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German Pages 349 [352] Year 2006
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 129
Markus Wallenborn
Frauen. Dichten. Goethe. Die produktive Goethe-Rezeption bei Charlotte von Stein, Marianne von Willemer und Bettina von Arnim
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-32129-6 ISBN-10: 3-484-32129-9
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Satzbüro Heimburger, Mössingen Druck: Laupp & Göbel, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2004/05 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Die Disputatio fand am 11. Mai 2005 statt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Volker Neuhaus, der das Dissertationsprojekt als Doktorvater von den ersten Vorarbeiten an voller Interesse begleitet und gefördert hat. Gleichfalls möchte ich Herrn Professor Dr. Walter Pape für die Übernahme des Korreferates und die wertvollen Anregungen danken. Dankbar bin ich auch den Mitarbeitern des Goethe Museums Düsseldorf (Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung) sowie des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, die meine Recherchen durch ebenso freundliche wie kompetente Unterstützung erleichtert haben - und an dieser Stelle soll auch die Bibliothek des Instituts für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln nicht vergessen werden, deren umfangreicher und gepflegter Bestand an Primärtexten und Forschungsliteratur für das Projekt überaus hilfreich war.
V
Für Christa Wallenborn und Thorsten Swidersky
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Der Blick auf Goethe I.
1
Produktive Goethe-Rezeption bei Charlotte von Stein
1. Die Dichterin in Goethes Nähe
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2. Erlaubt ist, was sich ziemt. Charlotte von Steins Matinee Rino 2.1 Rino als >Schlüsselstück< 2.1.1 Rino ist Werther ist Goethe Die Werther- Verweise des Stückes 2.1.2 Und ich laßihn weder dir, dir, noch dir. Die Frauenfiguren 2.2 Goethes Coquetterie. Auslöser und Gegenstand der Parodie . . .
19 22
2.3 2.4 2.5
23 30 33
Charlotte von Steins Coquetterie. Parodistische Kommunikation und ihre Adressaten Der arme Mensch, er dauert mich. Konfrontation zweier Lebensentwürfe
41
Rino als biographische Momentaufnahme
46
3. Ein Brief, ein Gedicht und die »liebe Sünde«. Charlotte von Steins Obs unrecht ist was ich empfinde
49
4. Thema mit Variationen: Drei Lieder An den Mond von Goethe und Charlotte von Stein 4.1 Forschungsüberblick: Die drei Versionen von An den Mond und ihre (un)mögliche Datierung 4.2 Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick. Goethes Urfassung von An den Mond 4.3 4.4 4.5 4.6
38
58 58 72
Zur Datierung des Mondliedes nach meiner Manier Zur Datierung von Goethes Füllest wieder Busch und Tal Nach meiner Manier. Charlotte von Steins Bearbeitung von An den Mond Ach, und in demselben Flusse / Schwimmst du nicht zum zweitenmal. Goethes Überarbeitung von An den Mond
82 84 92 100
VII
4.7
(Aufgelöste Zweisamkeit. Ich-Findung und Ich-Verlust in den Mondliedern
5. Keine Antwort wird mir mehr! Charlotte von Steins Ihr Gedancken fliehet mich 6.
Unerhörte Tat. Charlotte von Steins Dido 6.1 Inhaltsangabe Dido 6.2 Von Dichtern, Dichtkunst und »Gewürme«. Die Goethe-Karikatur Ogon 6.3
6.4
Ein Drama des Weiblichen. Die Bedeutung des Geschlechtergegensatzes in Dido 6.3.1 Imaginierte Weiblichkeit. Dido als >schöne Seele< 6.3.2 Bestätigung als Kritik. Verdrängung des Weiblichen aus der Politik 6.3.3 Triumph der (inneren) Wahrheit. Dido und Goethes Iphigenie Selbst-Bewußtsein. Dido als Absage an Goethes Weiblichkeitsentwürfe
7. Weibliche Gegenstimme. Der Schäferin Klagelied
108
111 114 119 120 129 131 142 149 158 163
8. Widerspruch und Gegenrede. Die produktive Goethe-Rezeption Charlotte von Steins
169
II. Produktive Goethe-Rezeption bei Marianne von Willemer 1. Im Schatten Suleikas 2. Heil! Ihm dessen goldne Worte / Uns beglückt am schatten Orte. Marianne Willemers (Gelegenheits-)Lyrik 3. Mit gleichem Wort und Klang. Marianne Willemers Gedichte an O s t - u n d Westwind 3.1 Erfrischtes Leben. Marianne Willemers Gedicht an den Ostwind 3.2 Stilles Sehnen. Marianne Willemers Gedicht an den Westwind .
179
187 192 200
3.3 4.
West-östliche Begegnung. Die Aneignung des Goetheschen Dmz«-Konzepts Gedenken Sie meiner, und in Liebe. Der Briefwechsel Marianne Willemers mit Goethe
175
204 207
5. Hier war ich glücklich, liebend und geliebt. Marianne von Willemers Gedicht auf das Heidelberger Schloß
221
6. Eins und doppelt. Die produktive Goethe-Rezeption Marianne von Willemers
238
VIII
III. Produktive Goethe-Rezeption bei Bettina von Arnim 1. Kunst und Leben
247
2. Ich aber sehe mit Lust, wie Du mich in Dich aufnimmst. Goethes Sonette im Briefwechsel mit einem Kinde 2.1 Zwei Sonette für Bettina Brentano? 2.2 Ein epochales Ereignis: Bettine als Oreas 2.3 Geliebte Muse. Bettine als Mädchen des Sonettenzyklus 2.4 Nachträgliche Teilhabe. Bettina von Arnims Aneignung der Goetheschen Sonette 3. Autorschaft als Partnerschaft. Goethes Divan im Briefwechsel
mit einem Kinde
4. ... und ich fühle einen Triumph des Gelingens. Mignon-Adaption im Briefwechsel mit einem Kinde 5. Ich verstehe es nicht, dieses grausame
271 274 282
Rätsel.
Kritik an Goethes Wahlverwandtschaften 6. Goethe gestalten. Bettina von Arnims Denkmalsentwurf 7.
251 251 254 260
288 300
Umfangend umfangen. Die produktive Goethe-Rezeption Bettina von Arnims
309
Schlußbetrachtung: Frauen. Dichten. Goethe
314
Literaturverzeichnis
323
1. Primärliteratur 1.1 Charlotte von Stein 1.2 Marianne von Willemer 1.3 Bettina von Arnim 1.4 Johann Wolfgang Goethe 1.5 Andere Quellen 2. Sekundärliteratur
323 323 323 323 324 325 326
IX
Einleitung: Der Blick auf Goethe
Kaum ein Terminus aus dem großen Gebiet der Goetheforschung dürfte so vielund dabei gleichzeitig so nichtssagend sein wie das Schlagwort von den »Frauen um GoetheFrauen um Goethe< dienen als lebensgeschichtliche Meilensteine, mit denen sich Goethes Vita zwecks besserer Ubersicht in einzelne Etappen teilen läßt. Dementsprechend bringt die Beschäftigung mit ihnen zumeist biographische Abhandlungen hervor, in denen es um Leben und Werk Goethes geht, gegliedert oder vielleicht auch bereichert durch Beziehungen unterschiedlicher Art zu Frauen verschiedener Herkunft. Deren Leben wiederum wird dabei sinnstiftend dreigeteilt in eine Zeit vor, eine mit und eine nach Goethe, wobei die Beschäftigung mit dem mittleren Lebensabschnitt am umfangreichsten ausfällt. Nichts davon sollte überraschen, es ist im Blickwinkel, den die Rede von den Trauen um Goethe« vorgibt, bereits angelegt. Gleichzeitig nichtssagend ist diese Personenbezeichnung, weil, so präzise sie klingen mag, doch eigentlich unklar bleibt, wer damit gemeint ist. Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um als >Frau um Goethe< gelten zu dürfen? Mit dieser Frage ist man wieder beim vorangegangenen Punkt: Im Mittelpunkt steht die Möglichkeit, aus der jeweiligen Beziehung zu Goethe Erkenntnisse über den Dichter selbst gewinnen zu können. Zu diesem Zweck bietet etwa Kühn in Die Frauen um Goethe neben dem engeren Kreis der sogenannten Geliebten auch noch Charlotte von Kalb, Anna Amalia und Louise von Göchhausen auf, daneben die Ehefrauen Schillers und Herders, aber auch Johanna Schopenhauer und ihre Tochter Adele, Maria Pawlowna, Goethes Schwiegertochter Ottilie und viele mehr (vgl. Kühn 1932). Die einzige Gemeinsamkeit all dieser Frauen ist, Goethe gekannt zu haben. Und auch in der 1997 erschienenen Rowohlt-Monographie von
1
Astrid Seele scheint der Titel Frauen um Goethe programmatisch genug, um nicht näher erläutert werden zu müssen. Die Kriterien, die zu der Auswahl von neun Kurzbiographien geführt haben, bleiben im Dunkeln. Bei näherer Betrachtung läßt sich als verbindendes Element der Umstand ausmachen, daß sich zu allen neun Frauen, denen die Einzeldarstellungen gewidmet sind, 1 poetische Spiegelungen in Goethes Werk finden (Friederike Brion war die Adressatin der Sesenheimer Friederiken-Lieder, Charlotte Buff prägte das Bild von Werthers Lotte, mit dem Namen Lili Schönemanns überschrieb die Goetheforschung eine ganze Reihe Frankfurter Gedichte aus der Zeit vor der Abreise nach Weimar usw.). Unter dieser Voraussetzung vermißt man jedoch die Weimarer Herzogin Luise ebenso wie Maximiliane von La Roche oder ein eigenes Kapitel zu Katharina Schönkopf, die nur im Vorwort kurz erwähnt wird. Hält man sich hingegen an die einleitende Bemerkung Seeles, »die >erotische Biographie« des Dichters [diene] als chronologischer Leitfaden durch die Lebensgeschichten der einzelnen Frauen« (Seele 1997, 8), muß das Fehlen Cornelia Goethes, der Schwester, genaugenommen ebenso verwundern wie die Anwesenheit Bettina von Arnims, in deren eigener >erotischen Biographie« Goethe zwar sicherlich ein wesentliches Element darstellte, die umgekehrt aber in der seinen keine Rolle gespielt haben dürfte (der Wahrheitsgehalt ihrer diesbezüglichen Ausführungen über das Teplitzer Zusammentreffen ist rein subjektiver Natur, vgl. Weißenborn 1987, 147-151). Keinen dieser Widersprüche kann man Seele jedoch zum Vorwurf machen, denn sie sind nahezu unvermeidlich; >Frauen um Goethe« sind zunächst einmal >Alle Frauen um Goethe« und damit Jrgendwelche Frauen um Goethe«. Jede Auswahl - insbesondere wenn sie auf subjektiven Klassifizierungen wie etwa dem Kriterium >emotionale Nähe« beruht (>Goethes geliebte Frauen« oder gar >Goethes Geliebte«), die zu definieren und zu verifizieren mitunter schwerfallen dürfte - muß mehr oder weniger willkürlich erscheinen und dabei zwangsläufig die Fixierung auf Goethe fortschreiben, mit der der selektiv suchende Blick auf die >Frauen um...« den zur Debatte stehenden Personenkreis seinerzeit zusammengestellt hat. Das biographische Moment wird damit stets zumindest Anlaß der Untersuchungen bleiben — auch solcher, die es nicht in den Mittelpunkt stellen wollen. Die vorliegende Analyse ist sich dieser Problematik sehr wohl bewußt, wenn sie sich dennoch um die von Becker-Cantarino geforderte »neue Perspektive« bemüht und mit drei >Frauen um Goethe« zumindest drei jener »Dichterfrauen, die die mehr oder weniger berühmten Männer umkreist und angeregt haben, [...] in den Mittelpunkt stellt und deren eigene Äußerungen und Schriften untersucht« (Becker-Cantarino 1985, 274). Denn Voraussetzung einer solchen »neue[n] Perspektive« bleibt doch stets der alte Blick von den »mehr oder weniger berühmten
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Friederike Brion, Charlotte Buff, Lili Schönemann, Charlotte von Stein, Christiane Vulpius, Minchen Herzlieb, Bettina von Arnim, Marianne von Willemer und Ulrike von Levetzow.
2
Männer[n]« her auf eine Gruppe von »Dichterfrauen«, die als solche der Vergessenheit nur entgingen, weil sich ein Teil der auf den männlichen Prominenten gerichteten Aufmerksamkeit mittelbar auch auf die Frauen richtete, die mit ihm in Kontakt standen. Daß nun sie in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden können, verdanken sie demselben Aufmerksamkeitsgefälle, das viele ihrer Zeitgenossinnen völlig aus der Uberlieferungsgeschichte ausschloß und auch ihnen selbst lange Zeit nur die Rolle von Trabanten im Kraftfeld des männlichen Genius zubilligte. Zwar wird der Versuch, die tradierte Blickrichtung umzukehren, dadurch weder fragwürdig noch überflüssig, im Gegenteil, aber er darf die ihm zugrundeliegende Bedingtheit, die sich aus der biographischen Verflechtung der als >Frauen um...< erinnerten »Dichterfrauen« mit dem »berühmten Mann« ergibt, nicht leugnen, sondern muß reflektieren, daß die Entscheidung für den Untersuchungsgegenstand stets auf Basis einer parteiischen Vorauswahl getroffen wird, hinter die man nicht mehr zurückkommt. Zu den vorliegenden Einzeluntersuchungen führte das Interesse an solchen Schriftstellerinnen >um Goethe*, die ihrerseits für das Werk Goethes von Bedeutung waren. Unter diesen befreundeten oder geliebten Frauen, die als >Musen< in Goethes Werk ein poetisches Echo gefunden haben, waren gleich mehrere selbst literarisch produktiv. So sind von der Hand Charlotte von Steins Dramen und Gedichte überliefert, Goethes Schwester Cornelia hinterließ ein literarisiertes Tagebuch, und von Marianne von Willemer ist neben den Liedern, die Goethe in seinen West-östlichen Divan aufnahm, eine große Menge Gelegenheitsgedichte erhalten. Einzig Bettina von Arnim ist es jedoch bislang gelungen, sich tatsächlich auch als Dichterin aus dem Bannkreis >um Goethe< zu lösen. Nachdem die Zeit um 1800 als Epoche beginnender Emanzipation der Frau (auch) als Schriftstellerin entdeckt worden war, überlagerte das wissenschaftliche Interesse an der Autorin Bettina von Arnim zusehends die Beschäftigung mit Goethes »wunderliche[m] Kind« (GBmeK, 128)2, zumal sich längst herausgestellt hatte, daß vieles in ihrem literarischen Erstling, Goethes Briefivechsel mit einem Kinde, nicht den historischen Tatsachen entsprach. Gerade dies jedoch dürfte mit dazu beigetragen haben, daß sie sich als gewissermaßen einzige >Frau um Goethe aus eigenem Recht< im kollektiven Gedächtnis durch die eigene schriftstellerische Laufbahn von dem Mann zu emanzipieren vermochte, mit dessen Person und Werk sie 1835 ihren Briefivechsel verwoben hatte. Vergleicht man die Schriften Bettina von Arnims nun mit denen der anderen genannten schreibenden Trauen um GoetheGoethe< als Mensch und Dichter zu
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Goethes Briefivechsel mit einem Kinde wird zitiert nach der vierbändigen Werkausgabe, die Schmitz und von SteinsdorfF herausgegeben haben. Die Angabe von Belegstellen erfolgt mittels der Sigle GBmeK.
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einem zentralen Bestandteil ihres Werks zu machen. Sie karikieren seine Person und parodieren seine Werke, sie spielen auf seine Gedichte an und zitieren seine Briefe, variieren vorgefundene Motive und gestalten sowohl den gewünschten als auch den kritisierten Goethe als literarisches Abbild. Durch diese je unterschiedliche, aber immer wieder bewußt herbeigeführte Anwesenheit Goethes in den eigenen Texten unterscheiden sich die drei genannten Autorinnen grundlegend von Goethes Schwester Cornelia. Sie, die erste Frau in Goethes Leben (nach der Mutter), »hatte mein ganzes bewußtes Leben mit mir herangelebt und sich dadurch mit mir aufs innigste verbunden« - wie Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit ausführt (MA 16, 249). 3 Dennoch - oder gerade deswegen — schrieb sie den ein Jahr älteren Bruder aus ihrem fiktiven Tagebuch regelrecht heraus. Dieses Tagebuch für Katharina Fabricius beschreibt die Zeit vom 16. August 1768 bis zum 16. August 1769, entstand also im ersten Jahr der langsamen Genesung Goethes nach seiner Rückkehr aus Leipzig Ende August 1768. In der monologischen Form tagebuchartiger Briefe wendet sich Cornelia Goethe darin in französischer Sprache an eine Freundin gleichen Alters, die sie im Sommer 1767 kennengelernt hatte, als die Wormserin Katharina Fabricius zu Besuch in Frankfurt war. Gesammelt zu insgesamt sieben Päckchen, schickt sie die Briefe über die in Frankfurt lebende Schwester Katharinas und umgeht so bewußt nicht nur die väterliche Kontrolle, sondern hält ihr(e) Schreiben auch vor dem Bruder geheim, der in Dichtung und Wahrheit über jene Zeit berichtet: D a nun aber meine Schwester so liebebedürftig war, als irgend ein menschliches Wesen; so wendete sie nun ihre Neigung ganz auf mich. Ihre Sorge für meine Pflege und Unterhaltung verschlang all ihre Zeit; [...]. (MA 17, 362)
Hier irrt Goethe, denn offenbar blieb seiner Schwester genügend Zeit, einer Gegenwart, in der sich im elterlichen Hause alles um den kranken Sohn und Bruder drehte, ein poetisiertes Abbild entgegenzustellen, in dem eben dieser Bruder nur noch am Rande vorkam. Das in den Briefen an Katharina Fabricius beschriebene Leben »ist Literatur und will Literatur sein« (Beutler 1960, 216). Inspiriert durch die Briefromane Richardsons, literarisiert Cornelia Goethe das eigene Dasein. Dabei werden »[d]ie Eltern, ihre häusliche Situation als Tochter [...] mit keinem Wort erwähnt. Der Alltag des Familienlebens tritt nur als Grenze in Erscheinung, die die Zeit zum Schreiben bestimmt« (Prokop 1991 I, 24), etwa wenn Unterbrechungen der Erzählung beiläufig mit häuslichen Verpflichtungen oder mit dem Hinweis begründet werden, es sei nun Essenszeit. »Im Brief-Tagebuch Cornelias gibt es weder Vater noch Mutter. Sie hat sie aus dem idealen Entwurf ihrer Person vollständig getilgt. Sie beschwert sich nicht, sie läßt sie einfach verschwinden«
3
Vgl. Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. 21 Bde. (in 33). Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. M ü n c h e n 1985ff. Bd. 16, S. 249. Im folgenden: MA.
4
(Prokop 1991 II, 213f.)· Das gilt auch für den Bruder Johann Wolfgang, der, obwohl im Alltag die zentrale Bezugsperson, nur ein einziges Mal auftritt — »und da begegnen sich die Geschwister in Gesellschaft, beinahe wie Fremde« (Prokop 1991 I, 25). Als »Schriftstellerin in ihrer Weise, die heimlich, aber bewußt mit dem Bruder wetteifert« (Beutler 1960, 216), poetisiert Cornelia Goethe ihr Leben und behauptet ihre Autorschaft ganz gezielt gegen den zu erwartenden Übergriff des dominant-belehrenden großen Bruders Johann Wolfgang, indem sie ihm weder von ihrem Tagebuch erzählt noch ihn darin eine bedeutende Rolle spielen läßt: Goethe, mit dem sie nach seiner Darstellung in Dichtung und Wahrheit ein überaus enges, geradezu symbiotisches Verhältnis verband, kommt im literarisch idealisierten Lebensentwurf seiner Schwester praktisch nicht vor - ein vor dem Hintergrund der verwandtschaftlichen Beziehung überaus aufschlußreicher Aspekt dichterischer Auseinandersetzung. Charlotte von Stein, Marianne von Willemer und Bettina von Arnim4 hingegen binden >Goethe< wiederholt und absichtsvoll in ihren Text ein. Die hier vorgelegten Einzelanalysen sollen die Facetten einer solchen Einbindung nachvollziehen und aufzeigen, wie hinter der poetischen Auseinandersetzung mit Goethes Person und Werk das Ringen der Autorinnen um die eigene Identität aufscheint. Mit der Feststellung, daß ausgerechnet jene Frauen, deren poetisierte Existenz in Goethes Text die Literaturwissenschaft zuerst auf sie aufmerksam machte, den befreundeten Autor in die eigene Dichtung einschrieben, rückt abermals das Private in den Blickpunkt, ohne daß dadurch einer >biographistischen< Lesart das Wort geredet werden oder durch den »Eintrag der Biographie in die Texte [...] die Abwertung« wiederholt werden soll, »die die diskursive Ausgrenzung von Weiblichkeit leistet« (Keck/Günter 2001, 209). Aber wenn Goethe für die Zeit, der man später seinen Namen gab, eine kulturelle Instanz und literarische Institution darstellte, an der Autoren (nicht zuletzt weibliche, vgl. Schlaffer 1996, Gilleir 2000 u. Landfester 2000) und Kritiker sich abzuarbeiten hatten - eine Konstellation, die in dieser Ausprägung europaweit einzigartig war 5 -, so gewinnt seine Person um so mehr Bedeutung für Dichterinnen, die, wie Charlotte von Stein oder
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Die unselige Tradition, Autorinnen beim Vornamen zu nennen, als gehörten sie zur näheren Bekanntschaft des Verfassers, soll in dieser Arbeit nicht übernommen werden. Gleichwohl bleibt es aufgrund der bei Heirat üblichen Namenswechsel nötig, die Verwendung weiblicher und männlicher Namen zu differenzieren, um Verwechslungen etwa zwischen (Johann Jakob) Willemer und (Marianne) Willemer vorzubeugen. Die konsequente Verwendung des vollen Namens zur Bezeichnung der Schriftstellerinnen soll daher zwar helfen, den Eindruck allzu vertraulicher Nähe zu vermeiden und die Dichterinnen als solche ernstzunehmen. An der generellen Schwierigkeit, weibliche Autorschaft auch diskursiv sichtbar zu machen, ändert ein solches Vorgehen freilich ebensowenig wie ein ausschließlicher Gebrauch der Nachnamen, der zudem noch das Verständnis mitunter erheblich erschweren würde (vgl. Hahn 1991, v.a. 7 - 1 8 sowie Keck/Günter 2 0 0 1 , 2 2 0 ) .
5
»There is no comparable figure in French or English culture who so dominated the literary scene in general or the literary lives o f women writers in particular« (Hirsch 1992, viif).
5
Marianne von Willemer, in einer mehr oder weniger komplizierten Liebes- bzw. Freundschaftsbeziehung mit ihm verbunden waren oder eine solche, wie Bettina von Arnim, zumindest anstrebten und imaginierten. Das persönliche Verhältnis zu Goethe muß mitgedacht werden, wenn drei Schriftstellerinnen, die mit ihm in engem Kontakt standen oder diesen Kontakt gerne intensiviert hätten und die sein Werk nachweislich beeinflußt haben, sich ihrerseits im eigenen Dichten wiederholt mit Goethe als Mensch und Autor auseinandersetzen. In Widerspruch zu Kord, die im Falle Charlotte von Steins postuliert, daß »[d]ie Bedeutung Goethes für von Steins Schrifttum [...] nach wie vor enorm überschätzt« werde (Kord 1998, II), liegt der vorliegenden Betrachtung die Überzeugung zugrunde, daß eine Analyse Steinscher Dramen und Gedichte die unübersehbare Anwesenheit Goethes in vielen der Texte nicht ausblenden darf, will man Charlotte von Stein als Autorin wirklich ernstnehmen. So wird etwa die Interpretation einer ausdrücklichen Parodie auf Goethes An den Mond, wie Charlotte von Stein sie mit An den Mond nach meiner Manier vorlegt, ohne Bezug auf den Prätext nicht zu einem tragfähigen Resultat kommen. Jeder Versuch, die Vielzahl der Goethebezüge im Steinschen Werk zu ignorieren oder gar zu leugnen, beließe die Autorin in just jenem vielbeschworenen »Schatten Goethes«, aus dem er sie zu befreien vorgibt - und gegen den Charlotte von Stein selbst in ihrem literarischen Werk angegangen ist, indem sie sich dichtend auch und gerade mit Goethe auseinandergesetzt hat. Ähnliches gilt in je unterschiedlicher Gewichtung auch für die produktive Goethe-Rezeption Marianne von Willemers und Bettina von Arnims. Bleibt man zunächst bei Charlotte von Stein, stellt man fest, daß das wissenschaftliche Interesse an ihr und ihrem Werk in den vergangenen 20 Jahren stetig zugenommen hat. Mittlerweile beschäftigt sich eine ganze Reihe von Aufsätzen mit ihren Theaterstücken, insbesondere ihrem Trauerspiel Dido, jenem Drama um die Königin Karthagos, das der Verfasserin aufgrund einer darin vorkommenden Goethekarikatur namens Ogon so lange die Feindseligkeiten der Goetheliebhaber eingetragen hatte (Koopmann nennt das Stück noch 2002 »ihr so fragwürdiges Drama«, vgl. Koopmann 2002, 240). Ihre Gedichte hingegen bleiben nach wie vor zumeist unbeachtet (allenfalls werden einige von ihnen in Biographien zur Illustration bestimmter Abschnitte im Verhältnis Goethes zu Charlotte von Stein eingesetzt), und ihre Matinee Rino kann regelrecht als Stiefkind der Forschung bezeichnet werden, vermutlich aufgrund der vielen deutlichen privaten Anspielungen auf Goethe und das Weimarer Hofleben, die das >Schlüsselstück< allenfalls im biographischen Zusammenhang von Interesse scheinen lassen. Hier führt ein unfreiwilliges Bündnis von Teilen der feministischen Literaturwissenschaft (die die schreibenden Frauen mitunter allzu rigoros aus Goethes >Schatten< befreien möchten) mit der konservativen Goetheforschung (die literarische Angriffe auf Goethe, insbesondere von weiblicher Seite, mit Ver- oder Nichtbeachtung straft) zum Ausschluß großer Teile des Steinschen Werks aus der wissenschaftlichen Debatte.
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Die vorliegende Untersuchung wird dezidiert Verwendung und Wandel des Motivs >Goethe< in den überlieferten Werken Charlotte von Steins verfolgen und dabei in den Blick nehmen, wie die Autorin in der literarischen Vereinnahmung Goethes als Freund und Dichter den eigenen Standpunkt als Frau und Dichterin poetisch darstellt. Daß auch dies einseitig ist und in der Konzentration auf die intertextuelle Einbindung Goethes beispielsweise ihre Komödie Das neue Freiheitssystem oder Die Verschwörung gegen die Liebe weitgehend unberücksichtigt läßt, soll dabei nicht geleugnet, aber doch durch das formulierte Erkenntnisinteresse gerechtfertigt werden, denn so kann deutlich werden, wie Charlotte von Stein, deren Anwesenheit in Goethes Werk als Vorbild für Lida, Iphigenie u.a. schon so häufig nachgespürt worden ist, als Autorin seine Präsenz in ihren Texten bewußt gestaltet. Dabei muß es vor allem darum gehen, die einseitige Interpretation der Theaterstücke als reine >Schlüsselstücke< zu vermeiden, die unbestreitbaren biographischen Bezüge dabei jedoch nicht zu ignorieren, sondern für eine literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar zu machen, was gleichzeitig bedeutet, im Falle der Gedichte die intertextuellen Anspielungen als gezielte Verweise auf (und damit als Versuch einer parodistischen Kommunikation mit) Goethe emstzunehmen und nicht bei wissenschaftlich fragwürdigen Pauschalurteilen wie »Verschandelung« Goethescher Verse (Spiess 1928, 80) oder »peinliche Nachdichtung« (Staiger I, 332) stehenzubleiben. 6 Denn wie Landfester deutlich macht, erschöpft sich die Auseinandersetzung mit Goethe für die weiblichen Autoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts »nicht im mehr oder minder epigonalen Vorbildbezug, sondern sie ist eine Auseinandersetzung der schreibenden Frau mit jenem schreibenden Mann, der die Literatur der Moderne im Zeichen hegemonial männlicher Autorschaft begründet hat« (Landfester 2000, 255). Das private Moment unterstreicht diesen identitätsstiftenden Impetus des Schreibens noch, indem es die Poesie zum Ort der Konfrontation des eigenen Selbstentwurfs nicht nur mit dem des Dichters, sondern zugleich dem des Freundes oder Geliebten macht. Diese Grundannahme läßt auch das literarische Werk Marianne von Willemers in einem anderen Licht erscheinen. Wurden die Werke Charlotte von Steins lange Zeit entweder verleugnet oder verunglimpft, fiel die Beschäftigung mit
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Heute muten solche Urteile geradezu ignorant an. Sie entspringen einer Vorstellung männlich dominierter Autorschaft, die das weibliche Schreiben in der Form, wie es sich um 1800 in steter Auseinandersetzung mit den bestehenden Vorbildern verbreitet zu konstituieren beginnt, und seine gängigen poetischen Techniken als epigonal und minderwertig verwirft und die idealisierte Vorstellung vom sogenannten Originalgenie fortschreibt. Dieser tautologische Begriff ist Teil einer »Inspirationspoetik«, die »dem Idealbild einer >wahren Kunst< anhängt, deren Wesen partiell unfaßbar ist [...].« Ihr »müssen intertextuell begründete Texte als >unpoetische Machwerke< erscheinen«, wie Intertextualität denn überhaupt »[a]ls poetisches Verfahren, das frei verfügbar, methodisch anwendbar und objektiv beschreibbar ist, [...] die Kunst in den Verdacht [bringt], bloße Technik zu sein« (vgl. Stocker 1999, 26).
