünders – nicht aber für seine Rechtfertigung! – von Bedeutung. Die in dieser Studie erörterte christliche Selbstannahme ist nicht als eine christliche Liebe zu sich selbst zu verstehen – und zwar deshalb, weil sich der nicht-liebenswerte Sünder nicht durch sein eigenes Lieben liebenswert machen kann. Dies aber konnte im Anschluss an Luther als das Kennzeichen christlicher Liebe herausgearbeitet werden: Sowohl göttliche Liebe wie auch Nächstenliebe zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf das Nicht-Liebenswerte richten und es in diesem Lieben liebenswert machen. Im letzten Paragraphen (§ 8) der Arbeit wurden die ethischen Konsequenzen dessen skizziert, dass Gott nicht nur mich, sondern jeden Menschen angenommen hat. Das Angenommensein durch Gott ist Aufforderung und Orientierung der Annahme, die dem Nächsten gelten soll. Den anderen anzunehmen heißt in Entsprechung zur Annahme Gottes, ihm als anderem – ohne dass der andere sich erst verändern muss – Gemeinschaft anzubieten. Dazu gehört zum einen, den anderen als von Gott angenommen anzunehmen, d.h. das, was Gott in der Rechtfertigung über den anderen gesagt hat, im eigenen Umgang mit dem anderen zur Geltung zu bringen. Dazu gehört zum anderen eine differenzierte Annahme des faktischen Selbst des anderen, die sich sowohl auf seine Eigenschaften und seine Geschichte als auch auf seine Umstände bezieht. Die Umstände des anderen anzunehmen bedeutet aber nichts anderes als sich des anderen anzunehmen, d.h. den Nächsten zu lieben. Diese Liebe zum Nächsten ist – mit Luther zu reden – „nicht gunst allein, sondern gunstige wolthat“.3 Die von Luther behauptete Spontaneität dieser Nächstenliebe wurde als die Pointe des Gebotes, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, profiliert. Damit konnte die Auffassung abgewiesen werden, in diesem Gebot werde der Christ explizit zur Selbstliebe aufgefordert. Gleichzeitig wurde die Frage nach dem rechten Maß der Nächstenliebe als dem Wesen der Nächstenliebe zuwider entlarvt. Insgesamt hat die Untersuchung gezeigt: Der Glaubende darf und soll sich selbst als den annehmen, der er durch Gott ist. Er darf und soll das Rechtfertigungsereignis in einem expliziten Selbstverhältnis der Annahme zur Geltung bringen. Dieses explizite Selbstverhältnis vollzieht sich aus Freiheit und in Freiheit; insofern ist es eine Freiheit des Glaubenden zu sich selbst.
3
LUTHER: Fastenpostille. 1525, WA 17/II, 98,32f.
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Abkürzungsverzeichnis
EC
KIERKEGAARD, S.: Einübung im Christentum, übers. von E. Hirsch, Gesammelte Werke, 26. Abteilung, 1955.
KT
KIERKEGAARD, S.: Die Krankheit zum Tode, übers. von E. Hirsch, Gesammelte Werke, 24./25. Abteilung, 41992.
KTGS
KIERKEGAARD, S.: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus. Hg.v. S. Kierkegaard. Kopenhagen 1849, übers. von H. Gottsched/Ch. Schrempf, 1938.
SV 15
KIERKEGAARD, S.: Sygdommen til Døden. En christelig psychologisk Udvikling til Opbyggelse og Opvækkelse af Anti-Climacus udgivet af S. Kierkegaard, in: Ders., Samlede Værker, 3. Aufl., Bd. 15, hg.v. P.P. Rohde, 1963, 65– 180.
Personenregister
Althaus, P. Anzenberger, H. Aristoteles Asendorpf, J.B. Augustinus, A. Axt-Piscalar, Ch.
131 128 49, 143, 175, 188f, 199 180 130f 39, 50
Delling, G. Deuser, H. Dieter, Th. Dietz, W. Drewermann, E. Dunn, J.D.G.
139 35, 43, 79 189, 198 32, 51, 162, 170 178f 139
Ebeling, G. Bachmann, M. Barth, H.-M. Barth, K.
Bartmann, P. Barz, H. Battegay, R. Bayer, O.
Becker, J. Beintker, M. Beutel, A. Biser, E. Bleuler, M. Bohlin, T. Bongardt, M. Bonhoeffer, D. Bornkamm, H. Bösch, M. Bovon, F. Brechtken, J. Brüske, G. Buber, M. Bultmann, R.
