Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes: Zum Gewährleistungsgehalt schrankenvorbehaltloser Grundrechte am Beispiel der Glaubens- und Gewissensfreiheit [1 ed.] 9783428524273, 9783428124275

Kopftuch- und Kruzifixentscheidung des BVerfG haben deutlich werden lassen, daß bereits die dogmatischen Grundlagen des

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Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes: Zum Gewährleistungsgehalt schrankenvorbehaltloser Grundrechte am Beispiel der Glaubens- und Gewissensfreiheit [1 ed.]
 9783428524273, 9783428124275

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1079

Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes Zum Gewährleistungsgehalt schrankenvorbehaltloser Grundrechte am Beispiel der Glaubens- und Gewissensfreiheit

Von Ulrich Vosgerau

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ULRICH VOSGERAU

Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1079

Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes Zum Gewährleistungsgehalt schrankenvorbehaltloser Grundrechte am Beispiel der Glaubens- und Gewissensfreiheit

Von

Ulrich Vosgerau

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12427-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2006 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde am 15. Mai 2006 abgeschlossen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger, der die Arbeit fachlich betreut und angeleitet hat. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Rainer Wahl für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Das Bundesministerium des Innern hat die Drucklegung dieser Schrift in besonders großzügiger Weise finanziell unterstützt, hinzu kam ein weiterer Druckkostenzuschuß seitens der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg i. Br.; beiden sei dafür herzlich gedankt. Ich widme dieses Buch meinen Eltern, denen ich weit mehr als die Unterstützung meiner Promotion verdanke. Köln-Lindenthal, im Sommer 2006

Ulrich Vosgerau

Inhaltsverzeichnis A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . .

17

I. Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

II. Textbefund und Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . .

18

III. Glaubens- und Gewissensfreiheit als schrankenvorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

IV. Grundrechtstheoretische Vorüberlegung: die Rahmenordnungs- und die Grundordnungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

1. Verfassungstheorie und Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2. Argumente für die Rahmenordnungskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

a) Historisch-genetischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

b) Das Kompetenzverteilungsproblem: Bundesverfassungsgericht und Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

c) Methodologischer Ansatz: Abwägungsskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

3. Argumente für die Grundordnungskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

V. Eine einfache, textbasierte Grundrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

1. „Grundrechtstheoretisches Patt“ zwischen Rahmenordnungs- und Grundordnungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

a) Auflösung des Patts durch das „institutionelle Grundrechtsdenken“? . . . .

35

b) Entscheidung durch das Traditions- oder Fortschrittsargument? . . . . . . . . .

36

2. Verhältnismäßigkeitsprinzip, Abwägungslehre und differenzierte Schrankensystematik des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

a) Eine dem Grundgesetz gemäße Grundrechtstheorie muß an die differenzierte Schrankensystematik anknüpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

b) Schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte sind in die Rechtsordnung eingeordnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

10

Inhaltsverzeichnis 3. Grundrechte, Demokratieprinzip, Verhältnismäßigkeit: die Auflösung der Paradoxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

a) Die Auflösung des Paradoxons „Grundrechtsbindung des Gesetzgebers versus Einschränkbarkeit der Grundrechte durch den Gesetzgeber“ bei den unter Schrankenvorbehalt gewährleisteten Grundrechten . . . . . . . . . . .

42

b) Die Auflösung des Paradoxons „keine Einschränkbarkeit der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte“ versus Demokratieprinzip . . .

43

4. Schutzbereich und Gewährleistungsgehalt von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . .

43

VI. Kritik des Schmittschen Dogmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

1. Die „primär liberale“ Grundrechtsdogmatik: „in dubio pro libertate“ . . . . . .

46

2. Wurzeln der „primär liberalen“ Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

a) „Verfassungslehre“ und rechtsstaatliches Verteilungsprinzip . . . . . . . . . . . .

48

b) Menschenrechte und Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

3. Das Schmittsche Dogma: Kategorienverwechselung und Leugnung der Normativität der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

4. Der richtige Kern des Schmittschen Dogmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

a) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne der Elfes-Doktrin . . . . . . . . . . . . . .

54

b) Ablehnung der dogmatischen Figur des „Grundrechtsmißbrauchs“ . . . . . .

55

5. Keine Übertragung der allgemeinen Handlungsfreiheit in die Spezialgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

6. Der Angriff auf die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

7. Moderne Umdeutung: Grundrechte als Sprachspiele mit naturrechtlich begründeten Argumentationslasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

VII. Exkurs: Prinzipienlehre als Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

VIII. Der Verfassungsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

1. Bundesverfassungsgericht und herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

a) Folgeproblem I: Begründen auch Kompetenz-, Ermächtigungs- und Organisationsnormen Rechtswerte von Verfassungsrang? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

b) Folgeproblem II: Übertragbarkeit auf relative Grundrechte? . . . . . . . . . . . .

71

c) Folgeproblem III: das absolute Grundrecht als Abwägungsposten . . . . . . .

72

Inhaltsverzeichnis

11

2. Materiale Allgemeinheit, Prinzipienlehre und institutionelles Grundrechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

3. Alternative Modelle des Grundrechtsvorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

a) Schutzbereichsbegrenzung durch systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . .

77

b) Gewährleistungsbeschränkung durch Wortlautauslegung: Normsatztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

c) Vorbehalt der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

aa) Der Ansatz Krieles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

bb) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

4. Kritik des herrschenden Paradigmas: jedenfalls der einfache Landesgesetzgeber kann Bundesgrundrechte nicht „konkretisieren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

I. Kopftuchurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

1. Religiöse Freiheit auch für Angehörige des öffentlichen Dienstes im Dienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

a) Bedeutung der speziellen Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

aa) Keine Gleichsetzung der Konstellationen aus Kopftuch- und Kruzifixentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

bb) Relevanz des „Sonderstatusverhältnisses“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

b) Gewährleistungsgehalt der speziellen Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . .

95

aa) „Religiöses Bekenntnis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

bb) Kein Recht auf religiöse Gestaltung der Amtsgeschäfte . . . . . . . . . . . .

97

cc) Die radikale Gegenauffassung: besondere Persönlichkeitsprägung des Lehrerberufs (Böckenförde) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

2. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes: Systematische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

3. Das eigentliche Kernproblem des Kopftuchurteils: religiöse Freiheit nach Maßgabe der einfachen Landesgesetze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Das Ende der überkommenen Schrankensystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Die „dogmatische Mischverwaltung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Grundrechtliche und demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 bb) Grundrechtsausübung unterliegt keiner demokratischen Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 c) Die Kompromißproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

12

Inhaltsverzeichnis 4. Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) „Positiver“, „umfassender“, „fördernder“ Neutralitätsbegriff . . . . . . . . . . . . 108 b) „Laizistischer“ Neutralitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 c) Der Neutralitätsbegriff des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 aa) Neutralität als Wort ohne zugehörigen Begriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 bb) Staatliche Neutralität gegen verfassungsneutrale Weltanschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5. Polizeirechtliche Gefahrenschwelle oder „abstrakte Gefahr“? . . . . . . . . . . . . . . 113 6. Recht auf und Zurechnung des Kopftuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) „Meistbegünstigungsproblematik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) „Fiskalprivilegsproblematik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Kruzifixbeschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Kritik der Begründung des Kruzifix-Beschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Analogie Kreuz an der Wand – erzwungene Teilnahme an kultischen Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 c) Subjektivierung des Neutralitätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Widerspruch zwischen Kruzifix-Beschluß und Kopftuch-Urteil? . . . . . . . . . . 120 a) Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 b) Die Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Fazit: Der Gewährleistungsgehalt des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 33 Abs. 3 GG, 136 Abs. 2 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4. „Verfassungsnonkonforme“ Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5. Vermischung und Verwechselung von grundrechtlicher und demokratischer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6. Schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte haben keinen „Schutzbereich“, sondern einen Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Das Selbstverständnis der Grundrechtsträger: hinsichtlich der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte ein Scheinproblem . . . . . . . 127 b) Kein Staatsabänderungsanspruch ohne Rekurs auf das demokratische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Inhaltsverzeichnis

13

III. Sonstige Probleme: Schächten, Schulbesuch, Sektenwarnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Schächten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) Die ältere Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 b) Begründung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 c) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 d) Lösung der Schächtungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 e) Keine Bindungswirkung der Entscheidung; kein Bedarf nach „verfassungskonformer Auslegung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Schulbesuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Die Osho-Entscheidung (Sektenwarnung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Aufbau der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Richtiger Kern der Osho-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Nochmals: Subjektivierung des Neutralitätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . 144 cc) Subjektiviertes Neutralitätsprinzip als eigentlicher Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . 145 c) Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts aus systematischer und aus historischsubjektiver Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Ausgangspunkte des Gewährleistungsgehaltsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. „Sprayer von Zürich“: eine nichtprivilegierende „Einordnungstheorie“ der Kunstfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Nichtprivilegierende Theorien der Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 II. Gewährleistungsgehalt und Primat der historisch-subjektiven Auslegung . . . . . . 153 1. Franz Reimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2. Jestaedt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3. Kritik der historisch-subjektiven Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 III. Gewährleistungsgehalt als Ergebnis systematischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Maastricht-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Gewährleistungsgehalt als Ergebnis „abstrakter Abwägung“? . . . . . . . . . . . . . . 165

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Inhaltsverzeichnis

D. Der Gewährleistungsgehalt der religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte und der Gewissensfreiheit des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 I. Rechtspolitische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Rechtsstaat, Demokratiegebot, Akzeptanzerfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Islamische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 II. Das rechtstheoretische Konzept der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte . . . . 171 Exkurs: Staatlichkeit und Integrationsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 III. Strukturparallele zur umweltrechtlichen Grundrechtslehre Murswieks . . . . . . . . 177 IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1. Gewissensfreiheit als systematisches Muttergrundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Systematisch einheitliches Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Dogmatische Anknüpfung an die im Grundgesetz vorfindlichen Einzelgewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Die weltanschaulich-religiösen Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 aa) „Positive“ Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 bb) Negative Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Bekenntnisfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 aa) Bekenntnis im Sinne des Grundgesetzes bedeutet primär Konfession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 bb) Bekenntnisfreiheit als Spezialfall der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . 184 (1) Die Bekenntnisfreiheit gewährleistet auch eine spezielle Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (2) „Gewährleistungsschranken“ dieser kommunikativen Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 cc) Negative Bekenntnisfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (1) Art. 136 Abs. 3 WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (a) Schweigerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (b) Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV als Schranke eines ungeschriebenen grundrechtsgleichen Rechts auf konfessionelle Auskunftsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (2) Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 c) Die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung als positivierte Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

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d) Die negative Handlungsfreiheit aus Art. 136 Abs. 4 WRV . . . . . . . . . . . . . . 189 e) Religiöse Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Die Freiheit des Gewissens („im engeren Sinne“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 a) Schutz des forum internum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Gewissensgeleitete Handlungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 c) Gewissensfreiheit als Verweigerungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 aa) „Negative Freiheit“ im herkömmlichen Sinne? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 bb) Allgemeines gewissensgeleitetes Verweigerungsrecht? . . . . . . . . . . . . 194 cc) Menschenwürdegeleitetes Verweigerungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 E. Objektive Grundrechtsdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 I. Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 1. Rein abwehrrechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2. Schutzpflichtenansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 II. Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 a) §§ 166, 167 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 b) Sonstige Vorschriften aus dem StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Polizeirecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3. Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 III. „Mittelbare Drittwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 IV. Weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes I. Ausgangspunkte In dieser Abhandlung sollen zwei bislang allenfalls lose verbundene, aktuelle Problemkreise der Verfassungsauslegung zusammengeführt werden. Erstens geht es nämlich um die Gegenwartsfragen der Glaubens- und Gewissensfreiheit.1 Dabei dienen kritische Analysen des Kopftuch-Urteils2 des Zweiten Senats und des Kruzifix-Beschlusses3 des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts als Ausgangspunkte. Beide Entscheidungen sind kontrovers geblieben und haben eindrucksvoll aufgewiesen, daß es auch nach über 50 Jahren Grundgesetzauslegung keinen Konsens über den eigentlichen Inhalt der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gibt.4 Außerdem interessieren hier die aktuellen Fragen nach dem betäubungslosen Schlachten (Schächten)5, der Teilnahme muslimischer Mädchen am Sport-6, Schwimm- und Sexualkundeunterricht7 oder auch an Klassenfahrten8. Es 1 Vergl. nur: Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts (1988); Thomas Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes (1989); Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK (1990); Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte (1993); Axel Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften (1994); Bayer, Das Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit unter besonderer Berücksichtigung des Minderheitenschutzes (1997); Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997); Misera-Lang, Die dogmatischen Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltlos gewährleisteter Freiheitsrechte (1999); Filmer, Das Gewissen als Argument im Recht (2000); Krauthammer, Das Schächtverbot in der Schweiz (2000); Senger, Das Spannungsverhältnis zwischen Religionsfreiheit und der staatlichen Neutralitätspflicht im öffentlichen Dienst (2001); Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung (2003); Fülbier, Die Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika (2003); Kyrill-A. Schwarz, Das Spannungsverhältnis zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz am Beispiel des rituellen Schächtens (2003); Anger, Islam in der Schule (2003); aus schweizerischer Sicht (wie bereits Krauthammer a. a. O.) Horanyi, Das Schächtverbot zwischen Tierschutz und Religionsfreiheit (2004); Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes (2006). 2 BVerfGE 108, 282 ff.; dazu jetzt auch BVerwGE 121, 140 ff. 3 BVerfGE 93, 1 ff. 4 Ähnlich Anger, Islam in der Schule (2003), S. 36. 5 BVerfGE 104, 337 ff.; BVerwGE 112, 227 ff.; BVerwGE 99, 1 ff.; Volkmann, DVBl. 2002, 332 ff.; Kästner, JZ 2002, 491 ff.; Spranger, NJW 2002, 2074 ff. 6 Vergl. BVerwGE 94, 82 ff. 7 Vergl.VG Hamburg, Urt. v. 12. 1. 2004 (15 VG 5827 / 2003). 8 Vgl. VG Aachen, NJW 2002, 3191 f.; OVG Münster, NJW 2003, 1754 f.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

handelt sich dabei durchweg um Problemkreise, die von den Verwaltungsgerichten mit Abwägungen im Einzelfall jeweils ganz unterschiedlich beurteilt worden sind. Dies überrascht, da man eigentlich erwarten würde, daß etwa die Frage, ob die allgemeine Schulpflicht in Deutschland auch für Mädchen gilt, auch einer allgemeinen und v.a. auch bundeseinheitlichen Antwort zugänglich sein müßte. Damit ist die Frage danach, ob in der Dogmatik der Glaubens- und Gewissensfreiheit ein Mehr an Rechtsklarheit, Vorhersehbarkeit und Sicherheit zu verlangen ist und wenn ja, wie dies zu erreichen sei, aufgeworfen. Um diese Frage aber kreist, zweitens, die neuerwachte Debatte um „Schutzbereich und Gewährleistungsgehalt von Grundrechten“.9 In ihr geht es um die Frage nach dem Verständnis des Schutzbereiches von Grundrechten überhaupt, wobei der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf den schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten liegt. So ist in jüngerer Zeit wieder gefordert worden, die Prüfung des Schutzbereichs zumal schrankenvorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte um eine Prüfung ihres „Gewährleistungsgehalts“ zu ergänzen, was auf eine „Engführung“ des Schutzbereichs im Geiste der „Rahmenordnungskonzeption“ (dazu sogleich) hinausläuft10; teilweise wird unter dieser zusätzlichen grundrechtlichen Prüfungsstufe des „Gewährleistungsgehalts“ allerdings (einseitig) eine zusätzliche Schutzbereichsauslegung nach historisch-subjektiver11 oder jedenfalls geistesgeschichtlicher 12 Methode verstanden.

II. Textbefund und Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht Dem unbefangenen Blick erscheint Art. 4 Abs. 1 GG als ein staatsgerichtetes Abwehrrecht, das eher das forum internum zu betreffen scheint und Glauben, Gewissen und religiöse oder weltanschauliche Identität („Bekenntnis“) vor staatlicher Nachstellung, Verfolgung oder Versuchen der Umerziehung, Gehirnwäsche 9 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 ff.; Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? (Bryde-Kolloquium, 2004), S. 53 ff.; ders., Der Staat 43 (2004), 203 ff.; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 ff. 10 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (174 ff.) im Anschluß an Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (29 ff.); dazu unten Teil C II. 11 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (178 ff.; 186 ff.); Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (26, 28). 12 In diese Richtung Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (26); vergl. auch Enders, in: Friauf / Höfling, BerlK (Stand: 9. Lieferung von 12 / 2003), Vorb. vor Art. 1, Rd.Nr. 42; 98 (Stand: GW 10 / 2000); ders., Jura 2003, 34 (37). – Unter „geistesgeschichtlicher Auslegung“ ist hier die Frage nach den aufgrund der geistesgeschichtlichen Tradition zu vermutenden Ansichten der an der Ausarbeitung des GG beteiligten Personen zu verstehen (im Gegensatz zu der konkreten Erforschung dieser Ansichten anhand der Gesetzgebungsmaterialien [„historisch-subjektive“ oder „historisch-genetische“ Methode]). Letztlich ist aber auch die geistesgeschichtliche Methode eine Spielart der historisch-subjektiven; vergl. dazu unten Teil C, II.

II. Textbefund und Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht

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usw. schützen soll. Art. 4 Abs. 2 GG erscheint hingegen als positivierte Schutzpflicht, die dem Staat aufgibt, durch entsprechende Gesetzgebung und polizeiliche Praxis den Gottesdienst vor Störungen und Übergriffen freizuhalten. Das Fehlen eines Schrankenvorbehalts jedenfalls in Art. 4 GG selbst verwundert dann nicht; denn das Verbot der Verfolgung Andersdenkender allein wegen ihrer Ansichten (forum internum) oder religiösen Identität (Bekenntnis) bedarf in einer auf den Schutz der Menschenwürde aufbauenden staatlichen Ordnung keiner relativierenden Schranke, sondern ist bereits eine Minimalverbürgung, die positivierte Schutzpflicht hingegen steht unausgesprochen, aber denknotwendig unter dem Vorbehalt des Möglichen.13 Das Bundesverfassungsgericht legt hingegen in ständiger Rechtsprechung den Schutzbereich extensiv und in dem Sinne aus, daß die Absätze 1 und 2 einen gemeinsamen, einheitlichen Schutzbereich eröffnen. Der Ansatz hierzu findet sich bereits in der ersten veröffentlichten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Glaubens- und Gewissensfreiheit (Ludendorff bzw. Tabak).14 Schon hier wird das Bekennen eigener religiös-weltanschaulicher Überzeugungen unmittelbar in die Freiheit des Glaubens einbezogen, ohne daß etwa specialiter auf die Bekenntnisfreiheit zurückgegriffen würde.15 In der Entscheidung zur „Aktion Rumpelkammer“ fordert das Bundesverfassungsgericht eine extensive Auslegung des Begriffs der Religionsausübung „gegenüber seinem historischen Inhalt“. Demgemäß sollen „nicht nur kultische Handlungen und Ausübung sowie Beobachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen, Zeigen von Kirchenfahnen, Glockengeläute, sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern so wie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens“

zur Religionsausübung im Sinne des Grundgesetzes gehören.16 Hieraus wird dann bereits in der Gesundbeter-Entscheidung – und zwar unter Berufung auf die Entscheidung zur „Aktion Rumpelkammer“ – „das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“17.

In der Entscheidung zum „Kreuz im Gerichtssaal“ wird dann schließlich ausgeführt: „Das unverletzlich gewährleistete Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit steht – wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat – in enger Beziehung zur MenIsensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 90. BVerfGE 12, 1 (3 f.). 15 Vergl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 134 FN 113 (Stand: 11 / 1988). 16 Vergl. BVerfGE 24, 236 (246). 17 Vergl. BVerfGE 32, 98 (106); st. Rspr., vergl. z. B. E 33, 23 (28) – Eidesleistung; E 41, 29 (49); E 83, 341 (354 ff.) – Báhá’í; E 93, 1(15) – Kruzifix; E 108, 282 (297) – Kopftuch. 13 14

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes schenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte und muß wegen seines Ranges extensiv ausgelegt werden (vergl. BVerfGE 24, 236 [246]).“18

Hier zeigt sich deutlich eine „Eigendynamik“ der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die in der in Bezug genommenen Entscheidung lediglich die extensive Auslegung des Begriffs der Religionsausübung gefordert hatte, nun aber die Notwendigkeit einer extensiven Auslegung „des Grundrechts selbst“ behauptet.19 Das Bundesverfassungsgericht folgt also jedenfalls einem äußerst weiten Schutzbereichsverständnis. Hintergrund der Kontroverse um ein weites oder enges Verständnis grundrechtlicher Schutzbereiche bzw. die Notwendigkeit, auf den ersten Blick weite Schutzbereiche „engzuführen“, ist, rechtstheoretisch betrachtet, die Frage nach dem Freiheitsbegriff: entweder garantieren die Grundrechte prima facie umfassend verstandene Freiheit gemäß subjektiver Festlegung (Selbstverständnis) des Grundrechtsträgers; dann würden auch Spezialgrundrechte20 (wie hier die Glaubens- und Gewissensfreiheit) grundsätzlich jedes menschliche Verhalten umfassen21; oder aber es handelt sich bei ihnen um besondere Erlaubnisnormen22 oder sonstige punktuelle Gewährleistungen, denen die Grenzen ihres Gewährleistungsgehalts bereits immanent ist, ohne daß dieser insofern erst durch andere Verfassungsgüter „eingeschränkt“ werden müßte.23 Was die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte anbetrifft, steht diese Frage natürlich untrennbar in Verbindung zu der weiteren, häufig allerdings übersehenen Frage danach, wie ein schrankenvorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht denn überhaupt „eingeschränkt“ oder „eingegrenzt“ werden kann, es sei denn durch den Umfang seines eigenen Regelungsgehalts selber, also durch seinen Normcharakter (nicht aber durch „äußere Gegenrechte“). Grundrechtsdogmatisch gesehen, nehmen diese Fragen die Gestalt der Frage nach der genauen Natur des (Grundrechts-24 oder) Verfassungsvorbehalts an.25 BVerfGE 35, 366 (376). Vergl. Mückl, Der Staat 40 (2001), 96 (109 FN 77). 20 Unter der Bezeichnung Spezialgrundrechte sind hier alle Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte zu verstehen, die nicht wie Art. 2 I GG iSd. Elfes-Konstruktion (BVerfGE 6, 32 [36]) als allgemeines Auffanggrundrecht die allgemeine Handlungsfreiheit schlechthin schützen – a.A. aber das Minderheitenvotum des Richters Grimm zu BVerfGE 80, 137 (164 ff.) –, sondern eine inhaltlich bestimmte und mithin auch zu bestimmende Grundrechtsgewährleistung zum Gegenstand haben. 21 Vergl. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 272 ff., 290 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation (1987), S. 172 ff.; Sachs, in: Stern, DStRdBRD III / 2 (1994), § 81 IV 4, 5 (S. 528 ff., S. 551 ff.); Kahl, Der Staat 43 (2004), (168 mit FN 16 m. w. N.; 182; 199). 22 Die Annahme, Grundrechte seien (auch) Erlaubnisnormen, kann auch widerspruchsfrei mit der Annahme weiter und von subjektiven Vorstellungen des Grundrechtsträgers selbst gepräger Schutzbereiche kombiniert werden, vergl. nur Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 206 ff., S. 273 ff. 23 Vergl. zum Ganzen Iliadou, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz (1999), S. 85, 87; Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 27 ff., 87 ff. 18 19

III. Glaubens- und Gewissensfreiheit als Grundrecht

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III. Glaubens- und Gewissensfreiheit als schrankenvorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht Das Bundesverfassungsgericht betrachtet die Glaubens- und Gewissensfreiheit in ständiger Rechtsprechung als schrankenvorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht.26 Die Vorschrift aus Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV, die möglicherweise als Schrankenvorbehalt in Betracht kommen könnte, bezeichnet es zwar als „vollgültiges Verfassungsrecht“27, zieht sie jedoch nicht für die Grenzziehung des Grundrechts (oder einzelner Aspekte seines „einheitlichen“ Schutzbereichs) heran.28 Eine im Vordringen befindliche Literaturauffassung erblickt in Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV hingegen den Schrankenvorbehalt jedenfalls der „Religionsausübungsfreiheit“.29 Gegen diese Vorstellung spricht aber schon der Wortlaut des Art. 136 WRV30, „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religonsfreiheit weder bedingt noch beschränkt“, Vergl. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt (1998), passim. Vergl. Bamberger, Der Staat 39 (2000), 165. 26 Vergl. BVerfGE 33, 23 (30 f.), 44, 33 (49 f.) m. w. N.; durchgehalten auch gegen die wachsende Kritik der Literatur in BVerfGE 108, 282 (297). Zustimmend z. B. BVerwGE 112, 314 (318); BVerwG, NJW 2002, 3344 (3345), sowie Kokott, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rd.Nr. 112 f.; Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rd.Nr. 112; Bayer, Das Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit (1997), S. 66 ff.; v. Münch, in: ders. / Kunig, GG, Bd. 1, 4. Aufl. 1992, Art. 4 Rd.Nr. 53; Janz / Rademacher, NVwZ 1999, 706 (709); MiseraLang, Dogmatische Grundlagen (1999) (im Folgenden: Dogmatische Grundlagen), S. 46 ff. 27 BVerfGE 19, 206 (219). 28 BVerfGE 33, 23 (30 f.); vergl. auch BVerfG (Dritte Kammer des Ersten Senats), NJW 2002, 206 (207): Art. 140 GG iVm. 136 Abs. 1 WRV ausdrücklich kein Schrankenvorbehalt; vergl. auch Kokott, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rd.Nr. 112 (Art. 140 GG iVm. Art. 136 I WRV als reines Diskriminierungsverbot, also im Sinne eines Gleichheitsgrundrechts, kritisch: Bock, AöR 123 [1998], 444 [471]). 29 Stolleis, JuS 1974, 770 (772); Hollerbach, AöR 106 (1981), 218 (233); Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 224 ff.; ders., in: Friauf / Höfling, BerlK, (Loseblatt, Stand: 12 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 47 (Stand: GW 10 / 2000) m. w. N.; Bock, AöR 123 (1998), 444 (462 ff., 470 ff., 474); Kästner, JZ 1998, 974 (982); ders., AöR 123 (1998), 408 (435); Hillgruber, JZ 1999, 538 (543); Mager, in: v. Münch / Kunig, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 4 Rd.Nr. 48; Schoch, in: FS Hollerbach (2001), S. 149 (163); Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 4 Rd.Nr. 31; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Rd.Nr. 88; so auch BVerwGE 112, 227 (231). Ohne nähere Thematisierung stillschweigend vorausgesetzt bei Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 33 (51); Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts (1988), S. 288 f. 30 Vergl. insofern zu Recht Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes (2006) (im Folgenden: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit), S. 489 mit FN 596 m. w. N.: „Zwar scheint die Antwort auf die Frage, ob Art. 140 GG i.V.m. Art 136 Abs. 1 WRV überhaupt als grundrechtliche Eingriffsermächtigung verstanden werden kann, den Befürwortern der Schrankenübertragung in der Literatur derart klar positiv zu beantworten zu sein, daß kaum tiefergehende Überlegungen angestellt werden. Bisweilen wird die Frage schlicht durch die Verwendung von Evidenzadverbien ,beantwortet‘“. 24 25

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

der im Zusammenhang mit den Vorschriften aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG gesehen werden muß, nämlich: „Niemand darf wegen [ . . . ] seiner religiösen [ . . . ] Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ „Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, der Zugang zu öffentlichen Ämtern [ . . . ] sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemand darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“

Der Wortlaut dieser Vorschriften deutet eindeutig nicht auf Schrankenvorbehalte hin31, da hier nicht Schranken der Religionsfreiheit thematisiert oder vorbehalten werden, sondern allenfalls umgekehrt von den möglichen „Schranken des einfachen Rechts infolge der Religionsfreiheit“ die Rede ist, und zwar dahingehend, daß das einfache Recht durch die Religionsfreiheit gerade nicht relativiert werde.32 Bei unbefangener Betrachtungsweise hat Art. 136 Abs. 1 WRV keine Ähnlichkeit mit einem grundrechtlichen Schrankenvorbehalt, sondern stellt eine Klarstellung des Gewährleistungsgehalts33 der Religionsfreiheit dar (und hat insofern strukturell allenfalls Ähnlichkeit mit Art. 14 Abs. 1 Satz 2). Die Vorschrift, die mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein organisches Ganzes bildet34, stellt klar, daß die schrankenlose Gewährleistung der Religionsfreiheit sich ausschließlich auf das forum internum bezieht, wohingegen im forum externum die also weder suspendierte noch relativierte allgemeine Rechtsordnung zu beachten ist. Diese Klarstellung bestätigt den ersten Eindruck von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG; damit macht sie auch nochmals deutlich, daß und warum ein Schrankenvorbehalt überflüssig ist. Diese Wortlautauslegung der einschlägigen Verfassungsnormen ist auch evident und plausibel, denn es wäre nicht einzusehen, warum ein Grundrechtsträger, weil er seine Handlungen (letztlich nicht nachprüfbar) als einer Religion geschuldet hinstellt, nicht der allgemeinen Rechtspflicht zum Gesetzesgehorsam unterliegen sollte wie jeder andere auch. Auch die systematische Auslegung spricht gegen Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke der Religionsausübungsfreiheit. Denn nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift käme diese nur als Schranke der Religions- bzw. ReligionsausübungsfreiSo auch Halfmann, NVwZ 2000, 862 (863) m. w. N. Vergl. dazu auch Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Rd.Nr. 88, der einerseits meint, Art. 136 Abs. 1 WRV enthalte „eindeutig eine Schrankenregelung“, um dann weiter auszuführen: „Methodische Klarheit verlangt, den Gesetzesvorbehalt des Art. 136 Abs. 1 WRV und damit den Vorrang der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten wenigstens im Grundsatz anzuerkennen.“ Zwar gibt letzteres den Wortlaut der Vorschrift zutreffend wieder. Allerdings würde man herkömmlicherweise den Gesetzesvorbehalt eines speziellen Grundrechts nicht mit einem „Vorrang der Rechtsordnung“ gleichsetzen. 33 Ähnlich Ulrich K. Preuß, in: AK-GG, 2. Aufl. 1989, Art. 4 Rd.Nr. 29: Art. 140 GG iVm. Art. 136 I WRV als Bekräftigung der „immanenten Beschränkung des Grundrechts durch die normative Reichweite seiner Elemente“. 34 BVerfGE 53, 366 (400) m. w. N.; 66, 1 (22). 31 32

III. Glaubens- und Gewissensfreiheit als Grundrecht

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heit (als Religionsfreiheit im forum externum) in Betracht, nicht aber als Schranke der Gewissensfreiheit.35 Das Problem, daß Art. 136 Abs. 1 WRV allenfalls eine „Teilschranke“ der Glaubens- und Gewissensfreiheit bilden könnte, hat Herdegen dadurch zu lösen versucht, daß er Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke der Religionbetätigungsfreiheit voraussetzt und diese dann im Wege der Schrankenleihe mit rein pragmatischer Begründung auch auf die „Gewissensbetätgiungsfreiheit“ überträgt.36 Diese Auslegung muß sich aber schon im ersten Schritt über den Textbefund des Art. 136 Abs. 1 WRV hinwegsetzen, der kaum auf einen klassischen Schrankenvorbehalt hindeutet; im zweiten Schritt ist ihr dann der Spezialitätsgrundsatz entgegenzuhalten, aufgrund dessen die bisherigen Versuche der Schrankenleihe im Zusammenhang mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit, wie etwa die Übertragung der Schranken aus Art. 2 Abs. 137 oder 5 Abs. 2 GG38, heute allgemein zurückgewiesen werden.39 Eine grundlegende Auslegungsregel wie der Spezialitätssatz kann nicht unter Rekurs auf pragmatische Zielsetzungen überspielt werden.

Die schrankenvorbehaltlose Gewährleistung jedenfalls der Gewissensfreiheit ist systematisch deswegen so bedeutsam, weil sich Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht sinnvoll trennen lassen.40 Die Einhaltung religiöser Vorschriften ist nämlich gerade das Gewissensgebot des Gläubigen. Zwar mangelt es nicht an Versuchen, Glaubens- und Gewissensfreiheit voneinander abzugrenzen; dafür wird meist darauf abgestellt, zu Religion und Weltanschauung gehöre eine Gruppe von Gleichgesinnten, die, wo sie noch nicht besteht, jedenfalls geschaffen werden soll, wohingegen das Gewissen ein individuelles Phänomen sei.41 Dem ist aber nicht nur entgegenzuhalten, daß die Annahme einer „individuellen“ Gewissensbildung oft wenig realistisch, jedenfalls aber nicht zwingend ist.42 Entscheidend ist, daß es im 35 Vergl. nur Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 224 ff., 253 ff.; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 3 Rd.Nr. 94. 36 Vergl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität (1988), S. 288 f. (jedenfalls „dem Rechtsgedanken nach“). 37 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 114 ff. (Stand: 11 / 1988): die Schrankentrias aus Art. 2 I GG sei auf Art 4 I / II GG (oder doch nur auf Art. 4 II GG? – Das wird nicht so recht deutlich) zu übertragen, allerdings nur mit der Modifikation, daß die „Rechte anderer“ nur solche sein sollen, die explizit im GG Erwähnung finden, und die „verfassungsmäßige Ordnung“ jedenfalls nicht im Sinne der Elfes-Entscheidung (BVerfGE 6, 32 [40 f.]) die verfassungsmäßige Rechtsordnung im Ganzen; a.A. statt aller Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 3 Rd.Nr. 86 f.; vermittelnd („Höchstschranke“) allenfalls Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 25 Rd.Nr. 47 (S. 773). 38 Vergl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 90 ff. (Stand: 11 / 1988). 39 Vergl. nur Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 485 FN 576, 577 m. w. N. 40 Vergl. auch noch unten Teil B, I 2. 41 Vergl. Luhmann, AöR 90 (1965), 257 (261 f.); Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität (1988), S. 295 f. m. w. N. 42 Häberle, in: VVDStRL 28 (1970), S. 117 (Diskussionsbeitrag).

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

konkreten Grundrechtsfall auch hinsichtlich der Religionsausübungsfreiheit stets auf die religiösen Gebote in der Gestalt ankommt, wie der jeweilige Grundrechtsträger sie selbst versteht43; anders würde die Gewährleistung der „Freiheit des Glaubens“ auch keinen Sinn machen. Anders gewendet: würde man dem muslimischen Mädchen, das aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen will44, oder dem Sikh, der ebenfalls aus religiösen Gründen einen Turban statt eines Motorradhelms tragen will45, mit der im Vordringen begriffenen Literaturauffassung entgegenhalten, die religiöse Betätigungsfreiheit stehe unter einem Schrankenvorbehalt, der entsprechend vom Schulgesetz bzw. von der Straßenverkehrsordnung ausgefüllt werde, so könnten beide ihr Anliegen mit gleichem Recht auch auf die schrankenvorbehaltlose Gewissensfreiheit stützen. Schon von daher macht es aber wenig Sinn, beide Grundrechte „gestaffelt“ abzuhandeln, und von daher leuchtet es sofort ein, wenn etwa das Bundesverwaltungsgericht das Betroffensein in der Religionsfreiheit durch den Zwang zur Einhaltung allgemein-gesetzlicher Regeln davon abhängig macht, ob durch diesen Zwang ein Gewissenskonflikt ausgelöst wird.46 Da also einerseits die im Rahmen der „Religionsausübungsfreiheit“ vorgenommenen Handlungen auch auf die „Gewissensbetätigungsfreiheit“ gestützt werden könnten und andererseits regelmäßig zur Berufung auf die religiöse Freiheit die Darlegung eines Gewissenskonflikts gefordert wird, sind Religionsausübung und Gewissensbetätigung sinnvoll nicht zu trennen; mithin wäre das Postulat, Art. 136 Abs. 1 bilde die Schranke der Religionsausübungsfreiheit, regelmäßig praktisch folgenlos. Dies – und das Verbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 3 GG und Art. 136 Abs. 1 WRV, das religiös beeinflußte und das religös unbeeinflußte Gewissen rechtlich ungleich zu behandeln – sprechen auch im Rahmen einer systematischen Auslegung überzeugend gegen die Annahme, Art. 136 Abs. 1 WRV bilde eine Schranke der Religionsausübungsfreiheit. Insofern ist an der hergebrachten Auffassung, nach der das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit schrankenvorbehaltlos gewährleistet sei, festzuhalten.

IV. Grundrechtstheoretische Vorüberlegung: die Rahmenordnungs- und die Grundordnungstheorie 1. Verfassungstheorie und Vorverständnis Die Frage nach der richtigen Auslegung von Grundrechtsnormen – ob also der Schwerpunkt eher auf einer genauen und dabei v.a. auch restriktiven, begrenzen43 Vergl. Halfmann, NVwZ 2000, 862 (863); vergl. zum Ganzen auch Kyrill-A. Schwarz, Das Spannungsverhältnis von Religionsfreiheit und Tierschutz (2003), S. 38; BAG, NJW 2003, 1685 (1687), jeweils m. w. N. 44 BVerwGE 94, 82 ff. 45 BGer [Schweizerisches Bundesgericht] EuGRZ 1993, 595 f. 46 BVerwGE 94, 82 (89 ff.).

IV. Grundrechtstheoretische Vorüberlegung

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den Bestimmung des Schutzbereichs liegen soll oder, aufgrund der Annahme weiter, vom subjektiven Dafürhalten des Grundrechtsträgers selbst geprägter Schutzbereiche, auf der anschließenden, abwägenden Einschränkung dieser Schutzbereiche aufgrund „kollidierenden“ 47 Verfassungsrechts – entfaltet sich vor der Folie des unterschiedlichen Vorverständnisses der Grundrechtsausleger.48 Deren unterschiedliches Vorverständnis läßt sich (idealtypisch49 ) auf den Gegensatz „Verfassung (und mithin: Grundrechte) als Rahmenordnung“ versus „Verfassung (und mithin v.a.: Grundrechte) als Grundordnung“50 zurückführen.51 Die Beobachtung, daß die grundrechtliche Auslegungspraxis jeweils einem unterschiedlichen Vorverständnis folgt, das auch insofern ein echtes Vor-Verständnis ist, als daß es nicht auf den vielfach als zu fragmentarisch52 empfundenen Wortlaut der Grundrechtsvorschriften gestützt wird, zeigt schon, daß die Forderung nach der Aufgabe der Beschäftigung mit Grundrechtstheorie zugunsten einer Dogmatisierung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung53 im Ergebnis nicht überzeugen kann. Aber auch diejenige „grundrechts47 Vergl. zum Ganzen Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 3 Rd.Nr. 275, 319 ff.; gegen die Vorstellung der „Grundrechtskollision“ aus Sicht der Rahmenordnungskonzeption konsequent Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 198 f.: nicht Grundrechte, sondern Interessen kollidierten. So bereits grundlegend Schnur, VVDStRL 22 (1965), 101 (104). 48 Vergl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), S. 74 m. w. N. 49 Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine trennscharfe Abgrenzung, bei der sich die beiden unterschiedlichen Zielsetzungen und Denkstile nicht denknotwendig ausschließen. Bei dieser idealtypischen Einordnung anhand eines bestimmten Grundmerkmals (wie Grundordnung oder Rahmenordnung, bzw. Abwägungsskepsis oder abwägende Methode) wird nicht ausgeschlossen, daß im Rahmen der einen Konzeption stets auch wichtige Elemente der anderen grundsätzlich zu Geltung kommen können (vergl. auch Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten [1997], S. 114 FN 164; Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung [2000], S. 32 f.). 50 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 72 ff., v.a. S. 75 ff.; Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung (2000), S. 32 ff.; zum Ganzen auch einerseits Lerche, in: FS BVerfG II (2001), S. 333 (334 mit FN 7, 337 f.) und andererseits Badura, ebda., S. 897 (898); dazu Lerche, in: FS Badura (2004), S. 347 ff. 51 Eine solche Gegenüberstellung läßt sich allerdings in Anlehnung an das formale Argument Alexys, die liberale Grundrechtstheorie sei auch nur eine Werttheorie eben mit einem ganz bestimmten Inhalt, zurückweisen. Vergl. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 512: „Sie [die liberale Grundrechtstheorie] kann daher nicht mit Wert- oder Prinzipien- oder Zwecktheorien als solchen konkurrieren, sondern nur mit derartigen Theorien anderen Inhalts. Entsprechendes gilt für die demokratische und die sozialstaatliche Theorie. Jede normative Theorie der Grundrechte setzt irgendeine Wert-, Prinzipien- oder Zwecktheorie voraus.“ Analog könnte man also feststellen, die Rahmenordnungsthese sei nur eine Grundordnungsthese mit besonderem, quasi „verschlanktem“ Inhalt. Durch solche formal zutreffenden Feststellungen wäre aber inhaltlich für die Frage der „richtigen“ Grundrechtstheorie noch nichts gewonnen. 52 Vergl. nur Böckenförde, NJW 1974, 1529. 53 Vergl. zum Ganzen Ossenbühl, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 15 Rd.Nr. 41; vergl. schon ders., NJW 1976, 2100 mit der berühmt gewordenen Formulierung, es dürfe „ebenso notwendig wie reizvoll sein, den gelehrten Stapel von Grundrechtstheorien beiseite

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theoriefreundliche“ Gegenauffassung, die betont, Grundrechtstheorie sei wegen des fragmentarischen Charakters der Grundrechtsnormen unverzichtbar54, ist letztlich abzulehnen: denn eine (richtige) Grundrechttheorie ist aus den Grundrechtsnormen im Zusammenspiel mit den sonstigen Bestimmungen der Verfassung (wie dem Gleichbehandlungsgebot und dem Demokratieprinzip) abzuleiten, nicht aber soll die Grundrechtstheorie dem Verfassungstext vorangehen. Denn in diesem Falle wäre sie keine Grundrechtstheorie, sondern nichts weiter als Vorverständnis.55 Mit anderen Worten: die Theorie folgt dem Verfassungstext in seiner Gesamtanlage, und die Dogmatik der Einzelgrundrechts orientiert sich an dieser Theorie.56

Die Rahmenordnungskonzeption denkt von den einzelnen grundrechtlich geschützten Interessenpositionen her; diese sollen im aktuellen politischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozeß verfassungsrechtlich abgesichert werden. Dabei bleibt der „archimedische Punkt“ der Rahmenordnungskonzeption jedoch stets der Grundsatz der rechtspolitischen Handlungsfreiheit des Gesetzgebers, die erst in einer restriktiv auszulegenden verfassungs- und insbesondere Grundrechtsordnung ihre Grenze finden soll.57 Die derart ausgegrenzten Bereiche sind dann aber, ihrer Natur als punktuelle Gewährleistungen entsprechend, eng begrenzt.58 Anders hingegen stellt sich der Rechtssetzungfreiraum des Gesetzgebers aus dem Blickwinkel des Grundordnungstheorems dar: hier werden die Grundrechte als ein Kompendium von Staatsaufgaben begriffen.59 Gesetzgeberische Rechtssetzung wird zu auf Lückenlosigkeit abzielender Grundrechtekonkretisierung, durch die die Rechtsordnung grundrechtlich optimiert werden muß; so wird letztlich die von der Rahmenordnungskonzeption postulierte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu einer Art Auswahlermessen beim Grundrechtsvollzug.60

zu legen und danach zu fragen, wie das BVerfG Grundrechte versteht und wie es mit den Grundrechten umgeht, anders gesagt wie es Grundrechtsvorschriften interpretiert und anwendet“; ähnlich auch Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 2. Aufl. 1997, S. 5 ff. 54 Vergl. Böckenförde, NJW 1974, 1529. 55 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 74 FN 13, pflichtet der These von der Unverzichtbarkeit von Grundrechtstheorie bei, rügt aber die Entgegensetzung von Grundrechtstheorie und klassischer Hermeneutik: eine als Vorverständnis erkannte Grundrechstheorie fände mühelos ihren Platz in den Reihen hermeneutischer Grundkategorien. Dies mag von einem rein philosophisch-hermeneutischen Standpunkt wohl zutreffen. Aus rechtswissenschaftlich-methodischem Blickwinkel muß jedoch daran festgehalten werden, daß eine richtige Grundrechtstheorie aus den Grundrechten selbst zu entwickeln ist und jedenfalls mehr sein müßte als reines Vorverständnis. 56 Damit wird nicht bestritten, daß ein Textverständnis „ohne Vorverständnis“ erkenntnistheoretisch nicht möglich sein dürfte. Dies entbindet jedoch nicht von der Bemühung, die „richtige“ Grundrechtstheorie iSd. „richtigen“ Vorverständnisses zu suchen. Diese Richtigkeit kann eine Grundrechtstheorie nur dann für sich in Anspruch nehmen, wenn sie sich ihrerseits auf Indizien im auszulegenden Text stützen kann 57 Vergl. Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten (1997), S. 123 f. 58 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 76. 59 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 77. 60 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 79.

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2. Argumente für die Rahmenordnungskonzeption Eine konsequente Durchführung der Grundordnungskonzeption würde die Handlungspielräume der demokratischen Selbstbestimmung mithin erheblich einengen. Soll das Demokratieprinzip im Grundgesetz noch etwas gelten, so darf auch der Grundrechtskatalog nicht zum normativen Programm werden.61 Außer dem demokratischen Argument ist weiter v.a. auch ein entscheidungstheoretisches Argument zu vergewärtigen: immer dann, wenn eine Entscheidung von einer Bewertung der Argumente abhängig ist, kann man mit jeweils vertretbaren Begründungen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Oder, anders gewendet: das Optimierungsanliegen überschätzt jedenfalls die menschliche Fähigkeit, die optimale als einzig richtige Entscheidung erkennen zu können.62 a) Historisch-genetischer Ansatz Vielfach wird der Rahmenordnungsansatz mit der Erkenntnis begründet, daß die Grundrechte ihrer „Entstehung wie ihrer Intention nach“ Reaktionen auf bestimmte und begrenzte historische Gefährdungsszenarien darstellten.63 Dafür wird teils auf die konkreten Vorstellungen der beteiligten Verfassungsväter (und -mütter) abgestellt, teils abstrakt auf die geistes- und verfassungsgeschichtliche Tradition, auf die das Grundgesetz zurückgriff, überhaupt.64 b) Das Kompetenzverteilungsproblem: Bundesverfassungsgericht und Parlament Ein weiteres zentrales Argument für die Richtigkeit der Rahmenordnungskonzeption bildet die Betonung des demokratischen Prinzips im Grundgesetz: nur durch die Rückbesinnung auf die Rahmenordnungskonzeption könne der Richteroder Jurisdiktionsstaat vermieden werden.65 Vorrang der Verfassung bedeutet Nachrang des (demokratischen) Gesetzgebers gegenüber dem Bundesverfassungsgericht66; daher ist eine Auslegungsmaxime, die auf maximalen Gehalt des VerfasZippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 7 I 2 a (S. 59). Dies., ebda., § 5 III 4 (S. 44); Würtenberger, VVDStRL 58 (1999), 139 (158 m. w. N.). 63 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 75. Vergl. auch ders., ebda., S. 80, für eine gewisse „natürliche Affinität“ von Rahmenodnungskonzeption und subjektiv-historischer Auslegung. 64 Vergl. Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (26); Enders, in: Friauf / Höfling, BerlK (Stand: 9. Lieferung von 12 / 2003), Vorb. vor Art. 1, Rd.Nr. 42; 98 (Stand: GW 10 / 2000). 65 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (21 ff.); ähnlich bereits Forsthoff, Der Staat 2 (1963), 385 (393). 66 Die Problematik kann einerseits „materiell-rechtlich“ als Gegensatz zwischen Demokratieprinzip und Rechtsstaat aufgefaßt werden oder andererseits institutionentheoretisch als 61 62

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sungsrechts ausgeht, wegen des Demokratiegebots alles andere als selbstverständlich.67 Auch ist eine Auslegung, die dem Verfassungsrecht die größtmögliche Dichte und Bestimmtheit zuerkennen wollte, nicht allein deswegen richtig, weil sie dem materiellen Anspruch der Verfassung als höchste Autorität zu dienen angibt; denn die in einer solchen Auslegung vorausgesetzte Aussage über das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und demokratischem Gesetzgeber ist nicht weniger rechtfertigungsbedürftig als das Postulat von der Durchdringung aller Lebensbereiche und vor allem: Gesetzgebungsmaterien durch Grundrechte.68 c) Methodologischer Ansatz: Abwägungsskepsis Die verfassungstheoretische Rahmenordnungskonzeption ist im Methodischen praktisch notwendig verbunden mit Abwägungsskepsis. Denn nur wer die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung für richtig und erstrebenswert hält, findet in der Annahme weiter, umfassender Schutzbereiche aller Grundrechte und der daraus folgenden Notwendigkeit abwägenden Ausgleichs der sich hieraus ergebenden Grundrechtskollisionen das Universalwerkzeug dieser Konstitutionalisierung. Wer sie hingegen ablehnt („Konstitutionalisierungsfalle“69), muß – auch wenn die Zielsetzung, die Abwägung möglichst vollständig aus dem Verfassungsrecht zu eliminieren, jedenfalls gescheitert ist70 – als Abwägungsskeptiker die Bedeutung der abwägenden Methode nach Möglichkeit zu mindern und einzuschränken suchen. Dies geschieht etwa durch das Postulat, daß jedenfalls die bundesverfassungsgerichtliche Beurteilung von Gesetzen abwägungsfrei zu bleiben habe71, oder aber durch die Forderung nach einer anfänglichen Begrenzung und Engführung grundrechtlicher Schutzbereiche.72 Nach dem Grundordnungspostulat, nach dem die Grundrechte die gesamte Rechtsordnung einerseits jedenfalls in nuce bereits enthalten und anderseits diese durchdringen und insgesamt prägen, wird die Rechtsanwendung, zumal im öffentlichen Recht, von Grundrechtskollisionen73 bestimmt. Diese multiplen GrundKompetenzverteilungsproblem zwischen Bundesverfassungsgericht und Parlamenten. Vergl. zu letzterer Sichtweise z. B. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 137. 67 Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (487). 68 Vergl. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (487). 69 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 65 ff., 258. 70 Vergl. nur Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976), S. 16, 128. 71 Schlink, in: FS BVerfG II (2001), S. 445 (460 f.). 72 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (174 ff.); diese methodische Forderung setzt sich allerdings dem Vorwurf aus, es fände auch weiterhin eine einzelfallorientierte Abwägung statt, die als generell-abstrakte Auslegung des „Schutzbereichs“ oder „Gewährleistungsgehalts“ nur ausgegeben werde: so Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (189 ff.). 73 Herkömmlicherweise werden „echte“ und „unechte“ Grundrechtskollisionen unterschieden: bei den echten Grundrechtskollisionen soll es sich um Kollisionen mit den Grundrechten anderer (oder „Dritter“) handeln, bei den „unechten“ um Kollisionen mit „Gemein-

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rechtskollisionen sind nach herrschender Meinung durch Abwägungen im Einzelfall aufzulösen.74 Durch Abwägung soll ermittelt werden, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat.75 Hierbei ist, ganz im Sinne des von der Grundordnungskonzeption (regelmäßig) postulierten Optimierungsgebots76, ein „schonender Ausgleich“ der kollidierenden Verfassungsgüter77 anzustreben.78 Die abwägende Harmonisierung konfligierender Verfassungsgüter79 wird im Anschluß an Konrad Hesse als praktische Konkordanz bezeichnet.80 Aus Sicht der Rahmenordnungskonzeption wird allerdings nicht nur das Konzept der multiplen Grundrechts- bzw. Verfassungswertekollision mit dem Argument in Frage gestellt, es kollidierten in Wahrheit nicht Grundrechte, sondern allenfalls Interessen81; die Grundrechtsauslegung habe dann zu erweisen, auf wessen Seite das Recht stehe.82 Aus Sicht der Rahmenordnungskonzeption ist vor allem schon das methodische Konzept „Abwägung im Verfassungsrecht“83 dubios.84 Das Bundesverfassungsgericht habe seit dem Lüth-Urteil85 versucht, die Abwägung, die zunächst nur eine methodische und dogmatische Verlegenheit bezeichnet habe, zur eigentlichen Methode der Verfassungsauslegung zu erheschaftswerten von Verfassungsrang“. Vergl. Sachs, in: Stern, DStRdBRD III / 2 (1994), S. 608, 629, 657. 74 Vergl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 19 IV 4 (S. 192 f.), § 7 I 2 a (S. 58 f.). 75 Vergl. BVerfGE 2, 1 (72 f.) – SRP; 28, 243 (261) – Kriegsdienstverweigerung; 47, 46 (76 ff.) – Sexualkunde; 52, 223 (247; 251) – Schulgebet; 81, 278 (292) – Urinieren auf die Bundesflagge. 76 Vergl. nur Bethge, Grundrechtskollisionen (1977), S. 287 f., 291 ff., 307 ff., 313 ff.: bei Grundrechtskollisionen falle dem Gesetzgeber die Aufgabe der Grundrechtskonkretisierung zu, die aber indessen eher Konkretisierungsauftrag nach Maßgabe der „Direktionskraft der Verfassung“ (a. a. O., S. 294 ff., 321) sei als politischer Gestaltungsauftrag. 77 Vergl. beispielhaft BVerfGE 97, 169 (177 f.). 78 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1997, S. 125 ff., 152 f. 79 Vergl. schon Scheuner, VVDStRL 20 (1963), 125 f. (Diskussionsbeitrag); ders., VVDStRL 22 (1965), 1 (53): „interpretativ herzustellende Einheit und Harmonie der Verfassung“; „harmonisierender und integrierender Charakter der [Verfassungs-]Auslegung“. 80 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 72, 317 ff. 81 Schnur, VVDStRL 22 (1965), 101 (104). 82 Vergl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 198 f. m. w. N. 83 Vergl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976), v.a. S. 134 ff. (nun teilweise relativiert in ders., in: FS BVerfG II [2002], S. 445 [460 f.]); rein empirisch Harald Scheider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts (1979). 84 Grundlegend methodenkritisch bereits Forsthoff, in: FS Carl Schmitt (1959), S. 35 (36), der den Rekurs auf die Methodenlehre Savignys – System des römischen Rechts I (1840), S. 206 ff. – empfiehlt. Savigny wollte jedoch seinen Auslegungskanon explizit nur auf das Privatrecht angewendet wissen (vergl. ders., ebda. S. 2, 23, 39, 69); so auch zu Recht Pestalozza, Der Staat 2 (1963), 425 (434). Für den savignyschen Kanon im Verfassungsrecht auch Starck, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR VII (1992), § 164 Rd.Nr. 17. 85 BVerfGE 7, 198 (211 f.).

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ben.86 Diese laufe aber auf letztlich nicht nachvollziehbare, subjektive Bewertungen87 hinaus; die Abwägungs- und Wertungsoperationen insbesondere in der Prüfungsstufe der „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“ seien methodisch und dogmatisch nicht befriedigend zu bewältigen und daher letztlich nur dezisionistisch zu leisten.88 Das Prinzip der (Verfassungs-)güterabwägung laufe auf einen Zirkelschluß hinaus, da die Güterkollision nur so zu lösen sei, daß das höherrangige Gut sich durchsetze; Kennzeichen der Höherwertigkeit sei also die von der Rechtsordnung garantierte bessere Durchsetzbarkeit. Da andere, inhaltsgebundene Kriterien sich aber nicht verbindlich aufzeigen ließen, sei der Abwägungssatz also eine Tautologie, deren Inhaltsleere gerade die Voraussetzung ihrer Allgemeingültigkeit sei, eine leere Hülle, bei der offen bleibe, nach welchen materiellen Kriterien abgewogen werden solle.89 Das allzu karge und schmale Entscheidungsprogramm der Verfassungswerteabwägung erübrige letztlich sogar jede nähere Analyse der betreffenden Grundrechte, sie sei wegen ihrer Unwägbarkeit, mangelnden Vorhersehbarkeit und Rationalitätsdefiziten eine Sackgasse der Grundrechtsdogmatik.90 Mangels konkreter Maßstäbe für die möglichst weitgehende Verwirklichung aller beteiligten Grundrechtspositionen im Sinne praktischer Konkordanz mutiere die Rechtsordnung zu einem unförmigen Gebilde unkontrollierbarer Abwägungsentscheidungen, löse sich also eigentlich auf.91 Insofern wird in der Tat die Extensivierung des Grundrechtsschutzes um den Preis der Herrschaft der Güterabwägung erkauft. Dies führt in ein Paradoxon: Je komplexer, aufgeladener und zahlreicher die widerstreitenden und abzuwägenden Grundrechtsgüter sind, desto mehr verwandelt sich die Grundrechtsdogmatik in eine „Relativitätstheorie“ diskretionärer Beliebigkeit.92 Der moderne Staat wird zum „Abwägungsstaat“.93 Vergl. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht (1976), S. 13. Grundlegend bereits Forsthoff, in: FS Carl Schmitt (1959), S. 35 (59 und passim). Kritisch v.a. zur Abhängigkeit der Forsthoffschen Postulate von Max Weber und dem Neukantianismus Hollerbach, AöR 85 (1960), 241 (268 ff.); dem zustimmend Würtenberger, FS Hollerbach (2001), 223 (224 f., 231 mit FN 32); kritisch auch schon Nipperdey, in: Bettermann / Nipperdey, Die Grundrechte IV / 2 (1960), 2. Aufl. 1972, S. 749 f. FN 33 m. w. N. 88 Vergl. Schlink, EuGRZ 1984, 457 (462); aufrechterhalten in: FS BVerfG II (2001), S. 445 (460 f.). 89 Pestalozza, Der Staat 2 (1963), 425 (448 f.). 90 Vergl. Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (29). Ders., ebda., S. 25: „Überhaupt ist die Vorstellung für mich nicht nachvollziehbar, daß das Grundgesetz eine Ansammlung von über 100 oder 150 Verfassungsgütern ist, die in zahllosen Kollisionen zu einander stehen, über die dann verfassungsrechtlich nicht mehr zu sagen wäre, als daß sie gegeneinander abzuwägen sind.“ 91 Vergl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), S. 69 m. w. N. 92 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 52 f. m. w. N. – Ders., ebda., S. 53: „So schlägt Grundrechts-Wohltat um in Abwägungs-Plage.“ Ders., ebda., S. 44 ff., 49 ff.: Zuerst werde die Grundrechtsextensivität durch „unbegrenzte Auslegung“ gestärkt, sodann aber die Grundrechtsintensität durch „unbegrenzte Abwägung“ wieder gemindert. 86 87

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Nach dem abwägenden, um den Verhältnismäßigkeitssatz kreisenden Grundrechtsdenken im Gefolge der Lüth-Entscheidung94 bringen die Einzelgrundrechte unter Vernachlässigung der eigentlich anstehenden dogmatischen Durcharbeitung ihrer jeweiligen Gewährleistungsbereiche und Schranken95 nur noch Nuancen einer einheitlichen Handlungsfreiheit des Individuums zum Ausruck; Schranken sind nur noch Ausdruck der Grundrechte Dritter oder aus objektiven Grundrechtsdimensionen abgeleitete „Verfassungswerte“ und mithin wie selbstverständlich auf Abwägung ausgelegt. Unrichtige Gewichtung staatlicher Schutzpflichten zugunsten der Grundrechte96 wird ihrerseits zur Grundrechtsverletzung. Auch wenn der Staat nicht grundrechtsschützend handelt, läßt sich sein Interesse als Schutz von Verfassungswerten überhöhen.97 Dadurch wird aber letztlich der Gegensatz zwischen Demokratieprinzip und grundrechtlicher Freiheit überspielt und unter dem Deckmantel angeblichen Grundrechtsschutzes die Handlungsmöglichkeiten des Staates erweitert.98

3. Argumente für die Grundordnungskonzeption Den Argumenten für die Rahmenordnungskonzeption ist aber die überragende Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips für die gesamte Rechtsordnung als wichtigstes Instrument des Bundesverfassungsgerichts zur Kontrolle von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung (Art. 1 Abs. 3 GG) entgegenzuhalten.99 Zwar mag „Abwägung“ nicht mit „Verhältnismäßigkeit“ identisch sein, die abwägende Methode ist aber jedenfalls die praktische Umsetzung des Verhältnismäßig93 Vergl. dazu Würtenberger, VVDStRL 58 (1999), 139 (141). Zum Begriff vergl. Leisner, Der Abwägungsstaat (1997): Da Grundrechte absolute Höchstwerte schützten, seien sie prinzipiell nicht abwägbar (vergl. ebda., S. 153 ff.); ein Staat, der auf Grundrechte gründe, dürfe Abwägung gar nicht kennen (ebda., S. 168). Vergl. auch ders., NJW 1997, 636 (638): Die gängigen Erkenntnisse der Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitslehren seien keine Erkenntnisse, sondern „hauptsächlich Banalitäten und Unbewältigtes“. 94 BVerfGE 7, 198 ff. 95 Vergl. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik (2004), S. 10 FN 5. 96 Vergl. BVerfGE 7, 198 (212). 97 Vergl. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik (2004), S. 10. 98 Vergl. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik (2004), S. 17 f. 99 Vergl. Schlink, in: FS BVerfGE II (2001), S. 445. Vergl. auch ders., ebda., S. 449 FN 12 mit Verweis auf Rosenfeld, in: Cardozo Law Review 18 (1997), S. 1609 ff.: die zentrale Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zeige sich hervorragend auch im rechtlichen Diskurs, der die Grenzen der verschiedenen Rechtsordnungen überschreite. So brachte 1996 die Veranstaltung „Justices at Work“ an der Benjamin N. Cardozo School of Law sieben Richter der Verfassungs- bzw. obersten Gerichte Frankreichs, Großbritanniens, Israels, Italiens, Ungarns, der USA und Deutschlands dergestalt zusammen, daß sie einen fiktiven Fall eines fiktiven Staates zu beraten hatten, der sich in seiner Verfassung auf die besten Verfassungstraditionen der genannten sieben Länder verpflichtet hätte. Zu dem Fall wurde von den sieben Verfassungsrechtlern aus den sieben Ländern plädiert und sodann von dem fiktiven Gericht öffentlich beraten. Das Ergebnis war, daß die sieben Richter verblüffend rasch eine gemeinsame Sprache fanden, um die Probleme des Falles zu erfassen und eine Lösung zu suchen – nämlich die Sprache des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nebst den Fragen nach der Verfassungslegitimität der gesetzgeberischen Ziele und der Erforderlichkeit von Eingriffen in die Freiheit der Bürger zu ihrer Erreichung.

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keitsprinzips, und wer auf dieses nicht verzichten will, der muß jene wohl letztlich hinnehmen.100 Nach ihrem Wortlaut standen die Grundrechte ursprünglich scheinbar so umfassend zur Disposition des Gesetzgebers, daß der unbefangene Blick auf ihren Wortlaut sie leicht für leerlaufend hätte halten können.101 Abgesehen von der (hohen) Hürde der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, gab es vor der Einführung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch das Bundesverfassungsgericht noch keine Schranken-Schranken, so daß der Gesetzgeber zwar auf die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht verpflichtet war, den genauen Inhalt und Umfang dieser Verpflichtung andererseits jedoch weitgehend selbst bestimmen konnte.102 Die Auflösung des Paradoxons, daß der Gesetzgeber einerseits an die Grundrechte gebunden sein, andererseits jedoch jedenfalls die meisten von ihnen sollte einschränken können103, fand das Bundesverfassungsgericht 1958 im Lüth-104 und im Apothekenurteil105 in Form eben des Verhältnismäßigkeitsprinzips, aber auch der Wechselwirkungslehre106 . Es kommt dabei nicht darauf an, daß jedenfalls die dem Lüth-Fall zugrundeliegende Konstellation auch unter Verzicht auf das Postulat grundrechtlicher „Drittwirkung“ dogmatisch rein abwehrrechtlich konstruiert werden kann, indem das sich aus der zwingenden Norm aus § 826 BGB abgeleitete Verbot des Boykottaufrufs als rechtfertigungsbedürftiger, staatlicher Eingriff in die Meinungsfreiheit gedeutet wird.107 Entscheidend ist nämlich, daß das Bundesverfassungsgericht – vom Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 GG her nicht zwingend – die Prüfung jedenfalls nicht abbrach, als es ein die Meinungsfreiheit einschränkendes Gesetz (§ 826 BGB) aufgefunden hatte, sondern nunmehr das Grundrecht als Element einer objektiven (Werte-)ordnung108 zusätzlich wirksam werden ließ. Verhältnismäßig100 Vergl. Ossenbühl, in: Erbguth u. a. (Hg.), Abwägung im Recht (Hoppe-Symposium, 1996), S. 25 (27): „Als Methode der Rechtsgewinnung hat die Abwägung ihr Hauptanwendungsfeld im Bereich der Grundrechte. Am Anfang steht das bekannte Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts [ . . . ].“ Dies – siehe noch sogleich – kann man eigentlich nur so verstehen, daß Abwägungsmethode und Verhältnismäßigkeitsprinzip gleichgesetzt werden. Zutreffend jedenfalls ders., ebda., S. 33: „Die Einwände, die gegen die Abwägung im Verfassungsrecht erhoben werden, sind mit den Einwänden gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit identisch.“ 101 Vergl. Bryde, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 17 Rd.Nr. 29 m. w. N. 102 Dies wurde weiter verschärft durch das Fehlen der Verfassungsbeschwerde (nach der ursprünglichen Konzeption des Grundgesetzes), der „wichtigsten institutionellen Voraussetzung für eine umfassende Mobilisierung der Grundrechte“, vergl. Bryde, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 17 Rd.Nr. 29 m. w. N. 103 Vergl. Schlink, in: FS BVerfGE II (2001), S. 445 (448). 104 BVerfGE 7, 198 (212 ff.); vergl. dazu statt vieler Wahl, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 19 Rd.Nr. 2 ff., 27, 53. 105 BVerfGE 7, 377 (397 ff.). 106 BVerfGE 7, 198 (212, 218 f., S. 229 [„Gesamtbetrachtung“]). 107 Vergl. hierzu Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 99 m. w. N. sowie noch unten Teil E I 1.

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keitsprinzip und Wechselwirkungslehre sind als die rein liberal-staatsgerichtete Funktion der Grundrechte überschießende Tendenzen jedenfalls objektive Grundrechtsfunktionen, auch wenn sie die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte verstärken und erst wirklich durchgreifend (weil nicht „beliebig einschränkbar“) machen. Allerdings fanden diese „überschießenden Tendenzen“ trotz ihres objektiven Charakters gerade im Rahmen der Abwehrfunktion statt. Aber daraus folgt zugleich: der Satz „auch ein zivilgerichtliches Urteil (etwa aus § 826 BGB) ist als staatliche Maßnahme an den Grundrechten zu messen (Art. 1 Abs. 3 GG), hierfür bedarf es aber keines Drittwirkungspostulats, sondern alles kann im rein abwehrrechtlichen Schema geschehen“, stimmt nur, wenn ebendiese Prüfung im Sinne des Lüth-Urteils nicht abgebrochen wird, sobald nur ein allgemeines Gesetz aufgefunden wird. Dies geschieht aber (nur) dann nicht, wenn die objektiven, das Abwehrrecht verstärkenden Grundrechtsdimensionen „Verhältnismäßigkeitsprinzip“ und „Wechselwirkung“ schon vorausgesetzt werden. An Stelle der bis zur Wesensgehaltsgrenze unbeschränkten Regelungskompetenz des Gesetzgebers, die diesem jedenfalls nach der Formulierung der unter Schrankenvorbehalt gewährleisteten oder gar normgeprägten Grundrechte zusteht, tritt nun die Befugnis zu einer Einschränkung, die ihrerseits den im Grundrecht niedergelegten Wert oder das Prinzip beachten muß und deshalb verhältnismäßig und unter Beobachtung widerstreitender Rechte oder Prinzipien stets auch wechselwirkend zu sein hat.109 Eine „wahrhaft liberale“ Grundrechtstheorie, die sich streng an der Rahmenordnungskonzeption orientiert, den Jurisdiktionsstaat vermeidet, das Demokratieprinzip stärkt und die klassische, staatsgerichtete Funktion der Grundrechte betont110, dürfte sich daher eigentlich nicht damit bescheiden, die Lüth-Entscheidung ergebnisgleich111, aber dogmatisch „abwehrrechtlich“ neu zu konstruieren112, sondern müßte ihr Ergebnis sowie Verhältnismäßigkeitsprinzip und Wechselwirkungslehre überhaupt in Frage stellen113 und jedenfalls gesetzge108 Das BVerfG übernahm Smends Lehre von Grundrechten als objektive Werteordnung, die dieser für die nicht justiziablen Weimarer Grundrechte entwickelt hatte (vergl. Bryde, in: Merten / Papier, HdBdGRe I [2004], § 17 Rd.Nr. 31 f. m. w. N.). Heute dominiert die Rede von den „objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten“ oder den „Elementen einer objektiven Ordnung“ (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 [1999], Rd.Nr. 279, 290 ff.); die Werteordnungsterminologie stellt sich aus heutiger Sicht eher als die noch unentfaltete, in zeitgebundener Redeweise zum Ausdruck gebrachte Frage nach den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, -dimensionen oder -funktionen dar (vergl. Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 82, 94 jew. m. w. N.). 109 Vergl. Bryde, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 17 Rd.Nr. 36. 110 Vergl. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (24 ff.). 111 Vergl. Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 99 (mit FN 411 m. w. N.). 112 In diese Richtung aber Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte (1971), S. 14 ff., 154 ff. und passim; ders., Probleme der Grundrechtsdogmatik, 2. Aufl. 1997, S. 211, 221 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 3,100 f., 315 ff. 113 Vergl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1991), S. 221 ff.; zum Ganzen auch Ossenbühl, in: VVDStRL 39 (1981), S. 189 (Diskussionsbeitrag); Hans Hugo Klein, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 6 Rd.Nr. 73.

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berische114 Freiheit außerhalb der Wesensgehaltsgarantie fordern115, sei es auch zum Preis des weitgehenden Leerlaufens der Grundrechte. Will man hingegen das Rechtsstaatsgebot, wie es jedenfalls seit der Lüth-Entscheidung die ganz herrschende Auffassung versteht, nicht aufgeben, so verbleibt man „in einem System, in dem Grundrechte durch Abwägung geschützt werden“.116, 117

V. Eine einfache, textbasierte Grundrechtstheorie 1. „Grundrechtstheoretisches Patt“ zwischen Rahmenordnungs- und Grundordnungsthese Die Bewertung der Argumente für Rahmenordnungskonzeption, Abwägungsskepsis und Rückkehr zum „liberalen“ Grundrechtsverständnis unter Zurückdrängung der objektiven Grundrechtsfunktionen einerseits und für die Grundordnungsthese nebst der Verteidigung abwägender Grundrechtskonkretisierung andererseits ergibt ein „verfassungstheoretisches Patt“. Dies war auch letztlich zu erwarten, da die Kontroverse von Rahmenordnungs- und Grundordnungskonzeption nur den im Text des Grundgesetzes angelegten Konflikt zwischen Demokratieprinzip und Rechtsstaatsgebot widerspiegelt; die Rahmenordnungsthese will das Demokratieprinzip auf Kosten des Rechtsstaatsgebotes stärken, die Grundordnungsthese stärkt den Grundrechtsschutz auf Kosten der demokratischen Freiheit bzw. Selbstbestimmung.

Vergl. Schlink, in: FS BVerfGE II (2001), S. 445 (461 f.). Vergl. Schlink, Die Abwägung im Verfassungsrecht (1976), S. 193 f., wo noch die „Wahrung einer Minimalposition des Bürgers“ als Prüfungsstufe im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gefordert worden war; vergl. ders., EuGRZ 1984, 457 (462 ff.): hier fällt dieses Kriterium dann stillschweigend weg, kritisch auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 395, 399: hierdurch würden Verhältnismäßigkeit und Abwägung vollständig aus der Grundrechtsprüfung verschwinden; Schlink, in: FS BVerfGE II (2001), S. 445 (461) hingegen hält eine abwägende Verhältnismäßigkeitsprüfung in der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle von Verwaltung und Rechtsprechung für kein Problem mehr; die Kontrolle des Gesetzgebers habe sich jedoch auf eine Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit zu beschränken, da diese – jedenfalls bei richtiger Handhabung – ohne Bewertungen, sondern nur mit Prognosen auskämen (ders., ebda. S. 455 ff., v.a. 458). 116 Vergl. Bryde, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 17 Rd.Nr. 37 (mit der Forderung, auch in einem solchen müsse der Gewährleistungsgehalt der Grundrechte stärker in seinem materialen wie funktionalen Gehalt in den Blick kommen). 117 Aus kulturgeschichtlicher Sicht zur Abwägung im Recht als dessen eigentlicher Rationalisierung in der Folge der Säkularisierung vergl. Häberle, in: Erbguth u. a. (Hg.), Abwägung im Recht (Hoppe-Symposium, 1996), S. 43 (44) (Diskussionsbeitrag). 114 115

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a) Auflösung des Patts durch das „institutionelle Grundrechtsdenken“? Außerdem gibt es noch eine dritte grundrechtstheoretische Konzeption, die einerseits von einer Durchdringung und Prägung der gesamten Rechtsordnung durch die Grundrechte ausgeht (wie die Grundordnungsthese), sich andererseits aber gleichzeitig der Stärkung des Demokratieprinzips verpflichtet sieht (wie die Rahmenordnungskonzeption). Es handelt sich dabei um das institutionelle Grundrechtsdenken.118 Der Kunstgriff, die eigentlichen Stärken und Vorzüge der konkurrierenden grundrechtstheoretischen Hauptrichtungen scheinbar zu vereinen, gelingt dem institutionellen Grundrechtsdenken allerdings nur dadurch, daß es die Prägung der gesamten Rechtsordnung durch Grundrechtsgehalte nicht als einseitigen Prozeß ansieht, sondern postuliert, daß v.a. auch die Grundrechte ihrerseits durch die Rechtsordnung geprägt werden119; dies kann dann aber leicht dazu führen, daß die Grundrechte entgegen Art. 1 Abs. 3 GG „im Lichte des einfachen Gesetzes“ ausgelegt werden und nicht umgekehrt. Außerdem setzt sich die Forderung, zur Betonung des demokratischen Prinzips120 im Grundgesetz die grundrechtlichen Schutzbereiche als durch das einfache Gesetzesrecht geprägt und ausgestaltet anzusehen, dem Vorwurf der Zirkularität aus.121 Denn es sollen einerseits bei der Auslegung der Verfassung die historisch vorausgesetzten wie auch die sich seit Verabschiedung der Verfassung neu entwickelnden sozialen Institutionen berücksichtigt werden122; gleichzeitig soll aber andererseits der Gesetzgeber verpflichtet sein, die Grundrechtsideen durch die Ausgestaltung entsprechender Normenkomplexe in die soziale Wirklichkeit zu überführen.123

U. a. deswegen stößt das institutionelle Grundrechtsdenken überwiegend auf Ablehnung oder wird jedenfalls als rein rechtstheoretisches Gedankengebäude ohne dogmatische Umsetzbarkeit (und mithin: Relevanz) angesehen.124 Dies entbindet jedoch nicht von der Aufgabe der Suche nach einer Art Überbrückung oder Kompromiß zwischen den beiden Verfassungspolen Rechtsstaat und Demokratie. 118 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983 (im Folgenden: Wesensgehaltsgarantie). 119 Vergl. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 4 ff. (S. 5): „[ . . . ] ,ganzheitliche‘ Verfassungssauslegung. Grenzen und Inhalt der Grundrechte sind in einer ,Zusammenschau‘ zu bestimmen, die ihnen als konstitutivem Teil eines Gesamtzusammenhangs gerecht wird.“ Vergl. auch ders., ebda., S. 23 ff., S. 58 ff. 120 Vergl. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 16 ff.; S. 40 unter Bezugnahme auf BVerfGE 7, 377 (405): Freiheitsanspruch des einzelnen und der Gemeinschaftsschutz als „gleichermaßen legitime Forderungen“. 121 Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 11 Rd.Nr. 78. 122 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 96 ff., 100 ff. 123 Vergl. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 98, 118 ff. 124 Vergl. statt vieler Schlink, EuGRZ 1984, 457 (463 ff.); Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 63 ff.; Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 11 Rd.Nr. 76 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 54 f.

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Zwischen den gegenwärtigen verfassungstheoretischen Hauptrichtungen „Grundordnung“ und „Rahmenordnung“ ist ein möglicher Kompromiß bislang nicht erkennbar. Eine Vermittlung zwischen beiden Positionen erscheint aber dringend notwendig. Denn folgt man nicht der Rahmenordnungskonzeption, so ist das demokratische Prinzip kaum zu retten, und die demokratisch legitimierte Rechtssetzung wird letztlich zum Verfassungsvollzug unter bundesverfassungsgerichtlicher Kontrolle; wollte man ihr hingegen folgen, müßte man konsequenterweise auf den heute gewohnten Grundrechtsschutz weitgehend verzichten, wie bereits der Rekurs auf die grundlegenden bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen im Fall Lüth und zur Berufsfreiheit der Apotheker erweist, ganz zu schweigen von der modernen Schutzpflichtendogmatik.125 Daher ist in Übereinstimmung mit dem Erkenntnisinteresse des institutionellen Grundrechtsdenkens erneut zu fragen: wie ist es möglich und wie kann (re-)konstruiert werden, daß Grundrechte einerseits die gesamte Rechtsordnung prägen, andererseits aber in diese (demokratische) Rechtsordnung „hineingestellt“ sind? Anders gewendet: wie kann man individuellen Grundrechtsschutz und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes ausbalancieren, und zwar aufgrund einer Verfassungstheorie, die nicht bloß auf letztlich rechtspolitischem („liberalen“, „sozialstaatlichem“, „demokratischem“) Vorverständnis beruht, sondern sich konkret auf Wortlaut und Systematik des Grundgesetzes selber stützen kann? b) Entscheidung durch das Traditions- oder das Fortschrittsargument? Nicht aufgelöst werden kann der Konflikt jedenfalls durch „Traditionsargumente“ einerseits oder „Fortschrittsargumente“ andererseits. So neigen Verfechter des Rahmenordnungstheorems dazu, das liberal-abwehrrechtliche Grundrechtsdenken als (vorläufigen End-)Punkt eines Entwicklungsprozesses auszuweisen (mit der Folge, daß die abweichende Grundauffassung als traditionswidriges, inkompatibles Kunstprodukt delegitimiert wird)126 sowie sich insbesondere auf das historisch-genetische Argument, also Entstehungsgeschichte und ursprüngliche Intention der Väter und Mütter des Grundgesetzes, zu berufen.127 Die Vertreter des 125 Vergl. BVerfGE 39, 1 (41) – Abtreibung I; 46, 160 (164) – Schleyer; 49, 89 (142 f.) – Kalkar I; 53, 30 (57) – Mühlheim-Kärlich; 56, 54 (73; 80) – Fluglärm; 77, 170 (214) – CWaffen; 77, 381 (402) – Gorleben; 79, 174 (201 f.) – Verkehrslärm; 81, 310 (339) – Kalkar II; 85, 191 (212 f.) – Nacktbadeverbot; 88, 203 (251 ff.) – Abtreibung II; 90, 145 (195) – Cannabis; zum Ganzen Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 77 ff. 126 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 80. 127 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 75; ders., ebda., S. 80 f. mit der Kritik: „Was zunächst verfassungshistorische Erwägung war, mutiert zu einer verfassungstheoretischen Erklärung, um schließlich im Gewande einer verfassungsdogmatischen Erkenntnis verbindlichen Rang zu reklamieren.“ – Dann aber ders., ebda., S. 328 ff. mit ausdrücklichem Bekenntnis zur entscheidenden Bedeutung der historisch-subjektiven Auslegungsmethode! Vergl. noch unten, Teil C, II 2. – Vergl. auch Böckenförde, Der Staat 42

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Grundordnungstheorems hingegen stellen ihre Auffassung gern als höhere Entwicklungsstufe des Grundrechtsdenkens dar, gegenüber der die „Verfassung als Rahmenordnung“ überholt ist.128 Beides vermag nicht zu überzeugen. So spricht gegen eine besondere oder gar entscheidende Bedeutung der Entstehungsgeschichte von Gesetzen schon das Argument der Kategorienverwechselung. Die Auslegung einer (Grundrechts-)Norm fragt nach einem Sollen. Dieses Sollen kann dann aber nicht aus einem Sein, nämlich den rechtshistorischen Tatsachen, hergeleitet werden; dies wäre letztlich eine Spielart des naturalistischen Fehlschlusses. Methodisch bedeutet dies, daß rechtshistorische Tatsachenforschung und dogmatische Normauslegung unterschieden und getrennt werden müssen.129 Andererseits kann aber auch das „Fortschrittsargument“ nicht überzeugen. Denn der Konflikt zwischen Grundordnung und Rahmenordnung (als idealtypische Extrempositionen) spiegelt, wie gezeigt, nur den im Verfassungstext angelegten Widerspruch zwischen grundrechtlicher und demokratischer Freiheit, also Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot wieder; es ist daher nicht darzulegen, warum eine Stärkung des rechtsstaatlichen Prinzips auf Kosten der Demokratie fortschrittlicher sein sollte als etwa der umgekehrte Fall. Außerdem ist die Vorstellung echter „Fortschritte“ im Recht überhaupt zweifelhaft; statt „kontinuierlicher Verbesserung“ (ohnehin eine geschichtswissenschaftlich problematische Prämisse) ist die Aufgabe des Rechts eher eine in jeder Generation neu zu erringende Ordnungsund Befriedungsleistung in jeweils wechselnden gesellschaftlichen Konstellationen.130

2. Verhältnismäßigkeitsprinzip, Abwägungslehre und differenzierte Schrankensystematik des Grundgesetzes Wenn der Vorbehalt des Gesetzes zum Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes geworden ist131, so ist die Frage interessant, wie sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte auswirkt, zu denen, jedenfalls nach herrschender Auffassung, auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit gehört. Denn würde das Verhältnismäßigkeitsprinzip, mangels irgendeiner Einschränkungsmöglichkeit jedenfalls ausweislich des Wortlauts der fraglichen Grundrechte, hier keinen rechten Anknüpfungspunkt finden, so wäre die Theorie naheliegend, daß eben diese schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte den richtigen und geeigneten Gegenstand der Rahmenordungslehre (2003), 165 (178 ff; 186 ff.); Wahl, in: Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (26) für die (auslegungs-)entscheidende Bedeutung der Frage, was 1949 „vorbedacht“ gewesen sei. 128 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 80; in diese Richtung etwa Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung (2000), S. 9 ff., 18 ff. 129 Vergl. noch unter unter Teil C, II und sogleich unter VI 3. 130 Vergl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 39 mit FN 10. 131 Schlink, in: FS BVerfG II (2001), S. 445.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

mitsamt der typischer- und notwendigerweise mit ihr verbundenen Skepsis gegen die abwägende Methode im Verfassungsrecht sowie objektive Grundrechtsdimensionen überhaupt bilden. Bei dieser Vermutung wird ganz bewußt zunächst einfach auf den grundgesetzlichen Textbefund abgestellt und aus ihm geschlossen, daß bei schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten keine Möglichkeit der Einschränkung besteht. Mit dieser „unvoreingenommenen“ Betrachtungsweise werden also bewußt sämtliche eingebürgerten Annahmen über den Verfassungs- oder Grundrechtsvorbehalt, der aufgrund der Prämisse der Einheit der Verfassung eine Einschränkung auch der scheinbar schrankenlosen Grundrechte ermöglichen soll, zunächst ausgeblendet (so wie eben bereits das Wissen um die Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorübergehend ausgeblendet worden war, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß die meisten Grundrechte des Grundgesetzes ohne diese und nach ihrem Wortlaut „leerlaufen“ könnten). Diese vorübergehende Ausblendung des Verfassungsvorbehalts folgt dem oben bereits aufgestellten Postulat, daß eine Grundrechtstheorie, die hier gesucht wird und die nach Möglichkeit einen Kompromiß zwischen Grundordnungs- und Rahmenordnungskonzeption bilden und die widerstreitenden Prinzipien des Rechtsstaats- und des Demokratiegebots nach Möglichkeit versöhnen soll, jedenfalls ihrem Anspruch nach mehr sein muß als nur ein Vorverständnis, das der Auslegung der Grundrechte unterlegt wird132; eine richtige Grundrechtstheorie muß sich unmittelbar aus der Verfassung herleiten können. Zur Auffindung einer solchen Theorie muß aber das Grundgesetz vollkommen unbefangen betrachtet werden. Denn die Theorie zum Verständnis des Textes ist auf den Text selber zu stützen und nicht auf Theorien Dritter über die Auslegung des Textes.133 a) Eine dem Grundgesetz gemäße Grundrechtstheorie muß an die differenzierte Schrankensystematik anknüpfen Aufgabe dieser Grundrechtstheorie soll es sein, das demokratische Prinzip und das Rechtsstaatsgebot besser miteinander kompatibel zu machen und die rechtspolitische Gestaltungsmöglichkeit des demokratischen Gesetzgebers mit individuellem Grundrechtsschutz verfassungstextplausibel miteinander zu versöhnen. Versucht man dies ausgehend vom Verfassungstext, so ist es verwunderlich, daß die 132 Vergl. für die normative, nicht „weltanschauliche“ Ableitung einer Grundrechtstheorie auch Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 2. Aufl. 1997, S. 5 ff. 133 Von der geistesgeschichtlichen Einordnung her wird hier also ein „genuin protestantischer“ Weg der Verfassungsauslegung beschritten; vergl. Depenheuer, in: FS Kriele (1997), S. 485 (487 ff., 490, 491 ff., v.a. 497 ff.). – Freilich zeigt die Entwicklung der protestantischen Theologie, daß die Maxime „zurück zu den Texten“ leichter gesagt als praktiziert wird: dem Problem der Auslegung und Interpretation, dem gesamten hermeneutischen Zirkel wird letztlich auch die hier vorgeschlagene Herangehensweise nicht entkommen (vergl. unten, Teil D und E). Aber es bleibt doch richtig, daß, wo das GG eine Differenzierung vorschreibt (nämlich zwischen schrankenvorbehaltlosen und sonstigen Grundrechten), diese auch (und doch wohl mit irgendeiner Ergebnisrelevanz) vorgenommen werden muß.