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Marianne von Willemer bis heute auf den ersten Blick stets ausnehmend wohlwollend aus — allerdings ist es fast immer eine ausschließlich biographische, keine literaturwissenschaftliche Beschäftigung. Der Mythos von »Goethes SuleikazW»-Sprache so geschickt anzupassen gewußt hatte, daß die Existenz einer Mit-Autorin jahrzehntelang niemandem aufgefallen war, hat jedoch bis heute nicht dazu geführt, daß die Poetik der Goethe-Lyrik Marianne von Willemers hinterfragt oder ihr ästhetisches Programm reflektiert worden wäre. Die Affinität zu Goethes Z)zW/z-Projekt ist offensichtlich, die Goetheverehrung der Autorin evident, und so schien sich in einer Art Automatismus auch gleich die poetologische Struktur der Gedichte zu erklären, ohne daß darüber weitere Worte hätten verloren werden müssen. Somit ist Marianne von Willemer zwar »eine unserer größten Lyrikerinnen« (Voss 1948, 147), aber sie scheint es nicht aus eigener Kraft geworden zu sein, sondern lediglich, weil sie »die Handschrift des Genius schreibt« (Pyritz 1944, 13), d.h. konkret, weil sich in ihr nichts Eigenes, sondern nur immer wieder Goethes Schaffenskraft ausdrückt. Daß Goethe ihre Gedichte seiner Sammlung einverleibt hat, konnte als Bestätigung einer solchen Lesart gelten, zumal Marianne von Willemer es nicht nur klaglos, sondern regelrecht voll Ehrfurcht hingenommen hat - ein Verhalten, das abermals nicht hinterfragt, sondern als selbstverständlich angesehen wurde, »als sei es geradezu eine Ehre für die Autorin, von einem berühmteren Mann (der es eigentlich nicht nötig haben sollte) bestohlen zu werden« (Kord 1996, 144): Welch ein Ruhm, die stille Mitarbeiterin des größten Dichters zu sein, in Schuberts oder Mendelssohns Weise zu hören: »Ach, u m deine feuchten Schwingen«, sich sagen zu dürfen: das ist mein, und keine Scheidekunst hat es als fremd ausgesondert aus dem Goldschatz der Goethischen Lyrik; [...]. (Schmidt 1884, 313)
Daß Marianne von Willemer »verstand und gehorchte«, daß sie ohne zu fordern »nahm, was ihr zu Teil ward« (Milch 1947, 57) und mit den Gedichten, die sie für Goethe schrieb, »den schönsten, einzigen Lohn in seinem Beifall, seiner Neigung« suchte (Schmidt 1884, 305), brachte ihr die Sympathie vieler Goetheforscher ein, zumal ihr übriges Werk, überwiegend Gelegenheitslyrik, zwar ebenso wie die Dramen und Gedichte Charlotte von Steins als minderwertig eingeschätzt wurde, diesen gegenüber jedoch den unschätzbaren Vorteil genoß, als »liebenswürdig« zu gelten (Kellner 1876, 3). Das macht den entscheidenden Unterschied in der Wahrnehmung dieser beiden Frauen als Dichterinnen aus. Der biographisch voreingenommene Blick auf Goethe nimmt Charlotte von Stein nur als die gekränkte Liebende wahr, die aus Haß und Rachsucht zur Feder griff und sich voll Undank an einem literarisch bestenfalls drittklassigen Angriff auf den Mann versuchte, der sein Idealbild von ihr in unsterblichen Werken wie Iphigenie oder Torquato Tasso verewigt hatte. Marianne von Willemer hingegen erscheint im Lebenslauf Goethes 8
als die dichtende Freundin, die ihre Lieder aus Liebe und Verehrung buchstäblich in Goethes Werk hineinschrieb, zu ungeahnten Höhenflügen inspiriert durch den Kontakt mit dem großen Dichter und darüber hinaus bescheiden und demütig genug, ihm gegenüber keine ungerechtfertigten Ansprüche auf Autorschaft zu erheben: »Frau v. Stein hat sich als Dichterin nicht mit Ruhm bedeckt. Und alle, die man sonst nennen könnte, die Dichterinnen von Beruf, stehen hinter Mariannen weit zurück« (Scherer 1886, 239). Möglicherweise ist es diese scheinbar selbstlose Hintanstellung eigener Interessen, die bewirkte, daß Marianne von Willemer als Autorin auch von Seiten der feministischen Literaturwissenschaft, im Zuge der gender studies oder der diversen >Frauen-schreiben-um-1800Goethe< als solches doch als mehr oder weniger selbstverständlich hingenommen oder erscheint als eines von vielen, die übersteigerte Affinität der Arnimschen »Bettine« zu ihrem Weimarer Dichtergott gilt als gegeben. Seit Beginn der 1990er Jahre war die intertextuelle Einbindung Goethes in den Briefwechsel allenfalls ein Thema für detaillierte Einzeluntersuchungen, etwa zu Bettina von Arnim und Goethes Mignon (Gille 1994), zumeist erschöpft sich jedoch jede Beschäftigung mit dem Verhältnis zu Goethe in biographischen Abrissen. Es existiert bis heute keine umfassendere Untersuchung, die der Indienstnahme Goethes durch den Arnimschen Text wirklich systematisch nachginge, selbst die in vieler Hinsicht grundlegende Studie Konstanze Bäumers (Bäumer 1986) handelt lediglich einzelne Aspekte dieser Frage eher beiläufig ab. Die Arbeit Weißenborns (Weißenborn 1987) schließt hier zwar einige Lücken, bleibt aber doch unbefriedigend, insbesondere wenn es darum geht, die intertextuelle Vereinnahmung einzelner Werke Goethes nicht nur zu konstatieren, sondern die vorgenommenen Änderungen auch zu bewerten und zu den Prätexten in Bezug zu setzen. Auch im Falle Bettina von Arnims gilt es somit, den biographischen Anlaß nicht zum Gegenstand der Analyse werden zu lassen, sondern Einsatz und Entwicklung des Goethe-Motivs als dem zweifellos zentralen Aspekt des Briefwechsels detailliert nachzuzeichnen und dabei aufzuzeigen, welche Bedeutung die Einbindung des Autors und Korrespondenten Goethe in den eigenen Text für die Autorin hat, die ihr Gespräch mit dem verstorbenen Dichter nachträglich fiktionalisiert und zum Zwecke der Veröffentlichung umund fortschreibt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die vorliegende Arbeit Varianten und Bedeutung eines gemeinsamen Motivs bei drei Schriftstellerinnen um 1800 untersuchen wird: des Motivs >GoetheGoethe< in vielfältiger Form ihrem Werk einzuverleiben. Denn es läßt sich nicht bestreiten, daß Goethe und die Auseinandersetzung mit ihm eine ganz zentrale Rolle im literarischen Schaffen Charlotte von Steins spielen, und man muß Äußerungen wie jener Kords, Goethes Bedeutung für das Steinsche Schrifttum und Leben werde »nach wie vor enorm überschätzt« (Kord 1998, II), mit Gutjahr entgegenhalten, daß bei der Analyse dieser Dramen und Gedichte »ein Absehen von Goethe mit dem Verzicht auf werkkonstitutive Bezüge [...] erkauft« würde, »[s]o verdienstvoll es sein mag, Steins Biographie auch jenseits der Freundschaft mit Goethe zu betrachten und damit auch die Zeit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit als eigenständige Lebens- und Schaffensphase zu beleuchten« (Gutjahr 2001, 223f.). Gerade
1
Untertitel der Charlotte-von-Stein-Biographie von Jochen Klauß (Klauß 1995).
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wenn man Charlotte von Stein als Dichterin ernstnehmen will, ist es notwendig, nicht große Teile ihres Werkes auszublenden (selbst wenn dies aus der sicherlich ehrenhaften Absicht heraus geschieht, die Autorin dem vielbeschworenen >Schatten Goethes< zu entreißen), sondern ihre literarische Auseinandersetzung mit Goethe zu untersuchen, die zwar lange Zeit undifferenziert und voreingenommen betrachtet wurde, deswegen aber nicht weniger vorhanden ist. Wenn Werke wie Diclo, Rino oder Der Schäferin Klagelied mit deutlichen Bezügen auf Goethe arbeiten, dann ist das Leugnen dieser Bezüge ebenso unwissenschaftlich wie das gänzlich unangemessene Bedürfnis, den verehrten Dichter vor teilweise bissigen Anspielungen in Schutz nehmen zu wollen. Die anstehende Analyse soll die (ohnehin evidente) Anwesenheit Goethes in den untersuchten Texten weder ausblenden noch überbewerten, sondern will nachvollziehen, welche Bedeutung ihr im Kontext der jeweiligen Werke und hinsichtlich des Selbstentwurfs einer Autorin beizumessen ist, die diese Anwesenheit nicht nur in Kauf nimmt, sondern immer wieder ganz bewußt herbeiführt - und dabei freilich die Einbeziehung Goethes in die eigene Dichtung deutlich komplexer gestaltet, als das monokausale Erklärungsmodell, die ehemalige Freundin sei durch den Bruch mit Goethe tief gekränkt gewesen und habe sich rächen wollen, dies in anachronistischer Vereinfachung und einseitiger Fokussierung auf einige wenige Passagen des Gesamtwerks wahrhaben möchte. Als erste Konsequenz für die vorliegende Untersuchung bedeutet das, einer intelligenten Frau wie Charlotte von Stein den Willen und die Fähigkeit zu unterstellen, mehr in ein dichterisches Projekt einzubringen als Spottlust und blanke Rachsucht, was sich insbesondere am Mondlied nach meiner Manier und Der Schäferin Klagelied (einem Gedicht, das in der Forschungsliteratur offenbar noch nie untersucht wurde) wird nachweisen lassen (s. S. 92ff. bzw. S. 163ff.). Aber selbst beim Blick auf Dido, jenes Drama also, das so häufig als Paradebeispiel Steinscher Gehässigkeit gedient hat, wird deutlich werden, wieviel Wesentliches außer Acht bleibt, wenn man das Motiv >Goethe< im Werk Charlotte von Steins oberflächlich auf den wütenden Versuch einer »literarische [n] Hinrichtung« (Koopmann 2002, 262) des langjährigen Freundes reduziert. Dido als reine Personalsatire zu behandeln, bedeutet, einige entscheidende inhaltliche Aspekte gänzlich zu vernachlässigen (s. S. 114ff.). Anders als bei Der Schäferin Klagelied und Rino, einer kurzen Matinee aus dem Frühjahr 1776 (und dem einzigen unter den Stücken Charlotte von Steins, in dem Goethe tatsächlich als Figur im Mittelpunkt steht), kann im Falle Didos auf einer stetig zunehmenden Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen aufgebaut werden, die seit Ausgang der 1980er Jahre erschienen sind. Hingegen ist die Forschungslage im Falle des Mondliedes auf den ersten Blick regelrecht unübersichtlich zu nennen. Das liegt jedoch nicht daran, daß sich bereits so viele Abhandlungen dezidiert mit Charlotte von Steins An den Mond nach meiner Manier beschäftigt hätten. Vielmehr fühlen sich die meisten Interpreten des Prätextes genötigt, mehr oder 17
weniger beiläufig auch die Steinsche Parodie zu kommentieren. Von Bedeutung für jede Analyse ist dabei insbesondere die Frage, in welchem zeitlichen Verhältnis diese Parodie zu Goethes Urfassung des Gedichts und seiner Überarbeitung steht, denn sinnvoll ist eine vergleichende Interpretation der >Mondlied-Trias< erst, wenn man bezüglich der vermutlichen Datierung und zeitlichen Abfolge zu einem Schluß gekommen ist. So wird zu klären sein, ob An den Mond nach meiner Manier als Vorlage für Goethes Endfassung seines Mondliedes diente oder von Charlotte von Stein erst als Reaktion auf diese verfaßt wurde (s. S. 58ff.), eine Datierungsfrage, die sich glücklicherweise bei den anderen Texten nicht in dieser Dringlichkeit stellt, da dort relativ genaue Zeiträume ermittelbar sind, innerhalb derer sie entstanden sein müssen. Im Kontext aktueller Forschungsergebnisse sollen all diese Betrachtungen es ermöglichen, die literarische Auseinandersetzung Charlotte von Steins mit Goethe erstmals vollständig in den Blick zu nehmen und ihren Wandel über die Jahre hinweg deutlich zu machen. Ziel der breit angelegten Textuntersuchungen wird es dabei sein, die Konzeption der literarischen Vereinnahmung Goethes bei Charlotte von Stein aufzuzeigen und so die poetologische Funktion des Motivs >Goethe< in den Texten und seine Bedeutung für die Autorin und ihr Werk genauer bestimmen zu können.
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2. Erlaubt ist, was sich ziemt}
Charlotte von Steins M a t i n e e Rino
Die früheste erhaltene literarische Arbeit Charlotte von Steins trägt den Titel Rino und stammt aus dem Frühjahr 1776. Sie umfaßt in gedruckter Form ungefähr vier bis sechs Seiten2 und erhielt von der Autorin den wertneutralen Untertitel Ein Schauspiel in drey Abtheilungen. In der Rezeptionsgeschichte hat sich kaum jemand an dieser Vorgabe orientiert, die Gattungszuordnung scheint Probleme bereitet zu haben, und die Bezeichnungen, unter denen Rino in der Sekundärliteratur auftaucht, divergieren dementsprechend in auffälliger Weise: Düntzer nennt das Stück ein »Scherzgedicht« (Düntzer 1874 I, 57), Redslob spricht von einem »Gelegenheits-» bzw. »Lustspiel« (Redslob 1943, 54 bzw. 55), Susman von einem »Festspiel« (Susmann 1951, 69), und bei Kord ist von einem »Drama« die Rede (Kord 1996, 150), beziehungsweise - in Anbetracht der Kürze des Stückes - von einem »Dramolett« (Kord 1998, III), eine Verkleinerungsform, die sich auch bei Pereis findet (Pereis 1998). Diese BegrifFsvielfalt kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß in den meisten Fällen auf jede Gattungsbezeichnung verzichtet wird, und zwar schon allein deshalb, weil eine Auseinandersetzung mit dem kurzen Stück schlichtweg nicht stattfindet. In der Mehrzahl der Abhandlungen über Charlotte von Stein bzw. ihr Verhältnis zu Goethe wird Rino überhaupt nicht näher erwähnt, 3 was insofern bemerkenswert ist, als die Gestalt des Titelhelden eine unschwer erkennbare Goethekarikatur darstellt. Unter den Arbeiten, die auf das Schauspiel eingehen, bemühen sich denn auch die einen nach Kräften, das Stück herabzusetzen (beispielsweise durch Klassifizierungen wie »Dilettantenstückchen«, vgl. Schmidt 1902, 287), und die anderen pflegen durch allerlei diminutive Umschreibungen die demonstrativ beiläufige Feststellung seiner geringen Bedeutung: »dramatische Bagatelle« (Wukadinovic 1926, 25), »niedliche Szene« (Nobel 1939, 35), »kleines Gespräch« (Nobel 1939, 33), »anmutiger Scherz« (Voss 1948, 28), »kleine(r), dramatische(r) Scherz« (Maurer 1997, 46), »hübsches Dramolett« (Pereis 1998, 103). Kaum eine der Abhandlungen enthält
1 2
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Vgl. Goethe: Torquato Tasso, I I / l , V. 1006 (MA 3.1, 453). Die vorliegende Arbeit folgt dem Text in der Fassung, die Frankel im A n h a n g von Band I (S. 505-511) seiner Ausgabe des Briefwechsels zwischen Goethe u n d Charlotte von Stein (im folgenden: BW G/St) veröffentlicht hat. Dieser Ausgabe folgen, soweit nicht anders angegeben, auch die Zitate aus der Korrespondenz. So etwa bei Seilliere 1914, Höfer 1919, Boy-Ed 1925, Voss 1948, Susman 1951, H o f 1957 oder Koopmann 2002.
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sich solcher mehr oder weniger impliziten Wertungen. Dabei böte sich neben der von der Autorin gebrauchten noch eine weitere neutrale Gattungsbezeichnung an, die den Charakter des Stücks beschreibt, ohne bereits ein Urteil über Qualität oder Bedeutung zu beinhalten. Denn wenn von Rino und vergleichbaren Schauspielen die Rede ist, gebraucht beispielsweise Goethe in seinen Briefen an Charlotte von Stein einen in Weimar damals durchaus gängigen und regelrecht programmatischen Begriff: Matinee.4 >Matineen< nannte man die Reimereien, die zur Verspottung der guten Freunde gedichtet und im kleinen oder großen Kreise bei Hofe vorgelesen wurden. (Bode 1914, 87) M a t i n e e s nannte man, in Anlehnung an französische Vorbilder, Scherz- und Spottgedichte, mit denen die Mitglieder der Hofgesellschaft einander neckten ... . (Frankel in BW G/St III, 23)
Um den Stellenwert solcher Matineen richtig einschätzen zu können, muß man ein bemerkenswertes Charakteristikum des Weimarer Hofes berücksichtigen: Nachdem das Schloß im Mai 1774 bis auf die Grundmauern abgebrannt und damit auch der darin befindliche Theatersaal zerstört war, wich die seit 1771 in Weimar beschäftigte Seylersche Schauspieltruppe nach Gotha aus. Ein Liebhabertheater und -orchester, dem nicht nur ranghohe Hofbeamte, sondern auch die Herzogin-Mutter und der junge Herzog selbst angehörten, füllte die entstandene Lücke bald nahezu vollständig aus. Geprobt wurde zumeist in den Privathäusern der jeweiligen Mitwirkenden, also etwa im Wittumspalais Anna Amalias oder bei Josias und Charlotte von Stein (vgl. Salentin 1996, 128), die Aufführungen fanden dann vor allem im Hauptmannschen Redoutenhaus oder in den Parks von Ettersburg und Tiefurt statt (vgl. Köhler 2003, 136). Ein solches Engagement auch des Regenten und seiner Familie,5 die nun in Lust-, Trauer-, Sing- und Schattenspielen als gleichberechtigte Schauspieler neben den anderen Hofmitgliedern agierten, darf als ungewöhnlich bezeichnet werden, und Kords Vermutung, das Weimarer Liebhabertheater sei »wahrscheinlich eine einzigartige Erscheinung in der zeitgenössischen deutschen Theaterlandschaft« gewesen (Kord 1998, VII), wird bestätigt durch ein Erlebnis des ältesten Sohnes Charlotte von Steins, Karl, von dem der Siebzehnjährige seinem Vater am 7. Dezember 1782 von Braunschweig aus berichtete: Man hält sich hier darüber auf, daß in Weimar keine Truppe ist und daß der Hof das Publikum belustigt, indem er selbst mitagiert. Ich habe mein liebes Weimar verteidigt, soviel in meinen Kräften steht. (Karl von Stein: Vertrauliche Mitteilungen 28)
Aber nicht nur das Personal, auch das Repertoire des Weimarer Liebhabertheaters war ungewöhnlich. 4
5
Vgl. Goethe an Charlotte von Stein am 24. Juni 1776: »Für Ihre Matinees danck ich herzlich, ich habe mich herzlich drüber gefreut, [...]« (BW G/St I, 37). So ist beispielsweise überliefert, daß Herzog Carl August zeitweise die Rolle des Pylades in der ersten Fassung von Goethes Iphigenie übernahm (vgl. M A 2.1, 654).
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Außer Dramen von auswärtigen Autor(inn)en wurden dort Stücke aufgeführt, die spezifisch für diese Bühne von Hofmitgliedern verfaßt wurden; viele dieser Stücke ergingen sich in persönlichen Portraits höfischer Persönlichkeiten. (Kord 1998, V I I )
Und diese »persönlichen Portraits« dienten keineswegs nur der Beschönigung oder Verklärung. Die Autoren, selbst Teil der Hofgesellschaft, genossen es vielmehr offenbar, zuweilen ironische Seitenhiebe in Richtung anderer Mitglieder auszuteilen, wobei auf Rangunterschiede kaum Rücksicht genommen wurde. So spielt Goethe, der nach seiner Ankunft in Weimar schnell zu einer der treibenden Kräfte des Liebhabertheaters und zum »Conferencier des Herzogtums« (Schlaffer 1999, 239) wurde (zumal es ihm in seiner Eigenschaft als Hofdichter oblag, zu gegebenen Anlässen neue Stücke und Maskenzüge zu produzieren), 1780 in einer Bearbeitung der Vögel von Aristophanes auf den jüngeren Bruder des regierenden Herzogs an, Prinz Constantin, dessen als nicht standesgemäß gewertete Beziehung zu Caroline von Ilten in der herzoglichen Familie damals für Aufregung sorgte: So ehrenvoll behandelt man euch, indes ihr, gleich jungen Prinzen, gar nicht zu begreifen scheint, was für Vorzüge die Götter euch angeboren haben. Erlaubt, daß ich euch mit der Nase drauf stoße! (MA 2 . 1 , 3 3 2 )
Publikum und Schauspieler wußten mit dieser Spitze sehr wohl etwas anzufangen, die um so bedeutsamer erscheinen muß, als Goethe dem »jungen Prinzen« bereits beim Verfassen des Stückes »eine große Rolle zugedacht« hatte6 und Constantin in der Rolle des Hoffegut Teil der Szene war, in der Goethe als Treufreund die zitierte Passage zu sprechen hatte.7 Sonderlich ungewöhnlich oder dreist kann es demnach am Weimarer Hof nicht empfunden worden sein, als Charlotte von Stein im Frühjahr 1776 ihr Schauspiel in drey Abtheilungen
vorlegte und Goethe darin satirisch aufs Korn
nahm. Ob das Stück tatsächlich vor Publikum »gespielt« wurde — wovon Voss ausgeht (Voss 1948, 23)
ob man es in geselliger Runde mit verteilten Rollen
vortrug — wie es die oben zitierte Formulierung Bodes nahelegt - oder ob es lediglich von Hand zu Hand ging, muß offen bleiben. Goethe selbst scheint es nicht gesehen, sondern gelesen zu haben, zumindest läßt das sein Brief an Charlotte von Stein vom 24. Juni 1776 vermuten (am Tag zuvor verzeichnet sein Tagebuch den Eintrag »Ryno«, vgl. Goethe: Tagebücher I, 19):
6
7
Vgl. Goethes Brief an Charlotte von Stein vom 14. Juni 1780: »So kommt noch die Thorheit und macht uns neu zu schaffen. T h u t nichts es bringt doch die Menschen zusammen, unterhält den Prinzen dem eine große Rolle zugedacht ist, und bringt ihn von Tiefurt weg« ( B W G/St I, 2 1 8 ) . D a ß die dem Prinzen zugedachte »große Rolle« die des Hoffegut gewesen sei, berichtet u.a. Frankel in B W G / S t III, 6 5 .
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Für Ihre Matinees danck ich herzlich, ich habe mich herzlich drüber gefreut, ich bin weidlich geschunden, und doch freut michs daß es nicht so ist.8 (BW G/St I, 37)
Ob der Gebrauch des Plurals (es ist die Rede von Matinees) lediglich ein Schreibfehler ist oder tatsächlich bedeutet, daß die Freundin ihm mehrere Schauspiele hatte zukommen lassen, möglicherweise sogar weitere Eigenproduktionen, muß dahingestellt bleiben; es gibt keine Äußerungen Goethes oder seiner Zeitgenossen bezüglich anderer Stücke Charlotte von Steins aus dieser Zeit, was deren mögliche Existenz jedoch noch nicht ausschließt. Es wäre voreilig, Rino ultimativ als ihren literarischen Erstling zu bezeichnen, die Beweislage hierfür ist nicht stichhaltig genug. Allerdings ist das Stück bislang das früheste überlieferte Zeugnis der schriftstellerischen Betätigung Charlotte von Steins.
2.1
Rino als >SchIüsselstück
Schlüsselstück< und Personalsatire verstanden, also die von der Autorin intendierten Bezüge auf reale Ereignisse und Personen erkannt haben — Bezüge, die speziell auf diese
8
5 10
Die Formulierung schließt eine erfolgte Aufführung oder Gruppenlesung selbstverständlich nicht völlig aus. Plausibler erscheint es jedoch, hinter dem Dank die Bezugnahme auf ein Lektüreerlebnis zu vermuten. Die Schreibweise der Namen im Stück ist uneinheitlich. Da die ersten Seiten zudem mit einer anderen Tinte geschrieben wurden, geht auch Schöll 1900 in seiner Ausgabe von Goethes Briefe[n] an Frau von Stein davon aus, »daß erst später Titel und Personenverzeichniß auf dem leeren ersten Blatte Platz fanden, [...]« (Bd. I, S. 632).
22
Zielgruppe hin geschaffen wurden und heute nicht mehr ohne weiteres erkennbar sind. Sie sollen deswegen im folgenden kurz dargelegt werden, da das Stück sonst unverständlich bleiben muß.
2.1.1 Rino ist Werther ist Goethe — Die Werther-Verweise des Stückes Festzumachen ist eine Deutung Rinos als >Schlüsselstück< und der Titelfigur als Goethekarikatur in erster Linie an den unverkennbaren Anspielungen des Textes auf Die Leiden des jungen Werthers, jenen zwei Jahre zuvor erschienenen Roman, dem Goethe (neben dem Götz-Drama) seine enorme Popularität, die Bekanntschaft mit Carl August und zu nicht geringem Teil auch dessen Einladung nach Weimar verdankte. So ist etwa der Name der Titelfigur, Rino, den Leiden entnommen: Der »stattliche Ryno«, dessen »Seele ein Feuerstrahl« war, taucht als einer der Barden des Gesangs in der Ossian-Ubersetzung im zweiten Teil des Romans auf (ΜΑ 1.2, 284 u. 286) - ein intertextueller Verweis, der über die Namensgebung von vornherein klar macht, daß es sich bei Rino um einen Dichter handelt. Darüber hinaus thematisiert Charlotte von Stein im Umgang der Hofdamen mit dem Neuankömmling Rino ein Problem, das Goethe aus seinem Werther-Roman erwuchs, ihn in Weimar ebenso heimsuchte wie an fast allen anderen Orten, die er besuchte, und ihn bekanntermaßen sein Leben lang umtreiben sollte: Gertruth von weiten Gleichgültig ist er mir eben nicht, Doch weiß ich nicht ob er oder Werther [mich sticht] " m i r spricht.
Kunigunde Ja, ja s'ist Werther ganz und gar. So liebenswerth als er mir immer war. (Stein: Rino, 507)
Die freudige Bereitschaft der damaligen Leser, den Autor des Werther mit seinem Romanhelden gleichzusetzen, und ihr daraus resultierender Eifer, »das, was an persönlichem Erleben in die Dichtung einfloß, aus dieser gerade umgekehrt wieder herauszudestillieren« (Clauss 1993, 142), beschäftigte Goethe noch im Alter.12 Immer wieder kam er darauf zurück, in welchem Maße ihn dieser Roman
11
Charlotte von Stein hat den Text später überarbeitet. Die Klammern geben die ursprüngliche Wortwahl wieder (vgl. die diesbezüglichen Anmerkungen Schölls in seiner
Ausgabe von Goethes Briefe[n\ an Frau von Stein. Frankfurt a. M. 1899-1900. Bd. I. 12
S. 632). Vgl. beispielsweise seine Stellungnahme zu diesem Thema in Dichtung und Wahrheit·. »Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandten, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen« (MA 16, 621 f.).