Calvin, J. Cappelørn, N.J.
139 137 135, 140f, 143, 145f, 156, 161, 168, 179, 183f, 198 200, 204 174 132, 192 16, 22, 127–130, 138, 140, 149, 171, 177, 182 145, 204 149 176 44, 168 117 31 30, 46, 71, 97 137, 148, 155, 198 142 31, 41f 156, 204 131 30, 148 137, 201 40, 44, 150–154, 159, 168, 172, 179, 200, 204
Capps, D. Cohen, H.
170, 202 28, 34, 47, 58, 73, 97 177 201
Dalferth, I.U. Danz, Ch.
126, 148 19
141, 144, 149, 155, 175–177, 183, 187 Ebersohn, M. 202, 204 Eisenstein, M. 89 Erasmus von Rotterdam 202 Erikson, E.H. 116f, 145 Esser, A. 115 Evans, C.S. 37 Fahrenbach, H. Ferreira, M.J. Fichte, J.G. Fiedler, P. Figal, G. Fischer, H. Fischer, I. Fischer, J. Fonk, P. Fromm, E. Fuchs, E. Gerdes, H. Gerhardt, G. Greve, W. Grimm, J. und W. Grisebach, E. Gründel, J. Grundmann, W. Grøn, A.
57, 63, 65 57 27, 37 138 29, 35 37, 45, 95f, 111, 114 184 199f 97 135, 205 20, 140
Gunkel, H. Gutmann, H.-M.
29 153 62 40, 138 137 174 130, 138f, 155 30, 40, 43, 45, 54, 64, 68, 80, 94, 97, 104 30, 49, 58, 89, 147f, 174, 180f 179 149
Hannay, A.
43–45, 72
Guardini, R.
227
Personenregister Härle, W. Harnisch, W. Harris, Th.A. Hartshorne, M.H. Hauerwas, S. Haustein, M. Hegel, G.W.F. Heidegger, M. Herms, E. Hirsch, E. Hirsch, M. Holl, J. Horney, K. Hünermann, P. Hütter, R. Jacob, B. James, W. Janke, W. Janowski, B. Joest, W. Jung, C.G. Jüngel, E.
Jørgensen, A. Kaminski-Knorr, K. Kamlah, E. Kant, I. Käsemann, E. Kettner, M. Keupp, H. Kierkegaard, S.
Kim, M. von Kleist, H. Knuth, H.Ch. Koch, T. Kohut, H. Korsch, D. Korthaus, M. Krämer, H.
141, 143, 176 203 146 32 182 25f, 178 54, 128 49, 60, 151, 168, 171 193 27, 31f, 50f, 58, 87, 92, 99, 102 115 64 153 115f 182 179 27, 153 36, 58, 86, 97 177 131, 149f, 156, 164, 182f, 201 17, 174f 79f, 93, 127f, 130, 140f, 143, 145, 147–149, 154, 160, 163, 171, 194, 199 27 131, 133f 204 74, 112, 143 172f, 192, 195 165, 184, 186 117 12–14, 18, 27–126, 128f, 137f, 141, 145, 148, 150, 157– 160, 162f, 166– 168, 173, 175, 180f, 183, 186f, 200, 206–211 35 133 130, 165 23 132 165 16, 21 153
Lange, D.
Luz, U. Løgstrup, K.E.
160, 162, 170, 192, 197–199 135 41, 54 138 176 11f, 20, 62, 116f, 127–131, 139, 141f, 148–150, 155f, 162–170, 176, 180, 182, 189f, 197–204, 211f 203 203–205
Marxsen, W. Mathys, H.-P. Maurer, E. Mead, G.H. Meisinger, H. Michel, O. Mjaaland, M.G. Moltmann, J. Moltmann-Wendel, E. Most, G.W. Moxter, M. Mühling-Schlapkohl, M. Müller, S.E. Müller, W.E.
200, 204 201 149 27 203 139, 191 44, 46 147 180 171f 165 204 163, 166, 175, 181 198, 202
Nietzsche, F. Nissen, A.
45, 101, 172, 175, 200 201, 203f
Oden, Th.C. Ott, H. Ovidius Naso, P.
178 151 131–136
Pannenberg, W. Pattison, G. Pauly, S. Pervin, L.A. Pesch, O.H. Pesch, R. Pico della Mirandola, G. Pindar Plathow, M. Platon Pröpper, Th.
27, 96, 128 30, 92, 95 30, 37, 41 179 117 155 66f 171f 140, 145, 148 49, 139 36
Rengstorf, K.H. Rest, W.