V. Eine einfache, textbasierte Grundrechtstheorie

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hauptsächlich vertretenen allgemeinen Verfassungstheorien, also idealtypisch Rahmenordnungs- und Grundordnungsthese, stets allgemeine Aussagen über das Verständnis „von Grundrechten“ treffen – wie etwa, diese seien liberal als staatsgerichtete Abwehrrechte zu verstehen, oder, sie hätten eine Ausstrahlungswirkung in oder Wechselwirkung mit der einfachen Rechtsordnung usw. – ohne dabei zwischen den unterschiedlichen Arten von Grundrechten zu differenzieren, nämlich schrankenvorbehaltlos gewährleisteten, solchen unter (ggf.: qualifiziertem) Schrankenvorbehalt und normgeprägten Grundrechten. Vom grundgesetzlichen Text her, der eine differenzierte, abgestufte Schrankensystematik vorsieht, drängen sich die Unterscheidung sowie die Vermutung, daß sie eine weitergehende Bedeutung haben müsse, auf; wenn die gängigen theoretischen Konzeptionen sie dennoch weitgehend ignorieren, so kann dies nur damit erklärt werden, daß diese Lehren Annahmen über Verfassungsvorbehalte, nach denen selbst schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte ähnlich leicht einschränkbar sind wie Grundrechte unter Schrankenvorbehalt oder normgeprägte Grundrechte, die dem Verfassungstext aber unmittelbar nicht zu entnehmen sind, diesem als Vorverständnis bereits unterlegen. Durch die hieraus folgende Nichtbeachtung der differenzierten Schrankensystematik des Grundrechtskatalogs durch die Grundrechtstheorie kommt aber möglicherweise gerade die heute festzustellende Pattsituation zwischen demokratischen Rahmenordnungsvorstellungen und rechtsstaatlichen Grundordnungsideen zustande. b) Schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte sind in die Rechtsordnung eingeordnet Wie kann die differenzierte Schrankensystematik des Grundgesetzes für eine allgemeine Verfassungstheorie im Sinne etwa der Rahmen- oder Grundordnungskonzeption fruchtbar gemacht werden? Ausgangspunkt hierfür soll die Überlegung Konrad Hesses sein, daß die vorbehaltlose Gewährleistung eines Grundrechts gerade nicht Indiz für dessen erhöhte Schutzwürdigkeit sei: denn ansonsten müßte die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen (Art. 8 Abs. 1 GG) schutzwürdiger sein das „älteste und elementarste“ Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG).134 Dieser einfache Grundgedanke kann zu einer ganzen Verfassungstheorie entfaltet werden, in deren Rahmen davon auszugehen ist, daß der Gewährleistungsgehalt eines schrankenvorbehaltlosen Grundrechts von Anfang an so eng zu verstehen ist, daß sich Konflikte und Kollisionen mit Grundrechten Dritter oder Gemeinschaftswerten von Verfassungsrang nicht ergeben.135 Dies soll sich nach hier vertretener Ansicht nicht etwa so verhalten, weil die Verfassungsväter 134 Vergl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. (1995) 1999, Rd.Nr. 316. – Ähnlich Rüfner, in: FS BVerfG II (1976), S. 453 (462 f.) und Bettermann, Grenzen der Grundrechte (1968), S. 8; jetzt Volkmann, JZ 2005, 261 (270). 135 Ähnlich bereits Kriele, JA 1984, 629.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

sich die Grundrechte in dieser Weise gedacht hätten oder gedacht haben müßten136 (historisch-subjektive Auslegung), sondern es ist das Ergebnis einer systematischen Auslegung. Das Grundgesetz schreibt allgemein rechtsstaatlichen Grundrechtsschutz und das Demokratieprinzip vor, ohne aber – bei einigen, eben den schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten – dem Demokratieprinzip eine Einbruchsstelle, eine verfassungslegitime gesetzliche Ausgestaltungsmöglichkeit anzubieten. Daraus folgt in systematischer Auslegung, daß es sich bei ebendiesen Grundrechten um absolute Minimalgarantien handelt, in die ein „Eingriff“, sei er auch gesetzesförmig und demokratisch legitimiert, jedenfalls außerhalb eines echten Staatsnotstands137 ohnehin nicht in Betracht kommt. Mit anderen Worten, die Rahmenordnungskonzeption mitsamt ihren Vorbehalten gegen Verhältnismäßigkeitsprinzip, Wechselwirkungslehre und objektive Grundrechtsfunktionen soll richtigerweise auf die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte angewendet werden, die Grundordnungskonzeption mit abwägender Verhältnismäßigkeit, Wechselwirkung und Konstitutionalisierung der Rechtsordnung hingegen auf die unter Schrankenvorbehalt gestellten und die normgeprägten Grundrechte. Die allgemein angenommene Unterscheidung zwischen grundrechtlichem Schutzbereich und Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, die die Nichtidentität von Grundrechtseingriff und Grundrechtsverletzung und zugleich die Nichtidentität von Schutzbereich und effektivem Garantiebereich der Grundrechte impliziert138, trifft auf die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte nicht zu. Wenn nämlich ein Grundrecht schon vom Textbefund her durch die demokratische Rechtsordnung nicht einschränkbar und ausgestaltbar ist, wenn also diese demokratische Rechtsordnung das Grundrecht nicht prägen, es gestalten und sich anverwandeln kann, so folgt hieraus als Direktive seiner Auslegung, daß es sich seinerseits in die demokratische Ordnung von Anfang an einfügen muß.139 Aus dieser Grundrechtstheorie, setzt man sie konkret in Dogmatik um, folgt dann, daß schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte im forum externum zu nichts berechtigen, was nicht nach der sonstigen Rechtsordnung einschließlich der sonstigen Grundrechtsordnung erlaubt ist.140 136 In diese Richtung aber Kriele, JA 1984, 629: der Verfassungsgeber habe die Erforderlichkeit eines Vorbehalts „nicht erkannt“ oder ihm habe „vorgeschwebt“, ein Gemeinschaftsvorbehalt sei selbstverständlich. 137 Vergl. Böckenförde, NJW 1978, 1881 (v.a. 1888 ff.); zum Ganzen auch Torsten Stein, in: Merten / Papier, HdBdBRe I (2004), § 24 Rd.Nr. 32 ff., 41 ff., 52. 138 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 25 f. 139 Dies könnte man sinnbildlich dahingehend vergröbern, daß ein Hund, der von Rechts wegen keinen Maulkorb tragen muß, auch nicht gefährlich sein kann. 140 A.A. wohl Iliadou, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz (1999), S. 86: „schrankenvorbehaltlose Grundrechte können nicht schwächer geschützt sein als solche mit Schranken“: dies ist nur dann richtig, wenn man darauf abstellt, daß erstere in der Tat absolut geschützt sind und nicht nur relativ, quasi „unter Parlamentsmitsprache“. Stellt man hingegen auf die Kraft eines Grundrechts ab, die einfache Rechtsordnung zu relativieren und zu konstitutionalisieren, so sind schrankenvorbehaltlos gewährleistete (absolute) Grundrechte viel schwächer.

V. Eine einfache, textbasierte Grundrechtstheorie

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So ist die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) dem Wortlaut nach ohne Schrankenvorbehalt gewährleistet141, sie umfaßt aber auch nur die Bündelung erlaubter Tätigkeiten142 zu einem Beruf, relativiert aber nicht das Verbotensein verbotener Tätigkeiten143 (der Diebstahl fällt nicht deshalb unter grundrechtlichen Schutz, weil er berufsmäßig ausgeübt wird). Die Freiheit der Wissenschaft berechtigt den Geologen weder zu Bohrungen auf fremden Grundstücken noch den Astronomen zum Diebstahl eines Teleskops. Die Kunstfreiheit relativiert nicht die Strafbarkeit der Sachbeschädigung144, und zwar ohne daß es dafür darauf ankommt, daß der geschädigte Eigentümer sich ebenfalls auf ein Grundrecht berufen kann.145 Die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen berührt nicht die feuer- und baupolizeilichen Regelungen. Entsprechend berechtigt auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 zu nichts, was nicht ohnehin erlaubt ist; sie betrifft in erster Linie146 das forum internum; ihre rein liberale, abwehrrechtliche Bedeutung besteht in der Abwehr willkürlicher Verfolgung Andersdenkender, sofern diese wirklich wegen des Andersdenkens verfolgt werden (und nicht wegen „Andershandelns“ abweichend von den Vorgaben der Rechtsordnung).

141 A.A. BVerfGE 7, 377 (401 ff.); 103, 172 (183): da Berufswahl und Berufsausübung nicht zu trennen seien, weil die Berufsausübung die Berufwahl einerseits voraussetze und andererseits bestätige, handele es sich um ein „einheitliches Grundrecht“; a.A. (also wie hier) Jörg Lücke, DÖV 2002, 93 und ders., Die Berufsfreiheit (1994), S. 26 ff. 142 BVerfGE 7, 377 (397); 32, 311 (317); 48, 376 (388); 68, 272 (281); 78, 179 (193); 81, 70 (85); BVerwG 22, 286 (287); 71, 183 (189); 87, 37 (40 f.); BVerwG, DVBl. 1994, 760 (761); Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 20. Aufl. 2004, Rd.Nr. 617, 810; Albers, DVBl. 1996, 233 (241). A.A. die wohl hLit, vergl. z. B. Tettinger, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 12 Rd.Nr. 36 m. w. N.; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen (1999), S. 107; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (175 FN 46 a.E. unter [1]: „beispielhafte Fehlentwicklung“). Nach hier vertretener Auffassung ist die These der Rspr. für das Grundrecht der freien Berufswahl deswegen richtig, weil dieses als schrankenvorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht als in die Rechtsordnung eingeordnet begriffen werden muß, diese also weder suspendiert noch relativiert. 143 Vergl. BVerfGE 32, 311 (316). 144 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1984, 1293 (1294) – Sprayer von Zürich (Nägeli); vergl. auch Heyde, in: FS Zeidler, Bd. 1 (1987), S. 1429 (1434). 145 Vergl. Kriele, JA 1984, 629 (636) zu BVerfG, NJW 1984, 1293 (1294): die Erwägung des Vorprüfungsausschusses, daß auch das Eigentum der Geschädigten grundrechtlich geschützt sei, ist lediglich obiter dictum, nicht aber tragender Grund. Vergl. unten unter VIII 3 c), aa) sowie Teil C, I 1. 146 Die Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 I GG umfaßt auch die Kundgabe von Meinungen; so verstanden, ist die Bekenntnisfreiheit aber kein schrankenvorbehaltloses Grundrecht, sondern ihr Gewährleistungsgehalt richtet sich nach Art. 5 II GG. Hierbei handelt es sich aber nicht um einen Fall der „Schrankenleihe“ im eigentlichen Sinne; sondern die Beschränkung folgt daraus, daß gem. Art. 140 GG iVm. Art 136 I WRV religiös motivierte Meinungsäußerungen gegenüber anderen nicht privilegiert werden dürfen; vergl. unten Teil D. – Außerdem enthält Art. 4 II GG eine Schutzpflicht, die in § 167 StGB gesetzesmediatisiert ist; vergl. unten Teil D und E.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

3. Grundrechte, Demokratieprinzip, Verhältnismäßigkeit: die Auflösung der Paradoxien Dabei entspricht das hier für die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte im allgemeinen (und für die Glaubens- und Gewissensfreiheit im besonderen) vorgeschlagene grundrechtstheoretische Konzept insofern einer strengen Rahmenordnungskonzeption147, als daß es abwägungsfeindlich ist; andererseits ähnelt es auch dem institutionellen Grundrechtsdenken, als daß die Relativierung des demokratisch legitimierten einfachen Gesetzesrechts im Namen der Grundrechte dahingehend beschränkt wird, daß diese Grundrechte ihrerseits als in die Rechtsordnung eingeordnet verstanden werden. Beiden Konzepten entspricht der hier gemachte Vorschlag in seinem Anliegen einer Stärkung des Demokratieprinzips. Er ist jedoch nicht auf die unter (qualifiziertem) Schrankenvorbehalt gewährleisteten und normgeprägten Grundrechte zu übertragen. a) Die Auflösung des Paradoxons „Grundrechtsbindung des Gesetzgebers versus Einschränkbarkeit der Grundrechte durch den Gesetzgeber“ bei den unter Schrankenvorbehalt gewährleisteten Grundrechten Denn diese Grundrechte sind von vornherein „demokratisch domestizierbar“ konzipiert und auf Ausgestaltung und Regelung durch die demokratische Rechtsordnung ausgelegt. Dadurch ist dem Demokratieprinzip genüge getan; damit aber der individuelle Grundrechtsschutz nicht leerläuft, dürfen die in den beschränkten Grundrechten vorgesehenen Einschränkungen bzw. die in den normgeprägten Grundrechten vorbehaltene Ausgestaltung nur nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips, nach der Methode der Abwägung und unter Beobachtung der Interdependenz (Wechselwirkung) geschehen.

147 Vergl. mit ähnlichen Konzeptionen bereits Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 2. Aufl. 1976, S. 8 ff.; ders., JZ 1964, 601 (603); Rüfner, in: FS BVerfG II (1976), 453 (456 f.); ähnlich auch Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 43 ff., S. 64. – Allerdings dürfte die hier gemeinte Spielart der Rahmenordnungskonzeption nicht den Vorstellungen Böckenfördes entsprechen (vergl. ders., Der Staat 29 [1990], 1 [3 ff., 21 ff.]). Dies liegt daran, daß Böckenförde unter den Stichworten Rahmenordnungskonzeption, Ablehnung des Jurisdiktionsstaates, Stärkung des demokratischen Elements usw. wohl primär den Gedanken der objektiven Grundrechtswirkung v.a. im Privatrecht i. S. d. Lüth-Entscheidung kritisiert, bei eindeutig staatlichen Maßnahmen jedoch gegen weitestgehenden Grundrechtsschutz (auch auf Kosten des Demokratieprinzips und zu Lasten der Einordnung des Grundrechtsträgers in die Allgemeingültigkeit der Rechtsordnung) nichts einzuwenden hat, vergl. nur ders., NJW 2001, 723 ff. (zu VG Lüneburg, NJW 2001, 767 ff.). Zum Ganzen Manterfeldt, Die Grenzen der Verfassung (2000), S. 44 ff.; vergl. aber auch die Kritik von Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 395, an Böckenförde, BVerfGE 88, 203 (359 ff.) (Minderheitenvotum).

V. Eine einfache, textbasierte Grundrechtstheorie

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b) Die Auflösung des Paradoxons „keine Einschränkbarkeit der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte“ versus Demokratieprinzip Die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte könnte man als absolute Grundrechte bezeichnen; dies deswegen, weil sie das rechtsstaatliche Prinzip individuellen Grundrechtsschutzes verabsolutieren und dem entgegenstehenden Prinzip der demokratischen (kollektiven) Selbstbestimmung schon von ihrer Wortlautfassung her keinen Angriffspunkt mehr bieten. Für solche Grundrechte ist in der grundgesetzlichen Ordnung Raum (sonst würde es sie ja nicht geben), aber dieser Raum ist engstens umgrenzt. Die unter Schrankenvorbehalt gestellten Grundrechte hingegen könnte man als relative Grundrechte bezeichnen, weil sie als Grundrechte von Anfang an in eine Beziehung gesetzt sind zur demokratischen Selbstbestimmung, mit der sie wechselwirken. Diese „verhältnismäßige Wechselwirkung“, die, wie gezeigt, zur Auflösung des Paradoxons „Bindung des Staates an Grundrechte, bei gleichzeitiger Einschränkbarkeit dieser Grundrechte durch den Staat“ erfunden werden mußte, ist dann zugleich Motor der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Die schrankenvorbehaltlosen Grundrechte hingegen konstitutionalisieren die Rechtsordnung nicht, sondern sie werden umgekehrt in diese eingeordnet. 4. Schutzbereich und Gewährleistungsgehalt von Grundrechten Durch diese Sichtweise gelingt es, dem gemeinsamen rechtstheoretischen Anliegen so unterschiedlicher Konzeptionen wie der Rahmenordnungslehre und dem institutionellen Grundrechtsdenken, nämlich einer grundsätzlichen Stärkung der demokratischen Selbstbestimmung nach dem Grundgesetz, Rechnung zu tragen, ohne deswegen das rechtsstaatliche Anliegen der Grundordnungskonzeption und deren abwägende Verhältnismäßigkeitsprüfung und Wechselwirkungslehren zurückweisen zu müssen. Ein weiterer Vorteil der hier vertretenen Konzeption liegt darin, daß sie sich nicht auf letztlich nur rechtspolitische, allgemeine Vorstellungen von der guten Gesellschaft oder dem gerechten Staat (die etwa „liberal“ zu sein hätten oder „sozial“) stützt, sondern im Kern einfach auf den vorfindlichen Verfassungstext und die in ihm angelegte, differenzierte Schrankensystematik. Dogmatisch entspricht der hier vertretenen Sichtweise die Sprachregelung, daß schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte keinen „Schutzbereich“ haben, sondern einen Gewährleistungsgehalt.148 Der Gegensatz beider Begriffe bringt die 148 Gelegentlich wird der Begriff „Gewährleistungsgehalt“ dem Begriff „Schutzbereich“ synonym verwendet, vergl. etwa Sachs, in: Stern, DStRdBRD III / 2 (1994), S. 3 ff., v.a. S. 27 FN 75 m. w. N., S. 31 ff.; dies soll insbesondere auch „verräumlichenden“ Fehlvorstellungen entgegenwirken, vergl. Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? (Bryde-Kolloquium, 2004), S. 53 (57); ders., Der Staat 43 (2004), 203 (226 f.); ähnlich auch Ipsen, Staatsrecht II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 117.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

der differenzierenden Schrankensystematik des Grundgesetzes zu entnehmende, unterschiedliche Herangehensweise an die Deutung der unterschiedlichen Grundrechtsarten (absolute, relative und normgeprägte, wobei normgeprägte Grundrechte aber auch als ein Unterfall der relativen Grundrechte begriffen werden können) auf den Punkt. Durch die relativen und normgeprägten Grundrechte wird durch den Mechanismus des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Wechselwirkung und die mit diesen Mechanismen verbundene Methode der Abwägung die gesamte Rechtsordnung konstitutionalisiert; gleichwohl wird dadurch die grundgesetzliche Ordnung noch nicht zum Jurisdiktionsstaat. Denn der demokratische Gesetzgeber hat immer noch entscheidenden Einfluß auf den Gegenstand des Konstitutionalisierungsprozesses, nämlich das einfache Gesetz. Die relativen und erst recht die normgeprägten Grundrechte sind demokratisch hegbar konstruiert. Ihre Schutzbereiche sind das Aufmarschgebiet (bzw. der „Flächennutzungsplan“) der einschränkenden und ausgestaltenden Gesetze, die aber verhältnismäßig sein müssen, damit das rechtsstaatlichen Prinzip nicht durch demokratische Selbstbestimmung leerläuft. Dieses Zusammenspiel von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht ist der eigentliche Grund, warum die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung durch relative Grundrechte nicht den Vorwurf des Jurisdiktionsstaates begründet. Nicht widerlegt werden könnte dieser Vorwurf hingegen durch den Verweis darauf, der Richterstaat werde durch Art. 1 Abs. 3 GG geboten.149 Denn die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt setzt das (mit der Ewigkeitsgarantie ausgestattete) Demokratieprinzip nicht außer Kraft. Insofern kann allein durch den Verweis auf die den individuellen Rechtsschutz betreffenden Vorschriften des Grundgesetzes das „verfassungsrechtliche Patt“ nicht einfach zugunsten des Rechtsstaats (und mithin gegen die Demokratie) entschieden werden.

Anderes gilt jedoch von den schrankenvorbehaltlos gewährleisteten oder absoluten Grundrechten. Eine „demokratische Hegung“ unter fortlaufender Mitwirkung des demokratischen Gesetzgebers am Konstitutionalisierungsprozeß ist bei Ihnen prima facie nicht möglich, da ihnen die „Einbruchstelle für die Demokratie“ in Gestalt des Gesetzesvorbehalts fehlt.150 149 In diese Richtung aber Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (189 FN 131 m. w. N.): die These vom Jurisdiktionsstaat gehe „an der Fundamentalentscheidung in Art. 1 Abs. 3, 2 Abs. 1, 19 Abs. 4 S. 1, 20 Abs. 3, 93 Abs. 1 Nr. 4a GG vorbei.“ 150 Nochmals sei darauf hingewiesen, daß die zahlreichen seit dem Beginn der Geltung des Grundgesetzes entwickelten und vertretenen Theorien über den Grundrechts- oder Verfassungsvorbehalt, nach denen auch die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte nach dem Grundgedanken der „Einheit der Verfassung“ doch eingeschränkt werden können, im Rahmen dieser grundrechtstheoretischen Vorüberlegungen vorerst nicht herangezogen werden. Denn eine dem Grundgesetz adequate Grundrechtstheorie muß sich auf den Verfassungstext selber stützen können, nicht auf spätere Theorien Dritter über die richtige Auslegung dieses Textes. Legt man diesen Text zugrunde, so sind der Widerstreit von Rechtsstaatsgebot und Demokratieprinzip einerseits sowie die differenzierende Schrankensystematik des Grundrechtskatalogs andererseits die evidenten Tatsachen, an denen eine Grundrechtstheorie nicht vorbeigehen kann.

V. Eine einfache, textbasierte Grundrechtstheorie

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Absolute (schrankenvorbehaltlose) Grundrechte sind nicht einschränkbar. Dafür spricht nicht nur der Texbefund selbst, also die Abwesenheit eines Gesetzesvorbehalts, sondern auch positiv die Formulierung aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG: „Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann . . .“. Hierin wird ausgesagt, daß die Möglichkeiten der Einschränkung von Grundrechten im Grundgesetz abschließend normiert sind und die Form des Gesetzesvorbehalts annehmen, sei dies ein einfacher oder ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt oder ein Ausgestaltungsvorbehalt. Eine Einschränkung etwa durch Grundrechte Dritter oder Rechtswerte von Verfassungsrang151 ist, wie die Formulierung des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG zeigt, im Grundgesetz nicht vorgesehen.152 Entsprechend eng ist nach systematischer Auslegung mithin der Gewährleistungsumfang dieser Grundrechte zu verstehen.

Daher wäre es auch nicht adequat, ihnen einen (verräumlichenden153) „Schutzbereich“ zuschreiben zu wollen. Denn da diese Grundrechte schrankenvorbehaltlos gewährleistet sind, wäre dieser „Bereich“ offenbar ein „rechtsfreier Raum“, jedenfalls für den Staat und für Dritte, die von der Grundrechtsausübung im (vermeintlichen) Schutzbereich faktisch gestört werden. Da die schrankenvorbehaltlose Gewährleistung eine absolute Gewährleistung ist, stellt sich allein die Frage nach deren genauem Inhalt, also dem Gewährleistungsgehalt. Ist dieser ermittelt, wird die Grundrechtsprüfung in aller Regel beendet sein, da ein verfassungsrechtlich gerechtfertigter Eingriff in diesen absoluten Gewährleistungsgehalt eigentlich nicht vorstellbar ist. Daraus folgt aber zugleich, daß der Inhalt der absoluten Grundrechte (grundsätzlich) rein staatsgerichtet-liberal zu verstehen ist und im Schutz vor der willkürlichen Verfolgung Andersdenkender besteht, nämlich dann, wenn diese wirklich wegen des „Andersdenkens“ verfolgt werden sollen und nicht wegen eines „Andershandelns“ gegen das geltende Recht. Ebenfalls im Gewährleistungsgehalt eingeschlossen ist weiterhin eine Schutzpflicht, die dem Staat aufgibt, den Bürger, der seinerseits das staatliche Gewaltmonopol zu beachten hat, vor entsprechenden Übergriffen Privater zu schützen, die also selbst dem Staat nicht erlaubt wären.154 An äußerer Handlungsfreiheit geht der Gewährleistungsgehalt der absoluten Grundrechte jedoch nicht über diejenige äußere Handlungsfreiheit hinaus, die die allgemeine Rechtsordnung einschließlich des Art. 2 Abs. 1 GG im Sinne der Elfes-Doktrin im allgemeinen und die relativen Grundrechte im besonderen gewährleisten. Hierbei wird keineswegs der „Schutzbereich“ der absoluten Grundrechte unter der Bezeichnung „Gewährleistungsgehalt“ entgegen Art. 1 Abs. 3 GG „im Lichte der allgemeinen Gesetze“ ausgelegt; auch werden diese Grundrechte nicht eigentlich unter einen „Vorbehalt der allgemeinen Rechtsordnung“ gestellt. Ein solcher Vorbehalt ist nicht erforderlich. Denn BVerfGE 28, 243 (261); st. Rspr. Vergl. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 55. 153 Vergl. Ipsen, Staatsrecht II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 117. 154 Vergl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik (1985), S. 101 f., 109 f., 138 ff.; Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 77 ff., jeweils m. w. N. 151 152

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

die von den schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten konstituierte Gewährleistung erstreckt sich von vornherein nicht auf das Zuwiderhandeln gegen die Rechtsordnung oder auf die rechtliche Privilegierung einiger Grundrechtsträger (Gläubige, Wissenschaftler, Künstler) vor anderen. Eine rechtswidrige Handlung wird nicht dadurch legal, daß der Handelnde sich auf eine (im übrigen kaum nachprüfbare) Sondermotivation beruft (wie Religion oder Gewissen) bzw. seiner Handlung anderweitig eine besondere Dignität zuschreibt (nämlich daß sie dem Fortschritt der Wissenschaft diene oder schlicht „Kunst“ sei). Auch dem demokratischen Gesetzgeber ist es unbedingt verwehrt, religiöse Minderheiten allein wegen ihres Glaubens zu verfolgen oder etwa einen Künstler unter polizeiliche Beobachtung zu stellen, mit Malverbot zu belegen etc., weil er nach staatlicher Auffassung „entartete Kunst“ produziert. Diese Gewährleistungen bedürfen auch unter Gemeinwohlgesichtspunkten keinerlei Schrankenvorbehalts. Aus dessen Fehlen folgt aber zugleich, daß die Freiheit des Glaubens und Gewissens, der Kunst und der Wissenschaft nicht (auch nicht „im Zweifel“) zu allgemeiner Handlungsfreiheit nach dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers erstarken. Mangels eines Schrankenvorbehalts, also mangels Relativität müssen die absoluten Grundrechte in die Rechtsordnung eingeordnet bleiben, und anders als die relativen Grundrechte können sie die Rechtsordnung auch nicht konstitutionalisieren, da dann das Demokratieprinzip durch ihre Schrankenlosigkeit entwertet würde.

Das hier skizzierte Grundrechtsdenken setzt sich freilich in scharfen Widerspruch zu dem wohl herrschenden, „primär liberalen“155 Grundrechtsdenken. Deswegen wird dieses jetzt in einer weiteren Vorüberlegung mitsamt seinen verfassungs- und geistesgeschichtlichen Hintergründen thematisiert.

VI. Kritik des Schmittschen Dogmas Diese weitere Vorüberlegung ist eher grundrechtsdogmatischer Natur. Sie hat das herkömmliche Verständnis der Schutzbereiche von Grundrechten zum Gegenstand und soll aufweisen, daß die herrschende dogmatische Herangehensweise zur Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche, die speziell das Bundesverfassungsgericht bisher mit besonderer Konsequenz auf das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit angewendet hat, nicht haltbar ist, weil sie auf einem „Kurzschluß“, also einer Kategorienverwechselung beruht, indem sie methodisch fehlerhafter Weise rechtsphilosophisch-naturrechtliche Überlegungen zur Interpretation einer positiven Norm heranzieht.

1. Die „primär liberale“ Grundrechtsdogmatik: „in dubio pro libertate“ Die herrschende, liberale Grundrechtsdogmatik geht aufgrund der grundrechtstheoretischen Annahme einer vorstaatlichen, umfassenden Freiheit des Individuums davon aus, daß der Schutzbereich der Freiheitsgrundrechte weit und letzt155 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (168); vergl. auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation (1987), S. 20 ff., 88 ff.; ders., in: FS Rüfner (2003), S. 329 (v.a. 334 ff.).

VI. Kritik des Schmittschen Dogmas

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lich im Sinne eines Rechts auf beliebiges Verhalten auszulegen ist.156 Daraus folgt dann zwingend auch der Grundrechtssubjektivismus: Termini wie „Glaube“ oder „Kunst“ unterliegen der Definitionsmacht der Grundrechtsträger, obgleich sie als normative Begriffe des Verfassungsrechts eigentlich in verbindlicher Weise interpretiert werden müßten.157 Gerade auf dem Gebiet der Glaubens- und Gewissensfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht diesem Grundrechtssubjektivismus Vorschub geleistet.158 Dies ist weniger ein Problem der konkreten Rechtsinhalte, also des Inhalts der jeweiligen Schutzbereiche der Freiheitsgrundrechte, sondern der Kompetenz, diesen verbindlich festzustellen, und mithin also der Kompetenz-Kompetenz für die Letztentscheidung über den Grundrechtskonflikt.159 Dieses „primär liberale Grundrechtdenken“ mit der Prämisse, die Schutzbereiche der Freiheitsgrundrechte seien im Zweifel weit und im Sinne eines Rechts auf beliebiges Verhalten auszulegen160, läuft letztlich auf die umstrittene Auslegungsmaxime „in dubio pro libertate“161 hinaus, auf die das Bundesverfassungsgericht162 sich gelegentlich im Sinne „grundrechtsfreundlicher Auslegung“ bzw. der „stärksten Entfaltung der juristischen Wirkungskraft“ berufen hat.163 Auch dieser Auslegungsmaxime ist das Argument der Kategorienverwechslung entgegenzuhalten: genau wie der strafrechtliche in-dubio-pro-reo-Satz, dem die Formel wohl entlehnt ist, kann sich eine solche Vermutungsregel für den Zweifelsfall immer nur auf Zweifel an Tatsachen, nicht auf Zweifel bei der Normauslegung beziehen, schon weil sonst

156 Vergl. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 278 ff., 290 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation (1987), S. 175 ff.; Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 87 ff.; Sachs, in: Stern, DStRdBRD III / 1 (1988), S. 628 ff.; Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 8 Rd.Nr. 38 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 163 f.; Schmidt-Jortzig, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 10 Rd.Nr. 42; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (168 mit FN 16 m. w. N.; 199); ähnlich auch Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 120. 157 Vergl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 19 I 3 c) (S. 182); vergl. aber auch noch unten, Teil B, II 6 a). 158 BVerfGE 24, 236 (247 f.); 32, 98 (111); 33, 23 (26 ff.); 35, 366 (376); 42, 312 (334 ff.); 46, 73 (85,95); in diese Richtung auch BVerfGE 108, 282 (298 f.). – Vergl. allgemein und für sonstige Freiheitsgrundrechte auch die Nachweise bei Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (169 FN 17). 159 Vergl. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? (1980), S. 10, 17 f., 41; vergl. aber auch noch unten, Teil B, II 6 a). 160 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (168, 199). 161 Dafür z. B. Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 14 Rd.Nr. 24; vergl. auch ebda., Rd.Nr. 12 (dort allerdings nur mit Bezug auf die allgemeine Handlungsfreiheit iSd. Elfes-Doktrin). 162 BVerfGE 6, 55 (72); 32, 54 (71); 39, 1 (38); 51, 97 (110). 163 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (168 f. FN 16) meint zwar selbst: „Eine eigenständige Auslegungsmaxime ,in dubio pro libertate‘, die zu einem absoluten Vorrang der Freiheit führen würde, kann nicht anerkannt werden.“ Aber weiter: „Der Grundsatz ,in dubio pro libertate‘ ist aber als Ausfluß von Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG bei der systematischen Auslegung im Sinne einer relativen Präferenz- oder Gewichtungsregel mit zu berücksichtigen [ . . . ].“ Letzteres läuft jedoch, ebenso wie die oben zitierte Zweifelsformel, eben auf den fraglichen In-dubio-Satz hinaus, der einen „absoluten“ Vorrang ja auch nicht postuliert.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

jede rechtsdogmatische Anstrengung überflüssig wäre und stets vom (hypothetischen) Ergebnis her entschieden werden könnte. Auch würde es dem Grundgesetz kaum entsprechen, wenn Gemeinschaftswerte per se Nachrang hätten.164 Letztlich geht der gedankliche Komplex auf ein Mißverstehen Richard Thomas165 durch das Bundesverfassungsgericht zurück, der nur begründen wollte, warum Grundrechte im Zweifel subjetive Rechte seien, ohne aber etwas über die Auslegung ihres Gewährleistungsgehalts aussagen zu wollen.166

2. Wurzeln der „primär liberalen“ Grundrechtsdogmatik Dies ist jedoch nur eine und nicht die wichtigste Wurzel der liberalen Grundrechtsauslegung. Diese geht – freilich nicht ausschließlich, aber jedenfalls, insofern sie die Vorstellung prinzipiell unbeschränkter Freiheit des Grundrechtsträgers und die hieraus resultierende entscheidende Bedeutung seines jeweiligen Selbstverständnisses nicht nur als rechtstheoretische Annahme, sondern auch als dogmatische Maxime zur Auslegung der Grundrechte als positives Recht betrachtet – maßgeblich auf die Grundsätze aus den §§ 12 und 14 der Verfassungslehre Carl Schmitts zurück.167 a) „Verfassungslehre“ und rechtsstaatliches Verteilungsprinzip Nach Carl Schmitt ist der Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Grundrechtsbestimmung im „bürgerlichen Rechtsstaat“ nicht „vom Staat her“, aber wohl auch nicht vom Verfassungsgesetz her zu definieren; denn was der genaue Inhalt der jeweiligen Freiheit sei, könne in letzter Instanz nur derjenige entscheiden, der frei sein solle – sonst sei es nach allen menschlichen Erfahrungen mit der Freiheit schnell zu Ende.168 Ausgangspunkt war dabei die Vorstellung von Grundrechten als vor- und überstaatlichen Rechten.169 Diese Vorstellung hat sich auch deswegen als so ungeheuer wirksam erwiesen, weil es schon auf den ersten Blick überzeugt, daß Menschenwürde, Gewissen oder Weltanschauung kaum durch den Staat gewährt oder verliehen werden, oder daß eine Verfassung schwerlich die „Befug164 Vergl. Ossenbühl, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 15 Rd.Nr. 23 m. w. N.; ablehnend auch Kriele, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 110 Rd.Nr. 2. 165 Vergl. Thoma, in: Nipperdey, Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1 (1929), S. 1 (9). 166 Vergl. Pestalozza, Der Staat 2 (1963), 425 (443 f. mit FN 104) mit Verweis auf Thoma, in: Nipperdey, Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1 (1929), S. 1 (13); vergl. auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 46 FN 17 m. w. N. – Skeptisch jedoch Stern, DStRdBRD III / 2 (1994), S. 1740 f. 167 Vergl. auch Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 43. 168 Vergl. Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (1958), S. 140 (167). 169 Vergl. Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 126, S. 163.

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nis“ einräumen könnte, ein Gewissen oder eine Weltanschauung zu haben.170 Die „direkte Übersetzung“ dieser – rechtstheoretisch im Kern171 berechtigten – Vorstellung in rechtsdogmatische Aussagen würde allerdings zu einem Kategorienfehler führen. Denn Normen können in ganz unterschiedlicher Weise „Geltung“ beanspruchen; Geltung als einklagbares staatliches Recht erhält auch ein Freiheitsgrundrecht erst kraft staatlicher Gewährleistung, und der Umfang dieser Gewährleistung ist nicht aus naturrechtlichen Selbstdefinitionsvorbehalten, sondern allein aus der Auslegung der zugrundeliegenden Verfassungsbestimmungen zu erhellen.172 Aus der auf eine Kategorienverwechslung zwischen Rechtstheorie und Rechtsdogmatik beruhenden Vorstellung von vorstaatlichen Grundrechten als Verfassungsauslegunskategorie gewinnt Schmitt sein bis heute vielgerühmtes173 „rechtsstaatliches Verteilungsprinzip“: „die Freiheitssphäre des einzelnen wird als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist.“174 Dessen richtiger Kern ist aber, wie noch weiter zu zeigen sein wird, nur die Annahme einer allgemeinen Handlungsfreiheit im Sinne der Elfes-Doktrin175, nicht jedoch die weitere Annahme, daß auch die Spezialgrundrechte weite Schutzbereiche haben, die sich prinzipiell oder jedenfalls im Zweifel auf jedes menschliche Verhalten gemäß des Selbstverständnisses des Grundrechtsträgers erstreckten.

Vergl. Ipsen, Staatsrecht II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 63. Allerdings mögen auch schon auf der rein rechtstheoretischen Ebene gewisse Zweifel an der – prima facie zwar einleuchtenden – Vorstellung aufkommen. Denn letztlich geht sie eindeutig auf Rousseaus im Ergebnis unhaltbare Vorstellung zurück, das Individuum könne – ein „richtiges Bewußtsein“ vorausgesetzt – in den Gesellschaftsvertrag eintreten, ohne dabei etwas von seiner Freiheit zu verlieren. Vergl. Rousseau, Du contrat social IV 2: „Il n’y a qu’une seule loi qui, par sa nature, exige un consentement unanime; c’est le pacte social [ . . . ]. Si donc, lors du pacte social, il s’y trouve des opposants, leur opposition n’invalide pas le contrat, elle empêche seulement qu’ils n’y soient compris: ce sont des étrangers parmi les citoyens. [ . . . ] Le citoyen consent à toutes les lois, même à celles qu’on passe malgré lui, et même à celles qui le punissent quand il ose en violer quelqu’une. [ . . . ] Quand donc l’avis contraire au mien l’emporte cela ne prouve autre chose sinon que je m’étais trompé [ . . . ]“. – Ders., ebda., I 6: „,Trouver une forme d’association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun, s’unissant à tous, n’obéisse pourtant qu’à lui-même, et reste aussi libre qu’aupravant.‘ Tel est le problème fondamental dont le contrat social donne la solution.“ Vergl. zum Ganzen auch Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl. 2003, S. 138 ff.; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 28. 172 Vergl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 41 ff., 44 ff., 51 ff. 173 Vergl. nur Ipsen, Staatsrecht II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 64. 174 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 126 (Hervorhebung im Original). Ähnlich ders., ebda., S. 131, S. 158, S. 164. 175 BVerfGE 6, 32 (36). 170 171

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b) Menschenrechte und Grundrechte Der antike pflichtethische Ansatz, der einzelne Rechte des Individuums gegen den Staat mit dem Argument begründet, jeder müsse jedenfalls das Recht haben, seine Pflicht zu tun, wird in der deutschen Aufklärung, lutherisch grundiert, in der Nachfolge Samuel Pufendorfs von Christian Wolff aufgenommen. Die hieraus gewonnenen Freiheitsrechte haben allerdings nur einen wohlfahrtsstaatlich verstandenen Appelcharakter an den Herrscher176; was von diesen Freiheiten im Staat erhalten bleibt, bestimmt das positive Gesetz.177 Der moderne Gedanke menschlicher Freiheitsrechte bildete sich im angelsächsischen Raum aus, nämlich durch die „Bills of Rights“ der Neuengland-Staaten, deren erste die Virginia Bill of Rights (12. Juni 1776) war.178 Diese freiheitsrechtlichen Deklarationen griffen ihrerseits auf die englische Rechtstradition zurück, indem sie den Inhalt königlicher Freiheitsbriefe179 verallgemeinerten180, radikalisierten und v.a. subjektivierten.181 Sie beeinflußten dann wesentlich den Inhalt der französischen „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ vom 26. August 1789.182 Auch183 über die Rezeption dieser Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ist ein nachpflichtethisches Freiheitsrechteverständnis auch nach Deutschland gelangt.184 Über Sinn und Zweck der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde in der Nationalversammlung heftig debatiert; bei einer realistischen Sicht der Verhältnisse war klar, daß sie nicht normativ, etwa als Gewährleistung von Abwehrrechten, verbindlich sein konnte, weil sich die Sozialverfassung nur langsam, wenn auch nach ihrem Maßstab, verändern ließ.185 Daher wurde sie eher als politischer Vergl. Kriele, in: FS Scupin (1973), S. 187 (194). Hofmann, JuS 1988, 841 (842). 178 Vergl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 16 I 1 (S. 146 f.); Hofmann, JuS 1988, 841 (844 f.). 179 Magna Carta Libertatum (1215), Petition of Right (1628), Habeas-Corpus-Akte (1679), Bill of Rights (1689). Hofmann, JuS 1988, 841 (844): „Man kennt die Leier“; vergl. auch Kriele, in: FS Scupin (1973), S. 187 (205 ff.). 180 Daß die Verallgemeinerung und Radikalisierung des Inhalts tradtitioneller englischer Privilegienbriefe dabei ein Theorie-und-Praxis-Problem nach sich zog, infolgedessen die pathetischen Formulierungen der frühen amerikanischen Bills of Rights obgleich ihres grundsätzlich subjektiv-rechtlich gemeinten Charakters oft (teils) juristisch wirkungslos blieben und geraume Zeit etwa der Sklaverei nicht entgegenstanden, steht dabei auf einem anderen Blatt. Zum Ganzen Kriele, in: FS Scupin (1973), S. 187 (193, 207 und passim); Würtenberger, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 2 Rd.Nr. 57. 181 Vergl. Hofmann, JuS 1988, 841 (844 f.). 182 Vergl. Kriele, in: FS Scupin (1973), S. 187 (189 ff.); Hofmann, JuS 1988, 841 (844); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 16 I 2 (S. 147). 183 Vergl. im übrigen Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 16 I 3 (S. 148 f.). 184 Vergl. Scheuner, in: FS Ernst Rudolf Huber (1973), S. 139 (141). 185 Vergl. Würtenberger, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 2 Rd.Nr. 8. 176 177

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Katechismus186 angesehen, an dem sich ein neues politisch-rechtliches Bewußtsein der Bevölkerung orientieren sollte.187 Jedenfalls deutet sich bereits in der Überschrift der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen der Gegensatz zwischen Menschenrechten im Sinne von natürlichen oder moralischen Rechten einerseits und den im deutschen Sprachraum als Grundrechten188 bezeichneten, staatlich positivierten Gewährleistungen an.189 Dieser Unterschied190 wurde in der älteren Staatsrechtslehre noch klar erkannt, die der natürlichen Freiheit die durch die Gesetze begrenzte bürgerliche und politische Freiheit gegenüberstellte.191 Die Freiheitsrechte werden damit zu gesetzlichen oder verfassungsrechtlichen Gewährleistungen.192 Sie werden betont als staatsbürgerliche Rechte193, nicht als naturrechtliche Freiheiten oder Menschenrechte aufgefaßt. Das gilt besonders auch von der Auslegung der in den süddeutschen Verfassungen gegebenen Freiheitsverbürgungen, die in der Literatur durchweg als staatsbürgerliche Gewährleistungen erscheinen.194 Der Übergang von oft pathetisch formulierten, philosophisch verstandenen Menschenrechten zu staatlich gewährleisteten195 und als Rechtsnorm auszulegenden Grundrechten ist ein allgemeines Phänomen der europäischen Grundrechtsentwicklung und nicht etwa Anzeichen einer retadierten Verfassungsentwicklung in Deutschland.196 Die Positivierung der Menschenrechte zu Grundrechten in den Verfassungen des Vormärz führt zur Entstehung einer Grundrechtsdogmatik, die sich nicht an naturrechtlichen Argumentationstopoi, sondern am Verfassungstext orientiert.197 Vergl. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1968), S. 66 f. Vergl. Würtenberger, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 2 Rd.Nr. 8, 57 m. w. N.; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 16 I 2 (S. 147); Stern, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 1 Rd.Nr. 29 m. w. N.; Hofmann, JuS 1988, 841 (846); a.A. wohl Ipsen, Staatsrecht II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 26. 188 Vergl. Stern, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 1 Rd.Nr. 31 m. w. N.; Klaus Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland (1998), S. 2 ff., 20 ff. 189 Zum Ganzen Stern, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 1 Rd.Nr. 4, 46 ff., 51 jew. m. w. N. 190 Vergl. auch Kriele, in: FS Scupin (1973), S. 187 (188 ff.); Borowski, Die Glaubensund Gewissensfreiheit (2006), S. 84 ff. 191 Vergl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 3. Aufl. 1963, S. 101; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2 (1992), S. 374. 192 Vergl. auch (speziell zu den 1848 / 49er-Grundrechten und deren Interpretation durch Gerhard Ritter) Kühne, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 3 Rd.Nr. 7, 10. 193 Vergl. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1968), S. 81 ff. 194 Vergl. Scheuner, in: FS Ernst Rudolf Huber (1973), S. 139 (143) mit Verweis auf R. v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. 1 (1829), S. 267 ff., 289 ff.; Cucumus, Lehrbuch des Staatsrechts der constitutionellen Monarchie Baierns (1825), S. 124 ff.; Aretin-Rotteck, Staatsrecht der constitutionellen Monarchie, Bd. 2, 2. Aufl. 1838, S. 1 ff. 195 Vergl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2 (1992), S. 115. 196 Vergl. Würtenberger, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 2 Rd.Nr. 25. 197 Vergl. Würtenberger, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 2 Rd.Nr. 54. 186 187

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3. Das Schmittsche Dogma: Kategorienverwechselung und Leugnung der Normativität der Verfassung Schiller198 hat dieses Verhältnis von philosophischen Menschenrechten und staatlich gewährleisteten, positiven Grundrechten durchaus auf den Punkt gebracht: „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Und unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew’gen Rechte Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst“.

Dann – aber auch nur dann! Mit anderen Worten: die „verfassungspolitische action directe“, d. h. also der offene Widerstand unter Aufgabe verfassungsrechtlicher Dogmatik und mit „direktem Durchgriff auf vorstaatliche Freiheitsideen und naturrechtliche Vorstellungen“ (Revolution199) ist nur gegen eine Tyrannenmacht zulässig, nicht aber gegen den demokratischen Staat, der gemäß seiner Gesetze und Verfassungsgesetze Grundrechte gewährleistet. Das „primär liberale“ Grundrechtsparadigma beruht letztlich auf der Prämisse, den demokratischen Rechtsund Gewährleistungsstaat wie eine „Tyrannenmacht“ zu behandeln, gegen die in jeder Grundrechtsanwendung ein „Widerstandsrecht“ geltend gemacht wird. Carl Schmitt tut dies sogar explizit, indem er im Zusammenhang mit der Erläuterung seines Dogmas meint, daß er „Rechte, welche dem Belieben eines absoluten Fürsten oder einer einfachen oder qualifizierten Parlamentsmehrheit ausgeliefert sind, [ . . . ] ehrlicherweise nicht als Grundrechte bezeichnet“ wissen will.200 Der Unterschied zwischen philosophischen Menschenrechten im Absolutismus und durchsetzbaren, staatlich gewährleisteten Grundrechten im demokratischen Verfassungsstaat wird ignoriert; dadurch wird zugleich die demokratische Komponente im modernen Verfassungsstaat diskreditiert und das positiv gewährleistete Grundrecht in die Nähe bloß philosophischer Aspirationen unter einem „Ancien Régime“ gerückt.201

Dieser Widerstand gegen die Demokratie wird allerdings nicht offen ausgetragen, sondern versteckt, indem das vorstaatliche Freiheitsrecht, das naturrechtliche Widerstandrecht unter der Hand als dogmatische Auslegungsmaxime202 in das 198 Wilhelm Tell, 2. Akt, 2. Szene; vergl. bereits Scheuner, in: FS Ernst Rudolf Huber (1973), S. 139; Stern, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 1 Rd.Nr. 22. 199 Vosgerau, Rechtstheorie 30 (1999), 227 (240). 200 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 163 f. 201 Vergl. Stern, DStRdBRD III / 1(1988), S. 345. 202 In abgemilderter Form etwa bei Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 89 (Priorität der Menschenrechte gegenüber dem positiven Recht), S. 112 f. (Gebot der menschenrechtsfreundlichen Auslegung); dann aber ders., ebda., S. 203: „Grundlage

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staatlich-positive Grundrecht eingeschleust wird. So wird der Rechtsstaat mit seinen eigenen Mitteln (Gesetze und Gerichtsentscheidungen) bekämpft. Es handelt sich dabei um eine quasinaturrechtliche Aushebelung des positiven Rechts.203 Dieser Mechanismus, der ursprünglich auf die dezisionistische Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz gestützt war204, hat sich von dieser ursprünglichen Voraussetzung jedoch längst emanzipiert. Das „primär liberale“ Grundrechtsdenken der Gegenwart stützt sich nicht auf eine dezisionistische Verfassungstheorie, sondern schlicht auf den prima facie offenen oder auch kontingenten Inhalt der Grundrechtsnormen, desssen Schutzbereiche letztlich im Zeichen des falsch verstandenen In-dubio-Satzes als weit, selbstverständnisorientiert und prinzipiell jedes menschliche Verhalten umfassend gedacht werden. Damit wird zwar keine Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat als Verfassung oberhalb des Verfassungsgesetzes behauptet; aber es wird ein allenfalls rechtsphilosophisch begründetes, liberales Vorverständnis der Grundrechte zur dogmatischen Richtschnur der Auslegung positiven Rechts gemacht.205 Dies ist methodisch falsch, weil hier die Kategorien rechtsphilosophischen Menschenrechtsverständnisses und und textorientierter Normauslegung verwechselt werden. Mit der Annahme einer vorstaatlichen, umfassenden Freiheit des Individuums stehen Carl Schmitt und die heutigen Verfechter des primär liberalen Grundrechtsverständnisses zwar in einer langen Tradition liberalen Menschenrechtsdenkens; Carl Schmitt war aber der erste, der diese Tradition „methodisch ganz ungesichert und in ihren praktischen Folgen unabsehbar“206 kategorienwidrig in die Grundrechtsdogmatik übertragen hat. Deswegen wird die Annahme, daß auch die Spezialgrundrechte weite und vom Selbstverständnis des Grundrechtsträgers geprägte Schutzbereiche haben (im Sinne jedenfalls des prima-facie-Schutzes jedes beliebigen menschlichen Verhaltens) hier das Schmittsche Dogma genannt. Seine rechtshistorische Herkunft aus der Unterscheidung zwischen Verfassung und Verfassungsrecht weist auf den eigentlichen geistigen Kern des Schmittschen Dogmas hin, der auch heute noch und keineswegs nur in Gestalt der „liberalen Grundrechtsauslegung“ virulent ist: es handelt sich dabei um die Leugnung des normativen Charakters der Verfassungsnorm zugunsten einer fiktiven „superkoneines rechtlichen, auch eines grundrechtlichen, Sollensurteils können nur die rechtlichen Normen sein, die sich mit den Mitteln der juristischen Methodenlehre den positivierten Normsätzen entnehmen lassen [ . . . ].“ Letzteres verdient Zustimmung. 203 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 214. 204 Vergl. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (1953), S. 33 ff., 53 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 214; Dreier, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 4 Rd.Nr. 32. 205 Gegen die Vorstellung „natürlicher“ Freiheit in der Verfassungsauslegung auch Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 145 ff., 198 ff., 342 ff.; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht (1976), S. 124 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 194 ff.; alternierend Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111: eher dagegen Rd.Nr. 46, eher dafür Rd.Nr. 119. 206 Vergl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 214.

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stitutionellen“ Norm, deren Existenz und genauer Inhalt dabei regelmäßig in das Belieben des Normanwenders gestellt bleibt. Derlei fiktiv-superkonstitutionelle Normen können aber nicht nur in rechtsphilosophischen oder rechtspolitischen Annahmen, die dogmatisch für auslegungsleitend erklärt werden, gesucht und gefunden werden, sondern etwa auch im (angeblichen) Willen der an der Verfassungsgebung konkret beteiligten Personen oder in rechts- oder geistesgeschichtlichen Erwägungen, denen angehangen zu haben diesen beteiligten Personen unterstellt wird („subjektiv-historische Auslegung“207). Daher läßt sich in allgemeiner Form sagen: dem Schmittschen Dogma folgt, wer die Normativität der Verfassung zugunsten von Ersatzrechtsquellen relativiert oder leugnet oder die Vorschriften der Verfassung, v.a. aber die Grundrechte, nur als unvollkommenes Abbild eines dahinterliegenden eigentlichen Sollens behandelt.208 4. Der richtige Kern des Schmittschen Dogmas Festzuhalten ist aber auch, daß die beiden Aussagen des ursprünglichen Schmittschen Dogmas jeweils einen richtigen Kern enthalten. a) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne der Elfes-Doktrin Die Aussage nämlich, daß die Freiheitssphäre des Einzelnen als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt werden müsse, und daß weiter die Freiheit des einzelnen prinzipiell unbegrenzt sei, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt sei209, hat ihren zutreffenden Kern darin, daß auch der Auslegung der Grundrechte als positives staatliches Recht, als punktuelle Gewährleistungen und besondere Erlaubnisnormen, richtigerweise eine allgemeine Handlungsfreiheit zugrundezulegen ist. Der zu wahrende, richtige rechtstechnische Kern des „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips“ ist in Wahrheit mithin nur die allgemeine Handlungsfreiheit. Der Erfolg des „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips“ im Sinne der Verfassungslehre erklärt sich denn auch leicht daraus, daß es evidentermaßen für den Rechtsstaat konstitutiv zu sein scheint: in einem freiheitlichen Staat ist in der Tat nicht die Handlungsfreiheit zu rechtfertigen, sondern allenfalls ihre Einschränkung. Sedes materiae dieses rechtsstaatlichen Verteilungsgrundsatzes ist aber im geltenden Verfassungsrecht (neben Art. 20 Abs. 3 GG) v.a. Art. 2 Abs. 1 GG iSd. Elfes210-Konstruktion.211 Vergl. dazu unten Teil C, II. Insofern kommt es daher nicht entscheidend darauf an, daß Carl Schmitt selbst die historisch-subjektive Auslegung ablehnte; vergl. nur ders., Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 23 ff. 209 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 126; ähnlich ders., ebda., S. 131, 158, 164. 210 BVerfGE 6, 32 (36 ff.). 207 208

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Gegen die Elfes-Konstruktion wird neuerdings teilweise eingwendet, daß dieses Dogma den „maßgeblichen Indikator für die Freiheitsrechte eines Gesamtsystems“, nämlich die „Nettofreiheit“ 212, wegen des mit der Ausweitung des Schutzbereichs einhergehenden weiten Schrankenregimes nicht erhöhen könne: solange Reiten im Walde bzw. Taubenfüttern nicht verboten war, war es freigestellt; als das Verbot aber erging, war mit Art. 2 Abs. 1 GG nichts dagegen auszurichten.213 Dies ist aber eine verkürzende Sichtweise; das Motto „wichtig ist, was hinten herausauskommt“ ist keine dogmatische Leitschnur. Das für den demokratischen Rechtsstaat typische Zusammenspiel von allgemeiner Handlungsfreiheit214 und demokratisch legitimierter Einschränkung entwertet nicht das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit; dies wäre ja genau die Auffassung Carl Schmitts, der ehrlicherweise nicht als Grundrecht bezeichnen wollte, worauf selbst eine qualifizierte Parlamentsmehrheit noch einen Einfluß habe. Außerdem wäre einfach zu fragen: warum war den Taubenfüttern bzw. das Reiten im Walde vor dem Verbot „freigestellt“?

b) Ablehung der dogmatischen Figur des „Grundrechtsmißbrauchs“ Was den zweiten Teil des Schmittschen Dogmas betrifft, so liegt der wahre Kern der Aussage, daß, was der genaue Inhalt grundrechtlicher Freiheit sei, in letzter Instanz nur der Grundrechtsträger selbst entscheiden könne, da es sonst mit der Freiheit schnell vorbei sei215, in der Ablehnung von Grundrechtsmißbrauchstheorien.216 Was nämlich durch ein Grundrecht gewährleistet ist, kann nicht im 211 Gegen Art. 2 I als allgemeines Auffanggrundrecht im Sinne allgemeiner Handlungsfreiheit Grimm, BVerfGE 80, 137 (164 ff.) (Minderheitenvotum), der aber auch nicht zur Persönlichkeitskerntheorie Peters’ (FS Laun [1953], S. 669 [672 ff.]) zurückwill, sondern durch Art. 2 I GG Tätigkeiten geschützt sieht, die einerseits nicht unter die speziellen Grundrechte fallen, andererseits aber gleichwohl für die Persönlichkeitsentfaltung von erheblicher Bedeutung seien (a. a. O., S. 166 mit Verweis auf Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 16. Aufl. 1988, Rd.Nr. 428; ähnlich jetzt Volkmann, JZ 2005, 261 [268]; andeutungsweise auch Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. [Hg.], Haben wir wirklich Recht? [Bryde-Kolloquium, 2004], S. 53 [66 ff.]; ders., Der Staat 43 [2004], 203 [214 f.]). Die plausible Abgrenzung dieser Tätigkeiten von den übrigen ist aber praktisch nicht durchführbar; so auch (statt vieler) Ipsen, Staatsrecht II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 726 f.; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (185, 191 f.); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 22 II 1 (S. 211). 212 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 25 ff.: „effektiver Garantiebereich“. 213 Volkmann, JZ 2005, 261 (268 FN 67). 214 im vordemokratischen, nämlich (besitz-)bürgerlichen Rechtsstaat wären hingegen nur „Freiheit und Eigentum“ grundrechtlich geschützt. 215 Vergl. Carl Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze (1958), S. 140 (167). 216 Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten (1967); vergl. auch Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 119; ebda., S. 120 mit der Präzisierung: „Da der Mißbrauch eines Rechts von vornherein nicht zu dessen Inhalt gehört – eine Erkenntnis, die wesentlich der Innentheorie zu verdanken ist [ . . . ]“; vergl. auch ders., ebda., S. 179: „Im Zivilrecht deutet die [ . . . ] ,Innentheorie‘ im Zusammenhang mit dem Institut des Rechtsmißbrauchs das Verhältnis der „Schranken“ zum Inhalt eines Rechts zutreffend. Im Gegensatz zur sog.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

Einzelfall, etwa wenn der Grundrechtsträger aus staatlicher Sicht „unbequem“ ist, als Grundrechtsmißbrauch doch wieder als verboten hingestellt werden. Der Grundrechtsmißbrauch hat außerhalb des Anwendungsgebiets von Art. 18 GG keine selbständige Bedeutung.217 5. Keine Übertragung der allgemeinen Handlungsfreiheit in die Spezialgrundrechte Unrichtig ist aber die Übertragung der allgemeinen Handlungsfreiheit auch in die Spezialgrundrechte. Das Mißverständnis, durch das das – recht verstandene, d. h. nicht im schmittschen Sinne unter der Hand naturrechtlich abgeleitete rechtsstaatliche Verteilungsprinzip – erst zum „Schmittschen Dogma“ wird, ist aber die Übertragung der Vorstellung des weiten Schutzbereiches, der Eigendefinitionskompetenz des Grundrechtsträgers217a bzw. der prinzipiellen Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlich-demokratischer Handlungsfreiheitseinschränkung von der allgemeinen Handlungsfreiheit in die besonderen Freiheitsgrundrechte, wie etwa die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese Ausweitung hat – gerade im Fall der religiösen Freiheitsrechte – das Bundesverfassungsgericht seit der „Aktion-Rumepelkammer-“218, mehr noch seit der „Gesundbeter“-Entscheidung 219 in geradezu exemplarischer Weise vorgenommen; nach seiner ständigen Rechtsprechung soll die Glaubensfreiheit nicht nur die Freiheit umfassen, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch das Recht des Einzelnen, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seinen inneren Glaubensüberzeugungen gemäß zu handeln.“220 Damit folgte es Vorgaben, die Carl Schmitt in seiner „Verfassungslehre“ explizit und gerade auch für die Religionsfreiheit gemacht hatte.221 Damit mutieren die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG normierten speziellen religiösen Freiheitsrechte zwangsläufig zu einer „allgemeinen religiösen Handlungsfreiheit“. Bildlich gesprochen, erinnert die Wirkung des auf den ersten Blick so einleuchtenden Schmittschen Dogmas an den Satz: Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, bald Außentheorie, nach welcher die durch das Institut des Rechtsmißbrauchs legitimierten Grenzen von außen an den Rechtsinhalt herantreten, ist es das Anliegen der Innentheorie, Inhalt und Schranken eines Rechts in einer Einheit zu sehen.“ Damit setzt Häberle einen etwas anderen Akzent als Gallwas, a. a. O., S. 173, der meint, durch Grundrechtsmißbrauch werde der Automatismus zwischen tatbestandsmäßigem Verhalten und Rechtsfolge unterbrochen. Allen Grundrechtsmißbrauchslehren – die heute kaum noch eine Rolle spielen dürften – scheint letztlich gemeinsam zu sein, daß sie zivilrechtliche Rechtsfiguren quasi „analog“ zur Grundrechtseinschränkung fruchtbar machen wollen, vergl. Gallwas a. a. O., S. 11 ff.; ähnlich auch Bettermann, Grenzen der Grundrechte (1968), S. 11 ff. 217 Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 205. 217a Vergl. aber auch unten, Teil B, II 6a). 218 BVerfGE 24, 236 (245 ff.). 219 BVerfGE 32, 98 (106). 220 Ebda. 221 Vergl. Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 163 f., 166.

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Helenen in jedem Weibe222. Der „Trank“ ist Schmitts Verfassungslehre; wer sie genossen hat, dem wird jedes Spezialgrundrecht zur allgemeinen Handlungsfreiheit. Aber warum braucht es dann so viele verschiedene Grundrechte? Dagegen ist festzuhalten, daß auch und gerade im Rechtsstaat (in dem also Gesetze herrschen und nicht Menschen223) die Spezialgrundrechte sich nicht etwa (unter Vermeidung „grundrechtsfreier Räume“, die es aber ja nach der Elfes-Konstruktion ohnehin nicht gibt) auf jedwedes erdenkliche menschliche Verhalten erstrecken, sondern begrenzte Freiheiten und punktuelle Gewährleistungen224, die nach Maßgabe ihres jeweiligen Gewährleistungsgehalts ausgeübt werden können, konstituieren. Die unter Schrankenvorbehalt gewährleisteten besonderen Grundrechte sind speziell auch Erlaubnisnormen. Schon diese Terminologie überrascht vor dem Hintergrund des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips, nach dem – jedenfalls in der Variante des Schmittschen Dogmas, das die rechtsstaatliche allgemeine Handlungsfreiheit in alle Spezialgrundrechte überträgt – schon die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr gewährleistet wäre, wenn davon die Rede ist, ein Grundrecht erlaube das eine und das andere nicht.225 Denn nach dieser Auffassung kann es nichts geben, was ein Grundrecht nicht erlaubt, sondern allenfalls etwas, dessen Verbot verfassungsmäßig zu rechtfertigen ist. In der tatsächlich bestehenden, also imperfekten und nicht abgeschlossenen Rechtsordnung kann der Satz, daß alles erlaubt ist, was nicht verboten ist, allerdings realistischerweise nur in dem Sinne verstanden werden, daß alles erlaubt sein soll, was nicht explizit oder auch stillschweigend verboten ist. Daher sind grundrechtliche Erlaubnisnormen auch im Rechtsstaat nicht überflüssig.226 Da nämlich Grundrechtsnormen Normen höchster Rangstufe sind, haben sie die Funktion, Gebots- oder Verbotsnormen niedrigerer Rangstufe Grenzen zu setzen, die also nichtig sind, wenn sie etwa einer verfassungsrechtlichen Erlaubnisnorm widersprechen. Nach dem engen Konzept der „Grundrechte (nur) als negative Kompetenznormen“ könnte nicht von einer grundrechtlichen Erlaubnis des Grundrechtsträgers (z. B. den Glauben zu bekennen, in der Religionsausübung nicht von Staats wegen gestört zu werden etc.) gesprochen werden, sondern genau genommen – wenn eine dem widerstreitende Rechtsnorm oder sonstige Maßnahme ergeht – allenfalls von einer KompetenzGoethe, Faust I, Hexenküche (Z. 2603 f.). Leisner, NJW 1997, 636 (638); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 12 I 1 (S. 95). 224 So auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 428; ähnlich Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte (1990), S. 43 ff.; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 51. 225 So etwa in der „Sprayer-von-Zürich“ (oder „Nägeli“-)Entscheidung, vergl. NJW 1984, 1293 (1294): die „Reichweite der Gewährleistung“ der Kunstfreiheit erstrecke sich von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme fremden Eigentums. 226 So aber Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 2. Aufl. 1997, S. 46: „Das Dürfen ist, wie erwähnt, Zweck und Schutzobjekt des Unterlassungsanspruches, aber keine eigenständige normative Kategorie. Bestandteil des subjektiven Grundrechts kann es folglich nicht sein.“ 222 223

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überschreitung einer Behörde.227 Dies aber ist nicht die Perspektive und Erwartung des Grundrechtsträgers, und sie soll es nach dem Grundgesetz auch nicht sein (Art. 1 Abs. 3 GG). 6. Der Angriff auf die Demokratie Carl Schmitts eigentliche Motivation zu seinen Ausführungen zum quasi-vorstaatlichen Charakter der Grundrechte (wobei er nicht sagt, daß die Grundrechte vorstaatlich seien, sondern, daß sie im bürgerlichen Rechtsstaat „als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt“228 würden)229 ist dabei übrigens kaum in einer besonders unüberwindlichen Sicherung der Grundrechte vor staatlichem Zugriff zu suchen. An anderen Stellen betrachtet er nämlich den bürgerlichen Rechtsstaat durchaus abfällig.230 Durch seine Überbetonung des gegen den Staat gerichteten, von jeder normativen Zumutung befreiten Abwehrrechts231 bringt Schmitt – subtiler als etwa in seiner Parlamentarismusschrift232 – eine von ihm in der politischen Theorie bekämpfte Einrichtung in eine idealtypisierende Fassung, die sie gleichzeitig fragwürdig erscheinen lassen muß.233 Durch „ideale“ Anforderungen, die in Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 206 ff. Vergl. Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 126. 229 Diese scheinbare Einschränkung macht seine Vorstellung allerdings nicht richtiger. Denn die Grundrechte wie die Menschenwürde liegen durchaus – rechtstheoretisch betrachtet – dem Staat voraus; weder Menschenwürde noch Weltanschauung noch Meinung werden je vom Staat verliehen. Nur: rechtsdogmatisch kann man nur das positive Recht auslegen, ohne sich dabei auf metaphysische Hilfsargumente zu stützen. Es verhält sich also allenfalls gerade umgekehrt: Die Grundrechte „sind“ (als Menschenrechte) vorstaatlich, werden aber im demokratischen Verfassungsstaat als positives Recht gedacht. 230 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 129: „Der allgemeinen Wortbedeutung nach könnte man jeden Staat als Rechtsstaat bezeichnen, der das geltende objektive Recht und die bestehenden subjektiven Rechte unbedingt respektiert. Das würde bedeuten, daß der geltende status quo legitimiert und verewigt wäre und die ,wohlerworbenen Rechte‘, sei es der einzelnen oder irgendwelcher Verbände und Korporationen, für wichtiger gehalten werden als die politische Existenz und Sicherheit des Staates. In diesem Sinne war das alte Deutsche Reich, das Römische Reich deutscher Nation, in den Zeiten seiner Auflösung ein idealer Rechtsstaat; seine Rechtsstaatlichkeit war nichts anderes als Ausdruck und Mittel seines politischen Zerfalls. Die wohlerworbenen Rechte irgendeines Standes oder Vasallen konnten jede politische Aktion hindern. Mit der Beseitigung der politischen Existenz des Reiches waren dann allerdings auch alle diese wohlerworbenen Rechte gleichfalls beseitigt.“ – Ders., ebda., S. 158: „Der antike Staat kannte keine Freiheitsrechte, weil eine private Sphäre mit einem selbständigen Recht gegenüber der politischen Gemeinschaft undenkbar schien und der Gedanke einer Freiheit des Einzelnen, die von der politischen Freiheit seines Volkes und Staates unabhängig wäre, als absurd, unmoralisch und eines freien Mannes unwürdig betrachtet wurde.“ 231 Nur derartige Rechte seien „eigentliche“, „wesentliche“ oder „echte“ Grundrechte, vergl. Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 164 f. 232 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 3. Aufl. 1961, S. 27 ff. 233 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 33. 227 228

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praxi nicht zu erfüllen sein werden, diskreditiert er den Rechtsstaat in Wahrheit als eine Art rousseausche „linke Utopie“ bzw. als einen Demokratie nur versprechenden Justizstaat. Dabei bediente er sich der Technik des Legens von „Begriffsminen“234, denen die Bewunderung Ernst Jüngers235 galt.236 Dies hat auch Richard Thoma scharfsinnig erkannt, als er urteilte, Schmitts Lehre laufe „nicht auf eine besondere Heiligung, sondern eine Entwertung der geschriebenen Verfassungen hinaus, denen eine Härte angedichtet wird, an der sie unter Umständen zerspringen müssen“.237 Schon vor diesem Hintergrund238 ist die große Verbreitung und Wertschätzung des „Schmittschen Dogmas“239, also der Übertragung des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips von der allgemeinen Handlungsfreiheit in die BestimVergl. Mehring, Carl Schmitt zur Einführung (1992), S. 73 f. Vergl. Ernst Jünger, in: Medem (Hrg.), Ernst Jünger / Carl Schmitt, S. 7: „Ich schätze das Wort zu sehr, um nicht die vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und Bösartigkeit Ihres Hiebes zu würdigen, der durch alle Paraden geht. Der Rang des Geistes wird heute durch sein Verhältnis zur Rüstung bestimmt. Ihnen ist eine besondere kriegstechnische Erfindung gelungen: eine Mine, die lautlos explodiert. Man sieht wie durch Zauberei die Trümmer zusammensinken; und die Zerstörung ist bereits geschehen, bevor sie ruchbar wird.“ (Zitiert nach Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte [2002], S. 34 FN 101; gleiches Zitat auch bei Mehring, Carl Schmitt zur Einführung (1992), S. 73 f. mit Anm. 109, dort zitiert nach Saage, Rückkehr zum starken Staat [1983], S. 8 f.). 236 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 34. 237 Vergl. Thoma, in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1 (1929), S. 1 (45). 238 Jahrzehnte später, nämlich unter dem 9. Oktober 1949, notiert Carl Schmitt im Glossarium: „In Christ und Welt ist eine schöne Glosse von mir abgedruckt, mit Einschaltung einer Reklame für Niveacreme. Das ist gut so. In der Zarenzeit hüllten russische Nihilisten ihre Bomben in Blumenbuketts ein. Warum soll ich nicht meine analogen Anliegen mit Niveacreme umrahmen? Oder umgekehrt als Umrahmung für Niveacreme auftreten, um die Verfolger nicht zu reizen?“. Vergl. ders., Glossarium (1991), S. 275. 239 Lobend sogar Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 2. Aufl. 1992, S. IV: „Vor allem aber prägt Schmitts Formulierung des ,rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips‘ das Verständnis der klassischen Freiheitsgarantien: Danach ist die Freiheitssphäre des einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Eingriffsmöglichkeiten des Staates prinzipiell begrenzt, meßbar, kontrollierbar und folglich begründungsbedürftig sind. Schmitt gelingt es damit, das philosophische Freiheitsprinzip, mit dem Kant die revolutionäre französische Rechteerklärung rechtsstaatlich überholt hatte, in eine griffige staatsrechtliche Formel zu fassen.“ Dabei gerät dann aber aus dem Blick, daß das Einschleusen naturrechtlichen Anspruchsdenkens in die Auslegung positiver Grundrechtsnormen diese nicht nur von bestimmten Gewährleistungen zu Ausgangspunkten eines Sprachspiels oder einer politisch-philosophischen Argumentation degradiert und denaturiert, sondern auch die Gewährleistungsordnung selber, die einerseits notwendige Voraussetzung positiver Grundrechtsgewährleistung ist, andererseits aber auch denknotwendig stets unter dem Vorbehalt des Möglichen operiert, strukturell notwendig überfordert und dadurch zugleich delegitimiert. Auch führt von der Heiligung staatlicher Grundrechte durch die Behauptung eines vorstaatlichen Wesenskerns kein Weg mehr zu einer so profanen Verfahrensregel wie der von der Rechtsgewinnung durch Demokratie. Gerade Kant stand dieses Problem bereits vor Augen; jedoch neigt die Kant-Forschung zu Unrecht dazu, die „positivistischen“ Aspekte seines Werks beiseite zu schieben. Weiterführend zum Ganzen Vosgerau, Rechtstheorie 30 (1999), 227 ff. 234 235

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mung des Tatbestandes der Spezialgrundrechte, auch noch im heutigen Staatsrecht240 abzulehnen.241 Es ist dabei übrigens bezeichnend für Carl Schmitts242 Arbeitsweise243, daß er, sobald er aus den Grundrechten der Reichsverfassung sein „rechtsstaatliches Verteilungsprinzip“ abgeleitet hat, diesen Vorgang erstens umkehrt und zweitens seine verkehrtherum dargestellte Schlußfolgerung, quasi unter Verzicht auf jeden urheberschaftlichen Anspruch, als allgemeine und bekannnte Selbstverständlichkeit hinstellt: „Das Verteilungsprinzip [ . . . ] findet seinen Ausdruck in einer Reihe von sog. Grund- oder Freiheitsrechten [ . . . ]244.“ 245

7. Moderne Umdeutung: Grundrechte als Sprachspiele mit naturrechtlich begründeten Argumentationslasten In neuerer Zeit wird das Schmittsche Dogma modernisierend und dogmatisierend umgedeutet.246 Seine erste Hälfte (nur der Grundrechtsträger kann definieren, 240 Vergl. statt vieler Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 120 m.w.N.; Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1531; 1537) (mittlerweile aber anders ders., Der Staat 42 [2003], 165 [174 ff.]); Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation (1987), S. 54 ff., S. 175 ff.; Sachs, in: Stern, DStRdBRD III / 1(1988), § 66 II 2 (S. 628 ff. m. w. N.); ders., in: ders., GG, 3. Aufl. 2003, Rd.Nr. 43 ff. vor Art. 1 GG; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (168 mit FN 16 m. w. N.). 241 In diesem Sinne Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte (1980), S. 59 und passim; Rüfner, FS BVerfG II (1976), S. 453 (456); Zippelius, in: Dolzer / Graßhoff / Vogel, BK (Loseblatt, Stand: 12 / 2004), Art. 1 Abs. 1 u. 2., Rd.Nr. 105 (Stand: Drittbearbeitung 12 / 1989); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 308. 242 Nähere Analyse bei Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 2. Aufl. 1992, S. X ff., 124 ff.; vergl. auch Dreier, VVDStRL 60 (2001), 9 (13 FN 19 m. w. N.). 243 Vergl. Ehmke brieflich an Böckenförde am 23. Juli 1963, zitiert nach Frieder Günther, Denken vom Staat her (2004), S. 240: „Bestimmte literarische Ansichten [ . . . ] für das Wesen der Sache selbst auszugeben, um mit diesem Instrument dann in der Gegend herumzufuhrwerken, ist einer der Haupttricks von Carl Schmitt.“ Ähnlich Mehring, Carl Schmitt zur Einführung (1992), S. 72 ff.; vergl. auch Noack, Carl Schmitt: Eine Biographie (1993), S. 311: „Seine Faszination hat einen Namen: Es ist die Ästhetik der Argumentation, die ihn auszeichnet wie keinen anderen. Begriffe und Definitionen sind im allgemeinen abstrakt. Carl Schmitts Begriffe aber sind nicht abstakt – es sind in Begriffe gepackte Mythen.“ 244 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 126 f. 245 Ähnlich auch ders., ebda., S. 128: „Die Weimarer Verfassung zählt Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen [ . . . ] auf. Dadurch ist das grundlegende Verteilungsprinzip des bürgerlichen Rechtsstaats anerkannt“ – aber warum, es kann sich doch um punktuelle Gewährleistungen (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 [1999], Rd.Nr. 428) handeln? 246 Vergl. Schlink, EuGRZ 1984, 457 (467): „Dabei ist das Eingriffs- und Schrankendenken ein rechtstechnisch-konstruktives Denken. Es steht [ . . . ] unter der Frage, nicht was Freiheit sozusagen an sich ist, sondern wie sie rechtstechnisch zu konstruieren ist. [ . . . ] Vorstaatlich ist an der Freiheit, daß ihr Gebrauch dem Staat gegenüber nicht gerechtfertigt werden muß.“ Aber warum „ist“ die Freiheit so und nicht anders „zu konstruieren“? Hier wird der

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worin seine Freiheit besteht) soll nunmehr eine prima-facie-Vermutung im Sinne der weiten Tatbestandstheorie sein, die zweite Hälfte (Freiheit prinzipiell unbeschränkt und vorstaatlich) hingegen eine Argumentationslastregel. Wenn aber der „richtige rechtstechnische Kern des Verteilungsprinzips gewahrt“ werden soll, indem es zu einer Argumentationslastregel247 umgebildet wird, die „den naturalistischen Prämissen des Verteilungsprinzips bei Schmitt nicht mehr verpflichtet ist“248, so bleibt dieser Versuch letztlich zirkulär, da er nicht erklärt, warum die Argumentationslast stets zum Nachteil des öffentlichen Interesses verteilt sein sollte; die Antwort hierauf ist wiederum die vorausgesetzte naturrechtliche, aber dem Grundgesetz nicht zu entnehmende Freiheitsvorstellung.249 Da die Frage nach der Einschlägigkeit einer Rechtsnorm keine „Argumentationslasten“ kennt (diese treten ja nur auf bei der Frage, ob Gründe vorliegen, mit denen ein einschlägiges Grundrecht gleichwohl eingeschränkt werden kann), kann das „Argumentationslastargument“ nur Erkenntnisse zutage fördern, die es als Prämissen voraussetzt: nämlich unbeschränkte Freiheit in allumfassenden Schutzbereichen. Freilich handelt es sich bei dieser Kernannahme des gegenwärtigen „primär liberalen“ Grundrechtsdenkens nur um eine Prima-facie-Vermutung oder hypothetische Basis, von der aus die Prozedur der Abwägung einsetzt als ein „Spiel von Grund und Gegengrund“. Dadurch werden aber die Grundrechtstatbestände tendenziell ihres normativen Charakters als materiellrechtliche Vorgaben entkleidet und zu philosophischrhetorischen Sprachspielen denaturiert.250 So kann das Schmittsche Dogma seinen Grundfehler, nämlich den kategorienverwechselnden Kurzschluß von der Theorie der Menschenrechte auf die textuale Dogmatik der Grundrechte, durch modernere Umformulierungen nicht abschütteln. Die Vorstellung von rechtsdogmatisch dem Staat vorausliegenden (oder jedenfalls so zu denkenden, zu konstruierenden, zu „naturrechtliche Ausgangspunkt“ von Carl Schmitts Herleitung des Verteilungsprinzips, die explizit in Bezug genommen wird (vergl. Schlink a. a. O., FN 61), nicht mehr thematisiert, sondern einfach vorausgesetzt oder gar „dogmatisch vorgeschrieben“. Hierin liegt kein Rationalitätsgewinn. Außerdem: daß die Handlungsfreiheit nicht gerechtfertigt werden muß, ist nicht das vorstaatliche an der Freiheit, sondern das Rechtsstaatliche. – Zunächst ohne expliziten Schmitt-Bezug Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 75: Grundrechte haben den Schutz natürlicher, vorstaatlicher Freiheit zum Gegenstand; anders aber ebda., S. 43 mit FN 102: natürliche Freiheit wird als dem Staat vorausliegend „gedacht“; schwer nachvollziehbar dann aber ebda., S. 67: „Carl Schmitts klassische Formulierung, es sei ,die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen prinzipiell begrenzt ist‘, zielt [ . . . ] nicht auf das Verfahren, sondern auf die Resultate der Zuordnung von Freiheit und Freiheitsbeschränkung.“ 247 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium (1993), S. 383: „methodische Handreichung“. 248 So Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 123, über den Ansatz von Schlink, EuGRZ 1984, 457 (467). 249 A.A. etwas widersprüchlich Ipsen, Staatsrecht II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 64: „Dies ist keine naturrechtliche Position, die die Geltung vorstaatlicher Rechte postulierte. Gemeint ist vielmehr, daß die Grundrechtsinhalte nicht erst durch die Verfassung geschaffen werden, sondern ihr vorgegeben sind.“ 250 Vergl. Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 173.