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geradezu verfolge, 13 nicht nur durch die unbestreitbar bestehenden Ähnlichkeiten zwischen Autor und Romanfigur, sondern auch durch den immensen Erfolg, den das Buch europaweit hatte; 14 denn wenn auch die Berichte von der >Selbstmordwelle< im Werther-Stil, die damals Deutschland angeblich überzogen habe, ins Reich der Legende zu weisen sind, so darf doch das Aufsehen, das der Roman erregt hatte, mit Recht als sprichwörtlich bezeichnet werden. Das Buch stellte eine literarische Revolution dar, es war beherrschendes Thema in den Briefwechseln und geselligen Runden, junge Männer kleideten sich nach dem Vorbild der Romanfigur in >WerthertrachtGoethewerthergleichen< Rino gar nicht auf die Romanvorlage, sondern direkt auf Aussprüche Goethes zurückgreift. So sind etwa in den Briefen, die Goethe seiner Schwester Cornelia zwischen 1765 und 1767 aus Leipzig schickte, die Ausdrücke >Gans< und >Gänse< zur Beschreibung mißliebiger Frauen nicht ungewöhnlich: I did see her, four or five times, and four or five times she was a goose. Set her to Paris and she shall be also one." 5 (12. Oktober 1766) (Goethe an Cornelia 164) Je pourrois parier pour le present quelques mots, de Mesdem. Kustner, mais ce sont des gooses, dont je n'aime pas a m'entretenir. 17 (11. Mai 1767) (Goethe an Cornelia 171)
Es ist durchaus davon auszugehen, daß sich Goethes Sprachgebrauch in den wenigen Jahren nicht grundlegend gewandelt hatte, und somit ließen sich Rinos erste Äußerungen mit gleichem Recht als >wertherhaft< wie auch als >goethisch< bezeichnen, eine Grenzverwischung, die beabsichtigt scheint, bezieht sich doch der zitierte Ausspruch Gertruths genau auf diese Problematik: Gleichgültig ist er mir eben nicht, Doch weiß ich nicht ob er oder Werther [mich sticht] mir spricht.
Zwei Grundprobleme sind es demnach, die mit diesen ersten Sätzen des Stückes entfaltet werden: Z u m einen die offenkundige Schwierigkeit, den Dichter Rino von der (seiner) Romanfigur Werther zu unterscheiden. Z u m anderen drückt sich im Ausspruch Rinos von den »adlich gänßen« in plakativer Zuspitzung das Selbstbewußtsein des stolzen Nicht-Aristokraten und seine Verachtung adliger Gesellschaft aus - damit wird der Widerspruch zwischen einem (bürgerlichen) Einzelnen und der Hofgemeinschaft, die Differenz zwischen dem Image des Poeten und der prosaischen Wirklichkeit, zum zweiten Thema dieser Matinee,' 8 personifiziert in dem schwärmerisch als Werther verehrten Dichter, dem durch seine abfällige Eingangsbemerkung als Bürgerlichen gekennzeichneten Titelhelden. Mehr Hinweise dürfte das Weimarer Publikum kaum gebraucht haben, um die Doppelbödigkeit der Handlung zu registrieren und hinter der Rino-Figur das Vorbild Goethe zu erkennen. Denn Goethe hatte sich durch sein Auftreten in der ersten Weimarer Zeit beileibe nicht nur Freunde gemacht, vielmehr lieferte sein genialisches Treiben< in
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Banuls übersetzt: »Ich habe sie vier oder fünfmahl gesehen und vier oder fünfmahl war sie eine Gans. Versetzet sie nach Paris, sie wird eine Gans bleiben« (Goethe an Cornelia 67f.). Banuls übersetzt: »Ich könte ietzt auch einiges von den Damen Kustner sagen, aber es sind Gänse von denen ich nicht reden mag« (Goethe an Cornelia 79). Entsprechend umgibt Rino auch kein Freundeskreis. Während die Frauen grundsätzlich als Gruppe auftreten, bleibt er allein - einer Integration in den höfischen Kreis steht sein ungeselliges Verhalten entgegen.
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Gesellschaft des Herzogs im gesamten deutschen Sprachraum Stoff fur Gerede. 19 Belege für die angespannte Stimmung dieser Monate finden sich in den Schreiben Charlotte von Steins an ihren Brieffreund Johann Georg Zimmermann, etwa am 6. März 1776, wenn sie feststellt: Göthe est ici un objet aime, et hais, Vous sentirez qu'il y a bien de grosses tetes qu'ils ne le comprennent pas. 20
Auch was ihr persönliches Verhältnis zu dem jungen Gast aus Frankfurt betrifft, handelt es sich nicht gerade um Liebe auf den ersten Blick, allenfalls um Sympathie. Noch überwiegt allerdings die Skepsis: [I]ch wünschte selbst er mögte etwas von seinen wilden Wesen darum ihn die Leute hier so schieff beurtheilen, ablegen, [...]. (Petersen: BW G/St 1/2, 530)
Ein Beispiel für dieses »wilde Wesen« hatte sie Zimmermann einige Zeilen zuvor geschildert: Goethe - voll stürmisch-drängerischer Geringschätzung höfischen Regeln gegenüber - muß Charlotte von Stein im Gespräch geduzt haben, und obwohl ihm die Baronin und ehemalige Hofdame diesen Fauxpas »mit den sanfftesten Ton von der Welt verwies und ihn diplomatisch bat, sichs nicht anzugewöhnen weil es nun eben niemand wie ich zu verstehn weis und er ohne dies offt gewiße Verhältniße aus den Augen setz« (Petersen: B W G/St 1/2, 530), ist seine Reaktion auf solch vorsichtige Zurechtweisung heftig: [D]a springt er wild auf vom Kanape, sagt ich muß fort, läufft ein paar mahl auf und ab um seinen Stock zu suchen, find ihn nicht, rent so zur Thüre hinaus ohne Abschied ohne gute Nacht; (Petersen: BW G/St 1/2, 530)
Es sind solche polterhaften Auftritte, die viele seiner Mitmenschen irritieren, und nicht zuletzt Charlotte von Stein wird in den folgenden Jahren die Aufgabe zuwachsen, Goethe sein demonstrativ zur Schau gestelltes ungestümes Wesen, das in dieser Zeit wesentlicher Bestandteil seiner Selbstinszenierung ist (und letztlich
"
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Man denke in diesem Zusammenhang nur an den mahnenden Brief Klopstocks, den dieser Goethe am 8. Mai 1776 schrieb (vgl. Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in zwei Bänden. Hg. Von Karl Robert Mandelkow. Hamburg 1 9 6 5 - 1 9 6 9 . Bd. I, S. 58f. - Im folgenden: H A Briefe an Goethe), nachdem die Gerüchte von den Weimarer Umtrieben sogar bis zu ihm nach Hamburg gedrungen waren, und den Goethe mit der barschen Entgegnung beantwortete: »Verschonen Sie uns ins Künftige mit solchen Briefen, lieber Klopstock!« (Vgl. Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Karl Robert Mandelkow u. Bodo Morawe. Hamburg 1962—65. Bd. I, S. 215.). Vgl. Goethes Briefe an Charlotte von Stein. Neue, vollst. Ausgabe auf Grund der Handschriften im Goethe- und Schiller-Archiv. Hg. von Julius Petersen. Leipzig 1923. 1/2, S. 529 (im folgenden: Petersen: BW G/St). Conrady übersetzt: »Goethe wird hier geliebt und gehaßt; Sie fühlen wohl, daß es hier genug Dickköpfe gibt, die ihn nicht verstehen« (Conrady 1988 1,318).
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in e i n e m G e f ü h l der U n s i c h e r h e i t wurzelt), 2 1 auszutreiben. 2 2 Sie scheint G o e t h e s A u f t r e t e n v o n A n f a n g a n als b l o ß e A t t i t ü d e zu bewerten, etwa w e n n sie Z i m m e r m a n n erklärt, G o e t h e s »wildes Wesen« sei im Grund zwar nichts [...] als daß er jagd, scharff reit, mit der großen Peitsche klatscht, alles in Geselschaft des Herzogs. Gewiß sind dies seine Neigungen nicht, aber eine Weile muß ers so treiben um den Herzog zu gewinnen und dann gutes zu stiften, so denk ich davon; (Petersen: BW G/St 1/2, 530) Freilich stiftet der G a s t in W e i m a r z u n ä c h s t e i n m a l alles a n d e r e als n u r »[G]utes« ( z u m i n d e s t n a c h Ansicht der e h e m a l i g e n H o f d a m e ) - u n d zwar gerade in Bezug a u f d e n j u n g e n H e r z o g , der d e n G r o ß t e i l seiner Zeit m i t d e m F r a n k f u r t e r G a s t verbringt: [E]r verdirbt andre; der Herzog hat sich wunderbahr geändert, gestern war er bey mir behaubtete daß alle Leute mit Anstand mit Manieren nicht den Namen eines ehrlichen Mannes tragen könten, wohl gab ich ihn zu daß mann in den rauen Wesen oflft den ehrlichen Mann fände aber doch wohl eben so ofift in den gesitteten; daher er auch niemanden mehr leiden mag der nicht etwas ungeschliffnes an sich hat. Das ist nun alles von Goethen von den Menschen der von tausende Kopff, und Hertz hat, der alle Sachen so klar ohne Vorurtheile sieht so bald er nur will der über alles kan Herr werden was er will. (Petersen: BW G/St 1/2, 531) C h a r l o t t e v o n Stein e r k e n n t offensichtlich das Potential des j u n g e n M a n n e s , u n d sie h ä l t es a u c h f ü r möglich, in i h m d e n »Willen« zu w e c k e n , es in e i n e m (ihrer E i n s c h ä t z u n g nach) positiven S i n n e zu n u t z e n . D a s G o e t h e - B i l d allerdings, das sie 1 7 7 6 in Rino zeichnet, zeigt nicht die H o f f n u n g a u f Z u k ü n f t i g e s , s o n d e r n karikiert die W e i m a r e r G e g e n w a r t u n d jüngste Vergangenheit. In der G e s t a l t u n g d e r Titelfigur spiegeln sich jene u n g ü n s t i g e n ersten E i n d r ü c k e , die C h a r l o t t e v o n Stein im F r ü h j a h r 1 7 7 6 a u c h Z i m m e r m a n n schildert, wie ü b e r h a u p t dieses a m 6. M ä r z 1 7 7 6 b e g o n n e n e Schreiben in e n g e m Z u s a m m e n h a n g m i t Rino gesehen w e r d e n m u ß . E i n e ganze Reihe inhaltlicher Parallelen läßt a u f eine u n m i t t e l b a r e zeitliche N ä h e zwischen der E n t s t e h u n g des Stückes, das G o e t h e erst E n d e J u n i 1 7 7 6 erhält, u n d d e m Brief schließen, der a m 8. M ä r z fortgesetzt wird. Ich solte gestern mit der Herzogin Mutter zum Wieland gehn, weil ich aber furchte Goethen da zu finden that ichs nicht. Ich habe erstaunlich viel auf meinen Hertzen daß
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Dieser lebenslange anti-gesellschaftliche Zug drückte sich dann beim alten Goethe gerade durch das genaue Gegenteil solcher Regelverstöße aus: Dem greisen Geheimrat werfen Freunde und Besucher regelmäßig seine steife Förmlichkeit vor. Goethe verschanzt sich später hinter denselben Regeln der Etikette, deren Einhaltung er als junger Mann eine Zeitlang so demonstrativ verweigert hat. Bereits in seinem Gedicht Warum gabst du uns die tiefen Blicke, für Charlotte von Stein verfaßt und ihr am 14. April 1776 zugesandt, umschreibt Goethe die diesbezügliche Rolle der Adressatin in seinem Leben mit den Worten: »Tropftest Mäßigung dem heißen Blute, / Richtetest den wilden irren Lauf« (BW G/St I, 26). Aber erst nach der Rückkehr Goethes und Carl Augusts von ihrer Reise in die Schweiz 1779/80 »begann Goethe, wie Gräfin Giannini meinte, endlich das Auftreten eines Mannes von Rang und Stand anzunehmen« (Boyle 1999, 384). 28
ich den Unmenschen sagen muß. Es ist nicht möglich mit seinen Betragen körnt er nicht durch die Welt; [...] (Petersen: BW G/St 1/2, 531)
Dieses »Betragen« Goethes, das ihr im gesellschaftlichen Miteinander so unziemlich vorkommt, persifliert sie auch in ihrem Schauspiel. Auf die Frage Gerthrudes: »Apropos des Bals; mögen Sie gern tanzen und lachen?« (Stein: Rino, 508), antwortet Rino: Manch mal, doch meistens schleicht mit mir Herrum ein trauriges Gefühl Ueber das ewge Erdengewühl. 23 (Stein: Rino, 508)
Damit verläßt er die Szene und läßt die adeligen Damen brüsk stehen. Rino verweigert sich der Konversation und dem geselligen Beisammensein, so etwas wie >small talk< ist mit diesem Gast nicht zu führen. Der obige Ausspruch bedient dabei, wie auch bereits die vorhin zitierten einleitenden Sätze des Stückes, die Pose des Außenseiters und Einzelgängers, des Melancholikers,24 der sich genüßlich ganz seinen Launen und Stimmungen hingibt. Charlotte von Stein verleiht Rino so mittels weniger plakativer Sätze die ins Extreme gesteigerten Züge Werthers - und zwar eben nicht die »liebenswerth[en]die< Weimarer Frauen vor, sondern heben sich durch individuelle Züge voneinander ab. Gerthrude erscheint als die nachdenklichste, zurückhaltendste des Quartetts, Kunigunde als die schwärmerischste, und Thusnelde zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Dinge deutlich beim Namen nennt, selbst wenn sie dabei vielleicht in einem etwas unvorteilhafteren Licht erscheint. Das zeigt sich nicht nur an dem Ausspruch vom »dummen Hanßen«, dem Schlußsatz der ersten Szene, sondern bereits vorher, als sie Rino gegenüber bekennt: Ich bin sehr neugierich auf dich gewesen S'ist nun mahl so in meinem Wesen. (Stein: Rino, 507)
Die Figur der Adelhaite bleibt in dieser ersten Szene farblos. Sie und Thusnelde unterscheiden sich allerdings insofern von Gerthrude, als beide Rino mit »du« anreden - Thusnelde in der eben zitierten Passage, Adelhaite unmittelbar davor: W i r haben dich lang bey uns erwart D u einziges Geschöpf in deiner Art. (Stein: Rino, 507)
Gerthrude dagegen eröffnet ihr erstes Gespräch mit dem offenbar voll Spannung erwarteten Gast in förmlicher Distanziertheit: Ich freue mich Ihre Bekandschafft zu machen. Apropos des Bals; mögen Sie gern tanzen und lachen? (Stein: Rino, 508)
Dieser Unterschied in der Anrede erinnert an jene Begegnung, die Charlotte von Stein ihrem Briefpartner Zimmermann am 6. März 1776 schildert: wie sie Goethe das brüderliche »Du« »verwiesen« habe (s.o.). Gerthrude ist - im Gegensatz zu einigen ihrer Freundinnen - offenbar ebensowenig bereit wie Frau von Stein, gewiße Verhältniße aus den Augen« zu setzen, und in der Tat ist die Person der Gerthrude in der Literatur immer als alter ego Charlotte von Steins gedeutet worden, 28 was unabhängig von dem ausdrücklichen Hinweis der Verfasserin in ihrem Personenverzeichnis insbesondere bei Betrachtung der zweiten Szene des Schauspiels plausibel wird. Dort ist Rino, über den sich die Frauen unterhalten, zwar zu sehen und tanzt im Hintergrund, kommt aber nicht noch einmal zu Wort (in der dritten und letzten Abtheilung wird er dann ganz verschwunden sein). Stattdessen spricht Gerthrude gleich zu Anfang:
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So etwa bei Düntzer 1874 (Bd. I, S. 57), Bode 1914 (S. 87), Fischer-Lamberg 1937 (S. 394), Nobel 1939 (S. 33), Redslob 1943 (S. 55), G o o d m a n 1992 (S. 79), Klauß 1995 (S. 235), Maurer 1997 (S. 46), Pereis 1998 (S. 103) u n d Bertholdt 1999 (S. 45).
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Ich bin ihn zwar gut, doch Adelheite glaub mirs nur Er geht auf aller Frauen Spuhr; Ist würcklich was man eine coquette nennt, Gewiß ich hab ihm nicht verkennd. (Stein: Rino, 508f.)
Auch diese Sätze wecken Assoziationen zu jenem Brief an Zimmermann, wo die genannten Ausführungen über Goethes Betragen nämlich in das folgende Resultat münden: Ich ftihls Goethe und ich werden niemahls Freunde; auch seine Art mit unsern Geschlecht umzugehn gefält mir nicht er ist eigendlich was man coquet nent es ist nicht Achtung genug in seinen Umgang. (Petersen: B W G / S t 1/2, 531 f.)
Die nahezu wörtlichen Übereinstimmungen beider Passagen sind auffällig und rechtfertigen eine Deutung der Gerthruden-Figur als Charlotte-von-Stein-Paraphrase. Die Entgegnung Adelhaites dagegen, Du solst mit deiner Lästrung schweigen Sonst werd' ich dir noch heut meine Ungenade zeigen, (Stein: Rino, 5 0 9 )
läßt auf einen Rangunterschied zwischen beiden schließen, weswegen Adelhaite in der Regel als die satirische Darstellung einer der beiden Herzoginnen, meist der Herzogin-Mutter, verstanden wird. 2 ' Und da »Thusnelda« wiederum der Spitzname Louise von Göchhausens war, liegt es nahe, deren Person auch als konkretes Vorbild für die Figur der Thusnelde zu vermuten, zumal Anna Amalias Gesellschafterin fur ihre spitze Zunge, ihre Schlagfertigkeit und ihre Streitlust bekannt war, ein Umstand, dem in Charlotte von Steins Schauspiel die Ankündigung Thusneldes geschuldet sein könnte: Meinen Witz will ich recht an ihn reiben In Freyheits-Streit mit ihm die Zeit mir vertreiben. (Stein: Rino, 509)
Lassen sich somit vier der fünf Rollen aus dem Text heraus eindeutig zuordnen, m u ß bei der letzten der Frauenfiguren, Kunigunde, das nachträglich erstellte Personenverzeichnis Charlotte von Steins als Beleg fur eine Gestaltung der Figur nach dem Vorbild »Frau von Werther[s]« genügen. Der Part ist so klein und die Uberlieferungslage zu Emilie Freifrau von Einsiedel, geschiedene von WerthernBeichlingen, geborene von Münchhausen (vgl. Goethes Weimar, 76f.) so dürftig, daß mögliche Anspielungen heute kaum noch zu entschlüsseln sein dürften. Die Anlage des Stückes als Personalsatire ist aber auch ohne dies evident.
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Eine solche Deutung u.a. bei Düntzer 1874 (Bd. I, S. 57), Bode 1 9 1 4 (S. 87), Nobel 1939 (S.33), Klauß 1 9 9 5 (S. 2 3 5 ) , Maurer 1 9 9 7 (S. 4 6 ) und Pereis 1998 (S. 103). Redslob hingegen vermutet die jüngere Herzogin, Luise, als Vorbild der Adelhaite-Figur (Redslob 1943, 55).
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2.2
Goethes Coquetterie.
Auslöser und Gegenstand der Parodie
Offenbar bedient sich Charlotte von Stein also bei Gestaltung aller ihrer Figuren tatsächlich so oder zumindest so ähnlich gefallener Äußerungen, bzw. im Falle Rinos/Goethes zusätzlich des markierten intertextuellen Verweises auf die Leiden des jungen Werthers, um beim Publikum einen hinreichenden Wiedererkennungseffekt zu erzielen - traditionelle Strategie jeder Parodie, weil es für die erfolgreiche parodistische Kommunikation unabdingbar ist, daß der Rezipient das Parodierte kennt und wiedererkennt. (Müller 1994, 135)
Diese Feststellung Müllers gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen der Parodieforschung, und in der Tat ist wohl keine andere Aussage »so häufig gemacht worden wie die, der Rezipient einer Parodie müsse das Original kennen« (Karrer 1977, 152).30 Die Notwendigkeit eines solchen Verständnisses auf Seiten der Leser, Hörer oder Zuschauer liegt auf der Hand, denn das Vorgehen des Parodisten, mittels seines Textes den Rezipienten die Assoziation zu einem bereits bestehenden Text31 bzw. zu realen Ereignissen und/oder Personen mehr oder weniger deutlich aufzudrängen, um sein Werk als (häufig kritischen) Kommentar zu dieser Vorlage kenntlich zu machen, läßt sich als Kommunikationsangebot eines Senders beschreiben, auf das die Empfänger (also die Leser, Hörer oder Zuschauer) eingehen müssen, damit der »intertextuelle Kommunikationsakt« (Müller 1994, 173) funktionieren kann. Die Empfänger sind hierzu jedoch nur in der Lage, wenn sie die »bewußte und intendierte Referenz auf einen oder mehrere Prätexte« (Wende 1999, 58) auch erkennen. Daß Parodien nicht ohne ausdrückliche Bezugnahme auf ihre Vorlage(n), mithin nicht ohne dezidiert intertextuellen Charakter denkbar sind, liegt auf der Hand und ist in der Literatur ebenso unumstritten wie die Tatsache, daß die Verfasser von Parodien beim Erstellen ihrer markierten und unmarkierten intertextuellen Verweise absichtsvoll vorgehen. Wenn es jedoch darum geht, den damit verfolgten Zweck zu benennen, variieren die Auffassungen in der Forschungsgeschichte erheblich. Mal ist von neiderfüllter Schmähung und Herabsetzung der Vorlage die Rede, mal von konstruktiver Kritik am parodierten Original oder didaktischen Ambitionen des Parodisten. Auch der harmlose Wunsch, das
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Und vermutlich ist, um diesen Sachverhalt auszudrücken, kein Zitat so häufig verwendet worden, wie obiges von Karrer: Neben vorliegender Arbeit sei, um nur zwei Beispiele zu nennen, auch auf die Studien von Müller und Wende verwiesen (vgl. Müller 1994, 70 u. Wende 1999, 61). Es ist sinnvoll, bei der Untersuchung von Parodien mit einem erweiterten (Prä-)TextBegriff zu operieren, da parodierte Referenzobjekte häufig gar nicht als schriftlich fixierte Vorlage(n) existier(t)en, wie es einem traditionellen, >strengen< Textverständnis entsprechen würde. 33
Publikum einfach nur zu unterhalten, wäre ein legitimes und denkbares Motiv.32 Die Frage nach >der< Motivation >des< Parodisten läßt sich nicht beantworten. Allenfalls kann man versuchen, im konkreten Einzelfall Überlegungen zu den möglichen Intentionen des Autors anzustellen, da sich »[i]n parodistischen Texten [...] - wie in jeder sprachlichen Äußerung - die individuell-biographische, die gesellschaftlich-politische wie die literarisch-kulturelle >Hier-und-Jetztgrundsätzlich< sind, also nicht zu jeder Zeit gelten, sind fiir Charlotte von Stein keine Grundsätze mehr. Sollte ihr Gewissen als für sie maßgebliche Richtschnur ihres Verhaltens später zu einem anderen Urteil kommen als jetzt, hat es seine Daseinsberechtigung als objektive moralische Instanz verwirkt, da seine Maßstäbe als willkürlich und unzuverlässig angesehen werden müßten. Welches Gefühl genau es ist, das dazu geführt hat, zumindest in Gedanken persönliche Prinzipien zu verletzen, wird zwar nicht ausdrücklich gesagt, ist aber unschwer zu erraten. Charlotte von Stein empfindet offensichtlich mehr fiir ihren jungen Verehrer, als unter den gegebenen Umständen statthaft wäre. Sie, die sieben Jahre ältere und verheiratete Frau, die zudem vieles an seinem Verhalten ihr und anderen gegenüber mißbilligt, kann nicht umhin sich einzugestehen, daß ihre Gefühle für Goethe, gemessen an den eigenen Maßstäben, »sündhaft« sind. Daran ändert auch die Feststellung nichts, daß sie sich außerstande sieht, ihre Empfindungen zu bereuen. Ihr vielleicht nicht gerade reserviertes, aber doch auf eine größere Distanz bedachtes Verhalten Goethe gegenüber verlangt auch ihr selbst Einiges ab, ist aber für Charlotte von Stein die einzig denkbare Konsequenz dieser Situation, denn sie hat durchaus nicht vor, den »Unrechten« Gefühlen auch »Unrechte« Taten folgen zu lassen. Ihr Ringen um Selbstkontrolle ist es nun, was Goethe ihr in seinem Brief zum Vorwurf macht, wenn er schreibt, sie sei »nur voll Sehnsucht nach der Krone die ihr überm Haupte schwebt«. Er sieht sich selbst als Hauptleidtragenden dieser »Sehnsucht«. Der unscheinbare Vierzeiler auf der Rückseite seines Schreibens, den er selbst vermutlich nie zu Gesicht bekommen hat, zeigt jedoch, daß auch die »Madonna die gen Himmel fährt« von den emotionalen Konflikten dieser Beziehung nicht unberührt bleibt. Das Jahr 1776 spiegelt sich somit in Rino und Obs unrecht ist was ich empfinde als Ausgangspunkt einer zwiespältigen, letztlich mehr als zehnjährigen Liebe, die sich für beide Beteiligten ebenso fruchtbar wie zermürbend entwickeln sollte und die erst in den Jahren 1786 bis 1789 durch Goethes Flucht nach Italien, eine fast zweijährige Trennung in völlig unterschiedlichen Gefühls- und Lebens-
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Auf den ersten Blick könnte jenes »es«, das vernichtet werden soll, grammatikalisch zwar auch »was ich empfinde« sein, aber es erscheint logischer, die mögliche Anklage von Seiten des »Gewißen[s]« zu erwarten, auf dessen Beschreibung die diesbezüglich erwas unklar formulierte letzte Zeile unmittelbar folgt, und das darüber hinaus schon in der dritten Zeile in ähnlicher Weise personifiziert erscheint, wo es sich weigert, eine Auskunft zu erteilen. »Was ich empfinde« ist in diesem Zusammenhang allenfalls der Anlaß für eine Anklage, nicht jedoch ihr ausführendes Organ. Nobels Interpretation, die letzte Zeile verlange »fast blasphemisch«, der Himmel solle »die Leidenschaft vernichten« (Nobel 1939, 52), geht daher fehl.
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weiten sowie durch die Hinwendung Goethes zu einer anderen Frau langsam und schmerzhaft aufgerieben wurde. Dieser Zerfallsprozeß einer so intensiven Freundschaft läßt sich exemplarisch anhand der Veränderungen nachvollziehen, die Goethe und Charlotte von Stein jeweils an dem zu Beginn der Weimarer Zeit entstandenen Lied An den Mond vorgenommen haben.
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4.
Thema mit Variationen: Drei Lieder An den Mond von Goethe und Charlotte von Stein
Goethes An den Mond, oft auch einfach »Goethes Mondlied« genannt, gehört sicherlich zu seinen bekanntesten Gedichten, und die Endfassung mit ihren einprägsamen Eingangsversen »Füllest wieder Busch und Tal« fehlt in kaum einer Anthologie deutscher Lyrik. Entstanden ist das Lied in Goethes ersten Weimarer Jahren, wo es aber zunächst nur im Freundeskreis bekannt war. Erstmals veröffentlicht wurde es dann - mit deutlich veränderter Gestalt - 1789 im achten Band der bei Göschen herausgegebenen Schrifien. Im Düsseldorfer Goethemuseum befindet sich noch eine dritte Variante des Gedichts. Sie stammt von Charlotte von Stein und fügt der von Goethe übernommenen Überschrift An den Mond einen markanten Untertitel hinzu: Nach meiner Manier. Damit ist die gesicherte Faktenlage aber bereits ziemlich erschöpfend wiedergegeben, denn über Datierung und Entstehungsfolge dieser Mondlied-Trias wird in der Forschung seit über hundert Jahren gestritten. Insbesondere ging es dabei immer wieder um die Frage, ob Goethe das Mondlied Charlotte von Steins möglicherweise als Anregung für seine Überarbeitung gedient hat, oder ob diese Überarbeitung nicht vielmehr erst der Anlaß für Charlotte von Stein gewesen ist, ihrerseits überhaupt ein Mondlied nach meiner Manier zu schreiben. Um zu einer tragfähigen Hypothese darüber zu gelangen, wie sich die drei Versionen des Mondliedes zeitlich und inhaltlich zueinander verhalten, bzw. ob und in welchen Punkten die Manier Charlotte von Steins von der Goethes abweicht, ist es nötig, zunächst einige Grundzüge dieser Debatte zu rekapitulieren, bevor im Anschluß an die Entscheidungsfindung bezüglich Entstehungsreihenfolge und Datierung dann alle drei Mondlieder Gegenstand einer ausführlichen vergleichenden Interpretation werden.