139 51
Lichtenstein, H. Liessmann, K.P. Linnemann, E. Luibl, H.J. Luther, M.
228 Ricoeur, P. Ringleben, J.
Ritschl, A. Roberts, R.C. Rogers, C.R. Rogoll, R. Roth, H.-J. Roth, M. Rousseau, J.-J. Sader, M. Sartre, J.-P. Sass, H. Sauter, G. Schaeffler, R. Scharbau, F.-O. Schlabach, G.W. Schleiermacher, F. Schlier, H. Schmidt, H.W. Schmithals, W. Schneider-Flume, G. Schnübbe, O. Schönpflug, U. Schrader, W.H. Schrage, W. Schrempf, Ch. Schüle, A. Schulz, H. Schulz, P. Schürmann, H. Schütz, A. Schwanke, J. Schwarz, R. Schweitzer, F. Schweizer, E. Seebass, H. Seils, M. Sellin, G. Sløk, J. Söding, Th. Sölle, D. Splett, J.
Personenregister 184 35–38, 40, 45f, 50f, 59, 62f, 65, 69, 86, 97, 132f, 135f 143 30 146f, 178 146 131 135, 149 131 179 19 131 141, 148, 177 176 176 130 34 139 192 154, 191, 193, 196 117, 127, 132, 137, 171, 174 16 15 15, 45 173, 181, 191, 204 34, 51 201, 204 27, 30, 38, 47, 56 143, 188f 155 131, 192 142 199 116f 155f, 204f 178f 17, 26 203 56 140, 191, 203f 199 147
Stählin, G. Stewart, J. Stollberg, D. Stolt, B. Strobel, A. Studzinski, R. Stuhlmacher, P.
182 54, 70 147, 174, 178, 202 176 157 186 139, 191
Tacke, H. Taylor, Ch. Thaidigsmann, E. Theobald, M. Theunissen, M.
Track, J. Trowitzsch, M. Tugendhat, E.
178 30 143, 199 191, 193, 195 29–31, 40, 42–44, 56, 62, 65, 71f, 83, 103, 149, 176, 200 188 13f, 16–25, 34, 40, 128–130, 137f, 145, 161, 167f, 172, 175, 177, 209, 211 128 191, 194 34, 36
Ulanov, A. Ulanov, B. Utz, K.
177 177 143
van de Spijker, H. Vetter, H. Vinge, L.
202 46 131
Wardetzki, B. Weber, H. Weingardt, B.M. Wenz, G. Wesche, T. Westermann, C. Wiefel, W. Wilckens, U. Winkler, E. Wolter, M.
146, 178 179 106, 184, 186 16, 19, 22, 164, 172 34 177 138 191–193 146 139
zur Mühlen, K.-H.
150, 164
Thomä, D. Tillich, P.
Sachregister
Abhängigkeit von der Rechtfertigung Aktivität Angst Annahme des anderen des faktischen Selbst des Unannehmbaren der Rechtfertigung der Vergebung seiner selbst als abhängig seiner selbst als gerechtfertigt seiner selbst als Sünder s.a. Bejahung s.a. Selbstannahme, Selbstbejahung Ärgernis
83f, 90, 157 49, 62, 76, 85, 163f, 166, 184 18–20, 22, 60, 104, 133, 174, 178f, 184 13f, 16ff, 79f, 137–147, 180, 185, 193f, 209 191–197, 212 85f, 90, 163, 166, 174f, 177, 211 16, 143f 80, 84, 89f, 148, 157f 117 84, 90, 115ff, 122, 160f 119, 161f 109, 117, 160
Begrenzendes Bejahtwerden Bejahung der eigenen Abhängigkeit des Bejahtwerdens des Gesetztseins des faktischen Selbst des neuen Selbst des von Gott gesetzten Selbst s.a. Annahme s.a. Selbstannahme, Selbstbejahung Bewegung am Ort Botschaft des „vor Gott“ von Christus von Sünde und Sündenvergebung
57, 65 20–22 61f, 68, 121ff, 140 83, 90, 115ff 23–25 52, 102 43 154 48, 102, 119, 162
93f, 107ff, 119f
65f 92ff, 97ff, 109 110 109
Charakter cooperatio
183f 182
Dank Demut Differenz zwischen Gott und Mensch Distanz Doppelbewegung Du-Bezogenheit Durchsichtigsein
185 120 111 62, 74, 76, 134f, 190 62, 80, 84, 86, 90, 122, 150, 208 199f 68, 71, 101ff, 117
Eigenschaften
56ff, 76ff, 141, 165f, 173, 179–184, 195f
230
Sachregister
Einzelner Endlichkeit Entscheidung Entzweiung Erinnern Er-selbst-Sein Ewiges Existenzbedingungen Annehmen der Existenzphilosophie extra nos
50, 68, 109, 111 34, 56ff, 62–64, 195 120, 151ff 40 184f 64, 68 83 34 48ff, 161ff 148 12, 23f, 140, 149f
Freiheit vom alten Selbst von sich selbst zu sich selbst Frieden mit sich selbst