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behandelnden) Grundrechten kann schon nicht erklären, wie so zu denkende Grundrechte dann gemäß Art. 18 GG (positiv-rechtlich) verwirkt werden können.251 Auch hat es etwas Unredliches, auf der Tatbestandsebene einen Grundrechtsschutz zu postulieren, der auf der Schrankenebene qua Abwägung jedenfalls dementiert werden muß.252

VII. Exkurs253: Prinzipienlehre als Alternative? Das Verständnis von Grundrechtsnormen als „prima-facie-Grundrechten“, d. h. Prinzipien, die sich durch ein „Gewicht“, nicht aber durch einen benennbaren Regelungsgehalt auszeichnen, wird besonders deutlich von der Prinzipientheorie vertreten.254 Mit dieser Auffassung steht in Zusammenhang die Forderung nach der Annahme weiter Schutzbereiche aller Grundrechte255 sowie der möglichst weitgehenden Berücksichtigung des Selbstverständnisses des jeweiligen Grundrechtsträgers256 zur Beschreibung dieser Schutzbereiche. Diese Grundrechtsinflation sei deswegen unbedenklich, weil sie nur die erste Hälfte eines zweistufigen Modells prägen soll; es sei nämlich zwischen prima-facie-Grundrecht und definitivem Grundrecht zu unterscheiden.257 Die sich hierin bereits andeutende „Abwägungsgeneigtheit“ der Grundrechtsdogmatik ist aus Sicht der Prinzipientheorie, die ähnlich wie die inzwischen weitgehend überwundene Lehre vom Grundrechtsmißbrauch in dem Versuch der Übertragung zivilrechtlicher Vorstellungen und RechtsForsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung (1961), S. 15 FN 4. Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 174; ähnlich schon ders., Wer definiert die Freiheitsrechte (1980), S. 31; kritisch auch Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? (Bryde-Kolloquium, 2004), S. 53 (54); ähnlich ders., Der Staat 43 (2004), 203 (229, 231 f.). 253 Die Prinzipienlehre geht kaum auf den fortwirkenden Einfluß der schmittschen Verfassungslehre zurück, sondern bildet eher eine modernisierte Version der Smendschen Wertordnungslehre (vergl. Alexy, Theorie der Grundrechte [1985] S. 125 ff., 138 ff.) mit der Annahme eines ungeschriebenen allgemeinen Gesetzesvorbehalts im Sinne der materialen Allgemeinheitslehre (vergl. nur Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit [2006], S. 540 ff.; vergl. dazu noch unten unter VIII 2). 254 Grundlegend Alexy, Theorie der Grundrechte (1985) S. 78 ff., im Anschluß an Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen (1984), S. 54 ff; 145 ff.; die Prinzipienlehre geht zurück auf Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (1956), 4. Aufl. 1990, S. 69 ff. (zum Ganzen auch Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 79); Borowski, Grundrechte als Prinzipien (1998), S. 61 ff., S. 123 ff.; jetzt ders., Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 195 ff.; ausführliche Kritik der Prinzpienlehre etwa bei Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes (1999), S. 95 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 206 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 75 ff.; kritisch auch Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 218 ff. 255 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 236 f.; so schon Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 280 ff. 256 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 251 ff., 275 ff., 284 f. 257 Vergl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 231. 251 252

VII. Exkurs: Prinzipienlehre als Alternative?

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figuren in das Verfassungsrecht wurzelt,258 auf einen einfachen normtheoretischen Grund zurückzuführen, nämlich auf die Tatsache, daß eine jede Norm entweder eine Regel oder ein Prinzip im Sinne eines Optimierungsgebotes259 sei. Unter Regeln wird subsumiert, zwischen Prinzipien hingegen wird abgewogen; die Kollision von Normen führt dazu, daß eine Norm zurücktreten bzw. für den Fall der Anwendung der kollidierenden Norm eine Ausnahme enthalten muß; die Kollision von Prinzipien führt zu Abwägung zwischen ihnen nach den Gegebenheiten des Einzelfalles. Kollidiert hingegen eine Regel mit einem Prinzip, so ist abzuwägen zwischen diesem Prinzip sowie denjenigen anderen Prinzipien, die ihrerseits die Regel begründen.260 Als normtheoretische Strukturtheorie vermag die Prinzipienlehre auch nach ihrer Selbsteinschätzung also dem Rechtsanwender keinen inhaltlichen Maßstab zur Beurteilung z. B. der Richtigkeit einer konkreten Fallösung an die Hand zu geben261; zu diesem wohl vordringlichen Ziel vermag sie allenfalls in Kombination mit einer diskurstheoretischen Theorie der juristischen Argumentation262 näherzukommen, wobei selbst dann nur die (prinzipielle) Richtigkeit eines Entscheidungsverfahrens in Rede stünde und nicht primär die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung selbst, nach der dogmatisch eigentlich zu fragen wäre.263, 264 258 Vergl. nur Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 195 f. m. w. N.; kritisch Leisner, Der Abwägungsstaat (1997), S. 22, 96; ders., NJW 1997, 636. 259 Kritisch Würtenberger, VVDStRL 58 (1999), 139 (158 f., 173); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 5 III 4 (S. 44). – Die Vorstellung von Grundrechten als Optimierungsgeboten, auf die Regeln zu stützen sind, läuft letztlich auf eine Ausschaltung jeder politischen Gestaltungsfähigkeit der Parlamente hinaus, da, denkt man die Vorstellung zu Ende, nicht der Erlaß irgendeines, sondern nur des grundrechtsoptimalen Gesetzes erlaubt wäre; um dieses zu erarbeiten, wäre ein Parlament aber schon nicht geeignet, hierfür wäre eher ein Konvent von Rechtsgelehrten einzuberufen. Oder, anders gewendet: kein Gesetz könnte mehr geändert werden, ohne daß vorher auch die Grundrechtsnormen, die es optimiert, zuvor entsprechend geändert worden sind. A.A. jetzt Borowoski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 210 ff., 214; kritisch bereits Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 208 ff., 211 ff., 222 ff. 260 Vergl. zum Ganzen nur Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 195 ff. m. w. N. 261 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 206. 262 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl. 1996; vergl. auch Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 206 FN 137 m. w. N. 263 Vergl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 81: „Die Prinzipientheorie vermag alle Grundrechtsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu beschreiben, aber sie gibt der grundrechtsdogmatischen Argumentation nur sehr wenige Strukturen vor, die es erlauben würden, auch bestimmte Ergebnisse auszuschließen. Sie kollabiert letztlich in einer Abwägung aller relevanten Aspekte des Einzelfalls, in der sich alle sonstigen Strukturen der Grundrechte auflösen. [ . . . ] Sie besagt letztlich nicht viel mehr, als daß im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände eine rational begründete Entscheidung getroffen werden muß. Weniger Strukturen kann ein dogmatischer Vorschlag kaum bieten. [ . . . ] Aber die Interpretation eines Normgefüges, die darauf hinausläuft, daß der Rechtsanwender unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles eine rational begründete Entscheidung zu treffen hat, ist der Nullpunkt juristischer Dogmatik.“

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

Somit errichtet die Prinzipientheorie sozusagen eine „normtheoretische Kathedrale über dem zweiten Schritt“ (nämlich der Frage nach der formalen Behandlung von Grundrechtskollisionen), ohne aber zu wissen, wie man den ersten Schritt (Ermittlung des Gewährleistungsgehalts) tut; weil sie den ersten Schritt nicht tun kann, weiß sie im übrigen auch nicht, ob der sie faszinierende zweite Schritt überhaupt getan werden muß, denn dies ist ja nur dann der Fall, wenn 1. die betreffenden Grundrechte überhaupt kollidieren können und es 2. im Einzelfall auch wirklich tun.265 – Dabei steht einerseits außer Zweifel, daß die Prinzipienlehre die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts plausibel zu fassen und zu beschreiben vermag; dies liegt aber v.a. auch daran, daß sich ein jeder Lebenssachverhalt als Prinzipienkollision deuten läßt und jede Lebenspraxis, ja selbst Naturvorgänge, als ein Ausgleich widerstreitender Prinzipien. So wäre eine prinzipientheoretische Psychologie leicht vorstellbar oder auch eine prinzipientheoretische Physik, die etwa die Fallgesetze aus dem Ausgleich zwischen dem Prinzip Erdanziehung und dem Prinzip Luftwiderstand rekonstruiert. Die Frage wäre aber, ob mit einer solchen, zwar jedenfalls möglichen Sichtweise auch durchgreifend neue Erkenntnisse verbunden wären.266 Anderseits verdient schon die Prämisse, auf die die gesamte Prinzipienlehre gegründet ist – nämlich daß jede Norm entweder Regel oder Prinzip ist267 – keine Zustimmung. Es gibt zwischen Regeln und Prinzipien keinen kategorialen Unterschied; Prinzipien weisen dieselbe formale Struktur auf und unterscheiden sich von Regeln nur anhand ihrer kontingenten Inhalte.268 Anders gewendet, der Unterschied ist quantitativer, nicht qualitativer Natur.269 Der dogmatischen Inhaltsarmut oder, ins Positive gewendet, Offenheit der Prinzipienlehre korrespondiert ihre unbeschränkte Integrationsfähigkeit und strukturelle Kritiklosigkeit; dem prinzipientheoretischen Denken ist nichs fremd.270 Diese 264 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 206: „In ihrer analytischen Dimension ist sie [die Prinzipientheorie] eine reine Beobachter-Theorie, oder, um es mit Niklas Luhmann zu formulieren, ein „System rekursiven Beobachtens von Beobachtungen“, das dem Teilnehmer am und im Rechtsgewinnungsprozeß keine Handlungsanleitung zu geben imstande ist.“ 265 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 214: „Ihr [der Prinzipientheorie] Wert liegt darin, daß sie anzugeben weiß, was zu begründen ist, wenn ein Regelkonflikt oder eine Prinzipienkollision vorliegt. Aber sie ist [ . . . ] nicht in der Lage anzugeben, wann ein derartiger Normkonflikt vorliegt“ (Hervorhebung im Original). 266 Vergl. auch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 80: „Bei einer Norm, die die Optimierung des Reifendrucks eines Fahrzeugs vorsieht, ist der Gegenstand der Optimierung der Reifendruck. Es ist nicht ersichtlich, wie die Idealisierung des Reifendrucks auf eine Ebene idealen Sollens bei der Anwendung der Vorschrift von Bedeutung sein soll.“ 267 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 200: „Eine Norm ist entweder eine Regel oder ein Prinzip, niemals aber beides zugleich oder keines von beiden.“ So bereits ders., Grundrechte als Prinzipien (1998), S. 87, und Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 77. 268 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 78. 269 Lerche, Übermaß im Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999, S. XXII; ähnlich bereits Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1994, S. 262 u.: „The distinction is a matter of degree“.

VII. Exkurs: Prinzipienlehre als Alternative?

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Offenheit kann allerdings wissenschaftstheoretisch kaum als Vorteil gelten, da sie zugleich auf eine Immunisierung gegen Kritik im Sinne der Nicht-Falsifizierbarkeit hinausläuft; hält man der Prinzipienlehre etwa entgegen, daß die Vorstellung von den Grundrechten als Optimierungsgeboten das Demokratieprinzip ausschaltet, so kann sie – da der Prinzipiencharakter ja nicht auf Grundrechte beschränkt werden muß – auch das Demokratiegebot zum Prinzip erklären und in die grundrechtliche Abwägung einstellen.271 Die universale Integrationskraft der Prinzipienlehre läßt sich an der hier für die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte vertretenen Ansicht demonstrieren: auf den ersten Blick sollte die hier vertretene Lehre, nach der die absoluten Grundrechte in die Rechtsordnung „eingeordnet“ sind und daher auch nicht gegen Gesetze oder Grundrechte anderer abgewogen werden müssen, den größten Gegensatz zur Prinzipienlehre darstellen. Auch die Prinzipienlehre betont jedoch, daß die Subsumtion auch im Grundrechtsbereich („Normen von partiellem Festsetzungsgehalt“) keineswegs hintangestellt werden soll, sondern sogar Priorität genießt: „Weist eine Norm einen partiellen Festsetzungsgehalt auf, sind Subsumtion und Abwägung zu kombinieren. Dies bedeutet, daß zunächst unter die Festsetzungen zu subsumieren ist, dies erfolgt durch die klassischen canones der Auslegung. Insoweit gibt es [ . . . ] zunächst nichts abzuwägen. Erst wenn die Ermittlung der Festsetzungen den Fall nicht endgültig zu entscheiden vermag, müssen in einer Abwägung durch den Rechtsanwender Festsetzungen getroffen werden.“272 Nach der hier vertretenen Lehre zeigen die herkömmlichen Auslegungsarten unter besonderer Betonung der systematischen Auslegung auf, daß die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte wegen der nötigen Zusammenschau mit dem demokratischen und dem Gleichheitsprinzip einerseits und wegen ihrer Schrankenlosigkeit andererseits als im forum externum in die Rechtsordnung eingeordnete Grundrechte anzusehen sind. Abwägungen sind daher im Zusammenhang mit diesen Grundrechten selbst nicht erforderlich. Wenn man konzediert, daß hiermit der Gewährleistungsgehalt dieser Grundrechte zutreffend und abschließend erfaßt ist, dann ist selbst diese Lehre an die Prinzipienlehre anschlußfähig, da auch die Prinzipienlehre unter diesen Umständen keine weiteren Abwägungen verlangen würde.

Aus dem Blickwinkel des hier verfolgten Erkenntnisinteresses ist die Prinzipienlehre vor allem deswegen zurückzuweisen, weil sie kein dogmatisches System zur Bewertung der Richtigkeit von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder Ansichten der Lehre bietet, auf dessen Grundlage Verbesserungsvorschläge gemacht werden könnten; sie ist vom Ansatz her bundesverfassungsgerichtspositivistisch.273, 274, 275 Trotz dieses Ansatzes vermag sie gleichwohl das BundesverfasPoscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 76. Vergl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 76; beispielhaft jetzt Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 210 ff. 272 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 202. 273 Ganz deutlich bei Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 207: „Unabhängig von der Rationalität der Begründung der Abwägungsentscheidung im Einzelfall kann aus einer Vielzahl von Abwägungsentscheidungen ein kohärentes System gebildet werden. Je mehr Entscheidungen getroffen wurden, desto engmaschiger wird das Netz der Wertungen, aus dem ein System aus abstrakten Vorrangrelationen abstrahiert werden kann. 270 271

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

sungsgericht nicht durchgreifend zu rechtfertigen, da sie schon nach ihrem eigenen Anspruch als Strukturtheorie dessen Entscheidungen nur für vertretbar und strukturell möglich erklären kann, ohne aber aufzuweisen, warum sie Gegenvorschlägen aus der Lehre überlegen und vorzuziehen sein sollten.276 Dies erinnert an Brechts Satz: es geht auch anders, aber so geht es auch. Im Ergebnis bleibt zu sagen: die Prinzipientheorie der Grundrechte hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur auf gegen Kritik immunisierende Weise zu systematisieren versucht; es kömmt277 aber darauf an, sie zu verbessern.

VIII. Der Verfassungsvorbehalt Bisher wurde zuerst in einer rechtstheoretischen Vorüberlegung eine Grundrechtstheorie entwickelt, die sich, statt etwa ein bestimmtes rechtsphilosophisches oder auch rechtspolitisches, also liberales oder sozialstaatliches Vorverständnis der Grundrechte für maßgeblich zu erklären, stärker am schlichten Textbefund des Grundgesetzes orientiert. Aus diesem Textbefund heraus wurde die Unterscheidung zwischen absoluten, also schrankenvorbehaltlosen Grundrechten und relativen, also unter (ggf. qualifiziertem) Schrankenvorbehalt gestellten bzw. normgeprägten Grundrechten für das notwendige Zusammenspiel von Demokratieprinzip und Grundrechtsschutz fruchtbar gemacht. In einer grundrechtsdogmatischen Vorüberlegung wurde sodann der Unterschied zwischen philosophischen Menschenrechten und positiven staatlichen Grundrechten herausgestellt, wobei gegen das herrschende „primär liberale“ Paradigma der Vorwurf der Kategorienverwechselung erhoben wurde, was ebenfalls auf die Kritik eines dem Grundgesetz nicht zu entnehmenden Vorverständnisses hinausläuft. Diese beiden Kritiken weisen mithin nicht zufällig gewisse strukturelle Parallelen auf; gemeinsam ist ihnen das AnlieDiese Einschätzung trifft in hohem Maße auf die Grundrechte zu. Die Judikatur [des BVerfG] der letzten etwa 50 Jahre hat [ . . . ] zahlreiche Festlegungen getroffen, anhand derer für sehr viele grundrechtliche Fälle beurteilt werden kann, wie sie zu entscheiden sind.“ (Hervorhebung von mir). – Es fällt außerdem auf, daß eine Mitwirkung etwa der Hochschullehre bei der Ergründung etwa des Gewährleistungsgehalts von Grundrechten nicht erwogen wird; der Hochschullehre bleibt offenbar nurmehr die Aufgabe, Entscheidungen des BVerfG – freilich unabhängig von ihrer Rationalität – zu katalogisieren. 274 So auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 217 m. w. N. 275 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 76: „Entsprechend findet sich in den vielen tausend Seiten, die Prinzipientheoretiker über die Verfassungsrechtsprechung geschrieben haben, kaum eine im Ergebnis kritische Auseinandersetzung mit einer Entscheidung.“ – Bei Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 450 ff. findet sich jetzt methodische Kritik an Entscheidungen auch des BVerfG; es handelt sich dabei aber idR. um Entscheidungen – wie etwa BVerfGE 105, 252 ff. – Diethylenglykol oder E 105, 279 ff. – Osho, die aus methodischen Gründen ohnehin auf den einhelligen Widerspruch der Lehre gestoßen sind. 276 Vergl. auch Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 7, 218 ff. 277 Sic, vergl. nur Karl Marx, Werke, Bd. 2 (1971), S. 4.

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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gen, streng vom Verfassungstext auszugehen und diesen als positives Recht unbedingt ernstzunehmen, statt in ihm etwa nur das unvollkommene, teleologischer Lückenschließung bedürftige Abbild einer (etwa liberalen) Rechts- und Gesellschaftsphilosophie zu erblicken. Zur Entwicklung dieser Doppelkritik wurden die Theorien des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur über die Auslegung und v.a. die Einschränkbarkeit der (hier interessierenden) schrankenvorbehaltlosen („absoluten“) Grundrechte im allgemeinen und der Glaubens- und Gewissensfreiheit im besonderen zunächst bewußt beiseitegelassen, um einen möglichst unbefangenen Blick auf das Grundgesetz zu ermöglichen; denn aus diesem sollte das „adequate Vorverständnis“ gewonnen werden, nicht aber aus den Theorien Dritter über das Grundgesetz. Die rechtstheoretische Vorüberlegung sollte dabei v.a. den besonderen Charakter der absoluten Grundrechte als in die Rechtsordnung eingeordneten, nicht konstitutionalisierenden Grundrechten aufweisen. Die dogmatische Vorüberlegung betrifft grundsätzlich alle Arten von Grundrechten; es zeigt sich jedoch, daß das „primär liberale“ Paradigma im Zeichen des Schmittschen Dogmas gerade bei den schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten und v.a. bei der Glaubens- und Gewissensfreiheit problematisch wird.

Nachdem die Vorüberlegungen abgeschlossen sind, ist nun zu untersuchen, wie die schrankenvorbehaltlosen Grundrechte dogmatisch gehandhabt werden. Diese Frage nach deren Handhabung ist identisch mit der Frage nach dem Verfassungs(oder: Grundrechts-) vorbehalt. Allgemeine Einigkeit besteht nämlich seit je her darüber, daß auch schrankenvorbehaltlose Grundrechte im Ergebnis jedenfalls nicht schrankenlos sind; um das scheinbare Paradoxon zu vermeiden, wird auch häufig etwa formuliert, daß sie zwar schrankenlos, aber nicht „grenzenlos“ seien. Da der allgemeine Diskussionsstand um die Einschränkbarkeit der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte weithin als bekannt vorausgesetzt werden kann, soll er hier nur knapp in Erinnerung gerufen werden, um als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit ihm im Lichte der soeben vorgestellten Vorüberlegungen zu dienen.

1. Bundesverfassungsgericht und herrschende Meinung Die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte wirken – solange eben ihr Charakter als in die Rechtsordnung eingeordnete Grundrechte im Sinne eines Verfolgungsschutzes, nicht aber besonderer Handlungsbevollmächtigung nicht erkannt ist – wie Fremdkörper in dieser Rechtsordnung.278 Gleichzeitig scheint ein unabweisbares praktisches Interesse an der Möglichkeit staatlicher Konfliktbewältigung für eine Einschränkungs- oder Begrenzungsmöglichkeit zu sprechen.279 Vergl. nur Bamberger, Der Staat 39 (2000), 355. Vergl. nur Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (167); Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 21. Aufl. 2005, Rd.Nr. 206, 259, 318 („wildwüchsiger Freiheitsgebrauch“). 278 279

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts280, die in der Literatur schließlich weitgehend Zustimmung gefunden hat281, finden diese absoluten Grundrechte ihre Grenzen nur in der Verfassung selbst.282 Dem liegt der Gedanke der Einheit der Verfassung283 zugrunde, nach dem schrankenvorbehaltlose Grundrechte ihre verfassungskonformen Grenzen in „kollidierendem Verfassungrecht“ finden sollen.284 Dies faßt die herrschende Meinung dahingehend zusammen, daß schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte ihre Schranken in den Grundrechten Dritter und anderen Rechtswerten von Verfassungsrang finden.285 Diese Anschauungsweise zieht eine Reihe von Folgeproblemen nach sich, deren Lösung oder Lösbarkeit seit geraumer Zeit umstritten ist.286

280 Vergl. BVerfGE 28, 243 (261) – Kriegsdienstverweigerung; E 30, 173 (193) – Mephisto; E 32, 98 (108) – Unterlassene Hilfeleistung; E 33, 52 (71) – Der lachende Mensch; E 35, 202 (244) – Lebach; E 67, 213 (228) – Anachronistischer Zug; E 93, 1 (21) – Kruzifix; E 108, 282 (297) – Kopftuch; etwas anders jedoch BVerfGE 48, 127 (163); E 69, 1 (23): „Auch bei Regelungen nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG darf der Gesetzgeber dieses Grundrecht nicht in seinem sachlichen Gehalt einschränken, sondern nur die Grenzen offenlegen, die in den Begriffen des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG selbst schon enthalten sind“ (Hervorhebung von mir). 281 Statt vieler Stern, DStRdBRD III / 1 (1988), S. 930; ders., DStRdBRD III / 2 (1994), S. 624 f.; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 21. Aufl. 2005, Rd.Nr. 318 ff.; zweifelnd jedoch dies., ebda., Rd.Nr. 259 f., 332; Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 139; grundsätzlich zustimmend auch Sachs, in: ders., GG, 3. Aufl. 2003, Rd.Nr. 120 vor Art. 1. 282 Hierbei bleibt oft unklar, ob der Verfassungs- oder Grundrechtsvorbehalt bedeutet, daß die Grenzen des schrankenvorbehaltlosen Grundrechts aus dem übrigen Verfassungsrecht dieses Grundrecht quasi „von außen“ bzw. „nachträglich“ einschränken (Außentheorie), oder aber ob diese Grenzen dem fraglichen Grundrecht schon wegen dessen ursprünglicher Einbettung in das Verfassungsganze „von Anfang an“ innewohnen (Innentheorie). Dies läuft letztlich auf Frage hinaus, ob diese Grenzen nun dem Grundrecht selbst oder der Verfassung insgesamt „immanent“ sind. Das Problem, ob die Vorgehensweise von BVerfG und hM eher einer Innen- oder einer Außentheorie entspricht, soll hier aber nicht weiter verfolgt werden, da es sich bei den entsprechenden Umschreibungen nur um terminologische Gewohnheiten ohne größere inhaltliche Bedeutung handeln dürfte; vergl. auch Isenesee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 42 FN 90. Zum Ganzen Borowski, Grundrechte als Prinzipien (1998), S. 29 ff. 283 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 71, 312. 284 Zusammenfassend Iliadou, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz (1999), S. 84. 285 BVerfGE 28, 243 (261); E 84, 212 (228): „kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte“. 286 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 529: „Pointiert gesagt bildet die bundesverfassungsgerichtliche Formel ein gutes Beispiel dafür, wie man ein Problem zu lösen versucht und dadurch eine ganze Fülle von Folgeproblemen schafft.“

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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a) Folgeproblem I: Begründen auch Kompetenz-, Ermächtigungs- und Organisationsnormen Rechtswerte von Verfassungsrang? In der Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung E 69, 1 ff. zog der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zur Begründung der Einschränkbarkeit des als vorbehaltsschrankenlos vorausgesetzten Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG zugunsten der Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr die Vorschriften aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 1, 87a, 12a und 115b GG heran, um eine „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung“ zu begründen, kraft derer Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr Verfassungsrang hätten.287 In ihrem Minderheitenvotum hielten es die Bundesverfassungsrichter Böckenförde und Mahrenholz für unzulässig, aus Kompetenzvorschriften (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1, 87a GG), bloßen Ermächtigungsnormen (Art. 12a GG) oder Organisationsregelungen (Art. 115b GG) Grundrechtsschranken herzuleiten.288 Eine Kompetenznorm zugunsten des Bundes habe den Sinn, ein Handeln des Bundes nicht auszuschließen, ohne aber materiell-rechtlich ein Handeln zu gebieten. Entsprechendes gelte von Ermächtigungsnormen und Organisationsvorschriften.289 Durch die Überhöhung formeller Vorschriften werde das Grundrecht zu einem reinen Abwägungsgesichtspunkt290 und gerade durch diejenige Staatsfunktion relativiert, gegen die sich seine staatliches Handeln begrenzende Freiheitsverbürgung richte (das Recht auf Kriegsdienstverweigerung richtet sich zwangsläufig gegen die Funktion der Landesverteidigung).291

Auf den ersten Blick läßt sich die Problematik gewissermaßen „schneidend“ lösen: wenn nämlich Grundrechte (auch) negative Kompetenznormen sind, dann können logischerweise Kompetenznormen nicht umgekehrt Grundrechte beschränken, ohne daß es etwa einer Kritik der Abwägung überhaupt noch bedurft hätte. Allerdings fragt sich weiter, ob diese einfache Auskunft differenziert genug ist; so haben sich auch Literaturstimmen 292 gefunden, die den Ansatz des Bundesverfassungsgerichts mit guten Gründen unterstützen.293 Auch dieses Folgeproblem des BVerfGE 69, 1 (21 ff.). BVerfGE 69, 1 (57 ff., 59). 289 BVerfGE 69, 1 (57 ff., 60). 290 Ähnlich Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (25): „Über Wissenschaftsfreiheit bräuchten wir hier nicht weiter nachzudenken, wenn die über hundert Einzeltitel der Kompetenzbestimmungen das prall gefüllte Arsenal von möglichen Verfassungswerten und damit von Grundrechtsbeschränkungen bilden würden; in jedem Kollisionsfall zwischen Wissenschaftsfreiheit und anderen Belangen ließe sich dann ein begrenzendes Gegengut finden.“ 291 Vergl. BVerfGE 69, 1 (57 ff., 64). 292 Vergl. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (89 ff.); in diese Richtung jedenfalls auch Ossenbühl, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), Rd.Nr. 18 f. 293 Vergl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 5: „Der organisatorische Teil des Grundgesetzes ist in diese ganzheitliche Auslegung miteinzubeziehen, stehen doch die Grundrechte im Bezugssystem des Verfassungsganzen. Für die Grundrechte bedeutet dies, daß sich Aussagen über ihren Inhalt und ihre Grenzen auch in den gesetzgeberischen Kompetenzbestimmungen finden. [ . . . ] Wenn die Verfassung der Gesetzgebung eine entsprechende Zuständigkeit einräumt, so bedeutet dies, daß sie diese Rechtsgebiete neben den Grundrechten [ . . . ] anerkannt hat.“ 287 288

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

herrschenden Paradigmas wird am überzeugendsten unter Rückgriff auf die differenzierende Betrachtungsweise der drei verschiedenen Arten von Grundrechten gelöst. Hinsichtlich der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten (absoluten) Grundrechte gilt einfach der genannte „logische Ausschluß“: eine negative Kompetenznorm kann von einer positiven Kompetenznorm nicht relativiert werden, denn die negative Kompetenznorm ist (jedenfalls außerhalb des äußersten Staatsnotstandes) absolut oder sinnlos. Ein normgeprägtes Grundrecht hingegen ist auf positivgesetzliche Ausgestaltung angewiesen, die ihrerseits auf Kompetenznormen innerhalb oder außerhalb dieses Grundrechts beruht; hier gibt es also gar kein Spiel von Grund und Gegengrund, sondern Grundrechtsverbürgung und Ausgestaltung folgen demselben Ziel. Ein unter Schrankenvorbehalt gewährleistetes Grundrecht kann in verhältnismäßiger Weise von Gesetzen beschränkt werden, die aufgrund von Kompetenznormen ergangen sind, es würde diese Gesetze jedoch seinerseits im Sinne der Wechselwirkungslehre konstitutionalisieren. Folgt man der ganz herrschenden Auffassung, die das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 als schrankenvorbehaltlos gewährleistet ansieht, so ist es nach hier vertretener Ansicht in die Rechtsordnung eingeordnet, d. h. der Gesetzgeber muß die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung schaffen, darf diese jedenfalls nicht in ihrem Wesenskern antasten (Art. 19 Abs. 2 GG)294 und hat bei der Ausgestaltung des Ersatzdienstes außerdem die Vorgaben aus Art. 12a Abs. 2 GG zu beobachten. Bei der Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens, der Gewissensprüfung usw. hat er sämtliche Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte (wie z. B. Art. 103 Abs. 1 GG) und v.a. auch das Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) zu beachten. Zur Begründung, daß in diesem Verwaltungsverfahren andererseits auch das Gemeinwohlinteresse an der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr berücksichtigt werden kann, bedarf es keinerlei Abstützung etwa auf Kompetenz- oder Organisationsvorschriften des Grundgesetzes.- Vertretbar erscheint es im Hinblick auf Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG übrigens auch, die Kriegsdienstverweigerung als normgeprägtes Grundrecht anzusehen.295 Auch dies würde an der Richtigkeit im Ergebnis von BVerfGE 69, 1 ff. nichts ändern.

294 Art. 19 II GG gilt ausweislich seines Wortlauts („auf keinen Fall darf ein Grundrecht. . .“) auch (jedenfalls bekräftigend) für die schrankenvorbehaltlosen Grundrechte. Art. 19 I GG hingegen gilt schon ausweislich seines Wortlauts nicht für die schrankenvorbehaltlosen Grundrechte, da diese Norm nur nähere Vorschriften für den Fall enthält, daß ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden kann; aus dem Wortlaut des Art. 19 I GG folgt im Umkehrschluß, daß die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte tatsächlich nicht (auch nicht durch Grundrechte Dritter oder Rechtswerte von Verfassungsrang) eingeschränkt werden können, da davon auszugehen ist, daß Art. 19 I 1 GG die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung („durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“) abschließend aufzählt. Wollte man dies nicht annehmen, so wären schrankenvorbehaltlose Grundrechte in der Tat leichter einschränkbar als solche unter Schrankenvorbehalt (da die Schranken-Schranken aus Art. 19 I GG ja nur für letztere gelten sollen). 295 Vergl. Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rd.Nr. 175 ff.; Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 231 FN 250 m. w. N.

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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b) Folgeproblem II: Übertragbarkeit auch auf relative Grundrechte? Ein weiteres Folgeproblem des herrschenden Paradigmas besteht in der (naheliegenden) Frage, ob die Grundrechte Dritter und die Rechtswerte von Verfassungsrang ausschließlich die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte sollen einschränken können, oder außerdem auch die mit Schrankenvorbehalt versehenen über diesen Schrankenvorbehalt hinaus. Die herrschende Meinung verneint letzteres unter Berufung auf den Spezialitätsgrundsatz im Rahmen eines differenzierenden Schrankensystems: bei Grundrechten unter Gesetzesvorbehalt komme kollidierendes Verfassungsrecht als Eingriffsrechtfertigung nicht mehr in Betracht.296 Hiergegen wendet sich aber eine primär pragmatisch orientierte Kritik: dies lasse sich nicht ausnahmslos durchhalten, zumal wenn der vorhandene Gesetzesvorbehalt nicht ausreiche, um zwingenden Erfordernissen grundrechtlicher Eingrenzung Rechnung zu tragen.297, 298 Das entscheidende dogmatische Argument gegen die herrschende Meinung dürfte aber sein: geht man von einer Auslegungsregel im Sinne der „Einheit der Verfassung“ aus und hält man diese weiter für so gewichtig, daß sie den Schlüssel für die Beschränkung auch schrankenvorbehaltloser Grundrechte bildet, so kann man nicht begründen, warum die Verfassung nur gegenüber den absoluten Grundrechten „einheitlich“ sein sollte. Mit anderen Worten, wer die Einheit der Verfassung postuliert, kann diese Einheit nicht selektiv zur Einschränkung schrankenvorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte heranziehen und gleichzeitig davon ausgehen, die Einheit der Verfassung spiele bei Grundrechten mit Schrankenvorbehalt (relativen Grundrechten) keine Rolle.299 Nach der hier vorgeschlagenen Betrachtungsweise kommt es auf den Argumentationstopos von der „Einheit der Verfassung“ zur „Einschränkung“ absoluter Grundrechte nicht an, da diese ohnehin in die Rechtsordnung eingeordnet sind; so erweitert sich der Topos der Einheit der Verfassung aber auch zu dem der Einheit der Rechtsordnung.

296 Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 20. Aufl. 2004, Rd.Nr. 331; Borowski, Die Glaubensund Gewissensfreiheit (2006), S. 204, 512 f. 297 Lerche, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rd.Nr. 14 f., 23, 47 FN 166 (mit Kritik an Pieroth / Schlink); vergl. auch Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 19 III 3 b) (S. 188 f.). 298 BVerwGE 87, 37 (46) – Glykolwein: „Diese Grundsätze [über die Einschränkbarkeit vorbehaltlos gewähleisteter Grundrechte] beanspruchen Geltung nicht nur für vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte. Sie müssen ebenso Anwendung finden bei solchen Grundrechten, die wie Art. 12 GG einen Regelungsvorbehalt für den Gesetzgeber enthalten. Grundrechtsbegrenzungen, die sich aus der Verfassung selbst ergeben, gehen notwendig einer dem einfachen Gesetzgeber überlassenen Begrenzungsmöglichkeit vor.“ 299 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 51 FN 37 a.E.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

c) Folgeproblem III: das absolute Grundrecht als Abwägungsposten Die bereits in der Darlegung des Folgeproblems I angeklungene Kritik, daß zumal die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte infolge der herrschenden Vorstellung vom Verfassungs- oder Grundrechtsvorbehalt zu reinen Abwägungsposten verkämen, wird vor allem von Vertretern der Rahmenordnungskonzeption vorgetragen; diese natürliche Affinität liegt in dem methodischen Vorbehalt der Abwägungsskepsis, die Verfassungstheorie und dogmatische Kritik verbindet. Die unausweichlichen Konflikte zwischen „wildwüchsigem Freiheitsgebrauch“300 und den Interessen der Allgemeinheit301 führen jedenfalls nach dem herrschenden Paradigma zur der unabweislichen Notwendigkeit der Relativierung dieser Freiheitsgewährleistung302, die – bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten wie der Religions-, Gewissens-, Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit – in den Grundrechten anderer gesucht und gefunden worden ist. Unter der zunächst eher zögerlichen, dann immer weiter ausgreifenden Führung des Bundesverfassungsgerichts303 wurden nicht nur sämtliche anderen Grundrechte, sondern auch alle sonstigen „Rechtswerte von Verfassungsrang“ in abwägender Methodik zur Eingrenzung herangezogen304 (bis hin zu den bereits erwähnten grundgesetzlichen Kompetenzkatalogen).305 Damit habe sich – so eine im Vordringen befindliche 300 Formulierung von Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 21. Aufl. 2005, Rd.Nr. 206, 259, 314, 318. 301 Dazu schon Bettermann, Grenzen der Grundrechte (1968), S. 7 ff.: „Soll etwa der Mohammedaner um die Mittagsstunde seinen Gebetsteppich auf dem Kurfürstendamm ausbreiten und sich darauf zur Anrufung Allahs niederlassen könnnen, ohne daß sofort die Polizei einschreiten darf und muß? [ . . . ] Soll beim Bau von Gotteshäusern nicht auf die Stadtplanung Rücksicht genommen und das Baupolizeirecht beachtet werden müssen? Soll Vielweiberei betrieben werden dürfen, weil der Prophet der Sekte sie als göttliches Gebot verkündet? [ . . . ] Soll der Forscher beim Experimentieren in seinem Labor oder Institut nicht die vorgeschriebenen, notwendigen oder üblichen Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen wie jeder Industriebetrieb? Soll die Arbeitszeitordnung nicht auch an Universitäten und technischen Hochschulen gelten? Soll man sich auch zu strafbaren oder verfassungsfeindlichen Zwecken oder in einsturzgefährdeten Räumen versammeln dürfen? [ . . . ] Sobald der Gegenstand der Freiheit ein zwischenmenschliches Verhalten ist, [ . . . ] sobald also die Individualsphäre überschritten wird, sind Einschränkungen unerläßlich, schon um allen die gleiche Freiheit zu gewährleisten. Daher kann es sich nicht darum handeln, die vom Grundgesetz nicht mit Schranken oder Gesetzesvorbehalten bekleideten Grundrechte in dieser ihrer Nacktheit zu erhalten oder gar zu bewundern, sondern es geht darum, ihre Blöße angemessen zu bedekken.“ 302 Also nach Maßgabe des Satzes, daß die Schranke umso weiter sein muß, je weiter der Tatbestand ist. Kritisch dazu Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 279 m. w. N. für diesen Satz. 303 Eine sehr prägnante Darstellung von BVerfGE 28, 243 (261) und den Folgen findet sich bei Kriele, JA 1984, 629 (631 f.). 304 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (168). 305 BVerfGE 28, 243 (261); 32, 40 (46); 48, 127 (159 ff.); 69, 1 (21 ff.; Sondervotum der Richter Böckenförde und Mahrenholz S. 57 [60 ff.]).

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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Kritik – das Paradigma der weiten Schutzbereiche gerade nicht als freiheitsfördernd erwiesen, im Gegenteil seien die Grundrechte im Ergebnis unter einen „Richtervorbehalt“306 gestellt.307 Denn nachdem die „Rechtswerte von Verfassungsrang“ einmal als immanente Schranke auch vorbehaltloser Grundrechte anerkannt waren, hat sich dieses „Ventil“ angesichts des aufgestauten Problemdrucks als Einfallstor eines breiten Stroms erwiesen, ohne daß die nun methodisch dominierenden Abwägungen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Eingriffe die von der Grundrechtsdogmatik aufgegebenen Probleme befriedigend lösen konnten.308 Die Macht im Staate wird dann von den demokratisch gewählten Parlamenten zu den Gerichten hin umverteilt, die ihrerseits im Rahmen maßstabloser Abwägungen309 die „Angemessenheitsverhältnismäßigkeit“ zu finden trachten.310 Teilweise wird sogar vertreten, die eigentlich als nicht einschränkbar gedachten vorbehaltlosen Grundrechte seien in der Folge dieser Entwicklung durch Abwägung mit allen möglichen „Rechtswerten von Verfassungsrang“ im Ergebnis leichter einschränkbar als Grundrechte mit Schrankenvorbehalt311. Dies dürfte allerdings zweifelhaft sein. Denn einleuchtend wäre diese Diagnose nur dann, wenn die Verwaltung unter Berufung auf Gemeinschaftswerte von Verfassungrang verfassungsunmittelbar in schrankenvorbehaltlose Grundrechte eingreifen dürfte, wohingegen sie bei mit Schrankenvorbehalt versehenen Grundrechten erst durch ein Gesetz zum Eingriff berechtigt würde. Nach ganz herrschender Meinung gibt es jedoch keine verfassungsunmittelbaren Eingriffe; jeder Grundrechtseingriff, sei es aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts oder aufgrund eines expliziten Schrankenvorbehalts, ist grundsätzlich gesetzesmediatisiert.312 Damit dürfte die Einschränkbarkeit der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte (durch Gesetz aufgrund des Verfassungsvorbehalts) nach wie vor geringer 306 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (169; 173); vergl. auch Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? (Bryde-Kolloquium, 2004), S. 53 (54); kritisch gegenüber einem „Einzelfallvorbehalt“ auch schon Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 62 mit FN 39 m. w. N. 307 Vergl. auch Isensee, in: FS Sendler (1991), S. 39 (57): „Die weite Tatbestandstheorie löst nicht die Grundrechtsprobleme, sondern verschiebt sie in die Schranken, die deshalb weit und beweglich sein müssen. Sie vermehrt die Probleme, denn je weiter der Schutzbereich, desto größer die Zahl der Kollisionen.“ Zum Ganzen auch Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt (1998), S. 163: die Kollisionstheorie, nicht die Abwägungsmethode schaffe „Richtervorbehalte“. 308 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (173). 309 Vergl. Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (25): „Alles weitere ist dann für die herrschende Auffassung ein Schrankenproblem und dies läuft auf [ . . . ] Abwägung [ . . . ] hinaus. [ . . . ] die Abwägungsdogmatik enthält nur ein inhaltlich karges und schmales Entscheidungsprogramm. [ . . . ] der Rang- und Wertvergleich steht im Mittelpunkt in all seinen Unwägbarkeiten, seiner mangelnden Vorhersehbarkeit und seinen Einbußen an Rationalität des Entscheidens.“ 310 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (190). 311 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (170). 312 Vergl. nur BVerfGE 108, 282 (297 m. w. N.); Möllers, NJW 2005, 1973 (1977).

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

sein als die der übrigen Grundrechte mit Schrankenvorbehalt (durch Gesetz aufgrund dieses Vorbehalts), zumal sich die Ablehnung jedenfalls von Kompetenznormen als Eingriffsrechtfertigung wissenschaftlich so weit durchgesetzt hat313, daß es sehr fraglich erscheint, ob das Bundesverfassungsgericht an seiner Auffassung festhalten würde. Richtig an der Kritik der grundrechtliche Freiheit beschneidenden Tendenz der herrschenden Grenzziehung vorbehaltloser Grundrechte ist aber jedenfalls, daß es in der Logik der verfassungsimmanenten Schranken liegt, auf Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt ebenfalls, zusätzlich angewendet werden zu können,314 und zwar, wie gezeigt, nicht primär aus praktischen Erwägungen, sondern wegen des dogmatischen Arguments, der Verfassungsvorbehalt könne schwerlich nur selektiv dort herangezogen werden, wo er scheinbar fehle, und ansonsten ausgeschlossen sein. Die eigentliche Problematik der „schrankenvorbehaltlosen Grundrechte als Abwägungsposten“ dürfte jedoch nicht im allgemeinen „Freiheitsverlust“ liegen, sondern darin, daß über den Umfang der konkreten „Nettofreiheit“315 absoluter Grundrechte letztlich stets das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Damit sind diese Grundrechte nicht politikfrei316, wie man es abstrakt fordern könnte, sondern die Grundrechtspolitik liegt in den Händen des Bundesverfassungsgerichts. Der hier vorgeschlagene Ansatz postuliert hingegen einen politikfreien Gewährleistungsgehalt der absoluten Grundrechte, der freilich viel enger ist als der heute angenommene (aber einschränkbare) „Schutzbereich“; außerhalb dieses Gewährleistungsgehalts hingegen soll die politische Gestaltung des Gemeinwesens den Parlamenten überantwortet und zugetraut werden.317

2. Materiale Allgemeinheit, Prinzipienlehre und institutionelles Grundrechtsdenken Eine andere Art des „Verfassungsvorbehalts als besonderer Rechtsordnungsvorbehalt“ hat die integrationistische Staatsrechtslehre vertreten; sie wurde dann von Häberle im Rahmen des institutionellen Grundrechtsdenkens fortgeschrieben.318 313 Vergl. nur Kokott, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 22 Rd.Nr. 53; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 19 III 3 a), bb) (S. 188). 314 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (170). – In diese Richtung in der Tat BVerwGE 87, 37 (46) – Glykolwein; kritisch zum Ganzen Schoch, DVBl. 1991, 667 (671 f.); anders auch die hM, vergl. Pieroth / Schlink, 20. Aufl. 2004, Rd.Nr. 331: bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt komme kollidierendes Verfassungsrecht als Rechtfertigung von Eingriffen nicht mehr in Betracht; dagegen aber (dies lasse sich nicht ausnahmslos durchhalten, zumal wenn der vorhandene Gesetzesvorbehalt nicht ausreiche, um zwingenden Erfordernissen grundrechtlicher Eingrenzung Rechnung zu tragen): Lerche, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 122 (Rd.Nr. 14 f., 23, 47 FN 166 mit Kritik an Pieroth / Schlink). Vgl. dazu bereits oben, VIII 1b). 315 Volkmann, JZ 2005, 261 (268 FN 67). 316 Vergl. Wahl, UTR 14 (1991), 7 ff. 317 Vergl. bereits Scheuner, VVDStRL 20 (1963), S. 125 (Diskussionsbeitrag).

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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Nach dieser Auffassung stehen die Grundrechte überhaupt unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze; unter diesen sind aber nur die nicht-speziellen, also nicht gegen die Ausübung des in Rede stehenden Grundrechts gerichteten Gesetze319 zu verstehen, sondern die allgemeinen im Sinne der „materialen Allgemeinheit“ Smends.320 Damit sind die „allgemein gültigen“ Gesetze gemeint, was wiederum bedeutet: diejenigen, deren Geltung so allgemein ist, daß sie auch Grundrechte beschränken können; dies läuft darauf hinaus, daß ein solches Gesetz eben wichtiger sein müsse als das geschützte Grundrecht321, indem es den höheren Wert in einer Rangordnung von Werten schützt322, bzw. ein das Grundrecht überwiegendes Interesse der Allgemeinheit. Grundrechte dürfen demnach immer dann, aber auch nur dann beschränkt werden, wenn es zum Schutze gleich- oder höherwertiger Rechtsgüter erforderlich ist.323 Letzteres leitet zur richtigen, dogmengeschichtlichen Einordnung der Lehre Smends über. Wenn seine Lehre auch heute von den verschiedenen Spielarten der Sonderrechtslehre überwunden worden ist324 und ihr allgemein vorgehalten wird, sie verweise nur auf letztlich subjektive Wertabwägungen, ohne hierfür Kriterien aufweisen zu können325, so ist doch festzuhalten, daß sie sich in der Weimarer Republik als Antwort auf das drohende „Leerlaufen“ der Grundrechte verstand.326 Dieses erschien nämlich, wie bereits erwähnt, vor der Vergl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 31 ff. Vergl. Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 2005, § 26 Rd.Nr. 97 ff. m. w. N. 320 Grundlegend Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 89 (96 ff.). 321 Vergl. Smend, a. a. O., S. 98: „die Unkritisiertheit der Regierung ist kein Gut, das den Vorzug vor der freien Meinungsäußerung [ . . . ] verdiente [ . . . ].“ 322 Vergl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 31: „Seine [des Grundsatzes der Güterabwägung] verfassungsrechtliche Bedeutung wird evident, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Wertordnung Wertrangordnung und Wertverhältnisordnung ist.“ 323 Zusammenfassend Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 32. 324 Dies gilt hingegen nur mit einer Einschränkung: die Prinzipientheorie der Grundrechte (grundlegend Alexy, Theorie der Grundrechte [1985], S. 71 ff.) hält bis heute an der materialen Allgemeinheit im Smendschen Sinne fest; allerdings sind an die Stelle der Wertabwägung und der Forderung nach Herstellung eines Rangverhältnisses von Werten im Einzelfall die von ihr postulierten Regeln über Prinzipenkollisionen getreten. Dies wird ganz deutlich bei Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 198 ff. – Zur Entsprechung von „Werten“ und „Prinzipien“ vergl. nur Alexy, a. a. O., S. 133, 509 f.; zum Ganzen auch Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 219. 325 Diesem dann natürlich auch sie treffenden Einwand begegnen die Vertreter der Prinzipientheorie der Grundrechte mit dem Hinweis, diese sei eine Strukturtheorie und begründe daher keine Entscheidungen, sondern strukturiere sie; insofern sei sie weiter mit einer Theorie der juristischen Argumentation zu verbinden. Vergl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 206. 326 Vergl. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 89 (99) mit Protest gegen die „leere, begriffliche Formaljurisprudenz“ und der Zusammenfassung: „Hier liegt das, was diese Grundrechte über selbstverständliche und bedeutungslose Einzelbestätigungen des Prinzips der gesetzmäßigen 318 319

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

Einführung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (und der Wechselwirkungslehre) durch das Bundesverfassungsgericht als die naheliegende Konsequenz der Gesetzesvorbehalte. Insofern erscheint die materiale Allgemeinheitslehre als ein noch unvollkommener Vorläufer des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Die Wiederaufnahme dieser Lehre durch Häberle im Jahre 1962 (also geraume Zeit nach dem Lüth- und Apothekenurteil) erscheint hingegen kaum gerechtfertigt. Das Verdienst der in der in der Tradition des integrationistischen Staatsdenkens stehenden institutionellen Grundrechtslehre besteht aber jedenfalls auch darin, auch unter Art. 1 Abs. 3 GG in Erinnerung gerufen zu haben, daß eine grundgesetzkonforme Grundrechtstheorie neben der Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt auch die Einordnung der Grundrechte in die Rechtsordnung thematisieren muß, da sie sonst zwar Vorgaben für einen perfekten (und mithin totalen) Rechtsstaat327 formulieren könnte, nicht aber dem demokratischen Prinzip im Grundgesetz328 sowie der Gleichheit aller vor dem Gesetz (Nichtprivilegierung) gerecht würde.329 Die hier vorgeschlagene Theorie von der Einordnung der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte in die Rechtsordnung als negative Kompetenznormen, nicht aber Erlaubnisnormen im forum externum (bei gleichzeitiger Anerkennung der herrschenden, konstitutionalisierenden Grundordnungsslehre für die übrigen, „relativen“ Grundrechte) könnte mit gleichem Recht als besonders strenge Spielart des Rahmenordnungstheorems wie auch als Fortentwicklung des institutionellen Grundrechtsdenkens beschrieben werden.330 Dabei gründet sie jedoch weder auf ein bestimmtes, letztlich rechtspolitisches (etwa: „liberales“) Vorverständnis, wie vielfach die Rahmenordnungslehre, noch auf allgemeine Erwägungen zum „Wesen“ der Verfassung, wie die institutionelle Grundrechtstheorie, sondern eben auf den Verfassungstext, der, was die Grundrechte betrifft, das Nebeneinander von Grundrechtsschutz und Demokratieprinzip sowie die Tatsache der differenzierten Schrankensystematik als grundrechtstheoretisch einzuordnende Hauptbefunde aufweist.

Verwaltung hinaushebt und zu wahren Verfassungsgrundsätzen macht [ . . . ].“ Ders., a. a. O., S. 101 ff.: die Bedeutung der Grundrechte auch gegenüber dem Gesetzgeber erschöpfe sich nicht im Grundsatz gesetzmäßiger Verwaltung. 327 Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte (1984), S. 6. 328 Vergl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 17 ff. m. w. N. 329 Vergl. Kriele („demokratische Freiheit“), VVDStRL 29 (1971), 46 (61, 82). 330 Diese vom Ansatz her gegensätzlichen Lehren haben nämlich in der Regel das gemeinsame Ziel, das demokratische Prinzip im Grundgesetz zu stärken und dem demokratischen Gesetzgeber tendenziell einen größeren Handlungsspielraum zu verschaffen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn die jeweilige Spielart des „Rahmenordnungsdenkens“ sich nicht darauf beschränkt, die objektive Funktion oder „Ausstrahlungswirkung“ der Grundrechte auf die Zivilrechtsordnung iSd. Lüth-Entscheidung (BVerfGE 7, 198 [206 f.]) als Fehlentwicklung auf dem Weg in den Jurisdiktionsstaat zu geißeln, gleichzeitig aber – so lange nur die streng subjektiv-rechtliche Staatsgerichtetheit der Grundrechte erhalten bleibt – gegen ein Primat des Rechtsstaats über das Demokratieprinzip nichts einzuwenden hat. Vergl. dafür beispielhaft Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (23 ff.) und ders., NJW 2001, 723 ff.

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3. Alternative Modelle des Grundrechtsvorbehalts a) Schutzbereichsbegrenzung durch systematische Auslegung Der Ansatz der einschränkenden Auslegung der Schutzbereiche der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte gehört in den größeren Komplex der harmonisierenden Verfassungsauslegung.331 Gleichwohl darf er nicht mit den hergebrachten Argumentationstopoi wie „schonender Ausgleich“332 oder „praktische Konkordanz“333 verwechselt werden; denn diese letzteren Ansätze verlangen keine Neuorientierung in der dogmatischen Handhabung absoluter Grundrechte (oder der Grundrechte überhaupt), sondern versuchen, die Behandlung von (echten und unechten) Grundrechtskollisionen durch Bundesverfassungsgericht und herrschende Meinung im Zeichen von Wechselwirkungslehre und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf den Begriff zu bringen.334 Dem Ansatz des einschränkenden Verständnisses der grundrechtlichen Schutzbereiche v.a. durch die systematische Auslegung335 geht es hingegen umgekehrt darum, Grundrechtskollisionen und die an sie anknüpfende Herstellung praktischer Konkordanz qua Abwägung nach dem Vorbild der Mephisto-Entscheidung336 nach Möglichkeit zu vermeiden. Auf ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistete Grundrechte kann das Abwägungsdenken im Sinne der Mephisto-Entscheidung jedoch keinesfalls übertragen werden.337 In Wahrheit fehlt es bei fast allen sogenannten Grundrechtskollisionen, die im Wege der Abwägung zwischen scheinbar widerstreitenden grundgesetzlichen Positionen einer Einzelfallösung zugeführt werden sollen, in der Tat an einer hinreichend genauen Bestimmung des „Schutzbereichs“. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Freiheitsgrundrechte aus bestimmten Konfliktsituationen heraus erwachsen sind und mithin einen bestimmten Schutz gewähren sollen, sei weiter – so die geläufige Argumentation – festzuhalten, daß sie rechtlich bestimmt und nicht „illimitiert“ seien. Im Sinne der herrschenden Meinung als letztlich „illimitierte Rechte“ gedacht, würden sie sich weitgehend überschneiden und damit die den einzelnen Vergl. Rüfner, in: FS BVerfG II (1976), 453 (454). Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999, S. 152 f. 333 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 72, 317 ff. 334 Vergl. zum Ganzen Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 7 I 2 (S. 59); vergl. aber auch noch unten, Teil C, III 2. 335 Neuerdings wird auch der Terminus „abstrakte Abwägung“ (d. h. Abwägung „auf Tatbestandsebene“) gebraucht, vergl. Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? (Bryde-Kolloquium, 2004), S. 53 (72); dies widerspricht dem herkömmlichen Sprachgebrauch, nachdem der grundrechtliche Tatbestand durch Auslegung zu ermitteln sei, die Abwägung hingegen nur für den Einzelfall und auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit eine Rolle spiele, vergl. Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen (1999), S. 230 ff.; Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 54. 336 BVerfGE 30, 173 ff. 337 Vergl. Rüfner, in: FS BVerfG II (1976), S. 453 (457). 331 332

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

Bestimmungen jeweils mitgegebenen Gesetzesvorbehalte wirkunkslos werden lassen – denn entscheidend wäre ja doch immer nur die Abwägung.338 Auch müßte ein derart postulierter, praktisch lückenloser Grundrechtsschutz die demokratische Gesetzgebung vollkommen lahmlegen (wollte diese nicht praktisch ihre Grundrechtsbindung hinter sich lassen).339 Damit liegt der methodische Schwerpunkt der Grundrechtsprüfung auf der Bestimmung des Schutzbereiches.340 Wenn es dem genannten Ansatz auch mit grundsätzlichen Argumenten, die uns mittlerweile vertraut sind – Abwägungsskepsis und Betonung des demokratischen Prinzips – leichtfällt, ein anderes und viel engeres Verständnis grundrechtlicher Schutzbereiche einzufordern, so liegt die praktische Schwierigkeit darin, diese grundrechtlichen Tatbestandsschranken konkret und plausibel aufzuweisen. Will man etwa ein Art. 6 Abs. 1 GG zu entnehmendes Polygamieverbot als Tatbestandsschranke der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) verstehen,341 so wirft dies das Prioritätenproblem auf: warum ist das Polygamieverbot die Schranke der Religionsfreiheit und nicht umgekehrt? Soll ein Grundrechtstatbestand den anderen begrenzen, so könnte es ja stets auch umgekehrt sein – wie wird also schlüssig der Vorrang begründet? Dieser Einwand richtet sich auch gegen den prima facie so einleuchtenden Satz, Grundrechte Dritter bildeten die Gewährleistungsschranke der Grundrechtsausübung bzw. der Eingriff in oder Übergriff auf Grundrechte Dritter sei schon vom Schutzbereich eines Grundrechts nicht erfaßt.342 Das Prioritätenproblem kann auch nicht durch die Einführung der hypothetischen Frage aufgelöst werden, ob das betreffende Verhalten grundrechtlich zugelassen sei, wenn das der (vermeintlichen) Grundrechtsausübung entgegenstehende Recht nicht im Grundgesetz enthalten wäre oder in ihm keine Stütze fände. „Könnte man dann ernsthaft behaupten, Vielweiberei müsse [ohne Art. 6 Abs. 1 GG] zugelassen werden, die Kunstfreiheit berechtige zur Mißachtung fremden Eigentums, eine Prozession dürfe nicht wegen Seuchengefahr verboten werden [ . . . ]? Diese Fragen stellen, heißt, sie zu verneinen.“343 Dieses Gedankenexperiment vermag jedoch nicht zu überzeugen. Denn was spräche grundrechtsdogmatisch gegen die Zulässigkeit der Mehrehe, wenn die Ehe – unter der begrifflich ausschließlich 338 Daraus folgt zugleich, daß es sich bei dem Ansatz der Schutzbereichseinschränkung durch systematische Auslegung gerade nicht um das Postulat eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts für alle Grundrechte handelt; ein solcher Vorbehalt ist ja gerade nicht erforderlich, wenn bereits der Schutzbereich der Grundrechte eng ausgelegt wird (vergl. Rüfner, in: FS BVerfG II [1976], S. 453 [457]). Zumindest mißverständlich daher – Rüfners Lehre nähme vom Schutzbereich aus, was von allgemeinen Gesetzen erfaßt werde – Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 286. 339 Vergl. Rüfner, in: FS BVerfG II (1976), S. 453 (456 f.); Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 43 ff., S. 64; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 2. Aufl. 1976, S. 8 ff.; ders., JZ 1964, 601 (603); Hans Hugo Klein, Der Staat 10 (1971), 145 (165 ff.). 340 So auch Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt (1998), S. 227 f. 341 Rüfner, FS BVerfG II (1976), S. 453 (459) mit Verweis auf Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, Art. 4 Anm. IV 4a (S. 220). 342 In diese Richtung aber Muckel, in: FS Schiedermair (2001), S. 347 (356 ff.). 343 Rüfner, in: FS BVerfG II (1976), S. 453 (460 f.).

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Einehe verstanden werden kann – im Grundgesetz nicht einmal vorkäme, geschweige denn besonders geschützt wäre? Und warum sollte die Kunstfreiheit sich nicht über fremdes Eigentum hinwegsetzen dürfen, wenn es „fremdes Eigentum“ grundgesetzlich gar nicht gäbe?344

Im Ergebnis ist das Anliegen der systematischen Einschränkung der grundrechtlichen Schutzbereiche zwar jedenfalls für die absoluten, also nicht einschränkbaren Grundrechte überzeugend; es fehlt diesem Ansatz jedoch an einer plausiblen Methode zur Lösung des Prioritätenproblems. Gerade wer also Abwägungen und der Wechselwirkungslehre gegenüber skeptisch eingestellt ist, kann nicht auf die Beschränkung schrankenvorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte durch andere Grundrechte setzen, da dies regelmäßig gerade zu Abwägungen führt: die Abwägung fungiert als zwar auch nicht wirklich trennscharfe, aber jedenfalls rechtsrhetorische und intersubjektiv plausibilisierbare Methode zur Lösung der Prioritätenfrage. b) Gewährleistungsbeschränkung durch Wortlautauslegung: Normsatztheorien Ein radikalerer Ansatz begnügt sich nicht damit, im Rahmen des herkömmlichen Schemas von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung den Schutzbereich etwas enger fassen zu wollen. Sollen Grundrechte als Rechtsnormen wirklich ernstgenommen und nicht bloß etwa als Prinzipien345 begriffen werden, die gegen andere Prinzipien letztlich kontingent abgewogen werden können, so müssen Ausmaß und Grenzen ihrer Gewährleistung aus diesen Normen selber folgen, statt primär von außen als gegenläufige Abwägungsgesichtspunkte letztlich „unscharf“ an sie heranzutreten. Diese Kritik mangelnder dogmatischer Schärfe in der hergebrachten Grundrechtsauslegung verbindet sich mit der Betonung des positiv-rechtlichen Charakters der Grundrechte: „[ . . . ] mit dem Ausruck „Schranken“ der Grundrechte usw. verbindet sich bei „natürlicher“ vordergründiger Betrachtungsweise die Vorstellung, daß hier die Grundrechte usw. – als etwas kraft Vorstaatlichkeit oder kraft verfassungsrechtlicher Gewährleistung an sich Feststehendes – eingeschränkt (relativiert) werden. Nach den Gesetzen reiner Logik kann es jedoch eine solche Beziehung von Aufstellung und Einschränkbarkeit von Grundrechtsbestimmungen nicht geben. Es gibt nach reiner Logik keine Schranken der Grundrechtsbestimmungen, sondern nur Begriffe derselben. [ . . . ] Diese verschiedenartigen Festlegungen der Begriffe der Grundrechte usw. sind aber von je her als deren „Schranken“ bezeichnet worden. Gegen eine solche Terminologie ist nichts einzuwenden, wenn man sich bewußt bleibt, daß es sich im Sinne reiner Logik nicht um „Schranken“, sondern um Begriffsfestlegungen handelt“.346 Ähnlich Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 289 f. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985) S. 78 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien (1998), S. 61 ff., S. 123 ff.; ders., Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 195 ff. 344 345

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

Die Rede von „inhärenten“ oder „immanenten“ Schranken der Grundrechte sei daher „unklar“.347 Aus „reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten“ 348 schlägt Friedrich Klein daher die Unterscheidung zwischen „Gewährleistungsschranken“349 und „Vorbehaltsschranken“ der Grundrechte vor. Durch die Gewährleistungsschranken werden die Grundrechte ihrem Inhalt und Wesen nach sachlich umgrenzt350; sie sind durch grammatische351 und systematische352 Auslegung der Grundrechtsnormen aufzuweisen. Friedrich Kleins Anregungen dürften die Grundlage für spätere Normsatztheorien gebildet haben. Diese haben dann auf die Unterscheidung von „Normbereich“ und „Normprogramm“ abgestellt: der Normbereich sei die Gesamtheit der von einer (grundrechtlichen) Vorschrift betroffenen, oft schon rechtlich überformten Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit, auf die das „Normprogramm“, also der mit den herkömmlichen Methoden auszulegende Wortlaut der Grundrechtsnorm, anzuwenden sei; diese Anwendung stelle die Konkretisierung der dem Wortlaut nach nur fragmentarischen Grundrechtsnorm dar, in der Normbereich und Normprogramm einen letztlich einheitlichen „Normativtatbestand“ bildeten, da Verfassung und „Wirklichkeit“ nicht zu trennen seien.353 Es handelt sich dabei also um ein zwar normativ gebundenes, aber gleichwohl topisches Verfahren.354 Es dient primär zur Bestimmung der Reichweite einer grundrechtlichen Norm und der interpretativen Auffindung ihrer immanenten Grenzen.355

346 Grundlegend Friedrich Klein (Böckenförde, Der Staat 42 [2003], 165 [177]: eigentlich Erich Küchenhoff), in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, Vorb. B XV 1, S. 122. 347 Vergl. Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, Vorb. B XV 1, S. 122. 348 Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, Vorb. B XV 1, S. 121 f. 349 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (177): „wohl wissend, daß es sich dabei im Unterschied zu den Vorbehaltsschranken logisch gesehen um Begriffsfestlegungen handelt, die den Inhalt des Grundrechts bestimmen.“ 350 Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, Vorb. B XV 1, S. 123 („sachliche Gewährleistungsschranken“). 351 Vergl. Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, Vorb. B XV 1, S. 124 f. („Begriff des gewährleisteten Objekts“). 352 Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, Vorb. B XV 1, S. 125 f. 353 Vergl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 45 f. m. w. N. 354 Vergl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 67 m. w. N.; zum Ganzen auch Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 ff. 355 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 310: „eine Aufgabe, die häufig verkannt und zugunsten der Frage nach anderen Grenzen vorschnell übergangen wird. Oft lassen sich indessen Grundrechtsprobleme bereits auf der Grundlage einer solchen Analyse lösen, und es ist dann verfehlt, die Frage zu stellen, ob ein Grundrecht unter anderen Gesichtspunkten begrenzt sei.“

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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Die Suche nach einer Methode zur Bestimmung des genauen Gewährleistungsgehalts von Grundrechten nicht durch Abwägungen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, sondern durch eine genauere Analyse des grundrechtlichen Tatbestandes zum Zweck der rationalen, kontrollierbaren Lösung von Grundrechtsproblemen und v.a. auch zur Sicherung positiver grundrechtlicher Gewährleistungen gegen ein ideologisch motiviertes Vorverständnis oder verfassungsrechtlich unzulässige Verkürzung356 prägt insbesondere das Werk Friedrich Müllers.357 Auch sein Ausgangspunkt ist dabei der Normcharakter der Grundrechte358: „Daß kein Grundrecht ohne Grenzen garantiert ist, folgt aus der einzig wirklich ,immanenten‘ Beschränkung: aus seiner Rechtsqualität. Es folgt daraus, daß die Grundrechte als allein durch die (Verfassungs-)Rechtsordnung rechtlich konstituierte und als Rechte nicht überpositiv substantiierbare Gewährleistungen angesehen werden. [ . . . ] Vom positiven Recht her gesehen, bedeutet die Garantie des Grundrechts nicht ein deklaratorisches Bestätigen eines ,natürlichen Rechts‘, sondern die konstitutive Anerkennung eines [ . . . ] im Rahmen der Rechtsordnung zu schützenden [ . . . ] Komplexes [ . . . ] menschlichen Tuns kraft Rechts und damit zugleich als Recht. Grundrechtsbegrenzung in diesem Sinne ist dasselbe wie inhaltliche Bestimmtheit der Freiheitsgarantie [ . . . ].“359 „Die primäre dogmatische Frage ist überhaupt nicht die, wodurch ein Grundrecht eingeschränkt werden kann, sondern: wie weit sein aus der Analyse des Normbereichs [ . . . ] und ihrer Vermittlung mit dem grundrechtlichen Normprogramm zu entwickelnder Geltungsgehalt reicht.“360

Entscheidend für die „sachliche Reichweite eines Grundrechts“361 ist der von Müller so genannte Normbereich. Wenn ein Maler etwa auf einer Straßenkreuzung male, so werde zwar das „Malen an sich“ vom Normbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erfaßt, nicht aber der Handlungsaspekt „auf der Straßenkreuzung“.362 Diese 356 Vergl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 310 FN 7. 357 Zwar handeln die methodischen Lehren Friedrich Müllers von der (öffentlich-rechtlichen) Rechtsnorm überhaupt; jedoch haben sich seine Überlegungen von je her an den Grundrechten (vergl. Sachs, in: Stern, DStRdBRD III / 1 [1988], S. 479), und zwar vor allem an den ohne Schrankenvorbehalt gewährleisteten, paradigmatisch orientiert. 358 Wegen des oft nur schwer verständlichen Charakters der Texte Müllers, in denen zahlreiche Gedanken in einer eigenwilligen Begriffssprache miteinander verwoben werden, empfiehlt sich das wortwörtliche Zitat, da eine Widergabe leicht Gefahr liefe, den Autor für Positionen in Anspruch zu nehmen, die er nicht vertritt oder jedenfalls nicht vertreten will; vergl. schon die Anmerkung von Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2096 FN 90). 359 Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 41; ähnliche Überlegungen auch bei Rüfner, in: FS BVerfG II (1976), S. 453 (457 ff.); in diese Richtung auch schon Pestalozza, Der Staat 2 (1963), 425 (446): Freiheit sei „ein Relat“, beziehe sich also auf bestimmte Berechtige und Gegenstände und Bereiche“ (Hervorhebung von mir). 360 Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 87. 361 Vergl. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 20 mit Verweis (FN 36) auf BVerfGE 12, 45 (53).

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

Konzeption ist keinesfalls mit der Idee zu verwechseln, auch die Kunstfreiheit solle – etwa im Wege der „Schrankenleihe“ – den Schranken der allgemeinen Gesetze unterliegen und die Bestimmungen der StVO seien als nicht gegen die Kunst gerichtete Gesetze insofern „allgemein“; diesen Gedanken weist Müller gerade zurück.363 Sondern: ausgehend von dem Gedanken, daß die einzige wirklich immanente Beschränkung in der Rechtsqualität eines Grundrechts liege364, gehören zum Normbereich eines Grundrechts nur (sach-)spezifische bzw. sachlich dazugehörige365, nicht aber unspezifische Modalitäten366 der Grundrechtsausübung. Spezifisch ist eine Ausübungsform dann, wenn ihr nicht nachweisbar der sachliche Zusammenhang mit der (zuvor dogmatisch zu entwickelnden) Struktur des grundrechtlichen Normbereichs fehlt; der Zusammenhang mit dieser Struktur ist dann zu bejahen, wenn die fragliche Modalität in den Bereich des für den sachgeprägten Normbereich strukturell Notwendigen, Wesentlichen fällt. Dies sei nicht der Fall, wenn die fragliche Modalität austauschbar sei, aber gleichzeitig gleichwertige spezifische Möglichkeiten aus dem Normbereich für denjenigen offenbleiben, dem die „unspezifische“ Modalität verwehrt werden soll. Mit anderen Worten: das Malen auf der Straßenkreuzung ist dann nicht vom Gewährleistungsgehalt des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG umfaßt, wenn der Maler „genauso gut“ auch woanders malen könnte. Hierin liegt dann allerdings auch ein wesentliches Problem des Müllerschen Ansatzes: der Grundrechtsschutz würde jedenfalls erheblich verkürzt, wenn nicht entwertet, wenn jede Handlung grundrechtlich irrelevant würde, wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, sie an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit oder auf eine 362 Vergl. Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik (1969), S. 56, 59, 65; vergl. auch ders., Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 64. 363 Vergl. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 11 ff., 40 f., 55 („Ein ohne Vorbehalt gewährleistetes Grundrecht darf weder durch Gesetz noch auf Grund eines solchen beschränkt werden, wie es auch in der Wortlautfassung von Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG anklingt“); vergl. auch ders., ebda. S. 61 f. 364 Vergl. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 32, 41. 365 Vergl. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 74: Maßstab, ob ein Vorbehaltsgesetz vorliege, sei „die Reichweite des grundrechtlichen Normbereichs (des Geltungsgehalts)“; ebda.: sachspezifisch geschützte, sachlich zu den betreffenden Normbereichen gehörige Formen der Grundrechtsaktualisierung; S. 64: Solange eine Verkürzung des grundrechtsspezifisch geschützten Normbereichs nicht stattfinde, halte sich die Gesetzgebung, auch als ausgestaltende, eben „außerhalb dieses Bereichs“, was an Rüfner, in: FS BVerfG II (1976), S. 453 (456 f.), erinnert. 366 Ebenfalls an Rüfner a. a. O. erinnernd Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 88: „Kollisionen ungleichrangiger Normen, so vor allem von Grundrechten und in sie eingreifenden Gesetzen, die mangels eines grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts oder wegen Überschreitung des Rahmens eines vorhandenen Gesetzesvorbehalts nicht den Anforderungen von Vorbehaltsgesetzen genügen, sind nach den von der Verfassung abschließend normierten Regeln zu entscheiden, ohne daß es insofern noch auf materiale Zuordnung und Abwägung ankommt [Hervorhebung von mir]. Anderen Rechtsgütern geltende Schutzgesetze sind für ein Grundrecht dann keine (eingreifenden) Vorbehaltsgesetze, wenn sie nur unspezifische Modalitäten der Grundrechtsausübung beschneiden.“

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andere Weise vorzunehmen.367 Auch wirkt der Gedanke eigenartig zirkelschlüssig: denn der Gewährleistungsgehalt einer Rechtsnorm ist durch Auslegung dieser Norm durch anerkannte Auslegungsmethoden zu gewinnen, nicht jedoch durch Gedankenexperimente im Sinne eines Was-wäre-wenn. Festzuhalten ist aber aus meiner Sicht Müllers richtiger Grundgedanke, daß der Inhalt einer Grundrechtsnorm aus ebendieser Norm heraus zu konkretisieren ist, und jedenfalls nicht durch individuelle Freiheitsvorstellungen des Norminterpreten, die durch das Grundgesetz dann nur beglaubigt werden sollen.368 c) Vorbehalt der Rechtsordnung Schon unter der Weimarer Reichsverfassung369 stellten schrankenvorbehaltlose Grundrechte wie etwa die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in Art. 142 WRV die Dogmatik vor große Schwierigkeiten. Insbesondere schien es naheliegend, den Gesetzgeber allgemein aus dem Kreis der Grundrechtsverpflichteten herauszunehmen. Diese restriktive Vorstellung wurde von der Lehre erst aufgegeben, als durch Anerkennung eines ungeschriebenen Vorbehalts der allgemeinen Gesetze sichergestellt war, daß auch bei einer Bindung des Gesetzgebers die vorbehaltlos gewährleistete Freiheit durch die allgemeine Rechtsordnung begrenzt wurde.370 Dieser Gedanke wurde später v.a. von Bettermann fruchtbar gemacht, der gegen eine Umdeutung von Freiheitsgrundrechten in Privilegien eintrat.371 Damit ist gemeint, daß aus Gründen der Gleichheit aller vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) niemand berechtigt sein soll, aus Gründen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe (wie etwa die So auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation (1987), S. 179. Falls dies – was insbesondere in „Die Positivität der Grundrechte“ immer wieder angedeutet wird – tatsächlich Müllers Auffassung widerspiegeln sollte. Gleichzeitig legt er allerdings auch Wert auf die Feststellung, daß es – bei Unterscheidung zwischen Normsatz und Norm – gerade nicht möglich sei, den jeweiligen Regelungsgehalt einer Rechtsnorm im Einzelfall nur durch die Auswertung von Sprachdaten, dem „Normprogramm“, also dem Wortlaut der Norm, zu bestimmen, sondern daß hierbei „Realdaten“, der sogenannte Normbereich, von gleichrangiger Bedeutung seien. Vergl. dazu kritisch Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 63 ff. (v.a. 66 f.), S. 280 ff. – Letztlich läßt sich dies dahingehend zusammenfassen, daß Friedrich Müller jede juristische Argumentation für unzulässig erklärt, sofern sie nicht zuvor als Bestandteil der Norm selbst (nämlich als „Realbereich“) gedeutet worden ist. 369 Zur Lehre von der Grundrechtsgeltung unter der WRV vergl. Dreier, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 4 Rd.Nr. 12 ff., 20 ff., 28 ff., 38 ff.; dazu auch Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte (1984), S. 3, 17 FN 1 m. w. N. 370 Vergl. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt (1998), S. 120 (mit FN 456 m. w. N.). 371 Vergl. Bettermann, JZ 1964, 601 ff.: allgemeine Gesetze nicht nur als Grenze der Pressefreiheit (dazu dann ders., Hypertrophie der Grundrechte [1984], S. 12 f.), sondern aufgrund von Art. 140 GG iVm. Art. 136 I WRV auch als Grenze der religiösen Freiheiten; später ders., Grenzen der Grundrechte (1968), S. 26 ff.: allgemeine Gesetze außerdem als Grenze der Gewissensfreiheit, Meinungsäußerung und Information, Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre, Versammlungs- und Vereinsfreiheit. 367 368

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

der Wissenschaftler, Künstler, Muslime etc.) den für alle geltenden Gesetzen den Gehorsam zu verweigern372, was freilich nur durch äußere Handlungen geschehen könnte.373 Mithin sollen die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte unter einem ungeschriebenen Schrankenvorbehalt der allgemeinen Gesetze stehen, wobei unter den allgemeinen Gesetzen diejenigen zu verstehen sind, die sich nicht als Sonderrecht speziell oder gar ausschließlich mit den jeweiligen Freiheitsrechten befassen oder diese einschränken, sondern alle Bürger betreffen und dem Schutz allgemeiner Rechtsgüter dienen.374 So sehr dabei einerseits der Grundgedanke überzeugt, der Umfang grundrechtlicher Gewährleistung im forum externum könne nicht davon abhängig sein, ob eine besondere Motivation oder Modalität des Handelns (die ohnehin schwer nachprüfbar sein wird), wie etwa Religion, Gewissen, Wissenschaft oder Kunst geltend gemacht oder jedenfalls behauptet wird, so wenig ist ein Vorbehalt im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG in den entsprechenden Grundrechtsnormen aufweisbar; eine Schrankenleihe scheitert nach heute allgemeiner Ansicht schon am Spezialitätsgrundsatz. Auch Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV bildet schon dem Wortlaut nach, wie bereits dargelegt, keinen Gesetzesvorbehalt im eigentlichen Sinne.375 aa) Der Ansatz Krieles Einen diesem Ansatz grundsätzlich verwandten Weg der Handhabung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte schlägt Kriele vor. Anders als Bettermann sieht er ihn allerdings in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits als verwirklicht an. Kriele teilt grundsätzlich die verbreitete, mittlerweile vertraute Kritik, daß die „liberale“ Annahme weiter Schutzbereiche, die anschließend durch abwägende Verhältnismäßigkeitserwägungen, die die „prima-facie-Freiheit“ wieder engführen, korrigiert wird, weder wirklich praktikabel noch rechtlich richtig sei. Statt aber den Schlüssel zur Lösung in einer präziseren Auslegung des grundrechtlichen „Schutzbereichs“ bzw. „Normbereichs“ und „Normprogramms“ zu erblicken, geht Kriele davon aus, daß auch vorbehaltlos gewährleistete GrundrechVergl. Bettermann, Grenzen der Grundrechte (1968), S. 27. Hieraus erschließt sich, daß Bettermann, Grenzen der Grundrechte (1968), S. 8, einerseits die Glaubens- und Gewissensfreiheit zum einzigen unbeschränkten Grundrecht erklärt, es andererseits (ebda., S. 26 f.) aber unter den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze gestellt sieht. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unbeschränkt, sofern man sie auf das forum internum bezieht und als liberales Abwehrrecht im Sinne des Schutzes Andersdenkender vor staatlicher Verfolgung begreift; soll sie hingegen auch äußeres Handeln legitimieren, so kann der von ihr gewährleistete Schutz nicht stärker sein, als der, den jeder Bürger genösse, wenn er dieselbe Handlung aus ganz profanen Gründen begeht. 374 Vergl. Bettermann, Grenzen der Grundrechte (1968), S. 22: „Der Vorbehalt der allgemeinen Gesetze ist kein allgemeiner Gesetzesvorbehalt. [ . . . ] Hier steht das allgemeine Gesetz nicht im Gegensatz zum Individualgesetz, also zum Einzelfall- und zu Einzelpersonengesetz, sondern hier wird abgestellt auf den Gegensatz der lex generalis zur lex specialis.“ 375 Vergl. bereits oben unter III. 372 373

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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te von vornherein unter dem Vorbehalt des Bürgerlichen Rechts376 und der öffentlichen Ordnungsgesetze stehen. Dadurch werde aber mitnichten das Grundrecht „im Lichte des einfachen Rechts“ ausgelegt, jedenfalls dann nicht, wenn das fragliche Gesetz immanente Grundrechtsschranken, wie etwa die Grundrechte Dritter, in hinreichend bestimmter und allgemeiner Form konkretisiere.377 Kriele kritisiert vor allem, daß die bereits zitierte Formel des Bundesverfassungsgerichts über die Einschränkbarkeit vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte aus der Soldaten-Entscheidung378 – nach der nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte ausnahmsweise begrenzen können379, wobei die einfachen Gesetze streng im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden müssen, statt etwa den wirklichen Gehalt der Grundrechte aus ihrer jeweiligen einfach-gesetzlichen Konkretisierung heraus begreifen zu wollen – zwar von der ganz herrschenden Lehre und der Rechtsprechung stets respektvoll und ohne durchgreifende Zweifel ständig zitiert, in der Praxis jedoch mit derselben Konsequenz nicht ernstgenommen werde.380 Nach Krieles Auffassung wird diese Formel in den einschlägigen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen381 zu den schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten382 lediglich als nach den Regeln richterlicher Kunst zu vermeidendes obiter dictum aufgeführt. Die tragenden Gründe würden hingegen im Ergebnis entweder zwei wirkliche Verfassungsgüter miteinander abwägen (Soldaten), so daß sich die Frage nach der Einschränkbarkeit eines vorbehaltlosen Grundrechts durch einfaches Recht nicht 376 Die Schreibweise folgt Creifelds, Rechtswörterbuch, 14. Aufl. 1997, S. 265; a.A. („bürgerliches Recht“) jedoch der Duden, Bd. 1, 22. Aufl. (aktualisierter Nachdruck) 2001, S. 797. 377 Vergl. Kriele, JA 1984, 629 (637 f.). 378 Vergl. BVerfGE 28, 243 (260 f.). 379 Kritisch aus rechtspolitischer Sicht Isensee, in: Mohler (Hg.), Wirklichkeit als Tabu (1986), S. 11 (19 f.). 380 Vergl. Kriele, JA 1984, 629 (630 ff.); ähnlich Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 3 Rd.Nr. 90 a.E. m. w. N. 381 Kriele geht auch für das deutsche verfassungsrechtliche System von einer Präjudizwirkung von BVerfG-Entscheidungen aus, vergl. schon ders., Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 243 ff.; ders., in: Isensee / Kirchhof, HdBdDStR V, 2. Aufl. 2000, § 110, Rd.Nr. 33 ff. (ähnlich Lechner / Zuck, BVerfGG, 5. Aufl. 2006, § 31 Rd.Nr. 29; a.A. die ganz hM, vergl. nur BVerfGE 4, 31 [38]; Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, Bd. 1, [Loseblatt, Stand: 1 / 2005], § 31 Rd.Nr. 118 f. [Stand: 6 / 2001] m. w. N.); dem korrespondiert methodisch ein besonders akribischer Blick auf diese Entscheidungen. Zu Krieles hier v.a. interessierenden Thesen vergl. auch ders., in: Isensee / Kirchhof, HdBdDStR V, 2. Aufl. 2000, § 110 Rd.Nr. 69 ff. 382 Leitentscheidungen sind für Kriele zum „Vorbehalt des besonderen Gewaltverhältnisses“ BVerfGE 28, 243 ff. (Soldaten), zum „Vorbehalt des Bürgerlichen Rechts“ BVerfGE 30, 173 (188 ff.) (Mephisto) sowie zum „Vorbehalt der öffentlichen Ordnungsgesetze“ die Entscheidung zum „Sprayer von Zürich“ (BVerfG [Vorprüfungsausschuß], NJW 1984, 1293 [1294]), die unten (Teil C, I 2) noch näher zu untersuchen sein wird.