4.1 Forschungsüberblick: Die drei Versionen von An den Mond und ihre (un) mögliche Datierung Es gilt als gesichert, daß die Erstfassung (die noch mit den Worten »Füllest wieder's liebe Tal« beginnt) in Weimar entstand und daß Goethe sie mit einem seiner Briefe an Charlotte von Stein schickte. Unklar ist hingegen der Zeitpunkt, zu dem dies geschah, da sich das Gedicht auf einem undatierten Bogen zwischen den Papieren fand. Die Auswertung der Spezialforschung führt in der Ham58
burger (HA I, 544) und der Münchner Ausgabe (MA 2.1, 559) von Goethes Werken immerhin zu der einschränkenden Feststellung, daß Entstehung und Übersendung der sechs Strophen zwischen 1776 und 1778 erfolgt sein dürften. Das Jahr 1778 als terminus ante quem steht deshalb fest, weil sich Füllest wieder's liebe Thal im Notenheft des Weimarer Hofoboisten Wiener fand, und dieser die Bezahlung seiner Abschrift am 9. März 1778 quittiert hat (vgl. Elema 1962, 33). Genaueres ist jedoch nur schwer zu sagen. Wer auch immer der erste Ordner der Papiere Charlotte von Steins war — laut Petersen vermutlich ihr Sohn Friedrich (»Fritz«) oder dessen Neffe Karl (Petersen 1923, 270) - , er sortierte den Bogen zwischen zwei Briefen vom 17. Juni 1778 ein. Die verschiedenen Ausgaben des Briefwechsels druckend« den Mondeinmal zwischen den Briefen vom Mai 1778 (Petersen: BW G/St I, 109f.) und ein anderes Mal unter jenen vom März 1778 ab (BW G/St I, 103), Arntzen hält eine Niederschrift bereits »in der ersten Hälfte 1776« für wahrscheinlich (GHb I, 181), während Boyle offenbar davon ausgeht, daß das Gedicht nicht vor dem Frühjahr 1778 entstanden ist (Boyle 1999, 305). 1 Häufig wird in diesem Zusammenhang auch auf Goethes Brief an Charlotte von Stein vom 11. August 1777 verwiesen,2 in dem er der Freundin schreibt: Daß ich mich immer träumend an den Erscheinungen der Natur und an der Liebe zu Ihnen weide, sehn Sie an beykommendem. ( B W G/St I, 77)
Das »Beykommende« könnte sein Lied An den Mond gewesen sein - aber auch eine gänzlich andere, nicht erhaltene Beigabe. Da das Gedicht zudem durchaus auch einem Schreiben beigelegen haben kann, in dem es gar nicht ausdrücklich angekündigt wurde, führen alle Bemühungen, es genauer zu datieren, in eine Sackgasse, aus der auch Goethes sonstige Briefe und Tagebücher nicht heraushel-
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Dieser letztgenannte Zeitpunkt ist an sich zwar nicht unbedingt weniger wahrscheinlich als andere, die in der Debatte genannt wurden, gänzlich unverständlich ist jedoch die Argumentationskette, die Boyle zu seiner Äußerung fuhrt. Lange Zeit ging man nämlich davon aus, daß der Freitod der jungen Christiane von Laßbetg, die sich a m 17. Januar 1778 von der Weimarer Floßbrücke in die Ilm stürzte, Auslöser für Goethes Mondlied gewesen sei und in dessen vierter Strophe mit dem Bild vom Fluß, der »in öder Winternacht / [...] von Todte schwillt« ( B W G/St I, 103), verarbeitet werde. Noch Wukadinovic betont in seiner Interpretation des Gedichts, »daß jede Auslegung, die von einer Beziehung auf Christiane absieht, etwas Gekünsteltes an sich trägt« (Wukadinovic 1926, 14). Die Laßberg-Theorie ist jedoch schon zu seiner Zeit, beispielsweise durch die Recherchen von Petersen oder Spiess, derart gründlich widerlegt worden, daß es - wie bereits 1958 bei KorfF, der merkwürdigerweise auch noch nicht von ihr lassen wollte (Korff 1958 I, 205f. u. 232f.) - geradezu anachronistisch anmutet, wenn sich Boyle bei seiner Analyse von An den Mond noch Ende der 1990er Jahre ausgerechnet wieder darauf bezieht (vgl. Petersen 1923, 270f. und Spiess 1928, 74f. Verkürzt auch bei Arntzen im G H b I, 180f.). So von Petersen (Petersen 1923, 271 f.) und Frankel ( B W G/St III, 35), die davon ausgehen, daß Charlotte von Stein das Gedicht mindestens zweimal erhielt - erstmals mit diesem Brief und ein weiteres Mal dann in der Form, wie es sich unter ihren Papieren fand: auf der rechten Innenseite eines Foliobogens, links flankiert von Noten, die die zum Text gehörige Melodie wiedergeben. Als Komponist dieser Melodie gilt heute allgemein Kayser (vgl. G H b I, 180f.).
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fen, da in ihnen an Erwähnungen des Mondes und seines Lichtes beileibe kein Mangel herrscht. Und Berechnungen, wann in jenen Jahren denn nun genau der Vollmond vom Weimarer Himmel schien (wie sie offenbar den Ausführungen von Spiess zugrunde liegen),3 bringen selbst bei gänzlich vorbehaltloser Anerkennung des tradierten Bildes vom »Erlebnislyriker« Goethe schon allein deswegen keinerlei Erkenntnisgewinn, weil in Füllest wieders liebe Tal in keiner Stelle davon die Rede ist, daß der angesprochene »Mond« nicht vielleicht auch ein Halb- oder sonstiger Mond ist.4 Aufgrund einer solch vagen Faktenlage kann die Frage nach der Entstehungszeit der ersten Mondlied-Fassung tatsächlich derzeit nicht genauer beantwortet werden, als Hamburger und Münchner Ausgabe dies tun: zwischen 1776 und 1778. Noch schwieriger gestaltet sich der Versuch, die Überarbeitung zu datieren. 1789 wurde sie, wie schon erwähnt, erstmals veröffentlicht, aber wie lange existierte sie zu diesem Zeitpunkt bereits? Und seit wann existierte das Mondlied nach Charlotte von Steins Manier? Die Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden Überarbeitungen »sind so auffallender Art, daß man unmöglich sie als zufällig bezeichnen kann. Sie sind vielmehr darauf zurückzufuhren, daß einem der Bearbeiter des anderen Arbeit vorgelegen hat« (Rhode 1908, 13). Die Frage ist, welchem von beiden. Die Abschrift, die Gottfried Herder (frühestens) im September 1781 von Goethes An den Mond anfertigte, gibt das Gedicht in seiner ursprünglichen Gestalt wieder. Man geht daher davon aus, daß die veränderte Fassung zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorlag, da er sonst - so kann man mit einiger Berechtigung annehmen - vermutlich diese kopiert hätte (vgl. Spiess 1928, 86, Körner 1936, 26 u. GHb I, 181). Ahnlich groß ist in der Forschung das Einverständnis mit der Hypothese, die Überarbeitung könne auch nicht vor Juni 1784 stattgefunden haben, da Goethe bis zu diesem Zeitpunkt die bedeutenderen seiner neu entstandenen Gedichte im Tiefurter Journal zu veröffentlichen pflegte - das Mondlied in seiner veränderten Gestalt war jedoch nicht darunter (vgl. Spiess 1928, 86 u. GHb I, 181).5 Aber außer dem Zeitpunkt der Drucklegung liegt kein wirklich
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»Nehmen wir an, daß dasselbe [gemeint ist das Mondlied; M.W.] um diese Zeit entstanden sei, so verdient eine Stelle aus dem Briefwechsel mit Charlotte von Stein unsre Beachtung. Am 2. Juli schreibt Goethe: >Nachts halb elf. Der Mondschein war köstlich, ich lief noch ins Wasser. Auf der Wiese und Mond.< In dieser oder einer der voraufgehenden Nächte — etwa 8 Tage vorher war Vollmond — konnte das Lied >An den Mond< geboren sein« (Spiess 1928, 78). Ahnlich erheiternd wirkt es, wenn Körner und Korff aufgrund ihrer intuitiv-assoziativen Auslegungen zu diametral entgegengesetzten Schlußfolgerungen bezüglich der Jahreszeit gelangen, in der das Gedicht geschrieben worden sein >müsse üß | u "C w •-η n > U ^H Ο OJ > "ÖJ & υ c £ 00 3 OJ -σ C c s '3j ο Ά •s
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Die Verfechter der zweiten dargestellten Möglichkeit machen sich nun in der Regel daran, Zeile für Zeile nachzuprüfen, in welcher der beiden denkbaren Abfolgen die erfolgten Textänderungen logisch nachvollziehbarer erscheinen, und kommen dabei zu dem Ergebnis, daß Charlotte von Stein eine Formulierung wie »Nimmer werd ich froh, / So verrauschte Scherz und Kuß, / Und die Treue so« nicht zuzutrauen sei - ja sogar bezüglich des nicht sonderlich raffinierten Reimes »Fluß/Kuß« werden zuweilen Bedenken angemeldet (vgl. Walze1 1927, 203). Hingegen lassen sich die Vertreter der >Brücken-Theorie< (die also die erste mögliche Entstehungsreihenfolge für wahrscheinlicher halten und im Mondlied nach meiner Manier die >Brücke< zwischen den beiden Mondliedern Goethes sehen) bemerkenswert selten auf derartige textkritische Untersuchungen ein. Lediglich Rhode unternimmt in den letzten Zeilen seiner Analyse noch rasch den Versuch nachzuweisen, daß Goethes endgültige Version des Gedichts jünger ist als die Charlotte von Steins, was ihm allerdings nicht überzeugend gelingt (vgl. Rhode 1908, 15). Bode verschanzt sich hinter der relativierenden Anmerkung, die Thesen, die er hier referiere, seien lediglich eine »Vermutung« (Bode 1914, 284), und auch ansonsten wird nicht nachgewiesen, sondern konstatiert bzw. impliziert. Das überrascht, denn die Argumentationsketten, mit denen beispielsweise Wukadinovic und Spiess ihre unnötig polemische und voreingenommene Position zu untermauern glauben, sind alles andere als lückenlos, wie bereits Elema in seiner wohltuend sachlich formulierten Interpretation feststellt, wenn er beiden auch letztlich beipflichtet und ähnlich wie sie zu dem Schluß kommt, »dass [sie] es höchst unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich ist, dass Charlotte die Kontrafaktur ohne Kenntnis von >An den Mond< II. geschrieben habe« (Elema 1962, 38). So meint Spiess beispielsweise, definitiv von der Entstehungsreihenfolge [Gl] - [GII] - [S] ausgehen zu können, weil sich so nachvollziehen lasse, wie Charlotte von Stein bei ihrer Umdichtung der dritten Strophe das vorgegebene Reimpaar »Herz/Schmerz« übernahm, wie ihr dasselbe dann - so sie es denn nicht noch einmal wiederholen wollte — bei Formulierung der fünften Strophe fehlte, sie nun stattdessen auf Goethes Schlußreim »Brust/unbewußt« zurückgriff und deshalb wiederum gezwungen war, diesen dann in ihrer letzten Strophe durch eine eigene Kreation (»unbekant/Gewand«) zu ersetzen (vgl. Spiess 1928, 79). Gegen diese Argumentation ließe sich unter vielem anderen anführen, daß die Verwendung des Reimpaares »Brust/unbewußt« ja eigentlich einen Rückgriff auf die Urfassung darstellt und nicht auf [GII] (wie übrigens auch die Entscheidung für »wohl veracht« in der letzten Strophe), was man nun — ebenso einseitig — als »deutlichen Hinweis< darauf deuten könnte, daß das Steinsche Mondlied eben doch unmittelbar auf [Gl] zurückgeht. Überhaupt ließen sich sämtliche durch Charlotte von Stein vorgenommenen Änderungen ebensogut erklären, indem man versuchte, sie allein von der Urfassung des Mondliedes aus zu begründen und somit die zeitliche Reihenfolge [Gl] — [S] - [GII] zu belegen. Spiess erklärt jedoch ausdrücklich, in seiner Untersuchung »einem Vergleich der beiden Gedichte unter Voraussetzung
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der Priorität des Goethischen« nachgehen zu wollen (Spiess 1928, 79). Er hat demnach die Entscheidung über die Entstehungsfolge bereits getroffen, bevor er seine Textanalyse beginnt, und daran kranken alle vorgeblich textkritischen Vergleiche der drei Fassungen. Den Ausführungen Walzels etwa bescheinigt Elema zu Recht, sie vermöchten zwar zu überzeugen, »aber doch nur denjenigen, der schon überzeugt ist« (Elema 1962, 36). Und ebenso gilt umgekehrt, daß, wer den Argumenten der Gegner jener sogenannten >Brücken-Theorie< skeptisch gegenübersteht, sich ohne wirklich stichhaltige Belege auch durch Wukadinovics esoterische Beschwörung: »Wer Goethe so fühlt wie ich, wird mir beipflichten« (Wukadinovic 1926, 23) kaum umstimmen lassen wird, da sie lediglich die ganze Hilflosigkeit seiner Argumentation deutlich macht. Elema ist angesichts solcher Beispiele sichtlich um eine möglichst sachliche und vorurteilsfreie Herangehensweise bemüht und unternimmt den Versuch, sich dem Mondlied Charlotte von Steins von Goethes Urfassung her zu nähern, denn »hat sie ihr Gedicht durchaus selbständig geschrieben, so war dies ja das einzige Mondlied, das ihr vorlag« (Elema 1962, 37). Es sind insbesondere zwei Argumente, die er anführt, um zu belegen, daß »die Kontrafaktur nicht ohne Benutzung der ihr vorliegenden zweiten Fassung des Goetheschen Gedichts geschrieben« worden sein kann. Erstens konstatiert er bei Betrachtung des dritten Verses der zweiten Strophe, daß eine Entwicklung von »Wie der Liebsten Auge, mild« [Gl] über »Wie des Freundes Auge mild« [GII] hin zu »da des Freundes Auge mild« [S] nachvollziehbarer erscheine als die Abfolge »Wie der Liebsten Auge, mild« [Gl] über »da des Freundes Auge mild« [S] hin zu »Wie des Freundes Auge mild« [GII], da man Charlotte von Stein im zweiten Falle »einen zweimaligen Sprung« zuzutrauen hätte, nämlich von »Wie der Liebsten Auge, mild« [Gl] in einem ersten Schritt hin zu der gedachten Zwischenstufe »Wie des Freundes Auge, mild« sowie im zweiten Schritt weiter zu »da des Freundes Auge mild« [S], Diese Darlegung stellt zwar richtigerweise fest, daß der »Sprung« im Falle der Entstehungsreihenfolge [Gl] - [GII] - [S] jeweils »denkbar klein« gewesen wäre, liefert aber keine stichhaltigen Beweise, weshalb die andere Variante nicht doch ebenso möglich sein sollte. Und warum eine direkte Änderung von [Gl] zu [S] in diesem Punkt »psychologisch unwahrscheinlich« ist, erläutert Elema auch nicht näher (vgl. Elema 1962). Bei seinem zweiten zentralen Argument gegen die >Brücken-Theorie< bezieht er sich auf Spiess. Wie dieser führt er aus, die vierte Strophe Charlotte von Steins müsse schon allein deswegen zeitlich nach der vierten Strophe der Goetheschen Überarbeitung entstanden sein, weil sie das dortige Bild des fließendes Flusses impliziere, ohne daß es tatsächlich im Gedicht ausgeführt würde (Elema 1962, 37; vgl. auch Spiess 1928, 80). Abgesehen davon, daß man sehr wohl die Auffassung vertreten könnte, das Wort »verrauschen« sei nach dem Motiv der »Tränen«, die sich in einen Fluß »mischen«, bereits vollauf gerechtfertigt, ließe sich im Umkehrschluß ebensogut folgern, daß für Charlotte von Stein doch eigentlich kein 69
zwingender Grund bestanden hätte, in ihrer vierten Strophe ein Bild zurückzunehmen, das ihr Goethes Vorlage in so vollendeter Form vorgab. Auch die These, »die naheliegende Ideenassoziation« zwischen den Motiven >fließendeTränen< und >fließender Fluß< »bot die Möglichkeit einer Verkoppelung der neuen Strophe, die von stillvergossenen Tränen sprach, mit dem Anfang der vierten Goethischen« (Spiess 1928, 80), vermag eine gänzlich andere Entstehungsgeschichte nicht zwingend auszuschließen, da es Charlotte von Stein in diesem Falle dennoch möglich gewesen wäre, beispielsweise durch Vorziehen der zweiten >Flußstrophe< Goethes (Strophe 6 der Überarbeitung) das Bild des rauschenden Flusses auch in ihr eigenes Gedicht zu überfuhren und es trotzdem in das Tränen-Motiv überzuleiten. Aber all solche spitzfindigen Auseinandersetzungen über Stil und Logik beweisen nichts, denn letztlich laufen sie doch immer auf die Frage hinaus, wieviel sprachliches Feingefühl und dichterisches Vermögen man Charlotte von Stein zubilligt. Spätestens an diesem Punkt wird die Debatte ideologisch und jeder Betrachter zurückgeworfen auf die Frage, wie gut er persönlich mit der Vorstellung leben könnte, Goethe habe einige gelungene Formulierungen Charlotte von Steins in seine Endfassung übernommen. So ist denn auch Hofs Überlegung, eine Brückenfunktion des Steinschen Mondliedes zwischen den beiden Versionen Goethes sei »insofern unwahrscheinlich, als man Charlotte kaum die Erfindung so goethescher Wendungen wie »froh- und trüber Zeit« zutrauen darf« (Hof 1957, 164), nicht mehr als eine rein subjektive Einschätzung, denn, wie Elema hierzu sehr richtig sagt: [A]uf die Frage: weshalb soll eine Frau, die Goethes Ausdrucksweise so gut kannte, [...] nicht einmal imstande gewesen sein, solche Verse zu schreiben, weiss [sie] man keine triftige Antwort zu geben (Elema 1962, 36).'
Und wenn Spiess konstatiert, An den Mond nach meiner Manier weise »ein Gemisch heterogener Bestandteile« auf und könne deshalb »nicht ein und derselben Dichterpersönlichkeit zugeschrieben werden« (Spiess 1928, 78), trifft diese Aussage in gleichem Maße auf Goethes zweite Version zu, sobald man beschließt, diese als das dritte Mondlied zu betrachten. Denn in jedem Fall enthält die letzte der drei Fassungen Elemente beider Vorläufer und damit zweier verschiedener »Dichterpersönlichkeiten«. Keines der ins Feld geführten inhaltlichen Argumente kann somit wirklich überzeugen. Nicht von der Hand zu weisen ist hingegen eine rein logische Betrachtung, die sich auf textkritische Vergleiche gar nicht erst einläßt: Bereits Rhode hatte sich seinerzeit auf den ungewöhnlichen Untertitel nach meiner Manier
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Zumal es gerade im Falle von »froh und trüber Zeit« genügend ähnliche Beispiele in Goethes Texten gibt, die Charlotte von Stein bekannt waren. Vgl. etwa seinen Brief an sie vom 6. September 1777: »Denn wo ich weg bin können Sie auch die Idee lieben die Sie von mir haben, wenn ich da bin wird sie offt gestört, durch meine T h o r und Tollheit« (BW G/St I, 79f.).
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bezogen, den Charlotte von Stein ihrem Mondlied beigefügt hat, und dabei sehr richtig festgestellt: Auch zeigt die Wahl der Überschrift von S »An den Mond nach meiner Manier«, daß die Verfasserin mit S ein von der Vorlage dem Wesen nach Verschiedenes darbieten wollte. (Rhode 1908, 14f.)
Die Schlüsse, die er aus dieser Beobachtung zieht, scheinen allerdings ein wenig willkürlich, da Rhode konstatiert, Goethes Überarbeitung [GII] und das Mondlied Charlotte von Steins [S] gingen »ganz im gleichen Ton«, weswegen sich der Untertitel von [S] keinesfalls auf [GII] beziehen könne und [S] somit vor diesem entstanden sein müsse.10 Eine wesentlich überzeugendere Schlußfolgerung aus der programmatischen Einlassung der Verfasserin zog vermutlich erstmals Arntzen im Goethe-Handbuch. Er nimmt die erste Strophe in den Blick, deren Eingangszeile Charlotte von Stein im Falle der sogenannten >Brücken-Theorie< ja völlig selbständig von »Füllest wieder's liebe Tal« in »Füllest wieder Busch und Tal« abgewandelt haben müßte. Arntzen meint einen solchen Umgang der Verfasserin mit ihrer Vorlage ausschließen zu können, nicht, weil er Charlotte von Stein eine derartige Eigenleistung nicht zutraute, sondern weil eine solche Abänderung gleich der ersten Zeile die unmißverständlich artikulierte Intention der Verfasserin konterkarieren würde: Sie [gemeint ist die erste Strophe; M.W.] ist eine Art Einstimmung, und sie dient als Hinweis auf G[oethe]. Hätte damals nur die erste Fassung vorgelegen, so hätte Frau von Stein nichts veranlassen können, um ihrer »Manier« willen den ersten Vers aus »Füllest wieder's liebe Tal« in »Füllest wieder Busch und Tal« zu ändern, denn es ging ihr ja gerade darum, sich deutlich auf G.s Text zu beziehen, um ihn dann in ihrer »Manier« umzudichten. ( G H b I, 181)
Charlotte von Stein macht klar, daß sie ein Lied An den Mondzu schreiben gedenkt, aber sie schreibt es nicht in den luftleeren Raum, sondern legt offensichtlich Wert auf den intertextuellen Bezug zu jener Vorlage, die sie nun nach ihrer »Manier« wiedergeben will. Hätte ihr wirklich nur die Urversion des Goetheschen Mondliedes vorgelegen und hätte sie diese wie angenommen abgewandelt, hätte sie sich - so Arntzen - des besten Mittels beraubt, diese Vorlage unmißverständlich kenntlich zu machen: des wörtlichen Zitats zumindest der ersten Zeile. Diese Ausführungen sind bestechend und die ihnen zugrundeliegenden Prämissen ganz unbestreitbar richtig, dennoch kann man gegen Arntzens Schlußfolgerung einwenden, daß das Referenzobjekt des Mondliedes nach meiner Manier selbst bei Abwandlung der Eingangszeile über den Titel An den Mond und die beibehaltene Eröffnung »Füllest wieder...« hinreichend markiert bliebe, zumal der Rest der ersten Strophe unverändert bei-
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Eine nicht eben leicht nachzuvollziehende Behauptung, die auch nicht weiter begründet wird, von Ruhl-Anglade aber noch 1 9 9 2 unverständlicherweise als »stichhaltige Argumentation« bezeichnet wurde (Ruhl-Anglade 1992, 2 5 ) . Die Untersuchung der einzelnen Gedichte wird zeigen, daß das zweite Mondlied Goethes und jenes Charlotte von Steins alles andere als »ganz im gleichen Ton« gehen.
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behalten wird. (Auch bei ihrer Parodie von Goethes Gedicht Schäfers Klagelied mit dem Titel Der Schäferin Klagelied- s. S. 163 - ist die erste Zeile nicht ganz wörtlich übernommen worden, sondern der Goethes nur sehr ähnlich.) Somit kann zunächst keine der zwei denkbaren Entstehungsreihenfolgen definitiv verworfen werden. Da beide jedoch auf die [Gl] genannte Fassung zurückgehen, soll zunächst dieses mit Sicherheit erste Mondlied untersucht und die Aufstellung einer Arbeitsthese bezüglich der anzunehmenden Abfolge auch der beiden anderen Versionen einstweilen hintangestellt werden. Möglicherweise kann man sich der Frage nach dem inhaldichen und zeidichen Verhältnis der Mondlieder [GII] und [S] im Anschluß an eine Betrachtung der Urfassung unter anderen Gesichtspunkten nähern, als dies in der Forschungsliteratur bisher unternommen wurde.
4.2
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick Goethes Urfassung von An den Mond
»Will man beweisen, dass [sie] Charlotte die Kontrafaktur nicht ohne Benutzung der ihr vorliegenden zweiten Fassung des Goetheschen Gedichts geschrieben haben kann, so bleibt nur der Weg, von der ersten Fassung auszugehen« (Elema 1962, 37). Dieser These Elemas kann man kaum widersprechen, die Schlußfolgerung gilt aber umgekehrt auch für den Fall, daß man Goethes Kenntnis des Steinschen Mondliedes bei Niederschrift seiner Überarbeitung beweisen wollte. Denn Ausgangspunkt aller Betrachtungen bezüglich der Mondlied-Trias muß stets Goethes Urfassung sein, nur so können die Veränderungen in Gestalt und Gehalt deutlich werden, die in den späteren Versionen vollzogen wurden. Füllest wieder's liebe Thal blieb zunächst unveröffentlicht, war aber in Goethes Freundeskreis wohlbekannt.12 Das Gedicht sei hier noch einmal angeführt: Füllest wieders liebe Thal Still mit Nebelglanz Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick Wie der Liebsten Auge, mild Uber mein Geschick Das du so beweglich kennst Dieses Herz im Brand
' 1 Vgl. Faust. Der Tragödie zweiter Teil, V. 11586 (ΜΑ 18.1, 335). 12 Erhalten ist nicht nur die bereits erwähnte Kopie von Herders Hand, auch Frau von Stein und Louise von Göchhausen haben sich Füllest wieder's liebe Thal abgeschrieben. Körner weist außerdem daraufhin, daß auch Barbara Schultheß in Zürich (der wir die Abschrift von Wilhelm Meisters theatralische Sendung verdanken) das Gedicht kannte (Körner 1936, 25).
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Haltet ihr wie ein Gespenst An den Fluß gebannt Wenn in öder Winternacht Er von Todte schwillt Und bey Frühlingslebens Pracht An den Knospen quillt. Seelig wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt Einen Mann am Busen hält Und mit dem genießt, Was den Menschen unbewußt Oder wohl veracht Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. (BWG/Stl, 103)
Gleich mit dem ersten Wort des ersten Verses löst das Gedicht den programmatischen Titel ein und spricht den Mond als direktes Gegenüber an. Unmittelbar darauf wird mit Hilfe weniger Schlagworte die Kulisse skizziert, vor der diese Ansprache stattfindet, wobei die nächtliche Szenerie nicht als beliebiges Tal erscheint, sondern sich als wohlbekannter Schauplatz entpuppt, zu dem das lyrische Ich eine tiefe innere Verbundenheit fühlt {»[da]s liebe Thal«). Mit dem Erlebnis der Mondnacht an vertrautem Orte geht nun ein wohltuender Einfluß auf das diese Mondnacht erlebende Ich einher, denn die beschriebenen optischen und akustischen Sinneseindrücke — silbrig glänzendes Licht und nächtliche Stille - wirken sich unmittelbar auf dessen psychische Befindlichkeit aus. Der so erzeugte »gelöste« Zustand wird als lang ersehnt beschrieben und scheint gemeinhin nicht häufig einzutreten (»endlich auch einmal«), zumindest nicht annähernd so häufig wie die in regelmäßigen Abständen sich wiederholende Mondnacht (»wieder«). Er verdankt sich vielmehr ausschließlich der konkreten Situation, der Positionierung des lyrischen Ichs in der Stille des von ihm geliebten, derzeit monddurchglänzten Tales.13 Diese Situation, dieser eine, entscheidende Moment, in dem äußere und innere Welt nicht nur als gleichermaßen angenehm empfunden werden, sondern die Seelenlandschaft des lyrischen Ichs durch die sinnlich erfahrene Landschaft des nächtlichen, vom Mond beschienenen Tales regelrecht harmonisiert wird, gibt in den folgenden Strophen Anlaß zu Betrachtungen, die mit Begriffen wie Gedanken- oder Assoziationskette nur unzureichend beschrieben wären. Denn das Gedicht gestaltet kein Fortschreiten in der Zeit, keinen Handlungsablauf oder ein Nacheinander von Einfallen, sondern die Gleichzeitigkeit von Eindrücken
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Ihn zu relativieren, wie Kommerell es tut, wenn er behauptet, daß mit der ersten Strophe die »Verstrickung als noch bestehende anerkannt« würde und das erwähnte »Lösen« lediglich bedeute, »daß sie [gemeint ist die Verstrickung; M.W.] Gegenstand reiner Besinnung wird« (Kommerell 1956, 97), heißt, in unnötigen Widerspruch zu der ausdrücklichen Feststellung des Gedichts zu treten, die Seele würde »ganz« gelöst.