63ff, 151ff 150–156 11f, 14, 124f, 137, 149ff, 176, 210 12, 125, 152, 156ff, 168f, 176, 210, 212 48
Gebet Gefangenschaft in sich selbst Geist Geistlosigkeit Gemeinschaft mit dem anderen mit Gott Gericht Geschichte Gewissen Glauben
176ff, 181, 185ff, 211 11, 124, 127ff, 149, 154, 167, 210 40 70f, 104
Ausdruck des Definition des Gott Gottesverhältnis Grenze
191f 138ff, 144ff, 181f 144 141, 165, 173, 184–186, 196 117 13, 16, 20–25, 30, 49, 51f, 58, 61, 67f, 71, 75f, 79, 83, 86, 89, 92, 94, 101, 115–123, 140, 148f, 157ff, 166ff, 207, 209 24f, 167f, 211 119 11, 20–22, 37f, 68, 138ff 50f, 58f, 120 65
Heiligung Heilung Hermeneutische Methode Hoffnungslosigkeit Hybris
172, 181ff 28f, 81, 132 13, 28–30, 206 18, 46 128f
Identität Indikativ und Imperativ Individualismus Individuation
116f, 145 172 22 19f
Ja und Nein Gottes Jesus Christus
144–147, 181, 185, 195 22, 107, 110ff, 115ff, 140, 144ff, 161f, 169, 191, 193, 209
Klage
176f, 185f
Sachregister
231
Konkret-Werden Konkupiszenz Krankheit zum Tode Kreuz Krieg
55 128f 46 22, 87, 140, 155 113
Lebensgemeinschaft Liebe christliche göttliche menschliche natürliche Liebenswertes
140f 132ff 189f 142–144, 146, 189 142, 189 189 133, 142ff, 189f, 197ff, 212
Maßstab Mensch Grund des Menschen innerer und äußerer Ziel des Menschen Missverhältnis gegenüber der Vergebung im Selbstverhältnis zu Christus zu Gott zur eigenen Sünde zur Welt zw. den Elementen der Synthese Moderne Möglichkeit Mut zum Sein
99 68 163ff 68 41, 45, 54ff 108 42, 46ff, 69–91, 100, 114, 129 114 99f, 129 105 129 41, 46f, 50, 55–68, 71, 91 12, 15, 21, 206 34, 63ff 19f, 25, 61, 89, 120 20, 23f, 167
Nächstenliebe Nächster Nähe Narcissus Narzissmus Neid sich selbst gegenüber Nein des Menschen zu sich selbst Notwendigkeit
135, 192, 197–205, 212 14, 191–205 110–112, 134f, 190 131–136, 188, 190 131f 194 93, 118 182 34, 56ff, 63ff
Originalität
59–61, 183
Paradox Partizipation Passivität Person
92f 19f 148f, 158, 163f, 166, 184 77, 79f, 83, 85f, 88f, 121, 137, 141, 146–148, 171, 184, 190, 208 13f, 22ff, 138 180f 57ff, 61 19, 34f
Personalität Persönlichkeit Phantasie Polarität
232
Sachregister
Pseudonym Psychoanalyse Psychologie Psychotherapie
31f 16f, 132 116f, 131, 153, 174, 178ff, 182, 192 17, 146f, 175
Rechtfertigung
11ff, 16, 22, 25, 79f, 83, 89f, 121f, 125, 137–147, 188, 207ff 11ff, 16ff, 21, 124ff, 159, 163 73f, 76f 22, 25, 125, 137, 140 105ff, 115f, 160
Rechtfertigungslehre Reflexion Relationalität Reue Schöpfung Schuld Schwachheit Schwierigkeiten Annahme der Unterscheidung von den Seelsorge Seinsgemeinschaft Selbst abstraktes altes faktisches geheiltes Gesetztsein des konkretes Krankheit des originelles von Gott gesetztes wahres Werden des wirkliches Selbstannahme differenzierte explizite implizite transitorische und Annahme anderer und Glaube s.a. Annahme, Bejahung Selbstbejahung ontologische Selbstbewusstsein Potenzierung des Selbstbezogenheit Selbstbezug expliziter s.a. Selbstverhältnis Selbstbild Selbsterhaltung Selbsterkenntnis
142ff, 147, 162, 181 25, 147 72, 82f, 109 77ff 79 79 17, 24, 178 140, 193 13, 15, 27, 34–39, 120, 153, 206 79, 85f 150–156 43, 64f, 76ff, 82, 141f, 165f, 174, 195 28, 30, 48–53, 61–63, 67f, 71, 75f, 78, 83f, 86f, 89f, 101–103, 115–123 37–39 55, 65 40–48 59–61 38f, 44, 50 44, 64 63f, 66 63–65, 77 13ff, 23ff, 30, 121ff, 147f, 188–190, 207 90, 102, 163, 166, 170–188, 211 156, 158ff, 166ff, 169f, 210 156–159, 166, 169, 210 160, 175f, 181, 185ff, 208, 210f 192 119, 124f, 163–168 23–25, 48ff, 121ff 17–20 40, 54, 69, 81, 101f, 109, 112 105, 109, 112 199f 29, 39, 127–130, 150, 169 124, 154f 27, 84, 107, 117, 133ff, 165 202f 132, 134, 136