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

stelle, oder aber (Mephisto) sogar die zuvor zitierte Formel erst erwähnen, dann aber selbst für überflüssig erklären383, weil es um einen zivilrechtlich zu beurteilenden Fall gehe, der allenfalls an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen sei („Vorbehalt des Bürgerlichen Rechts“).384 Auch im Beschluß zum „Sprayer von Zürich“385 hat das Bundesverfassungsgericht die Beschädigung fremden Eigentums „von vornherein“ für außerhalb des Schutzbereiches der Kunstfreiheit liegend erklärt, dies aber nicht deswegen (im Sinne eines tragenden Grundes), weil auch das Eigentum Dritter grundrechtlich geschützt386 sei – auf diesen Umstand wird wiederum nur („überdies“) in Form eines obiter dictum hingewiesen – sondern offenbar deswegen, weil das Strafgesetz gegen Sachbeschädigung eine dem Grundrecht von vornherein innewohnende Grenze konkretisiere.387 Dabei richtet sich Krieles Kritik ausdrücklich nicht gegen die Praxis der Vorbehalts-Rechtsprechung selber, sondern allein gegen ihre „Verschleierung“ durch die Soldaten-Formel. Denn die Annahme, daß schrankenvorbehaltlose Grundrechte unter dem ungeschriebenen Vorbehalt etwa des Bürgerlichen Rechts oder der öffentlichen Ordnungsgesetze stehen (die allerdings jeweils ihrerseits verfassungskonform auszulegen seien) ist nach Kriele388 ganz unvermeidlich und auch rechtlich richtig.389 Wollte man nicht anerkennen, daß z. B. auch das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht der Kunstfreiheit nach der Lehre der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Zivilrecht unter dem Vorbehalt des (zwar im Lichte der Verfassung auszulegenden) Zivilrechts steht, so könnte man – was eben in der Konsequenz der zitierten Formeln des Bundesverfassungsgerichts liege – dem Trompetenspieler nicht mehr abverlangen, sich dabei an den zivilrechtlichen Nachbarschutz zu halten. Vielmehr müßte der Nachbar (und sei es durch ärztliche Gutachten) erst dartun, durch den Lärm tatsächlich in seiner körperlichen Unversehrtheit iSv. Art. 2 Abs. 2 GG betroffen zu sein, damit ein Gericht „unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles“ nunmehr der Frage nachgehen würde, ob das Grundrecht hier eingeschränkt werden kann – dies verVergl. Kriele, JA 1984, 629 (632 f. mit Verweis auf BVerfGE 30, 173 [199]). Diese Besonderheit des Mephisto-Beschlusses wird in der Tat vielfach übersehen, z. B. bei Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 113, der meint, das BVerfG habe im Mephisto-Beschluß „allen Versuchen einer Schrankenübertragung eine Absage“ [erteilt]. 385 BVerfG (Vorprüfungsausschuß des Zweiten Senats), NJW 1984, 1293 (1294). 386 Dieser Gedanke findet sich dann (in anderem Zusammenhang) bei Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum (1994), S. 482 ff., 493 mit FN 195, 594 f.: Grundrechte Dritter als Schutzbereichs-, nicht als Rechtfertigungsschranken. 387 Vergl. Kriele, JA 1984, 629 (635). 388 Vergl. Kriele, JA 1984, 629 (634 ff.). 389 Als Grundmodell dieses Vorbehalts gilt Kriele die frühzeitige Einschränkung der Freiheit auch der Berufswahl durch das BVerfG entgegen dem genauen Wortlaut des Art. 12 I GG (dazu terminogisch allerdings ungenau ders., JA 1984, 629 [630] mit Verweis auf BVerfGE 25, 1 ff.); vergl. ders., ebda., S. 638: die Rspr. zu Art. 12 I GG als Leitlinie, um die die Rspr. zu anderen vorbehaltlosen Grundrechten zwar noch „wie eine Kompaßnadel“ schwanke, für die aber nichts anderes gelten könne. 383 384

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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lange aber in der Praxis niemand.390 Nichts anderes gelte dann aber auch von öffentlich-rechtlichen (also straf- oder verwaltungsrechtlichen) Vorschriften, die immanente, weil zum Drittschutz erforderliche Grundrechtsschranken konkretisierten.391 bb) Kritik Krieles Darlegungen anhand wichtiger bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen wirken zwar auf den ersten Blick überzeugend, setzen sich jedoch letztlich nicht mit dem herrschenden Paradigma auseinander, nachdem der Gesetzgeber berufen ist, Grundrechtskollisionen durch entsprechende konkretisierende Gesetzgebung zu lösen, die dann durch die Rechtsprechung ihrerseits güterabwägend auszulegen ist.392 Die Befugnis zur Regelung und Grundrechtskonkretisierung qua Gesetz muß dem Gesetzgeber schon deshalb zukommen, weil jedenfalls nach ganz herrschender Auffassung „verfassungsunmittelbare Eingriffe“ nicht zulässig sind.393 Dies zugrundegelegt, muß die Tatsache, daß Gerichte den Konflikt zwischen dem Trompete-Spieler und seinem ruhebedürftigen Nachbarn unmittelbar aus dem Bürgerlichen Recht lösen, statt im Einzelfall die schrankenvorbehaltlose Kunstfreiheit (in deren Licht zwar auch das Nachbarrecht ausgelegt werden mag) ins Feld zu führen, nicht als Beleg dafür gesehen werden, daß die Kunstfreiheit unter einem Vorbehalt des Bürgerlichen Rechts stünde.394 Sondern sie ist – jedenfalls nach herrschender Meinung – eher Ausdruck des Umstandes, daß der demokratische Gesetzgeber den angesprochenen Grundrechtskonflikt geregelt und die Grenzen der betroffenen Grundrechte, also auch des schrankenvorbehaltlosen, konkretisiert hat.395 Vergl. Kriele, JA 1984, 629 (634). Vergl. Kriele, JA 1984, 629 (635 f.). 392 Vergl. nur BVerfGE 41, 29 (50 f.); 93, 1 (22); 108, 282 (302 f.); vergl. auch Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999, S. 130: „Eine befriedigende Lösung kann vielleicht darin erblickt werden, daß aus dem angenommenen, unmittelbaren Zusammenprall mehrerer Grundrechtssphären ein Kraftfeld entsteht, das dem Gesetzgeber einen Spielraum eröffnet, einen Spielraum zur eigenständigen Konfliktschlichtung. [ . . . ] Hier ist die Grenze der „entscheidenden“ Verfassung erreicht. [ . . . ] denn [die Verfassung] hält für den engen Raum des Konflikts selbst keinerlei Maßstäbe zur Verfügung.“ (Hervorhebungen im Original). 393 Vergl. statt vieler BVerfGE 108, 282 (297); 83, 130 (142); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 314; anders Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (170); Lerche, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rd.Nr. 23. 394 Vergl. auch Muckel, in: FS Schiedermair (2001), S. 347 (350). 395 Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 256: „Alle genannten Beispielsfälle lassen sich auch ohne Gesetzesvorbehalt lösen. Der Musiker, der Kunstmaler und der Happening-Künstler führen durch ihr Verhalten eine Grundrechtskollision herbei. Das entgegenstehende Grundrecht rechtfertigt [ . . . ] die Begrenzung der Kunst390 391

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

Nach der hier vorgeschlagenen Sichtweise wird das Kollisionsparadigma der herrschenden Meinung jedenfalls für die hier interessierenden schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte den Vorgaben des Grundgesetzes und der sich aus ihnen ergebenden Grundrechtstheorie nicht gerecht. Denn mangels irgendeines gesetzlich vorgesehenen Schrankenvorbehalts fehlt dem einfachen Gesetzgeber schlicht die Kompetenz, die „Grenzen“ etwa der Kunstfreiheit zu „konkretisieren“. Eine solche Kompetenz steht dem Gesetzgeber gem. Art. 5 Abs. 2 GG etwa hinsichtlich der Meinungsfreiheit zu; der dort festgeschriebene Schrankenvorbehalt zugunsten der allgemeinen Gesetze beruft den demokratischen Gesetzgeber dazu, die Begrenzung der Meinungsfreiheit etwa durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) zu konkretisieren. Dieses durch den entsprechenden Schrankenvorbehalt vorgesehene Zusammenspiel von grundrechtlicher Freiheit des Einzelnen und demokratischer Gesetzgebung kann jedoch nicht einfach auf die absoluten Grundrechte übertragen werden. Denn dies wäre letztlich die heute allgemein abgelehnte Schrankenleihe, die durch die Berufung auf (echte oder unechte) Grundrechtskollisionen (also mit Grundrechten anderer oder Rechtswerten von Verfassungsrang) nur kaschiert würde. Richtigerweise ist aus der schrankenvorbehaltlosen Gewährleistung der absoluten Grundrechte vielmehr deren Kollisionsfreiheit396 zu folgern. Für eine gesetzliche Regelung echter oder unechter Grundrechtskollisionen gibt es hier keinen Bedarf. Als absolute negative Kompetenznormen bieten diese Grundrechte nicht einschränkbaren oder relativierbaren Schutz vor der Verfolgung als Andersdenkender. Da es sich bei ihnen nicht (auch) um auf das forum externum bezogene Erlaubnisnormen handelt, sind sie in die Rechtsordnung eingeordnet.

Auch wird die Vorstellung eines „Vorbehalts“ des Bürgerlichen oder des öffentlichen Ordnungsrechts jedenfalls der Entscheidung betrefflich des „Sprayers von Zürich“ nicht gerecht.397 Dort hatte der Vorprüfungsausschuß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts festgestellt, die Reichweite der von Art. 5 Abs. 3 GG gewährleisteten Kunstfreiheit erstrecke sich „von vornherein“ nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum freiheit. Der Trompeter muß die körperliche Unversehrtheit seiner Nachbarn (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) [ . . . ] achten.“ 396 Dazu allgemein Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 198 f.: „Von der Kollision der Interessen der Bürger wird auf eine Kollision ihrer Grundrechte geschlossen, von einer faktischen Kollision auf eine rechtliche. Der Schluß von der einen Kollision auf die andere wird nicht nur zu deskriptiven Zwecken gezogen, sondern mit ihm wird auch eine dogmatische Absicht verfolgt. Die Grundrechtskollision soll nicht nur ein Problem beschreiben, sondern auch gleich einen Lösungsansatz formulieren. Die rechtliche Lösung des faktischen Interessenkonflikts soll sich aus dem Aufeinanderprallen der beiden Grundrechte ergeben. Nach dem mechanischen Ansatz der Grundrechtskollision ergibt sich die rechtliche Lösung des Interessenkonflikts durch den Aufeinanderprall der beiden Grundrechte, so wie die Resultante aus dem Kräfteparallelogramm zweier kollidierender Billiardkugeln. Wo die unterschiedlichen Grundrechte sich so sehr nähern, daß sie aufeinanderstoßen, paßt kein Blatt mehr dazwischen. Die rechtliche Lösung des Konflikts ergibt sich unmittelbar aus dem Kräfteverhältnis der Grundrechte selbst. Dem Gesetzgeber kann allenfalls noch ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zuerkannt werden [ . . . ]. Schon der Schluß von der Kollision der Interessen auf eine Kollision der Grundrechte muß stutzig machen. Während die Interessen der Grundrechtsträger gegeneinander gerichtet sind, sind es ihre Grundrechte nicht.“ 397 So aber Kriele, JA 1984, 629 (636).

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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Zwecke der künstlerischen Entfaltung.398 Diese Formulierung läßt aber gerade nicht auf einen „Vorbehalt des Bürgerlichen Rechts“ schließen, sondern viel eher auf das hier vertretene Konzept der Einordnung der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte in die Rechtsordnung, das einen „Vorbehalt“ gerade überflüssig werden läßt. Für einen überzeugenden, weil auf eine gleichheitsförmige Gesetzesbefolgungspflicht hinauslaufenden Ausgleich zwischen den Rechten und Interessen des Graffitti-Künstlers, der fremde Hauswände besprüht, und denen der betroffenen Hauseigentümer (wie ihn Kriele ja einfordert) wäre durch die Annahme eines „ungeschriebenen Gesetzesvorbehalts“ der Kunstfreiheit, der einen Eingriff in dieses Grundrecht durch oder aufgrund von § 303 StGB erlaubte, auch nicht viel gewonnen, da u.U. immer noch die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes im Einzelfall zu klären wäre. Wollte man die bei der Annahme eines „Schrankenvorbehalts“ notwendig werdende Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall nämlich ernstnehmen, so müßte jedenfalls in manchen Fällen der Graffitti-Sprayer trotz erwiesener Sachbeschädigung straffrei ausgehen, weil eine Bestrafung „nach den Umständen des Einzelfalles unverhältnismäßig“ wäre. Fordert man hingegen – wie es wohl der allgemeinen Ansicht im Ergebnis entsprechen dürfte – schon aus Gleichheitsgesichtspunkten die Bestrafung eines jeden überführten Sachbeschädigers (wobei dann die Umstände des Einzelfalles nur in das Strafmaß einzufließen hätten), entlarvt man zugleich die Vorstellung eines „Vorbehalts der Rechtsordnung“ als leeren Formalismus, denn das Ergebnis der Vorbehaltsprüfung steht ja offensichtlich fest. In dieser Überlegung zeigt sich auch der Sinn der Argumentation in der Sprayer-von-Zürich-Entscheidung, die Kunstfreiheit umfasse Sachbeschädigung „von vornherein“ nicht, der dann nur „im übrigen“ die Überlegung nachgeschoben wird, auch das Eigentum Dritter sei grundrechtlich geschützt. Wäre hingegen die Feststellung, auch das Eigentum der Hauseigentümer sei grundrechtlich geschützt, der Kern der Argumentation, so würde diese darauf hinauslaufen, daß die Kunstfreiheit dort endet, wo die Freiheit des Eigentums beginnt. Dadurch wäre aber, wie bereits aufgezeigt, ebenfalls nichts gewonnen, da diese Überlegung nur zum Prioritätenproblem führt. Dieses besteht in den (miteinander verwandten) Fragen (1.) wo genau das eine Grundrecht enden und das andere beginnen soll, und (2.) warum etwa die Kunstfreiheit dort enden soll, wo das Eigentum beginnt, und nicht etwa umgekehrt, welches Grundrecht also wann und warum vorgehen, Priorität genießen soll. Eine sinnvolle Lösung, die also vorhersehbare und verallgemeinerungsfähige Ergebnisse verspricht, liegt daher nur in der hier vorgeschlagenen Annahme, daß die Freiheit der Kunst, gerade weil sie vorbehaltsschrankenlos gewährleistet („absolut“) ist, zum Eingriff in Rechte Dritter nicht befugt,399 weil sie keine Erlaubnisnorm im forum externum darstellt, was zur Folge hat, daß ihr GewährleiBVerfG, NJW 1984, 1293 (1294). Zur Figur „Grundrechte als Erlaubnisnormen“ vergl. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 206 ff. 398 399

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

stungsgehalt keine ansonsten rechtlich verbotenen Handlungen umfaßt. Nach herkömmlicher Terminologie könnte man diese Annahme dahingehend zum Ausdruck bringen, daß der „Schutzbereich“ des Grundrechts durch § 303 StGB nicht berührt werde400; will man diesen Sachverhalt mit dem Wort „Vorbehalt“ fassen, so könnte man (im Sinne Friedrich Kleins) von einem „Gewährleistungsvorbehalt“ sprechen. Das hier in erster Linie interessierende Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit wird durch Krieles Theorie des (konstitutionalisierten) Rechtsordnungsvorbehalts der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte – jedenfalls, insoweit Kriele geltend macht, seine Theorie gebe bereits die eigentliche Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts wieder – nicht unmittelbar berührt.401 Das Bundesverfassungsgericht sieht die Glaubens- und Gewissensfreiheit in ständiger Rechtsprechung nicht unter einen Vorbehalt der Rechtsordnung gestellt.402 Allerdings folgt das Bundesverfassungsgericht gerade auch für die Glaubens- und Gewissensfreiheit dem erwähnten (von Kriele nicht weiter thematisierten) Paradigma, nach dem der Gesetzgeber berufen ist, (angebliche) Grundrechtskollisionen gesetzgeberisch aufzulösen.403

4. Kritik des herrschenden Paradigmas: jedenfalls der einfache Landesgesetzgeber kann Bundesgrundrechte nicht „konkretisieren“ Nach hier vertretener Auffassung ist dieses Paradigma für die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte, wie bereits dargelegt, jedoch ohnehin abzulehnen, da es deren Kollisionsfreiheit verkennt und sie unter der Hand und letztlich contra constitutionem zu Grundrechten unter Schranken- oder gar Ausgestaltungsvorbehalt umfunktioniert. Aber auch wer – mit der ganz herrschenden Auffassung – diesem Paradigma auch bei absoluten Grundrechten folgen wollte, müßte weiter 400 Nach hier vertretener Auffassung sollte der Begriff „Schutzbereich“ im Zusammenhang mit schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten jedoch vermieden werden, da er methodisch nur bei mit Schrankenvorbehalt versehenen und mithin „demokratisch hegbaren“ Grundrechten sinnvoll ist. Bei diesen bildet der „Schutzbereich“ dann ein Feld demokratischer und dabei zugleich verhältnismäßiger und gleichheitsförmiger Regelung bzw. Ausgestaltung gemeinwohlverträglichen, integrativen Freiheitsgebrauchs. Schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte sind jedoch, wie der Name schon sagt, nicht einschränkbar, die Erfindung neuer Schranken kommt methodisch nicht in Betracht. Daher sind sie als punktuelle Gewährleistungen zu verstehen; der Schwerpunkt ihrer Prüfung verlagert sich methodisch richtigerweise ganz und gar in die Ermittlung ihres jeweiligen Gewährleistungsgehalts. 401 Vergl. zur Heransgehensweise des BVerfG an Fragen der Glaubensfreiheit schon (lobend) Leisner, Der Abwägungsstaat (1997), S. 155. – Kriele, JA 1984, 629 (631 f.) behandelt lediglich das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG) anhand von BVerfGE 28, 243 (261 ff.) als Beispiel eines (angeblichen) Vorbehalts des besonderen Gewaltverhältnisses. 402 BVerfGE 108, 282 (297); 93, 1 (21). 403 BVerfGE 108, 282 (302 f.); 41, 29 (50 f.); 41, 88 (106 f.).

VIII. Der Verfassungsvorbehalt

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unterscheiden, ob der „Konkretisierungsvorbehalt“ vom Bundes- oder Landesgesetzgeber wahrgenommen werden soll.404 Denn die „Konkretisierung“ (angeblicher) „immanenter Grenzen“ der Bundesgrundrechte durch unterschiedliche Landesgesetzgeber405 würde Art. 31 GG widersprechen.406 Dies gilt umso mehr, da die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, nach der Grundrechte kollidieren und daher vom Gesetzgeber konkretisiert werdem müssen, lediglich eine Theorie über das Grundgesetz ist, während Art. 31 GG eine positiv geltende verfassungsrechtliche Rechtsvorschrift von größter Klarheit und Deutlichkeit bildet. Die Theorie der landesgesetzlichen Konkretisierbarkeit kann sich hingegen nur auf Art. 7 GG stützen (in dem vom Landesgesetzgeber freilich nicht die Rede ist) sowie auf die Kompetenzkataloge aus Art. 30, 70 ff. GG, aus denen implizit folgt, daß etwa der „Schulgesetzgeber“ 407 (um den es in den genannten Fällen stets ging) notwendig der Landesgesetzgeber ist. Ob sich aufgrund dieser „impliziten Doppelkonstruktion“ jedoch die klare Vorschrift aus Art. 31 GG relativieren läßt, erscheint fraglich; näherliegend ist der Schluß, daß jedenfalls der Landesgesetzgeber die Glaubens- und Gewissensfreiheit schlicht zu achten (und nicht zu „konkretisieren“) hat. Jedenfalls überzeugt es nicht, wenn Merten den Verweis auf Art. 31 GG als „Torheit“ abtun will, da diese Vorschrift eine Normenkollision voraussetze, das Grundgsetz selbst jedoch „seinen Vorrang zu Gunsten des Landesrechts zurücknimmt, wie dies durch Art. 7 Abs. 1 GG geschieht.“408 Denn die Bindung des Landesgesetzgebers an Art. 4 Abs. 1 und 2 als unmittelbar geltendes (Art. 1 Abs. 3 GG) Bundesrecht (Art. 31 GG) wird durch Art. 7 Abs. 1 GG weder suspendiert noch relativiert, da hierfür jedenfalls eine grundgesetzliche Vorschrift nach Art. des Art. 17a GG erforderlich wäre. Vollends offensichtlich wird das verfassungsrechtliche Problem, wenn die Konkretisierungen durch die unterschiedlichen Landesgesetzgeber jeweils zu ganz unterschiedlichen, die Glaubens- und Gewissensfreiheit betreffenden Rechtslagen Vergl. auch noch unten unter Teil B, I 3. BVerfGE 108, 282 (302 f.); 41, 29 (50 f.); 41, 88 (106 f.); das BVerfG pflegt die Konkretisierungskompetenz des Landesgesetzgebers für Bundesgrundrechte nicht eigentlich zu begründen, sondern setzt sie unter Erwähnung des Art. 7 GG letztlich voraus. 406 Dazu Renck, ZRP 1996, 16 (18): „Es kann als gesichert gelten, daß das Organisationsrecht der Länder nur nach Maßgabe der bundesverfassungsrechtlichen Grundrechtsordnung besteht. Insoweit ergibt sich die richtige Antwort bereits aus dem durch Art. 31 GG festgeschriebenen Vorrang der Bundesverfassung. Mit dem staatlichen Organisationsrecht der Länder kann jedenfalls die Geltung individueller Grundrechte nicht moderiert werden. Das Schulrecht ist daher ebensowenig imstande, die Religionsfreiheit und staatliche Bekenntnisneutralität zu mindern, wie etwa das Kommunalrecht die Gleichbehandlung von Mann und Frau.“ 407 Vergl. auch noch unten unter Teil B, I 4 a). 408 Vergl. Merten, in: FS Stern (1997), S. 987 (1003 f.) (gegen Renck, ZRP 1996, 16 [18]). 404 405

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A. Schrankenvorbehaltlose Grundrechte im System des Grundgesetzes

in den verschiedenen Bundesländern führen.409 Eine gänzlich unterschiedliche „effektive Grundrechtsgeltung“ in den unterschiedlichen Bundesländern kann aber nicht nur wegen Art. 31 GG, sondern auch schon wegen Art. 1 Abs. 3 GG schwerlich den Vorgaben des Grundgesetzes entsprechen. Dabei ist es zwar unbestreitbar richtig, daß die Rolle der Religion in der Schule – die die zitierten Entscheidungen betreffen – starken regionalen Unterschieden unterliegt. Davon abgesehen, daß diese regionalen Unterschiede nicht zwingend mit den Grenzen der Bundesländer zusammenfallen (eine „regionale“ Grundrechtskonkretisierung jedoch nicht erwogen wird), ist durch diese Beobachtung über die Zulässigkeit der Konkretisierung eines Bundesgrundrechts wie der Glaubens- und Gewissensfreiheit durch den Landesgesetzgeber aber noch nichts gesagt; auch dies wäre wieder ein Schluß vom Sein auf das Sollen. Regionale Kulturunterschiede bestehen außerdem in vielerlei Hinsicht. So wird auch etwa der Wert bzw. die Gemeinwohlerheblichkeit des Privateigentums (auch an Grund und Boden und an Produktionsmitteln, einschließlich der Möglichkeit zur Bildung und Vererbung „privater Riesenvermögen410“) von der Bevölkerung unterschiedlich beurteilt, und hierbei lassen sich auch regional unterschiedliche Prägungen zwischen Mecklenburg und Hamburg oder zwischen Brandenburg und Baden-Württemberg ausmachen. In diesen Fragen wird aber auch keine unterschiedliche Möglichkeit der Konkretisierung von Grundrechten durch die Landesgesetzgeber behauptet. Nimmt man die Befugnis des Landesgesetzgebers zu jeweils eigener gesetzlicher Konkretisierung von Grundrechten und ihren Grenzen ernst, so würde sich gerade die Eigentumsgarantie wegen ihrer Normgeprägtheit zu unterschiedlicher Ausgestaltung durch die Landesgesetzgeber anbieten – dies wird aber nirgends gefordert oder für verfassungslegitim gehalten.

409 Explizit für zulässig erklärt in BVerfGE 108, 282 (303); vergl. auch schon BVerfGE 93, 1 (25 [33]) (Minderheitenvotum der Richter Seidl, Söllner und Haas): „Im übrigen ist [ . . . ] von den besonderen Verhältnissen in Bayern auszugehen.“ 410 Vergl. Art. 123 III 1 BayVerf.

B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts I. Kopftuchurteil Am Beispiel des „Kopftuch-Urteils“ des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 20031, das aus verschiedenen Gründen viel Widerspruch, aber auch manche Zustimmung gefunden hat, läßt sich die in Jahrzehnten herangewachsene Problematik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Kernfragen der Glaubens- und Gewissensfreiheit besonders gut exemplifizieren. In der Entscheidung lassen sich gleich mehrere Fragen- und Problemkreise ausmachen, in denen das Bundesverfassungsgericht die aufgeworfenen grundrechtsdogmatischen Fragen kaum überzeugend löst. Aber auch die literarische Kritik am Bundesverfassungsgericht – ähnlich auch das Minderheitenvotum der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff2 – wird der eigentlich sich stellenden Aufgabe nicht gerecht, ausgehend von Wortlaut und Systematik der zugrundezulegenden Grundrechtsbestimmungen radikal zu analysieren, was das Grundgesetz im zugrundeliegenden Fall konkret gewährleistet. Dies wäre vor allem deswegen notwendig gewesen, weil gerade die Dogmatik der Glaubens- und Gewissensfreiheit seit Jahrzehnten von Unklarheiten, Mißverständnissen und teils auch Fehlvorstellungen mitgeprägt wird, die sich zumal im Kopftuch-Urteil – wie aufzuzeigen sein wird – überlagern und einander gegenseitig verstärken. 1. Religiöse Freiheit auch für Angehörige des öffentlichen Dienstes im Dienst? Die Kritik am Senat konzentriert sich eigentlich auf dessen Vorstellung, daß die Nichteinstellung der Beschwerdeführerin überhaupt einen Eingriff in deren Religionsfreiheit bilde, der dann weiter den vom Senat postulierten Gesetzesvorbehalt auslöse. Dadurch werde die funktionelle Begrenzung des Grundrechtsschutzes für Beamte verkannt. Wer Beamter werde, stelle sich in freier Willensentschließung auf die Seite des Staates und könne sich daher nur im Rahmen des Funktionsvorbehalts des öffentlichen Dienstes auf Grundrechte berufen.3 BVerfGE 108, 282 ff. BVerfGE 108, 314 ff. 3 Vergl. BVerfGE 108, 282 (315) (Minderheitenvotum); vergl. auch Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 4 Rd.Nr. 120. 1 2

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

a) Bedeutung der speziellen Gleichheitsrechte Dem ist aber – einmal abgesehen davon, daß mit dem Verweis auf den Funktionsvorbehalt des öffentlichen Dienstes noch nicht entschieden ist, welche Weltanschauungen und vor allem Verhaltensweisen durch ihn vom Grundrechtsschutz des Beamten ausgenommen wären – so nicht zuzustimmen. Auf den Punkt gebracht: die Auffassung des Minderheitenvotums wäre genau dann zutreffend, wenn das Grundgesetz über die religiöse Freiheit keine weiteren Aussagen enthielte als die in Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie allenfalls Art. 140 iVm. Art. 136 – 141 WRV enthaltenen. Dann ließe sich dem grundrechtlichen Anspruch der Beschwerdeführerin die einfache Grundrechtstheorie entgegenhalten, daß die Grundrechte dem Schutz des Bürgers dienen, der Beamte aber insofern kein Bürger ist, als er den Staat repräsentiert. Aber dem ist ja nicht so: denn die religiöse Freiheit (freilich: des Bürgers und nicht des Beamten im Dienst!) wird ja ergänzt durch die speziellen Gleichheitsrechte4 aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und hier v. a. Art. 33 Abs. 3 GG bzw. Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 2 WRV. aa) Keine Gleichsetzung der Konstellationen aus Kopftuch- und Kruzifixentscheidung Vor diesem Hintergrund muß auch die Kritik des Minderheitenvotums an der mangelnden Auseinandersetzung der Senatsmehrheit mit dem Kruzifix-Beschluß5 des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts verstanden werden.6 Dem alltäglichen Verständnis – dem das Minderheitenvotum insofern nahesteht – ist in der Tat unbegreiflich, warum ein Kruzifix an der Wand die negative Religionsfreiheit der Eltern und Schüler verletzen soll, nicht aber das viel auffälligere Kopftuch der das Unterrichtsgeschehen ständig zentral bestimmenden Lehrerin.7 Sieht man das Kopftuch als Ausdruck der aktiven Religionsfreiheit der Lehrerin aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, so wirkt es ungereimt, daß die negative (oder eben abweichend-positive) Religionsfreiheit der Schüler und Eltern hier zurücktreten sollte, da ja jede Religionsäußerung der Lehrerin durch den Funktionsvorbehalt ohnehin beschränkt sein müßte. Sieht man hingegen, daß der von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Anspruch („Einstellung trotz Kopftuch“) sich eben nicht auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sondern auf das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 33 Abs. 3 GG („Bekenntnis darf kein Ausschlußkriterium sein!“) stützt, so muß man der Senatsmehrheit beipflichten, daß das Kopftuch der Lehrerin mit dem von Amts wegen 4 Vergl. zum Ganzen Lübbe-Wolff, in: Dreier, GG, Bd. 2, (1998), Art. 33 Rd.Nr. 26 und passim. 5 BVerfGE 93, 1 ff. 6 Vergl. BVerfGE 108, 282 (314) (Minderheitenvotum). 7 „Dass in der Schule kein Kreuz hängen darf, aber Symbole, die muslimische Glaubensüberzeugungen repräsentieren, erlaubt werden können [ . . . ] wird für viele Bürger unverständlich sein und bleiben“, so Bader, NJW 2004, 3092 (3094).

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angebrachten Kruzifix – im vorliegenden Fall jedenfalls8 – nicht gleichgesetzt werden kann.9 bb) Relevanz des „Sonderstatusverhältnisses“? Weil es im Kern auch nicht um die Anwendung eines Freiheitsgrundrechts geht, bedarf es auch nicht einer näheren Diskussion des „besonderen Gewaltverhältnisses“10 bzw. Sonderrechts- oder Sonderstatusverhältnisses, falls es dergleichen heute überhaupt noch gibt.11 Überhaupt wird es in der zukünftigen Grundrechtsdogmatik der Glaubens- und Gewissensfreiheit weniger darum gehen, „Eingriffe“ in „grundrechtliche Schutzbereiche“ durch dogmatische Konstruktionen wie eben das besondere Gewaltverhältnis zu „rechtfertigen“, sondern eher darum, zu ermitteln, was das Grundrecht überhaupt (punktuell) gewährleistet. b) Gewährleistungsgehalt der speziellen Gleichheitsrechte Das religiöse Bekenntnis ist als Ausschlußgrund der „Zulassung“ zu einem öffentlichen Amt gerade ausgeschlossen. Daher liegt der Fall in dieser Hinsicht jedenfalls nicht so eindeutig, wie das Minderheitenvotum ihn sieht. Das Grundgesetz spricht nur vom „Zugang“ (Art. 33 Abs. 2) bzw. von der „Zulassung“ (Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG iVm. 136 Abs. 2 WRV) zu öffentlichen Ämtern oder auch (Art. 3 Abs. 3) ganz allgemein vom Verbot der „Benachteiligung“ wegen religiöser „Anschauungen“ oder des „religiösen Bekenntnis[ses]“ (Art. 33 Abs. 3 GG bzw. 136 Abs. 2 WRV). Dies alles scheint auf die Einstellung in ein öffentliches Amt gemünzt, nicht aber auf die Amtsführung nach Einstellung, so daß das Grundgesetz – abgesehen von Art. 33 Abs. 5 – zum Problem der funktionellen Begrenzung 8 Die Grenzen dieses Ansatzes zeigt allerdings – unfreiwillig – die Verdeutlichung von Sacksofsky, NJW 2003, 3297 (3299) auf: „[Das] Kopftuch einer Lehrerin [ist] Ausdruck ihres individuellen Glaubens, der dem Staat nicht zugerechnet wird. Überspitzt formuliert: Niemand käme auf die Idee, aus dem Kopftuch einer einzelnen Lehrerin zu schließen, dass der deutsche Staat sich zum Islam bekenne.“ – In der Tat, allerdings gilt das nur, solange die Kopftuchträgerinnen eine kleine Minderheit sind. Würden sie, sei es auch an einzelnen Schulen (etwa in Berlin-Kreuzberg) zur Mehrheit oder gar zur Allgemeinheit, so würde sich ebendieses Urteil aufdrängen, und zwar übrigens stärker als beim Kruzifix, das auch als allgemeines Kultur- und Traditionssymbol (vergl. BVerfGE 108, 282 [314] [Minderheitenvotum]) verstanden werden kann. Dann würden sich übrigens auch völlig neue Grundrechtsfragen mit kollektiver Komponente stellen: etwa ob eine kopftuchtragende, geeignete Lehrerin trotzdem nicht eingestellt werden kann, weil es schon zu viele andere Kopftuchträgerinnen gibt. Insgesamt dürfte das Grundrechtssystem auf dieser schiefen Ebene wenig zu gewinnen haben. Siehe auch noch unten, B I 6 b). 9 Vergl. BVerfGE 108, 282 (305). 10 Vergl. BVerfGE 108, 282 (316 f.) (Minderheitenvotum). 11 Grundlegend BVerfGE 33, 1 ff.; zum Ganzen jetzt Kokott, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 22 Rd.Nr. 62 ff.

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

des Grundrechtsschutzes für Beamte zunächst einmal schweigt. Allerdings macht eine wirkliche Unterscheidung zwischen Kriterien des Zugangs zu einem öffentlichen Amt und der funktionellen Begrenzung des Grundrechtsschutzes bei seiner Ausübung offensichtlich keinen Sinn: wer das Amt nicht so auszuüben vermag, wie der Grundrechtsschutz der betroffenen Bürger – hier also Schüler und Eltern – bzw. die Funktionsfähigkeit des jeweils betroffenen Teils des öffentlichen Dienstes es erfordern, der ist auch nicht geeignet im Sinne des Zugangsrechts. Allerdings scheint jedenfalls das spezielle Gleicheitsrecht aus Art. 33 Abs. 3 GG das religiöse Bekenntnis als Zugangs- (und mithin Amtsführungskriterium, denn der Satz von der Sinnlosigkeit einer Kriterienunterscheidung muß in beide Richtungen gelten!) auszuscheiden. Das Grundgesetz scheint hier also zu dekretieren: das Bekenntnis steht niemals dem Amt entgegen. Wird es dem Bewerber gleichwohl entgegengehalten, so entspricht die mögliche Verletzung eines grundrechtlichen Teilhabeanspruchs der Konstellation eines Eingriffs in die Freiheitssphäre des Bürgers und wird dogmatisch ebenso abgearbeitet. 12 aa) „Religiöses Bekenntnis“ Das führt aber zu der Fragestellung, was denn das religiöse Bekenntnis im Sinne der Vorschrift bzw. im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG eigentlich ist; dabei ist zu erwarten, daß der Begriff des religiösen bzw. weltanschaulichen Bekenntnisses in beiden Vorschriften derselbe ist13, denknotwendig ist dies jedoch nicht. Dazu ein einfaches Gedankenexperiment: bewirbt sich jemand in einer öffentlichen Einrichtung als Koch, so darf er bei sonstiger Eignung keinesfalls deswegen abgelehnt werden, weil er „Jude ist“. Dies eindeutig festzulegen ist der Sinn der speziellen grundrechtsgleichen Gleichheitsrechte, hier v.a. Art. 33 Abs. 3 GG. – Erklärt er hingegen, er sei prinzipiell nicht bereit, Fleisch in Gefäßen oder mit sonstigem Besteck und Geschirr zu bereiten, die vorher mit Milchprodukten in Berührung gekommen seien oder umgekehrt, so ist er jedenfalls ungeeignet, aber nicht, weil er „Jude ist“, sondern weil zu seiner Beschäftigung der gesamte Betrieb in einer schwer zu organsierenden und ansonsten im Hinblick auf die weitere Wahrnehmung dessen öffentlich-rechtlicher Ziele überflüssigen Weise neu geordnet werden müßte. – Einen Grenzfall könnte man in dem Fall erblicken, daß der Bewerber sich nur weigert, Fleisch in Butter anzubraten, und stattdessen, religiös problemlos, Pflanzenöl verwenden will. Hier ließe sich argumentieren, daß diese Umstellung sich ohne größere Veränderung der Gesamtorganisation der Küche durchführen ließe, so daß eine Ablehnung des Bewerbers als ungeeignet als unverhältnismäßig erschiene, zumal vor dem Hintergrund, daß seine Weigerung auf seinen religiösen Glauben zurückzuführen ist. Solcherlei Abwägungen sind aber kaum vom Grundgesetz gewollt und führen nach der Lebenserfahrung nur zu immer komplizierteren und schwerer zu entscheidenden neuen Grenzfällen. Sinn der speziellen Gleichheitsrechte für den Zugang zu öffentlichen Ämtern ist der Schutz dessen, was jemand ist, also Vergl. Sacksofsky, NJW 2003, 3297 (3298). Vergl. nur Senger, Das Spannungsverhältnis zwischen der Religionsfreiheit und der staatlichen Neutralitätspflicht im öffentlichen Dienst (2003), S. 35. 12 13

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des forum internum, und des forum externum insofern, als daß niemand falsche Tatsachen über sich soll vortäuschen müssen, also etwa: Katholik, CDU-Anhänger, Pazifist und dergleichen zu sein. Die speziellen Gleichheitsrechte haben aber nichts zu tun mit dem voraussichtlichen oder sogar explizit angekündigten Verhalten im Amt, der Amtsführung: geeignet ist nur, wer das Amt ganz und gar so auszuführen willens und bereit ist, wie der (demokratisch legitimierte!) Dienstherr es will. Das Demokratieprinzip setzt die Anpassung des Beamten an die Vorstellungen des Dienstherren unbedingt voraus; ein Staat, in dem Beamte ihren Dienst nach je eigenen, grundrechtlich unterfütterten Vorstellungen versehen, wäre eine Art Beamtenfeudalismus.

bb) Kein Recht auf religiöse Gestaltung der Amtsgeschäfte Obwohl also zwar nicht das Grundrecht auf Religionsfreiheit, wohl aber die grundrechtsgleichen speziellen Gleichheitsrechte, v.a. die aus Art. 33 Abs. 3 GG, beim Zugang zu öffentlichen Ämtern eine entscheidende Rolle spielen, gibt es jedenfalls kein grundrechtsgleiches Recht auf Änderung der Amtsgeschäfte gegen den Willen des Dienstherrn. Auch das Tragen eines Kopftuches ist jedenfalls ein äußeres Verhalten und keine innere Eigenschaft und wird insofern vom speziellen Gleichheitsrecht aus Art. 33 Abs. 3 GG nicht berührt.14 Daß die Senatsmehrheit aber davon ausgeht, liegt daran, daß sie die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit der „Gesundbeter-Entscheidung“15 – nämlich daß die Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung im Sinne eines einheitlichen Grundrechts auch das Recht umfasse, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln16 – vom Freiheits- und Abwehrgrundrecht nun auch auf das grundrechtsgleiche spezielle Gleichheitsrecht aus Art. 33 Abs. 3 GG (bzw. 136 Abs. 2 WRV) überträgt. Genau dies ist der Mechanismus, mit dem die Senatsmehrheit ein Grundrecht, das aus dem Grundgesetz schon in der reinen Eingriffskonstellation dem Bürger nicht zusteht, nun sogar dem Beamten im Dienst grundsätzlich (d. h. mangels einer abweichenden einfach14 Vergl. auch Depenheuer, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rd.Nr. 62 a.E., 81 m. w. N.; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 37 IV 1 (S. 325). 15 BVerfGE 32, 98 (106 f.); vergl. auch bereits BVerfGE 24, 236 (245) sowie E 33, 23 (28); 41, 29 (49); 44, 37 (49 f.); 83, 341 (354 ff.); 108, 282 (297). 16 Diese Auffassung läuft auf eine allgemeine glaubensgeleitete Handlungsfreiheit hinaus, die – wie das BVerfG ja in ständiger Rspr. selber meint – ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet wäre. Damit gäbe es also neben der allgemeinen, nicht glaubensgeleiteten Handlungsfreiheit iSd. Elfes-Konstruktion (BVerfGE 6, 32 [36 f.]) noch eine weitere, diesmal schrankenvorbehaltlos gewährleistete allgemeine Handlungsfreiheit, für die der Grundrechtsträger sich auf Glauben oder Weltanschauung berufen müßte. Dies wäre aber nicht nur praktisch unsinnig (da man die Richtigkeit der Behauptung, ein Handeln sei religions-, weltanschauungs- oder gewissensgeleitet, nur sehr eingeschränkt überprüfen kann: grundlegend Luhmann, AöR 90 [1965], 257 [258 ff.]; vergl. zum Ganzen auch Vosgerau, ZRP 1998, 84 f.), sondern v.a. auch ein eklatanter Widerspruch zu den Privilegierungsverboten aus Art. 3 III 1 GG bzw. 140 GG iVm. Art. 136 I, II WRV.

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gesetzlichen Regelung) zuerkennen will. Dies entspricht strukturell übrigens dem Mechanismus, der schon die weite Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Freiheit des Glaubens überhaupt hervorbrachte: war nämlich in der Aktion-Rumpelkammer-Entscheidung nur von einer weiten Auslegung des Grundrechtstatbestandsmerkmals „Glaube“ die Rede gewesen17, so wurde ab der Entscheidung zum Kreuz im Gerichtssaal18 – und zwar unter Berufung auf die Aktion-Rumpelkammer-Entscheidung – von einer extensiven Auslegung der Freiheit des Glaubens als solcher ausgegangen.19 Diese im Wege einer inhärenten Expansionsdynamik gewonnene, zu weite Auslegung des Freiheitsgrundrechts wird nun im Rahmen des KopftuchUrteils auch auf das spezielle Gleicheitsgrundrecht als Teilhaberecht übertragen. Im Ergebnis wird dadurch in der Tat „das Beamtenrecht auf den Kopf gestellt“20, wenn auch der Mechanismus komplizierter und unter Umständen auch zwangsläufiger ist, als das Minderheitenvotum und die literarische Kritik es suggerieren. Mit dem Hinweis, der Beamte stelle sich aufgrund einer eigenen Entscheidung auf die Seite des Staates und übe nicht eigene Freiheiten aus21, ist es wegen der die Freiheit des Glaubens ergänzenden speziellen Gleichheitsrechte noch nicht getan. Genauso richtig ist aber auch, daß diese grundrechtsgleichen Rechte dem Beamten oder dem Anwärter von allem Anfang an nur das Recht – und übrigens auch das nur in den Grenzen der Verfassung – gewähren, zu sein, wie er ist und was er ist, und darüber nicht täuschen oder lügen zu müssen, um ein öffentliches Amt zu erlangen.22 Der Beamte hat kein Recht, die Amtsführung ohne oder gar gegen den Willen des Dienstherren und ohne Umweg über das demokratische Procedere durch ein Tun, Dulden oder Unterlassen individuell umzugestalten.23 cc) Die radikale Gegenauffassung: besondere Persönlichkeitsprägung des Lehrerberufs (Böckenförde) Dies wird vielfach anders und von manchen sogar – und zwar unter der Annahme eines zusätzlichen, der Verfassung allerdings nicht zu entnehmenden LehrerpriBVerfG 24, 236 (246). BVerfGE 35, 366 (376). 19 Vergl. zum Ganzen schon Mückl, Der Staat 40 (2001), 96 (109 FN 77); vergl. bereits oben, Teil A II. 20 Vergl. Heike Schmoll, FAZ Nr. 223, 25. September 2003, S. 3. 21 Vergl. BVerfGE 108, 282 (315 ff.) (Minderheitenvotum). 22 Vergl. auch BVerfGE 75, 40 (70): „Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 liegt mithin nur dann vor, wenn eine Sonderbehandlung ihre Ursache in den durch dieses besondere Grundrecht bezeichneten Gründen hat, wenn also ein kausaler Zusammenhang zwischen einem der aufgeführten Gründe und der Benachteiligung oder Bevorzugung besteht [ . . . ]. Das Verbot des Art. 3 Abs. 3 [ . . . ] verbietet, wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („wegen“), nur die bezweckte Benachteiligung oder Bevorzugung, nicht aber einen Nachteil oder einen Vorteil, der die Folge einer ganz anders intendierten Regelung ist.“ Anders freilich dann BVerfGE 85, 191 (206). 23 So i.E. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität (1989), S. 216, der aber auf Art. 3 Abs. 3 GG abstellt (statt auf Art. 33 Abs. 2 und 3 GG). 17 18

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vilegs – geradezu gegensätzlich gesehen. Nach Ansicht Böckenfördes stehen dem Beamten im Dienst nicht nur Grundrechte („bürgerliche Freiheiten“) zu; sondern Aufgaben und Handeln speziell des Lehrers sollen sich darüber hinaus vom Hoheitshandeln anderer Behörden so maßgeblich unterscheiden, daß die für letztere entwickelten Begriffe für den Schulbereich „nicht ungeprüft“ gelten sollen.24 Anders als ein Richter oder Verwaltungsbeamter sei oder repräsentiere der Lehrer nicht einfach den Staat, sondern es sei gemäß der ihm anvertrauten Aufgabe und Funktion gerade die individuelle Persönlichkeit gefordert; diese dürfe keinesfalls durch nur unzureichende Zuerkennung der Grundrechtsausübung im Dienst „entpersönlicht“ werden.25 Aber das ist nicht richtig, eher ist das Gegenteil der Fall: z. B. mag im Fall einer Finanzbeamtin, die ohne wirkliches Ermessen im Einzelfall für Einkommenssteuerbescheide bei nichtselbständiger Tätigkeit letztlich nur Zahlen ausrechnet, und die außerdem kaum Außenkontakt hat, weder die Religionsfreiheit der Steuerbürger noch die Funktionsfähigkeit des Finanzamtes einen Verzicht auf das Kopftuch zwingend erfordern. Umgekehrt ist jedoch im Falle einer Lehrerin, die in der Tat permanent mit ihrer gesamten Persönlichkeit auf die ihr ausgelieferte Jugend einwirkt und außerdem, v.a. über die Notenvergabe, die Lebenschancen junger Menschen wesentlich mitbeeinflußt, eine besonders strenge, gewissermaßen „preußische“ Selbstzurücknahme, Lebens- und Selbstdarstellungsdisziplin zur Annahme der Beamteneignung erforderlich26; das öffentliche Schulwesen dient nicht der möglichst freien Entfaltung verbeamteter Individualisten27; gerade das Demokratieprinzip fordert die Unterordnung des Beamten unter den Willen des demokratisch legitimierten Dienstherren und duldet keinen „selbstherrlichen“ Beamtenfeudalismus.

2. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes: Systematische Grundlagen Das über den Umfang des grundrechtsgleichen, speziellen Gleichheitsrechts Gesagte kann für die Untersuchung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht ohne Belang bleiben, schon weil nicht anzunehmen ist, daß das Grundgesetz unter dem „Bekenntnis“ jeweils etwas gänzlich anderes versteht. Die besonderen Gleichheitssätze können ihrerseits nicht weitergehen als die Religionsfreiheit selbst.28 Dem unbefangenen Blick bieten Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fünf voneinander 24 Vergl. Böckenförde, NJW 2001, 723 (725 f.), auch mit Verweis auf VG Lüneburg, ebda. S. 767 (768 f.); ähnlich ders., FAZ Nr. 164, 17. Juli 2004, S. 41. 25 Vergl. Böckenförde, NJW 2001, 723 (726 f.); ähnlich Neureither, ZRP 2003, 465 (468). 26 So auch zu Recht das Minderheitenvotum zum Kopftuchurteil: „Die allgemeine Neutralitätspflicht gilt in besonderem Maße für Beamte, die das Amt des Lehrers an öffentlichen Schulen ausüben“ (vergl. BVerfGE, 108, 282 [324]) (Hervorhebung von mir). 27 Vergl. Depenheuer, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rd.Nr. 58. 28 Vergl. Halfmann, NVwZ 2000, 862 (865 f.); Hufen, NJW 2004, 575 (577).

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unabhängige, selbständige Schutzbereiche: Glaube, Gewissen, religiöses Bekenntnis, weltanschauliches Bekenntnis und Religionsausübung. Die auf jede genaue Konturierung eines grundrechtlichen Schutzbereiches letztlich verzichtende, extensive ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die auf die Annahme des „einheitlichen Schutzbereiches“ gegründet ist29, verdient gleichwohl begrenzt Zustimmung unter zwei Hauptgesichtspunkten: Erstens muß über den genauen Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 GG hinaus von einer einheitlichen Gewährleistung schon deshalb ausgegangen werden, weil sonst nur die „Religion“, nicht aber das Gewissen auch („ungestört“) „ausgeübt“ werden könnte; diese Annahme würde aber wiederum dem Privilegierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 2 WRV widersprechen30; damit ist indessen noch nichts darüber ausgesagt, wie weit die Gewährleistung der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Ergebnis reicht, also ob sie wirklich eine über die übrigen Spezialgrundrechte hinausweisende, mithin privilegierte und privilegierende Handlungsfreiheit (im forum externum) gewährleistet. Zweitens ist insofern von einem einheitlichen Schutzbereich auszugehen, als daß bei systematischer Betrachtungsweise die religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte von der religiöse wie areligiöse Verhaltensweisen umfassenden Gewissensfreiheit letztlich nicht sinnvoll zu trennen sind. Die Einhaltung religiöser Gebote ist die Gewissenspflicht des Gläubigen31; an ihrem Vorhandensein merkt man, daß jemand gläubig ist. Insofern bildet die Gewissensfreiheit das „systematische Muttergrundrecht“32 der Gewährleistung aus Art 4 Abs. 1 und 2 GG, die religiösen Vergl. zum Ganzen kritisch auch Schoch, in: FS Hollerbach (2001), S. 149 (154 ff.). Letztere Vorschrift hat gerade das BVerfG wiederholt als „vollgültiges Verfassungsrecht“ bezeichnet, vergl. BVerfGE 19, 206 (219); 19, 226 (236); 44, 59 (69). 31 Ähnlich Mahrenholz, in: FS Badura (2004), S. 749 (756). 32 Diese Aussage ist aber rein grundrechtssystematisch zu verstehen und hat daher nichts mit der rechtshistorischen Frage nach dem „Urgrundrecht“ zu tun. Für die Gewissensfreiheit als historisches „Urgrundrecht“ Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 33 (36 ff. mit FN 10) und Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte (1964), S. XI, jeweils mit Berufung auf Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 4. Aufl. 1927, in: Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte (1964), S. 1 (39 ff., 46); Jellinek ging jedoch davon aus, daß nicht die Gewissens-, sondern die Religionsfreiheit das historische Urgrundrecht sei; dies wird bei Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. 1993, S. 157 f., zutreffend wiedergegeben (Carl Schmitt [a. a. O.] irrt sich nur insofern, als daß 1919 die dritte, nicht die vierte Auflage des Jellinekschen Werkes erschien), weshalb sich Schnur, a. a. O., S. XI FN 8, eigentlich zu Unrecht auf Schmitt beruft. Vergl. aber zur historischen Verbindung zwischen Glaubens- und Gewissensfreiheit auch Bethge, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR VI, 2. Aufl. 2001, § 137 Rd.Nr. 4. – Ob Jellineks These von der religiösen Freiheit in den ersten US-amerikanischen Grundrechtskodifikationen als Ursprung des Entwicklungspfades zu den modernen Grundrechten richtig ist, ist strittig. Bejahend z. B. Stolleis, in: Paulson / Schulte (Hrg.), Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk (2000), S. 103 (107 ff.); verneinend Kriele, in: FS Scupin (1973), S. 187 (196 ff. m. w. N.); Hofmann, JuS 1988, 841 (845). Nach a.A. muß die Freiheit der Person als historisches Urgrundrecht gelten (so Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 [1999], Rd.Nr. 316 a.E.: Freiheit der Person „ältestes und elementarstes Grundrecht“; ähnlich 29 30

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Freiheitsrechte sind in systematischer Hinsicht jeweils Unterfälle der Gewissensfreiheit.33 Aus dieser grundrechtssystematischen Einordnung folgt jedoch nicht, daß im Sinne des Bundesverfassungsgerichts alle religiösen, weltanschaulichen und gewissensmäßigen Freiheiten des Grundgesetzes undifferenziert aus Art. 4 Abs. 1 GG abgeleitet und dadurch schon Art. 4 Abs. 2 GG, erst recht aber die übrigen Spezialgewährleistungen (Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG, 136 WRV) für überflüssig bzw. deklaratorisch erklärt werden dürfen. Denn da diese Spezialgewährleistungen nun einmal existieren, wäre es methodisch falsch, sie zu ignorieren, da eine Rechtsnorm, wenn irgend möglich, so auszulegen ist, daß sie eine Auswirkung hat, daß also ihre Existenz die Rechtslage verändert (effet utile).34

Der umgekehrte Fall – Gewissensfreiheit als Unterfall der religiösen Freiheit – dürfte heute nicht mehr vertreten werden35, die herrschende Meinung sieht aber die religiösen Freiheiten und die Gewissensfreiheit als unabhängig voneinander bzw. gleichberechtigt nebeneinanderstehend an36; als Unterscheidungskriterium wird angegeben, daß die Gewissensfreiheit „nicht notwendig eine Gemeinschaft“ voraussetze.37 Dieses eher abstrakte Postulat38 ist aber zweifelhaft und wird in der konkreten Fallentscheidung von den Gerichten nicht durchgehalten. Auch für die religiöse Freiheit geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß es entscheidend auf die jeweils individuellen Glaubensüberzeugungen des Grundrechtsträgers ankommt, nicht auf die Überzeugungen einer (wie großen?) Gruppe: „Die Beschwerdeführerin betrachtet [ . . . ] das Tragen eines Kopftuchs als für sich verbindlich von den Regeln ihrer Religion vorgegeben; [ . . . ]. Auf die umstrittene Frage, ob und inwieweit die Verschleierung für Frauen von Regeln des islamischen Glaubens vorgeschrieben ist, kommt es nicht an.“39 Zwar soll dabei auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft nicht außer Betracht bleiben“40; letzteres Kriterium dient aber in der Rechtsprechung Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. 2003, S. 112 ff.; zum Ganzen auch Haverkate, Verfassungslehre [1992], S. 201 FN 21). 33 So auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 383. 34 Vergl. Kokott, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rd.Nr. 12. 35 So aber z. B. noch Hamel, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte IV / 1, 2. Aufl. 1972, S. 50 ff.; Dürig, in: FS Nawiasky (1956), S. 157 (161 FN 6). 36 Vergl. schon oben, Teil A III. 37 Vergl. Ipsen, StaatsR II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 362; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 4 Abs. 1, 2 Rd.Nr. 13, 63. 38 Vergl. Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rd.Nr. 67: „Eine strikt individuelle Vorstellung stellt keinen ,Glauben‘ im Sinne des Grundgesetzes dar. Minderheitenpositionen einer Religion genießen hingegen gleichen staatlichen Schutz wie dominierende.“ Ähnlich auch Grimm, in: Wahl / Wieland (Hg.), Das Recht des Menschen in der Welt (Bökkenförde-Kolloquium, 2003), S. 135 (141). Allerdings: wer will genau zwischen „strikt“ individuellen Positionen und denen kleiner Minderheiten unterscheiden? 39 BVerfGE 108, 282 (298) (Hervorhebung von mir). 40 BVerfGE 108, 282 (299) unter Bezugnahme auf BVerfGE 24, 236 (247 f.).

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des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht der Einschränkung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit, sondern umgekehrt seiner Ausweitung auch auf Tätigkeiten, die auf den ersten Blick den religiösen Bezug vermissen lassen.41 Maßgeblich ist jedenfalls nicht die Meinung einer Mehrheit innerhalb der jeweiligen Religionsgesellschaft; dies würde denn ja auch dem Grundgedanken der grundrechtlichen Legitimation gänzlich zuwiderlaufen, die gerade keine „demokratische Zusatzlegitimation“ benötigt, sondern in praxi stets nur das subjektive Empfinden und das Selbstverständnis des Gläubigen.42 Umgekehrt sind individuelle Gewissensentscheidungen häufig ohne die Unterstützung der Meinungsbildung in Gruppen gar nicht möglich.43 So ist es auch nur konsequent, daß die Rechtsprechung eigentlich gar keine Versuche mehr unternimmt, zu einer echten Abgrenzung zu gelangen.44 Die Auffassung, daß nur die religiösen Freiheiten, nicht aber die Gewissensfreiheit, auch kollektiven Charakter haben könnten, ist übrigens eng mit der Lehrmeinung verwandt, es sei der eigentliche Zweck des Art. 4 Abs. 2 GG, klarzustellen, daß die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 GG auch Religionsgemeinschaften zustehen würden.45 Diese Auffassung findet aber ohnehin im Gesetzestext keine Stütze.46

3. Das eigentliche Kernproblem des Kopftuchurteils: religiöse Freiheit nach Maßgabe der einfachen Landesgesetze?47 Die Senatsmehrheit gibt dem Landesgesetzgeber auf, zwischen der Religionsfreiheit der Lehrerin (d. h. eigentlich ihrem gleichen Zugangsrecht ohne Rücksicht auf die Konfession) und der negativen Religionsfreiheit der Schüler und Eltern zu vermitteln. Dieser Ansatz ist – obwohl er überwiegend Überraschung ausgelöst hat – im Prinzip nicht ganz neu. Bereits in der Entscheidung zur christlichen Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg war das Bundesverfassungsgericht ohne weiteres davon ausgegangen, daß die Kollision der negativen und der positiven Religionsfreiheit von religiösen und nicht religiösen Kindern und Eltern an badenwürttembergischen Volksschulen – obwohl es um ein ohne Schrankenvorbehalt gewährleistetes Grundrecht ging – einen Auftrag an den Gesetzgeber zur einfachBVerfGE 24, 236 (247 f.). BVerfGE 33, 23 (28 f.); BAG, NJW 2003, 1685 (1687); vergl. auch Wittreck, Der Staat 42 (2003), 519 (525; 528 f. mit FN 49 m. w. N.); Hufen, NVwZ 2004, 575. 43 Vergl. Bachof, in: VVDStRL 28 (1970), 126 (Diskussionsbeitrag). 44 Vergl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts (1989), S. 235 ff. m. w. N. – So prüft etwa das BVerwG die Frage, ob muslimische Mädchen vom Sportunterricht freigestellt werden müssen, unter dem Gesichtspunkt der Glaubens- und Gewissensfreiheit (BVerwGE 94, 82 [87]); die Glaubensfreiheit soll nur bei Darlegung eines echten Gewissenskonflikts verletzt sein; dieser soll übrigens zustande kommen durch ein Abweichenmüssen von Bekleidungsvorschriften des Koran, „wie sie [die Klägerin] sie versteht“. – Auch das Kirchenasyl wird regelmäßig auf eine „religiös fundierte Gewissensentscheidung“ zurückgeführt und unter dem Blickwinkel der „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ erörtert, vergl. dazu Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 22 FN 111 m. w. N. 45 v. Campenhausen, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR VI, 2. Aufl. 2001, § 136 Rd.Nr. 61. 46 Vergl. Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen (1999), S. 264. 47 Vergl. bereits oben, Teil A VIII 4. 41 42

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gesetzlichen Regelung des Sachverhalts enthalte.48 Auch im Kruzifix-Beschluß hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Auflösung eines angenommenen Konflikts schrankenvorbehaltloser Grundrechte verschiedener Grundrechtsträger prinzipiell dem Landesgesetzgeber zugewiesen.49 Dies erinnert an den Ansatz Peter Lerches, der ebenfalls aus Grundrechtskollisionen einen Regelungsvorbehalt entstehen sieht: „Eine befriedigende Lösung kann vielleicht darin erblickt werden, daß aus dem angenommenen Zusammenprall mehrerer Grundrechtssphären ein Kraftfeld entsteht, das dem Gesetzgeber einen Spielraum eröffnet, einen Spielraum zur eigenständigen Konfliktentscheidung.“50

a) Das Ende der überkommenen Schrankensystematik Das eigentliche – auch in den zahlreichen und v.a. kritischen Reaktionen zu kurz gekommene – dogmatische Kernproblem des Kopftuch-Urteils ist der stillschweigende Bruch mit der überkommenen Schrankensystematik. Denn das Bundesverfassungsgericht geht offenbar davon aus, daß die Religionsfreiheit nur nach Maßgabe der einfachen Gesetze besteht, und nicht umgekehrt.51 Im Kopftuch-Urteil soll es nach dem Willen der Senatsmehrheit eindeutig „dem demokratischen Landesgesetzgeber“52 obliegen, hinsichtlich des Gebrauchs von religiösen Symbolen durch Lehrer eine „Gestaltungsfreiheit“ auszuüben, was ausdrücklich einschließen soll, daß die Länder „zu verschiedenen Regelungen kommen können“53. Dies kann aber nicht richtig sein. Denn wenn es um das von Grundrechts wegen gewährte Ausmaß der Religionsfreiheit auch von Lehrern geht, deren Ausfluß das Recht zum Kopftuchtragen auch im Dienst ja gerade sein soll54, so kann dieses nicht von Bundesland zu Bundesland jeweils variieren. Dagegen spricht nicht nur die Vergl. BVerfGE 41, 29 (50). BVerfGE 93, 1 (22). 50 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999, S. 130 [vergl. bereits oben, Teil A, VIII 3 c) bb)]. Ähnlich Bethge, Grundrechtskollisionen (1977), S. 287 f., S. 291 ff.: bei Grundrechtskollisionen falle dem Gesetzgeber die Aufgabe der Grundrechtskonkretisierung zu, die aber indessen eher Konkretisierungsauftrag nach Maßgabe der „Direktionskraft der Verfassung“ sei als politischer Gestaltungsauftrag. Kritisch zu „grundrechtlicher Raummetaphorik“ Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 198 ff.; Ipsen, StaatsR II, 8. Aufl. 2005, Rd.Nr. 117. 51 Hiergegen bereits im Zusammenhang mit dem Kruzifix-Beschluß Renck, ZRP 1996, 16 (18): schon aus Art. 31 GG folge, daß das Organisationsrecht der Länder die Geltung der Grundrechte nicht „moderieren“ könne; das Schulrecht kann also die Religionsfreiheit ebensowenig ausgestalten, wie etwa das Kommunalrecht die Gleichberechtigung der Geschlechter. 52 So auch schon BVerfGE 41, 29 (50); 93, 1 (22). 53 Vergl. BVerfGE 108, 282 (303). 54 Vergl. BVerfGE 108, 282 (309): „Glaubensfreiheit der Lehrer“. Dagegen, daß es genau um diese geht, spricht nicht die oben dargestellte Erwägung, daß hier nicht unmittelbar Art. 4 I und II, sondern eigentlich Art. 33 III GG die Anspruchsgrundlage ist. 48 49

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abstrakte Überlegung, daß der Grundrechtsschutz im Geltungsbereich des Grundgesetzes derselbe sein muß, sondern auch konkret die Rechtsvorschrift aus Art. 31 GG. Nach herkömmlicher Auffassung mag ein Gesetz zur Konkretisierung der verfassungsimmanenten Schranken vorbehaltlos gewährleister Grundrechte erforderlich sein, dabei versteht es sich aber von selbst, daß der Gesetzgeber in diesem Gesetz eben nur die ohnehin in der Verfassung angelegten Schranken55 nachzeichnet – und daß dies bundeseinheitlich geschieht.56 Nach dem Grundgesetz ist es nicht zulässig, ein schrankenvorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht zur Disposition des Landesgesetzgebers zu stellen und ihm in verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Rechtsfolgen beizumessen. Insbesondere Art. 7 GG enthält keinen Einschränkungsvorbehalt hinsichtlich der Glaubens- und Gewissensfreiheit (wie ihn etwa Art. 17a GG hinsichtlich anderer Grundrechte aufweist). Demzufolge haben die Bundesländer bei der Ausübung der Gesetzgebungs- und Exekutivkompetenz im Bildungswesen die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu beobachten, aber nicht zu „konkretisieren“, d. h. auf unterschiedliche Art und Weise zu beschränken.57 Richtigerweise wird die „Freiheit“58 (oder besser: Regelungsbefugnis!) des Landesgesetzgebers – und damit auch das im Kulturverfassungsrecht besonders ausgeprägte bundesstaatliche Prinzip – durch die Grundrechte des Grundgesetzes begrenzt (Art. 1 Abs. 3, 31 GG). Zwar finden – jedenfalls nach hergebrachter Auffassung – diese Grundrechte, wenn sie ohne Schrankenvorbehalt gewährleistet sind, ihre Schranken jedenfalls in den Grundrechten Dritter oder Gemeinschaftswerten von Verfassungsrang. Selbst im Hinblick auf das Prinzip der „Einheit der Verfassung“59 kann aber nicht etwa „das bundesstaatliche Kompetenzgefüge“ in 55 Nach hier vertretener Auffassung geht es bei schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten hingegen um die Ermittlung des Gewährleistungsgehalts; der seinerzeit von Friedrich Klein (in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, S. 122 f.) gebrauchte Begriff der Gewährleistungsschranken (im Gegensatz zu Vorbehaltsschranken) mag eine geistige Brücke zwischen beiden Konzeptionen bilden. 56 Dazu auch – in anderem Zusammenhang – Möllers, NJW 2005, 1973 (1975); zum Ganzen Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 III Rd.Nr. 37. 57 Vergl. Sacksofsky, NJW 2003, 3297 (3300) („herkömmliche Schrankensystematik hat sich erledigt.“). – A.A. Neureither, ZRP 2003, 465 (467), der meint, es fehle nicht an Schranken kollidierenden Verfassungsrechts, diese müßten nur eben konkretisiert werden; auf das Problem, daß diese „verfassungsrechtlichen“ Grenzen von jedem Bundesland anders „konkretisiert“ werden sollen, geht er inhaltlich nicht ein, bezeichnet das Urteil aber als Ausruck des „Grundgesetzes als offener Verfassungsordnung“. – Ebenfalls kritisch, jedoch eher aus rechtspolitischen Erwägungen, ohne auf den eigentlichen dogmatischen Sprengstoff der Entscheidung – schrankenvorbehaltlose Bundesgrundrechte stehen zur variablen Disposition der Landesgesetzgeber – einzugehen: Bader, NJW 2004, 3092 (3094). 58 Vergl. BVerfGE 108, 282 (302): „Das Grundgesetz lässt den Ländern im Schulwesen umfassende Gestaltungsfreiheit; [ . . . ] grundsätzlich freie Ausgestaltung der Pflichtschule“. Ähnlich bereits BVerfGE 52, 223 (242). 59 Grundlegend Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (233 ff.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts,

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dem Sinne als „Schranke“ herangezogen werden, daß aufgrund einer „von Art. 7 GG zugelassenen religiösen Ausgestaltungsfreiheit des Landesgesetzgebers“ auch die religiöse Freiheit nun von Land zu Land unterschiedlich gewährleistet werden könnte.60 Durch diese Betrachtungsweise würde die Grundrechtsbindung auf den Kopf gestellt, was sich schon in der merkwürdigen, rechtsstaatsinversen Redeweise zeigt, die Länder sollten „Freiheiten“ haben, die die Grundrechte „einschränken“ könnten. Auch wenn die Regelung des Schulwesens der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder vorbehalten ist (Art. 30, 70 GG), so ist die Gestaltungsbefugnis der Länder doch jedenfalls durch übergeordnete Normen des Grundgesetzes begrenzt.61 Als negative Kompetenznorm kann das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht durch die positiven Kompetenznormen aus Art. 7 Abs. 1, 30, 70 seinerseits begrenzt werden.62 Besonders deutlich wird diese die Grundrechtsbindung des Landesgesetzgebers hintanstellende Auffassung über das Verhältnis der Grundrechte zur Gesetzgebungskompetenz der Länder in dem Sondervotum der Richter Seidl, Söllner und Haas zum Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck gebracht. Da das Grundgesetz das Schulrecht ausschließlich den Ländern zuweise, setze sich (gegen die Geltendmachung von Grundrechten!) „das föderalistische Prinzip durch“. Die verfassungsrechtliche Beurteilung des Kreuzes im Klassenzimmer müsse daher „von den Gegebenheiten des Freistaates Bayern“ (und nicht von den Grundrechten?) ausgehen.63

b) Die „dogmatische Mischverwaltung“ Mit der Rechtsfigur der „Religionsfreiheit nach Maßgabe des einfachen Landesrechts“ verwandt ist die im Kopftuch-Urteil zum Ausdruck kommende „zweigleisige“ Legitimitätstheorie. aa) Grundrechtliche und demokratische Legitimation Bisher durfte es als eine Art „staatsrechtliche Binsenweisheit“ gelten, daß das Grundgesetz in seinem staatsorganisationsrechtlichen Teil der Minderheit zumutet, Entscheidungen der Mehrheit mitzutragen, und es in seinem grundrechtlichen Teil der Mehrheit zumutet, Entscheidungen sowie das Dasein und Sosein der MinderNachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 20, 71, 271, 312; dazu jetzt auch Dagmar Felix, Einheit der Rechtsordnung (1998), S. 181 ff. (gegen Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung [1979], S. 106, der dieses Prinzip ablehnt). 60 So aber Link, NJW 1995, 3353 (3356) (zum Kruzifixbeschluß). 61 BVerfGE 6, 309 (354); 96, 288 (303 f.); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 36 III 1 (S. 313). 62 Vergl. bereits oben, Teil A VIII 1 a) (auch zum bekannten Minderheitenvotum von Bökkenförde und Mahrenholz in BVerfGE 69, 1 [21 ff.; Sondervotum S. 57 / 60 ff.]). 63 Vergl. BVerfGE 93, 1 (26).

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heit überhaupt zu ertragen.64 Obwohl die Legitimität einer staatlichen Entscheidung grundsätzlich zuzuordnen sein sollte – beruht sie auf einer Mehrheitsentscheidung oder auf Grundrechten? – ist eine gewisse Zweigleisigkeit von vornherein im System angelegt, d.h., eine staatliche Entscheidung ist legitim, wenn sie sich auf Mehrheiten stützen kann und dabei Minderheitenrechte achtet (technisch gesprochen: rechtmäßig zustandegekommen ist und nicht in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise in Grundrechte eingreift). bb) Grundrechtsausübung unterliegt keiner demokratischen Abstimmung Allerdings scheint im Kopftuch-Urteil eine „Zweigleisigkeit neuer Art“ durch. Das Bundesverfassungsgericht betont: „Welche Verhaltensregeln [ . . . ] zur näheren Konkretisierung ihrer allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten und zur Wahrung des religiösen Friedens in der Schule aufgestellt werden sollen [hierfür bedarf es] einer Regelung durch den demokratisch legitimierten Landesgesetzgeber. Für die Beurteilung der tatsächlichen Entwicklungen, von der abhängt, ob gegenläufige Grundrechtspositionen von Schülern und Eltern oder andere Werte von Verfassungsrang eine Regelung rechtfertigen [ . . . ] verfügt nur der Gesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative [ . . . ].“65

Dabei fällt zuerst auf, daß hier gewissermaßen „dogmatisch die Pferde gewechselt“ werden, indem nur noch auf die „Konkretisierung der beamtenrechtlichen Pflichten“ abgestellt wird, die unproblematischer dem Landesgesetzgeber zu überantworten ist als der Gewährleistungsgehalt der Religionsfreiheit, um den es in Wahrheit geht. Eigenartiger noch ist aber die Betonung des notwendigen Zutuns des „demokratisch legitimierten Landesgesetzgebers“. Wäre das Recht der Lehrerin, auch im Unterricht ein muslimisches Kopftuch zu tragen, in der Tat ein Ausfluß von Art. 33 Abs. 3, ggf. iVm. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, – was die übrige Argumentation der Senatsmehrheit ja durchaus nahelegt – so bedürfte es einer zusätzlichen, „demokratischen“ Legitimation gerade nicht; das ist ja gerade das Wesen von Grundrechten. Hier aber wirkt es so, als werde eine „unzulässige dogmatische Mischverwaltung“ eingeführt: das mögliche (Grund-)Recht auf das Kopftuchtragen auch im Dienst folgt aus Art. 33 Abs. 3 GG / 136 Abs. 2 WRV66, es sei denn, eine demokratisch legitimierte Entscheidung steht entgegen. Dies ist auch unabhängig von der Frage nach der Einschränkbarkeit des vorbehaltsschrankenlos Vergl. auch Neureither, ZRP 2003, 465. BVerfGE 108, 282 (310 f.). 66 Bzw.: das Recht, in allen Lebenslagen ein Kopftuch zu tragen, folgt, wo nicht aus Art. 4 I und II GG, so jedenfalls aus Art. 2 I GG, und das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 33 III GG / 136 II WRV regelt weiter, daß, wenn das Kopftuch ein „islamisches“ ist, die Tatsache, daß seine Trägerin es in allen Lebenslagen trägt, nicht deren mangelnde Eignung zu einem öffentlichen Amt begründen kann. – Dies ist, wohlgemerkt, nicht die hier vertretene Rechtsauffassung, sondern die umformulierte Rechtsauffassung der Senatsmehrheit (so wie sie hier verstanden wird). 64 65

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gewährleisteten Grundrechts durch den Landesgesetzgeber ungewöhnlich. Denn ein Anspruch aus einem Grundrecht besteht prinzipiell unabhängig davon, was „demokratisch legitimierte“ Stellen von seiner Geltendmachung denken – dafür ist er ja da. Besteht andererseits kein grundrechtlicher Anspruch (außerhalb allenfalls von Art. 2 Abs. 1 GG iSd. allgemeinen Handlungsfreiheit, auf die der Beamte sich aber unstrittig nicht, eben auch nicht im Hinblick auf sein gleiches Zugangsrecht, berufen könnte), dann bräuchte es kein Gesetz, um das Kopftuch im Dienst zu verbieten (allenfalls könnte es per Gesetz erlaubt werden, was allerdings wegen des Neutralitätsprinzips zweifelhaft wäre). Festzuhalten ist gegen die Senatsmehrheit, daß, wo wirklich eine grundrechtliche Frage in Rede steht, diese grundsätzlich nicht durch Mehrheitsentscheid gelöst werden kann – denn die Ausübung der Grundrechte unterliegt nicht der Abstimmung67, und daß ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistete Grundrechte wie die religiöse Freiheit nicht durch einfache Landesgesetze auf regional jeweils ganz unterschiedliche Art eingeschränkt werden können. c) Die Kompromißproblematik Zweifelhaft ist außerdem die Vorstellung der Senatsmehrheit, dem Landesgesetzgeber „obliege es“ (von Verfassungs wegen?) einen „für alle zumutbaren Kompromiß zu suchen“68 (auch zu finden?). Wenn das Kopftuchtragen im Unterricht Ausfluß eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts ist, dann ist es von Kompromissen nicht abhängig und „allen“ ohne weiteres zumutbar. In praktischer Hinsicht ist, andererseits, nicht erkennbar, wie ein solcher Kompromiß aussehen könnte. Denn, entweder die Lehrerin trägt ein Kopftuch oder eben nicht – wo sollte hier der „Kompromiß“ liegen?69

4. Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates In unaufgeklärtem Kontrast zu dem scheinbaren „judicial self-restraint“ des Programms der Senatsmehrheit, nach dem es an den Landtagen sei, jeweils eigene Lösungen des Kopftuchproblems unter Einbeziehung lokaler Besonderheiten und politischer Präferenzen zu finden, stehen die doch recht genauen Vorgaben des Senats an die nun zu erlassenden Gesetze. Nicht nur haben die Landtage der „Glau67 So schon in anderem Zusammenhang, nämlich zum Kruzifixbeschluß, und aus jeweils gegensätzlichen rechtspolitischen Anliegen heraus einerseits Isensee, ZRP 1996, 10 (13), und andererseits Czermak, NJW 1995, 3348 (3351); zum Ganzen auch Isensee, Grundrechte und Demokratie (1981), S. 11 ff.; Schnapp, JZ 1985, 857 (860 ff.); Stern, DStRdBRD I, 2. Aufl. 1984, § 18 II 6 b) (S. 623 ff.). 68 BVerfGE 108, 282 (302). 69 Ähnlich schon Sacksofsky, NJW 2003, 3297 (3300).

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bensfreiheit der Lehrer70 wie auch der betroffenen Schüler, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität in angemessener Weise Rechnung zu tragen“.71 Sondern sie müssen auch „Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften dabei gleich“ behandeln.72 a) „Positiver“, „umfassender“, „fördernder“ Neutralitätsbegriff Die herrschende Lehre wie auch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterscheiden zwischen einer „negativen“, distanzierenden Neutralität einerseits und einer „positiven“ oder „übergreifenden“ Neutralität andererseits – und entscheiden sich eindeutig für die zweite Variante.73 Danach bedeutet Neutralität zwar Nichtidentifikation des Staates mit einer bestimmten Weltanschauung, fordert aber keine Verdrängung alles Religiösen aus dem staatlichen Bereich.74 Geboten ist eine „neutrale Respektierung, Berücksichtigung und Förderung religiöser Belange“.75 Der Staat soll demnach verpflichtet sein, wie ein Moderator alle Religionen gleichmäßig zu fördern und sich einer Wertung zu enthalten. Dies wird oft damit begründet, daß der Staat, zöge er sich von religiösen Dingen vollständig zurück, eben nicht neutral handelte, sondern eben die „positive“ Neutralität verletzen würde: er würde dadurch nämlich areligiöse Haltungen einseitig bevorzugen.76 Auch im Kopftuch-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung nochmals bekräftigt.77 70 BVerfGE 108, 282 (309): „Dabei hat er [der Landesgesetzgeber] der Glaubensfreiheit der Lehrer wie auch der betroffenen Schüler, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität in angemessener Weise Rechnung zu tragen.“ Ähnlich a. a. O., S. 303, wo die Senatsmehrheit ausdrücklich betont, die einzelne Lehrkraft könne bei ihrer Entscheidung für das Kopftuch das individuelle Freiheitsrecht des Art. 4 I und II GG in Anspruch nehmen: „Diese Grundsätze gelten auch für die Beantwortung der Frage, in welchem Umfang Lehrern unter Beschränkung ihres individuellen Grundrechts der Glaubensfreiheit für ihr Auftreten und Verhalten in der Schule Pflichten in Bezug auf die Wahrung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates auferlegt werden dürfen.“ Aber das ist so nicht richtig. Es geht, wie bereits dargelegt, um das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 33 III GG! 71 BVerfGE 108, 282 (309). 72 BVerfGE 108, 282 (313). 73 Vergl. z. B. Kirchhof, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR IX (1997), § 221 Rd.Nr. 92; vergl. zum Ganzen auch Böckenförde, ZevKR 20 (1975), 119 (129 ff., v.a. 131 f.). 74 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 37 IV (S. 324). 75 Brenner, VVDStRL 59 (2000), S. 265 (298); kritisch Hans Meyer, ebda., S. 322 (Diskussionsbeitrag). 76 Vergl. nur BVerfGE 41, 29 (49 f.). 77 BVerfGE 108, 282 (300): „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist [ . . . ] als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.[ . . . ] Die Schule muß [ . . . ] für [ . . . ] weltanschauliche und religiöse Werte offen sein. In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität.“ Neureither, ZRP 2003,

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b) „Laizistischer“ Neutralitätsbegriff Dieser Definition einer „positiven Neutralität“ wird von neueren, eher laizistischen Strömungen des Staatskirchen- oder Religionsverfassungsrechts seit geraumer Zeit entgegengehalten, sie werde der Trennung von Staat und Kirche bzw. der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates nicht hinreichend gerecht; hierfür verlangt diese Auffassung die vollkommene Entflechtung von Staat und Religionen.78 Von diesem Postulat abweichende, grundgesetzliche Spezialbestimmungen, wie v.a. die Erhebung der Kirchensteuer (Art. 140 GG iVm. 137 Abs. 6 WRV) und die Festschreibung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach (Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG) sind dann nur noch als Durchbrechungen eines – angeblichen – verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Neutralität verstehbar.79 Dieser Kritik ist aber schon entgegenzuhalten, daß sie positive Anordnungen des Grundgesetzes nur als Ausnahmen von einem übergeordneten verfassungsrechtlichen Prinzip verstehen will, das aber seinerseits nicht explizit im Grundgesetz erwähnt wird, sondern allenfalls durch Ableitung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 2 und 3 und 4 Abs. 1 und 2 GG gewonnen werden kann.80 Das entscheidende Argument gegen den „positiven Neutralitätsbegriff“ dürfte daher nicht aus seiner konfrontativen Gegenüberstellung mit einem anderen, inhaltlich nicht eindeutig aus der Verfassung aufzuweisenden Gegenkonzept liegen, sondern eher in dem „wissenschaftstheoretischen“ Hinweis darauf, daß der „positive Neutralitätsbegriff“ sich mit dem üblichen Gebrauch des Wortes „Neutralität“ nicht deckt.81 Hiernach ist 465 (467) findet, das BVerfG habe hier „in dankenswerter Klarheit zum Begriff der Neutralität Stellung bezogen“ und mit Recht „einer vermittelnden Ansicht“ beigepflichtet. Dabei erschließt sich aber nicht, warum ausgerechnet die Auffassung des BVerfG „vermittelnd“ sein soll. Idealtypisch kann der Staat drei verschiedene Haltungen zur Religion beziehen (dazu Holzke, NVwZ 2002, 903 [908]): er kann sie fördern und unterstützen, das wäre die positive Haltung, er kann sie bekämpfen und unterdrücken, das wäre die negative Haltung, oder er kann schließlich beides unterlassen – das wäre die im Wortsinne neutrale oder auch vermittelnde Möglichkeit. Aber warum sollte die umfassende Förderung aller Religionen dem „vermittlenden Neutralitätsbegriff“ entsprechen? 78 Vergl. z. B. Erwin Fischer, Volkskirche ade!, 4. Aufl. 1993; Renck, BayVBl 1988, 225 (230); Janz / Rademacher, NVwZ 1999, 706 (712 f.); vergl. zum Ganzen (herkömmlicher und neuerer Betrachtungsweise) auch Jeand’Heur / Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts (2000), Rd.Nr. 160 ff., 166 ff. 79 So v.a. Czermak, Staat und Weltanschauung (1993), S. 261 ff.; ders., ZRP 2001, 565; Renck, NVwZ 1992, 1171 (1172); ders., DÖV 1994, 27 (30); ders., NVwZ 1994, 544 (546 f.); ders., NVwZ 1996, 333 (334 ff.); ders., BayVBl 1999, 70 (73); ders., NVwZ 1999, 713 (714 ff.). 80 Noch weitergehend Holzke, NVwZ 2002, 903 (905), der darauf hinweist, daß die Aussage des BVerfG aus der Kruzifix-Entscheidung (BVerfGE 93, 1 [16 f.]), aus dem Neutralitätsprinzip folge, daß der Staat „den religiösen Frieden nicht von sich aus gefährden“ dürfe, im Ergebnis einleuchtend und wünschenswert sein möge, jedoch aus dem GG nicht ohne weiteres ableitbar sei. 81 Holzke, NVwZ 2002, 903 (906); dies macht die zugehörige Definition „Neutralität bedeutet gleichmäßige Förderung“ zwar nicht falsch, aber unzweckmäßig (vergl. Holzke a. a. O. S. 908).

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Förderung gerade nicht Ausdruck von Neutralität, sondern das Urbild der Neutralität besteht im „Heraushalten“.82 c) Der Neutralitätsbegriff des Grundgesetzes aa) Neutralitätsprinzip als Wort ohne zugehörigen Begriff? Entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts83 folgt der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zwar aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 3 GG und Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 1 WRV; er bildet aber keinen objektiven Grundrechtsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) selbst. Denn aus der Gewährleistung religiöser Freiheit folgt noch nicht einmal die Abwesenheit einer Staatskirche, wie sie z. B. in Großbritannien oder Norwegen besteht, umso weniger also die vollständige Trennung von Kirche und Staat.84 Im Ergebnis bildet die Annahme der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates nur scheinbar einen allgemein konsentierten „Fels in der Brandung“ des gegenwärtigen Religionsverfassungsrechts; in Wahrheit stehen sich zwei Lager gegenüber, die sich zwar beide zum „Neutralitätsprinzip“ bekennen, ihm jedoch ganz unterschiedliche Inhalte beilegen.85 Die Vertreter der „positiven Neutralität“ haben sich dabei ein Begriffsverständnis zurechtgelegt, das dem herkömmlichen Wortsinn widerspricht, während die neuere, „laizistische“ Strömung zwar dem gemeinen Wortsinn wohl gerecht wird, das derart postulierte Prinzip aber nicht aus der Verfassung aufzuweisen vermag.86 Insofern wird das Neutralitätsprinzip zu einem Wort ohne zugehörigen (bestimmten) Begriff, dessen grundrechtsdogmatischer Wert ohnehin zweifelhaft ist, da Aussagen über das Verhältnis des Staates zu den Religionen ohnehin aus dem Grundgesetz selber abgeleitet werden müßten, nicht aus allgemein postulierten Verfassungsprinzipien. Auch systematisch betrachtet bildet das staatskirchenrechtliche System des Grundgesetzes einen Kompromiß, mit dem auf der einen Seite gewisse Formen der bereits vorher praktizierten Kooperation des Staates mit den kulturraumtragenden christlichen Großkirchen weiterhin festgeschrieben werden87, auf der anderen allerdings auch Garantien für Ungläubige (bzw. Andersgläubige) vorgesehen sind. Es geht dann aber nicht an, die eine Seite des Kompromisses zum zentralen Grundsatz zu erheHolzke, NVwZ 2002, 903 (907). BVerfGE 93, 1 (16): „Aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 I GG folgt [ . . . ] der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen.“ 84 So auch Holzke, NVwZ 2002, 903 (909). 85 Vergl. schon Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip (1972), S. 131: „Dem erstaunlich weitgehenden Konsens über eine ,Neutralität‘ des Staates in kirchlichen Angelegenheiten steht eine inhaltlich schillernde Vieldeutigkeit des Begriffes gegenüber.“ 86 Vergl. Holzke, NVwZ 2002, 903 (910). 87 Vergl. Würtenberger, in: FS Knöpfle (1996), S. 397 (405 m. w. N.). 82 83

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ben, die andere Hälfte jedoch zur prinzipienwidrigen Ausnahme (oder in letzter Konsequenz gar zu verfassungswidrigem Verfassungsrecht) zu degradieren.88 Zwar hat Böckenförde herauszuarbeiten versucht, daß der Neutralitätsbegriff mehrdeutig sei und auf die unterschiedlichen Sachbereiche bezogen werden müsse: „distanzierend“ und also im Sinne der Nichtidentifikation sei er im Hinblick auf „staatliche Kernfunktionen“ zu verstehen, „offen und übergreifend“ hingegen im Hinblick auf gesellschaftliche Bereiche, die der Staat in seine Obhut genommen habe, wie etwa Schulen oder Krankenhäuser.89 Schon die Unterscheidung zwischen „staatlichen Kernbereichen“ und „gesellschaftlichen Bereichen in staatlicher Obhut“ überzeugt jedoch kaum, da jedenfalls die Schulausbildung im Staat des Grundgesetzes staatliche Kernaufgabe90 ist (Art 7 Abs. 1, Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 GG). Es würde übrigens auch kaum dem Verfassungsauftrag entsprechen, wenn „staatliches Handeln und bürgerliche Freiheit“ sich nur in der Schule begegnen würden und nicht auch z. B. im Amtsgericht, wo der Bürger ja ebenfalls als Bürger des freiheitlichen Rechtsstaats behandelt werden muß und keineswegs als „Objekt staatlichen Handelns“ angesehen werden kann.91

bb) Staatliche Neutralität gegen verfassungsneutrale Weltanschauungen Die neuerlichen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zum Neutralitätsprinzip – der Staat dürfe sich nicht durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in „einer“ Gesellschaft von sich aus gefährden92 und weiter verwehre es der Neutralitätsgrundsatz dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft „als solche“ zu bewerten93 sind insofern etwas unklar, als daß nicht recht deutlich wird, ob die „Störung des religiösen Friedens“ die automatische Folge der Identifikation des Staates mit einer bestimmten Weltanschauung wäre oder aber ob der Staat sich nur dann nicht mit einer bestimmten Weltanschauung identifizieren darf, wenn dadurch (ausnahmsweise) der religiöse Friede gefährdet wäre.