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und intuitiv gewonnenen Erkenntnissen in jenem seltenen und vergänglichen Augenblick, in dem Ich und Welt so übereinstimmen, wie es im Parallelismus der ersten Strophe durch die Präsentia »füllest« und »lösest« ausgedrückt wird. Die beiden somit synchronisierten Erlebnisse - die Wahrnehmung des stillen, mondbeschienenen Tales und die »Lösung« der Seele - stehen zwar in kausalem Zusammenhang und müssen, den Regeln der Schriftlichkeit gehorchend, bei der Niederschrift nacheinander erwähnt werden, ereignen sich jedoch gleichzeitig. An dieser Gleichzeitigkeit haben auch alle weiteren Strophen teil; das Gedicht, in dem sich kein anderes Tempus als immer nur das Präsens findet, ist die sprachliche Gestaltung einer emotionalen Momentaufnahme. So fuhrt denn auch Strophe 2 zunächst den Eindruck aus den ersten beiden Versen fort: Dem Bild vom »liebe[n] Thal«, das der Mond mit seinem Licht »füllt«, korrespondiert die Vorstellung von »mein[em] Gefild«, über das der Angesprochene seinen »Blick« breitet. Und wie schon in der ersten Strophe der Mond gleichermaßen auf die geschaute wie auf die gefühlte Szenerie gewirkt hat, so eng verbunden erscheinen auch hier äußere und innere Welt, wenn der Mond mit »der Liebsten Auge« verglichen wird, deren Blick ebenso über das »Geschick« des lyrischen Ichs schweift wie das Mondlicht »über mein Gefild«. Hier liegt jedoch mehr vor als nur ein einfacher Vergleich, hier wird regelrecht eine Gleichsetzung von >Liebster< und >Mond< vorgenommen, beider Blick ist ebenso »mild« wie »lindernd«.14 Und ganz nebenbei wird damit abermals die tiefe Verbundenheit mit der Landschaft deudich, vor und in der das Ich seine Ansprache an den Mond hält, denn die gleiche sprachliche Konstruktion, die diesen mit der »Liebsten« gleichsetzt, verknüpft auch das jeweils Betrachtete - »mein Gefild« und »mein Geschick« - , so daß das »liebe Thal« und das Schicksal des lyrischen Ichs als zusammengehörig erscheinen. In solcher Prägnanz dürfte erstmals Elema die Bedeutung der Strophe ausgedrückt haben: Vergleich und Verglichenes vermischen sich zu einer Einheit, das Flussgefild ist sein Lebensgefild (bezw. [sie] Geschick), der Schein des Mondes ist das milde Leuchten des Auges. Der Mond ist die Liebste, die Liebste der Mond. (Elema 1962, 40)
Nimmt man diesen sprachlichen Kunstgriff ernst, so erschließt sich auch Strophe 3 mit ihren »bekannten Schwierigkeiten« (Elema 1962, 40) bezüglich der unterschiedlichen Personalpronomina relativ problemlos. Denn so wie sich das »du« aus Vers 9 auf den abermals angesprochenen Mond bezieht (»Das du so beweglich kennst«), so steht der Plural »ihr« in Vers 11 für Liebste und Mond gemeinsam (»Haltet ihr...«). Vereint binden sie das »Herz im Brand« an diese Gegend, zu deren Charakteristika ganz offensichtlich - davon war bisher nicht die Rede - auch ein Fluß gehört. An ihn fühlt sich das zuvor rast- und ruhelose Herz »gebannt«, es
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Wild weist im Goethe-Handbuch daraufhin, daß eine derartige Verquickung der Geliebten mit dem Mond in der Lyrik Goethes für Charlotte von Stein des öfteren vorkommt (GHb I, 151). Als Beispiel nennt er Jägers Abendlied, in dem es heißt: »Mir ist es, denk ich nur an dich, / als in den Mond zu sehn« (MA 2.1, 10).
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wurde gebunden, seine Unruhe gebändigt. Die eingangs konstatierte »Lösung« der Seele durch »lindernden« Blick geht mit dem Gefühl einer unüberwindlichen Bindung des Herzens einher. Wie Gespenster in der volkstümlichen Vorstellung an bestimmte Orte gebunden sind, an denen sie umgehen und die sie nicht verlassen können, wird »Gespenst«, so Körner, in diesem Zusammenhang »ein, freilich nicht glücklicher, Ausdruck für das Zauberhafte, den Willen Übermächtigende sein, das den Dichter zum eignen Erstaunen an der Ilm festhielt« (Körner 1936, 21). Muß man hier auch einwenden, daß der konkret auto(r)biographische Bezug auf die Ilm zwar - insbesondere im Kontext anderer Gedichte an Charlotte von Stein - überaus wahrscheinlich, aber doch keineswegs zwingend ist und daß sich über die mehr oder minder »glückliche« Auswahl von Vergleichen sicherlich trefflich streiten ließe, so ist die Deutung Körners doch im Kern durchaus zutreffend, insbesondere wenn er im folgenden auf eine Reihe von Beispielen verweist, in denen Goethe mit ganz ähnlichen Motiven arbeitet. Das Gedicht Einschränkung etwa, im Sommer 1776 entstanden, beginnt in seiner ersten Fassung mit den Worten Was weiß ich was mir hier gefällt In dieser engen kleinen Welt Mit leisem Zauberband mich hält!
(MA 2.1, 554)
Eine vergleichbare Metapher findet sich auch in Warum gabst Du uns die tiefen Blicke, jenem berühmten Gedicht an Charlotte von Stein vom 14. April 1776: »Hieltest zauberleicht ihn angebunden« [...] (BW G/St I, 26). Drittens verweist Kömer noch auf Ilmenau von 1783, insbesondere auf die Verse 101f., in denen, wie bereits im Mondlied, vom »Bann« die Rede ist: Von fernen Zonen bin ich herverschlagen Und durch die Freundschaft festgebannt. (MA 2.1, 85)
Diesen Beispielen ließen sich noch weitere hinzufügen, insbesondere aus früherer, Frankfurter Zeit, war doch das Bild der magischen Fesselung ein zentrales Motiv der sogenannten >Lili-Lyrik< Goethes, wo es auch schon dazu diente, eine dem »Umgetriebensein« (HA I, 545), dem ruhelosen Streben und Wandern eigentlich widerstrebende Bindung zu beschreiben, so etwa in Neue Liebe, Neues Leben: Will ich rasch mich ihr entziehen Mich ermannen ihr entfliehen; Führet mich im Augenblick Ach mein Weg zu ihr zurück. Und an diesem Zauberfädgen Das sich nicht zerreißen läßt Hält das liebe lose Mädgen Mich so wider willen fest. M u ß in ihrem Zauberkreise Leben nun auf ihre Weise. (MA 1.1, 264f.)
Im Mondlied steht das Motiv nicht mehr in solchem Maße im Kontext von Widerwillen und Abwehr. Strophe 3 artikuliert vielmehr die erstaunte Feststellung
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des lyrischen Ichs, wie stark sich sein sonst doch so »bewegliches« Herz an das Tal mit dem Fluß und die Menschen, die darin leben, gebunden fühlt. 15 Die vierte Strophe deutet die zeitliche Dimension dieser Bindung an und könnte damit eine genauere Datierung des Gedichts ermöglichen. Denn interpretiert man die vagen Hinweise auf »Tal« und »Fluß« tatsächlich biographisch, legt Füllest wieiler's liebe Thal also als lyrische Selbstäußerung des Autors angesichts des mondbeschienenen Ilmtales aus, so ließe sich der Hinweis auf das Verstreichen von Winter und Frühling als Fingerzeig dafür deuten, daß das Gedicht im Frühjahr/Frühsommer 1776 entstand, eben zu jenem Zeitpunkt, als Goethe gerade einen Winter und ein Frühjahr in Weimar zugebracht hatte. 16 Andererseits ist es ein gängiger literarischer Topos, das Vergehen einer nicht näher benannten Frist durch die Abfolge von Jahreszeiten auszudrücken, und vor diesem Hintergrund enthielte Strophe 4 nicht mehr als die Aussage, daß der Zustand des Gebanntseins schon eine Weile besteht und insgesamt auf unbestimmte Zeit angelegt ist. Der damit hergestellte Bezug auf eine bereits verflossene und eine noch zu erwartende Zeitspanne steht jedoch nicht im Widerspruch zu der eingangs formulierten These von der emotionalen Momentaufnahme, deren sprachliche Umsetzung in An den Mond stattfindet. Denn ganz bewußt werden hier selbst Rückschau und Ausblick im Präsens formuliert, so daß die vierte Strophe sich gleichermaßen auf einen vergangenen wie auf einen zukünftigen Zeitraum beziehen kann und damit der »gelöste« Augenblick, dem das Gedicht entspringt, jedem Vorher und Nachher enthoben bleibt. So erhält er in all seiner Vergänglichkeit Dauer, von Mondnacht zu Mondnacht, egal in welcher Jahreszeit. Zeitlos gültig erscheint auch das Fazit, das im letzten Strophenpaar formuliert wird. Seliggepriesen17 wird, »wer sich vor der Welt / Ohne Haß verschließt«,
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Unsinnig erscheint es, wenn Kommereil den »Bann« lediglich der »Liebsten« zuschreibt, ihn deswegen der positiven, lösenden Wirkung des Mondes als negativen Einfluß entgegensetzt u n d zu dem Schluß kommt: »Die Geliebte löst nicht, sie bindet« (Kommereil 1956, 97). Der Augenblick der »Lösung« findet ja gerade im Zustand der »Bannung« statt. Die persönliche Bindung an die Landschaft und ihre Bewohner ist geradezu eine der Voraussetzungen des Lösungsprozesses, sie erst »löst« das Ich aus dem Diktat des »beweglichen« Herzens. Eine entsprechende Interpretation bei Spiess (Spiess 1928, 78). Die - ohnehin wenig logische - datierende Deutung dieser Passage, Goethe gebrauche das Bild des »von Todte« schwellenden Flusses nur, weil sich im Frühjahr 1778 die junge Christel Laßberg in die Ilm stürzte (vgl. Körner 1936, 7: »Läßt sich irgend mit Verstand sagen, daß der Fluß >schwilltMann«< (Kommerell 1956, 97) gebraucht und nicht von Anfang an das später in der Umarbeitung verwendete Wort »Freund«, hat in der Forschungsgeschichte immer wieder für Verwirrung gesorgt, denn bei der Vorstellung eines Männer am Busen haltenden Dichterfürsten geriet man zunächst in Erklärungsnot. Verschiedene Interpretationsmöglichkeiten wurden durchgespielt. Denkbar wäre zum Beispiel, An den Mond As Dialoggedicht aufzufassen, dessen Ende von einer Frau gesprochen wird - bereits Walzel bezeichnete diese Vorstellung jedoch als »notbehelf« [sie] (Walzel 1927, 195). Der weiteren Überlegung, daß man es im Mondlied möglicherweise zwar mit einem durchgehenden Monolog zu tun habe, aber eben mit dem einer Frau (Rollenlyrik also statt Erlebnislyrik), erteilt Kommereil eine energische Absage: »Nein, wir befinden uns im 18. Jahrhundert, wo Männer unentwegt Männer am Busen halten« (Kommerell 1956, 97f.). Entsprechend intensiv wurde nun nachzuweisen versucht, daß das Wort »Busen« damals durchaus auch als Bezeichnung der männlichen Brust gebräuchlich war und sich darüber hinaus in den Werken Goethes gleich mehrfach in gänzlich unerotischem Kontext finden läßt (vgl. beispielsweise Elema 1962, 41), daß also die Formulierung »Einen Mann
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Vorwiegend negativ konnotierte Gefühle wie Verzweiflung oder tiefer Schmerz dürften hier nicht gemeint sein, da man diese wohl kaum »genießen« könnte. Anders verhält es sich dagegen - im Kontext des empfindsamen Freundschaftskultes im ausgehenden 18. Jahrhundert - mit der Melancholie, weswegen man auch fast noch die linde Trauer hinzufugen möchte, so unübersehbar sind die Übereinstimmungen mit Eichendorffs späterem Gedicht (Der) Abend: »Schweigt der Menschen laute Lust: / Rauscht die Erde wie in Träumen / Wunderbar mit allen Bäumen, / Was dem Herzen kaum bewußt, / Alte Zeiten, linde Trauer, / Und es schweifen leise Schauer / Wetterleuchtend durch die Brust« (Eichendorff: Werke I, 255).
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am Busen hält / und mit dem genießt« im vorliegenden Gedicht schlichtweg das meine, was man gemeinhin als >Männerfreundschaft< bezeichnet. Nun ist die große Emotionalität freundschaftlicher Verhältnisse (auch zwischen Männern) zu dieser Zeit hinreichend bekannt, so daß auf umständliche Hilfskonstruktionen wie die Annahme eines Dialog- bzw. Rollengedichts in der Tat verzichtet werden kann. Trotz aller Erklärungen und Belege scheint Mann aber dennoch ein unangemessen eindeutiger Begriff zu sein. Ihn, wie Reinhardt dies tut, »im Sinne von Mensch« aufzufassen (MA2.1, 560), oder, die Umarbeitung vorwegnehmend, auf das spätere Freundin verweisen (vgl. Spiess 1928,76), ist sicherlich ganz im Sinne des Gedichts, vermag die ungewöhnliche Begriffswahl jedoch nicht zu erklären, sondern umgeht sie zugunsten einer Konjektur. Folgt man dieser verbreiteten Praxis, löst sich von dem einzelnen Wort und betrachtet das Ende des Gedichts als Ganzes, so preist das letzte Strophenpaar das Glück all derer, die in der Lage sind, sich von »der Welt« in die traute Zweisamkeit einer engen, liebevollen Freundschaft zurückzuziehen, und die »den Menschen« nicht mit dem Welthaß des Einzelgängers als im Wortsinne Asoziale den Rücken zukehren. Nur wer solche Momente, in denen die Seele »auch einmal ganz« gelöst wird, mit einem Mannt FreundlMenschen teilen kann, ist »seelig« (und unterscheidet sich damit grundlegend von jenen »guten Seelen«, die der Herausgeber der Leiden desjungen Werthers mahnend anspricht, weil sie »eben den Drang« fühlen wie der Held des Romans, und die anstelle eines Menschen »das Büchlein« zum Freund nehmen müssen, weil sie »aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden« können 19 ). Das Gedicht gerät dadurch in seinen letzten Strophen zur Feier vertrauensvoller Seelengemeinschaft, und die klare Gliederung in drei inhaltlich zusammengehörende Strophenpaare korrespondiert dieser Grundaussage auch formal. Unklar bleibt jedoch, ob solch gepriesene Zweisamkeit zur Realität des lyrischen Ichs gehört oder ob sie lediglich Wunschdenken ist. Die Vorstellung einer Rede an den Mond impliziert gewöhnlich die Einsamkeit des Sprechers, das Ich wäre also zwar »vor der Welt verschlossen«, hielte aber dennoch niemanden »am Busen«, mit dem es das »den Menschen Unbewußte« genießen könnte. Kaum denkbar, daß der »Mond« diese Position stellvertretend einnimmt; auch hier irritiert das Wort »Mann« wieder, es scheint einer solchen Interpretation zu widersprechen. Dennoch präsentiert sich das Finale des Gedichts wie die vertiefende Darlegung seiner Eingangsstrophen: »Das was dort als Lösung der Seele im milden Lichte der Mondnacht dankbar gepriesen wird, das erfährt hier gleichsam seine genauere Erläuterung« (Korff 19581, 208). Es erscheint unsinnig, einen deutlichen Gegensatz zwischen dem Anfang und dem Ende anzunehmen, wie er bestünde, wenn das lyrische Ich selbst einer jener Menschen wäre, die sich nur mit Haß »vor der
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Vgl. MA 1.2, 197: »Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst.«
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Welt« verschließen können, aus dieser negativen Haltung heraus jedoch gerade das Gegenteil priese. Positiv konnotierte Begriffe wie »Lösest«, »Lindernd« und »mild« sprechen gegen die Annahme einer solchen haßerfüllten Abkehr. Vielmehr ist davon auszugehen, daß das lyrische Ich in jenem Moment, der ihm angesichts des nächtlichen Tales die Seele »löst«, zu der Erkenntnis gelangt, die es in den letzten beiden Strophen ausspricht. Müßig zu diskutieren, ob da möglicherweise noch jemand anwesend ist, der im Gedicht nur nicht zu Wort kommt, ob eines momentan abwesenden Freundes gedacht oder einfach (irgend)ein befreundeter Mensch herbeigesehnt wird - im Augenblick seiner erlebnismäßigen Einheit mit der Natur, dieser vom Mond ausgelösten unio mystica von Ich und Welt (die bezeichnenderweise nur in Abgeschlossenheit von »der Welt« und »den Menschen« erfolgen kann), hat der Sprecher teil an der grundlegenden Erkenntnis, daß es Seligkeit bedeutet, eine solche Einheit auch mit einem befreundeten oder geliebten Menschen herzustellen und seine Gefühle mit diesem zu teilen. Wohlgemerkt: sie zu teilen, nicht sie mitzuteilen, denn es geht in dem Gedicht an keiner Stelle um wörtliche Rede. Gipfel der Seligkeit ist vielmehr die sprachlose, gefühlsmäßige Teilhabe an dem, was »unbewußt« im »Labyrinth der Brust wandelt« und ohnehin kaum in Worte zu fassen ist. Paradoxerweise leistet diese Urfassung des Mondliedes aber genau das. Sie verleiht dem Gefühl eines einzigen, »gelösten« Moments sprachlichen Ausdruck und stellt, jedem Zeitkontinuum enthoben, dar, wie das lyrische Ich zu der im Wortsinne augenblicklichen Teilhabe einer als überzeitlich gültig aufgefaßten Gewißheit gelangt. Mit der intuitiv erlangten Erkenntnis vom seligmachenden Wert liebevoller Freundschaft schließt sich der Kreis, der mit der Betrachtung eines geliebten Tales und mit der eigenen, schicksalhaften Gebundenheit daran begonnen hatte, und über die Bindung an die dieses Tal bewohnenden Personen - insbesondere an die »Liebste« — schließlich folgerichtig zu jenem (Vor)Gefühl von Seligkeit führte, das sich in den letzten beiden Strophen geradezu aufatmend Bahn bricht. Ζ7«//«/ wieder's liebe Thal besiegelt damit die Absage an die Herrschaft des bisher so »beweglichen« Herzens und die Hinwendung zu persönlicher, intimer Bindung. Wer sich nicht — wie Werther — in seinem Außenseitertum verliert und froh ist, »weg« zu sein (MA 1.2, 197), dem eröffnet sich in solcher Freundschaft ein Weg, im täglichen Konflikt zwischen Ich und Gesellschaft weder durch Vereinzelung unter- noch durch Anpassung konturlos aufzugehen - für den Autor angesichts der Frage, wie und wo er sein weiteres Leben verbringen wollte, sicherlich eine verlockende Option. Goethe stand in jener Zeit (die später zur >ersten Weimarer Zeit< wurde, sehr wohl aber auch hätte ein kurzes Intermezzo bleiben können) vor der Entscheidung, entweder das Angebot Carl Augusts anzunehmen und am Weimarer Hof zu bleiben, oder letztlich doch weiterzuziehen, 20 was eventuell
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Vgl. beispielsweise sein Brief an Charlotte von Stein vom 29. Januar 1776: »Es geht mir verflucht durch Kopf und Herz ob ich bleibe oder gehe« (BW G/St I, 16). Und noch am
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bedeutet hätte, in die Geburtsstadt Frankfurt zurückzukehren. Gedichte wie das oben erwähnte Einschränkung bringen das damalige subjektive Empfinden des Dichters derart deutlich zum Ausdruck, und sie tun dies, wie gesehen, in zum Teil so ähnlichen Worten, daß es legitim erscheint, auch hinter dem lyrischen Ich des Mondliedes zu einem nicht geringen Teil Goethe selbst zu vermuten. Gerade vor diesem Hintergrund aber erscheint das Wort Mann abermals deplaziert, weil es die »Liebste«, der im Gedicht eingangs so viel Raum gegeben wurde, aus dem Fazit der Schlußstrophen auszunehmen scheint. Auch Walzel wundert sich, »wie ein gedieht [sie] das sich so merklich an frau von Stein wendet, zuletzt nicht sie, sondern einen mann als den genossen nächtlicher selbstschau nennt, an entscheidender stelle also frau von Stein ausschaltet« (Walzel 1927, 194). Schließt man eine Klassifikation des Mondliedes als Rollen- oder Dialoggedicht aus, so mag es zwei mögliche Begründungen geben. Die erste ist so einfach wie prosaisch und geht, mit Bezug auf die spätere Korrektur, schlichtweg von einer mißglückten Formulierung aus, die bei Überarbeitung verbessert wurde. Die zweite ist recht spitzfindig, dabei aber ebenso denkbar (und letztlich leider ebensowenig zu beweisen). Angesichts der kaum zu überschätzenden Bedeutung, die der Austausch mit Charlotte von Stein während des ersten Weimarer Jahrzehnts für Goethe hatte, stellt sich die Frage, ob der »seltsam starke Ausdruck >MannFreundMännerfreundschaft< noch die sexuelle Konnotation eines erotischen Liebesverhältnisses beschränkt.21 So ist etwa Reinhardts Feststellung, daß im Mondlied »zwischen Liebe und Freundschaft nicht mehr unterschieden wird« (MA 2.1, 560), nicht von der Hand zu weisen, und es deckt sich die Vorstellung eines solch universalen Gefühlsspektrums durchaus mit dem Empfinden des jungen Goethe zu jener Zeit, dessen Verhältnis zu Carl August Friedenthal in seiner Biographie als »veritable Freundschaft, fast Liebschaft« (Friedenthal 1963, 231) und Goethe selbst sogar nicht mehr allein als »Liebschafft«, sondern regelrecht als »Ehe« bezeichnet.22 Auch in der Beziehung zu Charlotte von Stein verwischen die definierten Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe, was nicht zuletzt durch die Tatsache illustriert wird, daß die Debatte über »die Frage, ob es denn nun irgendwann zwischen diesen beiden Menschen wohl zum >Letzten< gekommen sei« (Friedenthal 1963, 258), bis heute anhält. Die zunehmende Bekanntschaft mit Land und Leuten und insbesondere die enge Bindung an diese beiden geliebten Freunde ließen für Goethe in jenen Monaten das Ilmtal zum »lieben Tal« werden. So manifestiert sich in der ursprünglichen Gestalt des Mondliedes das glückliche Gefühl, endlich zur Ruhe gekommen zu sein, den bisherigen »Brand« des Herzens gestillt und erstmals einen Ort gefunden zu haben, an dem Ich und Welt - zumindest für Augenblicke - durch die Erfahrung freundschaftlich-liebevoller Gemeinschaft zu einem harmonischen Miteinander gelangen können.
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Mit einer geradezu abenteuerlichen Argumentation zieht Ruhl-Anglade gegen Deutungen zu Felde, die in der zwischenmenschlichen Nähe, wie sie sich in diesen Zeilen ausdrückt, etwas anderes sehen wollen als ausschließlich den Ausdruck einer erotischen Liebesbeziehung: »Goethes Gedicht leitet in Tiecks Briefnovelle Der Mondsüchtige (1832) die Begegnung zwischen Ludwig Licht und Emilie in einer warmen Frühlingsnacht bei Vollmondschein ein und begleitet kurz danach den Ausdruck seines Schmerzes über das rasche Entschwinden der halb unbekannten Geliebten. Wäre auch nur der geringste Zweifel über die Natur dieser Verse möglich - Liebesverse oder Lob einer edlen Männerfreundschaft - hätte Tieck bei seinem überaus fein ausgeprägten literarischen Empfinden sie gewiß nicht in einem derartigen Kontext verwendet« (Ruhl-Anglade 1992, 29). Vgl. Goethes Brief vom 9. Juli 1776 an Johann Christian und Charlotte Kestner, geb. Buff: »Der Herzog mit dem ich nun schon an die 9 Monate in der wahrsten und innigsten Seelen Verbindung stehe, hat mich endlich auch an seine Geschaffte gebunden, aus unsrer Liebschafft ist eine Ehe entstanden, die Gott seegne«. Vgl. Goethe: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887—1919 (Weimarer Ausgabe). Abt. IV, Bd. 3, S. 81. - Im folgenden: WA.
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4 . 3 Z u r D a t i e r u n g des Mondliedes nach meiner
Manier
Wendet man sich nun vor dem Hintergrund der gewonnenen Einblicke den beiden Überarbeitungen von Füllest wieder's liebe Thal zu, so kommt man selbst bei obeflächlicher Betrachtung nicht umhin festzustellen, daß sie beide die Grundaussage der Urfassung völlig verändern. Dem als »gelöst« und glücklich empfundenen Augenblick freundschaftlicher Bindung wird die schmerzvolle Rückschau auf verflossenes Glück entgegengestellt. Im Falle der Überarbeitung Goethes ist dabei letztlich - wie im einzelnen zu zeigen sein wird (s. S. lOOff.) - eine erfolgreiche Bewältigung des Schmerzes auszumachen, während in der Paraphrase Charlotte von Steins das Leiden andauert und das lyrische Ich in seiner Verzweiflung auf sich selbst zurückgeworfen wird. Da es sich als schwierig erwiesen hat, aus den jeweils anzunehmenden Veränderungsschritten in Syntax und Semantik beweiskräftige Rückschlüsse auf die Entstehungsreihenfolge dieser beiden Gedichte zu ziehen, ohne dabei einfach nur ein vorgefaßtes Urteil aus den Texten herauszulesen, muß versucht werden, sich der Frage nach dem zeitlichen Verhältnis der Mondlieder auf anderem Wege zu nähern. Wie gesehen, ist die Faktenlage spärlich und jeder scheinbare Beleg schnell in Zweifel gezogen. Der einzige konkrete zeitliche Hinweis ist die Überschrift jenes Gedichts, mit dem zusammen Charlotte von Stein ihr Mondlied niedergeschrieben hat: In Kochberg im September] 1786P Bezüglich der Frage, inwieweit jene Datumsangabe auch auf das Steinsche Mondlied zu übertragen ist, führt Körner aus: Daß beide Gedichte auf ein und demselben Blatt stehen, müßte noch nicht die Gleichzeitigkeit ihrer Geburt bedeuten; das datierte könnte ja zu späterer Zeit aus der Urkladde kopiert oder das andere erst nach Jahren beigefügt sein. Indes wird das Glaubwürdigere der Isochrome verstärkt durch die Tatsache, daß die Steinschen Niederschriften auch in Motivik und Versmaß völlig zusammenstimmen. (Körner 1936, 27)
Kann man bezüglich des Versmaßes auch über das Maß »völliger« Übereinstimmung streiten, so ist Körners Feststellung, was die Motivik betrifft, in der Tat nur zuzustimmen. In beiden Liedern (eine ausführliche Interpretation auch des zweiten Gedichts s. S. 11 Iff.) beklagt ein verlassenes lyrisches Ich das Scheiden des Freundes. Hier wie dort sind Einsamkeit und Schmerz die beherrschenden Themen, und auch das Leiden an der Erinnerung vergangener Zeiten sowie der daraus resultierende Wunsch, das erinnerte »Bild« des Geschiedenen möge doch endlich getilgt werden, findet sich in beiden Gedichten. 24 Beide behandeln das
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Dieses Gedicht mit der Eingangszeile »Ihr Gedancken fliehet mich« wird zu einem späteren Zeitpunkt Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein (s. S. 111). Im Mondlied nach meiner Manier heißt es zu Beginn der dritten Strophe: »Lösch das Bild aus meinem Hertz / vom geschiednen Freund«, in Ihr Gedancken fliehet mich ergeht in der letzten Strophe die Bitte: »Schutzgeist! Hüll mir auch noch ein / seines Bildes letzten Schein«.
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gleiche Thema in ähnlichen Bildern, weswegen es naheliegt anzunehmen, daß sie tatsächlich auch ungefähr zur selben Zeit entstanden sind, zumal sie ja aufVorderund Rückseite desselben Bogens stehen. Diese Vermutung läßt sich auch dadurch stützen, daß die in den Gedichten geschilderte Situation des lyrischen Ichs exakt jener Charlotte von Steins in dem genannten Monat, September 1786, entspricht. Goethe hatte seine Reise nach Italien von langer Hand geplant, aber außer seinem Diener Seidel niemanden eingeweiht, auch die Freundin nicht (vermutlich aus Furcht, letztlich doch noch von seinem Vorhaben abgebracht zu werden). Da er ihr zwar täglich schrieb, seine tagebuchartigen Briefe jedoch sammelte und erstmals von Venedig aus gebündelt nach Weimar schickte, da außerdem durch ein Versehen Seidels sie diese Sendung nicht gleich erreichte, blieb Charlotte von Stein wochenlang ohne Nachricht von Goethe. Für seine bislang engste Vertraute verwandelte sich die anfängliche Sorge schnell in das Gefühl, endgültig verlassen worden zu sein, sie empfand sein Verhalten als Bruch der langjährigen Freundschaft. Als sie endlich Nachricht aus Italien erhielt - scheinbar ohne jede bevorzugte Behandlung, gemeinsam mit den anderen Weimarer Freunden —, reagierte sie gekränkt und schroff. Goethe berichtet in seinen Briefen aus Rom nur von einem Zettelgen, das einem Brief Seidels beigelegen habe. In diesem kurzen Schreiben scheint Charlotte von Stein Goethes abschiedslosen Aufbruch in aller Schärfe als Aufkündigung der Freundschaft ausgelegt und ihn zur Rückgabe all ihrer Briefe aufgefordert zu haben. 25 Die im Mondlied nach meiner Manier entworfene Szenerie fügt sich bruchlos in die Kochberger Situation nach Goethes Verschwinden ein. Schmerz und Enttäuschung der Verlassenen sind die gleichen, die sich auch in den ersten Briefen vermuten lassen, die Charlotte von Stein nach Rom schrieb (und die, wie fast alle ihre Briefe, bedauerlicherweise nicht erhalten sind). So antwortet ihr nämlich Goethe am 23. Dezember 1786: Laß mich dir nur noch für deinen Brief dancken! Laß mich einen Augenblick vergessen was er schmerzliches enthält. [...] Nur bitr ich dich: sieh mich nicht von dir geschieden an, nichts in der Welt kann mir ersetzen was ich an dir, was ich an meinen Verhältnißen dort verlöhre. (BW G/St II, 324)
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Vgl. Goethes Brief vom 8. Dezember 1786: »Das war also alles was du einem Freunde, einem Geliebten zu sagen hattest, der sich so lange nach einem guten Worte von dir sehnt. [...] Möge doch bald mein Packet das ich von Venedig abschickte ankommen, und dir ein Zeugniß geben wie sehr ich dich liebe. [...] Die Kasten auf dem Archive gehören dein, liebst du mich noch ein wenig; so eröffne sie nicht eher als biß du Nachricht von meinem Todte hast, so lang ich lebe laß mir die Hoffnung sie in deiner Gegenwart zu eröffnen« (BW G/St II, 319). In einem der hier von Goethe erwähnten Kasten befanden sich die gesammelten Briefe Charlotte von Steins (vgl. BW G/St III, 198). Weiteren Aufschluß über den Inhalt des »Zettelgens« gibt auch Goethes Schreiben vom 13. Dezember: »Dein Zettelchen hat mich geschmerzt aber am meisten dadrum daß ich dir Schmerzen verursacht habe. Du willst mir schweigen? du willst die Zeugniße deiner Liebe zurücknehmen? Das kannst du nicht ohne viel zu leiden, und ich bin schuld daran« (BW G/St II, 320).