Sachregister
233
Selbsthass Selbstkonstitution Selbstliebe Selbstlosigkeit Selbstsein Selbstsucht Selbstvergessenheit Selbstverhältnis des Glaubenden des Sünders geheiltes s.a. Selbstbezug Selbstverkrümmtheit Selbstverleugnung Selbstverlust Selbstverschlossenheit Selbstverständnis des Glaubenden des Sünders Selbstvertrauen Selbstwertgefühl simul iustus et peccator Spontaneität Stolz Subjektivität Sünde Fortsetzung der Grundsünde Potenzierung der Sich die Sünde Nachsehen Tatsünde Sündenbekenntnis Sündenerkenntnis Synthese Möglichkeit-Notwendigkeit Unendlichkeit-Endlichkeit
156 154ff 131 131, 192 16, 116f, 145, 161 201–205 82, 84, 106f, 116, 118 12, 15, 206 80, 92–123, 127–131, 208 102–114 144 105, 112, 114, 208 106f, 115, 117, 186 104 157, 160, 166, 185 157 35f, 41 63ff, 91, 162f, 207 55ff, 64f, 91, 162f, 207
Trotz
72, 84, 88, 108f
Umstände Unendlichkeit Unglaube Unmittelbarkeit Unterscheidung vom faktischen Selbst von Person und Werk
56ff, 74f, 141, 165, 173, 186f, 196 34, 57ff, 61, 64, 195 128f 73f, 77 79f, 152f, 175, 179f 141f, 158, 161, 170 79, 89, 141
Veränderung
57, 74f, 77f, 87–90, 146f, 175, 179–181, 187, 195– 197, 208 186 79, 107ff, 145 115, 160, 185 186
Vergeben Vergebung Bitte um Versöhnung
82, 129, 202 26, 39, 79, 127, 137, 168 107, 130ff, 135f, 188–190, 192, 197, 200–202, 212 152, 199f 148 129–131, 200 149, 176 35f, 42, 50f, 120, 127ff, 150 11ff, 24f, 136ff, 156ff 11, 127ff, 136, 154 28–30, 206 124, 130, 136, 150 155f 58, 60 82f
234
Sachregister
Verzweiflung als Affekt als Struktur am Ewigen an der Vergebung an etwas aus Schwachheit der Endlichkeit der Möglichkeit der Notwendigkeit der Schwachheit der Unendlichkeit ein anderes Selbst sein zu wollen man selbst sein zu wollen nicht man selbst sein zu wollen Potenzierung der Stufenfolge der über das Irdische über die Schwachheit über die Sünde über etwas über etwas Irdisches und Sünde uneigentliche vor Gott
18, 27, 40–48, 54–123, 207 40f, 75, 81f 40f, 71, 75, 80–82 81 107–112 81 78 60, 71, 75, 88 66f, 83, 86, 88 67, 71, 75, 78 73ff 58, 60, 78, 83, 86 42–45, 84–88, 109 42–45 42–45, 73–84, 108f 100 70, 84 80f 82 105–107 81 73–81 94–100 48, 70ff 95
Wahrnehmen „Werde, der du bist“ Werke Wohlverhältnis Wollen das von Gott gesetzte Selbst sein
174, 177, 180, 184f, 186f 64, 172f, 183 79, 141 38, 50, 62, 68 35, 40 45, 49, 121
Zweifel
21, 40
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Reinhard Slenczka und Gunther Wenz. Eine Auswahl:
Band 112: Miriam Rose
Band 105: Christoph Klein
Fides caritate formata
Das grenzüberschreitende Gebet
Das Verhältnis von Glaube und Liebe in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin 2006. Ca. 320 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56342-6
Zugänge zum Beten in unserer Zeit 2004. 222 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56334-5
Band 104: Karsten Lehmkühler Band 110: Matthias Haudel
Inhabitatio
Die Selbsterschließung des dreieinigen Gottes
Die Einwohnung Gottes im Menschen 2004. 365 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56331-0
Grundlagen eines ökumenischen Offenbarungs-, Gottes- und Kirchenverständnisses 2005. Ca. 640 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56338-8