Die Rede von der staatlichen Neutralitätspflicht verschließt die Augen davor, daß der Staat letztlich – d. h. außerhalb einer bestimmten, „verfassungsrechtlich So auch Holzke, NVwZ 2002, 903 (910). Böckenförde, ZevKR 20 (1975), 119 (127 ff., 134); ähnlich dann BVerfGE 41, 29 (49). 90 Jedenfalls die Schulaufsicht ist unstreitig staatliche Kernaufgabe (Art. 7 Abs. 1 GG). Aus Art. 7 Abs. 4, 5 GG folgt aber weiter, daß dies auch für die Schulausbildung gilt, da Privatschulen hier eindeutig als Ausnahme von der Regel angesehen werden, die besonderer Aufsicht bedarf, und zwar nicht nur in fachwissenschaftlich-qualitativer, sondern auch in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht (vergl. Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4, Abs. 5 GG). 91 Zustimmend unter Berufung auf Böckenförde a. a. O. jedoch das Sondervotum der Richter Seidl, Söllner und Haas zum sog. Kruzifix-Beschluß des BVerfG, vergl. BVerfGE 93, 1 (30). 92 In einfacherer Formulierung – „Er [der Staat] darf [ . . . ] den religiösen Frieden in einer Gesellschaft nicht von sich aus gefährden.“ – findet sich dieses Kriterium auch schon in BVerfGE 93, 1 (16 f.) – Kruzifix . 93 BVerfGE 108, 282 (300). 88 89

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neutralen Bandbreite“ – niemals „weltanschaulich neutral“ sein kann. Die Verfassungsurkunde ist die säkularisierte Offenbarung des modernen Staates; Verfassungen stiften kollektive Identität, indem sie nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sondern zwischen verfassungskonformem und verfassungswidrigem Verhalten unterscheiden. Auch der liberalste und toleranteste Staat muß die Gegner seiner Wertordnung identifizieren und bekämpfen.94 In seiner Symbolkraft ist das Kopftuch mit Art. 3 Abs. 2 GG, also der Gleichberechtigung der Frau und den darauf gerichteten schulischen Erziehungszielen, nicht zu vereinbaren.95 Eine „strikte“ Neutralität des Staates ist nämlich mit der Aufrechterhaltung seiner Werteordnung nicht zu vereinbaren; diese erwächst aus der Kulturordnung und verdichtet sich zur Rechtsordnung, die mithin ja nicht frei erfunden wurde, sondern sich aus der Kulturordnung entwickelt hat. Divergieren die Wertvorstellungen verschiedener Kulturen so stark, daß sie sich (partiell) gegenseitig ausschließen, so entsteht ein Normkonflikt, in dem sich nur eine Norm durchsetzen kann: die staatliche Neutralität gegenüber verschiedenen kulturellen Wertordnungen endet hier.96

Sollte z. B. die Vorstellung von der Gleichberechtigung der Frau als selbstbestimmtes Wesen ebenfalls eine „Weltanschauung“ sein – das Bundesverfassungsgericht erklärt ja nicht näher, welche Kriterien auch nur in formaler Hinsicht ein Idiologem ausmachen würden, mit dem der Staat sich nicht soll identifizieren dürfen – so wäre der Staat des Grundgesetzes zur Identifikation mit dieser „Weltanschauung“ verpflichtet. Für den Fall des Kopftuches gilt: es geht nicht darum, die Schule von religiösen Bezügen freizuhalten; es geht darum, die Schule von verfassungswidrigen Bezügen, seien sie religiös oder politisch, freizuhalten. – Die Gleichstellung des Kopftuches mit Kruzifix und Kutte oder die Idee, wer das Kruzifix in der Schule erhalten wolle, dürfe nicht gegen das Kopftuch sein97, sind von daher verfehlt.98 Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates bezieht sich denknotwendig nur auf verfassungsneutrale religiöse und weltanschauliche Ansichten und Aussagen. Die häufig – allerdings stets eher im Abstrakten und bezeichnenderweise meist ohne konkreten Fallbezug oder Beispiele – propagierte Idee der strengen „formalen Gleichheit“ aller unterschiedlichen Weltanschauungen vor dem Staat99 ist ein Irrweg, wenn nicht eine LebensVergl. Depenheuer, in: FS Kriele (1997), S. 485 (490 ff. m. w. N.). Vergl. BVerfGE 108, 282 (333) (Minderheitenvotum); Hufen, JuS 2003, 1220 (1223); Bertrams, FAZ Nr. 228, 1. Oktober 2003, S. 12; vergl. zum Ganzen auch Erdmute Heller / Hassouna Mosbahi, Hinter den Schleiern des Islam, 2. Aufl. 1994, S. 108 ff.; Nilüfer Göle, The forbidden Modern: Civilization and Veiling, 4. Aufl. 1999, S. 83 ff. 96 Vergl. Leserbrief von Karl Doehring, FAZ Nr. 44, 21. Februar 2006, S. 11. 97 So aber Bundespräsident Rau, vergl. FAZ Nr. 20, 24. Januar 2004, aber auch Böckenförde und Jestaedt, vergl. FAZ Nr. 62, 13. März 2004, S. 4; Goerlich, NJW 1999, 2929 (2933); Halfmann, NVwZ 2000, 862 (868); Janz / Rademacher, NVwZ 1999, 706 (712 f.): „tertium non datur“. 98 So auch Hufen, NVwZ 2004, 575 (576). 99 Vergl. statt vieler Czermak, NJW 1995, 3348 (3350). 94 95

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lüge des neueren Religionsverfassungsrechts. Ein aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG folgendes Gebot der strengen Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen (also auch der aus unserer Sicht „archaischen“100) z. B. mit den evangelischen Landeskirchen kann nicht angenommen werden. Dagegen steht nicht die damals wie heute nicht ernsthaft erhobene Behauptung, die Bundesrepublik sei etwa ein „christlicher101 Staat“102, sondern die Erwägung, daß der Staat der Grundrechte als nationale Integrationsordnung103 jedenfalls ein moderner und aufgeklärter Staat sei und sein muß, was eine allgemeine „Gleichbehandlung“ aller Weltanschauungen ausschließt. Diese wäre übrigens auch ein direkter Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG, das gebietet, wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.

5. Polizeirechtliche Gefahrenschwelle oder „abstrakte Gefahr“? Eine andere Kritik am Kopftuch-Urteil hatte sich aus der vom Senat zugrundegelegten Auffassung ergeben, daß eine gesetzliche Regelung schon deshalb unabdingbar sei, weil die reine Möglichkeit der Beeinflussung von Schulkindern durch das Kopftuch lediglich eine abstrakte Gefahr darstelle. Solange konkretes Verhalten, wie z. B. Missionierung, ausbleibe, sei angesichts der Tatsache, daß ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht eingeschränkt werden solle104, ein Gesetz erforderlich.105 Dagegen ist festzuhalten, daß die polizeirechtlich im Verhältnis zwischen Bürger und Staat zum Tragen kommende Unterscheidung von konkreter und abstrakter Gefahr als Maßstab für das Einstellungsermessen grundsätzlich ungeeignet ist, da der Staat sich gegenüber seinen Beamten nicht erst auf die polizeirechtliche Gefahrenschwelle berufen muß, um deren Verhalten im Dienst zu reglementieren.106

Ipsen, NVwZ 2003, 1210 (1212). Davon zu unterscheiden ist freilich die – primär rechtshistorische – Frage nach den ursprünglichen Absichten der Verfassungsgeber bei der Konstitualisierung in manchen Bundesländern. So deutet etwa die Präambel der Bayerischen Verfassung darauf hin, daß in der Tat zunächst ein zwar toleranter, aber christlicher Staat geplant war; vergl. zum Ganzen Pawlowski, NJW 1989, 2240 (2241 mit FN 10 m. w. N.) 102 Gegen diese Annahme (die niemand je vertreten hat) tritt Czermak, NJW 1995, 3548 (3550) ein: das BVerfG solle dies doch endlich einmal deutlich machen! 103 Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rd.Nr. 186; grundlegend Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (189 ff.). 104 Aus dieser Wendung spricht auch schon die rechtsdogmatisch falsche Vorstellung, die schrankenvorbehaltlose Gewährleistung eines Grundrechts indiziere dessen erhöhte Werthaltigkeit; dagegen statt vieler Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 316 sowie oben, Teil A V 2 b). 105 Vergl. BVerfGE 108, 282 (303). 106 Vergl. BVerfGE 108, 282 (326 f., 328 f.) (Minderheitenvotum). 100 101

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6. Recht auf und Zurechnung des Kopftuchs Auch zwei andere, zu kritisierende Aspekte des Kopftuchurteils haben in der breiten und variantenreichen Kritik der Entscheidung in der Fachpresse, soweit ersichtlich, kaum Berücksichtigung gefunden. a) „Meistbegünstigungsproblematik“ Das Bundesverfassungsgericht führt aus: „Für die Beurteilung der Frage, ob die Absicht einer Lehrerin, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, einen Eignungsmangel begründet, kommt es darauf an, wie ein Kopftuch auf den Betrachter wirken kann (objektiver Empfängerhorizont); deshalb sind alle denkbaren Möglichkeiten, wie das Tragen eines Kopftuch verstanden werden kann, bei der Beurteilung zu berücksichtigen. Dies ändert aber nichts daran, dass die Bf., die für ihre Entscheidung, in der Öffentlichkeit stets ein Kopftuch zu tragen, in plausibler Weise religiös motivierte Gründe angegeben hat, sich für dieses Verhalten auf den Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen kann [ . . . ].“107

Diese Ausführungen werfen die Frage auf, warum – wenn es also auf den Empfängerhorizont ankommt – das Gericht dann Sachverständige über die Motivation junger islamischer Frauen, das Kopftuch zu tragen, gehört hat108, denn entscheidungserheblich war es ja offensichtlich nicht.109 Aber außerdem laufen sie auf eine eigenartige „Meistbegünstigung“ hinaus: hinsichtlich ihrer positiven Religionsfreiheit kann sich die Lehramtsanwärterin jedenfalls auf das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht berufen; geht es hingegen um den Schutz der negativen Religionsfreiheit der Schüler und Eltern, so ist dies längst nicht selbstverständlich, vielmehr sind erst einmal alle, auch nichtreligiöse Wahrnehmungsvarianten gründlichst zu erwägen. Ein Primat der positiven über die negative Religionsfreiheit110 ist dem Grundgesetz jedoch fremd.111 BVerfGE 108, 282 (305). Vergl. BVerfGE 108, 282 (293 f., 304 f., 306). 109 Dazu auch Bader, NJW 2004, 3092: „Da die Senatsmehrheit ihre Entscheidung auf die fehlende gesetzliche Grundlage gestützt hat, ist nicht recht ersichtlich, was zu beweisen war.“ In diesen Zusammenhang gehört aber auch die weitergehende Kritik Isensees (FAZ Nr. 131, 8. Juni 2004, S. 11): „Es ist nicht möglich, tragende, also verbindliche Gründe aus den beiläufigen, also unverbindlichen (obiter dicta) herauszufiltern.“ 110 Hiermit ist nicht ausgesagt, daß den nicht oder andersgläubigen Schülern oder deren Eltern (Art. 6 II, 7 II GG) tatsächlich, etwa wegen ihrer „negativen Religionsausübungsfreiheit“ aus Art. 140 GG iVm. Art. 136 IV WRV ein „Gegenrecht“ gegen eine kopftuchtragende Lehrerin zusteht; es soll hier zunächst lediglich die Inkonsequenz der Entscheidung selber aufgezeigt werden. 111 In der Folge der Kruzifix-Entscheidung hatten im Gegenteil sogar manche Beobachter eine Verlagerung des Schwerpunktes des Grundrechtsschutzes von der aktiven Religionsfreiheit hin zum Laizismus postuliert, vergl. z. B. Kokott, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 4 107 108

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b) „Fiskalprivilegsproblematik“ Weiter meint das Bundesverfassungsgericht in Abgrenzung zur Kruzifix-Entscheidung: „Duldet der Staat in der Schule eine Bekleidung von Lehrern, die diese aufgrund individueller Entscheidung tragen und die als religiös motiviert zu deuten ist, so kann dies mit einer staatlichen Anordnung, religiöse Symbole in der Schule anzubringen, nicht gleichgesetzt werden [ . . . ]. Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuches verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.“112

Dieses einfache Postulat wirft sozusagen in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht Fragen auf, die die Verfasser ausblenden. In qualitativer Hinsicht fragt sich: wie wäre es, wenn es nicht beim Kopftuch bleibt, sondern gänzliche Verschleierung aus religiösen Gründen und mit Berufung auf Art. 33 Abs. 3 GG gefordert würde? Und in quantitativer: ab welchem Prozentsatz von Lehrerinnen mit Kopftuch müßte der Staat sich das Auftreten seiner Beamtinnen auch als eigene weltanschauliche Äußerung zurechnen lassen? Wäre es denkbar, daß in einem Bundesland ohne Kopftuchverbotsgesetz – in dem also nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ein grundrechtlicher oder grundrechtsgleicher (Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG) Zugangsanspruch der Bewerberinnen besteht – gleichwohl die Einstellung mit der Begründung verweigert werden könnte, daß etwa an allen zur Einstellung in Frage kommenden Schulen bereits so viele Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichteten, daß der Staat seinerseits fürchten müsse, durch weitere Einstellungen die „Identifikationsschwelle“ zu überschreiten?113 Möglicherweise kommt es aber in der Tat auf das Ergebnis dieser Gedankenexperimente nicht an, da ein beamtenrechtlicher Grundsatz etwa des Inhalts „eine ist keine“ ohnehin ein merkwürdiges Fiskalprivileg darstellen würde. Was, wenn man diesen Grundsatz einfach in das Privatrecht übertragen wollte – etwa durch das Postulat, daß sich eine juristische Person des Privatrechts jedenfalls das Handeln eines seiner Organe oder Vertreter noch nicht zurechnen lassen müsse, weil etwa dieses Organ nach der grundgesetzlichen Ordnung eine sittlich-autonome Persönlichkeit sei? Dies müßte sich kein Gläubiger (hier einmal im Sinne des Bürgerlichen Rechts gemeint!) kraft einfachen Bürgerlichen Rechts gefallen lassen. Andererseits soll hier der negative Religionsfreiheit einfordernde „Grundrechtsgläubiger“ gegenüber dem Staat in einer ungleich schwächeren Position sein, in der das Gericht erst einmal schwer vorhersehbare Wertungen anstellt, ob etwa jemand „auf die Idee kommen“ würde, Rd.Nr. 27; es ist auffällig, daß dieser Trend sich nun wieder umkehrt, wo es um den Islam in Deutschland geht. 112 BVerfGE 108, 282 (305 f.). – Zustimmend Sacksofsky, NJW 2003, 3297 (3299): „Niemand käme auf die Idee, aus dem Kopftuch einer einzelnen Lehrerin zu schließen, dass der deutsche Staat sich zum Islam bekenne.“ 113 Vergl. bereits oben, B I 1 a) aa) a. E.

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

es sei der Staat, der hinter seinen Beamten – und zwar im Prinzip jedem einzelnen! – stehe.114

II. Kruzifixbeschluß Bereits im Kruzifix-Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995115 war deutlich geworden, daß die Annahme weiter und letztlich unbestimmter „Schutzbereiche“ im Rahmen der religiösen und weltanschaulichen Freiheiten ohne genaue, verfassungsauslegende Bestimmung eines exakten grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts bei schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten in letzter Konsequenz zur Auflösung der herkömmlichen Grundrechtsprüfung führt. Diese geht von einem Verständnis der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte aus; die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) ist gegen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Eingriffe116 in den durch Auslegung zu bestimmenden117 Gewährleistungsgehalt118 eines Grundrechts gegeben. So dient die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes (Art. 4 Abs. 1 und 2) nicht der „Einklagbarkeit“ des Grundsatzes der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates.119 114 Vergl. zum Ganzen Depenheuer, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rd.Nr. 1, 8, 15, 19 mit FN 41, 30 f., 58, 60, 79 f. 115 BVerfGE 93, 1 ff. – Die eingebürgerte Bezeichnung „Kruzifix-Beschluß“ wird allerdings zu Recht kritisiert: die Entscheidung betrifft nämlich auch schlichte Kreuze, vergl. BVerfGE 93, 1 (2, 17 f., 20, 23 f.). Vergl. z. B. Link, NJW 1995, 3353. 116 Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7 ff. 117 Vergl. Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen (1999), S. 230 ff.; Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 54; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167. 118 Sachs, in: Stern, DStRdBRD III / 2 (1994), S. 3 ff. verwendet den Begriff synonym zu dem verbreiteteren Terminus „Schutzbereich“; nach hier vertretener Auffassung haben indessen schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte keinen Schutzbereich, sondern einen Gewährleistungsgehalt im Sinne einer punktuellen (Minimal-)garantie, die sich aus der systematischen Auslegung des Grundgesetzes ergibt; vergl. oben Teil A, V 2 b) und V 3. 119 Vergl. bereits oben, Teil B I 4 und II 1 c). Vergl. auch Böckenförde, ZevKR 20 (1975), 119 (120) (zum Fall aus BVerfGE 35, 366 ff. – Kreuz im Gerichtssaal): „Das hier zu behandelnde Problem wirft zwei Rechtsfragen auf: Einmal, ob die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen (Kruzifixen) nach den Bestimmungen des Grundgesetzes (GG) objektiv verfassungsmäßig ist, zum anderen, ob und inwieweit ein mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbarer Anspruch des einzelnen in einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten besteht, daß Gerichtssäle nicht mit einem Kreuz (Kruzifix) ausgestattet sind. Beide Fragen sind nicht notwendig miteinander verknüpft. Es ist rechtlich durchaus möglich, daß die Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen (Kruzifixen) verfassungsrechtliche Normen (das GG) verletzt, ohne daß dem ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch des Einzelnen auf Beseitigung der Kreuze (Kruzifixe) entspricht. Mit der Verfassungsbeschwerde können gemäß Art. 93 I Ziff. 4a GG / § 90 BVerfGG nur Grundrechtsverletzungen durch die hoheitlich handelnde öffentliche Gewalt verfolgt werden, und nicht jeder Verpflichtung staatlicher Organe korrespondiert ein grundrechtlicher Anspruch des einzelnen.“ Ähnlich auch Würtenberger, in: FS Knöpfle (1996), S. 397 (400) und Wilms, in: FS Kriele (1997), S. 341 (346).

II. Kruzifixbeschluß

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1. Kritik der Begründung des Kruzifix-Beschlusses An dem Beschluß ist zu kritisieren, daß eine eigentliche Grundrechtsprüfung zur Beantwortung der Frage, ob ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Grundrechte der Beschwerdeführer eingegriffen worden sei, kaum stattfindet. Die Begründetheitsprüfung beginnt mit der beim Bundesverfassungsgericht eingebürgerten, schlaglichtartigen Zusammenfassung der bisherigen Rechtssprechung, bei der insbesondere der Satz bestätigt wird, die Freiheit des Glaubens umfasse das Recht, gemäß den eigenen Glaubensüberzeugungen „zu leben und zu handeln“.120 Dagegen ist einzuwenden, daß eine grundrechtliche Freiheit, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“121, kaum Sinn macht, da neben einem solchen „Recht des Einzelnen“122 bereits die allgemeine Handlungsfreiheit, aber auch die Spezialgrundrechte wie z. B. die Meinungsfreiheit einerseits praktisch überflüssig wären, andererseits aber jedenfalls deren differenziertes Schrankensystem überspielt, gewissermaßen „kraft Glaubens und Gewissens ausgeschaltet“ würde. Der Einwand, daß eine solche grundrechtliche Freiheit ja nicht unbedingt im Ergebnis bestehe, weil sie, gestützt auf Grundrechte Dritter oder Rechtswerte von Verfassungsrang, auch wieder eingeschränkt werden könne, läuft übrigens gerade eben darauf hinaus, daß das dergestalt postulierte Grundrecht eben (so) nicht besteht. Letztlich gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: entweder, die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes gewährleistet im forum externum im Ergebnis weitergehende Handlungsfreiheit, als dies nach den für die jeweiligen Handlungen unmittelbar einschlägigen Grundrechten ohnehin der Fall wäre. Dies liefe aber auf eine unzulässige (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV) Privilegierung der Gläubigen hinaus. Oder aber, dies ist – wenn die Schranken der Grundrechte anderer und der Rechtswerte von Verfassungsrang hinzugedacht werden – nicht der Fall. Dann läge zwar im Ergebnis keine unzulässige Privilegierung vor, es würde jedoch die differenzierte Schrankensystematik des Grundgesetzes, die die allgemeine Handlungsfreiheit nur im Rahmen der Rechtsordnung gewährleistet oder etwa die Meinungsfreiheit unter den Vorbehalt jedenfalls der allgemeinen Gesetze stellt, keine Beachtung mehr finden, und das schrankenvorbehaltlose Grundrecht wäre dem unter Schrankenvorbehalt oder qualifiziertem Schrankenvorbehalt stehenden Grundrecht von der Einschränkbarkeit her gleichgestellt.

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BVerfGE 93, 1 (15) mit Verweis auf BVerfGE 32, 98 (106). BVerfGE 32, 98 (106). BVerfGE 32, 98 (106).

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

a) Überblick An die Stelle einer herkömmlichen Eingriffsprüfung treten im KruzifixBeschluß erstens ein Analogieschluß und zweitens die „Prüfung einer Verletzung des Neutralitätsprinzips“, die einerseits eher an die Prüfung eines Gleichheits- als eines Freiheitsgrundrechts erinnert und andererseits letztlich das Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität subjektiviert. b) Analogie Kreuz an der Wand – erzwungene Teilnahme an kultischen Handlungen Daß der Gewährleistungsgehalt eines der religiösen Freiheitsrechte überhaupt die Beseitigung von Holzkreuzen in Schulen umfassen soll, wird im Kern mit einer Analogie begründet: da niemand gezwungenermaßen an „kultischen Handlungen“ teilnehmen müsse, sei auch das schlichte Kreuzsymbol jedenfalls in einer „vom Staat geschaffenen Lage ohne Ausweichmöglichkeiten“ ein Grundrechtsverstoß.123 Dies wirkt deswegen kaum überzeugend, weil zwischen der erzwungenen Teilnahme an kultischen Handlungen einer nicht geteilten Religion und der Existenz eines unauffälligen Holzkreuzes, das zu ignorieren jedem freisteht, doch auf den ersten Blick ein beträchtlicher Intensitätsunterschied 124 besteht, den der Erste Senat nicht thematisiert.125 c) Subjektivierung des Neutralitätsprinzips Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 2 und 3 GG und Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV folgt der verfassungsrechtliche Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. Entgegen der herrschenden Auffassung folgt dieser Grundsatz nicht unbedingt auch schon aus der Gewährleistung der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit als solcher (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG); denn es gibt auch Staatskirchensysteme (wie Großbritannien) – bei denen also schon von daher von religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates in formaler Hinsicht kaum die Rede sein kann – die gleichwohl Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleisten.125a Aus dieser Gewährleistung folgt also noch nicht das Neutralitätsprinzip.126 Der Begriff der weltanschaulich-religiösen Neutralität hatte zunächst nur 123 BVerfGE 93, 1 (16, 17 f., 20 f., 23 f.); kritisch Würtenberger, in: FS Knöpfle (1996), S. 397 (400 f.) (dort auch zur Anknüpfung des Kruzifix-Beschlusses an die Rspr. des Supreme Court zur „captive audience“); vergl. dazu auch Thorsten Koch, Der Staat 41 (2002), 523 (537 ff.) m. w. N. 124 Zur Wirkung von Symbolen anhand des Kreuzes oder Kruzifixes auch Heckmann, JZ 1996, 880 (882 f., 888 f.). 125 Vergl. BVerfGE 93, 1 (15 f.). 125a Vergl. bereits oben unter B I 4 c) aa). 126 Holzke, NVwZ 2002, 903 (909).

II. Kruzifixbeschluß

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eine begleitende und beschreibende Funktion.127 Seit den Kirchensteuerurteilen des Bundesverfassungsgerichts erfuhr der Begriff der Neutralität eine erstaunliche Aufwertung von einem nur beschreibenden zu einem selbständigen Rechtsbegriff, aus dem eigenständige Folgerungen gezogen werden.128 Hiergegen richtete sich schon früh die Kritik Scheuners, es sei „eine Fehldeutung der Bekenntnisfreiheit [ . . . ] wenn man aus ihr [ . . . ] die weltanschauliche Neutralität des Staates ableitet, diese aber dann gewissermaßen selbstständig [sic] als leitendes Prinzip entfaltet und aus ihr Rückschlüsse auf die Auslegung der Verfassung zieht. Die neutrale Haltung des Staates ist [ . . . ] kein [ . . . ] unabhängiges Formprinzip des Grundgesetzes.“129

Im Kruzifix-Beschluß geht der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts nun allerdings noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er die Frage nach der staatlichen Neutralitätspflicht mit der nach dem Eingriff in das Abwehrrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 vermengt.130 Die Frage, ob ein staatlich verordnetes Kreuzsymbol den Neutralitätsgrundsatz verletzt, war im Verfassungsbeschwerdeverfahren nämlich eigentlich nicht zu entscheiden; der Erste Senat hat jedoch das Neutralitätsprinzip subjektiviert.131 Zwar kann das Bundesverfassungsgericht, wenn eine Verfassungsbeschwerde zulässig ist, die zugrundeliegenden verfassungsrechtlichen Fragen unter allen Aspekten prüfen.132 Gleichwohl kann eine Verfassungsbeschwerde aber nur dann auch begündet sein, wenn jedenfalls ein Eingriff in Grundrechte bejaht werden kann.133 Nicht jeder Verletzung eines verfassungsrechtlichen Grundsatzes korrespondiert ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer subjektiver Anspruch eines Grundrechtsträgers.134 Wenn das Bundesverfassungsgericht die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde im Ergebnis auf die Erwägung stützt, die Anbringung überschreite die Grenzen der religiös-weltanschaulichen Ausrichtung der Schule135 (und mithin also die des Neutralitätsprinzips), so handelt es sich dabei auch nicht um eine Resubjektivierung. Denn von dieser wäre nur zu reden, wenn einem objektiven Grundrechtsgehalt ein subjekti127 Senger, Das Spannungsverhältnis zwischen der Religionsfreiheit und der staatlichen Neutralitätspflicht im öffentlichen Dienst (2001), S. 40 m. w. N. 128 Vergl. BVerfGE 19, 206 (216); Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip (1972), S. 12; Senger, Das Spannungsverhältnis zwischen der Religionsfreiheit und der staatlichen Neutralitätspflicht im öffentlichen Dienst (2001), S. 40. 129 Scheuner, DÖV 1967, 585 (588); ähnlich auch Heckel, Staat Kirche Kunst (1968), S. 209: „Das staatskirchenrechtliche System der Verfassung darf nicht überspielt werden durch einen doktrinär verselbständigten Neutralitätsbegriff.“ 130 Vergl. Würtenberger, in: FS Knöpfle (1996), S. 397 (400). 131 So auch Ipsen, in: FS Kriele (1997), S. 301 (319). 132 BVerfGE 45, 63 (74); 42, 312 (325 f.). 133 BVerfGE 42, 312 (325 f.); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 49 IV 1 g) (S. 463). 134 Vergl. Böckenförde, ZevKR 20 (1975), 119 (120). 135 BVerfGE 93, 1 (23 f.).

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

ver Anspruch korrespondiert.136 Das Neutralitätsprinzip ist aber, wie gesehen, kaum ein objektiver Gehalt der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit, sondern ein von dieser Gewährleistung unabhängiger Verfassungsgrundsatz, der allenfalls bei einer Verletzung der besonderen Gleichheitsrechte aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 3 GG (bedingt) mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbar wäre. Die Subjektivierung des Neutralitätsprinzips durch den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts erstarkt in seinem späteren Osho-Beschluß137 zu dem Postulat, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten ein „Recht auf religiös-weltanschaulich neutrale Behandlung“138.

2. Widerspruch zwischen Kruzifix-Beschluß und Kopftuch-Urteil? a) Das Problem Wie oben schon aufgezeigt, scheint das Kopftuchurteil auf den ersten Blick in einem nicht zu erklärenden Widerspruch zur Kruzifixentscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zu stehen: denn wie kann es sein, daß ein unauffälliges Holzkreuz – jedenfalls, wenn jemand sich daran stört – nicht an der Wand des Klassenzimmers hängen darf, der Lehrerin, die zwingend ganz im Vordergrund des Unterrichtsgeschehens steht, jedoch jedenfalls ohne ein am Gleichheitssatz orientiertes Gesetz das Tragen eines „islamischen Kopftuches“ nicht verboten werden könnte?139 Dies war dann auch Inhalt vieler Kritiken am Kopftuchurteil.140 Wie gesehen, ist diese Kritik aber dogmatisch nicht wirklich durchgreifend, da sie letztlich das positive, grundrechtsgleiche Recht auf gleichmäßigen Zugang zum öffentlichen Dienst gem. Art. 33 Abs. 2 und 3 GG nicht hinreichend würdigt. Denn im Hinblick auf dieses grundrechtsgleiche spezielle Gleichheitsrecht ist auch die Lehramtsanwärterin Bürgerin und nicht Staat, und deswegen muß in der Tat im Sinne der Senatsmehrheit unterschieden werden zwischen der Kruzifix- und der Kopftuchkonstellation. Und doch ist der eben zitierten Kritik zuzugeben, daß das scheinbar aufgrund dogmatisch richtigen Zugangs gefundene Ergebnis nicht überzeugt. Denn, erstens: es wirkt nicht sachgerecht, daß das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 33 Abs. 2 und 3 GG darauf hinauslaufen sollte, daß das unauffällige Holzkreuz verschwinden muß, das aufdringliche Kopftuch 136 Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 95; zum Ganzen auch Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande (2000), S. 40, 43; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte (2000), S. 349 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), S. 237 ff., 242. 137 Dazu unten III 3. 138 Vergl. BVerfGE 105, 279 (299 u.). 139 Vergl. nur Bader, NJW 2004, 3092 (3094). 140 Beispielhaft Ipsen, NVwZ 2003, 1210 (1211): „Eine eklatante Schwäche des Urteils besteht in der Auseinandersetzung mit dem Beschluß des Ersten Senats zum ,Kreuz im Klassenzimmer‘“.

II. Kruzifixbeschluß

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jedoch nicht. Zweitens, die von den Verteidigern der Senatsmehrheit so in den Vordergrund gestellte Unterscheidung zwischen staatlichem Tun (Kruzifix) und staatlichem, nichtidentifizierendem Dulden (Kopftuch) überzeugt nicht, da sie überhaupt nur so lange funktioniert, wie es bei einem oder ganz wenigen Einzelfällen bleibt; wenn das Kopftuch der Lehrerin aber „Schule macht“141, dann läßt sich ab irgendeinem Punkt eben nicht mehr sagen: der Staat identifiziere sich doch nicht mit seinen Beamtinnen. Und drittens, die von der Senatmehrheit als „Kompromiß“ zwischen religiöser Freiheit und staatlich-demokratischem Ordnungsanspruch gefundene Einschränkungsmöglichkeit ist dogmatisch unhaltbar, da die Lösung der Senatsmehrheit davon ausgeht und ausgehen muß, daß die religiösen Freiheitsrechte als schrankenvorbehaltlos gewährleistete Bundesgrundrechte im Ergebnis gleichwohl unter dem Vorbehalt der einfachen Landesgesetze stehen. Weil das aber nicht sein kann (Art. 31 GG), zumal Art. 7, 30, 70 GG kein etwa Art. 17a GG entsprechender Vorbehalt der Grundrechtseinschränkung im Schulwesen entnommen werden kann, müßte man den – dogmatisch scheinbar doch richtigen – Ansatz der Senatsmehrheit offenbar anders weiterverfolgen, wohl dahingehend, daß die Kopftuchträgerin ein Recht auf gleichen Zugang gem. Art. 33 Abs. 2 und 3 GG hat, das dann aber offenbar gar nicht einschränkbar ist. Das dogmatisch richtige und konsequente Ergebnis scheint also zu sein: das Kruzifix muß (auf Widerspruch) jedenfalls herunter, aber gegen das islamische Kopftuch einer Beamtin oder jedenfalls Anwärterin – Art. 33 Abs. 2 und 3 – hülfe nicht einmal ein Gesetz. Dies überzeugt wiederum im Ergebnis noch weniger. Aber wo ist der dogmatische Fehler? b) Die Lösung Er liegt ganz einfach in der Annahme, daß der Rechtsbegriff „religiöses Bekenntnis“ in Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG außer dem „reinen Sein“ auch irgendein Handeln, Tun, Bekennen usw. meint. Das „religiöse Bekenntnis“ iSd. grundrechtsgleichen Rechts meint nichts weiter als das reine Sein.142 Niemand darf nur deswegen nicht Polizist werden, weil er „Jude ist“; will er hingegen auch im Dienst die Kipa tragen, so mag er Jude sein, aber nicht Polizist werden. – Zwar weicht diese Betrachtungsweise der Grundrechte beträchtlich von der herrschenden Auffassung ab. Denn nach herrschender Betrachtungsweise haben diese weite, umfassende Schutzbereiche, die das ganze Leben vielfältig durchdringen und den Grundrechtsträger nicht nur zum Dasein und Sosein, sondern auch umfänglich zum Handeln und Gestalten berechtigen. Damit wird der Staat als Gegenüber nicht (nur) zu Duldung und Toleranz143 verpflichtet, sondern auch zu umfassendem Gestaltungshan141 So sollen zum Zeitpunkt der Kopftuch-Entscheidung des BVerfG in Nordrhein-Westfalen bereits 15 Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichtet haben: vergl. Alice Schwarzer, Der Spiegel Nr. 26, 23. Juni 2003, S. 88. 142 Vergl. bereits oben unter B I 1 b) [aa); bb)]. 143 Gegen Toleranz als eigenständiges Verfassungsprinzip z. B. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 120.

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

deln nach Maßgabe des Grundrechtsträgers und unter Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts. Der heutigen, der Erfahrung mit Unrechtsregimen längst völlig entfremdeten Betrachtungsweise gilt ein Grundrecht, das im Kern ein „Anspruch auf Toleranz“ sein soll, ein Verbot an den Staat also, jemanden z. B. allein wegen seines Glaubens zu verfolgen, ohne aber deswegen dem Grundrechtsträger weite Handlungs- und Gestaltungsrechte auch gegen jede parlamentarische Mehrheit zu bieten, verbreitet als wertlos. Dies kann man an der jahrzehntelangen Debatte um den Gewährleistungsgehalt der Gewissensfreiheit studieren. Hiergegen ist aber eben schon einzuwenden, daß durch diese „grundrechtsfreundliche“ Sichtweise der Wille des demokratisch repräsentierten Souveräns – wie viele Deutsche wünschen sich eigentlich Lehrerinnen mit islamischem Kopftuch, Polizisten mit SikhTurban und dergleichen? – in letzter Konsequenz gegenstandslos wird. Hier darf eine grundrechtstheoretisch zentrale Problematik nicht aus dem Blick geraten: nämlich die Dichotomie von grundrechtlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe.144 Wer sich auf Grundrechte beruft, verlangt denknotwendig zugleich, daß in seinem Fall das Demokratieprinzip (in Form der Anwendung des einfachen, demokratisch zustandegekommenen Gesetzes oder auch der Entscheidung einer ebenfalls demokratisch legitimierten Behördenleitung) nicht zur Anwendung gelangen möge.145 3. Fazit: Der Gewährleistungsgehalt des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 33 Abs. 3 GG, 136 Abs. 2 WRV Dogmatisch zeigt aber auch die Gegenüberstellung von Kruzifixbeschluß und Kopftuchurteil die Unrichtigkeit der Vorstellung von den weiten grundrechtlichen Schutzbereichen auch der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte. Nimmt man nämlich an, daß der Rechtsbegriff „religiöses Bekenntnis“ in Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG irgendetwas mehr meint als das „reine Sein“, so kommt man denknotwendig auf den Widerspruch, der sich heute zwischen Kruzifix- und Kopftuchentscheidung auftut. Die Beschwerdeführerin aus der Kopftuchentscheidung durfte also nicht allein deswegen abgelehnt werden, weil sie der Glaubenslehre Mohammeds anhängt (was ja aber auch nicht geschehen war); unbedingt durfte sie aber deswegen abgelehnt werden, weil sie dies durch ein Äußeres Tun, das Tragen eines „islamischen Kopftuches“ auch bekennen wollte. Denn über Tun und Bekennen sagt Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG nichts.146 Wer Tun und BekenVergl. auch Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (487). Die Problematik läßt sich allenfalls hinsichtlich der Meinungsfreiheit wirklich auflösen, da diese Vorbedingung der Demokratie ist. Für die Glaubens- und Gewissensfreiheit läßt sich dies jedenfalls nicht in gleicher Weise behaupten; wegen des indisponiblen Charakters der Gewissenspflicht oder des Glaubens an göttliche Offenbarungen bleibt der Gegensatz zum Demokratieprinzip eigentlich unaufhebbar. 146 Mithin meint auch der Ausdruck „religiöses Bekenntnis“ in Art. 33 III 1 GG ganz einfach nur die „Konfession“, nicht aber einen äußeren Akt des Bekennens während der Dienst144 145

II. Kruzifixbeschluß

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nen hingegen mit dem Bundesverfassungsgericht und seiner ständigen Rechtsprechung – spätestens seit der „Gesundbeter“-Entscheidung – unter die Freiheit des Glaubens selber fassen will, der muß in der Tat annehmen, daß die Beamtenernennung nicht nur vom Bekenntnis des Anwärters unabhängig ist, sondern auch davon, was der Anwärter, durch sein Bekenntnis motiviert, tut, auf welche Weise er seine ganze Lebensführung – und offenbar auch Amtsführung! – an irgendwelchen Glaubensinhalten auszurichten bemüht ist. Und diese Annahme kann nicht richtig sein: denn sie läuft darauf hinaus, daß der Staat einerseits religiös und weltanschaulich neutral sein soll, anderseits aber seinen Beamten, die ihn vertreten und durch die er als Abstraktum überhaupt erst handeln und erscheinen kann147, umfassende Glaubensbetätigungsfreiheit im Amte gewähren muß.148 Sie läuft darauf hinaus, daß das Kreuz im Schulgebäude jedenfalls auf Widerspruch hin sofort entfernt werden müßte, wohingegen das Kopftuch- (und vielleicht auch Schleier?)-tragen islamischer Lehrerinnen nicht einmal durch Gesetz eingeschränkt werden kann (weil die Glaubensfreiheit nicht unter den Vorbehalt des Landesgesetzes gestellt ist). Die eigentliche Lehre aus dem Vergleich der Kopftuch- und der Kruzifixentscheidung ist mithin die, daß die Weiche ganz am Beginn der Grundrechtsprüfung, in der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Bekenntnisfreiheit, anders und richtig gestellt werden muß. „Religiöses Bekenntnis“ im Sinne der besonderen Gleichheitsrechte, also Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 3 GG, 136 Abs. 2 WRV, meint immer nur ein Sein und nie ein Tun. Mithin ist die Beamtenernennung vom inneren Glauben unabhängig, nicht aber von der Lebens- und v.a. Amtsführung, mag diese auch noch so glaubensgeleitet sein.149 Bekenntnis im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG meint allerdings, da die Gewährleistung der Bekenntnisfreiheit gemäß dem Auslegungsgrundsatz des effet utile zu zeit. Bereits sprachlich ist zwischen dem „Bekenntnis“ und dem „Bekennen“ zu unterscheiden; auch ein Polizeianwärter, der ankündigt, während des Dienstes etwa das ökumenische Glaubensbekenntnis in Schriftform sichtbar an seiner Uniform befestigt zu tragen, wäre z. B. trotz Art. 33 III 1 GG jedenfalls ungeeignet. 147 Depenheuer, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR III, 3. Aufl. 2005, § 36 Rd.Nr. 1. 148 Übringens ist zu dem Unterscheidungsversuch zwischen „staatlichem Tun“ (Kruzifix) und „staatlichem Dulden“ (Kopftuch) zu Recht bemerkt worden, daß auch „der Staat“ nicht die Kruzifixe auf- oder abhängt (wie sollte er das tun?), sondern wohl eher der Hausmeister auf Anweisung des Schulleiters. Was, wenn die Schule auf Widerspruch eines Schülers das Kruzifix in einem Klassenraum abzuhängen hat, sich die dafür zuständigen Personen wie Lehrer oder Hausmeister aber aus christlichem Gewissen weigern? Und was ist über die Verbeamtung eines Lehramtsanwärters zu sagen, der erklärt, er werde das Kruzifix aus religiösen Gründen auch bei Widerspruch nicht abhängen, oder: auch ohne Widerspruch stets abhängen? Müßten auch hier erst Landesgesetze über das Kruzifixverhalten in der Schule geschaffen werden, die dann das schrankenlos gewährleistete religiös-neutrale Zugangsrecht doch einschränken? 149 So auch OVG Hamburg, NVwZ 1986, 406 (408) (Lehrer mit baghwan-typischer Kleidung).

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

verstehen ist150, so daß sie also eine eigenständige Bedeutung neben der reinen Glaubensfreiheit erlangt, über das reine Sein, die Konfession hinaus auch den Akt des Bekennens, enthält also ein Kommunikations- und mithin Handlungsgrundrecht im Sinne einer lex specialis zur Meinungsfreiheit. Der Gewährleistungsgehalt dieser Bekenntnisfreiheit im forum externum reicht jedoch nicht weiter, als die herkömmliche Meinungsfreiheit unter Art. 5 Abs. 1 und 2 GG reichen würde, da das Grundgesetz die Privilegierung glaubensgeleiteten Handelns untersagt (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV). Dies ist jedoch nicht dahingehend zu verstehen, daß die Bekenntnisfreiheit einem „ungeschriebenen Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes“ unterläge.151 Sondern die systematische Auslegung des freilich vorbehaltsschrankenlos gewährleisteten Grundrechts ergibt, daß sein Gewährleistungsgehalt von Anfang an nichtprivilegierend zu verstehen ist, so daß es keiner Schranke bedarf.152

Auf dieses Grundrecht im forum externum kann sich jedoch der Beamte im Dienst – sofern er eben als Organwalter tätig ist – allgemein nicht berufen; dies deswegen, weil der Staat als Abstraktum nur durch seine Beamten (im funktionalen Sinne) überhaupt handeln kann, so daß diese den Staat letztlich nicht nur vertreten, sondern faktisch gewissermaßen der Staat sind – denn dieser kann ja nicht anders handeln als durch seine Organe. Daher ist der Beamte im Dienst (in seiner Eigenschaft als Organwalter) nicht Grundrechtsträger, sondern Grundrechtsadressat; einer Grundrechtsträgerschaft wäre insofern das schlichte Konfusionsargument entgegenzuhalten, ohne daß es dafür auf ein „besonderes Gewaltverhältnis“, bzw. „Sonderstatusverhältnis“ überhaupt ankäme.153 Dies folgt, wie vielfach allerdings verkannt wird, schon aus dem Demokratieprinzip: wenn dieses nämlich nicht leerlaufen soll, ist es erforderlich, daß der Beamte den demokratisch gebildeten Staatswillen „eins zu eins“ umsetzt, ohne ihn aber an eigener „Grundrechtsbetätigung im Dienst“ jeweils individuell zu brechen und zu variieren.

4. „Verfassungsnonkonforme“ Auslegung Eine eigenartige Parallele zur oben dargestellten „Meistbegünstigungsproblematik“ des Kopftuchurteils findet sich im Kruzifix-Beschluß in Form der „verfassungsnonkonformen Auslegung“. Der fast unausschöpfliche mögliche Sinngehalt des Kreuzes als Kultur-, Traditions- oder Regionalsymbol erschöpft sich nicht aus150 Vergl. Kokott, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rd.Nr. 12 a.E.; vergl. in diesem Zusammenhang auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 72 („optimale Wirksamkeit“). 151 So aber Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 540. 152 Ähnlich bereits Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, XV 2 b a.E. (S. 127) („systematische Gewährleistungsschranke“). 153 So aber Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, C Rd.Nr. 26 (S. 114); ähnlich Kokott, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 22 Rd.Nr. 62; wie hier jedoch BVerfGE 108, 282 (316 ff. – Minderheitenvotum).

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gerechnet dadurch auf einen religiös-missionarischen Gehalt, daß das Kreuz an einer Schulwand hängt154; es wäre im Gegenteil prima facie an eine verfassungskonforme Auslegung zu denken, etwa dergestalt, daß das Bundesland Bayern, weil es nicht religiös missionieren darf, dies mit den Kruzifixen vielleicht auch nicht zwingend versucht, sondern diese verfassungskonform als regionaler Traditionsbestandteil im Sinne eines Kultursymbols auszulegen sind. Es hätte die Frage nahegelegen, ob das Kreuz im Klassenzimmer nicht gerade das symbolisiert, wofür die christliche Gemeinschaftsschule155 in verfassungsrechtlich zulässiger Weise steht.156 Das Bundesverfassungsgericht betreibt aber eine „verfassungsnonkonforme“ Auslegung, indem es im Kreuz im Klassenzimmer speziell den Ausdruck „einer bestimmten religiösen Überzeugung“ (welcher?) und deren „missionarischer Ausbreitung“ sehen will.157 Im Endergebnis – also in der Zusammenschau mit der Kopftuchentscheidung – muß also das Kopftuch der Lehrerin (die sich aber jedenfalls auf die religiöse Freiheit berufen könne) unter allen möglichen Blickwinkeln betrachtet werden158, das Kreuz ist hingegen in erster Linie Missionierung. Dieser scheinbare Gegensatz ist, um es nochmals zu wiederholen, nicht einfach Folge davon, daß der Zweite Senat sich nicht hinreichend mit der Rechtsprechung des Ersten Senats auseinandergesetzt habe.159 Das dargestellte, in der Tat „ungereimte“ Ergebnis – „Meistbegünstigung“ für die muslimische Lehramtsanwärterin hier, „verfassungsnonkonforme Auslegung“ für das Schulkreuz dort – ist schon wegen der Vorschrift aus Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG vielmehr die zwingende Konsequenz der Annahme, daß die Bekenntnisfreiheit im Sinne dieser Vorschrift den Grundrechtsträger nicht nur zu einem Sein berechtigt, sondern darüber hinaus auch zu irgendeinem Tun (z. B. dem Tragen eines Kopftuches), das mithin der demokratischen Selbstbestimmung entzogen wäre. Um diese dogmatische Grundannahme muß es gehen, nicht um die Kritik des Ersten Senats, er habe sich mit dem Beschluß des Zweiten Senats nicht hinreichend auseinandergesetzt; denn eine solche Auseinandersetzung kann nicht zu anderen Ergebnissen führen, solange nicht die Annahmen „der Rechtsbegriff ,religiöses Bekenntnis‘ in Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 136 Abs. 2 WRV umfaßt auch eine Handlungsfreiheit“ und / oder „auch der Beamte im Dienst kann sich auf die Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG berufen“ beseitigt sind; diese beiden Annahmen zu widerlegen, ist die Zusammenschau der beiden kontroversen Entscheidungen zum „Kruzifix“ und zum „Kopftuch“ aber in der Tat geeignet.

154 155 156 157 158 159

Vergl. schon Isensee, ZRP 1996, 10 (14). Vergl. BVerfGE 41, 29 (44 ff.); 41, 65 (77 f.); 41, 88 (106 ff.). So auch Müller-Volbehr, JZ 1995, 996 (998); Link, NJW 1995, 3353 (3355). BVerfGE 93, 1 (20). Vergl. BVerfGE 108, 282 (305). So aber Ipsen, NVwZ 2003, 1210 (1211).

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

5. Vermischung und Verwechselung von grundrechtlicher und demokratischer Legitimation160 Eine weitere Parallele zwischen Kopftuch- und Kruzifixentscheidung liegt in der schnellen und nicht näher erklärten Annahme eines Grundrechtskonflikts161, hier zwischen den Grundrechten der Beschwerdeführer einerseits und denen der anderen Eltern und Schülern andererseits, dort zwischen den Grundrechten der Lehramtsanwärterin einerseits und der „negativen Religionsfreiheit“ 162 andererseits.163 Auch in der Konstellation des Kruzifix-Beschlusses liegt eine Grundrechtskollision nicht vor.164 Offenbar ist es v.a. die maßgeblich von Böckenförde geprägte Obhutnahme-Terminologie165, die den Ersten Senat zu der Annahme verleitet, das Kreuz an der Klassenzimmerwand sei Ausdruck der positiven Religionsfreiheit religiöser Schüler bzw. ihrer Eltern, und der das Bildungssystem in Obhut nehmende Staat helfe ihnen durch die Anbringung der Kreuze bei der Grundrechtsausübung.166 Aber diese Annahme ist schon deswegen nicht überzeugend, weil 160 Dazu mit der Bemerkung, von der Unterscheidung zwischen Grundrechten und Organisationsrecht hänge der demokratische Rechtsstaat ab, Roellecke, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rd.Nr. 37. 161 Vergl. BVerfGE 93, 1 (21). 162 Eine andere Frage ist freilich, ob der Begriff der „negativen Religionsfreiheit“ eigentlich sinnvoll ist oder zusätzliche Erkenntnisse bringt, da man den Wunsch, mit bestimmten Religionen oder Weltanschauungen nichts zu tun haben zu wollen, auch durchaus als „positive“ Ausübung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit bewerten kann. Auch läßt sich argumentieren, das Attribut „negativ“ sei zur Qualifikation der Religionsfreiheit als einer Gewährleistung des status negativus überhaupt (insgesamt) geeignet; zum Ganzen Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte (1993), S. 21 ff., S. 224 ff. – Letztlich ist aber auch dies nur eine terminologische Frage. Insbesondere kann keine Rede davon sein, daß die positive Religionsfreiheit gemeinhin als „höherwertig“, die negative hingegen als „minderwertig“ angesehen werde; so aber Czermak, NJW 1995, 3348 (3352 mit FN 35 m. w. N.). 163 Es war bereits dargelegt worden, daß nach hier vertretener Ansicht eine Grundrechtskollision nicht angenommen werden kann, auch wenn gleichzeitig der 2. Senat des BVerfG gegen den vielfach erhobenen Vorwurf, mit der Erstreckung der religiösen Freiheit auch auf Beamte im Dienst die Reichweite des Art. 4 I / II GG grundlegend verkannt zu haben, in Schutz genommen werden muß. Die genannte Kritik hat in Bezug nur auf Art. 4 I / II GG nicht Unrecht, übersieht aber offenbar die speziellen Gleichheitsrechte aus Art. 33 II / III GG. Wenn eine Grundrechtskollision entgegen der Auffassung des 2. Senats im Kopftuchurteil gleichwohl nicht vorliegt, so liegt es daran, daß das religiöse Bekenntnis iSv. Art. 33 III GG, wie bereits dargelegt, nur das Sein meint und kein Tun. Der Fehler liegt also in der Annahme, die Freiheit des religiösen Bekenntnisses iSv. Art. 33 III GG sei überhaupt auch Handlungsermächtigung, und nicht primär in der Annahme, Art. 4 I / II GG gelte auch für Beamte im Dienst. Letzteres ist zwar in der Tat nicht der Fall; aber Art. 33 II / III GG gelten eben gerade für Beamte bzw. Anwärter. 164 So auch einhellig – bei vollkommener Unvereinbarkeit der Standpunkte im übrigen – einerseits Isensee, ZRP 1996, 10 (13) und andererseits Czermak, NJW 1995, 3348 (3350 f.). 165 Vergl. Böckenförde, ZevKR 20 (1975), 119 (127). 166 Dies wird in dem Sondervotum der Richter Seidl, Söllner und Haas noch deutlicher als bereits in der Senatsentscheidung; vergl. BVerfGE 93, 1 (28; 30 f.).

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eindeutig niemand – mit Berufung auf seine „positive“ religiöse Freiheit – die Anbringung eines Kreuzes in solchen Amtsräumen, in denen noch keines hängt, verlangen könnte.167 Dann kann aber auch das Vorhandensein der Kreuze kaum Ausdruck der religiösen Freiheit irgendwelcher privater Dritter sein.168 Richtigerweise ist das Schulkreuz Ausdruck der Selbstdarstellung des Staates, die von den Grundrechtsbelangen irgendwelcher Bürger insofern unabhängig ist, als daß sie demokratisch und nicht grundrechtlich legitimiert ist.169 Letztlich ist also der Grund, warum das Kreuz an der Wand hängt: weil es in Art. 13 Abs. 1 Satz 3 BayVSO170 so vorgeschrieben war. Diese Auskunft ist nicht Ausdruck von Freiheitsvergessenheit, sondern im Gegenteil gerade Ausdruck des Bewußtseins demokratischer Freiheit.171 Wo die Grundrechtseuphorie alles, was ist, als Ausdruck der Grundrechtsausübung des einen oder des anderen ansieht, wird die soziale Wirklichkeit nicht von parlamentarischen Mehrheiten bestimmt, sondern von Gerichten durch Abwägung.

6. Schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte haben keinen „Schutzbereich“, sondern einen Gewährleistungsgehalt a) Das Selbstverständnis der Grundrechtsträger: hinsichtlich der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte ein Scheinproblem Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Bundesverfassungsgericht und im Anschluß daran auch die herrschende Lehre172 bereits seit der Aktion-RumpelkamMerten, in: FS Stern (1997), S. 987 (994). Eindeutig abzulehnen ist daher die Auffassung von Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 4 Abs. 1, 2 Rd.Nr. 28: „Der Staat gibt [mit dem Kreuz] der positiven Bekenntnisfreiheit in der Schule Raum [ . . . ]. Die positive Religionsfreiheit der überwiegenden Mehrheit der Schüler, die einer christlichen Konfession angehören, muß nicht gegenüber der negativen Religionsfreiheit [ . . . ] zurückstehen. Die Anbringung des Kreuzes in Schulen auf Grund staatlicher Anordnung ist inhaltlich gesehen keine staatliche Veranstaltung. Vielmehr handelt es sich um eine organisatorische Maßnahme im Hinblick auf die Mehrheit der Schüler und ihrer Eltern. Deshalb wäre es dem Staat durch Art. 4 Abs. 1 verwehrt [ . . . ] in einer Klasse mit mehrheitlich muslimischen Schülern Kreuze in den Klassenzimmern anzubringen.“ Wenn aber das Kreuz ein Ausdruck von positiver Religionsfreiheit ist, kann es auf „Mehrheiten“ nicht mehr ankommen. Und was sollte der Staat eigentlich aufhängen, wenn die Zahl der Christen und der Muslime gleich ist? Und wenn die Relation ständig schwankt – findet dann ein „immerwährendes Plebiszit über die Grundrechte anderer“ statt? Schon diese Kosequenzen zeigen praktisch auf, daß demokratische und grundrechtliche Legitimation weder verwechselt noch vermischt werden dürfen. 169 Vergl. Isensee, ZRP 1996, 10 (13). 170 Vergl. für die heutige Rechtslage Art. 7 III 1 BayEUG. 171 Vergl. auch Kriele, VVDStRL 29 (1971), 46 (61, 82): „Demokratische Gleichheit ist nicht Gegenprinzip zu Freiheit, sondern zu Privilegien.“ 172 Vergl. statt vieler Wenckstern, in: Umbach / Clemens (Hg.), GG, Bd. 1 (2002), Art. 4 I, II Rd.Nr. 23, 89. 167 168

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mer-Entscheidung173, noch deutlicher seit der Gesundbeter-Entscheidung174, den Gewährleistungsgehalt der religiösen und weltanschaulichen Freiheitsrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mißdeuten, indem sie, statt diesen Gewährleistungsgehalt durch systematische Auslegung des Grundgesetzes zu ermitteln, ihnen (als „einheitliches Grundrecht“175) einen weiten „Schutzbereich“ nach dem Vorbild der mit Schrankenvorbehalt gewährleisteten Grundrechte zuschreiben. Der Schutzbereich eines schrankenvorbehaltlos gewährleisteten genauso wie eines unter Schrankenvorbehalt gestellten Grundrechts ist nach ganz herrschender Auffassung die Einschlägigkeit einer bestimmten Grundrechtsnorm in sachlicher und personeller Hinsicht. Gerade hinsichtlich religiös-weltanschaulicher Freiheitsrechte müssen aber selbst diejenigen, die ein allgemeines, an den Staat gerichtetes Definitionsverbot für Religion und Weltanschauung ablehnen und den Staat umgekehrt in der Pflicht sehen, die tatbestandlichen Voraussetzungen der religiösen Freiheitsrechte objektiv zu interpretieren176, zur Bestimmung des Schutzbereiches letztlich auf das Selbstverständnis der „Gläubigen“ rekurrieren.177 Die seit geraumer Zeit bereits geführten, grundrechtsdogmatischen Auseinandersetzungen um die Bedeutung und rechtliche Berücksichtigungsfähigkeit des Selbstverständnisses von Grundrechtsträgern178, die vor allem die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte betreffen und primär hinsichtlich der Glaubens- und Gewissensfreiheit relevant werden, haben dabei von Anfang an auch etwas Merkwürdiges: denn bei unvoreingenommener Herangehensweise wird deutlich, daß, wenn Formulierungen wie „die Freiheit des Glaubens [ist] unverletztlich“ oder auch „Kunst [ist] frei“ einen Sinn haben sollen, das Selbstverständnis, sei es der Gläubigen, sei es der Künstler, nicht nur dergestalt eine Bedeutung hat, daß der Staat „letztlich“ darauf rekurrieren kann und muß, sondern von alleiniger und entscheidender Bedeutung ist. Unter der Prämisse, daß Grundrechte wie die Glaubens-, oder auch die Kunstfreiheit einen „Schutzbereich“ haben, wäre dieser Schutzbereich durch das Selbstverständnis der Grundrechtsträger bestimmt.179 Gegen diese Annahme richtet sich eine v.a. von praktischen Erwägungen grundierte und im Ergebnis auch überzeugende Kritik180, BVerfGE 24, 236 (246). BVerfGE 32, 98 (106). 175 BVerfGE 24, 236 (245 f.). 176 Vergl. Muckel, in: Friauf / Höfling, BerlK, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 7 / 2005), Art. 4 Rd.Nr. 6 (Stand: GW 10 / 2000). 177 So denn auch Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 148 ff., 286 hinsichtlich Religionsausübungs- und Gewissensfreiheit; ders., in: Friauf / Höfling, BerlK, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 7 / 2005), Art. 4 Rd.Nr. 29 (Stand: GW 10 / 2000). 178 Vergl. statt vieler Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium (1993); Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften (1994), S. 105 ff. m. w. N.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation (1987), S. 88 ff.; vergl. auch ders., in: FS Rüfner (2003), S. 329 (336 ff.); Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes (2006), S. 276 ff.; vergl. auch Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 12 Rd.Nr. 13 ff. 179 Vergl. Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rd.Nr. 43. 173 174

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die jedoch meist staatstheoretisch argumentiert181 – indem sie betont, der Staat dürfe sich sein Letztentscheidungsrecht nicht entwinden lassen, weil sonst die Kompetenz-Kompetenz im Sinne einer „kopernikanischen Wende“ vom Staat auf den Grundrechtsträger übergehe – und daher die herrschende Herangehensweise bislang nicht merklich zu beinflussen vermochte.182 Hinsichtlich der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte und v.a. der Glaubens- und Gewissensfreiheit, um die es praktisch meistens geht, besteht das Mißverständnis auch der Kritiker der Idee der entscheidenden Bedeutung des Selbstverständnisses einfach darin, daß diesen Grundrechten ein Schutzbereich im Sinne einer Erlaubnisnorm zugeschrieben wird. Dies entspricht aber nicht der richtig verstandenen Konzeption des Grundgesetzes; nach dieser korrespondiert der vorbehaltlosen Gewährleistung die Einordnung des Grundrechts in die Rechtsordnung, sobald das forum externum betroffen ist. Insofern ist der Rekurs auf staatstheoretische oder pragmatische Vorüberlegungen, die von der Grundrechtsdogmatik der Gegenwart als Argumente in der konkreten Grundrechtsprüfung ohnehin nicht mehr (oder auch noch nicht wieder) anerkannt sind, nicht erforderlich. Der Glaube ist wortwörtlich frei; das Handeln nach dem Glauben unterliegt wie jedes andere Handeln aber den Vorgaben der demokratischen Rechtsordnung (in den Grenzen der speziellen Grundrechte). Der Wunsch, die Rechtsordnung aus religiösen Motiven abändern zu wollen, ist grundsätzlich verfassungslegitim; er bleibt aber auf den demokratischen (und nicht den Jurisdiktions-)Mechanismus verwiesen. Anders verhält es sich bei den unter Schrankenvorbehalt gewährleisteten Grundrechten, die Erlaubnisnormen183 bilden und einen Schutzbereich aufweisen.184 Hinsichtlich dieser 180 Vergl. nur Wilms, in: FS Kriele (1997), S. 341 ff. (v.a. 353 ff.) m. w. N.; Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 7 ff., 20, 33, vergl. aber auch ders., ebda., S. 170 ff., 195, 285 f. 181 Vergl. nur Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? (1980), S. 30 ff., 35 ff., 41 ff. 182 Zur Emanzipation der öffentlich-rechtlichen Dogmatik von staatstheoretischen Überlegungen bereits seit Mitte der 1960er Jahre vergl. Frieder Günther, Denken vom Staat her (2004), S. 264 ff., 282 f. 183 Vergl. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 206 ff. 184 Entgegen der einfachen Feststellung „es ist alles erlaubt, was nicht verboten ist“ macht die Beschreibung von Grundrechtsnormen als Erlaubnisnormen sehr wohl Sinn. Denn erstens ist genannter Satz – der auf den ersten Blick klar dem „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip“ (Carl Schmitt, Verfassungslehre [1928], 8. Aufl. 1993, S. 126, 158; ders., Grundrechte und Grundpflichten [1932], in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze [1958], S. 181 [208 ff.]) zu entsprechen scheint – keineswegs selbstverständlich richtig, da er nur in einer perfekten, also abgeschlossenen Rechtsordnung wirklich zutreffend wäre; in jeder realen Rechtsordnung kann er hingegen nur in dem Sinne verstanden werden, daß alles erlaubt ist, was nicht explizit oder stillschweigend verboten ist (Vergl. Alexy, Theorie der Grundrechte [1985], S. 206 FN 137 m. w. N.), wodurch dann aber der Satz seine Klarheit und Eindeutigkeit schnell verliert. Zweitens muß man Grundrechte als Verfassungsnormen, also Normen höchster Rangstufe, schon deshalb (auch) als Erlaubnisnormen begreifen, weil man sich sonst unversehens um die Möglichkeit bringt, zwischen unterverfassungsrechtlichen Gebots- und Verbotsnormen einerseits und verfassungsrechtlichen Erlaubnisnormen andererseits zu unterscheiden (vergl. Alexy, a. a. O. S. 208). Denn schon aus der Sicht des Grundrechtsträgers (der sich

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Grundrechte ist der Schutzbereich allerdings objektiv und staatlich zu bestimmen, da der Rechtsanwender sonst einer Kategorienverwechselung unterliegen würde, da staatliche Gewährleistungen nicht kraft naturrechtlich-individuellen Vorverständnisses ausgelegt werden können. Aus rechtsdogmatischer Sicht folgt dies nicht primär aus der staatstheoretisch motivierten Sorge um den Verlust der staatlichen Kompetenz-Kompetenz185, sondern schon aus dem Rechtsnormcharakter der Grundrechte. Auch erfordert es die gleichheitsförmige Rechtsanwendung, allgemein feststellen zu können, was etwa konkret unter einer „Versammlung unter freiem Himmel“ (Art. 8 Abs. 2 GG) zu verstehen ist186 oder ob die Verbreitung unrichtiger Tatsachen unter die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) fällt. Allerdings ist die Thematik hinsichtlich der unter Schrankenvorbehalt gewährleisteten Grundrechte weniger brisant, da hier ein gemeinwohlverträglicher und gleichheitsförmiger Grundrechtsgebrauch meist durch eine verhältnismäßige Schrankengesetzgebung sichergestellt werden kann.

Das hier vertretene „Gewährleistungsgehaltsdenken“ vermag schließlich, wie zu zeigen sein wird, auch das Problem der „Freiheitsgewährleistung gemäß dem Selbstverständnis der Gläubigen“ zu lösen: nimmt man in systematischer Auslegung des Grundgesetzes nämlich das Privilegienverbot aus Art. 136 Abs. 1 WRV ernst, so zeigt sich, daß die schrankenvorbehaltlose Gewährleistung „netto“ jedenfalls nie weiter reichen kann als herkömmliche Grundrechtsbetätigung ohne religiöse Hintergründe. b) Kein Staatsabänderungsanspruch ohne Rekurs auf das demokratische Verfahren Gerade am Kruzifix-Beschluß – und den ihm zustimmenden Stellungnahmen in der Literatur – ist zu studieren, wie der Verzicht auf die Ermittlung des Gewährleistungsgehalts eines schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts durch systematische Auslegung bzw. deren Substitution durch die Annahme weiter Schutzbereiche letztlich demjenigen Grundrechtsdenken abträglich ist, das es oft zu verteidigen vorgibt, nämlich der Vorstellung von Grundrechten als Abwehrrechten.187 Wenn die religiösen Freiheiten nämlich von Rechts wegen alles umfassen sollen – daß dies so sein soll, wird etwa deutlich in der Auffassung des Ersten etwa mit seinem Verhalten auch gegen ein Gesetz oder ein behördliches Verbot rechtlich behaupten will) stellt das Grundrecht allemal primär eben eine Erlaubnisnorm dar. 185 Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? (1980), S. 10, 17 f., 41. – Vergl. zum Ganzen auch Patrick Bahners, FAZ Nr. 60, 11. März 2006, S. 40: „Indem die einfache Frage der äußeren Freiheit, ob eine bestimmte Handlung verboten werden darf oder nicht, zu einem Problem der persönlichen Identität umdefiniert wird, läuft das Recht der Gemeinschaft leer, gemäß ihrem Begriff von Existenz, Sinn und so weiter das Zusammenleben zu regeln.“ 186 Vergl. BVerfG, NJW 2001, 2459 (2460 f.); BVerfGE 104, 92 (104); zum Ganzen Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777 (2779 ff.); kritisch Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (172). 187 Vergl. Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7 (14 ff. m. w. N.; 53); Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff.; Sachs, in: Stern, DStRdBRD III / 1 (1988), § 65 IV (S. 558 ff.); § 66 (620 ff.); LübbeWolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte (1988), S. 33 ff.

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Senats, es gäbe ein Grundrecht darauf, von einem unliebsamen Anblick verschont zu werden188 – macht die hergebrachte Grundrechtsprüfung in der Tat nicht mehr allzuviel Sinn. Daher wird im Kruzifix-Beschluß nach Schutzbereich und Eingriff kaum gefragt, eine Analogie mit einem hypothetischen, beispiellosen Vorgang (erzwungene Teilnahme an einer kultischen Handlung) soll die Verwerfungszuständigkeit und -pflicht des Bundesverfassungsgerichts begründen. Weiterhin wird nicht unter eine grundrechtliche Gewährleistung subsumiert, sondern es wird nach der genauen Observanz eines im Grundgesetz dem einfachen Wortlaut nach nicht enthaltenen Grundsatzes, nämlich des Neutralitätsprinzips, gefragt.189 Dieses bildet zwar einen objektiven Verfassungsgrundsatz, nicht jedoch einen ggf. zu resubjektivierenden190 objektiven Grundrechtsgehalt. Die Normverwerfung auf Antrag eines kritischen Bürgers wegen Nichteinhaltung eines Verfassungsprinzips und ohne vertiefte Prüfung der Grundrechtsbetroffenheit des Beschwerdeführers – mit anderen Worten, die „Re“-Subjektivierung des Neutralitätsprinzips – trägt letztlich Züge einer Popularbeschwerde. Dagegen ist festzuhalten: vom Gewährleistungsgehalt her enthalten die religiösen und weltanschaulichen Freiheitsrechte des Grundgesetzes kein Recht auf Gestaltung des staatlichen Tuns bzw. der staatlichen Selbstdarstellung (hier durch Aufhängung von Kreuzen in Klassenzimmern) unter Umgehung des demokratischen procederes. Die Ausstattung von Klassenzimmern ist schlechthin kein Thema der Religionsfreiheit – denn diese läuft auf Selbstbestimmung hinaus, nicht auf Fremdbestimmung anderer und gar des Staates.191 188 Vergl. auch Isensee, ZRP 1996, 10 (12). – Würde die negative Religionsfreiheit in der Tat ein solches Grundrecht gewährleisten, dann müßten auch die in Süddeutschland verbreiteten Feld- und Wegkreuze (fast immer mit Korpus!) weichen. Denn auch wenn kein der Schulpflicht unmittelbar vergleichbarer Straßen- und Wegbenutzungszwang besteht, so ist doch jedermann zur Benutzung öffentlicher Straßen und Wege faktisch genötigt, wenn er von A nach B will. – Und da weiterhin auch Schinkels Eiserners Kreuz ohne Zweifel auf das christliche Symbol zurückgeht und es nur variiert, müßten weiterhin in der Bundeswehr Vorkehrungen getroffen werden, um den Bedürfnissen atheistischer Soldaten gerecht zu werden (Abdeckung? Überpinselung auf allem Gerät, mit dem der Atheist in Berührung kommt? Zumal im Verteidigungsfall würden hier gewisse organisatorische Schwierigkeiten aufkommen). Dies müßte dann gem. Art. 33 II / III GG nicht etwa nur für Wehrpflichtige, sondern auch zugunsten von Zeit- und Berufssoldaten gelten. 189 Dieses Prinzip – Konzentration auf die Einhaltung des angeblich zentral maßgeblichen „Neutralitätsprinzips“ unter Abkehr von der herkömmlichen, eingriffsorientierten Grundrechtsprüfung – verstärkt sich noch in manchen, die Senatsmeinung unterstützenden Aufsätzen, so etwa bei Czermak, NJW 1995, 3348 (3350 ff.). Dagegen auch zu Recht Isensee, ZRP 1996, 10 (11): „Keine zulässigen Maßstäbe sind Prinzipien der Nichtidentifikation des Staates, seiner Säkularität und religiösen Neutralität, der Parität und der Toleranz, auch wenn diese in den Entscheidungsgründen, im Sondervotum und in der öffentlichen Auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielen. Es handelt sich um Theoreme oder um ethische Gebote, die, je auf ihre Weise, mehr oder weniger zutreffend die verfassungsrechtliche Lage spiegeln, ohne jedoch grundrechtliche Qualität zu gewinnen.“ 190 Vergl. Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 95 m. w. N. 191 Vergl. auch Isensee, ZRP 1996, 10 (12), der zu Recht darauf aufmerksam macht, daß nach der Kruzifix-Rspr. des BVerfG eigentlich auch die negative Seite der – ebenfalls ohne Schrankenvorbehalt gewährleisteten – Kunstfreiheit durch das Aufhängen „mehr oder weni-

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Grundrechte sichern die Rechtsposition des Einzelnen in politisch-gesellschaftlichen Extremsituationen (womit deren Wirkung auf das Leben des Einzelnen beschrieben werden soll, d. h. nicht die Gesellschaft als solche muß sich natürlich im „Ausnahmezustand“ befinden, sondern die Wirkungen staatlichen Handelns auf den Einzelnen drohen zu „extremen“ Auswirkungen zu führen). Grundrechte sollen einerseits den demokratischen Alltag sichern, etwa durch Meinungs- und Versammlungsfreiheit; andererseits sollen sie verhindern, daß dem einzelnen, ungerecht und willkürlich, „das Leben verbaut“ wird: z. B. durch religiöse Diskriminierung in allen Lebenslagen, als Reaktion auf kritische künstlerische oder literarische Tätigkeit usw.- Grundrechte sind aber kein alltägliches Manipulationsinstrument, mit denen der klagefreudige Grundrechtsträger Mehrheitsentscheidungen weiträumig suspendieren können soll. Diese Einschränkung ist keine Frage der „verfassungsrechtlichen Rechtfertigung“, sondern sie ist im Rahmen von Schutzbereich oder Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts zu problematisieren und abzuarbeiten, da sie sich aus der Natur der grundrechtlichen Gewährleistung ergibt und nicht etwa eine nachträgliche Beschränkung nur im jeweiligen Einzelfall darstellt. Hiermit wird eine dem Grundgesetz entsprechende Balancierung von grundrechtlicher Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung eingefordert. Die Frage nach der Dichotomie von grundrechtlich-individueller Freiheit und demokratischer Teilhabe ist identisch mit der Frage nach der Einbeziehung der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) und des Privilegienverbots (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, Art. 136 Abs. 1 WRV) in die systematische Auslegung der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte. Nur hier stellt sie sich mit wirklicher Brisanz, da diese Grundrechte mangels eines einfach-gesetzlichen „Einfallstors“ nicht demokratisch „hegbar“ sind. Denn die Umdeutung schrankenvorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte in „von allgemeinen verfassungspolitischen Abwägungen abhängige Grundrechte“ verbietet sich methodisch. Staatstheoretisch betrachtet, sind Integration und Grundrechtsgewährleistung zwei Seiten der selben Medaille.192 Die Überbetonung des liberalen Prinzips in der Grundrechtslehre wirkt letztlich selbstaufhebend.193

ger schöne[r]“ Bilder in der Schule oder die Ästhetik des Klassenzimmers überhaupt verletzt sein müßte und der einzelne dann offenbar Umgestaltung verlangen könnte. 192 Vergl. nur Bettermann, JZ 1964, 601 (604) speziell zur Glaubens- und Gewissensfreiheit. 193 Vergl. Vosgerau, Rechtstheorie 30 (1999), 227 (243 ff.) zum Problem sittliche Innensteuerung / positives Recht; dieses ist aber mit dem Problem „Integration und Grundrechtsgewährleistung“ identisch; zur Angewiesenheit der Rechtsordnung auf „Normalität“ vergl. Vosgerau, ARSP 86 (2000), 232 (237 ff.).

III. Sonstige Probleme

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III. Sonstige Probleme: Schächten, Schulbesuch, Sektenwarnung 1. Schächten194 a) Die ältere Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts Neben der Kruzifix- und der Kopftuchentscheidung (aber auch dem OshoUrteil) bildet auch die am 15. Januar 2002 ergangene Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zum betäubungslosen Schlachten (Schächten)195 ein weiteres wichtiges Beispiel dafür, daß das Bundesverfassungsgericht, wenn es einerseits mit Gegenwartsproblemen der Glaubens- und Gewissensfreiheit konfrontiert wird, ohne andererseits seine Theorie des weiten, am Selbstverständnis des jeweiligen Grundrechtsträgers orientierten Schutzbereiches dieses Grundrechts im Banne des Schmittschen Dogmas aufgeben zu wollen, letzterem den Charakter des Grundrechts als einer objektiv-systematischer Auslegung zugänglichen Rechtsnorm letztlich opfert. Auf diese Weise stört das Schmittsche Dogma (als „Begriffsmine“) nicht nur das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, sondern auch das rechtsstaatliche Prinzip im Sinne der Vorhersehbarkeit und Nachvollziehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen. Anders als in den anderen genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ging es bei der Entscheidung zum Schächten um die (ggf. verfassungskonforme) Auslegung einfachen Rechts, nämlich des § 4a Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. TierSchG. Nach dieser Vorschrift kann die zuständige Behörde eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot des betäubungslosen Schlachtens genehmigen, wenn die Bedürfnisse von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften, die den Genuß von Fleisch nicht geschächteter Tiere durch zwingende Vorschriften untersagen, dies erfordern. Der Beschwerdeführer wollte Tiere „nach muslimischem Ritus“ schächten, um ihr Fleisch seinen allgemein sich als Sunniten verstehenden Kunden zu verkaufen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte zu dem Problemkreis festgestellt, daß eine nach dem klaren Wortlaut von § 4a Abs. 2 Nr. 2 2. Alt TierSchG erforderliche zwingende Vorschrift einer Religionsgemeinschaft hier nicht vorliege.196 Den Begriff der Religionsgemeinschaft wollte das Bundesverwaltungsgericht noch iSd. Staatskirchenrechts verstanden wissen.197 Hinsichtlich 194 Vergl. auch Anger, Islam in der Schule (2003), S. 29 FN 21 m. w. N.; Kyrill-A. Schwarz, Das Spannungsverhältnis von Religionsfreiheit und Tierschutz am Beispiel des „rituellen Schächtens“ (2003), S. 33 ff.; Horanyi, Das Schächtverbot zwischen Tierschutz und Religionsfreiheit (2004), S. 233 ff.; Muckel, in: Kreß (Hg.), Religionsfreiheit als Leitbild (2004), S. 119 (121 f.); zur älteren Rspr. Brandhuber, NVwZ 1994, 561 ff., jeweils m. w. N. 195 BVerfGE 104, 337 ff. 196 BVerwGE 99, 1 (3 ff.; 8 f.); vergl. auch BVerwGE 112, 227 (229; 235 f.). 197 Vergl. BVerwGE 99, 1 (3 f.); so auch Lorz / Metzger, Tierschutzgesetz, 5. Aufl. 1999, § 4a Rd.Nr. 20; anders jetzt BVerwGE 112, 227 (234).

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des sunnitischen Islam, der hier allein in Frage kommt, vermochte das Bundesverwaltungsgericht jedoch ein Verbot des Verzehrs des Fleisches nicht geschächteter Tiere objektiv nicht festzustellen, was aber Voraussetzung der Ausnahmegenehmigung sei. Denn wenn die Einschlägigkeit der Ausnahmeregelung letztlich in das Belieben oder Dafürhalten der Antragsteller gestellt sei, werde der tierschützerische Zweck der Vorschrift verfehlt. Mithin müsse die Frage, ob die Vorschriften einer „Religionsgemeinschaft“ auch „zwingend“ seien, von Gerichten und Behörden objektiv beurteilt werden.198 Die an sich gut begründete Forderung nach objektiver Auslegung durch die Behörde – denn wie sollte sonst der Charakter einer Ausnahmevorschrift durchhaltbar sein? – führt allerdings fast zu den „letzten Fragen“ der religiösen Freiheitsrechte. Denn dem unbefangenen Leser ist klar, daß die ständig für das „Schächten“ in Bezug genommene Vorschrift – Sure 5, Vers 4 des Korans199 – genau wie die alttestamentarischen Vorschriften, nach denen das Tier beim Schlachten noch Zeichen von Leben zeigen muß, einfacher- und einleuchtender Weise nichts weiter meint, als daß man kein Aas verzehren soll.200 Diese Feststellung hatte bereits das OVG Hamburg als Berufungsgericht aus der Anhörung sachverständiger sunnitischer Stellen gewonnen.201

Dabei setzt sich das Bundesverwaltungsgericht durchaus mit der Kritik auseinander, es dürften auch im Rahmen des Verfahrens über die Ausnahmegenehmigung nicht Andersgläubige die Vorschriften einer Religionsgemeinschaft interpretieren.202 Gegen diese Bedenken spricht aber, daß das Tierschutzanliegen bei jeweils subjektiver Beurteilung des zwingenden Charakters religiöser Vorschriften faktisch eigentlich leerläuft, und daß das eindeutig gewollte repressive Verbot mit Befreiungsvorbehalt aus § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG zugleich unter der Hand in ein präventives Verbot mit Anspruch auf Erlaubniserteilung umgewandelt und damit die gesetzgeberische Intention auf den Kopf gestellt würde.203 BVerwGE 99, 1 (6 f.). „Verwehrt ist euch Krepiertes, Blut, Schweinefleisch und das, über dem ein anderer Name als Allahs (beim Schlachten) angerufen ward; das Erwürgte, das Erschlagene, das durch Sturz oder Hörnerstoß Umgekommene, das von reißenden Tieren Gefressene [ . . . ]. Und wenn einer ohne Hinneigung zur Sünde von Hunger bedrängt wird (und so gegen eines der Speisegesetze verstößt), siehe, so ist Allah verzeihend und barmherzig.“ (Übersetzung nach Max Henning [1980]). 200 Vergl. 3. Mose 11, 39; 17, 15; 22, 8; 5. Mose 14, 21 („dem Fremdling in deinem Tor magst du’s geben, daß er’s esse oder daß er’s verkaufe einem Ausländer“). 201 Zu der Auffassung berufener islamischer Stellen vergl. Hirt / Maisack / Moritz, Tierschutzgesetz (2003), § 4a Rd.Nr. 13. Diese Kommentierung ist wohl die beste zum Thema Schächten, insbesondere sind aus ihr der eigentliche Ablauf des betäubungslosen Schlachtens in den verschiedenen praktizierten Varianten und die damit einhergehenden Leiden des Schlachttieres in wissenschaftlich-sachlicher Darstellung zu entnehmen, vergl. ebda., Rd.Nr. 5 ff. 202 Vergl. BVerwGE 99, 1 (4) mit Verweis u. a. auf Kuhl / Unruh, DÖV 1991, 94 (98): dies sei dem religiös-neutralen Staat verwährt. 203 Gerade dieses Argument wurde in der Literatur weithin als überzeugend empfunden. Bezeichnend ist es etwa, daß der Kommentar von Lorz zum Tierschutzgesetz, der bis zur 198 199

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b) Begründung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat unter der Annahme, daß der zwingende Charakter einer Religionsvorschrift unbedingt subjektiv zu bestimmen sei, die Ausnahmeregelung aus § 4 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt TierSchG gleichwohl verfassungskonform in dem Sinne auslegen wollen, daß die von einem Einzelnen als bindend erlebte Überzeugung, das Schächten sei ein zwingendes religiöses Gebot, jedenfalls dann für einen Anspruch auf die Sondergenehmigung hinreichend sein solle, wenn dieser einer Gruppe von Menschen angehört, die eine dahingehende Überzeugung verbindet (ohne daß es sich um eine Gemeinschaft im Sinne von Art. 137 Abs. 5 WRV handeln müßte204).205 Da der Beschwerdeführer das Fleisch nicht in erster Linie selber essen, sondern seinen Kunden verkaufen wollte, und sich weiterhin als Türke nicht auf das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG berufen durfte, konnte das Bundesverfassungsgericht dieses Ergebnis jedoch nur über die neue dogmatische Figur der „Schutzbereichsverstärkung“ gewinnen: Art. 2 Abs. 1 GG könne nur unter Beobachtung der Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verhältnismäßig eingeschränkt werden, und selbst, wenn das Schächten kein Akt der Religionsausübung sei, sei gleichwohl die Berufsfreiheit des nichtdeutschen Beschwerdeführers nicht nur durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt206, sondern der Schutz werde durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch nochmals verstärkt.207 Im Sinne des Schmittschen Dogmas ist diese abermalige Ausweitung des Schutzbereiches der Glaubensfreiheit208 letztlich konsequent: denn wenn den Inhalt religiöser Freiheit nur der Gläubige selbst bestimmen kann, dann liegt es in der Tat nicht fern, auf eine genaue Prüfung der Eröffnung des Schutzbereiches zu verzichten, und jede Berührung des Handelns des Beschwerdeführers mit oder jeden Bezug dieses Handels auf die Religion ausreichen zu lassen209, um vollen Spezialgrundrechtsschutz eingreifen zu lassen. Wo die Notwendigkeit einer 4. Auflage 1992 eine objektive Bestimmung für neutralitätswidrig hielt, in der 5. Auflage auf die Linie des BVerwG einschwenkte: vergl. Lorz / Metzger, Tierschutzgesetz, 5. Aufl. 1999, § 4a Rd.Nr. 23. 204 So auch bereits schon BVerwGE 112, 227 (234 f.). 205 BVerfGE 104, 337 (346; 354 f.). 206 Wenn das BVerfG dem Bf. dabei Berufsfreiheit iRd. Art. 2 I GG zugesteht (grundsätzlich kritisch: Hillgruber, in: Umbach / Clemens, GG, Bd. 1 [2002], Art. 2 I Rd.Nr. 274 f.), so wendet es jedoch nicht etwa die Drei-Stufen-Theorie an, innerhalb derer hier allenfalls eine durch jede vernünftige Erwägung des Gemeinwohls zu rechtfertigende Berufsausübungsregelung vorliegen könnte, sondern es scheint vielmehr von einem eigenständigen Beruf des „muslimischen Metzgers“ auszugehen, dessen Ausübung durch ein Verbot des Schächtens weitgehend unmöglich gemacht würde. Kritisch über diesen Schritt „vom Handwerk zum Hochamt“ auch Volkmann, DVBl. 2002, 332 (333 f.). 207 BVerfGE 104, 337 (345 f.). Die eigenartige, neue dogmatische Figur der „Schutzbereichsverstärkung“ findet sich bereits in BVerfGE 101, 361 (386) sowie in BVerfG, NJW 2000, 2658 (2659); kritisch zum Ganzen auch Spranger, NJW 2002, 2074 ff.; Höfling, in: FS Rüfner (2003), S. 329 (335 f.); Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 156; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 18 IV 3 (S. 180). 208 kritisch auch Kästner, JZ 2002, 491 (493). 209 kritisch auch Volkmann, DVBl. 2002, 332 (333).