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Von einem »geschiednen Freund« spricht auch die dritte Strophe des Mondliedes nach meiner Manier, evoziert darüberhinaus aber gemeinsam mit der Vorgängerstrophe auch in ganz wörtlichem Sinne das Bild eines Freundes, der sich nicht allein emotional entfernt, sondern regelrecht in räumliche Distanz zum lyrischen Ich begeben hat - ein Eindruck, der ganz jenem gleicht, den Charlotte von Stein im September 1786 von ihrem Verhältnis zu Goethe gewonnen haben mußte. (In Ihr Gedancken fliehet mich ist im gleichen Zusammenhang vom »entwichnen« Freund die Rede.) Diese Beobachtungen mögen vage erscheinen, sie erhärten jedoch den Verdacht, daß die naheliegende Datierung des Steinschen Klageliedes Ihr Gedancken fliehet mich auf September 1786 nicht nur als höchstwahrscheinlich zutreffend angesehen werden muß, sondern daß darüberhinaus wenig Grund besteht, diese Datierung nicht auch für das Mondlied nach meiner Manier auf der Rückseite desselben Blattes anzunehmen. Zumindest von großer zeitlicher Nähe der Entstehung beider Gedichte kann ausgegangen werden. Man scheint der vorgefundenen Faktenlage und der Datierung von der Hand Charlotte von Steins also vertrauen zu können, zumindest bestehen keine gewichtigen Gründe, an der Datumsangabe der Verfasserin zu zweifeln.
4.4 Zur Datierung von Goethes Füllest wieder Busch und Tal Die einzige erhaltene Handschrift von Goethes Überarbeitung seines früheren Mondliedes ist Teil der Gedichtsammlung, die er im Herbst 1788 fiir den achten Band seiner Werke zusammenstellte. Mit diesem Band sollte erstmals auch eine größere Auswahl seiner Lyrik veröffentlicht werden, und Goethe überarbeitete bei den Vorbereitungen eine ganze Reihe früherer Gedichte. Daß auch An den Mond erst in dieser Zeit seine endgültige Gestalt erhielt, ist damit freilich noch nicht bewiesen. Besonders hartnäckig weist man auf diese Beweislücke jedoch vor allem dort hin, wo vor dem Hintergrund der doch relativ gesicherten Datierung des Steinschen Mondliedes auf 1786 die Entstehung der Neufassung Goethes vor seiner Abreise nach Italien als zwingend notwendig erachtet wird, um nicht am Ende doch Charlotte von Stein Formulierungen wie den »Nachklang froh und trüber Zeit« verdanken zu müssen. Und so argumentiert denn auch Spiess: Am nächsten läge es also anzunehmen, die Neubearbeitung falle in das Jahr 1788, die Zeit der Vorbereitung des 8. Bandes der »Schriften«; stände dem nur nicht die Parodie der Frau v. Stein entgegen, die nach allgemeiner, unbestreitbarer Annahme bald nach Goethes Abreise nach Italien entstanden ist und uns zwingt die Umdichtung in einer frühere Zeit zu verlegen. (Spiess 1928, 86)
»Gezwungen« ist dazu vorerst nur, wer die gewünschte Entstehungsreihenfolge, die es im Anschluß doch erst zu beweisen gilt, bereits vor Augen hat. Geht man aber, wie oben beim Mondlied nach meiner Manier geschehen, zunächst einmal
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nur vom einzelnen Gedicht und den diesbezüglich überlieferten Fakten aus, stellt man also nüchtern fest, daß es eine einzige Handschrift von Goethes Füllest wieder Busch und Zsr/gibt und daß diese aus dem Herbst 1788 stammt, so muß der nächste Schritt der sein zu überprüfen, ob eine Entstehung des Gedichts in diesem Sommer/Spätsommer/Herbst 1788, der Zeit nach der Rückkehr aus Italien, denn prinzipiell für möglich gehalten werden kann. Wie an anderer Stelle bereits angedeutet und schon bei oberflächlicher Betrachtung ersichtlich, weichen die neun Strophen der Endfassung in erheblichem Maße von der Grundaussage des Originals ab. So kann insbesondere die fünfte Strophe als Ausdruck größter Verzweiflung über verlorenes Glück gewertet werden. Die tiefe emotionale Bindung zwischen lyrischem Ich und dem »lieben Tal« mit seinen Bewohnern, die in der Urfassung noch beschworen wurde, gehört nunmehr der Vergangenheit an, und das Ich leidet unter diesem ins Negative veränderten Zustand. Stellt man nun die Frage nach der Ursache einer solch tiefgreifenden inhaltlichen Veränderung, so muß man daran erinnern, wie nahtlos sich die Urfassung einer auto(r)biographischen Interpretation einfügen ließe, indem sie ziemlich genau das Lebensgefühl Goethes während seiner ersten Weimarer Zeit widerspiegelt (soweit dieses sich anhand der Quellen erschließen läßt). Ohne grundlegende Verständnisprobleme hervorzurufen, ist aber andererseits auch ein völliges Absehen vom Autor-Ich bei der Lektüre des ursprünglichen Mondliedes derart problemlos möglich, daß von daher eigentlich kein zwingender Grund für eine Umarbeitung bestand. Goethe brauchte angesichts einer Veröffentlichung auch nicht zu befürchten, allzu persönliche Details preiszugeben oder Personen seines Umfeldes zu diskreditieren - zumal Füllest wieder's liebe Thal im Freundes- und Bekanntenkreis ja ohnehin bekannt war. Dennoch veränderte er den Charakter des Gedichts von Grund auf. Es ist daher davon auszugehen, daß auch persönliche Befindlichkeiten zu dem Entschluß beigetragen haben, seinem Mondlied diese völlig andere Richtung zu geben, da rein formale oder stilistische Verbesserungen einen solchen inhaltlichen Umsturz nicht nötig gemacht hätten. Daß die persönliche Distanz zu einigen der im Zuge der redaktionellen Vorarbeiten wieder vorgenommenen Gedichte nach etlichen Jahren doch recht groß geworden ist, drückt sich in Goethes Brief vom 1. Februar 1788 aus, dem letzten, den er an Charlotte von Stein kurz vor seiner Heimreise aus Rom schreibt. Darin heißt es: Zugleich habe ich meine kleinen Gedichte durchgesehen und an den achten Band gedacht, den ich vielleicht vor dem siebenten herausgebe. Es ist ein wunderlich Ding, so ein Summa Summarum seines Lebens zu ziehen. Wie wenig Spur bleibt doch von einer Existenz zurück! (BW G/St II, 378)
Aber nicht nur die Konfrontation mit seiner dichterischen, auch jene mit seiner privaten Vergangenheit weckt in ihm die Erkenntnis, daß »von einer Existenz« mitunter nur »wenig Spur« bleibt. Das Wiederanknüpfen an sein früheres Leben
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in Weimar fällt Goethe nach rund zweijährigem Aufenthalt unter südlicher Sonne nicht leicht. O f t zitiert wurden die Worte, mit denen er viele Jahre später, 1 8 1 7 , das frustrierende Gefühl beschrieb, das ihn bald nach der Heimkehr im Kreis seiner Freunde und Kollegen befiel: Aus Italien dem formreichen war ich in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu vertauschen; die Freunde, statt mich zu trösten und wieder an sich zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung. Mein Entzücken über entfernteste, kaum bekannte Gegenstände, mein Leiden, meine Klagen über das Verlorne schien sie zu beleidigen, ich vermißte jede Teilnahme, niemand verstand meine Sprache. In diesen peinlichen Zustand wußt' ich mich nicht zu finden, die Entbehrung war zu groß an welche sich der äußere Sinn gewöhnen sollte, der Geist erwachte sonach, und, suchte sich schadlos zu halten. 26 (MA 12, 69) Was Goethe hier aus der Rückschau beschreibt, läßt sich auch an seinen Briefen des Jahres 1 7 8 8 festmachen. Der »düstere« deutsche Himmel belastet ihn: Der trübe Himmel verschlingt alle Farben. (Am 22. Juli an Charlotte von Stein, BW G/St II, 380) Die Witterung macht mich ganz unglücklich und ich befinde mich nirgends wohl als in meinem Stübchen, da wird ein Caminfeuer angemacht und es mag regnen wie es will. (Am 31. August an Charlotte von Stein, 1960: BW G/ST II, 381) Das Wetter ist immer sehr betrübt und ertödtet meinen Geist; wenn das Barometer tief steht und die Landschaft keine Farben hat, wie kann man leben? (Anfang September an Herder, WA-IV, Bd. 9, 19) Trotz dieser klimatischen Widrigkeiten will er irgendwie »so fortleben wie ich kann ob es gleich eine sonderbare Aufgabe ist« (am 22. Juli an Charlotte von Stein, B W G/St II, 3 8 0 ) und obwohl er sich, wie er Charlotte von Stein am 24. August schreibt, »gänzlich unnütz« fühlt ( B W G/St II, 3 8 1 ) . Noch nicht lange wieder daheim, enerviert ihn selbst Carl August, sein >Ehe-Partner< von 1 7 7 6 , derart, daß er der Freundin gegenüber klagt: Es ist wieder ein rechtes Probestückchen wie er sich und andern das Leben sauer macht. Ich mache so ein gut Gesicht als möglich und bin in einer innerlichen Verzweiflung, nicht über diesen besondern Fall, sondern weil dieser Fall wieder sein und unser ganzes Schicksal repräsentirt. Ich mag nichts weiter sagen und klagen, (am 24. August, BW G/St II, 380f.)
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In der 1822 erschienenen Campagne in Frankreich merkt Goethe rückblickend auf den Beginn der 1790er Jahre auch noch einmal an: »Man kann sich keinen isoliertem Menschen denken, als ich damals war und lange Zeit blieb« (MA 14, 468). Aus den Aufzeichnungen Fritz von Steins geht hervor, daß die Stimmung in Weimar bereits vor Goethes Rückkehr im Sommer 1788 verbreitet gegen diesen gerichtet war. Seinem Bruder Karl schreibt er am 14. Januar 1788: »[I]ch wollte auch, es wär mit dem Geheimen Rat anders, als es ist, denn daß er wiederkäm, wollte ich nicht, weil er Feinde hier hat und er immer hier mißvergnügt ist, und doch möchte ich gern bei ihm sein. Man gibt es ihm schuld, daß die Herzogin Mutter nach Italien geht, und das verdenkt man ihm sehr. Aber man tut ihm unrecht. Auf ihr Verlangen hat er einen Italiener geschickt, der sie auf ihrer Reise begleiten wird« (Karl von Stein: Vertrauliche Mitteilungen, 51).
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Der nächste Satz lautet: »In einiger Zeit schicke ich dir die Abschriften meiner Gedichte«. In dieser ganzen Zeit also, in der ihm, der noch ganz unter dem Eindruck seiner Italienerlebnisse steht, das Wiedereinleben so schwer gemacht wird, sitzt Goethe an der endgültigen Zusammenstellung seiner Gedichte für den Druck: »Mein achter Band ist bald zusammengeschrieben« (am 12. August an Charlotte von Stein, BW G/St II, 380). Erst am 22. September meldet er Herder: »Mein achter Band ist in Ordnung« (WA-IV, Bd. 9, 33). Ein Jahr später, am 1. Juni 1789, als es aufgrund fortschreitender Entfremdung und seiner Beziehung mit Christiane Vulpius zum endgültigen Bruch mit Charlotte von Stein kommt, wird Goethe dieser rückblickend vorwerfen: Leider warst du, als ich ankam, in einer sonderbaren Stimmung und ich gestehe aufrichtig: daß die Art wie du mich empfingst, wie mich andre nahmen, für mich äußerst empfindlich war. Ich sah Herdern, die Herzoginn verreisen, einen mir dringend angebotnen Platz im Wagen leer, ich blieb um der Freunde willen, wie ich um ihrentwillen gekommen war und mußte mir in demselben Augenblick hartnäckig wiederhohlen laßen, ich hätte nur wegbleiben können, ich nehme doch keinen Theil an den Menschen. (BW G/St II, 383)
Für den frostigen Empfang, den insbesondere Charlotte von Stein ihm bereitet hatte, gibt es auch noch andere Zeugnisse als die möglicherweise ungerechten Schreiben aus der Zeit des völligen Zerwürfnisses. Die Briefe der stets gut informierten Karoline Herder etwa bieten hier reichhaltiges Material. Am 12. September 1788 berichtet sie ihrem Mann von einer Fahrt, die sie am 5. des Monats mit einigen Freunden, darunter Goethe, nach Schloß Kochberg, dem Landsitz der Baronin von Stein, unternommen hatte: Um halb 11 Uhr hatten wir den stoßigen Weg geendigt. Lotte Lengefeld kam zuerst, uns zu empfangen; dann die Frau von Stein, die uns alle freundlich empfing, doch ihn ohne Herz. Das verstimmte ihn den ganzen Tag. 27 (Goethe in vertraulichen Briefen I, 360)
Und bereits zwei Wochen zuvor, am 29. August, hatte Herder lesen können: Sie ist noch immer nicht herzlich mit Goethe, das merk ich aus allem. (Goethe in vertraulichen Briefen I, 360)
Es ließe sich noch eine ganze Reihe weiterer Belege aus diesem Sommer, Spätsommer und Herbst 1788 anführen, die Grundtendenz dürfte aber bereits klar geworden sein. Die Umarbeitung eines Gedichts, das so sehr mit der Stimmung der freundschaftlichen Nähe, der Zuversicht und persönlichen Bindung arbeitet, das zudem in solchem Maße mit den Menschen und Empfindungen der allerers-
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Am folgenden Tag wurde im übrigen ein gemeinsamer Spaziergang bei »lieblichem« Mond unternommen, und auch ein Tagesausflug am 8. September endete mit einer Rückfahrt »im Mondschein«. Wollte man also ein weiteres Mond-Erlebnis Goethes in den Ring werfen, dem die Überarbeitung seines Mondliedes zu verdanken sein könnte (zudem eines in entsprechend angespannter Stimmung), so bieten sich die klaren Thüringischen Nächte von Anfang September 1788 hierfür geradezu an (vgl. Goethes Briefe an Frau von Stein. Hg. von Adolf Schöll. Frankfurt a. M . 1899-1900. Bd. II. S. 313).
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ten W e i m a r e r Jahre v e r b u n d e n ist, hin zu e i n e m G e d i c h t , d a s gerade d e m S c h m e r z über d e n Verlust solcher »kostbaren« D i n g e A u s d r u c k verleiht, k ö n n t e i m J a h r e 1 7 8 8 sehr w o h l s t a t t g e f u n d e n haben. G o e t h e gelingt es nicht, über die Barriere einer zweijährigen Abwesenheit voll intensivster Erlebnisse a u f allen G e b i e t e n des L e b e n s hinweg die B e z i e h u n g zu d e n D a h e i m g e b l i e b e n e n bruchlos wieder a u f z u n e h m e n . D i e F r e u n d s c h a f t m i t C h a r l o t t e v o n Stein erlischt zusehends. H e r der, A n n a A m a l i a u n d die G ö c h h a u s e n m a c h e n es G o e t h e nach u n d fahren nach Italien, das er gerade so schweren H e r z e n s verlassen hat. E r selbst bleibt zurück u n d leidet z u d e m unter den klimatischen B e d i n g u n g e n , die i h m den A u f e n t h a l t in D e u t s c h l a n d i m m e r unerträglicher erscheinen lassen. D i e » E i n b i n d u n g der individuellen E n t w i c k l u n g in die bestehenden B e z i e h u n g e n « (Anderegg 2 0 0 1 , 1 1 5 ) scheitert. Seine frühere »Existenz« m u ß t e G o e t h e unter diesen U m s t ä n d e n definitiv als der Vergangenheit z u g e h ö r i g betrachten, u n d die (vermutlich i m Juli 1 7 8 8 ) b e g i n n e n d e B e z i e h u n g m i t C h r i s t i a n e V u l p i u s wird das ihrige dazu beigetragen h a b e n , solche G e f ü h l e zu bestärken. D e r Z e i t r a u m , aus d e m die einzige überlieferte H a n d s c h r i f t des überarbeiteten M o n d l i e d e s s t a m m t , k ä m e vor d i e s e m H i n t e r g r u n d also d u r c h a u s auch als E n t s t e h u n g s z e i t r a u m der neuen F a s s u n g in Frage. G e k l ä r t werden m ü ß t e n u n , o b es andere, frühere Phasen gibt, von denen solches in vergleichbarem M a ß e behauptet w e r d e n k a n n . W e n n n u n aber auch über k a u m einen d e u t s c h e n D i c h t e r so viel z u s a m m e n g e t r a g e n w u r d e wie über G o e t h e , so daß sich sein L e b e n gleichsam T a g für T a g verfolgen läßt (vgl. etwa Steigers d o k u m e n t a r i s c h e C h r o n i k Goethes Leben von Tag zu Tag), bleibt eine solche U n t e r s u c h u n g letztlich d o c h i m m e r spekulativ. G l e i c h w o h l fällt es schwer, einen Z e i t p u n k t zwischen 1 7 7 6 / 7 8 u n d 1 7 8 8 a u s z u m a c h e n , d e m ein G e d i c h t wie das überarbeitete M o n d l i e d in seiner G r u n d a u s s a g e so entsprechen w ü r d e wie der zweiten Jahreshälfte 1 7 8 8 . D e n n wie die ausführliche Interpretation der E n d f a s s u n g zeigen wird, relativiert G o e t h e s Füllest
wieder Busch und Tal nicht n u r d e n gelösten A u g e n b l i c k der U r f a s s u n g
d u r c h seine E i n o r d n u n g in überzeitliche G e s e t z m ä ß i g k e i t e n , sondern das neue M o n d l i e d n i m m t insbesondere A u s s a g e n z u r ü c k , die f ü r die B e z i e h u n g G o e t h e s zu C h a r l o t t e von Stein in der A n f a n g s p h a s c ihrer B e k a n n t s c h a f t charakteristisch waren, es widerruft geradezu die enge B i n d u n g an die F r e u n d i n . E i n e T e n d e n z zu derart endgültiger A b s a g e an die g e m e i n s a m e F r e u n d s c h a f t läßt sich bei G o e t h e in früheren J a h r e n nicht a u s m a c h e n , nicht e i n m a l w ä h r e n d heftiger Krisen wie der v o n 1 7 8 0 . 2 8 G e r a d e z u ängstlich erscheint G o e t h e vielmehr stets b e m ü h t , Streit beizulegen, Mißverständnisse a u s z u r ä u m e n u n d die F r e u n d i n zu besänftigen. U n d selbst seine heimliche Abreise nach Italien steht für nichts weniger als fur eine A b kehr v o n C h a r l o t t e von Stein, d e n n die B e z i e h u n g zu ihr hält G o e t h e j a zu d i e s e m Z e i t p u n k t beileibe nicht für beendet. O b w o h l er selbst ihr die geplante Reise u n d
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Vgl. hierzu Goethes Briefe vom 4. September, vom 10. und 29. Oktober sowie vom 2. November 1780 (BW G/St I, 229, 245, 249f.). 88
deren Ziel verheimlicht, kann, was seine Person betrifft, von einem >Bruch< überhaupt keine Rede sein, wie die langen Erlebnis- und Erfahrungsberichte zeigen, die er ihr während seiner Reise unentwegt schreibt, um sie ihr dann bündelweise als »Tagebuch« zuzuschicken. Selbst seine letzten Schreiben aus Karlsbad, in denen er sie vage über eine anstehende längere Abwesenheit in Kenntnis setzt, enthalten nach wie vor die stete Versicherung seiner Liebe zu ihr.29 Seine Rückkehr in das kleine Herzogtum steht für ihn von Anfang an außer Frage. Peinlich genau erteilt er seinem Diener Seidel Aufträge für alle Eventualitäten, die während seiner Abwesenheit eintreten könnten und nennt ihm die Ansprechpartner, an die er eingehende Post gegebenenfalls weiterzuleiten hat. 30 Und in seinem Abschiedsbrief an Carl August betont er, daß die Geschäfte, mit denen er während der vergangenen zehn Jahre im Herzogtum betraut war, durchaus »eine Zeitlang bequem ohne mich fortgehen können« (WA IV, Bd. 8, S. 12). Es ist, wie Turnher in seiner Einleitung des sogenannten Tagebuches an Charlotte von Stein schreibt: »Goethe reist ab, um wiederzukehren« (Aufzeichnungen in Italien, 7). Etwas abergläubisch will er den in Weimar zurückgelassenen Freunden zwar das Ziel seiner Reise, Rom, erst nennen, wenn er — »nach dreyßig Jahren Wunsch und Hoffnung« (Brief aus Fuligno an Charlotte von Stein vom 26. Oktober 1786, vgl. BW G/St II, 300) - bereits seine Ankunft dort melden kann. Aber wenn er auf der Reise sinniert, daß er und Charlotte von Stein »nun gerne etwas von diesen Gegenden lesen« werden, nachdem er sie jetzt mit eigenen Augen gesehen hat (am 9. September 1786 auf dem Brenner, vgl. B W G/St II, 185), wenn er der Adressatin nach der täglichen Schilderung seiner Erlebnisse verspricht, ihr dereinst »[d]as Detail davon mündlich« berichten zu wollen (am 13. September 1786 aus Verona, vgl. BW G/St II, 202) und ihr eindringlich versichert, sein »ganzes Gemüth sei bey und mit dir und meine beste Hoffnung ist dich wieder zu sehen« (am 25. September 1786 aus Vicenza, vgl. B W G/St II, 236), dann sind dies keine Indizien eines irreparablen Zerwürfnisses. Von Terni aus beschwört er sie am 27. Oktober 1786 vielmehr geradezu: »Laß uns keinen andern Gedancken haben als unser Leben miteinander zu endigen« (BW G/St II, 301). Die gründlich vorbereitete Reise ist keine Flucht vor Charlotte von Stein. Sie ist vielmehr der Versuch Goethes, aus einer schweren Lebenskrise auszubrechen,
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Vgl. beispielsweise den Brief vom 1. September 1786 mit der Beteuerung »[D]as wiederhohl ich dir aber daß ich dich herzlich liebe« und der Schlußformel »Liebe mich, und sage mirs damit ich mich des Lebens freuen könne« (BW G/St II, 171), oder auch jenen vom 2. September, der unmittelbar vor der Abreise entsteht und mit den Worten endet: »Lebe wohl du süßes Herz! ich bin dein« (BW G/St II, 172). Im diesbezüglichen Brief vom 23. Juli 1786 wird Seidel zum Beispiel angewiesen, Briefe, die die Kriegskommission betreffen, »an des Herrn Geheimen Assistenzrath Schmidt Hochwohl, zu melden« und sich »in besondern Fällen an Frau Oberstallmeister von Stein« zu wenden (WA-IV, Bd. 7, 252f., hier: 252). Goethe hat also offenbar Veranlassung anzunehmen, daß ihn die Freundin auch während seiner Abwesenheit unterstützen wird.
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zu der die komplizierte B e z i e h u n g z u der Frau des Oberstallmeisters zwar sicherlich auch einen gehörigen Teil beigetragen hat, deren U r s a c h e aber in erster L i n i e in G o e t h e s S u c h e nach der i h m a n g e m e s s e n e n A u f g a b e u n d i m Zweifel a n der Richtigkeit seiner bisherigen L e b e n s f ü h r u n g zu s u c h e n ist, bei der die E r l e d i g u n g der A m t s g e s c h ä f t e allzu o f t die O b e r h a n d über die K u n s t g e w o n n e n hatte. A m 2 0 . J a n u a r 1 7 8 7 stellt er der F r e u n d i n in Aussicht: Komm ich leiblich und geistlich davon, überwältigt meine Natur, mein Geist, mein Glück, diese Krise, so ersetz ich dir tausendfältig was zu ersetzen ist. (BW G/St II, 337) I m m e r n o c h ist es »diese Krise«, die ü b e r w u n d e n (»überwältigt«) werden soll, nicht aber die B e z i e h u n g zu C h a r l o t t e v o n Stein. A u s G o e t h e s Blickwinkel gilt beider F r e u n d s c h a f t zur Z e i t der Italienreise n o c h längst nicht als b e e n d e t , a u c h w e n n es i m S o m m e r 1 7 8 6 wieder e i n m a l zu K o n f l i k t e n m i t der Geliebten gek o m m e n z u sein scheint. 3 1 Betrachtet m a n die eifrigen Reiseberichte G o e t h e s f ü r die D a h e i m g e b l i e b e n e u n d die Verzweiflung, in die ihn ihr gekränktes S c h w e i g e n stürzt, n a c h d e m sie d u r c h eine Verkettung unglücklicher U m s t ä n d e seine Briefs e n d u n g e n erst u m W o c h e n später als g e p l a n t erhält, so m u ß m a n konstatieren, d a ß e i n e m G e d i c h t wie Füllest wieder Busch und Tal i m H e r b s t 1 7 8 6 n o c h die lebenswirklichen V o r a u s s e t z u n g e n fehlen. In d e n Q u e l l e n aus dieser Z e i t
finden
sich n i r g e n d w o vergleichbare A u s d r ü c k e des S c h m e r z e s über eine Vergangenheit, die e n d g ü l t i g als abgeschlossen betrachtet werden m ü ß t e oder über eine F r e u n d schaft, die ein fiir allemal als verloren zu gelten hätte. Selbst als G o e t h e C h a r l o t t e v o n Stein absichtsvolles V e r s t u m m e n unterstellen m u ß o d e r sie ihre Briefe zurückfordert, reißen seine B e m ü h u n g e n , den K o n t a k t m i t ihr aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen, nicht ab. 3 2 Zwei P u n k t e gilt es d e m n a c h festzuhalten. Z u m einen ist das M o n d l i e d C h a r lotte v o n Steins (indirekt, aber deutlich) a u f d e n H e r b s t 1 7 8 6 datiert, u n d es gibt derzeit keinen G r u n d zu v e r m u t e n , diese D a t i e r u n g sei unzutreffend. Z u m anderen w u r d e bislang n u r eine einzige H a n d s c h r i f t v o n G o e t h e s N e u f a s s u n g des
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Goethes Briefe lassen diesbezüglich einige Rückschlüsse zu. So führt er am 1. September 1786 aus, »daß deine Versichrung: daß dir wieder Freude zu meiner Liebe aufgeht, mir ganz allein Freude ins Leben bringen kann. Ich habe bisher im Stillen gar mancherley getragen, und nichts so sehnlich gewünscht als daß unser Verhältniß sich so herstellen möge, daß keine Gewalt ihm was anhaben könne« (BW G/St II, 171). Und von Padua aus schreibt er am 27. September 1786: »Ach daß wir doch recht wüßten was wir an einander haben wenn wir beysammen sind« (BW G/St II, 240). Beispiele hierfür finden sich in den Briefen vom 8. Dezember: »Lebe wohl, du einziges Wesen und verhärte dein Herz nicht gegen mich« (BW G/St II, 320), vom 13. Dezember: »Könnt ich doch meine Geliebteste, jedes gute, wahre, süße Wort der Liebe und Freundschafft auf dieses Blat faßen, dir sagen und versichern daß ich dir nah, ganz nah bin und daß ich mich nur um deinetwillen des Daseyns freue« (BW G/St II, 320) und vom 20 Dezember: »Noch ist kein Brief von dir angekommen, und es wird mir immer wahrscheinlicher daß du vorsätzlich schweigst, ich will auch das tragen und will dencken: Hab ich doch das Beypsiel gegeben, hab ich sie doch schweigen gelehrt, es ist das erste nicht was ich zu meinem Schaden lehre« (BW G/St II, 322).