Band 109: Martin Hailer
Gottt und die Götzen Über Gottes Macht angesichts der lebensbestimmenden Mächte 2005. 430 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56336-1
Band 103: Henning Theißen
Die evangelische Eschatologie und das Judentum Strukturprobleme der Konzeptionen seit Schleiermacher 2004. 328 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56256-X
Band 102: Dorette Seibert
Glaube, Erfahrung und Gemeinschaft Band 108: Max Josef Suda
Die Ethik Martin Luthers 2005. Ca. 184 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56337-X
Band 107: Markus Mühling
Versöhnendes Handeln – Handeln in Versöhnung Gottes Opfer an die Menschen 2005. 382 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56335-3
Band 106: Magnus Schlette
Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus 2005. 384 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56333-7
Der junge Schleiermacher und Herrnhut 2003. 367 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56242-X
Band 101: Claus Schwambach
Rechtfertigungsgeschehen und Befreiungsprozess Die Eschatologien von Martin Luther und Leonardo Boff im kritischen Gespräch 2004. 397 Seiten, gebunden ISBN 3-525-56239-X
Studium Systematische Theologie 10 Bände. Bei Abnahme der Reihe 10% Ermäßigung
Mit »Studium Systematische Theologie, Band 1–3« präsentiert Gunther Wenz die ersten drei Bände einer auf zehn Bände angelegten evangelischen Dogmatik. Die drei Eingangsbände behandeln die Themen Religion,Offenbarung und Kirche. Sie sind nicht klassische Prolegomena zur Dogmatik, sondern sie sollen der Theologie zum entwickelten Bewusstsein ihrer gegenwärtigen Aufgaben durch die Rekonstruktion ihrer Problemgeschichte verhelfen.
Band 1: Gunther Wenz
Zur raschen Orientierung sind die einzelnen Abschnitte jeweils für sich lesbar. Im Zuge fortschreitender Entwicklung fundamentaltheologischer Fragestellungen verdichten sie sich zu einem Systementwurf.
Band 3: Gunther Wenz
Band 1 erörtert im Kontext der neueren evangelischen Theologie in Deutschland Aspekte des modernen Begriffs der Religion und ihrer Theorie. Wenz geht davon aus, dass die Spaltung der westlichen Christenheit ein Ereignis mit epochalen Fragen für Begriff und Verständnis von Religion ist. Nach einer Skizze der nachreformatorischen Entwicklung entfaltet Wenz die Religionstheorien der Sattelzeit der Moderne unter Konzentration auf Kant, Hegel und Schleiermacher. Auch religionskritische Strömungen finden Berücksichtigung. Eingeleitet wird der Band mit einer an Niklas Luhmann und Jürgen Habermas orientierten Analyse zur religiösen Lage der Gegenwart.
Religion Aspekte ihres Begriffs und ihrer Theorie in der Neuzeit 2005. 279 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-56704-9
Band 2: Gunther Wenz
Offenbarung Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie 2005. 285 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-56705-7
Kirche Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumenischer Absicht 2005. 284 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-56706-5
In Vorbereitung: Band 4: Gott. ISBN 3-525-56707-3 Band 5: Christus. ISBN 3-525-56708-1 Band 6: Geist. ISBN 3-525-56710-3 Band 7: Schöpfung. ISBN 3-525-56711-1 Band 8: Sünde. ISBN 3-525-56712-X Band 9: Versöhnung. ISBN 3-525-56713-8 Band 10: Vollendung. ISBN 3-525-56714-6