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von Wortlaut und Systematik her auslegenden Ermittlung des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts nicht erkannt wird, soll der Beschwerdeführer ja sein ganzes Leben an seiner Religion ausrichten können, und die Verwaltung hat die dazu erforderlichen Gesetzesdispense herzureichen.

Ohne nähere Begründung führt das Bundesverfassungsgericht weiter an, daß auch die ausdrückliche Erlaubnis der Religion des Beschwerdeführers, sich in der Diaspora den dortigen Ernährungssitten anzupassen, am Ausnahmegenehmigungsanspruch nichts ändere210, sowie, daß von einem eventuellen Verbot auch die Kunden211 des jeweiligen Metzgers betroffen seien (die aber vorliegend wohl kaum beschwerdebefugt gewesen sind).212 c) Kritik Gegen die Lösung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich v.a. sagen, daß sie die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung jedenfalls schon dadurch überschreitet, daß sie eine eindeutig als repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt213 ausgestaltete Norm in ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt umdeutet.214 Eine verfassungskonforme Auslegung war aber im übrigen von Anfang an ausgeschlossen, da der Befreiungsvorbehalt aus § 4a Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. TierSchG (im Gegensatz zu dem Befreiungsvorbehalt aus § 4a Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. TierSchG215) nicht durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erfordert wird. Durch den Verzicht auf das Fleisch geschächteter Tiere werden die Gläubigen nämlich – solange eben dieser Verzehr nicht obligatorisch, sondern nur eine Wenn-dann-Verpflichtung ist – nicht an einer religiösen Lebensführung gehindert, da sie auf vegetarische Nahrung, Fisch oder Importprodukte zurückgreifen können; der hierdurch erzwungene Verzicht auf ein Nahrungsmittel ist lediglich an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen und vor dem Hintergrund des Tierschutzes leicht zu rechtfertigen.216 Dabei versteht es sich allerdings und zugegebenermaßen von selbst, daß diese Ausführungen nur vor dem Hintergrund der Zurückweisung bzw. Nichtanwendung des Schmittschen Dogmas, BVerfGE 104, 337 (355). BVerfGE 104, 337 (350). 212 Vergl. auch Volkmann, DVBl. 2002, 332 (334). 213 Statt aller Lorz / Mezger, Tierschutzgesetz, 5. Aufl. 1999, § 4a Rd.Nr. 15; Hirt / Maisack / Moritz, Tierschutzgesetz (2003), § 4a Rd.Nr. 6. 214 So auch Kästner, JZ 2002, 491 (494). 215 Vergl. dazu Lorz / Mezger, Tierschutzgesetz, 5. Aufl. 1999, § 4a Rd.Nr. 17; so soll für die Juden am Passah-Fest ein religiöses Gebot bestehen, geschächtetes Fleisch zu verzehren (vergl. Exodus 12, 1), zum Ganzen Lorz / Mezger, Tierschutzgesetz, 5. Aufl. 1999, § 4a Rd.Nr. 16. 216 So auch BVerwGE 99, 1 (7 f. m. w. N.); Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 20. Aufl. 2004, Rd.Nr. 515a; Kästner, JZ 2002, 491 (492); Volkmann, DVBl. 2002, 332 (334); VG Gelsenkirchen, NWVBl 1993, 116 (118); OVG Hamburg, NVwZ 1994, 592 (593); Brandhuber, NVwZ 1994, 561 (563 f.). 210 211

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so wie etwa durch das Bundesverwaltungsgericht praktiziert, zwingend sind; soll hingegen die Freiheit des Glaubens nicht nur die gesamte Lebensführung umfassen, sondern sollen auch weiterhin die Gläubigen letztlich selbst bestimmen können, welche – ansonsten gesetzeswidrige oder sozialschädliche – Verrichtungen zwingendes Gebot ihres Individualglaubens sein sollen, so entbehrt das Schächturteil des Bundesverfassungsgerichts nicht der Stimmigkeit. d) Lösung der Schächtungsproblematik Die optimale Lösung der Schächtungsproblematik besteht darin, rituelle Schlachtungen nur noch bei vorheriger Elektro-Kurzzeitbetäubung zuzulassen. Dabei wird für zwei Sekunden elektrischer Strom durch das Gehirn des Tieres geleitet, wodurch es für kurze Zeit das Schmerzempfinden verliert, während das Herz aber weiterschlägt und das Tier ansonsten nicht geschädigt wird, sich selbst überlassen daher nach kurzer Zeit aufsteht und sich wie gewohnt weiterbewegt. Durch die Methode wird also dem religiösen Gebot, nur gesunde und unversehrte Tiere zu schlachten, ebenso genügt wie dem Verbot des Blutverzehrs, da hinsichtlich des im Körper verbleibenden Restbluts kein Unterschied zu nicht betäubten Tieren besteht; gleichzeitig werden die teils grauenhaften Quälereien des betäubungslosen Schlachtens vermieden.217 Wiederum ist aber zu sagen, daß diese optimale und die Glaubensfreiheit im Wege praktischer Konkordanz218 schonende Lösung die Zurückweisung des Schmittschen Dogmas in der Glaubensfreiheit zur Voraussetzung hat. Ansonsten ist nämlich Behörden und Gerichten die Feststellung der Optimalität gerade vor dem Hintergrund der einschlägigen religiösen Gebote regelmäßig verwehrt. Im Ergebnis läuft die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts letztlich zwingend auf eine „Gesetzesdispositionsbefugnis für jedermann“ hinaus.

e) Keine Bindungswirkung der Entscheidung; kein Bedarf nach „verfassungskonformer Auslegung“ Dieser Lösung – nach der also die zuständigen Behörden das Schächten überhaupt nur noch bei vorheriger Elektro-Kurzzeitbetäubung zulassen sollten – steht § 31 Abs. 1 BVerfGG nicht entgegen.219 Denn erst in Reaktion auf das SchächtUrteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Bundestag mit Gesetz vom 26. Juli 2002 den Tierschutz in die Staatszielbestimmung aus Art. 20a GG aufgenommen. Dadurch sollten Entscheidungen wie das Schächt-Urteil künftig unmöglich werden.220 Die nachträgliche Grundgesetzänderung gestattet eine Neubefassung des Zum Ganzen Hirt / Maisack / Moritz, Tierschutzgesetz (2003), § 4a Rd.Nr. 7 ff.,15, 26. Vergl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 72; 317 ff. 219 Vergl. BVerfGE 33, 199 (201 ff., v.a. 204); zum Ganzen Hirt / Maisack / Moritz, Tierschutzgesetz (2003), § 4a Rd.Nr. 27. 220 Die CDU / CSU-Fraktion, die zwischen 1994 und 2000 eine Aufnahme des Tierschutzes in das GG dreimal abgelehnt hatte, hatte ihren Widerstand im April 2002 haupt217 218

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Bundesverfassungsgerichts mit der Streitfrage. Die Entscheidung entfaltet nach der Änderung des Art. 20a GG nämlich keine Bindewirkung mehr für zukünftige Verfahren. Aus alledem folgt zugleich die Antwort auf die Frage, ob der Begriff der „Religionsgemeinschaft“ in § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG im Sinne des Staatskirchenrechts zu verstehen sei oder ob der Begriff (paradoxerweise?) verfassungskonform gerade anders als im Grundgesetz verstanden ausgelegt werden muß. In beiden Alternativen ist die Vorschrift keine Emanation der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes. Für die 2. Alt. ist dies in der Literatur weithin anerkannt: denn wessen Religion nur den Verzehr geschächteten Fleisches gebietet, wenn überhaupt Fleisch gegessen wird, kann auf Fisch, Importprodukte usw. verwiesen werden; dies ist allein an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. Ähnliches gilt aber nach hier vertretener Ansicht auch für die 1. Alt., dem obligatorischen Verzehr geschächteten Fleisches221 gerade nicht nur im Sinne einer Wenn-dann-Vorschrift. Denn die religiösen Freiheitsrechte des Grundgesetzes gewährleisten kein Handlungsprivileg im forum externum. Dadurch ist der Gesetzgeber aber freilich nicht gehindert, den Religionsgemeinschaften (oder de lege ferenda auch Einzelpersonen) über den unhintergehbaren, daher auch ohne Schrankenvorbehalt gewährleisteten Mindestschutz der Religionen im Grundgesetz hinaus einfach-gesetzliche Dispensansprüche einzuräumen. Hinsichtlich dieser Ansprüche besteht keine Notwendigkeit der verfassungskonformen Auslegung, da sie über das von der Verfassung Gewährleistete bereits hinausgehen. Freilich könnte der Gesetzgeber hinsichtlich strittiger Begriffe wie hier dem der „Religionsgemeinschaft“ auch positiv-rechtliche Auslegungsregeln oder nähere Begriffsbestimmungen erlassen. Auch ist die Vorschrift aus § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG nicht verfassungswidrig, da Art. 20a GG auch die Tiere nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung schützt.222

2. Schulbesuch Geht man davon aus, daß das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit ungeachtet seiner schrankenvorbehaltlosen Gewährleistung mit seinem weiten „Schutzbereich“ letztlich ein Recht auf Ausrichtung des gesamten Lebens an den Prämissen einer Religion konstituiert, so liegt es auf der Hand, daß dieses Grundrecht bei Schülern (und deren Eltern, Art. 6 GG) in einem ständigen Konflikt zu dem gleichermaßen mit Verfassungsrang ausgestatteten staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag stehen müßte.223 Dieses Beispiel zeigt besonders deutlich, wie wenig geeignet die herrschende Lehre zur dogmatischen Abarbeitung dieser (doch von ihr eigentlich erst postulierten) Konflikte ist; denn die „Abwägung“ sächlich wegen des Urteils aufgegeben; vergl. Friedrich Karl Fromme, FAZ Nr. 81, 8. April 2002, S. 12; Heike Branzke / Ilhan Ilcilic / Hanna Rheinz, Die Zeit Nr. 6, 29. Januar 2004, S. 17. 221 Juden beim Pessah-Fest: Lorz / Metzger, TierSchG, 5. Aufl. 1999, § 4a Rd.Nr. 16 a.E. 222 Vergl. Epinay, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20a Rd.Nr. 88; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2 (1998), Art. 20a Rd.Nr. 30, 58. 223 Vergl. BVerwGE 94, 82 (83).

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der Glaubensfreiheit mit sonstigen Verfassungsgütern im jeweiligen Einzelfall224 negiert denknotwendig dasjenige Verfassungsgut, das ja mit der individuellen Glaubensfreiheit in derartigen verfassungsrechtlichen Konflikten gerade zum „schonenden Ausgleich“ gebracht werden soll, nämlich die allgemeine Schulpflicht. Denn eine Schulpflicht, deren genauer Umfang nur im Einzelfall und in Form von Abwägungen mit den religiösen Gegenrechten der Schüler und Eltern ermittelt werden kann225, da sie offenbar als „Eingriff“ in diese verstanden wird, ist eben keine allgemeine Schulpflicht mehr, die sich gerade dadurch auszeichnet, daß alle im Prinzip dasselbe lernen, jedenfalls im Sinne eines Minimalkanons, damit auf diese Weise die Mitglieder der Gesellschaft auf einer gemeinsamen Grundlage miteinander kommunizieren können; anders ist auch Demokratie nicht denkbar. In der jüngeren Rechtsprechung zum Thema Schulpflicht und Schulbefreiung aus religiösen Gründen fällt stets die mangelnde Strukturiertheit der Urteile auf: den Gerichten scheint es ein starkes Bedürfnis zu sein, unter Umgehung jeder klaren Konturierung des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts – dessen Bestimmung sich aber schon im Hinblick auf Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV aufdrängen müßte – im Hinblick auf sonstige staatliche Pflichten wie die Schulpflicht sogleich zu allgemeinen Abwägunserwägungen zu kommen, die dann oft zugunsten der religiösen Freiheiten ausgehen.226 Diese obsiegen insbesondere, wenn mit der Einhaltung der staatlichen Pflicht ein Gewissenskonflikt verbunden wäre.227 Im Sinne des Diskriminierungsverbots müßten dann aber religiöse und nichtreligiöse Gewissenskonflikte gleichgestellt werden; genau dies scheint jedoch nicht zu geschehen.228 Auch werden (vermeintliche) islamische Glaubensgebote oft mit weit mehr Großzügigkeit behandelt als etwa die Forderungen christlicher Sektierer.229 Außerhalb der derzeitigen dogmatischen Systemansätze steht der vieldiskutierte Beschluß des OVG Münster, das dem glaubensgeleiteten Eilantrag eines muslimischen Mädchens auf Befreiung von einer Klassenfahrt im Ergebnis entsprach, dies jedoch auf die Erwägung stützte, die Furcht der Antragstellerin vor der Nichterfüllung religiöser Gebote Vergl. nur OVG Münster, NVwZ 1992, 77 (78 f.); VGH Kassel, NVwZ 1988, 951 f. Vergl. zum Ausmaß der gegenwärtigen Probleme v.a. mit islamischen Kindern und Jugendlichen nur Susanne Kusicke, FAZ Nr. 229, 22. Dezember 2004, S. 3. 226 Vergl. BVerwGE 94, 82 (85 ff.); OVG Münster, NVwZ 1992, 77 (78 f.); VGH Kassel, NVwZ 1988, 951 f. 227 BVerwGE 94, 82 (89 ff.). 228 Vergl. nur BVerwGE 79, 298 (300 ff.). 229 Vergl. BVerwGE 94, 82 (91) einerseits und BVerwG, DVBl. 1994, 168 (169) andererseits; beide Entscheidungen datieren vom 25. August 1993; am selben Tag erging noch eine weitere Entscheidung (6 C 30.92), die, ähnlich wie E 94, 82 (91), das Recht eines weiteren muslimischen Mädchens auf Befreiung vom vom koedukativen Sportunterricht betont. Zum Ganzen Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 82 ff. 224 225

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habe Krankheitswert, so daß sie durch Erkrankung an der Teilnahme gehindert sei.230 Interessant hingegen – im Hinblick auf die gerade im Zusammenhang mit Problemen der allgemeinen Schulpflicht einzufordernde klarere Konturierung des Gewährleistungsgehalts der religiösen Freiheitsrechte – ist der Beschluß des VG Hamburg vom 12. Januar 2004.231 Zwar bleibt auch hier die genaue Abgrenzung von Schutzbereich, Gewährleistungsgehalt, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung mehr als vage. Die Kernthese des VG Hamburg läßt sich dabei aber dogmatisch nur – trotz abweichender und unklarer Terminologie – als Beitrag zu einer Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der religiösen Freiheitsrechte verstehen. In dem Beschluß lehnt das Gericht den Antrag zweier minderjähriger muslimischer Antragstellerinnen und deren Mutter auf Befreiung der Antragstellerinnen vom schulischen Sexualkundeunterricht232 im Ergebnis deswegen ab, weil die Abschirmung von reinem Wissen von der Glaubens-, Bekenntnis und Gewissensfreiheit nicht gewährleistet werde.233 Dabei liegt auf der Hand, daß derartige, im aufgeklärten Staat auch rechtspolitisch wünschenswerte234 Lösungen dogma230 Vergl. OVG Münster, NJW 2003, 1754 f. gegen VG Aachen, NJW 2002, 3191 f.; kritisch Rixen, NJW 2003, 1712 (1714 f.), der indessen – durch Originalzitate aus der psychiatrischen Fachliteratur – die Herangehensweise des OVG Münster, erkennbar gegen seine eigentliche Absicht, im Ergebnis eher bestätigt als widerlegt. 231 VG Hamburg, Beschl. v. 12. 1. 2004, 15 VG 5827 / 2003; vergl. http: //fhh.hamburg.de/ stadt/Aktuell/justiz/gerichte/verwaltungsgericht/start.html (Stand: 1. August 2006); vergl. auch Christian Geyer, FAZ Nr. 20, 24. Januar 2004, S. 35. 232 Vergl. grundlegend BVerfGE 47, 46 (65 ff.). 233 Dies allerdings in teils oszillierender Terminologie: „Das Begehren der Antragstellerin [ . . . ] unterfällt dem Schutzbereich der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Doch werden die der Antragstellerin vermittelten Rechtspositionen nach Auffassung des Gerichts durch Gemeinschaftswerte, denen ebenfalls Verfassungsrang zukommt, in ihrem Geltungsanspruch relativiert und im Ergebnis überwogen.“ (a. a. O., S. 3). [ . . . ] „Auszugehen ist dabei von der Einsicht, daß der Tatsachenstoff im Fach Sexualkunde für sich genommen ohne spezifischen religiösen oder weltanschaulichen Gehalt ist.“ (Ebda., S. 5). [ . . . ] „Das Beharren auf der Teilnahme am Unterricht und damit der ungeschmälerten Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht konfrontiert die Antragstellerin [ . . . ] nicht etwa mit [ . . . ] religiös-weltanschaulichen Erziehungsinhalten. [ . . . ] Bei dieser Bewertung verkennt das Gericht keineswegs, dass es der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität dem Staat [ . . . ] verbietet, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten [ . . . ]. Es geht hier indes [ . . . ] darum, die verfassungsimmanenten Grenzen des von der Antragstellerin [ . . . ] unter weltanschaulich-religiösen Prämissen in Anspruch genommenen Erziehungsrechts kenntlich zu machen. Die Rechtsordnung des Grundgesetzes ist zwar in religiös-weltanschaulicher Hinsicht neutral. Dies darf jedoch nicht mit Wertneutralität verwechselt werden. Das Grundgesetz ist keine wertneutrale Ordnung.“ (Ebda., S. 6). [ . . . ] „Der sich hieraus ergebenden ,Elternverantwortung‘ [ . . . ] wird eine Erziehung nicht gerecht, die [ . . . ] dem Kind bereits bloßes Wissen vorenthalten will.“ (Ebda., S. 7). 234 VG Hamburg, Beschl. v. 12. 1. 2004, 15 VG 5827 / 2003, a. a. O.: „Der von der Antragsgegnerin wahrgenommene staatliche Erziehungsauftrag [ . . . ] verdient Unterstützung auch deshalb, weil die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse daran hat, der Entstehung von [ . . . ] ,Parallelgesellschaften‘ entgegenzuwirken und Minderheiten [ . . . ] zu integrieren

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tisch erst durch die Verabschiedung des Schmittschen Dogmas plausibel werden, der das Bundesverfassungsgericht – im Gegensatz zu weiten Teilen der Verwaltungsrechtsprechung – sich bislang verweigert. 3. Die Osho-Entscheidung (Sektenwarnung) Im Osho-Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hatten mehrere eingetragene Meditationsvereine der Osho- (ehemals Bhagwan-)Sekte gegen Antworten der Bundesregierung auf drei kleine Anfragen geklagt (und dann gegen die Zurückweisung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Bundesverwaltungsgericht und auch gegen die übrigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen Verfassungsbeschwerde erhoben); die Bundesregierung hatte in diesen Antworten die Osho-Sekte als Jugendreligion, Jugendsekte bzw. Psychosekte bezeichnet sowie als destruktiv und pseudoreligiös und hatte den Vorwurf erhoben, die Mitglieder dieser Sekte würden unter Ausschluß der Öffentlichkeit manipuliert.235 Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts kam zu dem Ergebnis, daß durch erstere Äußerungen, also „Jugendreligion“, „Jugendsekte“ und „Psychosekte“ der Schutzbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit schon „nicht berührt“ sei236, daß aber durch die übrigen Bewertungen, nämlich „destruktiv“ und „pseudoreligiös“ sowie durch den Vorwurf, die Sekte manipuliere ihre Mitglieder unter Ausschluß der Öffentlichkeit, die Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Antragsteller in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender, weil neutralitätswidriger Weise „beeinträchtigt“ werde.237 a) Aufbau der Entscheidung Der erste Satz des Tenors unter Nr. 1 – „Das Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bietet keinen Schutz dagegen, dass sich der Staat und seine Organe mit den Trägern dieses Grundrechts sowie [ . . . ]. [ . . . ] In dem Maße, in dem aus den in Rede stehenden Gründen Unterrichtsbefreiungen erteilt werden, wächst die Segmentierung unter religiösen Aspekten.“ (Ebda., S. 8). [ . . . ] „Selbst wenn die Unterrichtsbefreiung ihrem „wirklichen“ Willen [dem der Töchter, Vgr.] entsprechen sollte, müßten sie im gesellschaftlichen Integrationsinteresse zumindest die Chance auf Persönlichkeitsbildung durch Wissensvermittlung auch in diesem Bereich wahren.“ (Ebda., S. 9). 235 Vergl. BVerfGE 105, 279 (283 ff.). – Die Equête-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages hat die Verwendung des Begriffs „Sekte“ wegen seiner negativen Konnotation später als stigmatisierend abgelehnt, vergl. BVerfGE 105, 279 (281); dem ist aber mit dem 1. Senat des BVerfG entgegenzuhalten (ebda., S. 295 f.), daß die Bezeichnung dem üblichen Sprachgebrauch im Zusammenhang mit dem zugrundeliegenden Sachverhalt entspricht und mithin allgemeinverständlich ist, weswegen sie auch hier Verwendung findet. 236 Vergl. BVerfGE 105, 279 (295). 237 Vergl. BVerfGE 105, 279 (298 ff.).

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ihren Zielen und Aktivitäten öffentlich – auch kritisch – auseinander setzen“238 – scheint zunächst beträchtliche Anleihen bei dem Gewährleistungsgehaltsdenken, also der Vorstellung, daß zur Vermeidung der Umdeutung zumal schrankenvorbehaltloser Grundrechte in Privilegien diesen nicht ein weiter Schutzbereich zuzuschreiben, sondern deren Gewährleistungsgehalt durch systematische Auslegung zu ermitteln sei, zu machen. Denn obwohl an der „klassischen“ Bezeichnung „Schutzbereich“ auch für ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht festgehalten wird, wird doch in der Sache nach einem Gewährleistungsgehalt gefragt, anstatt zunächst einen allumfassenden Schutzbereich anzunehmen, um am Ende alle Erwägungen zum konkreten Umfang der „Nettofreiheit“ 239 abwägungsförmig in der „verfassungsrechtlichen Rechtfertigung“ unterzubringen. Schon der zweite Satz des Tenors unter Nr. 1 läßt dann allerdings deutlich werden, welche problematischen Vorstellungen der Erste Senat mit dem Gewährleistungsgehalt verbindet: „Diese Auseinandersetzung hat allerdings das Gebot religös-weltanschaulicher Neutralität des Staates zu wahren und muß daher mit Zurückhaltung geschehen“.240 Hier wird nämlich schon deutlich, daß der eigentliche Gegenstand der Entscheidung weniger die Frage nach einer Verletzung der Beschwerdeführer in eigenen Grundrechten, sondern eher die Frage nach einem Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip ist, der dann die Grundrechtswidrigkeit der Maßnahme implizieren soll. Denn nach der Auffassung des Ersten Senats finden „Bedeutung und Tragweite dieser Gewährleistungen [der Religions- und Weltanschauungsfreiheit] [ . . . ] darin ihren besonderen Ausdruck, dass der Staat nach Art. 4 Abs. 1 GG, aber auch gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1, 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV verpflichtet ist, sich in Fragen des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses neutral zu verhalten und nicht seinerseits den religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gefährden [ . . . ]“241 – letztere Wendung ist aus dem Kruzifixbeschluß, aber auch aus dem Kopftuchurteil (des Zweiten Senats) bekannnt. Nach Auffassung des Ersten Senats hängt schon die Eröffnung (oder das „Berührtsein“) des Schutzbereichs von der Einhaltung dieses „Neutralitätsprinzips“ ab. Die Bezeichnungen „Jugendreligion“, „Jugensekte“ und „Psychosekte“ seien nicht diffamierend oder verfälschend, sondern bewegten sich im Rahmen einer sachlich geführten Informationstätigkeit und seien somit nicht neutralitätswidrig – und eben deshalb sei der Schutzbereich nicht berührt.242 Was die übrigen Bewertungen und den Vorwurf der Manipulation angeht, so sei dies aber anders,243 und mithin liege eine Beeinträchtigung des Rechts der Beschwerdeführer auf neutrale Behandlung vor.244 238 239 240 241 242 243

BVerfGE 105, 279. Volkmann, JZ 2005, 261 (268 FN 67). BVerfGE 105, 279. BVerfGE 105, 279 (294). BVerfGE 105, 279 (295). BVerfGE 105, 279 (298 ff.).

III. Sonstige Probleme

143

Diese Beeinträchtigung sei zwar kein „Eingriff im herkömmlichen Sinne“, worunter ein rechtsförmiger Vorgang verstanden werde, der unmittelbar und final durch ein vom Staat imperativ verfügtes Ge- oder Verbot grundrechtliche Freiheit verkürze. Aber auch eine wie hier vorliegende „Beeinträchtigung“ sei an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu messen.245 Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung scheide jedoch trotz Zuständigkeit der Bundesregierung246 und Verzichtbarkeit einer einfach-gesetzlichen Eingriffsermächtigung247 für ihr Tätigwerden schon wegen der Unverhältnismäßigkeit der gewählten Bezeichnungen aus – und zwar deswegen, weil diese neutralitätswidrig seien.248 Insbesondere diese Doppelverwertung der Verletzung des Neutralitätsprinzips, nämlich erstens zur Begründung des Berührtseins des Schutzbereichs und zweitens zur Begründung der Unverhältnismäßigkeit, hat den lebhaftesten Widerspruch der Literatur249 erfahren.250 Gleichwohl enthält gerade diese Vorgehensweise einen – freilich mißdeuteten – richtigen Denkansatz. b) Kritik aa) Richtiger Kern der Osho-Entscheidung Der richtige Kern der Dogmatik der Osho-Entscheidung liegt darin, daß der Erste Senat zunächst im Prinzip richtig erkennt, daß bei der Prüfung eines ohne Vorbehaltsschranken gewährleisteten Grundrechts die entscheidende Frage diejenige nach dessen Gewährleistungsgehalt ist – und, daß es sich bei dieser Frage um eine durchaus prinzipielle handelt, d. h. wird ein Eingriff in den spezifischen Gewährleistungsgehalt bejaht, so wird eine „verfassungsrechtliche Rechtfertigung“ – abgesehen von Ausnahmefällen im Sinne einer Notstandssituation, eben des BVerfGE 105, 279 (299). BVerfGE 105, 279 (299 f.). 246 BVerfGE 105, 279 (301 ff.; 305 f.; 308). 247 BVerfGE 105, 279 (303 ff.). 248 BVerfGE 105, 279 (308 f.). 249 Statt vieler Peter M. Huber, JZ 2003, 290 ff.; Winkler, JA 2003, 113 ff.; Bethge, Jura 2003, 327 ff.; Murswiek, NVwZ 2003, 1 ff. 250 Bezeichnend Cremer, JuS 2003, 747 (748): „Diese Ausführungen [des BVerfG] beleuchten nicht eigentlich den Schutzbereich von Art. 4 GG, also seine thematische Einschlägigkeit, sondern konkretisieren seinen Schutzgehalt: Aus ihnen ergibt sich, welches staatliche Verhalten abgewehrt werden kann.“ (Hervorhebung im Original). – Genau dies ist aber – im Prinzip – die richtige Herangehensweise: denn es ist methodisch letztlich nicht überzeugend, bei einem schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht einen „Schutzbereich“ feststellen zu wollen, da dieser mangels Einschränkbarkeit des Grundrechts dann für alle anderen und den Staat offenbar ein rechtsfreier Raum wäre. Bei schrankenvorbehaltlosen Grundrechten geht es stets nur um den Gewährleistungsgehalt; der Schutzbereich als ein Feld verhältnismäßiger demokratischer Einhegung ist ein Begriff, der nur für Grundrechte mit Schrankenvorbehalt paßt. 244 245

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Ausnahmezustands – regelmäßig nicht in Frage kommen, da die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte den zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen methodisch üblichen Abwägungen gerade nicht zugänglich sind – deswegen sind sie ja gerade schrankenvorbehaltlos gewährleistet. Hier also liegt der richtige Kern der vielkritisierten Doppelverwertung des Neutralitätsprinzips, nach der derselbe Umstand das Berührtsein des Grundrechts in seinem Gewährleistungsgehalt und den Ausfall der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung dieses Umstandes begründet. Denn genauso ist es – eigentlich. bb) Nochmals: Subjektivierung des Neutralitätsprinzips Der dogmatische Fehler der Entscheidung liegt nun aber darin, daß der Erste Senat gar nicht erst versucht hat, den Gewährleistungsgehehalt der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Wortlaut und Systematik des Grundgesetzes zu erhellen, sondern stattdessen das Neutralitätsprinzip als objektiven Grundrechtsgehalt der weltanschaulich-religiösen Freiheitsrechte versteht und nur dessen Verletzung im Weiteren noch untersucht. Nach dem Ersten Senat finden Bedeutung und Tragweite der Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Neutralitätsprinzip „ihren besonderen Ausdruck“251; durch Art. 4 Abs. 1 und 2 werde eine „Recht auf eine in weltanschaulich-religiöser Hinsicht neutrale Behandlung“ garantiert252, das offenbar den eigentlichen Gewährleistungsgehalt der Glaubensfreiheit jedenfalls in Fällen ausmachen soll, in denen es nicht um einen Grundrechtseingriff im Sinne des „klassischen Eingriffsbegriffs“ geht, sondern um eine mittelbar-faktische Beeinträchtigung.253 Dadurch wird die Struktur der von der herrschenden Meinung propagierten Grundrechtsprüfung in Form des Schemas: (weiter) Schutzbereich – Eingriff (unmittelbar in eigene Grundrechte des Antragstellers) – verfassungsrechtliche Rechtfertigung (verfassungslegitimes Ziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit / Gebotenheit, ggf.: Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) aufgelöst, freilich ganz und gar nicht in dem Sinne, wie es im im Rahmen des Gewährleistungsgehaltsdenkens zu fordern wäre, sondern genau gegenläufig. Denn das Ziel des – hier empfohlenen – Gewährleistungsgehaltsdenkens ist es, zur besseren dogmatischen Abarbeitung der bislang vernachlässigten Dichotomie von grundrechtlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe hinsichtlich der demokratisch nicht hegbaren, weil schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte die bisherige, im Kern auf Carl Schmitt zurückgehende Vorstellung weiter „Schutzbereiche“ selbst der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte aufzugeben und stattdessen nach aus Wortlaut und v.a. Systematik des Grundgesetzes präzise definierten Gewährleistungsgehalten solcher dem Demokratieprinzip entzogenen Mindestgarantien zu fragen. Dieses Ziel konterkariert der Erste Senat aber, wenn er den 251 252 253

BVerfGE 105, 279 (294) (vergl. bereis oben). BVerfGE 105, 279 (299) (vergl. bereits oben). Vergl. BVerfGE 105, 279 (299 ff.).

III. Sonstige Probleme

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Gewährleistungsgehaltsgedanken nur aufnimmt, um ihn mit dem Neutralitätsprinzip bzw. einem Anspruch des Grundrechtsträgers auf dessen unbedingte Einhaltung zu füllen. Denn dadurch wird nicht nur die – für ohne Vorbehaltsschranken gewährleistete Grundrechte jedoch besonders zu betonende – Vorstellung von Grundrechten als individuell-subjektiven Abwehrrechten und Toleranzansprüchen aufgegeben, sondern auch die Verfassungsbeschwerde wird contra legem (Art. 93 I Nr. 4a GG iVm. § 90 I BVerfGG) zur Popularbeschwerde umgedeutet, mit der der Bürger eine Verletzung des Neutralitätsprinzips rügen kann.

cc) Subjektiviertes Neutralitätsprinzip als eigentlicher Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit? Dabei fällt besonders auf, daß der Erste Senat die „Weichenstellung“ hin zur Umstellung vom Schutz des Grundrechtsträgers vor unmittelbarer Verletzung seiner eigenen religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte auf grundrechtlichen Schutz auch hinsichtlich eines subjektiviert verstandenen Neutralitätsprinzips bereits im oben dargestellten Kruzifix-Beschluß vorgenommen hatte. Denn auch hier hatte der Erste Senat bereits letztlich eine „Prüfung auf Verletzung des Neutralitätsprinzips“ angestellt, ohne (herkömmlicherweise) einen „Eingriff in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit“ der Beschwerdeführer zuvor eigentlich darzulegen. Und auch hier hatte sich eine Verletzung der religiösen Freiheitsrechte der Beschwerdeführer offenbar mehr oder weniger zwanglos aus einer Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes ergeben sollen. Neu ist aber im Osho-Beschluß die Verknüpfung der Konzentration auf das Neutralitätsprinzip mit dem Gedanken eines spezifischen, engen Gewährleistungsgehalts der Glaubensfreiheit (auch wenn der Tenor freilich noch vom „Schutzbereich“ spricht), bei der das Neutralitätsprinzip nicht mehr ein zusätzlicher Aspekt der Dogmatik dieses Grundrechts, sondern das „Recht auf neutrale Behandlung“ dessen eigentlicher Inhalt wird.

c) Lösung Für die richtige Lösung des Osho-Falles kommt es darauf an, ob durch die staatliche Warnung in den Gewährleistungsgehalt des Grundrechts eingegriffen wurde. Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistet unbedingten (absoluten) Schutz vor staatlicher Verfolgung Andersdenkender. Da diese Verfolgung nicht die Form des „klassischen Eingriffs“ haben muß, ist der Schutz gegen sie auch nicht auf diese Eingriffe beschränkt. Insbesondere kann diese staatliche Verfolgung auch die Form einer öffentlichen Warnung vor einer Religionsgemeinschaft annehmen. Andererseits muß es sich aber um eine „verfolgende“ Maßnahme gerade wegen der religiösen Überzeugungen handeln; aus dem Grundrecht folgt kein weitergehendes Verbot an den Staat, sich mit Zielen und Aktivitäten der Träger dieses Grundrechts auch

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B. Kritik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

öffentlich auseinanderzusetzen. 254 Vorliegend lag das Ziel der Maßnahme nicht in der Unterdrückung religiöser Inhalte (wie etwa fernöstlichen Weisheitslehren, Wiedergeburtslehre usw.), sondern im Schutz v.a. auch Minderjähriger vor psychischer Manipulation, gehirnwäscheartigen Praktiken und dergleichen. Sofern die Sorge um die Anwendung solcher Praktiken in Tatsachen255 oder belastbaren Hinweisen begründet ist bzw. die Behauptung der Anwendung solcher Praktiken nicht offensichtlich als reiner Vorwand für die Verfolgung Andersdenkender erscheint, so ist der Gewährleistungsgehalt der Religionsfreiheit nicht betroffen, da diese als in die Rechtsordnung eingeordnetes Grundrecht keine „Erlaubnisnorm“ für derlei Praktiken bildet. Weiter bildet das Grundrecht auch keinen „Abwägungsposten“ in der rechtlichen Bewertung der staatlichen Bekämpfung solcher Praktiken, da Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV klarstellt, daß die religiöse Motivation eines Verhaltens die Rechtsordnung weder dispensiert („Erlaubnisnorm“) noch relativiert („Abwägungsposten“).

Vergl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 37 IV (S. 324). Auch das BVerfG hatte gerügt, daß die Äußerungen der Bundesregierung nicht auf konkrete Tatsachen gestützt wurden, vergl. E 105, 279 (299). 254 255

C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts aus systematischer und aus historisch-subjektiver Perspektive I. Ausgangspunkte des Gewährleistungsgehaltsdenkens 1. „Sprayer von Zürich“: eine nichtprivilegierende „Einordnungstheorie“ der Kunstfreiheit In der Sprayer-von Zürich-Entscheidung des damaligen Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts1 zeigt sich, soweit ersichtlich, erstmalig die Tendenz, den Schwerpunkt der rechtlichen Argumentation in die Prüfung des „Schutzbereiches“ zu verlegen bzw. die Frage nach einem (möglicherweise vom klassischen „Schutzbereich“ verschiedenen) Gewährleistungsgehalt andeutungsweise aufzuwerfen. Statt eine fast pauschale Weite des Schutzbereichs- und Eingriffsbegriffes auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung aufzufangen, will der Vorprüfungsausschuß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts den Gewährleistungsgehalt der Kunstfreiheit durch einen Blick auf die zum Schutze anderer Interessen bestehenden Rechtsnormen präziser bestimmen: die Reichweite der gewährleisteten Kunstfreiheit erstrecke sich „von vornherein“ nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung.2 „Überdies“ – fährt der Vorprüfungsausschuß fort, wobei es sich hier allerdings schon um ein obiter dictum, allenfalls ein „Zusatzargument“3 handeln muß – „enthält das Eigentumsgrundrecht gleichfalls eine Verbürgung von Freiheit; nach den vom Grundgesetz getroffenen Wertungen steht es nicht prinzipiell hinter dem der Freiheit der Kunst zurück. Gesetze, die eine Eigentumsbeschädigung mit Strafe bedrohen, verstoßen nicht gegen den Sinn dieser Freiheit.“ Die Entscheidung hat viel Ablehnung4, aber auch manche Zustimmung erfahren.5 NJW 1984, 1293 ff. BVerfG, NJW 1984, 1293 (1294). 3 Vergl. Kriele, JA 1984, 629 (636 ff.). 4 Vergl. nur Würkner, Das BVerfG und die Freiheit der Kunst (1994), S. 154; Winkler, Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen (2000), S. 240 ff.; Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 120 mit FN 502. 5 BVerwG, NJW 1995, 2648 ff. – Artemis und Aurora; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 20. Aufl. 2004, Rd.Nr. 616 f.; Henschel, NJW 1990, 1937 (1942); zustimmend auch Heyde, 1 2

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

Vereinzelt wird die Sprayer-von-Zürich-Entscheidung auch als Ausdruck der herkömmlichen Linie des Bundesverfassungsgerichts verstanden, nach der schrankenvorbehaltlose Grundrechte durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden.6 Aber das ist kaum richtig; Kriele hat insofern mit Recht darauf hingewiesen, daß nach der Argumentation des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats nicht die Kunstfreiheit durch die Eigentumsgarantie „beschränkt“ wird, sondern daß die Kunstfreiheit sich „von vornherein“ nicht auf verbotene Eigenmacht erstreckt, so daß sie also gar nicht (auch nicht durch andere Verfassungsgüter) „eingeschränkt“ werden müßte.7

2. Nichtprivilegierende Theorien der Wissenschaftsfreiheit Die – in der Hauptsache wegen ihres dogmatischen Neuansatzes – vielkritisierte Entscheidung des Vorprüfungsausschusses wurde alsbald von Wahl8 für die Wissenschaftsfreiheit fruchtbar gemacht.9 in: FS Zeidler II (1987), S. 1429 (1434); ebenso Isensee, in: FS Sendler (1991), S. 39 (58); Murswiek, DVBl. 1994, 77 (80) argumentiert letztlich genauso, ohne aber die Sprayer-vonZürich-Entscheidung explizit zu erwähnen (kritisch Kube, JuS 2003, 111 [113 FN 36]); vergl. auch bereits Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik (1985), S. 245: „Die Grundrechte gewährleisten prinzipiell nicht die Freiheit zum Eingriff in Rechte anderer“ (mit Bezug auf Dieter Suhr, JZ 1980, 166 ff.); dasselbe gilt von Lorenz, in: FS Lerche (1993), S. 267 (269 ff.), der übrigens (a. a. O., S. 269 FN 19) Wahl, UTR 14 (1991), S. 7 (31) als „ausdrücklich ablehnend“ gegenüber der Kritik Lerches (in: Lukes / Scholz [Hg.], Rechtsfragen der Gentechnologie [1986], S. 88 [90 ff.]) am weiten Verständnis des Schutzbereiches der Wissenschaftsfreiheit wahrnimmt – das Gegenteil ist freilich der Fall. – Eindeutig kritisch hingegen Zöbeley, NJW 1985, 254 (257 mit FN 47), a.A. Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen (1999), S. 238 FN 34, die Zöbeley zu den Befürwortern rechnet; zu diesen rechnet sie weiterhin auch Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 220 ff., der an dieser Stelle jedoch nur die Ansichten von Lorenz a. a. O. referiert, sowie Bayer, Das Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit (1997), S. 163 f., der hier aber nicht über die Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche, sondern über Grundrechtsmißbrauch bzw. Strukturprinzipien der Verfassung als Grundrechtsschranken spricht. Vergl. zum Ganzen auch Anger, Islam in der Schule (2003), S. 119 mit FN 397 m. w. N. 6 Vergl. Iliadou, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz (1999), S. 84 f. mit FN 325; ganz deutlich bei Bamberger, Der Staat 39 (2002), 355 (373): das BVerfG nehme eine Einzelfallabwägung vor. Aber das ist gerade nicht der Fall, sondern das BVerfG geht davon aus, daß die Sachbeschädigung ganz allgemein nicht in den Gewährleistungsgehalt der Kunstfreiheit fällt. 7 Kriele, JA 1984, 629 (636): der Hinweis auf den grundrechtlichen Schutz (auch) des Eigentums ist nur obiter dictum. Vgl. bereits oben, Teil A VIII 3 c). 8 Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 ff.; ursprünglich Vortrag zur Eröffnung des Akademischen Jahres 1986 / 87 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. am 22. Oktober 1986. 9 Kritisch Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung (1999), S. 145 FN 32; Iliadou, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz

I. Ausgangspunkte des Gewährleistungsgehaltsdenkens

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Anders als unter der Weimarer Reichsverfassung war eine Verengung des Schutzbereichs der Forschungsfreiheit unter Bezugnahme auf die unmittelbaren Auswirkungen der Forschungstätigkeit unter der Geltung des Grundgesetzes bis in die 1980er Jahre hinein ein kaum diskutiertes Thema.10 Allerdings waren in der Literatur bereits vereinzelt nichtprivilegierende Theorien der Wissenschaftsfreiheit vertreten worden.11

Hintergrund des damals neuerwachenden Interesses an den Grenzen der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) waren die bis heute aktuell gebliebenen Themenkreise verbrauchende Embryonenforschung, „Klonieren“, Stammzellenforschung und Hybridbildung.12 Dabei konnte Wahl jedenfalls auf eine theoretische Vorarbeit von Peter Lerche zurückgreifen, der – allerdings etwas am Rande zu Ausführungen über das Verhältnis der Würde des Menschen zur Wissenschaftsfreiheit – auch schon kritisiert hatte, daß der herkömmlichen und herrschenden Betrachtungsweise aufgrund der vermeintlichen tatbestandlichen Weite der Wissenschaftsfreiheit deren Schranken immer nur als externe, von außen an die „tatbestandlich gegebene Substanz der Forschungsfreiheit“ herantretende Begrenzungen erscheinen können, die diese zwar einzäunen, ihrerseits jedoch der „verfassungsunmittelbaren Rechtfertigung bedürfen“.13 Dies hielt auch Lerche schon für verfehlt. Festzuhalten ist vielmehr, daß die Forschertätigkeit nicht gegenüber der übrigen Rechtsordnung privilegiert ist, mithin auch Rechtgüter Dritter nicht in Anspruch nehmen kann, und dies nicht als Ergebnis einer Abwägung im Einzelfall14, sondern weil die Wissenschaftsfreiheit von vornherein nicht die Substanz anderer Rechtgüter zu Forschungszwecken beanspruchen kann.15 Am Beispiel des häufig mit der Forschungsfreiheit kollidierenden Tierschutzes16 erläutert Wahl seine Überlegungen zum Gewährleistungsgehalt der Wissenschafts(1999), S. 84 ff.; Collisy, in: Hellmut Wagner (Hg.), Rechtliche Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Forschung, Bd. 1 (2000), S. 309 (318, 320 ff.). 10 Collisy, in: Hellmut Wagner (Hg.), Rechtliche Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Forschung, Bd. 1 (2000), S. 309 (316). 11 Vergl. Roellecke, JZ 1969, 726 (729, 732 f.): Wissenschaftsfreiheit als individuelle Meinungsfreiheit des Wissenschaftlers in den Schranken des Art. 5 II GG, durch die Wissenschaftler nicht vor Nichtwissenschaftlern privilegiert, sondern selbst als Angehörige des Öffentlichen Dienstes dem „Grundrechtsbürger“ gleichgestellt werden. Vergl. auch Hailbronner, WissR 13 (1980), 212 (224); ähnlich dann auch Wahl, UTR 14 (1991), S. 7 (34 f.). 12 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (21). 13 Lerche, in: Lukes / Scholz (Hg.), Rechtsfragen der Gentechnologie (1986), S. 88 (90 f.). 14 Lerche, in: Lukes / Scholz (Hg.), Rechtsfragen der Gentechnologie (1986), S. 88 (91 FN 8 m. w. N.). 15 Lerche, in: Lukes / Scholz (Hg.), Rechtsfragen der Gentechnologie (1986), S. 88 (91): „Ebensowenig wie es der Tatbestand der Kunstfreiheit etwa rechtfertigt, fremdes Eigentum zu künstlerischen Zwecken zu beanspruchen, ebensowenig kann es in den privilegierenden Tatbestand der Forschungsfreiheit fallen, die Substanz irgendwelcher sonstiger Rechtsgüter zu Forschungszwecken zu beanspruchen.“

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

freiheit, wobei er diesen Begriff – Gewährleistungsgehalt – allerdings noch nicht gebraucht, wohl aber bereits vom „Herausarbeiten des spezifischen Gehalts“ eines Grundrechts17 bzw. der Frage nach Inhalt und Umfang der Gewährleistung18 bzw. Gewährleistungsumfang19 spricht. Auch bei einem vorbehaltlosen, mithin „gesetzes- und politikfesten“ Grundrecht gelten immanente Schranken, also solche, die „dem Grundrecht sozusagen von Anfang an innewohnten, die, richtig betrachtet, nicht von außen kommen und dem Freiheitsrecht nachträglich Grenzen auferlegen, sondern die von innen her, aus der Sache selbst gegebene Eingrenzungen geltend machen“.20 An dieser Stelle – und auch später – läßt Wahl offen, ob es sich bei diesen „immanenten Schranken“ im Ergebnis letztlich um Einschränkungen des Schutzbereiches handeln soll – wie es sein dann in der Folge entwickelter Ansatz eigentlich nahelegen würde – oder um „ungeschriebene oder nicht im selben Grundgesetzartikel geschriebene, aber echte Schranken im Sinne der herkömmlichen Schrankendogmatik“. Da er in seinen Erläuterungen die „immanenten Schranken“ mit dem zuvor beschriebenen Gestzesvorbehalt, den er am Beispiel des Art. 2 Abs. 2 GG erklärt21, teils parallel zu setzen scheint, spricht viel dafür, daß er die immanenten Schranken „Grundrechte Dritter“ und „mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte“22 – vielleicht letztlich inkonsequent – als ungeschriebene, aber jedenfalls (Vorbehalts-) Schrankenbestimmungen des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts versteht. – Im Sinne seines später vertretenen Ansatzes wäre es wohl konsequenter gewesen, hätte er das Konzept der „systematischen Gewährleistungsschranken“23 aufgegriffen.

Nachdem für Wahl ein Rückgriff auf Kompetenztitel zur Einschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte nicht in Frage kommt24, ist ihm folgende Situation dogmatischer Ausgangspunkt: ohne Schrankenvorbehalt gewährleistete Grundrechte wie die Wissenschaftsfreiheit können auch durch noch so vernünftige 16 Nach damaliger Rechtslage fand der Tierschutz nur im Kompetenzkatalog von Art. 74 I Nr. 20 GG Erwähnung, was – wenn man nach Rechtswerten von Verfassungsrang als möglichen Schranken des vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts fragt – zu dem bekannten Folgeproblem aus BVerfGE 69, 1 führte. Wahl will aber ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht keinesfalls im Sinne der Senatsmehrheit durch einen Kompetenztitel als „Rechtswert von Verfassungsrang“ eingeschränkt sehen und schließt sich insofern dem Sondervotum von Mahrenholz und Böckenförde (ebda. S. 57 ff.) an. 17 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (30). 18 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (32). 19 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (33). 20 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (24). 21 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (20 FN 3). 22 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (24). 23 Grundlegend Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, BK, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, Vorb. B XV 1, S. 122 ff. („Gewährleistungsschranken der Grundrechte“): „wohl wissend, daß es sich dabei im Unterschied zu Vorbehaltsschranken logisch gesehen um Begriffsfestlegungen handelt, die den Inhalt des Grundrechts bestimmen.“ Vergl. auch Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (177). 24 Vergl. Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (25 f.).

I. Ausgangspunkte des Gewährleistungsgehaltsdenkens

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Gründe des Allgemeinwohls, die keinen besseren verfassungsrechtlichen Anhalt haben als etwa Kompetenzbestimmungen, nicht „eingeschränkt“ werden – gleichwohl bzw. gerade deswegen geraten sie in Konflikt mit anderen Rechtsgütern, etwa dem Tierschutz.25 Daher ist die Frage nach „immanenten Schranken“ neu zu stellen.26 So gelangt Wahl zu der hier primär interessierenden Frage nach dem Gewährleistungsgehalt von (schrankenvorbehaltlos gewährleisteten) Grundrechten und der mit ihr in Zusammenhang stehenden Verlagerung des Schwerpunktes der Grundrechtsprüfung in den „Schutzbereich“ des jeweiligen Grundrechts. Dabei geht Wahl allerdings davon aus, daß jedes Grundrecht einerseits einen Schutzbereich, andererseits aber auch einen Gewährleistungsgehalt im Sinne einer „Engführung des Schutzbereichs auf das von der Erlaubnisnorm Gewährleistete“ hat. Die Frage nach dem Gewährleistungsgehalt würde also methodisch die Form eines neuen, zusätzlichen Prüfungsschrittes nach dem „Schutzbereich“ annehmen, unabhängig davon, ob man im Gewährleistungsgehalt einen Unteraspekt des Schutzbereiches erblickt oder eine ganz eigenständige Prüfungsstufe. Dies wirft allerdings die Frage auf, warum denn überhaupt noch der Schutzbereich zu prüfen ist, wenn es am Ende entscheidend auf den Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts ankommen soll. Jedenfalls betreffen die gewählten Beispiele sämtlich schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte. Von dieser Tatsache führt eine Brücke zu der hier vertretenen Ansicht, daß methodisch zwischen schrankenvorbehaltlosen und anderen Grundrechten zu unterscheiden ist: erstere haben einen Gewährleistungsgehalt, zweitere einen Schutzbereich.

Den zweiten spezifischen dogmatischen Ausgangspunkt gewinnt Wahl aus dem „grundsätzlichen Unbehagen“ an der „relativen Gehaltsarmut der im Verfassungsrecht dominierenden Abwägungsdogmatik“27. Für die allesentscheidende Abwägung zweier sogenannter Verfassungswerte enthalte die Dogmatik ein inhaltlich nur karges und schmales Entscheidungsprogramm. Eine nähere Analyse des jeweiligen Grundrechts werde scheinbar nicht für erforderlich gehalten. Der Rang- und Wertvergleich sei aber aufgrund seiner Unwägbarkeiten, seiner mangelnden Vorhersehbarkeit und seiner Einbußen an Rationalität eine Sackgasse der Grundrechtsdogmatik.28 Dritter spezifischer dogmatischer Ansatzpunkt Wahls ist schließlich die Forderung, das Postulat einer genaueren und gehaltvolleren dogmatischen Analyse des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit einzulösen. Hierzu gäbe es zwei Ansätze, nämlich einmal den der „Bereichsdogmatik“ (mit dem Namen Friedrich Müllers verbunden), der in der Regel auf den Versuch der Abstufung der Intensität grundrechtlichen Schutzes für unterschiedliche, dem Schutzbereichs eines Grundrechts unterfallende Tätigkeiten hinausläuft.29 Der andere Ansatz ist der „systematische“, 25 Zu den vor der Positivierung des Tierschutzes in Art. 20a GG (26. Juli 2002) geführten Kontroversen um dessen möglichen Verfassungsrang vergl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 528 f. m. w. N. 26 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (24). 27 Vergl. Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (29). 28 Ders., ebda.

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

der – im Gegensatz zur „Bereichsdogmatik“, für die dies ja begrifflich gerade ausgeschlossen ist – grundsätzlich für alle Grundrechte gleichermaßen gelten soll. Im Anschluß an die Sprayer-von-Zürich (oder Nägeli)-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fordert Wahl, im Rahmen einer „dreigliedrigen Analyse“30 nicht nur nach dem „Schutzbereich“ z. B. der Freiheit der Kunst zu fragen (dem die Graffitizeichnung des Nägeli „zweifellos“ unterfielen), sowie nach deren möglichen Schranken, sondern schon zuvor weiter zu untersuchen, was denn genau „Inhalt und Gewährleistung“ dieser Kunstfreiheit sei.31 Der systematische Einbau dieses mittleren Prüfungsschrittes sei schon wegen des starken Anwachsens des Grundrechtsschutzes, der Grundrechtsdogmatik und der mittlerweile zahlreichen Grundrechtsfunktionen seit 1949 erforderlich. Die Ausarbeitung des Gedankens vom Gewährleistungsumfang müsse die Dogmatik der Gegenwart ergänzen, da diese ansonsten allzu schnell auf reine Abwägung hinauslaufe.32 Der Sprayer-von-Zürich-Entscheidung stimmt Wahl methodisch zu. Auch ein Geologe, der partout auf einem fremden Grundstück bohren will, kann nicht unter Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit Rechte einfordern, die ein schlichter Bürger auch nicht hat. – Für die ihn interessierende Wissenschaftsfreiheit kommt er damit zu dem Ergebnis, daß ihr Gewährleistungsgehalt dahingeht, die Freiheit der Fragestellung und prinzipiell auch der Methode zu gewährleisten, die aber von der Durchführung bestimmter Versuche zu unterscheiden ist; für die Inanspruchnahme von Gegenständen und Rechtsgütern gewährt die Wissenschaftsfreiheit dem Forscher kein Privileg, hier gilt der Grundatz, daß z. B. Gegenstände erst zu Eigentum erworben werden müssen.33 Der Satz, daß die Wissenschaft sich die von ihr benötigten Mittel und Gegenstände nach Maßgabe der allgemeinen Rechtsordnung zu beschaffen habe, gelte allerdings unter dem Vorbehalt, daß die allgemeine Rechtsdordnung ihrerseits nicht fortschrittsfeindlich ausgerichtet34 sei. Für den Tierschutz kommt Wahl 1986 zu dem Ergebnis, daß das (einfache) Tierschutzgesetz wegen der essentiell gewährten „Freiheit der Fragestellung“ hinsichtlich solcher Forschungsvorhaben, deren Erkenntnisinteresse sich auf die Erkundung der biologischen Grundlagen tierischen Lebens richtet, durch die Forschungsfreiheit überwunden werden kann, aber andererseits Forschungsvorhaben mit ganz anderem Erkenntnisinteresse, bei denen der Tierversuch nur Mittel zum Zweck ist, weiterhin verbietet, da Tierversuche insofern nicht dem Gewährleistungsgehalt (Wahl spricht vom „spezifischen Gehalt“35 oder einfach der „Gewährleistung“) der Wissenschaftsfreiheit unterfallen.36 29 Beispiel ist die Unterscheidung des Werk- und des Wirkbereiches bei der Freiheit der Kunst: Eingriff in den Werkbereich ausgeschlossen (kein generelles Malverbot); aber: der Pflastermaler kann gezwungen werden, sich ein „ruhiges Pflaster“ zu suchen, statt auf der Kreuzung zu malen. 30 Eigentlich wäre sie ja viergliedrig, im Sinne von: Schutzbereich, Gewährleistungsgehalt, Schranken, Schranken-Schranken. 31 Vergl. Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (32). 32 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (33). 33 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (33 f.). 34 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (34). 35 Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (30). 36 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (34).

II. Gewährleistungsgehalt und Primat historisch-subjektiver Auslegung

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II. Gewährleistungsgehalt und Primat der historisch-subjektiven Auslegung In Wahls dargestelltem Aufsatz war bereits eine weitere Tendenz angeklungen, die dort allerdings noch nicht im Mittelpunkt stand, sondern seine grundrechtssystematische und demokratietheoretische Argumentation zum nichtprivilegierenden Charakter der Wissenschaftsfreiheit37 nur flankiert hatte: nämlich die Idee, daß der historisch-subjektiven oder historisch-genetischen Auslegung der Grundrechte eine herausgehobene, ja entscheidende Bedeutung zukomme.38 Diese jedenfalls zu den klassischen Auslegungscanones rechnende Methode wird teils auch ergänzt durch die Einführung allgemein-geistesgeschichtlicher Erwägungen, die die subjektiven Absichten „des Gesetzgebers“ mittelbar erhellen sollen.39 Unter historisch-subjektiver Auslegung ist das Abstellen auf den Willen des historischen Gesetzgebers zu verstehen. Teilweise wird dieser Begriff als unpassend kritisiert, da es nicht um den Blick etwa auf Vorläufernormen, sondern um die Auffassungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen gehe; daher sei die Bezeichnung „genetische“ oder „subjektiv-genetische“ Auslegung vorzugswürdig.40 Prima facie sind historische und genetische Auslegung voneinander zu unterscheiden.41 Allerdings werden sie vom Bundesverfassungsgericht meist miteinander vermengt.42 Freilich ist die Unterscheidung zwischen „historisch“ und „genetisch“ auch häufig insofern nicht leicht, als daß sich die subjektive (d. h. auf Vergl. auch Wahl, UTR 14 (1991), 7 (31 f.). Vergl. Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (26): „Dies ist nicht die Stunde der Verfassungsinterpretation, die behaupten könnte, dies sei alles schon 1949 vorbedacht gewesen oder heute gemäß der Figur des stillen Verfassungswandels immanent fortschreibbar.“ (Zu der Frage, ob der Tierschutz einen Rechtswert von Verfassungsrang bildet). 39 Vergl. Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (26): „Das MenschenwürdeKonzept und die Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes sind Ergebnisse der großartigen philosophischen und staatstheoretischen Tradition des Natur- und Vernunftrechts samt seiner ursprünglichen Quellen im Christentum. Aber – nach dieser Tradtion sind Grundrechte – Menschenrechte und nichts anderes.“ (Hervorhebung im Original). – Ähnlich auch Enders, in: Friauf / Höfling, BerlK (Stand: 9. Lieferung von 12 / 2003), Vorb. vor Art. 1, Rd.Nr. 42 (Stand: GW 10 / 2000): „eine Grundrechtstheorie gibt Auskunft darüber, was Grundrechte meinen, indem sie Freiheit und Gleichheit gewährleisten. Sie sieht die vorgefundenen positivrechtlichen Gewährleistungen hineingestellt in die Ideengeschichte und formuliert bewußt ein Vorverständnis, das den Horizont schlichter Gesetzesinterpretation überschreitet. Dieses Vorverständnis beeinflußt die Interpretation der einzelnen positiven Grundrechtsbestimmungen und definiert nicht zuletzt Vorgaben für die [ . . . ] [Dogmatik].“ Ders., ebda., Rd.Nr. 98: „Richtigerweise wird mit dem v.a. ideengeschichtlich orientierten Blick auf Sinn und Zweck herausgearbeitet, worin die spezifische Freiheitsgewährleistung des Grundrechts zu sehen ist.“ – Vergl. auch ders., Jura 2003, 34 (37). 40 Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 24 FN 56; die hier i.d.R. gewählte Terminologie, die auch die gängigste sein dürfte, folgt Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 20. 41 Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1 (2002), Rd.Nr. 25 f., 360 f.; Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 46 f.; BVerfGE 12, 205 (230 ff., 236 f.). 42 Vergl. etwa BVerfGE 11, 126 (130): Auslegung nach Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien als „historische“ Auslegung. 37 38

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

den Willen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen abstellende) Methode – wie eben schon deutlich wurde – nicht zwingend darauf beschränkt, den konkreten Willen individueller Personen zu ermitteln (was in den meisten Fällen wohl schon praktisch ausgeschlossen wäre), sondern auch allgemein fragt, was diese Personen (aus ihrer Zeit und dem damaligen begrifflichen Verständnis heraus) gedacht haben müßten. Von hier aus hat sich aus der älteren, subjektiven Auslegungslehre die heute herrschende objektive gebildet; denn von der Frage, was die an der Gesetzgebung Beteiligten gedacht haben müßten, ist es nur ein kleiner Schritt zu der Frage, was sie vernünftigerweise gedacht haben würden (objektive Auslegung).43 Rein historische Auslegung hat u.U. ihre Berechtigung; so kann eine Vorschrift wie Art. 33 Abs. 5 GG ohne auch historische Betrachtungen nicht sinnvoll ausgelegt werden. Dies ist aber methodisch unproblematisch, da die Norm selbst mit dem Verweis auf „hergebrachte“ Grundsätze gewisse historische Erwägungen anordnet; ähnliches gilt von institutionellen oder Institutsgarantien. Hiervon abgesehen, liefert aber auch die historische Auslegung im Sinne des Studiums von Vorläufernormen lediglich Tatsachen und empirische Befunde, die für die Normauslegung keine Aussagekraft entfalten können, da ihnen keine Aussage darüber zu entnehmen ist, ob der Gesetzgeber dem historischen Vorbild folgen wollte oder gerade nicht; insofern könnten nicht einmal die Befürworter der historisch-subjektiven (oder subjektiv-genetischen) Auslegungsmethode sich von der historischen Auslegung leiten lassen.44

Unter Rückgriff auf Wahls Ansatz45 fordert Böckenförde hinsichtlich aller Grundrechte die Einführung einer zusätzlichen Prüfungsstufe hinter dem Schutzbereich, nämlich die gesonderte Prüfung des „Gewährleistungsgehalts“ eines jeden Grundrechts; diese entscheidende Prüfung soll ausschließlich unter historisch-subjektiven Vorzeichen stehen.46 Nach Böckenfördes Auffassung ist die Ermittlung des Gewährleistungsgehalts eines Grundrechts, die zur „Engführung“ des weiten Schutzbereichs dient, mit einer historisch-subjektiven Analyse identisch.47 Diesem gedanklichen Ansatz folgte bereits die Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zu § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 JGG48, in der der rechtliche Vergl. zum Ganzen Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 24 f. Vergl. Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 46. 45 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (174 FN 37, 184). 46 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (174 ff.,178 ff., 186 ff.). 47 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (174 ff., 178 ff., 184, 186 ff.); kritisch Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. vor Art. 1 Rd.Nr. 122: „die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts [mißt] der historisch-genetischen Auslegung, also dem (oft weder klaren noch eindeutig zu ermittelndem) subjektiven Willen des (Grund-)Gesetzgebers entscheidendes und damit zu großes Gewicht bei – nach über 50 Jahren produktiver Entfaltung der Grundrechte und ihrer Dogmatik durch Literatur und Judikatur, vor allem jener des Bundesverfassungsgerichts, sowie im Lichte einer den Nationalstaat übergreifenden Grundrechtsentwicklung handelt es sich insofern um eine eigentümlich ahistorische und apolitische Vorstellung.“ 48 BVerfGE 74, 102 (116 ff.). Dabei fällt weiter auf, daß die wiedergegebenen Auffassungen der „Verfassungsväter“ einerseits teils offen spekulativen Charakter haben (a. a. O., S. 118 [Dr. Schmidt]) und andererseits hauptsächlich Mißstände im sowjetischen Machtbereich oder im Totalitarismus überhaupt anprangern (a. a. O., S. 116 f., 118); letzteres ist zwar historisch nachvollziehbar; jedoch folgt aus der Ablehnung menschenunwürdiger und rechts43 44

II. Gewährleistungsgehalt und Primat historisch-subjektiver Auslegung

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Gehalt des Art. 12 Abs. 2 und 3 GG aus der Darlegung der Ansichten von an dem verfassungsgesetzgebenden Verfahren beteiligten Personen erhellt wird.49 Nach herkömmlicher Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nimmt die historischgenetische Auslegung umgekehrt insofern eine Sonderstellung im Rahmen der Verfassungsauslegung ein, als daß sie herangezogen werden kann, um ein mit den anderen Auslegungsmethoden und im Wege objektiver Auslegung gefundenes Ergebnis zusätzlich zu stützen.50 Denn was die an der Ausarbeitung der Verfassung Beteiligten gewollt haben mögen, mögen diese zwar wissen, aber es hat keinen Ausdruck in der Verfassung gefunden.51 In der jüngeren Zeit wird hingegen in der Literatur teilweise die historisch-subjektive Auslegung als methodisch überlegen und daher für die richtige Auslegung entscheidend angesehen.52 Hierbei dürfte auch ein Einfluß amerikanischer Methodenlehren eine wichtige Rolle spielen, da ein Primat der historisch-subjektiven Auslegung der amerikanischen herrschenden Lehre und allgemeinen Praxis entspricht.53 staatswidriger Zustände als solcher noch nicht, was – sei es auch nur nach Ansicht der beteiligten Personen – in der Bundesrepublik konkret geltendes positives Verfassungsrecht sein soll. Denn dafür müßte man die „positiven“ Leitbilder dieser Beteiligten kennen. Zum Ganzen jedoch Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (176 f.): „eingehende Analyse der Entstehungsgeschichte und der daraus deutlich werdenden konkreten Zielrichtung und Abwehrfunktion [ . . . ]. Das lohnt sich nachzulesen. [ . . . ] Das ist ein programmatischer Satz, in welcher Weise die Ermittlung des Gewährleistungsinhalts einer Grundrechtsbestimmung zu erfolgen hat [ . . . ] und auf welcher Niveaulage sie sich bewegen soll – Grundrechtsjurisprudenz anstelle schnellfertiger, geschichtsvergessener juristischer Scholastik.“ 49 Etwas widersprüchlich zu dieser Thematik Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 ff., der einerseits (a. a. O., S. 199 FN 194) Böckenförde wegen dessen „Wiederbelebung der subjektiven Theorie“ angreift, andererseits jedoch (a. a. O., S. 195 FN 168) eine „substantiierte subjektivhistorische Auslegung“ verlangt und BVerfGE 74, 102 (116 ff.) gar als vorbildlich herausstellt. 50 Klassisch BVerfGE 1, 299 (312): „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.“ Vergl. auch BVerfGE 6, 55 (75); 10, 234 (244); 11, 126 (130); 48, 246 (260) sowie Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1 (2002), Rd.Nr. 25 FN 2 und 3 m. w. N. 51 Hans Meyer, VVDStRL 59 (2000), S. 322 (323) (Diskussionsbeitrag). 52 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 332 ff., 361; Franz Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), 132 ff.; vergl. auch Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 25 FN 73, 74 m. w. N. 53 So gilt dem Supreme Court die historisch-genetische Untersuchung der Ansichten der amerikanischen Verfassungsväter, der sog. Framers, als i.d.R. obligatorischer erster Schritt der Verfassungsauslegung (vergl. Fülbier, Die Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika [2003], S. 51 m. w. N., S. 53 f.). Andererseits verweigerte der Senat im Jahre 1987 entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

1. Franz Reimer In diesem Sinne will etwa Franz Reimer die Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit, Verläßlichkeit, aber auch Legitimität der Verfassungsauslegung stärken, indem er postuliert: nur subjektiv sei objektiv. Nur im Rahmen der subjektiv-historischen Auslegung sei der Gesetzesinterpret an etwas Bestimmbares gebunden, nämlichen den Willen des historischen Normgebers; alle anderen Auslegungsmethoden, insbesondere die teleologische, seien letztlich Selbstermächtigungen.54 Dabei stellt er freilich selber fest: „Ein Organ – ob Kollektivorgan oder monokratisches Organ – hat selbst keinen Willen; nur natürliche Personen können einen Willen bilden und äußern.“55 Wenn Reimer insofern „auf die Personengruppe“ abstellen will, „die sich im konkreten Fall durchgesetzt hat“, so ist dem entgegenzuhalten, daß auch diese jedenfalls ein Kollektiv wäre. Den eigentlich überzeugenden Grund für ein Primat der historisch-subjektiven Konzeption erblickt Reimer in dessen stabilisierenden Wirkung, die die Notwendigkeit fortwährender Aktualisierung der Interpretation56 entfallen lasse.57 Dieses Argument wirkt aber etwas „byzantinisch“ oder jedenfalls apolitisch und wird dem Grundgesetz als offene und bewegliche Verfassung, deren Auslegung den historischen Wandel der Lebensverhältnisse zu berücksichtigen hat, kaum gerecht.58 Durchaus zu Recht weist Reimer darauf hin, daß es letztlich nicht auf die „Suggestivbegriffe“ objektiv und subjektiv ankommt, sondern stets auf den einer „Auffassungsberücksichtigungspflicht“ zugrundezulegenden Zeitpunkt.59 Richtig ist wohl auch seine Beobachtung, daß typischerweise ein Nexus besteht zwischen der zugrundegelegten Theorie über das Warum der Geltung der Verfassung und dem präferierten Auslegungsstil.60 Präsident Reagan die Mehrheit für dessen Supreme-Court-Kandidaten Robert H. Bork, weil dieser die Suche nach dem „original intent“ der Framers als einzig richtige Methode der Verfassungsauslegung ansah, vergl. Fülbier, a. a. O., S. 46 m. w. N. 54 Vergl. Franz Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 132. 55 Franz Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 138. 56 Ähnlich auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 352: „Die geläufige Alternative ,Bindung an das Gesagte oder Bindung an das Gewollte‘ bedarf hiernach der Konkretisierung: Die ,Bindung an das Gesagte‘ kann nur unter der Voraussetzung die Bindung des Rechtsanwenders an die von ihm anzuwendende Norm im Stufenbau der Rechtskonkretisierung realisieren, daß die Bedeutung des Gesagten nicht – im Sinne einer rechtsmethodologischen ,Gebrauchstheorie‘ – nach den jeweils aktuellen, ebenso beweglichen wie beeinflußbaren Kommunikationskonventionen bestimmt wird, sondern nach dem entstehungszeitlichen Sprachgebrauch (sogenannte objektiv-historische Theorie).“ (Hervorhebung im Original). 57 Vergl. Franz Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 135. 58 Vergl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 7 I 2 (S. 58); Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 122. 59 Franz Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 132; vergl. auch Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991, S. 164. 60 Vergl. Franz Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 133 f. mit FN 360, 361; ähnlich bereits Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 80.

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2. Jestaedt Als noch radikaler erweist sich die Lehre Jestaedts, der letztlich die Normativität des Verfassungstextes in Abrede stellt: „Als solche darf die Norm, einem hartnäckigen begriffsrealistischen Mißverständnisse zum Trotz, nicht mit ihrer materiellen Hülse, der Sprache – genauer: dem in Schriftform materialisierten Normtext –, verwechselt werden. Mag auch der sprachliche Ausdruck ,das nächste und natürlichste Erkenntnismittel für den Gedanken‘ sein, so bildet er doch nur das Medium, um den von ihm tranportierten Sinn kommunizierbar zu machen und um dessen flüchtiger Gestalt Form zu verleihen. Der Normtext ist nicht die Norm, er figuriert nur als deren Platzhalter, um auf diese Weise dem ,unsichtbaren‘ Sinn, welche die Norm ihrem Inhalt nach ist, wahrnehmbare Gestalt zu verleihen: ,Die Worte des Gesetzgebers sind die Form, in welcher der Gesetzgeber seinen Willen verkörpert, nicht aber dieser selbst.‘ Genau dies verkennt aber das Bundesverfassungsgericht mit seiner vielfach wiederholten These, daß der Wille des Gesetzgebers bei der Auslegung des Gesetzes nur insoweit berücksichtigt werden dürfe, ,als er in dem Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat‘. Hier wird der Ausdruck mit dem Sinn verwechselt, die Form mit dem Inhalt, der Gesetzestext mit dem Gesetz.“61

Daraus folgt eine radikal voluntaristische62 Rechtstheorie: „Somit kann [ . . . ] eine Rechtsnorm als die objektive Geltung eines subjektiven, auf das Verhalten von Menschen intentional gerichteten Willensaktes begriffen werden. Inhalt der Norm und damit Ziel der Rechtserkenntnis ist infolgedessen der Sinn dieses menschlichen Willensaktes. Die Norm als solche hat keinen Willen, sie ,will‘ nichts: ,nur der Mensch kann etwas wollen‘. Ist, zum einen, Ziel der Rechtserkenntnis die Ermittlung des Inhalts einer Norm und stellt der Norminhalt sich, zum anderen, dar als der Sinn des vom Normsetzer gesetzten Willensaktes, so scheint der Schluß unabwendbar, daß Auslegung die Ermittlung des Normsetzerwillens bedeutet.“63 [ . . . ] Das Wollen des Normsetzers bestimmt [ . . . ] auch inhaltlich das Sollen der Norm.64

Dies kann aber schon allein vom sprachphilosophischen Standpunkt aus nicht richtig sein. Denn Jestaedt will im „Willen des Gesetzgebers“ einen archimedischen Punkt außerhalb der Sprache finden, von dem aus der eigentliche Textsinn gegen die Vielfalt möglicher Interpretationen gesichert wird. Wittgenstein hat anhand verschiedener Sprachspiele aufgezeigt, daß es nicht möglich ist, Meinen und Wollen als von der Sprache unabhängige Akte zu vollziehen; damit kommt die angeblich „äußerliche“ sprachliche Form der angeblichen „Innerlichkeit des Wil61 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 329 f.; vergl. ders., ebda., S. 328: „Auch die Grundrechte sind nichts als positives Recht“. 62 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 334 f. 63 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 331 mit Berufung auf Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 4 ff., 7, 9 ff. und ders., Allgemeine Theorie der Normen (1979), S. 2, 9 f., 14, 21 ff., 82, 136, 186 f., 202, 221, 238, 240, 244. 64 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 334 m. w. N.

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

lens“ stets schon zuvor.65 Jestaedt folgt hingegen einem Repräsentationsmodell, das die Sprache zum bloßen Ausdrucksmedium ohne Eigengewicht reduziert: die Norm ist der „reine“ Wille des Gesetzgebers, der Verfassungstext nur leere Hülse. „Rein“ kann dieser Wille aber schon deswegen nicht sein, weil er der Sprache nicht vorausliegt, nicht vom Sprachsystem unabhängig ist, sondern sich in dieses einschreibt. Daher kann man nicht von irgendeiner vor-sprachlichen Intention auf die Bedeutung eines sprachlichen Textes schließen, sondern immer nur von der Bedeutung eines Textes – sei dies das Grundgesetz selbst oder auch die Materialien dazu – auf die mögliche Intention des Textproduzenten.66 3. Kritik der historisch-subjektiven Auslegung Gegen ein Primat der historisch-subjektiven Methode spricht allein schon der technische Einwand, daß der Wille des Verfassungsgebers in praxi nicht zu ermitteln ist67, da stets nur Einzelmeinungen mehr oder minder zufällig festgehalten und überliefert wurden.68 Die Materialien und die Diskussionen des „historischen Verfassungsgebers“ schaffen kaum eine feste Basis der Auslegung69, und ihre Ergebnisse sind häufig als Formelkompromisse formuliert, die einen Konsens der historischen Beteiligten ermöglichen sollten; mithin bringt aber der Rückgriff vom Ergebnis in die Enstehungsgeschichte meist gerade keine größere Klarheit.70 Dies erkennt auch Jestaedt an, der den „Willen des Gesetzgebers“ ausdrücklich als „Chimäre“ oder „Hirngespinst“ bezeichnet: „Der Fehlschluß liegt indes darin, von der Fiktion auf deren mangelnde Berechtigung zu schließen.“71 Die Rechtswissenschaft, der es um normative Zurechnung und nicht um realpsychologische Zuschreibung gehe, greife vielfach auf Fiktionen zurück, um die vom Recht selbst vorausgesetzten Zusammenhänge und die von ihm bewerkstelligten Zurechnungen erfassen zu können.72 Dadurch, daß Jestaedt dies mit der Entscheidungsfindungs65 Vergl. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1 (1984), Nr. 552, Nr. 665; vergl. auch ebda., Nr. 36, 540, 663, 693 sowie Nr. 35 ff. i.V.m. Nr. 2. 66 Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1 (2002), Rd.Nr. 361d; aus rechtshistorischer Sicht zum Ganzen auch Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt (1997), S. 27. 67 Vergl. Hans Meyer, VVDStRL 59 (2000), 322 (323) (Diskussionsbeitrag). 68 So auch Würtenberger, in: FS Hollerbach (2001), S. 224 (227). 69 Vergl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1 (2002), Rd.Nr. 67d (S. 85): „Das Risiko liegt zunächst in der Vorstellung eines substantiellen gesetzgeberischen Willens. Der Gesetzgeber ist in der Demokratie keine Einzelperson, und die Redeweise von einem „Willen“ kann nur eine abkürzende bildliche Redeweise darstellen. Wenn man versucht, eine Metapher wörtlich zu nehmen, indem man diesen „Willen“ zur Grundlage der Gesetzesbindung macht, ähnelt dies dem Versuch, eine Motorhaube als Kopfbedeckung zu verwenden. Damit unterliegt man der Verhexung durch die Sprache.“ 70 Vergl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 7 I 1 b (2.) (S. 55). 71 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 354. 72 Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 354 f.

II. Gewährleistungsgehalt und Primat historisch-subjektiver Auslegung

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regel des Mehrheitsprinzips illustriert, die es erlaube, als Beschluß des gesamten Organs auszugeben, was nur dem Willen der numerischen Mehrheit der Organglieder entsprach73, wird deutlich, daß er ebenso wie Franz Reimer als „Wille des Gesetzgebers“ den „Willen derjenigen Gruppe, die sich durchgesetzt hat“ fingieren will, was aber, wie gesehen, das „technische Willensproblem“ eben nicht löst, da auch die Mehrheit ein Kollektiv ist, das als solches keinen (eindeutig feststellbaren) Willen hat. Weiter ist der historisch-subjektiven Methode dogmatisch entgegenzuhalten, daß derVerfassungsgeber ausweislich des Verfassungstextes selber (Präambel) „das Deutsche Volk“ ist. Da der abstrakte Charakter dieser Festsetzung ihrer Wirksamkeit nicht entgegensteht, müssen sich alle Versuche, den subjektiven Willen des Verfassungsgebers näher anhand der Auffassungen einzelner, letztlich zufällig an der Formulierung beteiligten Personen zu erschließen, dem Vorwurf aussetzen, sich schon anfänglich über die Textvorgabe hinwegzusetzen. Mithin gebietet von daher schon die Präambel eine objektive Auslegung74; und daher ergehen bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen „im Namen des Volkes“ (§ 25 Abs. 4 BVerfGG) und nicht im Namen herausgehobener Verfassungsväter und -mütter. Dies leitet schon über zu einem verfassungstheoretischen Einwand: die Verfassung ist aus den gegenwärtigen Zeitumständen heraus auszulegen, um nicht Unzeitgemäßes festzuschreiben.75 Die Verfassung dient nicht dazu, eine „Herrschaft der Toten über die Lebenden“ zu errichten.76 Das Auslegungsziel, den gesetzgeberischen Willen zu ermitteln, „versteinert“ die Verfassungsanwendung.77 Überhaupt scheint es nicht fernliegend, daß die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Betonung der subjektiv-historischen Auslegung in dem der Herkunft nach vormodernen Gedanken der „paktierten Verfassung“ zu suchen sind.78 Das dem ursprünglichen Verständnis des Verfassungsvertrags inhärente statische Verfassungsdenken des Ständestaates ist aber mit der Idee der Verfassungsgebung kraft Vergl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 354 f. Insofern bildet die Präambel eine positiv-rechtliche Auslegungsregel, die auch Jestaedt anerkennen will, aber im Verfassungsrecht nicht erkennt; vergl. ders., Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 347 f. 75 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 7 I 1 b (5.) (S. 56). 76 Pestalozza, Der Staat 2 (1963), 425 (428 f.) m. w. N.: „Gegenüber dem Aktualisierungsgebot [dem Zwang zur Anwendung der Verfassungsnorm im konkreten Einzelfall] schlägt auch das demokratische Argument, nach dem die einmal getroffene und fälschlich statischpunktuell aufgefaßte Entscheidung des Verfassungsgebers die Auslegung bindet, nicht durch. Eine so verstandene Verewigung der Verfassungsnorm wäre in Wahrheit Bindung an eine höchst kontingente Situation, und der Versuch, der Stabilität und Kontinuität der Verfassung zu dienen, würde in sein Gegenteil durch Entzeitung (G. Husserl) des Rechts, d. h. Festlegung auf eine Zeit, einmünden.“ 77 Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1 (2002), Rd.Nr. 361e; zum Ganzen auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, 9. Aufl. 2005, § 4 II (S. 21 ff., v.a. 23 f.), § 8 (S. 42 ff.), § 10 II (S. 49 ff.). 78 Vergl. Würtenberger, in: Behrends / Starck (Hg.), Gesetz und Vertrag I, S. 107 ff. 73 74

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

Volkssouveränität nicht kompatibel; ein modernes Verfassungsvertragverständnis muß diesen als Generationenvertrag interpretieren. Dies bringt Condorcet bereits 1789 mit seinem Satz auf den Punkt: „Une génération n’a pas le droit d’assujettir à ses lois les générations futures.“79 Daraus begründet sich aber verfassungstheoretisch nicht nur die Möglichkeit der Verfassungsänderung, sondern auch die Richtigkeit ihrer Auslegung nach den Bedürfnissen der Lebenden und nicht nach dem Willen der Verstorbenen.80 Damit erweist sich das Postulat eines Primats der historisch-subjektiven Auslegung zugleich auch als rechtsstaatliches Problem. Denn wenn im Rechtsstaat Gesetze herrschen und nicht Menschen81, so darf diese Gesetzesherrschaft nicht dadurch konterkariert werden, daß bei der Auslegung der Gesetze und insbesondere der Grundrechte die Ansichten eines kleinen Kollektivs für entscheidend erklärt werden. Anders gewendet: die juristische Methode wendet das Recht auf Tatsachen an; beides ist also zu unterscheiden. Die Auffassungen von „Verfassungsvätern und -müttern“ sind aber jedenfalls nicht das Recht, sondern ebenfalls Tatsachen; gewinnen sie entscheidenden Einfluß auf die konkrete Auslegung des Rechts, so würden Tatsachen auf Tatsachen angewendet.

Entscheidend gegen die Konzeption Jestaedts spricht vor allem, daß sie eine besonders radikale, gewissermaßen „kompromißlose“ Variante des Schmittschen Dogmas darstellt.82 Oben war unter der Bezeichnung Schmittsches Dogma ein Grundrechtsdenken kritisiert worden, das menschenrechtlich-rechtsphilosophische Freiheitsvorstellungen dergestalt in die dogmatische Ausdeutung positiver, staatlich gewährleisteter Grundrechte einschleust, daß sie diese Vorstellungen hinsichtlich des positiven Rechts für auslegungsleitend erklärt.83 Dies bedeutet aber eine Kategorienverwechselung zwischen Rechtsphilosophie bzw. liberaler Rechtspolitik einerseits und Grundrechtsdogmatik andererseits und ist daher methodisch unzulässig. Auch die historisch-subjektive Auslegung beruht eigentlich auf einer Kategorienverwechselung, nämlich auf dem Kurzschluß zwischen rechtshistorischer Quellenforschung einerseits und Grundrechtsdogmatik andererseits; damit setzt sie sich dem Vorwurf aus, juristische Dogmatik durch eine in der Verfassung nicht enthaltene Staatstheorie zu ersetzen84, indem sie nicht mehr Wortlaut und 79 Zitiert nach Würtenberger, in: Behrends / Starck (Hg.), Gesetz und Vertrag I, S. 107 (118). 80 Vergl. Würtenberger, in: Behrends / Starck (Hg.), Gesetz und Vertrag I, S. 107 (122 f.). 81 Leisner, NJW 1997, 636 (638); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 12 I 1 (S. 95). 82 Vergl. bereits oben, Teil A VI 3 a.E. 83 Vergl. bereits oben, Teil A VI. 84 So die Kritik Konrad Hesses an Böckenfördes Referat über die Gewissensfreiheit auf der Staatsrechtslehrertagung 1969 (Böckenförde, VVDStRL 28 [1970], 33 ff.); vergl. Konrad Hesse (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 28 (1970), S. 132; zum Ganzen Frieder Günther, Denken vom Staat her (2004), S. 314 f.