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alten Liedes gefunden. Sie stammt aus dem Herbst 1788, und es spricht nicht nur eine ganze Reihe von Indizien dafür, sondern zugleich auch kein gewichtiges Faktum dagegen, den Zeitpunkt dieser Überarbeitung tatsächlich erst für 1788 anzunehmen. Als Konsequenz aus beiden Beobachtungen ist davon auszugehen, daß das Mondlied nach meiner Manier tatsächlich die >Brücke< zwischen den beiden Versionen Goethes darstellt. Daß damit »die Erfindung so goethescher Wendungen wie >froh- und trüber Zeit*« (Hof 1957, 164) nun doch Charlotte von Stein zugestanden werden muß, mag Erstaunen hervorrufen oder Entrüstung, bis zum Beweis des Gegenteils muß die Entstehungsreihenfolge [Gl] - [S] - [GII] jedoch als die wahrscheinlichere angenommen werden, insbesondere weil sie auf Basis der bestehenden Fakten ohne interpretatorische Verrenkungen auskommt. Denn wenn Spiess etwa die unleugbare Tatsache, daß das in Charlotte von Steins letzter Strophe verwendete »wohl veracht« einen deutlichen Bezug auf die Urfassung [Gl] und nicht auf [GII] darstellt, damit zu begründen sucht, daß Goethe seine Neufassung zwar schon vorher angefertigt und Frau von Stein auch zur Kenntnis gebracht habe, die »rein formelle Verbesserung« der letzten Strophe hin zum letztlich gedruckten Reim »bedacht/Nacht« aber »erst bei der endgiltigen [sie] Redaktion des Gedichts unmittelbar vor dem Druck« vorgenommen worden sei, so daß jene Überarbeitung, die dem Steinschen Mondlied als Vorbild gedient hat (und die natürlich heute unglücklicherweise verschollen ist...), noch mit dem »wohl veracht« der Urfassung arbeitete, dann erscheint das Eis, das derartige Konstrukte tragen soll, doch sehr dünn.33 Spiess muß solche Theorien freilich als »möglich, ja nach Lage der Dinge [als] wahrscheinlich und mehr als wahrscheinlich« bezeichnen, um Zeilen wie »so verrauschte Scherz und Kuß / Und die Treue so« auch weiterhin als Goethes ureigenste Erfindung proklamieren zu können, was sie - so muß man aus dem vorangegangenen schließen - jedoch vermutlich nicht sind. Auch wenn man zugeben muß, daß weiterhin Lücken in der Beweiskette bestehen, so basiert doch die Entscheidung, bei der weiteren Betrachtung der MondliedTrias zunächst An den Mond nach meiner Manier und erst danach Goethes Füllest wieder Busch und Tal zu untersuchen, auf durchaus belastbaren Indizien. Ob es sich nun bei dem »Liedchen«, fur das sich Goethe am 20. Januar 1787 bei Charlotte von Stein bedankt,34 wirklich um deren Mondlied-Paraphrase handelt - wie Petersen glaubt (Petersen 1923, 278) - , ob sie ihm das bereits erwähnte Klagelied
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Gleiches gilt fur seine Ausführungen zur fünften Strophe der Goetheschen Überarbeitung. Auf die berechtigte Frage, warum Charlotte von Stein — wenn ihr doch, wovon er ausgeht, diese Strophe vorlag — ausgerechnet auf die Übernahme einer ihrem Zustand in so hohem Maße entsprechenden Formulierung verzichtet haben sollte, entgegnet er, die Worte »Ich besaß es doch einmal« enthielten »einen Trost, und von einem solchen wollte die Trostlose nichts wissen, sie erschienen ihr eher wie ein Hohn. Sie konnte sie in dem Gedicht >nach ihrer Manier« nicht dulden« (Spiess 1928, 80). »Ich dancke dir fürs Liedchen und für jedes herzliche Andencken« (BW G/St II, 337).
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Ihr Gedancken fliehet mich nach Italien geschickt hatte - wovon Hof ausgeht (Hof 1957, 164) —, oder ob sich Goethes Dank möglicherweise auf etwas völlig anderes bezieht, muß dahingestellt bleiben. Wann genau Goethe das Mondlied nach meiner Manier erhalten hat, läßt sich nicht mehr feststellen, denn die Briefe der Freundin verbrannte Goethe auf deren Anweisung hin noch an Ort und Stelle,35 und viele seiner eigenen fielen später anläßlich der Redaktion seiner Italienischen Reise der Schere bzw. den Flammen zum Opfer. 36 Aber man muß davon ausgehen, daß es nicht Goethe, sondern Charlotte von Stein war, die zuerst Hand anlegte an jenes Zeugnis der ersten gemeinsamen Weimarer Tage. Als sie sich aus heiterem Himmel ohne jedes erklärende Wort von ihrem langjährigen Freund verlassen wähnen mußte, ergriff sie innerhalb der »subtilen Kommunikation« (MA 2.1, 536) mit Goethe wieder einmal das Wort und stellte ihre Manier gegen die seine.
4.5 Nach meiner Manier. Charlotte von Steins Bearbeitung von An den Mond An den M o n d nach meiner Manier. Füllest wieder Busch und Thal still mit Nebel Glanz lösest endlich auch einmahl meine Seele ganz Breitest über mein Gefild lindernt deinen Blick da des Freundes Auge mild nie mehr kehrt zurück Lösch das Bild aus meinem Hertz vom geschiednen Freund dem unausgesprochner Schmerz stumme Thränen weint. Mischet euch in diesen Fluß nimmer werd ich froh so verrauschte Schertz und Kuß und die Treue so
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Vgl. sein Brief vom 13. Februar 1787: »Deine Briefe werden alle gleich verbrannt, wie wohl ungern. Doch dein Wille geschehe« (BW G/St II, 350). Vgl. Millers Ausführungen zur Entstehungsgeschichte der Italienischen Reise: »Schon Erich Schmidt, der erste Herausgeber der Zeugnisse von Goethes Italienaufenthalt, war entsetzt über den Zustand, in dem sich die für die Redaktion benutzten Briefe vorfanden. Bis zur Unkenntlichkeit war der Text korrigiert; [...] Erhalten blieben ohnehin nur die Materialien für den ersten Band der Italienischen Reise, das heißt die Briefe der ersten vier römischen Monate. [...] Jedenfalls hat Goethe nach dem mühsam erreichten Abschluß seiner Redaktion alle Unterlagen vernichtet.« (MA 15, 691).
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jeden Nachklang in der Brust froh und trüber Zeit wandle ich ihm nun unbewußt In der Einsamkeit, Seelig wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt seine Seele rein erhält ahndungsvoll genießt Was den Menschen unbekant oder wohl veracht in den Himlischen Gewand glänzet bey der Nacht. (Goethe-Museum Düsseldorf: 1482/1976)
Es wurde bereits an anderer Stelle daraufhingewiesen, daß der von der Verfasserin gewählte Titelzusatz nach meiner Manier als programmatisches Signal für deren Absicht betrachtet werden muß, sich von einem Text, dessen Manier sie als mit der ihren nicht (mehr) vereinbar ansah, durch einen eigenen Entwurf abzugrenzen. Da dieser eigene Entwurf nun nicht nur den gleichen Titel trägt wie die Vorlage, sondern auch noch deren Eingangsstrophe nahezu unverändert übernimmt, wird das ursprüngliche Mondlied, von dem Charlotte von Stein eine Abschrift besaß, als Referenzobjekt und An den Mond nach meiner Manier mit Hilfe markierter Intertextualität als Parodie kenntlich gemacht, also — je nach Ubersetzung - als Bei-, Neben- oder Gegengesang zum Original (vgl. Wende 1999, 12). Dieses neue und andere Lied fügt der Vorlage eine siebte Strophe hinzu. Sie wurde nicht einfach an das bestehende Gedicht angehängt, sondern die Urfassung regelrecht in der Mitte aufgetrennt, um ihr die vier neuen Verse zu implantieren. Die bekannten Charakteristika der zwei ersten und der beiden letzten Strophen konnten dabei im wesentlichen beibehalten werden, an den Nahtstellen hingegen — der dritten und der ehemals vierten, nun fünften Strophe - wurden tiefgreifende Änderungen vorgenommen und die Vorlage gänzlich umgestaltet, so daß im Vergleich zur Urfassung insbesondere die drei mittleren Strophen als Neuschöpfung gelten können. Geht man die Paraphrase Schritt für Schritt durch, so ergibt sich zunächst aus der weitgehenden Beibehaltung der ersten Strophe, daß die Ausgangssituation des Gedichts unverändert übernommen wurde. Die Ansprache an den Mond ist die gleiche geblieben, ebenso die damit einhergehende »Lösung« der Seele. Nach wie vor entspringt das Gedicht einem nächtlichen Augenblick, in dem der Eindruck mondbeschienener Landschaft seine unmittelbare Wirkung auf das lyrische Ich entfaltet. Freilich tritt der weitere Verlauf des Gedichts in deutlichen Widerspruch zu der behaupteten seelischen Gelöstheit. Das Wiederaufnehmen der ersten Strophe dient offenbar nur dazu, sich ausdrücklich auf die Vorlage zu beziehen, auch wenn der veränderte Inhalt des Liedes den beibehaltenen Einstieg konterkariert. Der zweifache Kunstgriff jeder Parodie, die Vorlage zwar zu markieren, ihr gleichzeitig jedoch Eigenes beizumengen oder entgegenzustellen, ist hier
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nicht ganz gelungen, da das Gedicht den Widerspruch, in den es zum Original tritt, auch mit einem Verlust an innerer Folgerichtigkeit bezahlt. Daran ändert selbst die dezente Umformulierung der ersten Zeile nichts, obgleich man bereits sie als Rücknahme eines der die Vorlage prägenden Charakteristika bezeichnen könnte. Spiess - der diesen Eingriff allerdings Goethe zuschreibt - führt sprachliche Gründe für die Änderung von »'s liebe Thal« hin zu »Busch und Tal« an, darunter etwa den Wunsch, »das volksmäßige >'s liebe< zu beseitigen« (Spiess 1928, 81). Auch Charlotte von Stein mögen solche formalen Aspekte bewogen haben, den Eingangsvers abzuwandeln — wie Eibl nachweist, hat sie Goethe gelegentlich stilistische Korrekturen vorgeschlagen, die dieser auch übernahm (GHb I, 156). Die inhaltliche Konsequenz ist jedoch nicht zu übersehen: Mit der Änderung vom »lieben Thal« in »Busch und Tal« wird aus der geliebten eine beliebige Landschaft, irgendeine austauschbare Gegend, und der emotionale Bezug zur Umgebung, den die Urfassung schon an dieser Stelle zum Ausdruck brachte, wird zurückgenommen. Von der zweiten Strophe an werden die Eingriffe in den Text der Vorlage gravierender. Zwar breitet der angesprochene Mond nach wie vor seinen lindernden Blick über »mein Gefild«, aber wo Goethe diesen Blick zuvor mit jenem verglich, den »der Liebsten Auge« über sein »Geschick« schweifen läßt, und dieses wiederum später durch »des Freundes Auge« ersetzen wird, da steht in der Version Charlotte von Steins kein adäquates Vergleichsobjekt mehr zur Verfugung. Denn nachdem auszuschließen ist, daß »des Freundes Auge« das lyrische Ich jemals wieder mit »mildem« Blick betrachten wird (»nie mehr«), muß nun der Mond stellvertretend dessen Rolle übernehmen, weil sein Blick der einzige ist, der sich noch »lindernt« auf »mein Gefild« richtet. Der »geschiedne Freund« hingegen scheint unwiederbringlich verloren, und so ergeht in der Folgestrophe an den Mond als einzigem verbliebenen Gesprächspartner in einer Umgebung, zu der jeder emotionale Bezug verschwunden ist, die Bitte, auch noch die Erinnerung, »das Bild aus meinem Hertz« zu löschen, dem durch das Scheiden des Freundes die lebensweltliche Entsprechung abhanden gekommen ist. Diese dritte Strophe ist infolge der Änderungen, die Charlotte von Stein daran vorgenommen hat, kaum wiederzuerkennen. Aus dem Referenztext ist lediglich das »Herz« geblieben, völlig geändert hat sich hingegen der Kontext. Die Vorlage, die dem Mond und der Liebsten noch die Macht einräumte zu lösen und zu binden, ja geradezu mittels Bindung zu lösen, muß nun, da sich der »Freund« aus allen Bindungen gelöst hat, als überholt gelten. Was bleibt, ist im doppelten Wortsinne unaussprechlicher (»unausgesprochner«) »Schmerz«. Denn mit dem »Freund« scheint auch der einzige Gesprächspartner entschwunden, demgegenüber dieser »Schmerz« sich hätte aussprechen lassen. So erfährt lediglich der Mond davon, und er ist auch der einzige, der die »stummen Thränen« sieht, die dem »geschiednen Freund« gelten und sich ungesehen mit dem Fluß vermischen. Wie in Füllest wieder's liebe Thal gibt es somit auch im Mondlied Charlotte von Steins kein Moment der Sprache, aber 94
wo dieses Fehlen wörtlicher Rede in der Vorlage durch das stille Einverständnis einer liebevollen Seelenfreundschaft transzendiert erscheint, wirft sie hier das Ich in seinem Unglück auf sich selbst zurück, weil es in dieser fremdverschuldeten Sprachlosigkeit jeder Möglichkeit beraubt ist, sich mit einem anderen Menschen auszutauschen. Dem korrespondiert auch die resignierte Feststellung, nie wieder »froh« werden zu können, mit der die Mittelstrophe dem schmerzvollen Augenblick an herausgehobener Stelle Dauer verleiht. Das gesamte Dasein wird nur noch mit Blick auf das Verlorene betrachtet, und das lyrische Ich des Mondliedes nach meiner Manier, dessen Vorgänger in Goethes An den Mond noch ganz das Gefühlserleben eines einzigen »gelösten« Moments auskostete, zieht unter dem Eindruck leidvoller Gegenwart und angesichts einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit seine düstere Bilanz für die Zukunft: »Nimmer« wird es froh werden, da »des Freundes Auge nie mehr« zurückkehrt, »Schern«, »Kuß« und »Treue« ein für allemal »verrauschten« und nichts zurückließen als den »Nachklang« all der frohen und trüben Zeiten, die mit dem Verschwinden des Freundes nun endgültig der Vergangenheit angehören. Elema bezeichnet diese Strophe als Widerspruch zur dritten Strophe, »denn man kann nicht zugleich verlangen ein Bild auszulöschen und sich gerne der Erinnerung an dieses Bild überlassen« (Elema 1962, 38). Von »gerne« ist aber im Gedicht keine Rede, ein Punkt, in dem auch die Argumentation Hahns fehlgeht, die ebenfalls behauptet, das lyrische Ich wolle sich seine Erinnerung bewahren (Hahn 2001, 68). Das Gegenteil scheint richtig, denn der gegenwärtige und für ewig erachtete Schmerz entspringt ja gerade einem Zustand, den das lyrische Ich durch die fortwährende Erinnerung an eine glückliche Vergangenheit als defizitär begreifen muß. Repräsentanz dieser glücklichen Vergangenheit ist das »Bild« im Herzen, das das Ich deshalb auch zu löschen wünscht. Ganz offensichtlich gelingt dies aber nicht, 37 sondern der »Nachklang froh und trüber Zeit« bleibt, und das Ich, das seinen Schmerz nicht zu äußern vermag und seine Tränen nicht zeigt, sondern sie unentdeckt dem Fluß beimengt, zieht sich resigniert in sich selbst zurück. Nichts anderes bleibt ihm übrig, denn nachdem der »Freund«, auf den allein seine Existenz ausgerichtet war, fort ist und seinen »milden Blick« abgewendet hat, ist das lyrische Ich aller bisherigen Möglichkeiten beraubt, sich dem Freund »bewußt« zu machen. Weder optisch noch akustisch wird es wahrgenommen, und so wandelt es »ihm nun unbewußt in der Einsamkeit«. Dementsprechend ist die Seligpreisung der letzten beiden Strophen eine gänzlich andere als in der Vorlage. Der Rückzug von der Welt führt nicht mehr in die Zwei-, sondern in die »Einsamkeit«. In dem hier skizzierten Ideal wird niemand mehr »am Busen« gehalten, sondern das Ich verschließt sich alleine »vor der Welt«.
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Im Frühsommer 1789 wird Charlotte von Stein ihrem Sohn Fritz aus Bad Ems schreiben: »Das Bild von Goethe hänge nicht wieder in meine Stube; es ist zu tief in mein Herz gegraben, als daß ichs auf der Tapete brauchte« (zit. n. Nobel 1939, 183).
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Die Option einer liebevollen Gemeinschaft mit einem anderen Menschen besteht nach dem »Scheiden« des Freundes nicht mehr, und daher formuliert die sechste Strophe die endgültige Absage an jedes Modell einer Seelenfreundschaft. Denn selig ist nur, wer sich von der Welt in sich selbst zurückzieht und »seine Seele rein erhält« — wer demnach nicht in die Verlegenheit kommt, eine »mir ach so liebe Sünde« zu begehen, wie sie Charlotte von Stein sich in ihrem Vierzeiler aus dem Herbst 1776 hatte eingestehen müssen (s.S. 50ff.). Somit verkündet der Steinsche Gegengesang mit reuevollem Blick auf die Vergangenheit die resignierte Abkehr von jenem Konzept von Freundschaft, dessen Lobpreis Füllest wieders liebe Thal'm seinem Finale noch anstimmt. Stattdessen wird die einsame Hingabe an das, was »in den Himlischen Gewand / Glänzet bey der Nacht« zum Ideal erhoben. Man muß Wukadinovic widersprechen, wenn er hier einen »Mangel an Logik« sieht und erklärt, es lohne »kaum der Mühe, in diesen sybillinischen Worten eine tiefere Bedeutung suchen zu wollen« (Wukadinovic 1926, 31). Denn was Charlotte von Stein mit diesen Versen ausdrücken möchte, ist ein ganz wesentlicher Bestandteil ihres Weltbildes und deutlich mehr als lediglich eine »unklare, aber tönende Phrase« (Spiess 1928, 79). Vom Freund verlassen und auf sich allein gestellt, wendet sich das lyrische Ich von dem im »Labyrinth der Brust« unstet Wandelnden ab und stattdessen dem am Firmament stetig Glänzenden zu, das im Gegensatz zum »untreuen« Freund wahrhaft beständig ist. So werden dem »verflossenen« Ideal der Seelengemeinschaft, der Liebe und der Freundschaft die universalen Prinzipien Reinheit und Beständigkeit entgegengestellt, wie sie der gestirnte Himmel über uns »als Zeichen einer höheren, einer rein geistigen Welt« (HA I, 546) repräsentiert. Mittels »ahndungsvollen Genusses« ist es dem Einzelnen möglich, an ihnen teilzuhaben — sofern er das denn wirklich will. Den meisten Menschen sind diese Kategorien jedoch entweder »unbekant« oder »wohl veracht« (wie das Beispiel des verschwundenen Freundes so schmerzhaft bewußt macht). Somit setzt sich auch das Mondlied nach meiner Manier - wie schon die Matinee Rino — nur mittelbar mit einer textlichen Vorlage auseinander. Charlotte von Steins Parodie transportiert keine ästhetische, sondern in erster Linie eine ethische Kritik, und diese zielt nicht auf das Werk, sondern auf seinen Verfasser, den langjährigen (und jetzt »geschiednen«) Freund. Stand im Falle Rinos noch scherzhaft-ironisch Goethes Auftreten bei Hofe und sein Benehmen insbesondere im Umgang mit den Weimarer Damen im Vordergrund, das Charlotte von Stein aufgrund ihrer Wertvorstellungen nicht gutheißen konnte, so ist es diesmal ausschließlich sein Verhalten ihr selbst gegenüber, sein »Scheiden«, seine »Treulosigkeit«. Die Urfassung des Mondliedes, die sie seinerzeit von Goethe erhalten hatte, mußte ihr als Bekenntnis zu Weimar und insbesondere als Bekenntnis zu ihrer Person und ihrer beider Freundschaft gelten (niemand außer ihr hätte das Recht gehabt, sich bei dem Wort »Liebste« angesprochen zu fühlen, zumal die Mond-, Nacht- und Sternmetaphorik, auf die sie sich auch jetzt so entschlossen zurückzieht, zwischen Goethe und ihr ein gängiges Motiv war). Durch seinen
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kommentarlosen Weggang hatte er sich zu diesem Bekenntnis in unauflösbaren Widerspruch gesetzt, hatte er insbesondere - so mußte sie es auffassen - den Schwur gebrochen, den er ihr mit intertextueller Anspielung auf den Römerbrief im Frühjahr 1781 geleistet hatte: Meine Seele ist fest an die deine angewachsen, ich mag keine Worte machen, du weißt daß ich von dir unzertrennlich bin und daß weder hohes noch tiefes mich zu scheiden vermag. 38 Ich wollte daß es irgend ein Gelübde oder Sakrament gäbe, das mich dir auch sichtlich und gesezlich zu eigen machte, wie werth sollte es mir seyn. (am 12. März 1781, BW G/St I, 286)
Mit Goethes plötzlichem Verschwinden ist für Charlotte von Stein seine Beteuerung, »unzertrennlich« von ihr zu sein, hinfällig geworden, »Schertz«, »Kuß« und insbesondere »Treue« sind »verrauscht«, Goethes »unstätefr] Sinn«, von dem sie 1776 Zimmermann gegenüber so sorgenvoll sprach, hat letztlich offenbar doch die Oberhand behalten (Petersen: BW G/St 1/2, 534). Der »Freund« ist ihren Maßstäben nicht gerecht geworden. Denn was Goethe in seinem Brief vom 7. Oktober 1776 so übertrieben zur Himmelfahrt einer Madonna stilisiert (s. S. 52), die Ausrichtung der Freundin auf ein Höheres, auf ein Ideal, dem sie zuzustreben sucht, ist in der Tat zentraler Bestandteil der Lebensanschauung Charlotte von Steins, und man findet es auch in den Schlußstrophen ihres Mondliedes wieder. So schreibt sie etwa im Sommer 1801 an ihren Sohn Fritz: Ich kann nicht instinktmäßig lieben, wie ich's bei Vielen sehe; es verlangt mich nach Vollkommenheit, so viel es hier möglich ist, in dem Gegenstand, der mich an sich zieht (zit. n. Düntzer 1874 II, 142).
Das ist kein nur »selbstsüchtige[s] Streben nach Vollkommenheit des anderen« (Spies 1992), nicht nur eine Forderung an den »Gegenstand«, sondern auch an sich selbst. Alleiniger Maßstab ist das ständige Streben nach dem größtmöglichen Maß an »Vollkommenheit«, zu leisten einerseits von allem und jedem, das »mich an sich zieht« und anderseits von ihr selbst, die sie angibt, sich lediglich von einem solchen Höchstmaß an Vollkommenheit anziehen lassen zu wollen. Freilich unterliegt ein solches Streben nach dem himmlischen Ideal wie alles Irdische der Beschränkung (»so viel es hier möglich ist«), das macht bereits die Mondlied-Paraphrase von 1786 deutlich, wo ja die menschliche Teilhabe an der himmlischen Vollkommenheit auf »ahndungsvollen Genuß« beschränkt bleibt. Aber »seelig« wird allein, wer es dennoch unternimmt, dem Leitbild mit aller Kraft entgegenzustreben, und indem Goethe die ver- und beschworene Gemeinschaft mit Charlotte von Stein in dieser unsensiblen Form aufkündigte, hatte er ihrer Meinung nach nicht nur (wieder wie früher allein seinen Launen und Affekten
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Vgl. Rm 8: »Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?« (Rm 8, 35) »Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (Rm 8, 38-39).
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gehorchend) Gepflogenheiten verletzt und Versprechen gebrochen, sondern sich generell des Wertes begeben, der ihn in ihrem gemeinsamen Versuch, eine reine, vollkommene Freundschaft zu leben, zuvor ftir sie »anziehend« gemacht hatte. Später bezeichnete sie G o e t h e gelegentlich als »schöne [n] Stern, der mir vom H i m m e l gefallen«, 39 ja regelrecht als »ausgelöschten Stern«, 4 0 und so wird auch jenes Bild verständlich, dessen sie sich bei Abänderung der zweiten Strophe seines Mondliedes bedient. D e n n allein der Fall des Freundes ermöglicht es dem M o n d , seinen »Blick« nun »über mein Gefild« auszubreiten, ein Fall, der eben nicht nur ein moralischer ist, sondern in der Bildersprache der Verfasserin ganz plastisch der Sturz eines Sternes, auf den ihr Dasein bis zu diesem Zeitpunkt ausgerichtet war. Erst indem er von ihrem H i m m e l verschwand, gab er dem M o n d den Blick »über mein Gefild« frei. W i e bereits in der doppeldeutigen Formulierung vom »geschiednen Freund« drückt sich somit auch hier das Ineinander von räumlicher und emotionaler Entfernung aus. Die fur die Verfasserin des Gedichts kaum zu ertragende Konsequenz solcher gleich zweifachen Distanz ist die Sprachlosigkeit, noch mehr die >Antwortlosigkeitunbewußt«< (Wukadinovic 1926, 30), ist demnach gegenstandslos.
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Was bleibt, ist die »Einsamkeit«, d e n n d a der S c h m e r z über die T r e n n u n g a n d a u e r t , aber nicht ausgesprochen u n d vermittelt werden kann, verschließt sich d i e Sprecherin vor der Welt. A n w e n sollte sie sich a u c h w e n d e n - selbst in ihrem engeren U m f e l d dürfte zu d i e s e m Z e i t p u n k t n o c h nicht einmal j e m a n d wissen, d a ß in d e n Briefen zwischen ihr u n d G o e t h e mittlerweile das beiderseitige vertrauliche Du ü b lich geworden ist. 4 2 A n d e r s als 1 7 7 6 , als der G e g e n s t a n d ihrer Kritik gewissermaßen von öffentlichem Interesse war u n d sich der A u s s p r a c h e mittels einer G a t t u n g wie der a m Weimarer H o f beliebten Matinee
förmlich a n b o t , sie s o m i t ein öffentliches
F o r u m u n d infolgedessen w i e d e r u m ein P u b l i k u m hatte, scheitert das Verlangen sich zu äußern diesmal g a n z banal a m Fehlen der geeigneten Ö f f e n t l i c h k e i t . Außerstande gesetzt, die einzig in Frage k o m m e n d e Z i e l g r u p p e — G o e t h e — m i t ihrer Trauer, ihrer W u t u n d ihrem S c h m e r z zu konfrontieren u n d eine E r k l ä r u n g zu verlangen, bleibt C h a r l o t t e v o n Stein als einziger A n s p r e c h p a r t n e r der M o n d . U n d so schreibt sie G o e t h e s Selbstbekenntnis aus früheren J a h r e n u m , in d e m nach seinem >Treuebruch< nicht n u r die E m p f i n d u n g persönlicher B i n d u n g a n L a n d schaft (»'s liebe T h a l « ) u n d M e n s c h e n (die »Liebste«) obsolet g e w o r d e n scheint, sondern regelrecht das lyrische Ich v e r s c h w u n d e n , der Sprecher »geschieden« ist. C h a r l o t t e von Stein ersetzt den ihr in d o p p e l t e m W o r t s i n n e entwichenen G o e t h e n u n ihrerseits in zweifacher H i n s i c h t , z u m einen als A u t o r i n (s)eines G e d i c h t s a n den M o n d , z u m anderen, i n d e m sie sich persönlich in d a s G e d i c h t einbringt u n d die verwaiste Stelle des lyrischen Ichs e i n n i m m t . Aber auch w e n n sie die W o r t e , die den »geschiednen F r e u n d « nicht m e h r zu erreichen v e r m ö g e n , stattdessen An den Mond richtet, bleiben sie d o c h f ü r G o e t h e b e s t i m m t , u n d die v o n ihr gewählte literarische A u s d r u c k s f o r m , die Parodie, deren wesentliches E l e m e n t die K o m m u nikation des Senders m i t e i n e m E m p f ä n g e r ist, m u ß versagen, w o der E m p f ä n g e r sich verweigert. E i n e S u b l i m i e r u n g ist ihr a u f diesem W e g e nicht m ö g l i c h , C h a r lotte von Stein wird ihren S c h m e r z i m wahrsten S i n n e des W o r t e s nicht los, d e n n z u m einen verhallt ihre Ä u ß e r u n g ungehört, u n d s o m i t v e r m ö g e n weder ihre Trauer noch ihre d e m o n s t r a t i v e A u f k ü n d i g u n g des ehemals von G o e t h e postulierten Konzepts von Zweisamkeit diesen zur R ü c k k e h r zu bewegen, der j a z u d e m m i t seiner Abreise ersteres billigend in K a u f u n d letzteres bereits v o r w e g g e n o m m e n zu haben scheint. Z u m anderen k ö n n t e selbst die persönliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t G o e t h e nichts daran ä n d e r n , daß der B r u c h n u n einmal so harsch vollzogen w u r d e u n d der ehemalige »Stern« d a m i t ein für allemal v o m H i m m e l v e r s c h w u n d e n ist. S o richtet sich d e n n der Blick C h a r l o t t e von Steins weiterhin voller Verzweiflung u n d Unverständnis a u f jene Stelle, an der n u n der M o n d die freigewordene Stelle
42
Herder erfährt es erst im August 1787, als er durch eine Verwechslung einen Brief Goethes an Charlotte von Stein erhält. Diese beeilt sich, eine möglichst harmlos klingende Erklärung zu liefern: »Unser Freund war einmal tief von mir beleidigt, als ich diese lateinische Sitte unter uns ablehnte, und von der Zeit an habe ich es so begriffen, als es aus seiner treuen Seele kam« (Bode 1914, 267).