II. Gewährleistungsgehalt und Primat historisch-subjektiver Auslegung

161

Systematik der grundgesetzlichen Normen ausdeutet, sondern Rechtsfolgen aus rechtshistorischen Quellen oder gar rechts- und geistesgeschichtlichen Allgemeinerwägungen ableitet, wodurch aber die normative Qualität der Grundrechte des Grundgesetzes immer mehr aus dem Blick gerät, bis sie bei Jestaedt im Namen eines hinter der Norm als „leere Hülse“ angeblich lauernden Willens des freilich fingierten Gesetzgebers letztlich geleugnet wird.85 Auch wird hier – in Gestalt der erwähnten Kategorienverwechselung, also des Kurzschlusses von der Quellenforschung auf die Dogmatik – nichts anderes kritisiert als der naturalistische Fehlschluß selbst, nämlich der Schluß von einem Sein auf ein Sollen. Damit ist nicht gesagt, daß die historisch-subjektive Auslegung per se unzulässig wäre. Denn das Verbot des naturalistischen Fehlschlusses besagt auch nicht, daß Sein und Sollen niemals zusammenfallen können; sondern das Zusammenfallen von Sein und Sollen bezeichnet gerade den gesollten, den richtigen Zustand. Es besagt lediglich, daß aus dem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Dies bestätigt die Richtigkeit der hergebrachten Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, nach der der historisch-subjektiven Auslegung unter den Auslegungsmethoden insofern eine Sonderrolle zukommt, als daß sie zur Bestätigung eines mit den übrigen Methoden gefunden Auslegungsergebnisses zusätzlich und bekräftigend herangezogen werden darf. Sie ist anderseits aber nie entscheidend.

Allgemein gilt: stünde in den Gesetzgebungsmaterialien nichts anderes als im Normtext, so wäre historisch-genetische Auslegung gegenstandslos. Steht in ihnen jedoch etwas anderes, so muß sich der historisch-genetische Ausleger – erst Recht, wenn er einen Primat dieser Auslegungsart behauptet – aus einem Nicht-Normtext heraus gegen den Normtext entscheiden.86 Während also der herkömmlichen Vorstellung von einer bestimmenden Bedeutung der historisch-subjektiven Auslegungsart entgegenzuhalten ist, daß sie unzulässigerweise die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen mit dem objektiven Gesetzesinhalt verwechselt87, trifft dies auf Jestaedt nicht zu, da dieser sich des Unterschiedes bewußt ist und auf dieser Basis für eine Substitution der Norm durch den versteinert-fingierten „Willen“ der historischen Gesetzgeber eintritt. Hierdurch wird aber die rechtshistorische Quellenforschung nicht nur als maßgebliches Auslegungskriterium in die (Grundrechts-)Dogmatik eingeführt, sondern müßte sie sogar ersetzen; einer solchen Absage an die Normativität der Grundrechte steht aber der Wortlaut der Vorschrift aus Art. 1 Abs. 3 GG entgegen. Daher ist auch die Verfassung im Ergebnis objektiv auszulegen88; es ist nach dem objektivierten Willen des Verfassungsgebers zu fragen, so wie er sich aus dem 85 Unter rein praktischen Gesichtspunkten führt diese Annahme zu der Konsequenz, daß eine Norm, zu der Gesetzgebungsmaterialien fehlen oder unergiebig sind, als rechtlich nicht existent behandelt werden müßte, da der „dahinterstehende“ Wille des Gesetzgebers nicht ermittelt werden kann; vergl. schon Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 28. 86 Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1 (2002), Rd.Nr. 441. 87 Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1 (2002), Rd.Nr. 25 a.E. 88 Vergl. statt vieler Maurer, StaatsR I, 4. Aufl. 2005, § 1 Rd.Nr. 49; Schmidt-Bleibtreu / Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, 10. Aufl. 2004, Einl. Rd.Nr. 86, die sogar mei-

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

Wortlaut der jeweiligen Verfassungsbestimmungen sowie dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt sind.89 Der Entstehungsgeschichte einer Norm kommt hingegen nur untergeordnete Bedeutung90 zu, und zu Recht zieht das Bundesverfassungsgericht die Enstehungsgeschichte meistens nur zur Bestätigung einer bereits gewonnen Auffassung heran.91 Die unkontrollierte Übernahme des früheren Gehalts von Grundrechten mit langer Entwicklungsgeschichte führt fast notwendig zu Irrtümern.92 Schließlich ist es auch schon rechtstheoretisch – und nicht einmal erst dogmatisch – verkehrt, subjektive Vorstellungen gesetzgebender Instanzen mit dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen. 93 Mithin kann auch dem Vorschlag, die schrankenvorbehaltosen Grundrechte (oder die Grundrechte überhaupt) durch die Einführung einer zusätzlichen, als „Gewährleistungsgehalt“ zu bezeichnenden Prüfungsstufe, in der es wesentlich oder entscheidend auf historisch-subjektive Erwägungen ankommen soll, besser zu handhaben, keine Zustimmung finden. Unter dem Gewährleistungsgehalt eines schrankenvorbehaltlosen Grundrechts ist etwas anderes zu verstehen: nämlich das Ergebnis einer Wortlaut-, v.a. aber auch einer systematischen Auslegung, die die Konsequenzen der schrankenvorbehaltlosen Gewährleistung eines Grundrechts in Zusammenschau mit dem Gleichheits- und v.a. dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes in den Blick nimmt und von daher dessen in die Rechtsordnung eingeordneten Charakter erkennt.

nen, der Streit zwischen objektiver und subjektiver Methode habe wegen allgemeiner Anerkennung des „Willens des Gesetzes“ iSd. objektiven Methode seine Bedeutung verloren. 89 Vergl. BVerfGE 1, 299 (312); 6, 55 (75); 8, 274 (307); 10, 234 (244); 11, 126 (130 f.); 48, 246 (260). 90 Vergl. BVerfGE 54, 277 (298) mit Verweis auf Larenz, Methodenlehre, 4. Aufl. 1979. Larenz äußert sich hier ambivalent, im Ergebnis aber gegen eine mehr als nur untergeordnete Bedeutung der historischen Auslegung. Einerseits: „Es wäre ersichtlich sinnlos, nach den Vorstellungen zu forschen, die sich [ . . . ] diejenigen, die dem Gesetzentwurf zugestimmt haben, von der Bedeutung dieser oder jener Gesetzesbestimmung gemacht haben. Solche Vorstellungen lassen sich nicht ermitteln, und wenn sie sich ermitteln ließen, welche sollten maßgebend sein, wenn sie auseinandergehen?“ und: „Ihre [der Gesetzesväter] Billigung gilt [ . . . ] dem Text als solchem, nicht einer bestimmten Auslegung des Textes.“ (S. 316). Andererseits: „deutliche Vorstellungen über die genaue Bedeutung [ . . . ] einer einzelnen Bestimmung [ . . . ] kann man am ehesten von den Verfassern des Gesetzestextes und den Mitgliedern beratender Kommissionen erwarten. [ . . . ] Ihre Meinungen sind [ . . . ] von erheblichem Wert für die Auslegung“ (S. 317). Schließlich: „Indessen stellen sie keine bindende Richtschnur für den Ausleger dar, der [ . . . ] nicht selten von ihnen abweichen wird.“ (S. 317). Vergl. allerdings auch Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 316 ff., S. 328 ff.: hier fehlt die klare Stellungnahme gegen die historische Auslegung. 91 BVerfGE 4, 358 (364); 11, 126 (130); 21, 209 (218); 67, 100 (130); 83, 341 (354); 96, 139 (149); 103, 111 (126 f.). 92 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, BK, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 3 Rd.Nr. 165. 93 Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 8. Aufl. 2002, Rd.Nr. 25 a.E. m. w. N.

III. Gewährleistungsgehalt als Ergebnis systematischer Auslegung

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III. Gewährleistungsgehalt als das Ergebnis systematischer Auslegung Dieser Gedanke ist auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls nicht völlig fremd. Um diese These zu illustrieren, ist die MaastrichtEntscheidung heranzuziehen.

1. Maastricht-Urteil In der Maastricht-Entscheidung 94 kommt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich auf Grundlinien der Sprayer-von-Zürich-Entscheidung zurück. Die Frage nach einem Eingriff in das schrankenvorbehaltlos gewährleistete95 grundrechtsgleiche allgemeine Wahlrecht aus Art. 38 GG will er nämlich „am Maßstab des Gewährleistungsinhalts“ dieser Vorschrift messen und stellt fest, dieser Gewährleistungsinhalt werde durch das Zustimmungsgesetz, wie es sich aus dem Inhalt des EU-Vertrages (als Gegenstand der Zustimmung) ergebe, nicht verletzt.96 Der Begründung fehlen allerdings nähere Erläuterungen zum genauen methodischen Ansatz – d. h., warum denn durch eine „nicht-hinreichende Aushöhlung“97 des Art. 38 GG dessen „Gewährleistungsinhalt“ nicht berührt werde, anstatt z. B. jedenfalls eine Beeinträchtigung oder einen Eingriff in den Schutzbereich anzunehmen, die oder der aber durch kollidierendes Verfassungsrecht, wie etwa die Präambel oder Art. 23 GG gerechtfertigt werden kann. Verständlich wird sie methodisch daher eigentlich nur als konsequente Fortschreibung der Sprayervon-Zürich-Rechtsprechung, was zugleich auch gegen die These Dreiers sprechen würde, diese sei „isoliert und ohne Folgen“ geblieben.98 Auch ohne nähere Erläuterungen zum methodischen Ansatz ist allerdings in der Maastricht-Entscheidung an eher versteckter Stelle, nämlich bei der eingangs BVerfGE 89, 155 ff. Statt aller Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 2 (1998), Art. 38 Rd.Nr. 61 m. w. N. 96 BVerfGE 89, 155 (181). 97 Vergl. ebda., S. 182: „Das durch Art. 38 GG gewährleistete Recht, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluß zu gewinnen, schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, dieses Recht durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 III i.V. mit Art. 20 I und II GG für unantastbar erklärt, verletzt wird [ . . . ]. – Ebda., S. 181: „Durch den Umfang der eingeräumten Aufgaben und Befugnisse und die im Vertrag geregelte Form der Willensbildung in der Europäischen Union und den Organen der Europäischen Gemeinschaften werden die Entscheidungs- und Kontrollzuständigkeiten des deutschen Bundestages noch nicht in einer Weise entleert, die das Demokratieprinzip, soweit es Art. 79 III für unantastbar erklärt, verletzt [ . . . ].“ 98 Vergl. Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. vor Art. 1 Rd.Nr. 120 FN 502. Gegen diese These auch Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte (1999), S. 238 FN 35. 94 95

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

berührten Prüfung der Sachentscheidungsvoraussetzungen, der möglichen Betroffenheit der Antragsteller in eigenen Rechten, erstmals eine nicht nur terminologische, sondern auch inhaltliche Unterscheidung zwischen Sachbereich und Gewährleistungsinhalt eines grundrechtsgleichen Rechts, nämlich des Wahlrechts aus Art. 38 GG, festzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hält hier nämlich fest: „Gibt der Deutsche Bundestsag Aufgaben und Befugnisse auf, insbesondere zur Gesetzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt, so berührt das den Sachbereich, auf den der demokratische Gehalt des Art. 38 GG sich bezieht.“99 Diese Aussage soll dann aber, in die herkömmliche Terminologie übersetzt, nicht einfach die „Eröffnung des Schutzbereiches“ des grundrechtsgleichen Rechts bedeuten, woraufhin dann nach einem „Eingriff“ (bzw. einer verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftigen Beeinträchtigung) zu fragen wäre. Sondern vorher ist zu klären, ob über das Betroffensein des Sachbereichs hinaus hier der „Gewährleistungsinhalt“ des grundrechtsgleichen Rechts berührt ist. Wie kann man das herausfinden? Das Bundesverfassungsgericht weist zwar (so zutreffend wie letztlich auch banal) en passant darauf hin, die – Art. 38 GG hier teilweise konterkarierende – Regelung aus Art. 23 GG sei „vom verfassungsändernden Gesetzgeber eigens für die europäische Integration und deren Fortgang geschaffen worden“100. Im weiteren enthält es sich jedoch – ganz im Gegensatz etwa zur „§ 10 JGG“-Entscheidung101 – jeglicher rechts- oder geistesgeschichtlicher Erwägungen, die dem Herausarbeiten eines „Gewährleistungsinhalts“ nach der historisch-subjektiven Methode dienen könnten, sondern will konsequent den „Gewährleistungsinhalt“ aus einer systematischen Zusammenschau der auf den ersten Blick sich widerstreitenden grundgesetzlichen Normen finden: „Sie [die Verfassungsnorm aus Art. 23 GG] bestimmt insoweit auch den Gewährleistungsinhalt des durch Art. 38 GG begründeten Rechts“102. – „Das Recht des Bf. aus Art. 38 GG kann demnach verletzt sein, wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des deutschen Bundestages so weitgehend auf ein von den Regierenden gebildetes Organ der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaft übergeht, daß die nach Art. 20 I und II i. V. mit Art. 79 III unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsmacht nicht mehr erfüllt werden.“103 Ist dies aber nicht der Fall – so im Ergebnis die Maastricht-Entscheidung – so ist der „Gewährleistungsinhalt“, so wie er sich in der Zusammenschau mit Art. 23 GG als scheinbar oder teilweise konterkarierende Vorschrift im Ergebnis darstellt, nicht betroffen und die Frage nach einer etwaigen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, hier z. B. durch die europäische Integration als Rechtswert von VerfassungsBVerfGE 89, 155 (172). BVerfGE 89, 155 (172). 101 BVerfGE 74, 102 (115 ff.), vergl. schon oben unter II. 102 BVerfGE 89, 155 (172). 103 BVerfGE 89, 155 (172). 99

100

III. Gewährleistungsgehalt als Ergebnis systematischer Auslegung

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rang, stellt sich nicht.104 Da hier ein methodischer Unterschied zur Prüfung grundrechtsgleicher Rechte nicht besteht, verlagert sich der Schwerpunkt der Grundrechtsprüfung somit in der Konsequenz der Maastricht-Entscheidung denknotwendig von der bisher dogmatisch überfrachteten Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung nach oben in die Frage nach dem Gewährleistungsgehalt des schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts, die sich ihrerseits aus der sytematischen Zusammenschau prima facie partiell widersprüchlicher grundgesetzlicher Normen beantwortet. 2. Gewährleistungsgehalt als Ergebnis „abstrakter Abwägung“? Nicht zu verwechseln ist dieser Ansatz der systematischen Bestimmung des Gewährleistungsgehalts schrankenvorbehaltloser Grundrechte mit der teils vorgeschlagenen Bestimmung des Gewährleistungsgehalts105 durch „abstrakte Abwägung“ im Sinne der Engführung des „Schutzbereiches“ solcher Grundrechte.106 Dieser Ansatz wäre auch nicht unbedingt neu, da teilweise etwa unter „praktischer Konkordanz“107 nicht nur die Abwägung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, sondern auch schon Erwägungen zum Schutzbereich gefaßt worden sind.108 Bei dem Versuch der Schutzbereichsbegrenzung etwa durch Grundrechte anderer tritt jedoch, wie bereits gezeigt, das Prioritätenproblem auf; ein Satz der Art: das Grundrecht A endet dort, wo das Grundrecht B (eines Dritten) beginnt, erweist sich als inhaltsleere Strukturtheorie, die nicht zu begründen vermag, warum und wann sich welches Recht durchsetzt. Da außerdem die Argumente, die im Rahmen der schutzbereichsbeschränkenden Ermittlung des so verstandenen Gewährleistungsgehalts zu erwägen wären, eigentlich mit denjenigen identisch sind, die nach herkömmlicher Methode zur Eingriffsrechtfertigung heranzuziehen wären, besteht die Gefahr, daß letztlich doch nur auf den Einzelfall zugeschnittene Beschränkungen im Rahmen eines so verstandenen „Gewährleistungsgehalts“ als allgemein nur behauptet werden, wenn Wertungen von der Rechtfertigungsebene in die Schutzbereichsebene vorverlagert werden.109 104 Da die europäische Integration sich vor dem Hintergrund der Präambel sowie des Art. 23 GG als herkömmlicher „Rechtswert von Verfassungsrang“ darstellt, würde sich die oben kurz berührte Frage nach der Ableitbarkeit solcher Werte auch aus Gesetzgebungskompetenzkatalogen in der Folge von BVerfGE 69, 1 (21 f., 57 ff.) hier nicht stellen. 105 Vergl. Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? (Bryde-Kolloquium, 2004), S. 53 (59). 106 Vergl. Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? (Bryde-Kolloquium, 2004), S. 53 (72) („abstrakte Klärung“). 107 Hoffmann-Riem, in: Bryde-Kolloquium (2003), S. 53 (59). 108 in diese Richtung etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 423, 448, 472; eher in Richtung herkömmlicher Einzelfallabwägung jedoch ders., ebda., Rd.Nr. 72, 317 ff., 325, 332, 393, 400. 109 Vergl. Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (192).

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C. Der Begriff des Gewährleistungsgehalts

Der Gewährleistungsgehalt ist das Ergebnis einer hauptsächlich systematischen Auslegung der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte. Diese systematische Auslegung erkennt in den schrankenvorbehaltlosen und mithin gesetzlich nicht „hegbaren“ Grundrechten Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe im Sinne eines absoluten Verbots der staatlichen Verfolgung Andersdenkender. Als in die Rechtsordnung eingeordnete Grundrechte gewährleisten diese Grundrechte jedoch keine (Handlungs-)privilegien, d. h. sie sind keine Erlaubnisnormen im forum externum. Da die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte wie die religiösen Freiheitsrechte, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in der Regel Verhaltensweisen schützen, die ohnehin von den Spezialgrundrechten oder jedenfalls der allgemeinen Handlungsfreiheit mit deren jeweiligen Schrankenregelungen garantiert würden, darf nun der Grundrechtsträger hinsichtlich seiner äußeren Handlungsfreiheit nicht gegenüber seinen Mitbürgern privilegiert werden, weil er sich auf eine besondere Motivation wie Religion, Kunst oder Wissenschaft beruft; der Gewährleistungsgehalt der schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Freiheitsrechte reicht im forum externum nicht weiter, als dies bei ohne Spezialmotivation ausgeübter grundrechtlicher Jedermannsfreiheit der Fall wäre. Für die religiösen Freiheitsrechte ist dies besonders deutlich in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV klargestellt; für die Wissenschaftsfreiheit und die Freiheit der Kunst folgt es aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie aus der Zusammenschau der schrankenvorbehaltlosen Gewährleistung, die auch durch den Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG bestätigt wird, mit dem Demokratieprinzip.

D. Der Gewährleistungsgehalt der religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte und der Gewissensfreiheit des Grundgesetzes I. Rechtspolitische Vorüberlegungen 1. Rechtsstaat, Demokratiegebot, Akzeptanzerfordernis Die Bundesrepublik Deutschland gewährleistet Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG). Sie tut dies und kann dies aber nur tun als das, was sie ist, nämlich ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1). Auch bei der Gewährleistung individuell-freiheitssichernder Grundrechte geht alle Staatsgewalt vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Existenzberechtigung des Staates liegt daher nicht nur im Schutz gleicher subjektiver Rechte, sondern auch in der Gewährleistung eines Meinungs- und v.a. Willensbildungsprozesses, in dem sich freie und gleiche Bürger darüber verständigen, welche Ziele und Normen im gemeinsamen Interesse liegen.1 Die Rechtssubjekte müssen sich selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen Autonomie, auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll2; dies bringt Habermas auf den Punkt, daß im Zeichen einer vollständig säkularisierten Politik der Rechtsstaat ohne „radikale“ Demokratie nicht zu haben und nicht zu erhalten sei.3 Demgegenüber hat sich die richterliche Rechtsfortbildung durch das Bundesverfassungsgericht längst zur impliziten Gesetzgebung ausgeweitet und damit die Rationalität dieser Rechtsprechung ebenso gefährdet, wie die Legitimationsbasis der rechtsprechenden Gewalt überfordert.4 Das Glaubensund Gewissensregime des Bundesverfassungsgerichts mit seiner Annahme weiter, die Rechtsordnung und Verwaltungspraxis relativierender „Schutzbereiche“ und seiner Tendenz, ein ebenfalls weit verstandenes Neutralitätsprinzip zum Recht auf neutrale Behandlung zu subjektivieren, ist demokratisch nicht legitimiert. Wo das Bundesverfassungsgericht hingegen trotz des Schutzes der Glaubens- und Gewissensfreiheit das Demokratieprinzip mitberücksichtigen will, ist dies – trotz der rechtspolitisch richtigen Zielsetzung – grundrechtsdogmatisch nicht hinnehmbar. Denn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den „religiösen Bezü1 2 3 4

Vergl. Habermas, Faktizität und Geltung, 5. Aufl. 1997, S. 329. Habermas, Faktizität und Geltung, 5. Aufl. 1997, S. 13. Ders., ebda. Habermas, Faktizität und Geltung, 5. Aufl. 1997, S. 521.

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D. Der Gewährleistungsgehalt

gen in der Schule“5 läuft darauf hinaus, daß die einfachen Landesgesetzgeber ein schrankenvorbehaltlos gewährleistetes (!) Bundes(!)grundrecht auf jeweils unterschiedliche Weise (!) begrenzen dürfen. Eine dahingehende Ermächtigung ist Art. 7 Abs. 1 GG aber nicht zu entnehmen.6 Eine demokratische und mithin auf breite Akzeptanz7 in der Bevölkerung treffende Religions- und Integrationspolitik erscheint vor dem Hintergrund gerade der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Fällen wie dem „Kreuz in der Schule“8, dem „Kopftuch der Lehrerin“9 und dem „Schächten“10 eher in weitere Ferne gerückt. Rechtspolitisch spricht vieles dafür, daß das hergebrachte Verständnis der religiösen Freiheiten des Grundgesetzes zur Bewältigung der Gegenwartsprobleme immer weniger geeignet ist, so daß es sich quasi als ein Relikt der „formierten“ (Ludwig Erhard), v.a. viel homogeneren Gesellschaft der langen Wirtschaftswunderjahre darstellt. Die von der herrschenden Meinung auf das Grundrecht zurückgeführten Einflußmöglichkeiten von Minderheiten im staatlichen und gesellschaftlichen forum externum hat teils Formen angenommen, die mehr und mehr auch als echtes Demokratiedefizit wahrgenommen werden, zumal sie vielfach mit einer „Selbstzensur“ der Mehrheit verbunden sind.11

2. Islamische Herausforderung12 Speziell die hergebrachte Auslegung der Glaubens- und Gewissensfreiheit wird sein geraumer Zeit durch die Anwesenheit von über drei Millionen Muslimen in Deutschland in Frage gestellt.13 Vergl. BVerfGE 41, 29 (44 ff., 50 f.); 93, 1 (22 f.); 108, 282 (302). Vergl. bereits oben, Teil A,VIII 4; Teil B, I 4. 7 Vergl. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 7 III 1 b (S. 66); Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl. 2003, § 9 I 2 (S. 60 f.), § 16 I 2 (S. 124 f.). 8 BVerfGE 93, 1 ff. 9 BVerfGE 108, 282 ff. 10 BVerfGE 104, 337 ff. 11 Johann Braun, JZ 2002, 23 (31). 12 Manfred Osten, „Alles veloziferisch“ oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit (2003), S. 92: „inzwischen bilden in über 50 Ländern der Welt Muslime die Majorität der Bevölkerung: Sechs Millionen leben in den USA, zwei Millionen in Großbritannien, fünf Millionen in Frankreich, in Italien und Spanien rund 700.000; und in Deutschland über drei Millionen. Der Islam ist im übrigen die am schnellsten expandierende Religionsgemeinschaft der Welt. Mit rund 1,3 Milliarden ist er bereits jetzt die ,zweitstärkste‘ Religion nach dem Christentum (1,9 Milliarden) mit der demographischen Aussicht auf ein muslimisches Jahrhundert. Denn die Prognosen lauten: Noch im ersten Viertel unseres Jahrhunderts wird jeder vierte Erdenbürger ein Muslim sein.“ 13 Vergl. Hillgruber, JZ 1999, 538 ff.; Marré, in: FS Rüfner (2003), S. 553 ff.; Muckel, in: Kreß (Hg.), Religionsfreiheit als Leitbild (2004), S. 119 ff.; ders., in: FS Listl (1999), S. 239 ff.; zum Ganzen auch Bielefeldt, ZRP 1992, 146 ff.; Marré / Stütting (Hg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20 (1986), S. 12 ff., 61 ff., 82 ff., 120 ff., 149 ff., 177 ff.; VVDStRL 59 (2000), v.a. S. 301 ff. (Aussprache). 5 6

I. Rechtspolitische Vorüberlegungen

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Rechtsdogmatisch geht es dabei um das – vom Bundesverfassungsgericht in seinen Stellungnahmen trotz etlicher guter Gelegenheiten bisher stets vermiedene Problem – ob es einer teils als archaisch wahrgenommenen14 Religion von Grundrechts wegen gestattet werden muß, ihre Glaubensinhalte über die Glaubens- und Gewissensfreiheit in das Rechtssystem und die demokratischen Institutionen einer aufgeklärten Gesellschaft „einzuschleusen“.15 Die Unvereinbarkeit islamischer Glaubenswahrheiten mit den Werten des Grundgesetzes zeigt sich nicht nur an der minderen Rechtsstellung der Frauen nach der Scharia16 oder der Abwesenheit religiöser Freiheit im Islam, die in der Religionspflicht zur Tötung von Apostaten kulminiert17 (Sure 4, 8918).

Das Kernproblem besteht vielmehr darin, daß der Islam, anders als das Christentum19, seinen Gläubigen nicht aufgibt, „dem Kaiser zu geben, was des Kaiser ist“20 und ihre Hoffnungen auf die nächste Welt zu richten, sondern ein konkretes rechtlich-politisches Programm zur Gestaltung der diesseitigen Welt (und zwar nach dem Vorbild der Lebensverhältnisse in Medina unter der Alleinherrschaft Mohammeds im 7. Jahrhundert) anbietet, dessen Umsetzung als Gottes Wille keiner Disposition unterliegt.21 Daher geht es bei Diskussionen mit Muslimen auch nicht um die Frage, ob die Scharia anzuwenden ist, sondern allenfalls darum, wie sie anzuwenden ist.22 Dabei drängen viele in Europa ansässig gewordene Muslime 14 So etwa Ipsen, NVwZ 2003, 1210 (1212). – Als Indiz hierfür wird z. B. vielfach die vorgeschriebene Ungleichbehandlung der Geschlechter bzw. die systematische Schlechterstellung der Frau angesehen; vergl. Der Koran, Sure 4, 38: „Die Männer sind den Weibern überlegen wegen dessen, was Allah den einen vor den anderen gegeben hat, und weil sie von ihrem Geld (für die Weiber) auslegen. Die rechtschaffenden Frauen sind gehorsam und sorgsam in der Abwesenheit (ihrer Gatten), wie Allah für sie sorgte. Diejenigen aber, für deren Widerspruch ihr fürchtet – warnet sie, verbannt sie in die Schlafgemächer und schlaget sie. Und so sie euch gehorchen, so sendet keinen Weg wider sie; siehe, Allah ist groß“ (Übersetzung nach Max Henning [1980]). 15 Vergl. Ipsen, NVwZ 2003, 1210 (1212). 16 Leserbrief Norbert Thobrock, FAZ Nr. 283, 3. Dezember 2004, S. 19; umfassend zum Ganzen Christine Schirrmacher / Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia (2004). 17 Vergl. zum Ganzen auch Leon de Winter, Die Zeit Nr. 48, 18. November 2004, S. 17 f.; auch wenn manche Koranstellen (Sure 16, 106 u. a.) die Apostaten lediglich mit Höllenstrafen im Jenseits bedrohen, wird das Tötungsgebot jedenfalls nach einhelliger Rechtsauffassung aller vier sunnitischen Rechtsschulen auf hadith (Überlieferung) und sunna (Nachahmung der Lebensweise Mohammeds) gestützt; vergl. nur Christine Schirrmacher, in: dies. / Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia (2004), S. 21 ff., v.a. 23, 26. 18 „Und so sie den Rücken kehren (d. h. der Aufforderung zum Islam nicht entsprechen), so ergreifet sie und schlaget sie tot, wo immer ihr sie findet.“ (Übersetzung nach Max Henning [1980]). 19 Gegen die unreflektierte These eines unbedingten Gebots der Gleichbehandlung von Islam und Christentum auch Kirchhof, FAZ Nr. 127, 3. Juni 2004, S. 8; Volkmann, FAZ Nr. 60, 11. März 2004, S. 8 f. 20 Matthäus 22, 21. 21 Zum illusorischen Charakter der Hoffnung auf die Enstehung eines „Euro-Islams“, der die als unwandelbar verstandenen, den politischen und privaten Alltag bis ins Detail durchdringenden islamischen Glaubensvorschriften mit der westlichen Lebensweise versöhnen soll, vergl. Schmithals, Die Zeit Nr. 7, 9. Februar 2006, S. 47.

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D. Der Gewährleistungsgehalt

seit Jahrzehnten darauf23, immer mehr Elemente der Scharia im europäischen Alltagsleben zu verankern24 und damit die säkuläre Gesellschaft zu islamisieren.25 Dieses Problem wird durch die unterschiedliche Entwicklung der Geburtenraten26 verschärft, die erwarten lassen, daß der Islam bereits in dreißig Jahren in zahlreichen europäischen Großstädten die Mehrheitsreligion sein wird.27 22 Christine Schirrmacher, in: dies. / Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia (2004), S. 25 und passim. 23 Eindringlich Ulfkotte, Der Krieg in unseren Städten (2003). 24 Vergl. Alice Schwarzer, Der Spiegel 26 / 2003, 23. Juni 2003, S. 88 ff.; vergl. auch Ursula Spuler-Stegemann, in: Christine Schirrmacher / Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia (2004), S. 185: „Noch vor wenigen Jahren war es unvorstellbar, dass die Scharia irgendeine Bedeutung für Deutschland haben könnte. So fern war sie, dass hierzulande lediglich ein paar Spezialisten etwas mit dem Begriff verbanden. Heute gehört „Scharia“ zum allgemeinen Wortschatz vieler Europäer, wie „Fatwa“ oder „Imam“. [ . . . ] [Die Muslime] haben [ . . . ] die hiesigen Rechtsvorstellungen durcheinander gewirbelt oder gar in Frage gestellt; dies mag man an dem Kopftuch-Diskurs erkennen [ . . . ]“. Ebda., S. 188: „Doch von dem erwarteten und notwendigen Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Frau ist nirgends die Rede. Dies würde schließlich der Scharia widersprechen, die selbstverständlich auch hierzulande die einzig gültige Norm ist [m. N.]“. 25 Hierbei führt die Beobachtung, daß islamische Terroristen wie etwa Mohamed Bouyeri, der Mörder des Filmregisseurs Theo van Gogh, gerade in besonders hohem Maße „integriert“ waren, offenbar noch nicht dazu, die von Politik und Massenmedien nunmehr propagierte Integration des Islam in Europa – Politiker besuchen Moscheen und feiern islamische Feste, schulischer Islamunterricht soll ausgeweitet, Lehrstühle zur Ausbildung von Imamen eingerichtet werden etc. – als Königsweg der Konfliktlösung in Frage zu stellen. Der erwähnte Mohamed Bouyeri hatte islamische Forderungen wie etwa die Separierung von Frauenbereichen im sozialen Wohnungsbau, eine islamisch monopolisierte Jugendarbeit für muslimische Jugendliche oder Alkoholverbot und Geschlechtertrennung in kommunalen Einrichtungen jahrelang – erfolglos – in die Stadtteilarbeit einbringen und in einer Stadtteilzeitung immer wieder veröffentlichen können; schließlich hatte man ihm aber immerhin eine Teilzeitstelle in der Stadtteilarbeit anbieten wollen. Dies legt durchaus die Vermutung nahe, daß es gerade Integration und Sprachkompetenz sind, die junge Muslime dazu verleiten, ihre – ihnen religiös und kulturell selbstverständlichen, aus westlicher Sicht jedoch grotesken – Forderungen demokratisch in die vorhandenen Institutionen einzubringen. Dies führt dann allerdings, gemäß den Spielregeln der institutionalisierten Demokratie, regelmäßig zu Niederlagen und Frustrationserfahrungen sowie letztlich zu der Einsicht, die religiösen Reinheitsforderungen des Islam, insbesondere was das Verhältnis der Geschlechter und die Stellung der Frau angeht, jedenfalls in Europa mit demokratischen Mitteln nicht durchsetzen zu können. Hier liegt offenbar eine wichtige Wurzel des Terrorismus, zu dem es bei geringerer Integration der Muslime vermutlich teilweise nicht gekommen wäre. Jedenfalls ist festzuhalten, daß der Staat durch seine Integrationspolitik nicht Hoffnungen auf die Einbringung religiöser Inhalte in die Politik wecken sollte, die er von Verfassungs wegen dann ohnehin nicht erfüllen kann und darf; hierdurch wird nur ein Frustrationspotential erzeugt. Zum Ganzen: Leserbrief Ulrich Heinen, FAZ Nr. 291, 13. Dezember 2004, S. 7; Annika Kranenberg, Die Zeit Nr. 31, 28. Juli 2005, S. 56 f. 26 Vergl. Heinsohn, Söhne und Weltmacht (2003). 27 „Der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birk drückt sich drastisch aus: ,Deutschland wird demographisch gesehen verschwinden und zwar in naher Zukunft schon. Die neue Mehrheitsgesellschaft sind dann die Zugewanderten. Bei den unter Vierzigjährigen jedenfalls. In den Großstädten wird das ab 2010 der Fall sein, im ganzen Land etwas später.

II. Das Konzept der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte

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II. Das rechtstheoretische Konzept der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte Schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte sind nach der Systematik des Grundgesetzes nicht einschränkbar. Dies folgt schon aus dem Fehlen von Schrankenvorbehalten, die bei anderen Grundrechten zum Zweck derer Harmonisierung mit der Rechtsordnung vorgesehen sind, aber auch aus dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG, der eindeutig nur von zwei Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung ausgeht: demnach können Grundrechte „nach diesem Grundgesetz“ nur „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden. Für die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und des Glaubens und Gewissens (wie auch für alle übrigen schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte) ist aber weder das eine noch das andere vorgesehen. Dies wirft die Frage auf, wie diese Grundrechte in die allgemeine grundgesetzliche Rechtsordnung eingefügt werden können, die auf dem Demokratieprinzip und der Gleichheit aller vor dem Gesetz gründet (und mithin weder Künstler, noch Wissenschaftler, noch Gläubige mit umfangreichen Sonderrechten ausstatten könnte). Freilich ist die Demokratie im Sinne des Grundgesetzes keine „reine“ Mehrheitsherrschaft im Sinne einer Tyrannei, sondern auch die Demokratie setzt in der deutschen justizstaatlichen Tradition rechtliche Sicherung von Individualpositionen voraus.28 Dies bedeutet aber jedenfalls nicht, daß die Parlamentsherrschaft zu einem reinen Vorschlagsrecht unter einem durch das Bundesverfassungsgericht auszuübenden Abwägungsvorbehalt denaturiert wird. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die heute breite Zustimmung gefunden hat („Bundesverfassungsgerichtspositivismus“) setzt sich über die schrankenvorbehaltlose Gewährleistung unter Verweis auf den Rechtsgedanken der Einheit der Verfassung hinweg und postuliert die Einschränkbarkeit der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte durch Grundrechte Dritter und Rechtswerte von Verfassungsrang. Dieser Ansatz bleibt aber – abgesehen von der Frage nach seiner materiellen Richtigkeit, da er eben letztlich darauf hinausläuft, dort Schranken zu erfinden, wo das Grundgesetz keine Schranken vorsieht – jedenfalls methodisch unbefriedigend. Denn in diesem Paradigma wird das Grundgesetz zu einer Ansammlung von „100 oder 150“ Verfassungsgütern, die in zahllosen Kollisionen zueinander stehen, über die dann verfassungsrechtlich nur zu sagen ist, daß sie miteinander abzuwägen seien29: eine Herangehensweise, die herkömmlichen juristischen Anforderungen an Methodik und Dogmatik kaum genügen kann. Wenn Aber die neue Mehrheitsgesellschaft ist nicht mehr diejenige, die man unter deutscher Gesellschaft bisher verstanden hat.‘“ – Vergl. http: //www.zdf.de/ZDFde/inhalt/2/0,1872,22224 98,00.html (Stand: 1. August 2006). Weiterführend Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende, 3. Aufl. 2003. 28 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 10 II (S. 73); § 12 II (S. 96 f.); § 16 I 3 (S. 148). 29 Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (25); ähnlich ders., UTR 14 (1991), S. 7 (32).

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D. Der Gewährleistungsgehalt

außerdem der Gesetzgeber durch seine die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte einschränkende Gesetzgebung die in der Verfassung bereits vorfindlichen Grenzen dieser Grundrechte nur nachzeichnen darf, so kann es jedenfalls nicht richtig sein, daß – jedenfalls, was den Komplex „religiöse Bezüge in der Schule“ angeht – die Landesgesetzgeber diese verfassungsunmittelbar angelegten Grenzen entgegen Art. 31, 1 Abs. 3 GG auf jeweils unterschiedliche Art sollten konkretisieren können. Denn die in der Verfassung selbst vorfindlichen Grenzen der Glaubens- und Gewissensfreiheit können schon wegen Art. 31 GG in Bayern nicht anders verlaufen als in Brandenburg.29a Daher werden seit geraumer Zeit alternative Lösungsmodelle vorgeschlagen, die meist darauf hinauslaufen, durch eine genauere und sorgfältigere Bestimmung des Schutzbereiches diesen „engzuführen“, zumal die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte in punktuelle Gewährleistungen umzudeuten und dadurch die Zahl der nur durch Abwägung zu bewältigenden Grundrechtskollisionen jedenfalls zu mindern.30 An dieser Vorgehensweise wird aber im Grundsatz zu Recht kritisiert, daß sie die Abwägung nur von der Prüfungsstufe der „verfassungsrechtlichen Rechtfertigung“ in die Prüfung des Schutzbereichs vorverlagert31 und dadurch u. U. auf den Einzelfall zugeschnittene Erwägungen als allgemein und abstrakt nur behauptet.32 Außerdem laufen die vorgeschlagenen Modelle der einschränkenden Auslegung der Schutzbereiche letztlich auf Sätze nach der Art hinaus: die Kunstfreiheit endet dort, wo das Eigentum eines Dritten beginnt. Solche Sätze, die zwar spontan jedermann einleuchten, sind aber stets nur Strukturtheorien ohne eigentliche inhaltliche Aussage, die also beantworten würde, wo genau die Kunstfreiheit endet und unter welchen Umständen das Eigentum Dritter Vorrang hat (und unter welchen nicht). Mit anderen Worten werfen solche Versuche der engführenden Schutzbereichsauslegung das Prioritätenproblem auf: denn warum sollte im gewählten Beispiel die Kunstfreiheit dort enden, wo das Eigentum Dritter beginnt – und nicht umgekehrt?33 Wenn hingegen andererseits, wohl auch zur Vermeidung eben dieser Schwierigkeiten, vorgeschlagen wird, unter der Bezeichnung des „Gewährleistungsgehalts“ eine Engführung des grundrechtlichen „Schutzbereiches“ im Zeichen eines Primats der historischsubjektiven (genetischen) Auslegungsmethode vorzunehmen34, so ist dies metho29a

Vergl. bereits oben, Teil A VIII 4 und Teil B I 3. Vergl. statt vieler Rüfner, FS BVerfG II (1976), 453 (454 ff.). 31 „Abstrakte Abwägung“ befürwortet etwa Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hg.), Haben wir wirklich Recht? (Bryde-Kolloquium, 2004), S. 53 (72 [„abstrakte Klärung“]). 32 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167 (184 ff., 189 ff.). 33 Der mögliche Einwand, die Sätze „die Kunstfreiheit endet, wo das Eigentum Dritter beginnt“ und „der Eigentumsschutz endet, wo die Kunstfreiheit Dritter beginnt“ sagten letztlich dasselbe aus, wäre allzu formalistisch. Denn durch die unterschiedliche Akzentsetzung besagen die Sätze nach dem herkömmlichen Sprachverständnis etwas jeweils Gegenteiliges: einmal würde das eine vorgehen und einmal das andere. 34 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (176 f.,181 f.,186 f.). 30

II. Das Konzept der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte

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disch unbedingt abzulehnen. Denn hierdurch würde – abgesehen von den praktischen Problemen der Ermittlung wohl auch wechselnder Ansichten verstorbener Verfassungsväter – Nicht-Normtext entscheidend an die Stelle von Normtext gestellt, kategorienverwechselnd unter rechtshistorische Quellen subsumiert statt unter Gesetze, und damit vom Sein auf ein Sollen geschlossen (naturalistischer Fehlschluß).35 Da also weder die herrschende Meinung noch die Kritik daran überzeugt, wird hier eine einfache Grundrechtstheorie vorgeschlagen, die mehr sein will als nur ein rechtspolitisch oder rechtsphilosophisch motiviertes Vorverständnis, sondern sich am Verfassungstext orientiert und mithin zur Handhabung und Überwindung des im Grundgesetz angelegten Gegensatzes von Demokratieprinzip und individuellem Grundrechtsschutz unter Rekurs auf die differenzierte Schrankensystematik des Grundgesetzes eine grundlegende Unterscheidung zwischen den schrankenvorbehaltlosen (absoluten) und den anderen, relativen, also unter (qualifizierten) Schrankenvorbehalt gestellten bzw. normgeprägten Grundrechten empfiehlt.36 Die schrankenvorbehaltlose Gewährleistung eines Grundrechts bezeugt, daß ein Konflikt dieses Grundrechts mit Grundrechten Dritter oder wichtigen Verfassungswerten offenbar systematisch nicht vorgesehen ist, da ansonsten durch einen Gesetzesvorbehalt dafür Vorsorge getroffen wäre, wie er etwa für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 GG, oder in qualifizierter Form für die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 2 GG) vorgesehen ist.37 Mit anderen Worten: der GewährleiVergl. bereits oben Teil C II. Vergl. Bettermann, Grenzen der Grundrechte (1968), S. 1: „Wenn ich [ . . . ] [die Formulierung] von den „Grenzen der Grundrechte“ gewählt habe, so möchte ich damit von vornherein klarstellen, daß ich mich nicht in den Höhen der Rechts- und Staatsphilosophie, der allgemeinen Staatslehre oder der politischen Wissenschaften bewege, sondern in den Niederungen des positiven Staatsrechts. Ich spreche nur als Jurist, und mein Anliegen ist ein systematisches und dogmatisches: Ich will versuchen, Schranken, die das geltende Verfassungsrecht den grundrechtlichen Freiheiten oder einzelnen von ihnen zieht, zu klassifizieren, in ein System zu bringen und sie vielleicht auf einige Prinzipien zu reduzieren.“ Bettermanns weitere Vorstellungen allerdings – so etwa die, daß es „hoffnungslos“ sei, die Schranken der Grundrechte allein aus dem Wortlaut des Grundgesetzes zu ermitteln oder ein mit ihm übereinstimmendes Schrankensystem zu erarbeiten (ebda., S. 3), sowie das von ihm dann aufgestellte Schrankensystem, das u. a. einen allgemeinen Vorbehalt des Sittengesetzes (ebda., S. 10), ein weitreichendes, teilweise § 138 BGB analog zu verstehendes Verbot des Grundrechtsmißbrauchs (ebda., S. 11 ff.) oder einen allgemeinen Gemeinwohlvorbehalt im Sinne der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (ebda., S. 16 ff.) vorsieht, verdienen indessen keine Zustimmung. 37 Dies erinnert übrigens – spiegelbildlich – an das schon von Dürig als „verblüffend einleuchtend“ bezeichnete Argument des BVerfG in der Elfes-Entscheidung (BVerfGE 6, 32 [36]), warum Art. 2 I GG entgegen der „Persönlichkeitskernthese“ (dazu Di Fabio, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 [Loseblatt, Stand 2 / 2003], Art. 2 Rd.Nr. 12 [Stand: 7 / 2001]) die allgemeine Handlungsfreiheit meint: weil es sonst nicht der Schrankentrias, insbesondere nicht der Schranke des Sittengesetzes bedürfte, denn gegen dieses würde die Entfaltung des „Persönlichkeitskerns“ etwa iSd. heutigen allgemeinen Persönlichkeitsrechts wohl kaum verstoßen! Vergl. zum Ganzen auch Höfling, in: Friauf / Höfling, BerlK, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2003), Art. 2 Rd.Nr. 20 mit FN 55 (Stand: GW 10 / 2000). 35 36

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D. Der Gewährleistungsgehalt

stungsgehalt dieser Grundrechte wird richtigerweise so „eng“ (und jedenfalls nicht im Sinne schrankenvorbehaltloser allgemeiner Handlungsfreiheit!) auszulegen sein, daß er mehr oder minder zwanglos mit dem restlichen System des Grundgesetzes harmoniert.38 Dies kann man mit Roellecke39 dahingehend fassen, daß durch das schrankenvorbehaltlose Grundrecht niemand privilegiert wird, sondern umgekehrt wird der (öffentlich-rechtlich bedienstete) Wissenschaftler, der Künstler und eben auch der Gläubige in der Besonderheit seiner Anliegen allen anderen Staatsbürgern gerade gleichgestellt und vor Diskriminierung, „Gängelung“ oder Umerziehungsversuchen geschützt; nicht aber kann die Geltendmachung religiöser, künstlerischer oder auch wissenschaftlicher Anliegen die demokratische Rechtsordnung (oder gar die an die Amtsführung des Staatsbeamten allgemein zu stellenden Anforderungen) relativieren oder gar teilweise suspendieren. Damit ist im Anschluß an Friedrich Klein40 festzuhalten, daß die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte vor allem das forum internum vor dem „unprovozierten“ staatlichen Zugriff schützen, bei Ausweitung der Grundrechtsausübung in das forum externum aber der Gewährleistungsgehalt dieser Grundrechte regelmäßig41 nicht diejenige „Nettofreiheit“ übersteigt, die die Ausübung der ansonsten einschlägigen Grundrechte (z. B. Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit oder einfach allgemeine Handlungsfreiheit) ohnehin schützen würde; denn schon vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 GG haben Künstler, Wissenschaftler oder Gottgläubige keine Handlungsprivilegien. 38 Dieser systematische Ansatz zur Bestimmung des Gewährleistungsgehalts schrankenvorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte weist gewisse strukturelle Parallelen zur „praktischen Konkrodanz“ (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 [1999], Rd.Nr. 317 ff.) auf. 39 JZ 1969, 726 (733) (für die Wissenschaftsfreiheit). 40 Vergl. Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, XV 2 b a.E. (S. 127): „Einen formal besonderen Charakter haben die hier sogenannten systematischen sachlichen Gewährleistungsschranken 2. Grades, bei denen sich die Einschränkung der einen Grundrechtsbestimmung nicht unmittelbar schon aus der Gewährleistung der anderen Grundrechtsbestimmung selbst, sondern erst daraus ergibt, daß die andere Grundrechtsbestimmung ihrerseits einen Vorbehalt zugunsten allgemeiner oder besonderer Gesetze [ . . . ] enthält [ . . . ]. So ist z. B. vom Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 her gesehen das Recht, Prozessionen durchzuführen, systematisch dadurch eingeschränkt, daß dieses Recht gleicherweise aus den Grundrechten der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 und der Freiheit der Person des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 hergeleitet, nach Abs. 2 bzw. Abs. 2 Satz 3 dieser Bestimmungen aber auf Grund von Vorbehalten zugunsten besonderer Gesetze usw. eingeschränkt werden kann. Ebenso wird das aus dem Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 etwa herzuleitende Recht, sich einer staatlichen Impfaufforderung zu widersetzen, dadurch systematisch eingeschränkt, daß es ebenso aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 herzuleiten wäre, im dortigen Satz 3 aber unter den Vorbehalt zugunsten gesetzesgründender Verwaltungsmaßnahmen [ . . . ] gestellt ist.“ 41 Hinsichtlich der religiösen Freiheiten des Grundgesetzes, die im Gesetzestext „verstreut“ geregelt sind, gibt es hiervon Ausnahmen, die unten unter IV 2 und 3 behandelt werden.

II. Das Konzept der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte

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Dabei ist es etwas verwunderlich, daß solche „nichtprivilegierenden“, also das schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrecht in die Rechtsordnung einordnenden Theorien schon verschiedentlich für die Wissenschaftsfreiheit42 vertreten worden sind43, nicht jedoch für die Glaubens- und Gewissensfreiheit.44 Denn nur hinsichtlich dieses einen schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts ist das hier vorgeschlagene Modell in den Vorschriften aus Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV sowie Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 3 ohnehin von Verfassungs wegen unmittelbar als geltendes Recht angeordnet. Die Vorschrift aus Art. 136 Abs. 1 WRV bildet schon nach ihrem klaren Wortlaut keine „Schranke“ der Glaubensund Gewissensfreiheit, sondern mit dieser ein organisches Ganzes.45 Sie stellt den nichtprivilegierenden46 Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit klar. Diese gesonderte Klarstellung macht auch deswegen Sinn, weil Religionsgemeinschaften seit je her dazu neigen, auch eigentlich profane oder gar wirtschaftliche Tätigkeiten als religiös gefordert auszugeben, um Handlungsprivilegien zu beanspruchen. Damit wird freilich nicht der Satz des Bundesverfassungsgerichts verworfen, nach dem jeder das Recht hat, seine gesamte Lebensführung an religiösen Vorschriften auszurichten. Allerdings wird er dahingehend ergänzt, daß dies selbstverständlich nur im Rahmen der für alle geltenden Rechtsordnung erfolgen kann.47 Niemand kann aber aus der Glaubens- oder auch Gewissensfreiheit das 42 Die Freiheit der Wissenschaft ist schrankenvorbehaltlos gewährleistet; die auf die Lehre bezogene, klarstellende Treueklausel aus Art. 5 III 2 GG führt keine Schranke ein, vergl. Pernice, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 5 III (Wissenschaft), Rd.Nr. 41; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 403; a.A. etwa Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 5 Abs. 3 Rd.Nr. 427, der aber auch (vergl. ders., ebda., Art. 4 Abs. 1, 2 Rd.Nr. 87 f.) in 136 I WRV eine „Schranke“ erblicken will. 43 Vergl. Roellecke, JZ 1969, 726 (729, 732 f.); Lerche, in: Lukes / Scholz (Hg.), Rechtsfragen der Gentechnologie (1986), S. 88 (90 f.); Wahl, Freiburger Universitätsblätter 95 (1987), 19 (24 ff.). 44 Ausnahme, so weit erkennbar, nur Friedrich Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 1957, XV 2 b a.E. (S. 126 f.); gegen ihn Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 4 Abs. 1, 2 Rd.Nr. 85. 45 BVerfGE 53, 366 (400); 66, 1 (22); 70, 138 (167), jeweils m. w. N. 46 In diese Richtung (wegen Art. 3 III 1 GG) sogar Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen (1999), S. 102. 47 Bettermann, JZ 1964, 601 (604): „Außerdem ist heute auch [ . . . ] noch Art. 136 I WRV in Kraft, wonach ,die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden‘, so daß ,die Glaubensansichten nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten entbinden‘, wie es Art. 49 V der eidgenössischen Verfassung formuliert. Also nicht die Religionsgebote gehen den weltlichen Pflichten und den sie begründenden staatlichen Gesetzen vor, sondern umgekehrt genießen die staatlichen Gesetze den Vorrang vor den kirchlichen, religiösen und weltanschaulichen Postulaten; denn vor den staatlichen Gesetzen ist jeder, ohne Ansehung ,seines Glaubens und seiner religiösen oder politischen Anschauungen‘ (Art. 3 III) und ,unabhängig von dem religiösen Bekenntnis‘ und ,seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung‘ (Art. 33 III) gleich. Nur bei solch strikter Neutralität und Parität ist der Staat in der Lage, so grundsätzlich und weitgehend Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis-,

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D. Der Gewährleistungsgehalt

Recht herleiten, die Rechtsordnung (nur) im Rahmen seiner Glaubens- und Gewissensvorstellungen zu befolgen, und verlangen, daß seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen und ihrer Anwendung gemacht wird.48

Exkurs: Staatlichkeit und Integrationsaufgabe Diese Betrachtungsweise ist aber nicht nur vom grundgesetzlichen Demokratieprinzip her geboten, sondern auch unter dem Auslegungsgesichtspunkt der „Verfassung als Grundgesetz des Staates“, die dadurch auch zum „Programm der nationalen49 Integration“ wird, in der sich, der Idee nach, jeder mit seinen verallgemeinerungsfähigen Anliegen soll wiederfinden können.50 Dabei soll sich im freiheitlichen Rechtsstaat dieses Integrationsziel freilich nicht vom rechtspraktischen Sinn des Verfassungsgesetzes lösen und etwa volkskatechetische und ersatzreligiöse Züge annehmen im Sinne eines „Verfassungstotalitarismus“51, der, als Bevormundung und Zwang durchschaut, dann gerade dem Integrationsziel übrigens auch nicht mehr dienen würde. Gerade um eine dauernde Bevormundung des demokratischen Souveräns zu vermeiden, ist aber die einordnende, nichtprivilegierende Auslegung gerade der religiösen Freiheitsrechte zu bevorzugen, die allein dem Integrationsziel dient. Methodisch bedeutet das, daß der Schwerpunkt der Grundrechtsprüfung sich bei schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten ganz in die Ermittlung des Gewährleistungsgehalts verlagert52; wo in ihn eingegriffen wird, wäre, wenn überhaupt, eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung allenfalls in äußersten Staatsnotstandssituationen denkbar. Für die unter Schrankenvorbehalt gewährleisteten Grundrechte – und erst recht die normgeprägten – hingegen soll das hergebrachte Schema von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung beibehalten werden. Denn diese Grundrechte sind systematisch darauf angelegt, Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu gewähren, wie es das Grundgesetz getan hat. Die Respektierung der glaubensneutralen Staatsgesetze ist der notwendige Preis für die staatliche Gewährung und Gewährleistung der Glaubensfreiheit. Deshalb konzediert Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 WRV den Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (Art. 137 VII) auch Selbstverwaltung und Autonomie nur ,innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze‘. Das heißt: was jedermann und jeder nicht religiösen Gruppe verboten, ist auch den Kirchen nicht erlaubt – und wozu jedermann verpflichtet, ist grundsätzlich auch ihnen geboten.“ 48 Vergl. BVerfGE 67, 26 (37). 49 Skeptisch freilich Häberle, AöR 128 (2003), 505 (506 f.) („Europadefizit“). 50 Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rd.Nr. 184 ff. 51 Vergl. ders., ebda. Rd.Nr. 186 mit FN 389 m. w. N. 52 Vergl. zum Ganzen allgemein schon Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 310 a.E.; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, 20. Aufl. 2004, Rd.Nr. 231 ff.

III. Strukturparallele zur Grundrechtslehre Murswieks

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daß die gleich zu behandelnde Dichotomie von grundrechtlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe gerade durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgebots in methodisch so weit als möglich disziplinierter Abwägung53 von Schranken und Schranken-Schranken abgearbeitet wird.

III. Strukturparallele zur umweltrechtlichen Grundrechtslehre Murswieks Das eigentliche Ziel der Erarbeitung der beschriebenen grundrechtstheoretischen Grundlagen ist es, einen grundrechtsdogmatisch plausiblen, am Verfassungstext orientierten Ausgleich zwischen den im Kern widerstreitenden grundgesetzlichen Vorgaben „Demokratieprinzip“ und „individueller Grundrechtsschutz“ zu erreichen. Die Dichotomie von Grundrechtsschutz und demokratischer Selbstbestimmung ist dabei auch eine Dichotomie von Freiheit und Teilhabe.54 Denn grundrechtliche Freiheit ist unmittelbare, individuell-persönliche Freiheit, während demokratische Freiheit – die Freiheit der Völker – dem Einzelnen strukturell als ein Teilhaberecht begegnet. Da also die Problematik des Nebeneinander von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip grundsätzlich als Dichotomie von Freiheit und Teilhabe beschrieben werden kann, ergibt sich eine gewisse Parallele zur umweltrechtlichen Grundrechtslehre Murswieks. Zur Lösung der im Umweltrecht vielfach beschäftigenden Problematik, ob ein „Grundrecht auf Umweltverschmutzung“ besteht bzw. wie ein solches Grundrecht dogmatisch vermieden werden kann, schlägt Murswiek nämlich vor, die Belastung öffentlicher Umweltgüter mit Schadstoffen nur insoweit als von den Grundrechten aus Art. 14, 12, 2 Abs. 1 usw. GG erfaßt anzusehen, wie ein entsprechender Teilhabeanspruch des Grundrechtsträgers besteht55; da nämlich die öffentlichen Umweltgüter nicht im Eigentum des Produzenten stehen, ist ihr Verbrauch kein grundrechtlicher Freiheitsgebrauch.56 Freilich ist die Parallele keine direkte und unmittelbare: denn die Glaubens- und Gewissensfreiheit bleibt ein Freiheitsgrundrecht, und an Religion oder Gewissen ist keine „Teilhabe“ möglich. Es ergibt sich aber eine strukturelle, prinzipielle Parallele. Diese besteht in der Dichotomie des grundrechtlichen Abwehranspruches, der als Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit unabhängig von 53 Hiermit ist v.a. das eingebürgerte Schema der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, nämlich 1. verfassungslegitimer Zweck, 2. geeignetes Mittel, 3. Gebotenheit (mildestes Mittel), und ggf. (str.) 4. Verhältnismäßigkeit i.e.S. gemeint; zum Ganzen Schlink, in: FS BVerfG II (2001), S. 445 ff.; allgemein eher abwägungsskeptisch noch ders., Abwägung im Verfassungsrecht (1976), S. 192 ff. 54 Von „individueller Freiheit“ und „demokratischer Teilhabe“ spricht auch Di Fabio, in: FS Badura (2004), S. 77 (85). 55 Vergl. Murswiek, JZ 1988, 985 (992 ff.); ders., in: FS Doehring (1989), S. 647 ff. (v.a. 661 ff.); ders., in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 112 Rd.Nr. 81 ff., 86 ff.; ders., DVBl. 1994, 77 (81 ff.); ders., NuR 1994, 170 (175 f.). 56 Zum Ganzen auch Reiner Schmidt, FS Zacher (1998), S. 947 (953 ff.).

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D. Der Gewährleistungsgehalt

demokratischen Mehrheiten oder einfachen Gesetzen ohne weiteres geltend gemacht werden kann, und weitergehender Wünsche von Grundrechtsträgern, die ebenfalls verfassungslegitim sind, hinsichtlich ihrer Umsetzung aber auf den demokratischen Prozeß der Mehrheitsgewinnung und Gesetzesänderung verwiesen werden müssen. So, wie die übertriebene bzw. einseitige abwehrrechtlich-individualistische Betrachtungsweise der Grundrechte aus Art. 14, 12 und 2 Abs. 1 GG zu der Annahme eines staats- und gemeinschaftswidrigen „Grundrechts auf Umweltverschmutzung“ führen würde, so führt die Annahme, die Glaubens- und Gewissensfreiheit enthalte eine umfassende Erlaubnisnorm im forum externum, zu einem „Grundrecht auf Staats- und Gesellschaftsveränderung ohne Umweg über das demokratische Procedere“. Dies wird aber der im Grundgesetz angelegten Dichotomie von grundrechtlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe nicht gerecht. Auch von daher sind die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte, denen kein „Einfallstor“ für die Demokratie in Form einer Gesetzesschranke beigegeben ist, reine Abwehrrechte im Sinne von Toleranzansprüchen; nicht aber enthalten sie Ansprüche auf Gesellschafts- und Staatspraxisänderung nach eigenen Wünschen des Grundrechtsträgers und ohne Umweg über das demokratische Procedere. Für die religiösen Freiheitsrechte des Grundgesetzes ist diese Betrachtungsweise aufgrund von Art. 136 Abs. 1 WRV geradezu zwingend. Übrigens entspricht das Problem „grundrechtliche Freiheit versus grundrechtliche Gleichheit“, also Freiheits- gegen Gleicheitsgrundrechte strukturell genau dem Problem der grundrechtlichen Freiheit versus demokratische Teilhabe; mit anderen Worten: Art. 3 Abs. 1 GG (bzw. seine weiteren, spezialgleichheitsrechtlichen Ausprägungen im Grundgesetz wie Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 2 und 3 GG oder Art. 136 Abs. 1 WRV) sind nichts anderes als das Demokratieprinzip im Grundrechtskatalog.

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubensund Gewissensfreiheit 1. Gewissensfreiheit als systematisches Muttergrundrecht a) Systematisch einheitliches Grundrecht Die Freiheit des Glaubens sowie des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses erscheinen heute als besondere Ausformungen der Gewissensfreiheit57 als systematisches (nicht zwingend auch rechtshistorisches) Muttergrundrecht, die v.a. aus historischen Gründen sowie aufgrund des hohen Stellenwerts der christlichen Religion in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Normtext besondere Erwähnung 57 So auch schon Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 383.

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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fanden; hieraus folgt aber noch nicht die grundrechtssystematisch plausible Abgrenzbarkeit der religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte von der Gewissensfreiheit. Die Versuche einer wirklichen Unterscheidung zwischen religiösen Freiheitsrechten und Gewissensfreiheit argumentieren bezeichnenderweise begrifflichabstrakt (etwa in dem Sinne, zur Religion gehöre eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten58, die, wo sie nicht bestehe, jedenfalls geschaffen werden solle59), meist jedoch ohne konkreten Fallbezug; sobald dieser hergestellt wird, läßt sich die begriffliche Unterscheidung zwischen den religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechten einerseits und der Gewissensfreiheit andererseits nicht mehr durchhalten. Denn einerseits war seit je her die Befolgung religiös grundierter Lehren eigentlicher Gewissensinhalt des Gläubigen. Andererseits hat die Rechtsprechung – zu Recht, nämlich in Anerkennung der Tatsache, daß Glauben und Gewissen jedenfalls beim Gläubigen nicht überzeugend zu trennen sind – die früher noch verbreiteten objektiven und Gruppenkriterien aus der Religionsfreiheit eliminiert; auch für die Einschlägigkeit der Religionsfreiheit kommt es heute nur noch darauf an, daß der einzelne Gläubige durch das ihm staatlicherseits abverlangte Verhalten in einen ernsthaften Gewissenskonflikt gestürzt wird.60 Selbst diejenigen Autoren61, die gegen die Vorstellung eines einheitlichen Grundrechts eintreten, müssen einräumen, daß schon aufgrund der Individualisierung heute häufig nur nach dem Selbstverständnis des oder der Gläubigen bestimmt werden könne, ob ein Verhalten Ausdruck einer religiösen Überzeugung ist – wenn sich aber der Inhalt der religiösen Freiheitsrechte individuell und nach Selbstverständnis bestimmt, dann bedeutet das im Ergebnis nichts anderes, als daß diese religiöse Freiheit ein Unterfall der Gewissensfreiheit ist. Die dogmatische Rückbindung der religiösen Freiheitsgrundrechte an das systematische Muttergrundrecht Gewissensfreiheit unterstreicht zusätzlich den Abwehrund auch Ausnahmecharakter62 des unbeschränkt gewährleisteten, mithin auch demokratisch kaum hegbaren Grundrechts. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG konstituieren daher insofern, als daß die religiösen Freiheitsgrundrechte systematisch vom Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht überzeugend abzugrenzen sind, tatsächlich ein einheitliches Grundrecht. Unrichtig ist jedoch die Formel vom „einheitlichen 58 Aber: auch wer es etwa aus individuellen Gewissensgründen ablehnt, Fleisch zu essen, wird es (weil die Gewissensentscheidung eine ethische ist) tendenziell jedenfalls begrüßen, wenn andere es ihm nachtun; dadurch wird die (entweder wirklich individuelle Gewissensentscheidung, die aber auch durch einen Vegetarier- oder Tierschutzbund angeregt gewesen sein kann) freilich kaum zur Religions- oder Weltanschauungsausübung. 59 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 4 Abs. 1, 2 Rd.Nr. 63. 60 BVerwGE 94, 82 (89 ff.); vergl. zum Ganzen auch Müller-Volbehr, JuS 1997, 223 (224); Halfmann, NVwZ 2000, 862 (863); Pabel, EuGRZ 2002, 220 (232); Kyrill-A. Schwarz, Das Spannungsverhältnis von Religionsfreiheit und Tierschutz (2003), S. 38, jeweils m. w. N. 61 Vergl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 156, 175 f. 62 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 4 Abs. 1, 2 Rd.Nr. 64: „Gewissensentscheidungen trifft man nicht alle Tage.“

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D. Der Gewährleistungsgehalt

Grundrecht“ der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Gewährleistungen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dergestalt extensiv auszulegen seien, daß dem Gläubigen ein (schrankenvorbehaltlos gewährleistetes) Grundrecht darauf zuwächst, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner Glaubensüberzeugung gemäß zu leben.63 Denn ein solches Recht besteht nur im Rahmen der durch die verfassungsmäßige Ordnung beschränkten allgemeinen Handlungsfreiheit, die ggf. von den Spezialgrundrechten (wie etwa der Meinungsfreiheit) flankiert wird. b) Dogmatische Anknüpfung an die im Grundgesetz vorfindlichen Einzelgewährleistungen Unabhängig von diesen Erwägungen hat das Grundgesetz die religiösen Freiheitsrechte von der Gewissensfreiheit gesondert positiviert; mithin sind sie grundrechtsdogmatisch auch unabhängig von der Gewissensfreiheit jeweils aus dem Wortlaut und der Systematik des Grundgesetzes heraus einzeln auszulegen. Dafür kommt es bei richtiger dogmatischer Herangehensweise nicht darauf an, daß die religiösen Freiheitsrechte – wären sie nicht im besonderen positiviert – wohl trotzdem aus der Gewissensfreiheit würden hergeleitet werden können. Dies trotz ihrer besonderen Positivierung zu versuchen, wäre genauso unrichtig, wie die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die die „Freiheit der Religionsausübung“ (die das Grundgesetz so gar nicht gewährleistet64) bereits aus der Glaubens- bzw. der Bekenntnisfreiheit herleiten will und Art. 4 Abs. 2 GG daher für deklaratorisch erklärt.65

2. Die weltanschaulich-religiösen Freiheitsrechte Die in Art. 4 Abs. 1 GG gesondert erwähnten religiösen Freiheitsgrundrechte sind die Freiheit des Glaubens und der Weltanschauung als solche und die Freiheit des religiösen bzw. weltanschauliches Bekenntnisses.

63 Vergl. Muckel, in: Friauf / Höfling, BerlKomm, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 3 (Stand: GW 10 / 2000) m. w. N. 64 Art. 4 II GG spricht von „ungestörter“ Religionsausübung, vergl. nur Schlink, EuGRZ 1984, 457 (464 mit FN 47); vergl. dazu unten unter 2 c) und unter Teil E, II. 65 Kritisch auch Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 99 (Stand: 11 / 1988); Muckel, in: Friauf / Höfling, BerlKomm, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 3 f. (Stand: GW 10 / 2000).

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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a) Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit aa) „Positive“ Seite Die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit verbürgt die Freiheit der inneren Überzeugung, der Gedanken in Fragen von Glaube und Weltanschauung, also des forum internum. Auch eine plausible Unterscheidung zwischen Religion und Weltanschauung ist technisch nicht durchführbar66; wegen der ausdrücklichen Gleichstellung im Grundgesetz ist sie auch dogmatisch verzichtbar. Vielfach wird vertreten, dem Staat sei es verwehrt, auf die Bildung von Glaubensüberzeugungen (und mithin offenbar auch Weltanschauungen) Einfluß zu nehmen.67 Dies überzeugt so aber nicht, da etwa die Heranbildung einer „nationalsozialistischen Weltanschauung“68 seit je her durch das gesamte Bildungssystem bekämpft wird, ohne daß dagegen bisher durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht worden sind. Daher erscheint es stimmiger, in Anlehnung an die Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG festzuhalten, daß dem Staat ein Einfluß auf die Bildung einer Weltanschauung bzw. einer Religion und auf das forum internum überhaupt insoweit versagt bleiben muß, wie diese Religon oder Weltanschauung nicht den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen widerspricht. Insofern z. B. islamische religiöse Ansichten und Gebote bzw. Koranauslegungen oder -auslegungsschulen und deren Postulate den Werten des Grundgesetzes, insbesondere der Menschenwürdegarantie widersprechen, wie etwa das Postulat der Unmündigkeit der Frau69, die Berechtigung des Ehemannes zu häuslicher Gewalt70 oder etwa die Pflicht zur Tötung von Apostaten71, unterfallen sie von Anfang an nicht den religiösen Freiheitsrechten des Grundgesetzes, ohne daß es auf die Frage nach der Gewährleistung auch einer Handlungsfreiheit ankäme. V.a. ein schulischer Islamunterricht, der diese Dinge anders denn als verurteilenswerte Irrtümer darstellt, wäre verfassungswidrig.

bb) Negative Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit? Die Annahme einer „negativen“ Seite der Weltanschauungsfreiheit im Sinne des Rechts, „die (positive) Ausübung des Grundrechts unterlassen zu dürfen“, ist von 66 Vergl. Muckel, in: Friauf / Höfling, BerlKomm, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 15 (Stand: GW 10 / 2000). 67 Muckel, in: Friauf / Höfling, BerlKomm, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 18 (Stand: GW 10 / 2000). 68 Die Nationalsozialisten legten bekanntlich großen Wert darauf, nicht eine Partei wie andere mehr, sondern v.a. eine umfassend gedachte Weltanschauungsgemeinschaft zu sein. 69 Vergl. Christine Schirrmacher, in: dies. / Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia (2004), S. 14 ff., 73 ff., 102 ff. 70 Vergl. dies., ebda., S. 207 ff. 71 Vergl. bereits oben unter I 2 m. w. N.

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D. Der Gewährleistungsgehalt

Anfang an erstaunlich, da ein solches „Dürfen“ bereits im Begriff des (Grund-) „Rechts“ liegt; was man nicht (ohne weiteres) auch unterlassen darf, ist kein Recht, sondern eine Pflicht. Die grundgesetzliche Formulierung „Freiheit des Glaubens“ indiziert notwendig auch die Freiheit des Nichtglaubens. Auch wird das Recht, sich über einen bestimmten Sachverhalt keine Meinung zu bilden oder diese nicht zu äußern, kaum zu Recht als „negative Meinungsfreiheit“72 bezeichnet, die §§ 516 ff. BGB werden nicht als Emanation der „negativen Freiheit des Eigentums“ erklärt usw. Die „sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte“ 73 hat in der Grundrechtsdogmatik keine durchgehend-systematische, d. h. alle Freiheitsgrundrechte gleichermaßen betreffende Funktion, sondern es handelt sich um einen Argumentationstopos, der nur vereinzelt und stets auch einzelfallbezogen fruchtbar gemacht wird. Was die Glaubens- und Gewissensfreiheit betrifft, hat die Annahme einer negativen Seite der religiösen Freiheitsrechte im Kruzifix-Beschluß eine wichtige Rolle gespielt, da der Anspruch auf Entfernung des Kreuzes auf die negative Seite der Glaubens- und Gewissensfreiheit gestützt wurde. Dem ist aber, wie gezeigt, schon die Kritik Isensees entgegenzuhalten, daß es demnach auch aufgrund der negativen Seite der ebenfalls schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit einen Anspruch auf Entfernung von Bildern und sonstigen Kunstwerken aus öffentlichen Gebäuden geben müßte, wenn diese das individuelle Kunstempfinden beeinträchtigen. 74 Außerdem könnte die negative Seite der religiösweltanschaulichen Freiheitsrechte kaum weiter reichen als die positive, die Aufhängung von Kreuzen in Schulen kann jedoch positiv nicht verlangt werden. Möglicherweise auch aufgrund solcher Erwägungen wurde die Annahme einer durchgreifend wirksamen „negativen“ Seite der Glaubensfreiheit im Kruzifix-Beschluß denn auch durch die Subjektivierung des Neutralitätsprinzips ergänzt. Auch die Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) soll nach herrschender Meinung eine negative Seite aufweisen im Sinne des Rechts, sich aufgedrängten Informationen zu verschließen.75 Diese negative Informationsfreiheit soll aber jedenfalls nicht etwa der Rundfunkgebührenpflicht entgegegehalten werden können, nachdem der Empfang öffentlich-rechtlicher Sender durch eine entsprechende technische Vorrichtung ausgeschlossen wurde76; umso weniger wäre aus ihr der Anspruch gegen öffentlich-rechtliche Sender abzuleiten, solche empfangsverhindernden technischen Vorrichtungen selbst einzurichten oder zur Verfügung 72 Vergl. aber Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 5 I, II Rd.Nr. 74 m. w. N. 73 Hellermann, Die sog. negative Seite der Freiheitsrechte (1993), S. 123 ff., S. 249 ff. 74 Vergl. Isensee, ZRP 1996, 10 (12). 75 Vergl. Fenchel, Negative Informationsfreiheit (1997), S. 128 f., 131 ff.; Bethge, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 5 Rd.Nr. 53 a.E., 57a; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 5 I, II Rd.Nr. 84; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 5 Rd.Nr. 17 a.E. 76 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 5 I, II Rd.Nr. 84; kritisch aus rechtspolitischer Sicht Oppermann, JZ 1994, 499 (500 f.) und v. Münch, NJW 2000, 634 ff.; vergl. zum Ganzen auch Goerlich, JZ 2000, 566 ff. sowie Hessischer VGH, AfP 1991, 771 f. und VG Neustadt a. d. Weinstraße, AfP 1991, 779 f.

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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zu stellen.77 Mithin enthält die von der herrschenden Meinung postulierte negative Seite der Informationsfreiheit kaum eine Gewährleistung, die nicht zwanglos auch unter die „positive“ Informationsfreiheit bzw. die „Informationsfreiheit als solche“ subsumiert werden könnte nach Maßgabe des Satzes, daß die Freiheit begrifflich das Nichthandeln (sich nicht informieren) einschließt. Ein allgemeines Abwehrrecht, von der Konfrontation mit bestimmten Inhalten verschont zu bleiben, gibt es nicht.78 Vergleichbares gilt auch von der Glaubens- und Gewissensfreiheit.

b) Bekenntnisfreiheit aa) Bekenntnis im Sinne des Grundgesetzes bedeutet primär Konfession Die Bekenntnisfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 GG schützt nach dessen Wortlaut („Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“), der sich primär aus dem systematischen Vergleich mit Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG erhellt, die Freiheit, über den individuellen, eng mit der persönlichen Gewissensfreiheit verbundenen privaten Gott- oder sonstigen Glauben hinaus auch ein „Bekenntnis“ im Verwaltungssinne zu haben: also, einer Kirche oder sonstigen institutionell verfestigten Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaft anzugehören, also z. B.: evangelisch oder katholisch zu sein. Dieser Schutz des forum internum ist der primäre Gewährleistungsgehalt der Bekenntnisfreiheit; in den Vorschriften aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 (der von „Glauben“ und „religiösen Anschauungen“ spricht) und 33 Abs. 3 GG ist ausschließlich das forum internum der Bekenntnisfreiheit gemeint. Dies folgt daraus, daß eine Übertragung des durch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannten Gewährleistungsumfangs der Glaubensund Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG in die besonderen Gleichheitsrechte, v.a. das Recht auf bekenntnisunabhängigen Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG), wie sie im Kopftuch-Urteil explizit vorgenommen wird, auf die Annahme eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts auf glaubensgeleitete Amtsführung hinausläuft (welches dann nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch Landesgesetze wiederum eingeschränkt werden kann). Diese Annahmen widersprechen aber dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, dem Demokratieprinzip und der allgemeinen Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt wie auch v.a. Art. 31 GG. Eine mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben kompatible Auslegung der besonderen Gleicheitsrechte aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 sowie v.a. Art. 33 Abs. 3 GG hingegen ist nur durch die Einführung der Annahme zu erreichen, daß das „religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis“ im Sinne dieser Vorschriften nur ein Sein meint und nicht auch ein Tun. Für das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG hingegen ist eine Differenzierung einzuführen. 77 78

Vergl. BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 2000, 649. Vergl. BVerfGE 102, 347 (364); Koch, Der Staat 41 (2002), 523 (542 f. m. w. N.).

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D. Der Gewährleistungsgehalt

bb) Bekenntnisfreiheit als Spezialfall der Meinungsfreiheit (1) Die Bekenntnisfreiheit gewährleistet auch eine spezielle Handlungsfreiheit Darüber hinaus gewährleistet die Bekenntnisfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 GG nämlich ein gegenüber der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG spezielleres Grundrecht, sich eben zu „bekennen“, die eigene religiöse bzw. weltanschauliche Überzeugung im Wege geistiger Kommunikation79 der Mitwelt kundzutun.80 Dies folgt aus der systematischen Überlegung, daß die Bekenntnisfreiheit, da sie gesondert aufgeführt ist, gegenüber der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit eine abweichende bzw. auch über sie hinausweisende Gewährleistung enthalten muß, da sie sonst überflüssig wäre. Mithin unterscheidet sich der Gewährleistungsgehalt der Bekenntnisfreiheit nicht hinsichtlich des Gegenstandes der Garantie, sondern der Verhaltensmodalität. 81 Damit ist hier zum ersten Mal eine positive Handlungsfreiheit, also die Gewährleistung eines äußeren Tuns, berührt. Mithin kann auch das Tragens des Turbans eines Sikh82 oder auch eines islamischen Kopftuches grundsätzlich unter die Bekenntnisfreiheit fallen, wenn es sich denn um ein religiöses Bekenntnis handeln soll. Meistens oder typischerweise wird es sich hingegen nur um eine Gewohnheit, also z. B. etwa einer vom Islam geprägten Lebensweise im Sinne einer Sitte handeln, die dann nur der allgemeinen Handlungsfreiheit unterfällt, oder aber um eine politische Äußerung, die ausschließlich an der Meinungsfreiheit zu messen wäre. Dabei umfaßt der Gewährleistungsgehalt der Bekenntnisfreiheit gemäß dem klarstellenden Privilegierungsverbot aus Art. 140 GG iVm. Art 136 Abs. 1 WRV aber eben auch nur das „Bekenntnis als solches“, ohne aber einen allgemeinen Anspruch auf Dispens von oder Relativierung der Rechtsordnung nach jeweiligem Bedarf zu bieten.83 Dies läßt sich durch das bekannte Beispiel des motorradfahrenden Sikh84 verdeutlichen: die Bekenntnisfreiheit gewährleistet zwar das Turbantragen an sich, nicht aber das Motorradfahren mit Turban statt Helm, da ja auch auf andere Verkehrsmittel umgestiegen werden kann.85 79 Vergl. Herzog, in Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 82 (Stand: 11 / 1988). 80 Vergl. Zippelius, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, BK, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2004), Art. 4 Rd.Nr. 54 (Drittbearbeitung, Stand: 12 / 1989). 81 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 81 (Stand: 11 / 1988). 82 Dazu ArbG Hamburg, KirchE 34, 1. 83 Ähnlich bereits (zur ebenfalls vorbehaltsschrankenlos gewährleisteten Kunstfreiheit) Friedrich Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik (1969); vergl. ders., Die Einheit der Verfassung (1979), S. 203 f. FN 519. Im Falle der Bekenntnisfreiheit läßt sich dieses Ergebnis jedoch unter Rekurs auf das Privilegierungs-, bzw. Gesetzesdispensverbot aus Art. 136 I WRV besonders gut begründen. 84 Vergl. BGer [Schweizerisches Bundesgericht] EuGRZ 1993, 595 f.

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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Auch verbietet es sich vor dem Hintergrund des klarstellenden Privilegierungs- und Dispensverbots aus Art. 136 Abs. 1 WRV, die kommunikative Handlungsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, also den kommunikativen Aspekt der Bekenntnisfreiheit, durch einen zu weiten Begriff der „geistigen Kommunikation“ (etwa im Geiste des in der Psychologie verbreiteten und wohl dort auch vollkommen berechtigten Satzes: alles sei Kommunikation, da der Mensch nicht nicht kommunizieren könne) wiederum unter der Hand in eine „allgemeine religiöse Handlungsfreiheit umzudeuten.86 Dabei ist v.a. auch zwischen dem „Bekenntnis als Bekenntnis“ und der schlichten Einhaltung religiöser Gebote zu unterscheiden. Dies wird schon an „Negativ“-Beispielen deutlich, deren Heranziehung schon aus zwei Gründen naheliegend ist: erstens äußern sich jedenfalls Religionen typischerweise in Verboten nicht weniger als in Geboten, und zweitens ist normtheoretisch sowieso jedes Gebot in ein Verbot umdeutbar: nämlich das Verbot, etwas zu unterlassen (also z. B. das Kopftuch umzutun). „Negative“ bzw. Verbotsbeispiele aber führen hier in Paradoxien: denn wem seine Religion verbietet, Zinsen zu nehmen, müßte immer dann, wenn er keine Zinsen nimmt, seine Religion bekennen; wer kein Schweinefleisch essen darf, müßte immer dann, wenn er kein Schweinefleisch ist, seine Religion bekennnen etc. Die schlichte Einhaltung religiöser Gebote – unter die übrigens auch das Kopftuch meistens fallen wird, wenn es denn mehr als nur unhinterfragte Gewohnheit ist – ist mithin regelmäßig allein an der allgemeinen Handlungsfreiheit zu messen.

(2) „Gewährleistungsschranken“ dieser kommunikativen Handlungsfreiheit Wie bereits ausgeführt wurde, wird hier nicht die in der neueren Literatur verbreitete These übernommen, die Vorschrift aus Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV enthalte eine „Schranke“ im Sinne eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts. Art. 136 Abs. 1 WRV enthält eine Klarstellung des Gewährleistungsgehalts der religiösen Freiheitsrechte. Da die „staatsbürgerlichen Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt“ werden (der umgekehrte und in der Vorschrift ebenfalls erwähnte Fall, nach dem auch die staatsbürgerlichen Rechte – also im Sinne nicht eines Privilegierungs-, sondern eines Diskriminierungsverbots – nicht beschränkt werden dürfen, ist bisher, soweit absehbar, noch nicht praktisch geworden), müssen außerhalb des forum internum die Schranken des ohne religösweltanschaulichen Bezug einschlägigen Grundrechts als „Gewährleistungsschranken“ herangezogen werden. D. h., die Bekenntnisfreiheit gewährleistet auch in ihrem kommunikativen Aspekt „von Anfang an“ im forum externum nicht mehr, 85 Im zitierten Fall schien das Problem jedoch weniger darin zu bestehen, ohne Helm Motorradfahren zu „müssen“, sondern darin, daß der Sikh seinen Kopf keinesfalls in der Öffentlichkeit zeigen wollte, so daß nicht die Helmpflicht, sondern die Möglichkeit zum unbeobachteten Auf- und Absetzen des Helms problematisch war. In dieser Konstellation würde es sich nicht um ein Problem der Bekenntnisfreiheit, sondern der Gewissensfreiheit handeln, wobei ein grundrechtlich relevanter Gewissenskonflikt wegen der sich aufdrängenden Ausweichmöglichkeiten (gar nicht Motorrad fahren bzw. den Helm zu Hause auf- und absetzen) sicher nicht gegeben ist. 86 Ähnlich Hellermann, Die sog. negative Seite der Freiheitsrechte (1993), S. 142.

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D. Der Gewährleistungsgehalt

als die durch das Schrankenregime aus Art. 5 II GG „gehegte“ Meinungsfreiheit „netto“87 bieten würde. Eine Art „Parallelfall im weiteren Sinne“ bietet die Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG: sie schützt nach zutreffender ständiger Rechtsprechung die Bündelung erlaubter Tätigkeiten zu einem „Beruf“, nicht aber gewährleistet sie die Möglichkeit, eine verbotene Tätigkeit dadurch unter Grundrechtsschutz stellen zu lassen, daß man das Verbotene auch noch zum Beruf erklärt. Die entgegengesetze herrschende Literaturauffassung88 deutet hingegen das Grundrecht der Berufsfreiheit zum Berufsprivileg um.

cc) Negative Bekenntnisfreiheit? Für das, was die herrschende Meinung gemeinhin unter der „negativen Seite der Bekenntnisfreiheit“ versteht, nämlich das Recht zum Nicht-Bekenntnis als Emanation von Art. 4 Abs. 1 GG, gilt sinngemäß dasselbe wie bereits für die „negative Glaubensfreiheit“: das Recht, kein Bekenntnis zu haben oder es nicht zu verraten, folgt schon aus der „positiven“ Bekenntnisfreiheit mit der Überlegung, daß der Begriff der Freiheit denknotwendig beide Varianten enthält, da es sich sonst ja nicht um Bekenntnis-Freiheit, sondern eine (implizite) Bekenntnispflicht handeln würde. So wie die Bekenntnisfreiheit über die Freiheit des forum internum hinaus jedoch eine (beschränkte) „positive“ Handlungsfreiheit gewährleistet, nämlich eben mit dem Recht, sich zu bekennen, sich zu äußern, welcher Konfession man angehört oder woran konkret man weltanschaulich glaubt (auch wenn, wie gezeigt, diese Gewährleistung kein Kommunikations- und Handlungsprivileg für Gläubige und „sonstige Bekenner“ über die herkömmliche Meinungsfreiheit hinaus enthält)89, so gewährleistet das Grundgesetz specialiter zwei „negative Handlungsfreiheiten“, also Rechte, sich staatlichen weltanschaulichen Zumutungen zu entziehen, sich zu verweigern, sich zu absentieren. Diese sind in Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 3 und in Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG gewährleistet. (1) Art. 136 Abs. 3 WRV Gemäß Art. 136 Abs. 3 WRV ist niemand verpflichtet, seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren. Dies wirft sofort die Frage auf, ob – nach den bisherigen Ausführungen – diese Gewährleistung nicht in der Tat eigentlich überflüssig bzw. rein deklaratorisch90 genannt werden muß. Denn eben war ja ausgeführt worden, daß schon der Begriff der Bekenntnisfreiheit die Freiheit, ein Bekenntnis entweder Zur „Nettofreiheit“ Volkmann, JZ 2005, 261 (268 FN 67). Tettinger, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 12 Rd.Nr. 36. 89 Vergl. Hellermann, Die sog. negative Seite der Freiheitsrechte (1993), S. 142 f. 90 So z. B. Heckel, Religionsfreiheit. Eine säkulare Verfassungsgarantie, in: ders., Gesammelte Schriften IV (1997), S. 647 (770). 87 88

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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nicht zu haben oder sich nicht dazu zu äußern, denknotwendig enthalte. Daß das Schweigerecht gesondert aufgeführt wird, ist aber zunächst einmal schon ein weiteres Indiz für die hier vertretene These, daß die religiös-weltanschaulichen Freiheiten des Grundgesetzes grundsätzlich eben keine Handlungsprivilegien sind; dafür spricht, daß, wo einmal eine „negative Handlungsfreiheit“ im Sinne eines Verweigerungsrechts besteht, dieses gesondert aufgeführt wird. Aber wie paßt das nun wieder mit dem Postulat zusammen, Art. 4 Abs. 1 GG enthalte bereits die sogenannte „negative“ Bekenntnisfreiheit? Hierfür muß man sich die irreführend angelegte Vorschrift aus Art. 136 Abs. 3 WRV genauer ansehen. (a) Schweigerecht Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV gewährleistet das Recht, seine religiösen Überzeugungen nicht offenbaren zu müssen, als negative Handlungsfreiheit (Verweigerungsrecht). Darin sind auch weltanschauliche Überzeugungen mitenthalten, wie die Gleichstellung in Art. 4 Abs. 1 GG zeigt. Dieses grundrechtsgleiche Recht ist ohne Schrankenvorbehalt gewährleistet91. (b) Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV als Schranke eines ungeschriebenen grundrechtsgleichen Rechts auf konfessionelle Auskunftsverweigerung Wenn Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV den Behörden unter bestimmten Umständen gestattet, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, so ist schon nach dem Wortlaut damit nicht die „wahre Überzeugung“ im Sinne von Art. 136 Abs. 3 Satz 1 WRV gemeint, sondern nur die Konfession quasi im abgabenrechtlichen Sinne, die formale Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft; daß diese mit den inneren Überzeugungen meist allenfalls partiell übereinstimmt, ist allgemeine Lebenserfahrung, letztlich kommt es aber auf diese empirische Beobachtung schon wegen des Wortlauts gar nicht an: denn „religiöse Überzeugungen“ sind eine innere Tatsache, Zugehörigkeit zu einer „Religionsgesellschaft“ (oder heute eher: -gemeinschaft) ist eine äußerlich-formale, und dieser Unterschied gilt per se selbst für den Frömmsten. Schon von daher kann Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV keine „Schranke“ bilden für das Recht, seine inneren Überzeugungen nicht kundtun zu müssen.92 In der Tat bildet Art. 136 Abs. 3 Satz 2 die Schranke für ein ungeschriebenes grundrechtsgleiches Recht, dessen Existenz man sich aus dem Bestehen der Schranke herleiten muß; dieses Grundrecht müßte in einem hypothetischen Art. 136 Abs. 3 Satz 1a WRV stehen und lauten: „Niemand ist verpflichtet, seine Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu offenbaren.“ Dieses ungeschriebene, aber dogmatisch bestehende grundrechtsgleiche Recht bildet ein negatives Handlungsrecht, also ein Verweigerungsrecht. Nach dem oben bereits zum 91 A.A. Muckel, in: Friauf / Höfling, BerlKomm, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 25 (Stand: GW 10 / 2000): Art. 136 III 2 WRV bilde die Schranke. 92 A.A. BVerfGE 65, 1 (39).

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D. Der Gewährleistungsgehalt

kommunikativen Gehalt der Bekenntnisfreiheit Gesagten kann ein religiöses Handlungsrecht, gleich ob positiv oder negativ als Verweigerungsrecht, zur Vermeidung der Umdeutung des Grundrechts in ein religiöses Privileg nie mehr gewährleisten, als die entsprechende Betätigung oder Verweigerung ohne religiösen Hintergrund an „Nettofreiheit“ für sich beanspruchen könnte. Dieser Gewährleistungsumfang wird daher bei Handlungsrechten regelmäßig aus Art. 2 Abs. 1 GG herzuleiten sein, es sei denn, ein anderes Spezialgrundrecht wie etwa die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist für die jeweilige Betätigung einschlägig. Daher würde vorliegend auch die aus der einfachen Bekenntnisfreiheit abzuleitende Freiheit, das eigene Bekenntnis vor den Behörden geheimzuhalten, lediglich im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit gewährleistet sein. Diese Rechtslage wird aber durch Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV modifiziert, da hier ein höherer Gewährleistungsgehalt konstituiert wird: während gemeinhin die Auskunftsverweigerung nur in Frage käme, wenn das Auskunftsverlangen durch keinerlei Vorkehrung der verfassungsmäßigen Ordnung im materiellen Sinne gedeckt wäre, kann nach Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV die Auskunft immer dann verweigert werden, wenn davon nicht Rechte oder Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung es erfordert. Der Netto-Gewährleistungsgehalt des ungeschriebenen, grundrechtsgleichen Rechts auf konfessionelle Auskunftsverweigerung weist also hier ausnahmsweise, obwohl er eine negative Handlungsfreiheit, also ein Verweigerungsrecht konstituiert, über die allgemeine Handlungsfreiheit hinaus. Diese Ausnahme bestätigt aber zugleich die Regel, daß gemeinhin die Freiheit des religiös geleiteten Handelns nicht größer sein kann als die des Handelns überhaupt. Dies rechtfertig sich auch daraus, daß das ungeschriebene Grundrecht auf Konfessionsverheimlichung eigentlich nur am Rande mit echter religiöser Freiheit zu tun hat, so daß also auch eine „Privilegierung religiös geleiteten Handelns“ hier kaum zu befürchten ist; es geht thematisch eher um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.93 (2) Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG Nach dieser Vorschrift darf kein Lehrer gegen seinen Willen gezwungen werden, Religionsunterricht zu erteilen. Diese Ausnahmevorschrift gewährleistet eine negative Handlungsfreiheit, also ein Verweigerungsrecht sogar für den Beamten im Dienst. Auch hier weist der spezifische Gewährleistungsgehalt der Vorschrift evidentermaßen weit über den der üblicherweise nur im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit gewährten religiösen Handlungsfreiheiten hinaus. Das Grundrecht ist schrankenvorbehaltlos gewährleistet. Daher erübrigen sich auch teilweise vertretene Beschränkungsversuche aus Gründen der „Schulorganisation“ etc.94 Vergl. BVerfGE 65, 1 ff. So z. B. bei Robbers, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, 1. Bd., 5. Aufl. 2005, Art. 7 Rd.Nr. 163; richtig hingegen i.E. Maunz, in: ders. / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 7 Rd.Nr. 54 (Stand: 9 / 1980). 93 94

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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c) Die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung als positivierte Schutzpflicht95 Art. 4 Abs. 2 GG bildet kein Freiheits- oder Abwehrgrundrecht wie Art. 4 Abs. 1 GG. Die Freiheit der Religionsausübung – also eine Religion oder auch eine Weltanschauung nicht nur zu haben, sondern auch nach ihr zu handeln – wird bereits von den religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechten gewährleistet, allerdings nur im Rahmen der Rechtsordnung und nach Maßgabe der einschlägigen, v.a. auch grundrechtlichen Erlaubnisnormen und der allgemeinen Handlungsfreiheit. Stört der Staat die Gläubigen bei der Religionsausübung, obwohl diese bei ihr die Vorgaben der Rechtsordnung einhalten, so bilden die religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte hiergegen ein staatsgerichtetes Abwehrrecht. Art. 4 Abs. 2 GG regelt hingegen die Situation, daß Dritte die Religionsausübung stören. Die Vorschrift konstituiert eine positivierte Schutzpflicht, auf deren Wahrnehmung – unter dem hinsichtlich jeder Schutzpflicht bestehenden, ungeschrieben Vorbehalt des Möglichen – ein grundrechtlicher Anspruch, eben aus Art. 4 Abs. 2 GG, besteht. Der Staat hat dieser Schutzpflicht in erster Linie durch seine Strafgesetzgebung und Strafverfolgungsaktivitäten wahrzunehmen sowie mit den Mitteln des Polizei- und Ordnungsrechts. Die wichtigste gesetzliche Mediatisierung dieser Schutzpflicht dürfte § 167 StGB96 sein. d) Die negative Handlungsfreiheit aus Art. 136 Abs. 4 WRV In den religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechten ist, wie bereits gezeigt, schon begrifflich („Freiheit“) das Recht enthalten, nicht religiös zu sein und sich religiösweltanschaulicher Übungen zu enthalten. Solche Enthaltsamkeit mag bei formaler Betrachtungsweise das forum externum betreffen, gemeinhin wird sie aber von der Außenwelt bzw. der Rechtsordnung nicht einmal bemerkt. Dies ändert sich erst, wenn jemandem abverlangt wird, an irgendwelchen religiösen Übungen teilzunehmen, und er sich dem widersetzen will. Diesen letzteren Fall, der grundrechtsprakVergl. auch noch unten unter Teil E II. Die heutige Fassung fand die Vorschrift durch das 1. StrRG vom 25. 6. 1969; die vorher (seit 1871) geltende Fassung des § 167 StGB pönalisierte die „Verhinderung oder Störung des Gottesdienstes oder einer einzelnen gottesdienstlichen Verrichtung in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte durch Erregung von Lärm und Unordnung“ (§ 167 2. Alt. a.F. StGB). Insofern haben die Autoren des GG mit der „Störung der Religionsausübung“ eine modernere Formulierung gewählt, die dann erst durch das 1. StrRG in das StGB übernommen wurde. Der Begriff „Störung“ fand sich aber 1949 bereits im StGB; vergl. zum Ganzen MünchKommStGB / Hörnle, § 167 Rd.Nr. 3 f. – Der Rekurs auf die historisch-genetische Auslegung ist hier methodisch insofern zulässig, als daß diese Auslegungsart vorliegend nicht im Sinne eines Primats das Auslegungsergebnis bestimmt, sondern nur hilfsweise herangezogen wird, um eine durch Wortlaut- und systematische Auslegung gefundenes Auslegunsergebnis zu bestätigen. 95 96

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D. Der Gewährleistungsgehalt

tisch wohl der wichtigste sein dürfte, könnte man typisierend als die SchulgebetsKonstellation97 bezeichnen. Die Frage, ob das Recht zur Verweigerung der Teilnahme an religiösen Übungen (oder auch der Benutzung einer religiösen Eidesformel) auch aus Art. 4 Abs. 1 GG selbst hergeleitet werden könnte, kann deswegen auf sich beruhen, weil eine solche Herleitung sogar methodisch wohl fehlerhaft wäre, da ja Art. 136 Abs. 4 WRV als einschlägige Spezialnorm gegeben ist.98

Art. 136 Abs. 4 gewährleistet ein entsprechendes Teilnahmeverweigerungsrecht, also im Sinne des Anspruches, fernzubleiben, sich zu absentieren, nicht „mitmachen“ zu müssen99; nicht gewährleistet ist freilich ein „Veranstaltungsabänderungsrecht“, nach dem dann etwa das Schulgebet als solches nicht mehr stattfinden dürfte, weil einer es unterbinden will.100 e) Religiöse Vereinigungsfreiheit Die religiöse Vereinigungsfreiheit wird in Art. 140 GG iVm. Art. 137 WRV gewährleistet.101 Das Grundrecht weist keine Vorbehaltsschranken auf (Art. 137 Abs. 2 Satz 2 WRV), aber Art. 137 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 WRV stellen klar, daß sein Gewährleistungsgehalt gemeinhin nicht mehr „Nettofreiheit“ gewährt, als anderen, nichtreligiösen Vereinen grundsätzlich auch zustehen würde (Privilegierungsverbot). Wo dies aber specialiter doch der Fall ist (Art. 137 Abs. 6 WRV), ist ein staatlicher Anerkennungsakt Voraussetzung (Art. 137 Abs. 5 Satz 1), der sich freilich am Gleichbehandlungsgrundsatz orientieren muß (Art. 137 Abs. 5 Satz 2, Abs. 7 WRV).

BVerfGE 52, 223 ff. Anders freilich die st. Rspr. des BVerfG, das diese negative Religionsausübungsfreiheit schon aus Art. 4 I GG herleitet; Art. 136 WRV sei von Art. 4 I GG „überlagert“, vergl. nur BVerfGE 33, 23 (30 f.). Ebenso statt vieler Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 3 (2000), Art. 140 / 136 WRV, Rd.Nr. 21 m. w. N. Dies wirft aber in systematischer Hinsicht die Frage auf, warum das GG im Bereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit so viele überflüssige, lediglich deklaratorische oder jedenfalls „überlagerte“ Rechtsnormen enthalten sollte (vergl. nochmals Kokott, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rd.Nr. 12) und ob eine hochdifferenzierte, zahllose Lebenssachverhalte umgreifende Rspr. tatsächlich allein auf die Vorschrift aus Art. 4 I GG gestützt werden kann. 99 So auch i.E. auch Hellermann, Die sog. negative Seite der Freiheitsrechte (1993), S. 170 ff., 249 ff. 100 BVerfGE 52, 223 (254). 101 Vergl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 380 („Art. 137 Abs. 2 WRV“). 97 98

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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3. Die Freiheit des Gewissens („im engeren Sinne“) a) Schutz des forum internum Die Gewissensfreiheit, insofern der Freiheit des Glaubens parallel, schützt die Bildung und das Haben eines Gewissens, also das forum internum, ohne daß es darauf ankäme, ob diese eine weltanschauliche oder religiöse Grundlage haben. Die Gewissensfreiheit verbietet dem Staat jede Art von Gehirnwäsche, Hypnose, Indoktrination oder Propaganda, auch den Einsatz von Folter oder Psychoterror zur Überwindung einer Gewissensentscheidung des Grundrechtsträgers oder auch den Einsatz von Wahrheitsdrogen.102 Dieses Grundrecht ist nach allgemeiner Ansicht103 schrankenvorhehaltlos gewährleistet. b) Gewissensgeleitete Handlungsfreiheit? Als relevanter wird im allgemeinen die Frage nach der gewissensgeleiteten Handlungsfreiheit empfunden.104 Nachdem eine solche geraume Zeit fast allgemein verneint wurde, dürfte ihre Bejahung heute der deutlich herrschenden Meinung entsprechen.105 Dem kann hier – wie schon im Falle der religionsgeleiteten Handlungsfreiheit – nur in dem Sinne zugestimmt werden, daß selbstverständlich jeder Bürger das Recht hat, sein gesamtes Leben im Sinne individueller Gewissensentscheidungen zu gestalten, allerding nur im Rahmen der demokratisch legitimierten und für alle geltenden allgemeinen Rechtsordnung.106 Denn die allgemeine Handlungsfreiheit oder auch sonstige Spezialgrundechte (wie etwa die Meinungs- oder Berufsfreiheit etc.) können nicht einseitig dadurch uferlos ausgeweitet und zugleich für schrankenvorbehaltlos erklärt werden, daß jemand sich darauf beruft, er handle – wohl im Gegensatz zu seinen Mitbürgern – gewissensgeleitet und mithin auf einer höheren Legitimationsstufe. Denn wer einen Grundrechtstat102 So auch Scholler, Die Freiheit des Gewissens (1958), S. 146 ff.; gegen ihn Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 14 (Stand: 11 / 1988), der dann aber selbst sagt (ebda., Rd.Nr. 130), daß die Gewissensfreiheit jedenfalls auch gegen die „Beeinflussung durch Drogen“ schütze. 103 A.A. nur Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts (1989), S. 288. 104 Vergl. dazu auch schon Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts (1989), S. 97 f. m. w. N. aus rechtshistorischer Sicht (Entwicklung in den USA). 105 Vergl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 132 m. w. N. (Stand: 11 / 1988). 106 Zippelius, in: VVDStRL 28 (1970), 90 f. (Diskussionsbeitrag); ähnlich ders., in: Dolzer / Vogel / Graßhof, BK, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2004), Art. 4 Rd.Nr. 47 (Stand: 12 / 1989); vergl. auch Scheuner, ZevKR 15 (1970), 242 (251, 253); Eiselstein, DÖV 1984, 794 (798); Hans Hugo Klein, in: FS Doehring (1989), S. 479 (484 f., 496 f.); Hellermann, Die sog. negative Seite der Freiheitsrechte (1993), S. 141 f. m. w. N.; Doehring, Staatsrecht, 3. Aufl. 1984, S. 301 ff.

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D. Der Gewährleistungsgehalt

bestand akzeptiert, kann den Grundrechtsfolgen nicht mehr ausweichen107, weil auch auf der Schrankenebene das nunmehr als grundrechtsgeschützt vorzustellende Verhalten beträchtlich an Gewicht gewonnen hat108, so daß die für alle geltende Rechtsordnung also beträchtlich relativiert würde. So berücksichtigt die systematische Auslegung der Gewissensfreiheit, daß dieses Grundrecht allen Menschen gleichmäßig zusteht, weswegen auch der einzelne, der sich auf sie beruft, weder Staat noch Gesellschaft einseitig vorschreiben kann, was rechtlich gesollt ist109; der verfassungslegitime Wunsch nach Veränderungen von Staatspraxis und Gesellschaft bleibt auch insofern primär auf die Demokratie verwiesen. c) Gewissensfreiheit als Verweigerungsrecht Dies wird – bei unterschiedlicher Terminologie insbesondere zu den angeblich bestehenden Möglichkeiten der Einschränkbarkeit – vom Ergebnis her letztlich fast allgemein so gesehen (nur daß eben die herrschende Grundrechtslehre, die Grundrechte nicht „leerlaufen“ lassen möchte, stets viel mehr verspricht, als sie im Ergebnis dann zu halten gewillt ist, was der hier vertretene Ansatz aber zu vermeiden sucht). Daher haben manche Autoren die Auffassung vertreten, daß eine gewissensgeleitete Handlungsfreiheit schon begrifflich überhaupt nur als negative Handlungsfreiheit110, also als Verweigerungsrecht, vorstellbar sei: denn beim Handeln gäbe es es stets verschiedene Alternativen, so daß eigentlich immer eine Handlungsmöglichkeit erkennbar sein müßte, die mit dem Gewissen noch zusammengeht; wohingegen nur bei der Verweigerung einer bestimmten (und insofern eben alternativlosen) Rechtspflicht die Gewissensfreiheit eigentlich ins Treffen geführt werden könne. aa) „Negative Freiheit“ im herkömmlichen Sinne? Die oben für die religiösen Freiheitsrechte des Grundgesetzes getroffene Feststellung, daß ihre „negative“ Seite im Sinne des Nichthabens oder Nichtbekennens einer Religion oder Weltanschauung begrifflich schon ohne weiteres im Begriff der „Freiheit“ von Glauben, Weltanschauung und Bekenntnis liegt, ohne daß dafür Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? (1980), S. 30 f. Vergl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 9. 109 Vergl. Stein / Frank, Staatsrecht, 19. Aufl. 2004, S. 264 f. 110 Arndt, NJW 1966, 2204 (2205 f.); Muckel, in: Friauf / Höfling, BerlKomm, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 58 (Stand: GW 10 / 2000) (allerdings methodisch zweifelhaft mit Verweis auf die „historischen Wurzeln [der Gewissensfreiheit] im Toleranzgedanken“); ders., Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 157 ff.; in diese Richtung wohl auch Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rd.Nr. 88; Bökkenförde, VVDStRL 28 (1970), 33 (61; 64 f.); Anklänge in diese Richtung auch bei Ulrich K. Preuß, in: AK, Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 4 Abs. 1, 2 Rd.Nr. 43. 107 108

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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ein eigenes dogmatisches Institut der „negativen“ Glaubens-, Weltanschauungsoder Bekenntnisfreiheit geschaffen werden müßte und sollte, kann auf die Gewissensfreiheit nicht „eins zu eins“ übertragen werden. Es bedarf hier einer Differenzierung. Einerseits gibt es freilich – gewissermaßen „banalerweise“ – eine „negative“ Seite der Gewissensfreiheit in dem Sinne, daß niemand verpflichtet ist, sich zu einer bestimmten Frage zu einer als verbindlich erlebten persönlichen Auffassung durchzuringen.111 Dies ist eigentlich selbstverständlich, weswegen es hier nicht angezeigt erscheint, allein wegen dieser Feststellung ein eigenes grundrechtliches Institut, eben die „negative“ Gewissensfreiheit zu postulieren. Wenn aber hinsichtlich der religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte bereits der Begriff der Freiheit impliziert, daß jeder auch berechtigt ist, überhaupt keiner Religion oder Weltanschauung anzuhängen, so läßt sich daraus nicht im Analogieschluß folgern, es gäbe entsprechend auch ein „Grundrecht auf allgemeine Gewissenlosigkeit“. Dies liegt in der Natur der Sache. Denn da jede Rechtsordnung, die beachtet werden will, sich dafür auch auf das Gewissen ihrer Bürger stützen muß112, kann eine Rechtsordnung eine „Freiheit zur Gewissenlosigkeit“ ebensowenig schützen wie die „Freiheit zur Rechtlosigkeit“. Denn eine Rechtsordnung, deren Bürger ihre Befolgung im Einzelfall „gewissenlos“ jeweils nur noch von einer Vorteils- und Nachteilskalkulation abhängig machten, wäre am Ende, da sie bei diesen Abwägungen zu oft verlieren würde. Der freiheitliche Staat ist auf ein gewisses Ausmaß des Funktionierens der „moralischen Innensteuerung der Bürger“ daseinsnotwendig angewiesen; bleibt auch dieses Mindestmaß aus, so kollabiert der Verfassungsstaat oder verwandelt sich in eine reine Zwangsordnung.113 Daher gibt es Morlok, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rd.Nr. 86 m. w. N. Vergl. Vosgerau, Rechtstheorie 30 (1999), 227 (243 ff.); ders., ARSP 86 (2000), 232 (237 ff.). 113 „Moral“ und Gewissen sind die eigentlichen Gründe, warum Rechtsnormen überhaupt eingehalten werden; zwar spielt auch die Furcht vor Sanktionen eine Rolle; sollte aber die innere Anbindung an das Recht bei einer hinreichend großen Personenzahl wegfallen, so könnte nur ein totaler Überwachungsstaat die Einhaltung des Rechts gewährleisten. In diesem Staat würden Staat und Gesellschaft dann zusammenfallen (totaler Staat), die individuelle Freiheit wäre aber jedenfalls aufgehoben. Zur Aufrechterhaltung der persönlichen Freiheit und zur Abwendung des totalen Staates ist eine kollektive Selbstbeschränkung der Individuen erforderlich, die in einer funktionierenden moralischen Innensteuerung zum Ausdruck kommt. Kant hat seinen bekannten Satz „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, dessen jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegenstreben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg ebenderselbe ist, als ob sie keine solche bösen Gesinnungen hätten‘“, zwar eindrucksvoll aufgestellt, aber nie wirklich zu Ende gedacht. Da nämlich der „gewissenlose“ Verstand der „Teufel“ nur mögliche Sanktionen fürchtet, die aber nur zu fürchten sind, wenn mögliche böse Taten auch entdeckt würden, wäre der Staat dieses „Volkes von Teufeln“ jedenfalls ein totaler Überwachungsstaat. Fichte hat ihn später in Gestalt seines „geschlossenen Handelsstaats“ konzipiert. Vergl. zum Ganzen nochmals Vosgerau, Rechtstheorie 30 (1999), 227 (243 ff.) und ders., ARSP 86 (2000), 232 (239 ff.), jeweils m. w. N. 111 112

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D. Der Gewährleistungsgehalt

keine „Freiheit zum Nichthaben eines Gewissens“ als Ausfluß der Gewissensfreiheit.114 bb) Allgemeines gewissensgeleitetes Verweigerungsrecht? Praktisch relevanter ist freilich auch die „negative Gewissensfreiheit“ im Sinne der „negativen Handlungsfreiheit“, also des Verweigerungsrechts. Im allgemeinen kann hier freilich (siehe aber sogleich!) nichts anderes gelten als von der (positiven) gewissensgeleiteten Handlungsfreiheit, da der Gesetzesbefolgungsanspruch des demokratischen Staates – trotz des bemerkten Unterschiedes zwischen „Handlungsfreiheit in vielen Alternativen“ und „Freiheit zu Verweigerung der einen, insofern alternativlosen staatlich auferlegten Handlungspflicht“ – beides gerade nicht grundsätzlich unterscheidet. Dies schon deswegen, da die Gesetzesbefolgungspflicht den Bürger häufig gerade auch vor „alternativlose“ Verhaltenspflichten stellt, so daß ein Verweigerungsrecht gerade diesen gegenüber keineswegs eine „Ausnahme“ wäre, sondern gerade die Gesetzesbefolgungspflicht aus den Angeln heben würde. Gegen ein allgemeines Verweigerungsrecht spricht bei systematischer Auslegung auch schon die gesonderte Erwähnung des Kriegsdienstverweigerungsrechts in Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG; würde sie nur eine unter zahllosen Möglichkeiten gewissensgeleiteter Verweigerung darstellen, so wäre ihre gesonderte Erwähnung schwer erklärlich, da nämlich offenbar ohne jeden effet utile.115 cc) Menschenwürdegeleitetes Verweigerungsrecht Dieses Ergebnis wird jedoch bedeutend relativiert durch die Erkenntnis, daß die Gewissensfreiheit stärker als alle anderen Spezialgrundrechte mit der durch die Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürdegarantie (Art. 1 I GG) zusammenhängt.116 Eine „echte“ Gewissensfrage („echt“ im Sinne der Auslösung eines der Rechtsordnung ansonsten unbekannten Verweigerungsrechts) stellt sich dann, wenn die Entscheidung in einer bestimmten Sache die Integrität und Identität der Persönlichkeit existentiell betrifft, d. h. für die Konstituierung oder Dekonstituierung der Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung ist.117 Da es dem Staat durch die Vorschrift aus Art. 1 Abs. 1 GG verboten ist, durch ein Beharren auf der allgemein geltenden, für alle Bürger gleichen Gesetzesbefolgungspflicht die Menschenwürde dadurch anzugreifen, daß im konkreten Ein114 So auch im Ergebnis Scholler, Die Freiheit des Gewissens (1958), S. 195; Hellermann, Die sog. negative Seite der Freiheitsrechte (1993), S. 141; vergl. auch ders., ebda., S. 25 FN 24 m. w. N. 115 Vergl. zu diesem Gedanken – freilich mit genau entgegengesetzter Tendenz – Kokott, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rd.Nr. 74. 116 Vergl. Kokott, in: Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 4 Rd.Nr. 72. 117 Vergl. Bethge, in: Isensee / Kirchhof, HdBdStR VI, 2. Aufl. 2001, § 137 Rd.Nr. 11.

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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zelfall der Grundrechtsträger in eine tiefgreifende Persönlichkeitskrise gestürzt würde, die seine personale Identität in Frage zu stellen droht, kann also – wenn ein Ausweichen durch den Bürger nicht möglich ist – in derartig gelagerten Fällen ein Verweigerungsrecht entstehen. Dieses ist ohnehin ohne Schrankenvorbehalt gewährleistet; da seine Entstehung sich auf die Berührung der Menschenwürde stützt, könnte es ohnehin hier keine Schranken geben. Ein solches Verweigerungsrecht könnte – bei Vorliegen der beschriebenen Voraussetzungen – grundsätzlich z. B. auch im Falle des muslimischen Mädchens, das nicht am koedukativen Sportunterricht teilnehmen zu können glaubt, gegeben sein.118 Es wäre dann von der Teilnahmepflicht in der Tat zu befreien. Allerdings wäre zugleich auch ein Belastungsausgleich zu schaffen, der verhindert, daß Rechtsverweigerer bevorteilt werden.119 Dies bedeutet keinen Gewissenszwang, da dem Rechtsverweigerer aus seiner Entscheidung keine Nachteile entstehen, sondern lediglich der Vorteil des Verweigerungsrechts ausgeglichen wird – wie bei der Kriegsdienstverweigerung. Auch kommt die gewissensgeleitete Verweigerung von Rechtspflichten nur bei objektivierbarem Bezug zum persönlichen Verantwortungsbereich120 in Betracht.121

4. Zusammenfassung Was den Schutz der Gewissensfreiheit betrifft, so dürfte der hier vertretene Ansatz kaum zu anderen Ergebnissen führen, als von der herrschenden Rechtsprechung und Lehre ebenfalls seit je her erzielt werden. Denn daß die Gewissensfreiheit im Ergebnis keine schrankenvorbehaltlose Handlungsfreiheit im forum externum gewährleistet, sondern allenfalls ein Rechtsgehorsamsverweigerungsrecht in persönlichen Notstandssituationen, ist eigentlich allgemein anerkannt. Insofern wird hier nur ein im dogmatisch-konstruktiven abweichender Weg zum allgemein konsentierten Ergebnis vorgeschlagen. Wo hingegen mit der herrschenden Auffassung von einem prima-facie Grundrecht auf gewissensgeleitete Handlungsfreiheit ausgegangen wird, muß ein erheblicher und die Normativität des Grundrechts teils auch diskreditierender122 Aufwand123 zu dessen Einschränkung auf ein gemeinBVerwGE 94, 82 ff. Vergl. Stein / Frank, Staatsrecht, 19. Aufl. 2004, S. 265. 120 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität (1989), S. 255 ff.; zustimmend Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung (1997), S. 162 f. In diesem Sinne etwa BVerfGE 67, 26 (37 ff.) (keine teilweise Verweigerung der Zahlung von Beiträgen an eine gesetzliche Krankenkasse, weil diese auch Leistungen für medizinisch nicht indizierte Abtreibungen erbringt), oder ThürFG, ThürVBl 1997, 44 (45) (keine teilweise Steuerverweigerung wegen Verwendung für Rüstungsausgaben). 121 Noch weitergehend Kriele, in: Streithofen (Hg.), Frieden im Lande (1983), S. 139 (142): nur „eigenhändiges“ Tun könne verweigert werden. 122 Vergl. Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 173. 123 Teilweise wird auch rein pragmatisch argumentiert, vergl. etwa Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 2 / 2003), Art. 4 Rd.Nr. 140 (Stand: 11 / 1988): „auf der 118 119

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D. Der Gewährleistungsgehalt

wohl- und staatsverträgliches Maß getrieben werden; hierbei werden teils auch Umwege beschritten. Wenn etwa Herdegen einerseits den grundsätzlichen Charakter der Gewissensfreiheit als Handlungsfreiheit im forum externum betont124, andererseits aber diese durch eine analoge Heranziehung der Vorschrift aus Art. 136 Abs. 1 WRV, die er als Vorbehaltsschranke der religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte betrachtet, wieder eingrenzen will125, so ist abgesehen von der grundrechtsdogmatischen Kritik an dieser Konstruktion126 gewissermaßen auch in praktischer Hinsicht zu fragen, ob es nicht auch einfacher gewesen wäre, im Anschluß an Zippelius127 die gewissensgeleitete Handlungsfreiheit an die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG bzw. die ansonsten jeweils einschlägigen Spezialgrundrechte zu verweisen.128 Dies wird jedenfalls hier vorgeschlagen. Dies steht der Anerkennung eines gewissensgeleiteten Verweigerungsrechts in existenziell belastenden, quasi die Menschenwürde berührenden Zwangssituationen nicht entgegen. Was andererseits die Auslegung der religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte betrifft, so wird hier in der Tat eine Abkehr von der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingefordert, und zwar nicht nur, was die dogmatischkonstruktive Herleitung der bislang gefundenen Ergebnisse betrifft, sondern v.a. auch hinsichtlich dieser Ergebnisse selber. Der Gewährleistungsgehalt der religiösweltanschaulichen Freiheitsrechte erweist sich in systematischer Auslegung als viel geringer, als bislang angenommen wurde. In diesem Zusammenhang ist aber nochmals darauf hinzuweisen, daß der Gesetzgeber durch die hier vertretene systematische Auslegung keineswegs gehindert ist, etwa zugunsten religiöser Minderheiten einfach-gesetzliche Verbürgungen zu schaffen, die weit über den Gewährleistungsgehalt der politik- und demokratiefrei zu denkenden schrankenvorbehaltlosen Grundrechte – die mithin stets auch nur unhintergehbare Minimalgarantien sind – hinausweisen. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Vorschrift aus § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG, der als solcher auch nicht Art. 20a GG entgegensteht. Es ist nur eben aus rechtswissenschaftlicher Sicht klarzustellen, daß diese Vorschrift entgegen der herrschenden Auffassung keine Emanation der religiösen Freiheitsrechte des Grundgesetzes bildet, sondern vielmehr Ausdruck demokratischer Selbstbestimmung ist; nicht jedes Recht ist eben ein Grundrecht oder wenigstens der Auseinen Seite kann die Glaubhaftigkeit der Berufung auf das Gewissen bestritten werden . . .“ (Hervorhebung im Original). Hier entsteht dann freilich der Eindruck, der Staat als Grundrechtsadressat solle „beraten“ werden, wie er um die Einlösung (angeblicher) Grundrechtsgehalte in praktischer Hinsicht herumkommt. 124 Vergl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität (1989), S. 235 ff. 125 Vergl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität (1989), S. 288 f. 126 Vergl. dazu oben Teil A, III. 127 VVDStRL 28 (1970), 90 f. (Diskussionsbeitrag); ders., in: Dolzer / Vogel / Graßhof, BK, Bd. 1 (Loseblatt, Stand: 12 / 2004), Art. 4 Rd.Nr. 47 (Stand: 12 / 1989). 128 Vergl. nur Doehring, VVDStRL 28 (1970), 95 f. (Diskussionsbeitrag); Hans Hugo Klein, in: FS Doehring (1989), S. 479 (485).

IV. Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit

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fluß eines Grundrechts, vielmehr finden die meisten subjektiven Rechte ihre Legitimation im einfachen Gesetz und mithin im Demokratieprinzip. Erst diese Erkenntnis eröffnet den Weg zu einer modernen, demokratisch und freiheitlich129 auszugestaltenden Religions- und auch Integrationspolitik.

129 Wobei hier das Wort freiheitlich in seiner staatsrechtlichen Doppelbedeutung zu lesen ist: einerseits als grundrechtliche Freiheit des Einzelnen, anderseits aber auch als demokratische Selbstbestimmung im Sinne des „mit freiem Volk auf freiem Grunde stehen(s)“.

E. Objektive Grundrechtsdimension I. Stand der Diskussion Bisher noch nicht behandelt wurde die Frage nach der objektiv-rechtlichen Dimension1 der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die objektiv-rechtlichen Funktionen der Grundrechte wurden ursprünglich durch das Bundesverfassungsgericht noch unter dem Topos der „Grundrechte als Werteordnung“2 entwickelt. Heute dominiert die Rede von objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten bzw. „Elementen einer objektiven Ordnung“3; die Werteordnungsterminologie stellt sich als noch unentfaltete, zeitgebundene Redeweise dar, in der die Frage nach objektiven Grundrechtsdimensionen aber schon gestellt wurde.4 Praktisch wichtigster Anwendungsfall der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte dürfte die „mittelbare Drittwirkung“ (Ausstahlungswirkung) der Grundrechte auf das Privatrecht sein.5 Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht, die sich über die Generalklauseln oder sonstige wertungsoffene Begriffe des Bürgerlichen Rechts vermitteln soll, dürfte bis heute herrschende Meinung sein. Die Notwendigkeit und Berechtigung der Annahme einer mittelbaren Ausstahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht, die aber regelmäßig in primär privatrechtlich zu beurteilenden Konstellationen problematisch wird, wird zwar seit geraumer Zeit in der neueren Literatur in Frage gestellt.6 Dies geschieht aus zwei (vielleicht nur auf den ersten Blick) gegensätzlichen Betrachtungsweisen heraus. 1. Rein abwehrrechtlicher Ansatz So hält eine „rein abwehrrechtliche“ Richtung der neueren Grundrechtsdogmatik die Frage nach der Ausstrahlung der Grundrechte für gegenstandslos bzw. für 1 Vergl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165 (192); Wahl, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 18 Rd.Nr. 1 ff. 2 BVerfGE 7, 198 (205). 3 Vergl. BVerfGE 33, 303 (330); 53, 30 (57); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Nachdruck der 20. Aufl. 1995 (1999), Rd.Nr. 290 ff. 4 Vergl. Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 82. 5 Vergl. auch schon oben, Teil A IV 3. 6 Vergl. Robbers, NJW 1998, 935 (937): „Die Grundrechte sind dem einfachen Recht immanent. Grundrechte strahlen nicht aus, Grundrechte gelten.“ Ähnlich auch Cremer, Freiheitsgrundrechte (2003), S. 6 f.

I. Stand der Diskussion

199

ein Scheinproblem, da der Staat bei Gesetzgebung, richterlicher Entscheidung und Vollstreckung die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen gestalte und dabei gem. Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an Grundrechte gebunden sei.7 Das hierdurch aufgeworfene Problem, daß dieser „rein abwehrrechtliche“ Ansatz letztlich zu einer unmittelbaren Grundrechtsgeltung für Private und mithin zu einem Verlust der Privatautonomie und der freiheitlichen Rechtsstaatlichkeit überhaupt führe, will Poscher über die Einführung der Annahme von Grundrechten als reflexiven Regelungen lösen: demnach regelten Grundrechte nicht den Konflikt zwischen Privaten („unmittelbare Grundrechtsgeltung“), sondern sie seien Regeln über (staatliche) Regeln.8 Dabei ist dem rein abwehrrechtlichen Modell zuzugeben, daß sich Konstellationen nach Art der Lüth-Falles grundsätzlich auch abwehrrechtlich und ohne Rekurs auf objektive oder Wertordnungselemente rekonstruieren lassen, indem man zwingende Privatrechtsnormen wie etwa das § 826 BGB zu entnehmende Verbot des Boykottaufrufs als rechtfertigungsbedürftigen staatlichen Eingriff in die Meinungsfreiheit versteht.9 M. E. setzt sich der „rein abwehrrechtliche“ Ansatz aber u.U. doch dem Einwand der Zirkularität aus. Denn das eigentlich Revolutionäre der Lüth-Entscheidung lag darin, daß das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsprüfung nicht abbrach, als es in § 826 BGB ein allgemeines Gesetz aufgefunden hatte, das nach dem klaren Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 GG die Meinungsfreiheit einschränken können sollte, sondern die Prüfung im Sinne der Verhältnismäßigkeit und der Interdependenztheorie fortsetzte, nachdem es eben die Annahmen, daß ein Schrankengesetz nicht übermäßig sein dürfe und außerdem seinerseits im Lichte des einzuschränkenden Grundrechts ausgelegt werden müsse, auf die Werteordnungsannahme gestützt hatte. Das Ziel des heutigen, rein abwehrrechtlichen Ansatzes ist es denn auch nicht, rechtsstaatlich vor 1958 zurückzugehen, sondern Poscher u. a.10 wollen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abwehrrechtlich rekonstruieren.11 Dabei kann man freilich das Verbot des Boykottaufrufs aus § 826 BGB als rechtfertigungsbedürftigen staatlichen Eingriff ansehen; zur Rekonstruktion der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen dann aber gleichwohl dessen zentrale Annahmen und Neuerungen aus der Lüth-Entscheidung, nämlich Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Wechselwirkungslehre, die das Bundesverfassungsgericht ursprünglich auf die Werteordnungsannahme gestützt hatte, übernommen werden, ohne daß dabei ganz klar wird, worauf diese Annahmen im Rahmen des rein abwehrrechtlichen Schemas eigentlich noch gestützt werden.12 Mit anderen Worten, der rein abwehrrechtliche Ansatz muß unter Umständen die Ergebnisse der von ihm gerade abgelehnten 7 Vergl. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte (1971); ders., Probleme der Grundrechtsdogmatik, (1977), S. 211 ff., 221 ff. 8 Vergl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 315 ff. 9 Dazu auch Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 99. 10 Vergl. nur Schwabe, a. a. O.; Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff. 11 Vergl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2002), S. 1. 12 Vergl. auch Bryde, in: Merten / Papier, HdBdGRe I (2004), § 17 Rd.Nr. 36.

200

E. Objektive Grundrechtsdimension

Annahme der mittelbaren Grundrechtswirkung im Privatrecht übernehmen, um überhaupt zu funktionieren (also etwa die Meinungsfreiheit nicht leerlaufen zu lassen).

2. Schutzpflichtenansatz Diese Zirkularitätsproblematik vermeidet hingegen eine andere, neuere Lehre, die die hergebrachte Annahme von der mittelbaren Grundrechtsausstrahlung insofern für entbehrlich hält, als daß sie sämtliche objektive Grundrechtsfunktionen als Unterfälle des als zentral und umfassend begriffenen Konzepts der grundrechtlichen Schutzpflicht fassen will.13 Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß das grundrechtliche Schutzgut der Schutzpflicht mit dem des entsprechenden Abwehrrechts identisch ist. Der Unterschied bestehe lediglich darin, daß das Abwehrrecht vor dem Vollzug staatlicher Handlungen schütze, die Schutzpflicht hingegen vor dem staatlichen Unterlassen des Einschreitens gegen Beeinträchtigungen durch Private.14 Daraus würde aus Sicht des hier vertretenen Ansatzes aber zugleich auch folgen, daß, wenn man das Bestehen eines bestimmten, vermeintlichen grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts (z. B.: „Recht, auch im Dienst aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen“) schon auf der Ebene des Abwehrrechts verneint, auch keine entsprechende Schutzpflicht etwa mit Wirkung im privaten Arbeitsrecht angenommen werden kann. – Eine zwischen den beiden neuen Richtungen stehende Position bezieht Murswiek, der konstruktiv von rein abwehrrechtlich zu verstehenden Grundrechten ausgeht, dann jedoch – aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols und des Selbsthilfeverbots – von umfangreichen Abwehrrechten gegen die staatliche Duldung der Risiken der Technik, d. h. vor allem der Umweltverschmutzung und des Ressourcenverbrauchs ausgeht, was gerade auf ein universelles Schutzpflichtenregime hinausläuft.15 Borowski, der der Schutzpflichtenkonzeption nahesteht, wendet sich gegen den Begriff „Schutzpflicht“, da diese an objektiven Pflichten statt an subjektiven Rechten orientiert sei; da es sich bei den „Schutzpflichten“ aber um subjektive öffentliche Rechte handele, sei der Begriff „Schutzrechte“ vorzuziehen. Dieser Vorschlag ist grundsätzlich überzeugend; angesichts der noch im Fluß befindlichen Terminologie soll aber im Rahmen dieser Abhandlung an der herkömmlichen Begrifflichkeit festgehalten werden.

13 Vergl. Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 102 m. w. N.; in diese Richtung auch Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte (2000), S. 205 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), S. 141 ff., 162 f. 14 Vergl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 608. 15 Vergl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik (1985), S. 89 ff., 127 ff.

II. Schutzpflichten

201

3. Zwischenergebnis In der neueren Debatte um den objektiven Gehalt der Grundrechte geht es weniger um die Herleitung durchgreifender Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern eher um terminologische Verbesserungen oder unterschiedliche Möglichkeiten der Rekonstruktion bei inhaltlicher Akzeptanz der Rechtsprechung als solcher, die meist unter Verzicht auf theoretische Ausführungen die Grundrechte fallbezogen zur Geltung bringt und die Frage nach den objektiven Grundrechtsfunktionen mit der nach der Kontrolle der Fachgerichte durch das Bundesverfassungsgericht vermengt.16 Daher ist für das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung die Frage nach der Vorzugswürdigkeit der abwehrrechtlichen, der schutzpflichtorientierten oder der hergebrachten Lehre von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte nicht von entscheidender Bedeutung. Ausgangspunkt einer Stellungnahme zu der objektiv-rechtlichen Dimension der Glaubens- und Gewissensfreiheit ist der Satz, daß eine Schutzpflicht oder mittelbare Auswirkung eines Grundrechts dazu dient, ihren Gewährleistungsgehalt gegen Übergriffe nicht des Staates, sondern Privater zu sichern.17 Objektive Schutzpflicht und subjektiver Schutzanspruch divergieren daher nicht nach ihrer inhaltlichen Reichweite.18 So erweist sich die hier im Mittelpunkt stehende Frage nach dem Gewährleistungsgehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit auch als entscheidend für deren objektiv-rechtliche Dimension. Als schrankenvorbehaltloses Grundrecht ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit ein in die Rechtsordnung eingeordnetes Grundrecht, sie vermag also im forum externum die Rechtsordnung nicht zu suspendieren noch zu relativieren; dieses Ergebnis der systematischen Auslegung in Zusammenschau mit Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG und dem Demokratieprinzip wird durch Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 1 WRV klarstellend bestätigt. Damit kommt eine religiöse Prägung etwa des privaten Arbeitsrechts kaum in Betracht.

II. Schutzpflichten Art. 4 Abs. 2 GG enthält jedoch eine positiv-verfassungsrechtlich angeordnete Schutzpflicht.19 Obwohl der Wortlaut der Vorschrift von „gewährleisten“ spricht und nicht von „Schutz“, könnte ja die Religionsausübung nicht gewährleistet werVergl. Dreier, in: ders., GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rd.Nr. 99 m. w. N. Vergl. Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, Rd.Nr. 93. 18 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts (2001), S. 241; anders wohl BVerfGE 88, 203 (262 f.). 19 A.A. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 608: nur Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Art. 6 Abs. 4 enthielten positivierte Schutzpflichten. Diese Betrachtungsweise stellt aber zu sehr auf den reinen Wortlaut („schützen“, „Schutz“) ab; dem Wortsinn nach meint die Gewährleistung aus Art 4 Abs. 2 nichts anderes als staatlichen Schutz. 16 17

202

E. Objektive Grundrechtsdimension

den wie eine Sozialleistung oder die Benutzung öffentlicher Einrichtungen; auch soll nicht „die Religionsausübung“ gewährleistet werden, sondern die „ungestörte“ Religionsausübung. Der Schutz des Grundrechtsträgers vor Störungen ist nicht nur klassische Staatsaufgabe, sondern v.a. auch hauptsächlicher Gegenstand staatlicher Schutzpflichten20 im Sinne des „Grundrechts auf Sicherheit“21 einschließlich des Untermaßverbots.22

1. Strafrecht a) §§ 166, 167 StGB Diese Schutzpflicht ist in erster Linie gesetzesmediatisiert23 und entsprechend in § 167 StGB umgesetzt.24 Die besondere Normierung im Strafgesetzbuch setzt die Schutzpflicht aus Art. 4 Abs. 2 GG um; dieser Schutzpflicht würde nicht genüge getan, wenn zum Schutz des Gottesdienstes vor Störern etwa auf die allgemeine Strafbarkeit des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) verwiesen werden müßte. Sehr fraglich ist hingegen, ob auch § 166 StGB als Emanation der staatlichen Schutzpflicht hinsichtlich der Verfolgungsfreiheit Andersdenkender im allgemeinen bzw. zugunsten der ungestörten Religionsausübung im besonderen (Art. 4 Abs. 2 GG) anzusehen ist. Schon der Wortlaut der Vorschrift deutet eher darauf hin, daß Schutzgut nicht die individuelle Religiösität und deren Achtung ist, sondern ausschließlich die öffentliche Ordnung.25 Vor diesem Hintergrund würde jedenfalls das Tatbestandsmerkmal „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“26 Sinn machen. Sieht man das Schutzgut hingegen (auch) in der ungestörten Religionsausübung der Gläubigen selber27, so ist die Vorschrift offensichtlich verfassungswidrig. Denn dann würde die Tatsache, daß der strafrechtliche Schutz von dem zusätzlichen Tatbe20 Vergl. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 32 und passim; ders., in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 93 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987). 21 Vergl. Isensee, in: ders. / Kirchhof, HdBdStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rd.Nr. 137 ff. 22 BVerfGE 88, 203 (251 ff.); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 17 II 3 c) (S. 163). 23 Zwar richten sich grundrechtliche Schutzpflichten an alle staatlichen Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit; sie sind nicht ausschließlich an den Gesetzgeber adressiert. Die regelmäßige Gesetzesmediatisierung ergibt sich aber daraus, daß exekutive und judikative Schutzgewährung durch den geltenden Gesetzesvorbehalt regelmäßig auf den Vollzug von Parlamentsgesetzen verwiesen bleibt. Vergl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 623 f. 24 Vergl. MünchKommStGB / Hörnle, § 167 Rd.Nr. 1 f. 25 Vergl. NK-StGB-Herzog, § 166 Rd.Nr. 1 m. w. N., der allerdings außerdem auch die „Toleranz“ als Schutzgut erwähnt; vergl. auch MünchKommStGB / Hörnle, § 166 Rd.Nr. 1 f. m. w. N. 26 NK-StGB-Herzog, § 166 Rd.Nr. 13 ff. m. w. N. 27 Unentschieden Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 625 ff.

II. Schutzpflichten

203

stand der „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“ abhängig gemacht wird, darauf hinauslaufen, daß nur solche Konfessionen geschützt werden, die „Bürgerkriegsarmeen“ auf die Straße bringen können, wohingegen friedliche Glaubensgemeinschaften prinzipiell nicht geschützt wären.

b) Sonstige Vorschriften aus dem StGB Auch als Emanation der Schutzpflicht aus Art. 4 Abs. 2 GG können angesehen werden die Vorschriften aus § 243 Abs. 1 Nr. 4 StGB (Diebstahl aus einer Kirche oder einem anderem der Religionsausübung dienenden Gebäude oder Raum oder einer Sache, die dem Gottesdienst gewidmet ist oder der religiösen Verehrung dient), § 304 Abs. 1 1. und 2. Alt. (Sachbeschädigung an Gegenständen der Verehrung einer im Staat bestehenden Religionsgesellschaft oder an Sachen, die dem Gottesdienst gewidmet sind) und § 306a Abs. 1 Nr. 2 StGB (Brandstiftung in einer Kirche oder einem anderen der Religionsausübung dienenden Gebäude).28

2. Polizeirecht Eine weitere Ausprägung der Schutzpflicht aus Art. 4 Abs. 2 GG bilden aber auch die Generalklauseln in den Polizeigesetzen der Länder (z. B. §§ 1, 3 BWPolG), die schon von Grundrechts wegen so auszulegen und anzuwenden sind, daß Störungen von Gottesdiensten unter Ausschöpfung aller polizeilichen Möglichkeiten und Kapazitäten zu unterbinden sind.

3. Zivilrecht Der zivilrechtliche deliktische Schutz aus § 823 Abs. 1, § 826 und v.a. des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bilden keinen zusätzlichen Ausdruck staatlicher Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 oder 2. Der zivilrechtliche deliktische Schutz im allgemeinen und der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts29 schützen die Persönlichkeit und ihrer Rechtsgüter; dies geschieht mit dem Rechtsgedanken aus Art. 136 Abs. 1 WRV gerade unabhängig von Religiösität oder besonderen Gewissensfragen.30

28 29 30

Vergl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 626. Vergl. Larenz / Canaris, Schuldrecht II / 2, 13. Aufl. 1994, § 80 (S. 489 ff., v.a. S. 492 f.). A.A. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (2006), S. 627 f.

204

E. Objektive Grundrechtsdimension

III. „Mittelbare Drittwirkung“ Für die Frage der Auswirkungen der Glaubens- und Gewissensfreiheit auf das Privatrecht kommt es, wie bereits erwähnt, nicht entscheidend darauf an, ob man an hergebrachten Termini wie „mittelbare Drittwirkung“ oder Ausstrahlungswirkung festhalten will oder mit den neueren Literaturansichten von einer Wirkung der Grundrechte im Privatrecht qua Schutzpflichten (oder „Schutzrechten“) ausgeht31 oder aber im Rahmen eines rein abwehrrechtlichen Paradigmas auch zivilrechtliche Gesetze sowie die zu ihnen ergangenen Urteile als staatliche Eingriffe versteht. Dies sind terminologische bzw. dogmatisch-konstruktive Fragen; im Ergebnis dürfte aber jedenfalls Einigkeit darüber bestehen, daß die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht jedenfalls diejenige im unmittelbaren Bürger-StaatVerhältnis nicht übersteigt. Daher wird das Tragen religiös-demonstrativer Kleidungsstücke gegen den Willen des Arbeitgebers regelmäßig einen Kündigungsgrund darstellen, jedenfalls wenn etwa ein Umsatzrückgang, Unzufriedenheit von Kunden oder eine Störung des innerbetrieblichen Friedens zu besorgen sind.32 Dies folgt schon aus der Überlegung, daß der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin nicht hätte einstellen müssen und regelmäßig nicht eingestellt haben würde, wenn ihm der Plan, demonstrativ in religiöser Kleidung die Arbeit verrichten zu wollen, vorab mitgeteilt worden wäre. In den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen beriefen sich die Arbeitnehmer meist auf nachträgliche Bekehrungserlebnisse, nachdem sie sich unter sozial unauffälligem Verhalten hatten einstellen lassen.33 Es wirkt dann aber unbillig, daß die wirtschaftlichen Risiken eines Bekehrungserlebnisses in erster Linie der Arbeitgeber des Bekehrten zu tragen hätte und nicht dieser selbst.34

IV. Weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates Der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates folgt aus der Zusammenschau der Vorschriften aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 3 GG und Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 1 WRV. Er ist jedoch entgegen der herrschenden Auffassung kein objektiver Grundrechtsgehalt schon der Gewährleistung der reli31 Vergl. zum Ganzen Sachs, in: ders., GG, 3. Aufl. 2003, Rd.Nr. 32, 35 ff. vor Art. 1 m. w. N. 32 LAG Hessen, NJW 2001, 3650 (3651 f.); a.A. BAG, NJW 2003, 1685 (1686 ff.) und BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2003, 2815 f.; in diesem Sinne etwa auch ArbG Hamburg, KirchE 34, 1 (2 ff.); vergl. auch Preis / Greiner, in: FS Rüfner (2003), S. 654 (661 ff., 671 ff., 679 f.). 33 Vergl. ArbG Hamburg, KirchE 34, 1 (4 f.); LAG Hessen, NJW 2001, 3650. 34 Vergl. auch Rüthers, in: Stahlhacke (Hg.), EzA § 1 KSchG 2003 Nr. 58, S. 19 f. mit weiteren Beispielen.

IV. Weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates

205

giös-weltanschaulichen Freiheitsrechte in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG selbst; denn wenn die Gewährleistung der Glaubens- und Gewissensfreiheit die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates zur Voraussetzung oder zur Folge hätte, so könnte es in Staatskirchensystemen (wie Großbritannien oder Norwegen) keine Glaubens- und Gewissensfreiheit geben; dies ist aber weder formalrechtlich noch faktisch der Fall. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates erweist sich mithin als rein objektiver Verfassungsgrundatz. Mithin stellt sich auch nicht die Frage nach einer Resubjektivierung des Neutralitätsprinzips, da – wenn und insoweit man die Resubjektivierung objektiver Grundrechtsgehalte bejahen will – diese („Re-“) nur objektive Grundrechtsfunktionen betrifft, wohingegen die Subjektivierung rein objektiver Verfassungsgrundsätze, die nicht aus Grundrechten herzuleiten sind, mit der allgemeinen Ansicht abzulehnen ist. Eine Subjektivierung des Neutralitätsgrundsatzes begegnet nur in Form der besonderen Gleichheitsrechte aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, 33 Abs. 3 GG bzw. Art. 140 GG iVm. Art. 136 Abs. 2 WRV (der sich inhaltlich weitestgehend mit Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG deckt). Diese Subjektivierung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates in Gestalt der besonderen Gleicheitsrechte folgt aber gerade aus der positiv-verfassungsrechtlichen Anordnung durch Grundrechte bzw. grundrechtsgleiche Rechte; und daraus folgt zugleich, daß über diese besonderen Gleichheitsrechte hinaus keine Subjektivierung des Neutralitätsprinzips statthaft ist. Wäre dieses nämlich allgemein zu subjektieren, so bedürfte es der besonderen Gleichheitsrechte nicht. Mithin beschränkt sich die Funktion des Art. 4 Abs. 1 und 2 – und zwar unabhängig davon, ob man der hier vertretenen Lehre vom in die Rechtsordnung eingeordneten Charakter der schrankenvorbehaltlosen Grundrechte folgt, nach der diese im forum externum im Gewährleistungsgehalt nicht weiter reichen als die für die jeweilige Handlungsart ohnehin einschlägigen sonstigen Grundrechte – auf ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe sowie eine Schutzpflicht gegen private Übergriffe, die selbst dem Staat nicht erlaubt wären. Unrichtig ist aber jedenfalls die Vermischung der Frage nach dem Grundrechtseingriff mit der nach der Einhaltung des Neutralitätsgrundsatzes35 (Kruzifix-Beschluß) oder gar die weitgehende Gleichsetzung des Grundrechtseingriffes mit der Verletzung des Neutralitätsprinzips (Osho-Beschluß). Zum inhaltlichen Umfang des so verstandenen Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ist weiter zu sagen, daß dieser keine „totalen“ oder „absoluten“ Züge aufweist. In den Genuß der religiös-weltanschaulicher Freiheit kommen nur Weltanschauungen, die ihrerseits verfassungsneutral sind, d. h. zentrale Verfassungsentscheidungen wie die Gleichberechtigung der Frau oder den weltlich-demokratischen Charakter der Gesetzgebung loyal unterstützen. Weder über den objektiv-rechtlichen Neutralitätsgrundsatz noch über Abwehrrecht und Schutzpflicht können daher verfassungsfeindliche Bestrebungen in die staatliche Integrationsordnung „eingeschleust“ werden.

35

Vergl. nur Böckenförde, ZevKR 20 (1975), 119 (120 f.).

Zusammenfassende Thesen 1. Die Analyse des Kopftuch-Urteils des Bundesverfassungsgerichts zeigt, daß die Entscheidung keinen Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts darstellt, sondern dessen ständige Rechtsprechung zur Glaubens- und Gewissensfreiheit seit der Ludendorff- (auch: Tabak-)Entscheidung letztlich stimmig fortführt. a) Das Bundesverfassungsgericht überträgt seine Sichtweise der Glaubens- und Gewissensfreiheit als umfängliche Gewährleistung auch im forum externum im Sinne des Rechts, nach seiner persönlichen Glaubensüberzeugung zu leben und zu handeln, in das besondere Gleichheitsrecht aus Art. 33 Abs. 3 Satz 1 GG. Dies ist auch nicht fernliegend, da diese Vorschrift an das religiöse Bekenntnis anknüpft, das also wohl im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verstanden werden kann. b) Das Urteil wird auch durch das Minderheitenvotum nicht durchgreifend in Frage gestellt. Denn obwohl die Klägerin von sich aus die Nähe des Staates suchte, indem sie Beamtin werden wollte, kann sie sich doch auf das speziell für Anwärter für öffentliche Ämter einschlägige konfessionsunabhängige Zugangsrecht aus Art. 33 Abs. 3 GG berufen. Insofern ist dem Zweiten Senat auch nicht durchgreifend vorzuhalten, er habe sich nicht hinreichend mit der Kruzifix-Entscheidung auseinandergesetzt. c) Die Konkretisierung der in Grundrechten Dritter und Rechtswerten von Verfassungsrang aufzufindenden Grenzen des schrankenvorbehaltlosen Grundrechts weist das Bundesverfassungsgericht in Übereinstimmung mit seiner bisherigen Rechtsprechung zum Thema religiöser Bezüge in der Schule dem Landesgesetzgeber zu, wobei es erstmals auch explizit ausspricht, daß die Landesgesetzgeber diese Grenzen in jeweils unterschiedlicher Weise konkretisieren könnten. d) Trotz der grundsätzlichen Übereinstimmung mit der bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist der Entscheidung aber nicht zuzustimmen. aa) Denn wird das hergebrachte Verständnis der Glaubens- und Gewissensfreiheit in das Recht des bekenntnisneutralen Zugangs übertragen, erhält der Beamte und Beamtenanwärter letztlich ein Recht auf glaubensgeleitete Amtsführung. Dies widerspricht aber der weltanschaulichen Neutralität des Staates und dem Demokratieprinzip. bb) V.a könnte dieses Recht nicht durch den einfachen Landesgesetzgeber eingeschränkt oder „konkretisiert“ werden. Denn der schulrechtlichen Regelungskompetenz der Landesgesetzgeber aus Art. 7, 30, 70 GG ist keine etwa Art. 17a GG entsprechende Vorschrift zu entnehmen, die zur Grundrechtseinschränkung ermäch-

Zusammenfassende Thesen

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tigt. Jedenfalls die Landesgesetzgeber haben schon wegen Art. 31 GG die Bundesgrundrechte zu beobachten und nicht zu konkretisieren. 2. Wenn die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einerseits die bisherige Rechtsprechung stimmig fortsetzt, andererseits aber mit Demokratieprinzip, Neutralität und bundeseinheitlicher Grundrechtsgeltung nicht zu vereinbaren ist, so folgt daraus, daß ein grundlegend neues, richtigeres Verständnis der Glaubensund Gewissensfreiheit des Grundgesetzes gefunden werden muß. a) Hierfür wird eine dem Grundgesetz entsprechende Grundrechts- und Verfassungstheorie benötigt. Diese Theorie muß daher mehr sein als etwa ein bestimmtes rechtspolitisches („liberales“, „sozialstaatliches“) Vorverständnis, sondern sie muß auf den Textbefund des Grundgesetzes antworten. b) Die von dieser Theorie zu behandelnden, problematischen Haupttextbefunde des Grundgesetzes sind die Gegenüberstellung von individuellem Grundrechtsschutz und Demokratieprinzip einerseits sowie die differenzierte Schrankensystematik der Grundrechte andererseits. c) Die Dichotomie von grundrechtlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe findet ihren Ausdruck in dem verfassungstheoretisch paradigmatischen Gegensatz zwischen Rahmenordnungs- und Grundordnungsthese. Der Gegensatz zwischen diesen Theorien ist aber nicht zu entscheiden („verfassungstheoretisches Patt“), da diese unterschiedlichen Lehren nur Ausdruck des in der Verfassung selbst angelegten Gegensatzes zwischen Grundrechten und Demokratie sind. Die Rahmenordnungslehre will das Demokratieprinzip auf Kosten des Rechtsstaatsgebots stärken, die Grundordnungslehre den individuellen Grundrechtsschutz qua Konstitutionalisierung der Rechtsordnung auf Kosten der Demokratie. d) Es haben aber beide Lehren unrecht, solange sie ohne Rücksicht auf die differenzierte Schrankensystematik des Grundrechtskatalogs beanspruchen, auf alle Grundrechte gleichermaßen anwendbar zu sein. 3. Richtigerweise ist zwischen schrankenvorbehaltlos gewährleisteten (absoluten) Grundrechten und solchen unter (qualifiziertem) Schrankenvorbehalt bzw. normgeprägten Grundrechten (relativen Grundrechten) zu unterscheiden. a) Schrankenvorbehaltlose Grundrechte sind nicht einschränkbar, was aus ihrem Wortlaut folgt und durch Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG bestätigt wird. Die Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts, nach der sie durch Grundrechte Dritter und Rechtswerte von Verfassungsrang eingeschränkt werden können, findet im Grundgesetz keine Stütze und führt zu methodisch abzulehnenden, unvorhersehbaren Abwägungen zahlloser Verfassungsgüter. b) Daher sind die schrankenvorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte systematisch als punktuelle Minimalgewährleistungen auszulegen im Sinne eines Verbots der Verfolgung Andersenkender. Niemand darf allein wegen seines religiösen Glaubens verfolgt werden, ein Maler darf nicht Malverbot erhalten usw. Einen

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Zusammenfassende Thesen

Bedarf für eine Schrankengesetzgebung hinsichtlich dieser Garantien gibt es im menschenwürdegeleiteten Staat nicht. c) Andererseits bilden die schrankenvorbehaltlosen Grundrechte keine Erlaubnisnormen im forum externum, sondern sie sind in die Rechtsordnung eingeordnet. Dies folgt daraus, daß sie als schrankenvorbehaltlose Gewährleistungen demokratisch nicht „hegbar“ sind; sie sind politik- und v. a. demokratiefrei gestellt. Sie berechtigen zu nichts, was nach einfachem Recht sowie den einschlägigen Spezialgrundrechten (wie z. B. der Meinungsfreiheit) nicht zulässig ist, und sie konstitutionalisieren, suspendieren oder relativieren („Abwägung“) diese Rechtsordnung nicht. Für die Glaubens- und Gewissensfreiheit wird dies durch Art. 136 Abs. 1 WRV, der schon seinem Wortlaut nach keine herkömmliche „Schrankenbestimmung“ bildet, klargestellt. d) Hinsichtlich der relativen (unter Schranken- oder Ausgestaltungsvorbehalt gestellten) und mithin demokratisch hegbaren und gestaltbaren Grundrechte hingegen bleibt es beim Schema der verhältnismäßigen Einschränkung durch demokratische Gesetze in abwägender Methode einschließlich Wechselwirkungslehre und Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. e) Dieser Gegensatz bildet sich ab in der Terminologie, daß absolute (d. h. schrankenvorbehaltlose) Grundrechte keinen Schutzbereich haben, sondern einen Gewährleistungsgehalt, in den nicht eingegriffen werden darf. Absolute Grundrechte sind abwägungs- und kollisionsfrei. 4. Dieser Ansatz steht in Gegensatz zum herrschenden, „primär liberalen“ (Wolfgang Kahl) Grundrechtsparadigma, nach dem alle Grundrechte weite und „im Zweifel“ gemäß dem Selbstverständnis der Grundrechtsträger auszulegende Schutzbereiche im Sinne von prima-facie-Erlaubnisnormen im forum externum haben, die durch Abwägung im Einzelfall verhältnismäßig wieder eingeschränkt werden können. a) Diese Annahme geht auf die von Carl Schmitt in die Grundrechtsdogmatik eingeführte Vorstellung zurück, staatlich gewährleistete Grundrechte seien gleichwohl als vorstaatliche Rechte im Sinne beliebigen Verhaltens zu verstehen (Schmittsches Dogma). Diese Annahme ist aber methodisch verkehrt, weil sie auf eine Kategorienverwechselung, einen „Kurzschluß“ zwischen rechtstheoretischen Vorstellungen über Menschenrechte und der Auslegung staatlicher Gewährleistungen hinausläuft. Dadurch wird letztlich die Normativität der Verfassung geleugnet und es werden die Grundrechte durch superkonstitutionelle, gedachte Ersatzrechtsquellen ersetzt. b) Der richtige Kern des Schmittschen Dogmas besteht jedoch im rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip, sofern man es einschränkend nur in Form der allgemeinen Handlungsfreiheit iSd. Elfes-Doktrin verwirklicht sieht, sowie in der Zurückweisung der dogmatischen Figur des „Grundrechtsmißbrauchs“. c) Die unter (a) geäußerte Kritik gilt auch für die historisch-subjektive Auslegungsmethode. Auch die historisch-subjektive Auslegungsart, deren Primat in der

Zusammenfassende Thesen

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neueren Literatur gelegentlich behauptet wird, beruht auf einem kategorialen Kurzschluß zwischen rechtshistorischer Quellenforschung und der Dogmatik positiven Rechts und schließt damit von einem Sein auf ein Sollen; damit leugnet sie letztlich ebenfalls die Normativität der Verfassung. Daher ist die historisch-subjektive Auslegung den übrigen Auslegungsarten nicht gleichzustellen, sondern nur zur Bestätigung anderweitig gefundener Auslegungsergebnisse zulässig; ihr „Primat“ ist vollends abzulehnen. 5. Die religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte und die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schützen in erster Linie vor Verfolgung Andersdenkender (vor Versuchen der Umerziehung, Gehirnwäsche etc.) und betreffen mithin (primär) das forum internum. a) Der Begriff des religiös-weltanschaulichen Bekenntnisses in Art. 33 Abs. 3 GG (bzw. 136 Abs. 2) bzw. der religiösen Anschauungen (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) meint daher nur ein Sein und nicht ein Tun. Geschützt wird also das forum internum, das forum externum nur insofern, als daß niemand zur Täuschung über sich selbst gezwungen werden soll. b) Der Begriff des religiös-weltanschaulichen Bekenntnisses aus Art. 4 Abs. 1 GG hingegen berechtigt auch zu Äußerungen und zur Missionierung im forum externum, da die Gewährleistung sonst neben der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit als solcher funktionslos wäre. Dieses Freiheitsrecht im forum externum erstreckt sich aber schon wegen des Privilegierungsverbots aus Art. 136 Abs. 1 WRV von vornherein nicht weiter, als die ohnehin einschlägigen Spezialgrundrechte (hier v.a. die Meinungsfreiheit) mitsamt ihren Schrankenbestimmungen reichen würden („Gewährleistungsschranke“ im Sinne Friedrich Kleins). c) Art. 4 Abs. 2 GG bildet kein Grundrecht i. e. S., sondern eine positivierte Schutzpflicht, auf deren Erfüllung (unter dem Vorbehalt des Möglichen) freilich ein subjektiver Anspruch besteht. Diese Schutzpflicht wird durch das Strafrecht (v.a. § 167 StGB) und das Polizeirecht gesetzesmediatisiert und durch die zugehörige Verwaltungpraxis umgesetzt. d) Die Gewissensfreiheit enthält als „systematisches Muttergrundrecht“, von dem die religiös-weltanschaulichen Freiheitsrechte letztlich nicht abzugrenzen sind, da die Befolgung religiöser Vorschriften eben die Gewissenspflicht des Gläubigen ist, ein Verweigerunsrecht auch gegen gesetzlichen Zwang. Dies ist jedoch auf Situtation ohne Ausweichmöglichkeit beschränkt, in denen ein Zwang zum Gesetzesgehorsam die Integrität der Persönlichkeit bedrohen würde. e) Weitere, spezielle Verweigerungsrechte folgen aus Art. 136 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 WRV. Da „religiöse Überzeugung“ und „Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft“ (oder -gemeinschaft) nicht identisch ist, bildet Art. 136 Abs. 3 Satz 2 nicht die Schranke des Art. 136 Abs. 3 Satz 1, sondern die Schranke des ungeschriebenen grundrechtsgleichen Rechts auf konfessionelle Auskunftsverweigerung.

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Zusammenfassende Thesen

f) Nach alledem ist der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Glaubens- und Gewissensfreiheit ein Recht des Einzelnen enthalte, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, nur unter dem Vorbehalt bzw. mit der Ergänzung beizupflichten, daß sich dieses Verhalten bzw. diese Handlungen jedenfalls im Rahmen der verfassungsmäßigen Rechtsordnung (Art. 2 Abs. 1 GG) bewegen müssen. Wo hingegen im Einzelfall aus der Gewissensfreiheit ein Verweigerungsrecht des Grundrechtsträgers selbst gegen den Gesetzesgehorsam folgt, handelt es sich stets um ein individuelles Recht, sich (unter Inkaufnahme von Ersatzpflichten) zu absentieren, nicht aber um einen „Staatsabänderungsanspruch ohne Rekurs auf das demokratische Procedere“ etwa im Sinne der Kruzifix-Entscheidung. 6. Durch diese Sichtweise soll der Gesetzgeber nicht gehindert sein, über die demokratie- und politikfrei gestellten Minimalgewährleistungen des Grundgesetzes hinaus kraft demokratischer Selbstbestimmung weitere subjektive Rechte zugunsten religiöser Minderheiten einfachgesetzlich einzuführen. Ein Beispiel hierfür ist die Vorschrift aus § 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG. Diese (und vergleichbare) Vorschriften sind dann freilich nicht „verfassungskonform“ erweiternd auszulegen, sondern schon vor dem Hintergrund des in Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schächten geänderten Art. 20a GG eher restriktiv.

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Personen- und Sachregister Aas 134 Abschirmung (von reinem Wissen) 140 Abwägung 18, 28 ff., 37 ff., 62, 73, 78, 81, 139, 149, 151, 172, 177 – „abstrakte“ 165 f. Abwägungsskepsis 28 ff., 38, 72 Aktion Rumpelkammer 19, 56, 98, 127 f. Allgemeinheit, materiale (Vorbehalt der allgemeinen Gesetze) 75 f. Andersgläubige (als Ausleger der Vorschriften einer Religionsgemeinschaft) 134 Apothekenurteil 32, 76 Argumentationslast 60 f. Auslegung – geistesgeschichtliche 18, 154 – historisch-subjektive (historisch-genetische) 18, 40, 54, 153 ff., 158 ff., 161, 172, 208 f. – systematische 77, 80, 132 f., 136, 144, 162 ff., 166, 196 – „verfassungsnonkonforme“ 124 f. – Wortlaut- (grammatische) 80, 136, 144, 162 Ausnahmezustand 132, 144 Ausstrahlungswirkung (der Grundrechte) 39, 198, 201, 204 Bekenntnis 96 ff., 99 ff., 121, 206 Bekenntnis im Verwaltungssinne ! Konfession Bekenntnisfreiheit 183 ff. Bekenntnisfreiheit, negative 186 Berufsfreiheit ! Freiheit der Berufswahl Bethge, Herbert 103 FN 50 Bettermann, Karl August 83 f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 42 FN 147, 69, 98 f., 111, 116 FN 119, 154, 160 FN 84 Borowski, Martin 200 Brecht, Bertolt 66

Bumke, Christian 73 FN 307 Bundesverfassungsgerichtspositivismus 171 Condorcet, Marie-Jean-Antoine Caritat, Marquis de 160 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen 50 Demokratieprinzip 34, 40, 42 ff., 65 f., 97, 124, 171, 176 f., 182 dezisionistische Unterscheidung (zwischen Verfassung und Verfassungsgesetz) 53 Dichotomie grundrechtlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe 122, 144, 177 ff. Dreier, Horst 154 FN 47, 163 Eingriff 79, 117, 144, 147 – verfassungsunmittelbarer 73 Einheit der Verfassung 68, 71, 104, 171 Elektro-Kurzzeitbetäubung 137 Elfes-Doktrin 45, 49, 54 f., 57 Ewigkeitsgarantie 181, 194 Fehlschluß, naturalistischer 37, 92, 161, 173 Fiskalprivileg 115 „Fortschrittsargument“ 36 f. Freiheit – der Berufswahl 41 – der Religionsausübung 180 Freiheitsrechte, weltanschaulich-religiöse 180 – 190, 209 f. Gefahr (konkrete, abstrakte) 113 Gefahrenschwelle, polizeirechtliche 113 „Gegebenheiten des Freistaates Bayern“ 92 FN 409, 105 Gesetzesvorbehalt 44 Gesundbeter 56, 97, 123, 128

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Personen- und Sachregister

Gewährleistungsgehalt 18, 43 ff., 81, 116, 123, 127 ff., 143, 147, 150 ff., 153 ff., 162, 165, 167, 173 f. 184 f. Gewährleistungsgehaltsdenken 130, 142, 144 Gewährleistungsschranken 80, 150, 185 Gewährleistungsvorbehalt 90 Gewaltverhältnis, besonderes ! Sonderstatusverhältnis Gewissensfreiheit – als systematisches Muttergrundrecht 100 f., 178 ff., 209 – als Verweigerungsrecht 192 ff. – „im engeren Sinne“ 191 ff. – von der Religionsausübungsfreiheit nicht zu trennen 24, 100 ff. Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit 181 f. Gleichheitsrechte, spezielle 95 ff. Grundordnung 25 ff., 38 „Grundrecht auf Umweltverschmutzung“ 177 f. Grundrechte – schrankenvorbehaltlose („absolute“) 18, 39, 43, 45, 67, 70, 72 ff., 90 ff., 171 ff. – relative 44, 71, 172 Grundrechtsdenken, „primär liberales“ 46 f., 53 Grundrechtskollision 28 ff., 64 Grundrechtsvorbehalt ! Verfassungsvorbehalt Habermas, Jürgen 167 Häberle, Peter 69 FN 293, 74, 76 Herdegen, Matthias 23, 196 Hesse, Konrad 29, 39, 160 FN 84 Identifikationsschwelle 115 Identität, personale 195 „in dubio pro libertate“ 46 ff. Immunisierung gegen Kritik (Prinzipienlehre) 65 f. Informationelle Selbstbestimmung, Recht auf 188 Informationsfreiheit (negative) 182 f. institutionelles Grundrechtsdenken 35 ff., 42, 74 ff. Integration 132, 170 FN 25, 176 Interdependenztheorie 42, 199

Isensee, Josef 73 FN 307, 114 FN 109, 131 FN 191, 182 Islam 169 Jestaedt, Matthias 157 ff. Judicial self-restraint 107 f. Jünger, Ernst 59 Jugendgerichtsgesetz (JGG) 154 f. Jugendreligion ! Jugendsekte Jugendsekte 141 f. Jurisdiktionsstaat 27, 44 Kahl, Wolfgang 208 Kategorienverwechselung 37, 46 f., 61, 66 Klassenfahrt 17, 139 Klein, Friedrich 80, 90, 174, 209 Kollisionsfreiheit 88, 90 Kompetenznormen 69 f., 72 Kompromißproblematik (Kopftuchentscheidung) 107 Konfession 183 Konfessionelle Auskunftsverweigerung (ungeschriebenes grundrechtsgleiches Recht) 187 f. Konfusionsargument 124 „Konkretisierungsvorbehalt“ 90 ff. Konstitutionalisierung der Rechtsordnung 28, 43 Kopftuch-Urteil 17, 93 – 116, 168, 183, 206 Krankheitswert (der Angst vor der Nichterfüllung religiöser Gebote) 139 f. Kreuz im Gerichtssaal 19 Kriele, Martin 84 ff., 90, 148 Kruzifix-Beschluß 17, 103, 116 – 133, 145, 147, 168, 182, 205, 206 Kunstfreiheit 41, 81 ff., 83, 86 ff., 88 ff., 147 ff., 152, 166, 171 Larenz, Karl 162 FN 90 Legitimation – demokratische 167 – grundrechtliche und demokratische 126 f. Legitimität – grundrechtliche und demokatische 105 ff. Legitimitätstheorie, zweigleisige 105 ff. Lerche, Peter 87 FN 392, 103, 149 Ludendorff (Tabak) 19, 206 Lüth 29, 31 ff., 76, 199

Personen- und Sachregister Maastricht 163 ff. Mahrenholz, Ernst Gottfried 69 Meinungsfreiheit 32, 88, 124, 130, 132, 173, 184 ff., 208 Meistbegünstigung 114, 125 Menschenrechte 50 f. Menschenwürde 194 Mephisto 77, 86 Merten, Detlef 91 mittelbare Drittwirkung der Grundrechte 198, 204 Muckel, Stefan 87 FN 395 Müller, Friedrich 81 ff., 151 Murswiek, Dietrich 177, 200 Nägeli ! Spayer von Zürich Neutralität, religiös-weltanschauliche 116, 183, 204 f. – Begriff 108 – 113 Neutralitätspflicht, staatliche 119 Neutralitätsprinzip 107, 119, 142 ff., 167 – als objektiver Grundrechtsgehalt 144 – Subjektivierung 118 ff., 131, 144 ff., 182, 205 Nicht-Falsifizierbarkeit ! Immunisierung gegen Kritik Normativtatbestand 80 Normbereich 80 f., 84 normgeprägte Grundrechte 39 Normprogramm 80, 84 Normsatztheorien 80 f. Objektive Grundrechtsdimensionen 198 Optimierungsgebot 29, 65 Osho-Entscheidung ! Sektenwarnung Patt, verfassungstheoretisches (zwischen Rahmen- und Grundordnungsthese) 207 Persönlichkeitsrecht, allgemeines 88, 203 Pestalozza, Christian Graf v. 159 FN 76 Poscher, Ralf 88 FN 396, 199 praktische Konkordanz 29, 77, 137, 165 Prinzipienlehre 62 ff., 79 Prioritätenproblem 78 f., 89 f., 165, 172 Privilegierung, unzulässige 117 Privilegierungsverbot 184 f., 190 Psychosekte 141 f.

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Rahmenordnungskonzeption 18, 25 ff., 38 „Recht auf neutrale Behandlung“ 120, 167 Rechtsstaat 34, 57, 160 Rechtswerte von Verfassungsrang 68 ff., 72 f., 85, 117, 150 Reimer, Franz 156, 159 Religionsausübung – ungestörte 169, 189 Religionsfreiheit (positive, negative) 114, 181 f. Religionsgemeinschaft 135, 138 Resubjektivierung (und Subjektivierung) 119 f., 131 Richterstaat ! Jurisdiktionsstaat Roellecke, Gerd 149 FN 11, 174 Savigny, Friedrich Carl v. 29 FN 84 Schächten 17, 133 – 138, 168 Scheuner, Ulrich 119 Schiller, Friedrich 52 Schmitt, Carl 48, 52 f., 55 f., 58 ff., 144, 208 Schmittsches Dogma 46 – 62, 133, 135, 137, 208 „schonender Ausgleich“ 29, 77 Schrankenleihe 23, 81 Schrankensystematik, differenzierte 38 f., 117 Schrankenvorbehalt 21 f., 24, 39, 42, 66, 71, 73 f., 88 ff., 90 f. Schulbesuch 138 – 141 Schulgebets-Konstellation 190 Schulpflicht, allgemeine 18, 139 Schutzbereich 18 f., 28, 43 ff., 62, 77, 79, 84, 90, 116, 121, 128 ff., 133, 144, 147, 149, 151 f., 165, 172 „Schutzbereichsverstärkung“ 135 Schutzpflicht 36, 201 f., 205 – positivierte 19, 189 f., 209 Schweigerecht 187 Schwimmunterricht 17, 24 Sektenwarnung 120, 141 – 146, 205 Selbstverständnis (der Grundrechtsträger) 127 ff., 133 Sexualkunde 17, 140 Sikh 24, 122, 184 Smend, Rudolf 33 FN 108, 75 Soldaten-Entscheidung 85 Sonderrechtslehre 75

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Personen- und Sachregister

Sonderstatusverhältnis 95 ff., 124 Sportunterricht 17 Sprayer von Zürich 86, 88, 147 ff., 152, 163 Staatsaufgaben 26 Staatsnotstand 40 Strukturtheorie 63, 165, 172 Subjektivierung ! Neutralitätsprinzip Tabak ! Ludendorff Teilhabeanspruch 177 f. Thoma, Richard 48, 59 Tierschutz 149, 151 f. Tierschutzgesetz 133 ff., 196, 210 „Traditionsargument“ 36 f. Turban ! Sikh Übergriffe Privater 45, 201, 205 Vereinigungsfreiheit, religiöse 190 Verfassungsvorbehalt 20, 38, 66 ff. Verhältnismäßigkeit 31 f., 37 ff., 42 ff., 76 f., 199

Virginia Bill of Rights 50 Voluntarismus 157 „Vorbehalt der einfachen Landesgesetze“ 102 ff., 121 Vorbehalt des Gesetzes 37 „Vorbehaltsschranken“ 80 Vorverständnis 25 ff., 36, 66 f. Wahl, Rainer 30 FN 90, 69 FN 290, 73 FN 309, 148 ff., 153 ff. Wechselwirkungslehre 32, 39, 42, 77 Werteordnungsterminologie 198 Wesensgehaltsgarantie 32 f. Wissenschaftsfreiheit 41, 84, 148 ff., 153, 166, 171, 175 Wittgenstein, Ludwig 157 Zippelius, Reinhold 196 Zirkularitätsproblematik (des „rein abwehrrechtlichen Ansatzes“) 199 f.