99
des Freundes eingenommen hat, und das Mondlied nach meiner Manier bleibt in dem Teufelskreis gefangen, der aus einem Gefühl der Verlassenheit und Einsamkeit heraus über Schmerz und Enttäuschung wieder zum resignierten Rückzug in die Einsamkeit führt. Charlotte von Stein gibt das Bündnis mit Goethe, das beider Leben rund zehn Jahre lang geprägt hat, verloren. O h n e ihren Schmerz bewältigt zu haben, verschließt sie sich vor der Welt wie vor dem Freund und wendet sich jenen Sternen zu, die ihr noch geblieben sind.
4.6
Ach, und in demselben Flusse / Schwimmst du nicht zum zweitenmal.n
G o e t h e s Ü b e r a r b e i t u n g v o n An den
Mond
Vermutlich im Herbst 1 7 8 8 überarbeitete G o e t h e Füllest wieder's liebe Thal. Besser gesagt, er s c h u f unter gleichem Titel ein zweites Gedicht, denn mit j e n e m D o k u m e n t der ersten Weimarer Zeit hat Füllest wieder Busch und Tal ebensowenig gemein wie die Parodie Charlotte von Steins. Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz; Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Über mein Geschick. Jeden Nachklang fühlt mein Herz Froh und trüber Zeit, Wandle zwischen Freud' und Schmerz In der Einsamkeit. Fließe, fließe, lieber Fluß, Nimmer werd ich froh, So verrauschte Scherz und Kuß, Und die Treue so. Ich besaß es doch einmal Was so köstlich ist Daß man doch zu seiner Qual Nimmer es vergißt! Rausche, Fluß, das Tal entlang Ohne Rast und Ruh, Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu! Wenn du in der Winternacht Wütend überschwillst Oder um die Frühlingspracht Junger Knospen quillst.
43
Vgl. Goethe, Dauer im Wechsel, V. 15f. (MA 6.1, 85).
100
Selig wer sich vor der Welt O h n e H a ß verschließt Einen Freund am Busen hält Und mit dem genießt, Was von Menschen nicht gewußt Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. (MA 2.1, 35f.)
Goethe erweitert sein ursprüngliches Gedicht um drei Strophen. Die neue Fassung des Mondliedes hat also statt sechs nun neun Strophen und damit noch zwei mehr als die Steinsche Parodie. Wie diese aber fügt Goethe die neuen Verse der Mitte ein, und auch bei ihm ist es die dritte Strophe, deren Gestalt sich dabei am umfassendsten wandelt, während die Ausgangssituation beibehalten wird. Zudem übernimmt er die bereits im Mondlied nach meiner Manier vorgenommene Abwandlung der ersten Zeile von »'s liebe Thal« in »Busch und Tal«, ob nun aus formalen Gründen, wie Spiess annimmt (s.o.), oder weil - wie gesehen — die Änderung zudem eher der neuen inhaltlichen Aussage entspricht, muß dahingestellt bleiben. Die Ansprache an den Mond bleibt jedenfalls die gleiche, und auch die damit einhergehende »Lösung« der Seele wird nach wie vor konstatiert, wenn dieser unmittelbare Effekt der erlebten Natur auf die menschliche Psyche jetzt auch nicht mehr in einer Umgebung stattfindet, mit der der Sprecher sich übermäßig verbunden fühlte. Wie der Bezug zur nächtlichen Gegend nun lediglich noch allgemeiner Natur ist und nichts mehr mit einem Gefühl der Zugehörigkeit an einen bestimmten Ort zu tun hat, so wird in der zweiten Strophe auch die in der Urfassung noch wesentlich deutlichere Bindung an einzelne Menschen abgeschwächt: Mit dem »lieben Thal« verschwindet auch die »Liebste«. Nicht mehr ihr Auge ist es, dessen Blick dem des Mondes verglichen wird, sondern das des Freundes, freilich in einem ganz anderen Sinne als dies bei Charlotte von Stein der Fall war, wo »der Freund« - in Anlehnung an die ursprüngliche »Liebste« - jener einzige Mensch ist, nach dessen Scheiden die Sprecherin in verzweifelter Einsamkeit versinkt. In Goethes Neufassung ist »Wie des Freundes Auge mild« kaum mehr als ein allgemeiner Vergleich, der dem Mond ein freundlich-mildes Licht bescheinigt. Die dritte Strophe ist, wie schon in der Bearbeitung Charlotte von Steins, kaum wiederzuerkennen. Handelte die Urfassung davon, daß das sonst so >bewegliche< »Herz im Brand« sich geradezu magisch an »'s liebe Thal« gebunden fühlt, und ging es im Mondlied nach meiner Manier an dieser Stelle um den »unausgesprochnen« Schmerz nach dem Scheiden des Freundes, faßt Goethe nun die auf den ersten Blick widersprüchlich scheinenden, aber eigentlich thematisch redundanten Steinschen Strophen 3 und 5 zusammen. Der Reim »Herz/Schmerz« [S, 3] wird zwar als Gerüst beibehalten, aber inhaltlich mit den Versatzstücken »Nachklang froh und trüber Zeit« und »Einsamkeit« [S, 5] gefüllt. Ahnlich wie
101
bei Charlotte von Stein wird so Vergangenes reflektiert, empfindet das Herz ein fernes Echo verstrichener Zeiten. Der Wunsch, diese Reminiszenzen zu »löschen«, wird jedoch nicht übernommen, ebensowenig wie das Motiv vom »geschiednen Freund«. So erscheint der Gedanke einer verflossenen Vergangenheit weitaus allgemeiner und ist nicht mit einer einzelnen, benennbaren Person verbunden, das Gefühl der »Einsamkeit« entspringt keiner gescheiterten Liebesbeziehung, sondern drückt ein Gesamtempfinden aus, das sich undifferenziert auf eine abgeschlossene Vergangenheit als Ganzes bezieht, von der nur noch der »Nachklang« geblieben ist und die durch nichts noch einmal wiederbelebt werden kann. Das Bewußtsein definitiv unwiederbringlicher Vergangenheit drückt die folgende Strophe des Gedichts bildhaft aus, wenn sie den Fluß, der in der Urfassung und bei Charlotte von Stein eher beiläufig erwähnt wurde, nun in exponierter Weise zum Symbol der Vergänglichkeit aufwertet. Ein solches Vanitas-Motiv war dem ursprünglichen Mondlied völlig fremd, wo das erlösende Erleben des Hier und Jetzt im Mittelpunkt stand und aus dem Gefühl eines einzigen glücklichen Augenblicks die Gewißheit der Teilhabe an überzeitlich gültigen, seligmachenden Werten erwuchs. Die neu hinzugefügte vierte Strophe entlarvt solche Gewißheit als trügerisch, indem sie durch das Bild vom »lieben« (ausgerechnet hier taucht der zuvor getilgte Zusatz wieder auf) fließenden Fluß die Vergänglichkeit auch alles Schönen thematisiert. Der »liebe« Fluß, in der Urfassung noch Ort der Bindung und des Bleibens, wird durch Goethes Überarbeitung radikal umgewertet und zum »Sinnbild der Vergänglichkeit« (Korff 1958 I, 233) aller Bindung stilisiert. Schon bei Charlotte von Stein wurde ja das »Verrauschen« von Liebe und Freundschaft thematisiert (besser gesagt: das Verrauschen einer Liebe und Freundschaft), das Thema der Vergänglichkeit als solches aber nicht explizit angesprochen. Der Fluß — in den beiden Vorläuferfassungen lediglich nebensächliches Requisit - wird von Goethe nun als sprichwörtliches Vanitas-Symbol zum zentralen Handlungsträger erhoben. Was im Mondlied nach meiner Manier auch eher nebensächlich blieb, waren formale Aspekte. Goethe behält die schon bei Charlotte von Stein vorgenommene Aufhebung des gleichberechtigten Nebeneinanders dreier Strophenpaare bei und schöpft nun die stilistischen Möglichkeiten, die die ungerade Strophenzahl bietet, voll aus. Die in der Urfassung zusammengehörenden Strophen werden auseinandergerissen und spiegelbildlich um die Achse der Mittelstrophe gruppiert.44
44
Walzel scheint den streng symmetrischen Aufbau des Gedichts nicht erkannt zu haben, wenn er schreibt, »ein mittelpunct [sie] um den sich das ganze ordnet, ist so schwer zu entdecken wie ein merklicher gang des fortschreitenden sinnens« (Walzel 1 9 2 7 , 191). Strophe 1 und 9 thematisieren mit ihrer Bezugnahme auf die »Seele« bzw. das »Labyrinth der Brust« die Gefühlswelt des Menschen, Strophe 2 und 8 sind durch den »Freund« verbunden, Strophe 7 illustriert die »frohen und trüben Zeiten« aus Strophe 3 durch das Bild des Flusses zu unterschiedlichen Jahreszeiten, und die Strophen 4 und 6, die das Herz des Gedichts unmittelbar einrahmen, haben den Fluß zum Thema.
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Diese Mitte - im Gedicht gänzlich ohne Äquivalent in Form einer zweiten, ihr zugeordneten Strophe - artikuliert den verzweifelten Ausruf des lyrischen Ichs vom verlorenen Besitz dessen, »was so köstlich ist«. Somit findet die bereits benannte »Einsamkeit« auch formal Umsetzung, wenn ausgerechnet die Strophe, die das »Ich« (ein Wort, das in der Urfassung überhaupt nicht vorkam) an so exponierter Stelle nennt, isoliert inmitten der anderen steht. Zentrum des Gedichts ist das einsame »Ich« in seiner »Qual«. Wehmütig blickt es zurück auf eine erfüllte Vergangenheit, von der die einsame Gegenwart sich durch den Verlust dessen, »was so köstlich« ist, schmerzhaft unterscheidet. Was genau dieses »Köstliche« ist, erfährt man nicht, es ist nicht so konkret zu fassen wie der »geschiedne Freund« bei Charlotte von Stein, man muß es ebenso erschließen wie das, was »Durch das Labyrinth der Brust / wandelt in der Nacht«. Aufgrund der expliziten »Einsamkeit« des lyrischen Ichs (Strophe 3), der Klage über das Verrauschen von »Scherz«, »Kuß« und »Treue« (Strophe 4) sowie der formalen Änderungen, die wie die meisten inhaltlichen Neuerungen dazu dienen, Isolation und Verlust von Bindung als zentrale Themen zu unterstreichen, 45 dürfte »Was so köstlich ist« wohl im Kontext dessen zu suchen sein, was auch in den letzten beiden Strophen der Überarbeitung wieder als seligmachend gepriesen wird, also im Bereich von Freundschaft, von Liebe - Elema spricht salomonisch von »Liebesfreundschaft« (Elema 1962, 46) - und vertrauensvoller zwischenmenschlicher Beziehung. Dieser wesentliche Bestandteil privaten Glücks ist unwiederbringlich »verrauscht«, und nicht allein der Verlust an sich macht die eigentliche »Qual« des Sprechers aus, sondern vor allem die ständige Erinnerung an das ehemals Besessene, eben jener »Nachklang« der »frohen und trüben« Zeiten, den das »Herz« in so schmerzhaftem Kontrast zur Gegenwart fühlt. 46 Indem Goethe diese Formulierung aus dem Steinschen Gedicht übernimmt, sie zuspitzt und damit in Verbindung mit seiner neuen, fünften Strophe das Problem erinnerter glücklicher Vergangenheit in einer von Grund auf gewandelten Gegenwart explizit zum Dreh- und Angelpunkt seiner Neufassung macht, bedient er sich des gleichen Motivs, das schon seinem ersten großen Liebesgedicht an Charlotte von Stein, Warum gabst du uns die ύφη
Blicke, die charakteristische Prägung gibt
(vgl. BW Gl St I, 25f.). Auch dort wird Bezug genommen auf »abgelebte Zeiten«,
45
46
Sind die einzelnen Strophen der Überarbeitung auch symmetrisch auf den Mittelpunkt hin angeordnet, so muß man doch im Vergleich zur Urfassung von einer Abschwächung der Bindung zwischen den themengleichen Strophen sprechen, da Strophe 5 das Gedicht gewissermaßen in zwei Teile spaltet und die inhaltlich zusammengehörenden Strophenpaare voneinander trennt. Körners Aussage, die Strophen ordneten sich »[u]m die Symmetrieachse der Mitte [...] in paariger Bindung wie eine plastische Gruppe« (Körner 1936, 39), ist deswegen zu ergänzen, da sie zwar grundsätzlich zutrifft, eine vergleichende Untersuchung wie die vorliegende die Endfassung aber auch zum Ausgangsgedicht in Beziehung setzen muß. Arntzen ortet die »Spannung« dieser fünften Strophe »in der Opposition von Sein als verlorenem Besitz und Bewußtsein des Nichtvergessenkönnens des Besitzes« ( G H b I, 186).
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die glücklicher waren als »der neue Zustand«. Das Gedicht entwirft das »wahr Verhältniß« zwischen Charlotte von Stein und Goethe (»Ach du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester oder meine Frau«) und formuliert als das Tragische dieser Konstellation, daß das Paar sich dieser früheren, besseren Existenz inmitten seines gegenwärtigen Lebens immer noch bewußt ist: Und von allem dem schwebt ein Erinnern Nur noch um das ungewisse Herz Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern, Und der neue Zustand wird ihm Schmerz. (BW G/St I, 26)
Schon im Gedicht von 1776 gibt es also ein »Herz«, das die >Nachklänge< früherer Zeiten »fühlt« und darunter leidet; was damals »Schmerz« genannt wurde, ist jetzt noch gesteigert zu »Qual«, bezeichnet aber im Prinzip den gleichen emotionalen Konflikt; die zitierte Strophe erscheint wie eine vorweggenommene Zusammenfassung der dritten und fünften Strophe von Füllest wieder Busch und Tal. Aber Warum gabst du uns die tiefen Blicke mündet trotz allem noch in den Stoßseufzer: »Glücklich daß das Schicksal das uns quälet / Uns doch nicht verändern mag«, weil das Bewußtsein jener vergangenen schönen Zeit — so schmerzhaft deren Kontrast zur Gegenwart auch sein mag — doch als Zeichen einer alle Zeiten überdauernden Verbundenheit auch den hoffnungsvollen Entwurf für eine gemeinsame Zukunft darstellt, die die verlorene Vergangenheit erneut einlöst. In Goethes Füllest wieder Busch und Tal dagegen ist der Optimismus, die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft setzen zu können, verschwunden, die Überwindung zeitlicher Barrieren erscheint nicht mehr möglich, ebensowenig wie der vorbehaltlose Genuß des Augenblicks. Die mit dem Gedanken an eine bestimmte Person verknüpfte Vorstellung einer glücklichen Zukunft ist obsolet geworden, aber eben nicht, weil sich die eine, bestimmte Person entfernt hat (wie im Gedicht Charlotte von Steins), sondern weil unabhängig von Einzelschicksalen gilt, daß grundsätzlich alles Gegenwärtige vergänglich ist. Was vergangen ist, bleibt vergangen, und das Vergangene nicht vergessen zu können, wird nicht mehr als »glücklicher« Umstand gewertet (wie noch im Liebesgedicht von 1776), sondern als »Qual«, weil die erinnerte Vergangenheit der Gegenwart verloren ist und für die Zukunft nicht mehr fruchtbar gemacht werden kann. Trotz dieser zutiefst verzweifelten Kernstrophe verliert sich das Gedicht aber nicht völlig in rückwärtsgewandter Resignation. Strophe 6 zeigt den Ausweg aus dem qualvollen Zustand auf. Spiegelbildlich zu Strophe 4 wird wieder der Fluß angesprochen, allerdings ist »Rausche« hier »nicht einfach synonym zu >fließeverrauschteinneren Kreis< des Weimarer Musenhofs, hat jedoch nichts zu suchen im literaturhistorischen Zusammenhang. (GJb 2002, 267)
Als verachtenswert gilt nämlich nach wie vor insbesondere die in Dido angeblich unverkennbare »Ranküne des beleidigten Weibes« (Kühn 1932, 218) sowie die mangelnde Souveränität einer Autorin, deren mangelnde Einsicht in die Notwendigkeiten eines Dichterlebens 2 sie noch Jahre nach dem Bruch mit Goethe blind 2
Luntowski stellt fest: »[I]hre Liebe war nicht groß genug, dem Geliebten mit Aufopferung ihres eigenen Glücks zu helfen, ihr Verhältnis, falls die Kraft und das Wachstum dazu in ihr vorhanden war, in eine höhere Lebensform überzuführen, oder ihn freizugeben mit jener hohen Freude, die den Geliebten immer nur strahlender und glänzender, edler schaffen möchte« (Luntowski 1913, 9). Höfer pflichtet ihm mit dem folgenden Psychogramm bei: »Eine andere, selbstlosere und in klareren und natürlicheren Verhältnissen lebende Frau hätte des Geliebten Leiden und N o t und die Unerträglichkeit seines bisherigen Lebens unzweifelhaft, liebevoll u n d feinsinnig, [sie] herausgefühlt und ihm ihr eigenes Glück geopfert, u m ihm Ruhe, Erholung, man möchte sagen, Wiederbelebung zu ermöglichen. Das vermochte Charlotte nicht, trotz all ihrer Liebe, denn diese war nie eine selbstlose, vielmehr stets eine egoistische gewesen« (Höfer 1919, l l l f . ) .
116
vor »Herzenshaß« (Nobel 1939, 195) zur Feder greifen ließ, u m ihren g a n z e n U n m u t in diese »Streitschrift gegen G o e t h e « ( H o f 1957, 196) zu g i e ß e n , u n d die »dabei sogar sich n i c h t scheute, Stellen aus seinen vertrautesten Briefen z u benützen« ( H e t t n e r 1929, 55), n u r u m endlich späte »Rache an G o e t h e « ( R e d s l o b 1 9 4 3 , 77) ü b e n zu k ö n n e n . In der Tat g e b r a u c h t O g o n in Dido n i c h t n u r F o r m u l i e r u n g e n , v o n d e n e n b e k a n n t ist, d a ß G o e t h e sie o f t u n d gerne b e n u t z t hat, seine R e d e n weisen a u c h z u m Teil wörtliche ( u n d in diesem K o n t e x t n i c h t eben s c h m e i c h e l h a f t e ) A n k l ä n g e a n G o e t h e s Briefe auf, die dieser vormals an C h a r l o t t e v o n Stein gerichtet h a t t e . Allerdings d ü r f t e letzteres a u ß e r i h m u n d d e r A u t o r i n selbst n i e m a n d b e m e r k t h a b e n k ö n n e n , d e n n n a c h allem was wir wissen, w a r der Briefwechsel vertraulich; einzig die F r e u n d i n C h a r l o t t e Schiller erhielt Einblick in die sorgsam g e s a m m e l ten Briefe G o e t h e s , u n d das auch erst i m Jahre 1812. 1 A u ß e r d e m - so ließe sich sarkastisch a n m e r k e n - zählt es d o c h g e m e i n h i n zu den schönsten Funden der Goethe-Forschung, daß Adolf Schöll, der im Jahre 1848 Goethes Briefe an Charlotte von Stein herausgab, wenigstens ein paar Zeilen aus ihren von ihr verbrannten Briefen an Goethe als Zitat in einem seiner Dramen entdeckt hat. Nach Schölls einleuchtender Vermutung hat Goethe diese Sätze aus einem Brief, den die geliebte Frau ihm schrieb, in das erste dramatische Werk, das er in Weimar verfaßte, aufgenommen, in seinen Einakter »Die Geschwister«.2 (Redslob 1943, 43) W a s J o h a n n W o l f g a n g G o e t h e also u n t e r U m s t ä n d e n recht war, d a r f C h a r l o t t e v o n Stein d e m n a c h nicht billig sein; ganz abgesehen d a v o n , d a ß a u c h die
Xenien
G o e t h e s u n d Schillers aus d e m Jahre 1 7 9 6 n i c h t gerade frei v o n teilweise sehr per-
1
2
Vgl. Charlotte Schillers Brief an Prinzessin Karoline Luise von Sachsen-Weimar vom 5. Februar 1812: »Vor vierzehn Tagen ungefähr lebte ich noch ganz fremd und entfremdet mit dem Meister und liebte ihn, wie man die Natur liebt, ohne zu begreifen, daß sie einen ansieht, wenn wir sie segnen. Unsere Freundin St(ein) geriet auf die Gedanken, alle Papiere [...] zu zeigen. Ich durchblickte dieses wunderbare menschliche Wesen und klagte über das Schicksal unserer Freundin, und lebte recht in der Vergangenheit mit ihr« (Charlotte von Schiller und ihre Freunde, 291). Reinhardt wendet sich in der Münchner Ausgabe gegen diese These: »Es erscheint schwer denkbar, daß G. eine vertrauliche Aussage der Freundin - auf dem Theater und gegenüber einer um das besondere Verhältnis wissenden Hofgesellschaft - in dieser (ihn selbst dann in ein peinliches Licht setzenden!) Weise publik gemacht haben sollte. [...] Die Mutmaßung, daß der vom Drama fingierte Brief authentischen Charakter hat, dürfte von dem Bedürfnis mancher Interpreten motiviert sein, wenigstens ein originales Dokument Ch.s v. St. und ihrer Liebe zu G. vor Augen zu haben« (MA 2.1, 612). Dieser Einwand ist berechtigt, wenn er auch letztlich ebensowenig definitiv zu verifizieren oder zu widerlegen ist wie die verbreitete Annahme, Goethe lasse die Figur des Wilhelm in den Geschwistern tatsächlich eine Originalpassage aus Charlotte von Steins Briefen vorlesen. Ob man nun spekuliert, das Zitat könnte hinsichtlich Stil, Inhalt und Kontext tatsächlich zu dem passen, was man über Charakter und Lebenseinstellung der Weimarer Hofdame weiß, oder ob man darüber diskutiert, inwieweit wohl Goethe eine derartige Indiskretion auf offener Bühne zuzutrauen wäre — beides bewegt sich im Bereich psychologischer Spekulation. Eine endgültige Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Position läßt sich nach derzeitigem Forschungsstand nicht treffen. 117
sönlichen Angriffen waren — was dem Ansehen der Weimarer Dioskuren jedoch selbstverständlich keinen Abbruch tut. Aber daß hier offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wird, ist noch nicht einmal der entscheidende Punkt. Viel gravierender ist die Einseitigkeit, mit der das Drama Charlotte von Steins als Ganzes diskutiert wird. Denn unbeschadet aller Goethebezüge, die an der Figur des Ogon unbestreitbar auffallen, handelt es sich bei dem Hofdichter doch nur um eine Nebenfigur des Stückes, das dementsprechend auch zurecht nicht nach ihm benannt ist, sondern nach der karthagischen Königin. 3 Sie steht im Mittelpunkt der Handlung - aber über hundert Jahre lang nicht im Mittelpunkt der Rezeptionsgeschichte, die, wie beispielsweise Jäckel in der Einleitung seines Bandes mit Frauenbriefen der Goethezeit, in Charlotte von Steins Drama »nur eine dramatisierte Allegorie des Weimarer Hofklatsches« sieht (Frauen der Goethezeit in ihren Briefen, 23). Diskutiert wird vorwiegend der biographische und allenfalls in zweiter Linie der ästhetische Gehalt des Stückes, wobei die Debatte und Erregung über die privaten Bezüge, die man in dieser »Schlüsseldichtung« (Redslob 1943, 78) aufspürte, in Verbindung mit einem vernichtenden Urteil bezüglich der künstlerischen Qualität des Dramas zumeist jeden Versuch einer vorurteilsfreien Auseinandersetzung mit dem Text von vornherein verhindern. 4 Entsprechend spät und spärlich wurde Dido
denn auch veröffentlicht. Es
existieren zwei Einzelausgaben, die erste wurde 1867 durch Heinrich Düntzer besorgt, 5 die zweite 1920 durch Alexander von Gleichen-Rußwurm, einen Urenkel Schillers. »Beide Herausgeber steuern mittels ausführlicher Einleitungen, die die Entstehungsgeschichte des Stückes erklären und die Figuren dekodieren, eine direkte autobiographische Rezeption« (Lange 1991, 342). Ähnliches gilt auch für Schöll, der in seiner zweiten Auflage des Briefwechsels zwischen Goethe und Charlotte von Stein ebenfalls einen Abdruck des Dramas bietet. 1998 erfolgte dann erstmals eine Ausgabe sämtlicher Dramen Charlotte von Steins durch Susanne Kord, als Reprint, aber ohne Anmerkungen. Der Band enthält Dido in der Gestalt, wie sie auch bei Schöll zu finden ist, und nach ihr soll das Stück auch
3
4
5
Susmans Behauptung, Goethe spiele »als Dichter Ogon die Hauptrolle« in Charlotte von Steins Stück (Susmann 1951, 172), ist schlicht falsch. Noch in der 1989 erschienenen Untersuchung Dagmar von Hoffs zum dramatischen Werk deutscher Autorinnen um 1800 wird auf eine Auseinandersetzung mit Charlotte von Steins Dido unverständlicherweise mit dem Hinweis verzichtet, daß sich dieses Stück »in Anspielungen auf die Weimarer Gesellschaft erschöpft« (von Hoff 1989, 142). Damit beraubt sich von Hoff eines Untersuchungsgegenstandes, der den zugrundegelegten Kriterien ihrer Analyse eigentlich in jeder Hinsicht entspricht und anhand dessen sich die in ihrer Studie gewonnenen Erkenntnisse problemlos diskutieren lassen. Schillers Frau erhielt 1798 von Charlotte von Stein eine Reinschrift des Stückes, die im Familienbesitz blieb und von Schillers Tochter, Emilie von Gleichen-Rußwurm, später dem Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt a. M. gestiftet wurde. Nachdem der Enkel Charlotte von Steins, August Karl Freiherr von Stein-Kochberg, sein Einverständnis zur Publikation gegeben hatte, konnte Dido veröffentlicht werden (vgl. Klauß 1995, 241).
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zitiert werden, wenn im folgenden - ausgehend von der Goethe-Karikatur Ogon, aber ohne bei ihr stehenzubleiben - Art und Umfang der Auseinandersetzung mit Goethe untersucht wird, wie die Autorin sie in Dido gestaltet. Es wird festzustellen sein, daß Charlotte von Steins Stück deutlich mehr ist als eine private Abrechnung mit Goethe, denn die Bezugnahmen gehen weit über rein Persönliches hinaus. In ihrer Dido bezieht die Verfasserin durchaus eigenwillig Stellung zu herrschenden Geschlechterbildern und erteilt insbesondere dem sich bei Goethe abzeichnenden Mythos von der erlösenden Kraft des weiblichen Prinzips eine klare Absage.
6.1 Inhaltsangabe
Dido
Zum besseren Verständnis soll der Handlungsverlauf des Stückes kurz zusammengefaßt werden, denn Charlotte von Stein wählte als Vorlage nicht die heute bekanntere Geschichte von Dido und Aeneas aus Vergils Aeneis, sondern bezieht sich auf eine ältere Dido-Erzählung, wie sie sich bei Justinus findet. Dido, Königin Karthagos, wird vom König der Jetulier, Jarbes, bedrängt, seine Frau zu werden. Das Treuegelöbnis, das sie ihrem toten Gatten Acerbas einst gegeben hat, läßt sie jedoch den Antrag ausschlagen, woraufhin Jarbes ihr offen mit Gewalt droht. An diesem Punkt setzt die Handlung des Dramas ein: Didos Gesandte sind zurück und überbringen die Ankündigung des zurückgewiesenen Königs, Karthago mit Krieg zu überziehen, falls die Königin nicht doch noch einwilligt ihn zu heiraten. Die drei Gelehrten des Hofes, Ogon (ein Dichter), Dodus (ein Philosoph) und Aratus (ein Geschichtsschreiber) sind bereits begeisterte Anhänger des bevorstehenden Herrschaftswechsels und suchen ihn zu fördern, nicht nur, indem sie Dido die Vermählung nahelegen, sondern auch durch demagogische Aufwiegelung des Volks, das diesen Schritt von seiner Königin angeblich >verlangeDoppelgängerin< D i d o s . Sie sieht die m y t h o l o g i s c h e G r ü n d e r i n K a r t h a g o s vielmehr regelrecht » a u f g e s p a l t e n in zwei F r a u e n f i g u r e n « , w o b e i Elissa f ü r die Privatsphäre, D i d o h i n g e g e n f ü r die S p h ä r e der R e g e n t s c h a f t stehe. S o m i t w e r d e eine S p a l t u n g der Persönlichkeit in Frau u n d Königin,
wie sie
d a s A m t g e m e i n h i n erzwingt, »in der E i n h e i t der B e z i e h u n g a u f g e h o b e n « (Fleig 1 9 9 5 , 2 1 9 ) , o h n e d a ß eine einzelne Person d e n W i d e r s t r e i t beider T e n d e n z e n in sich selbst aushalten u n d a u s t r a g e n m ü ß t e . D a s erscheint stichhaltig, w e n n m a n b e d e n k t , wie Elissa d u r c h ihre A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t O g o n nicht n u r der A u t o r i n d a s F o r u m bietet, ihre p e r s ö n l i c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t G o e t h e zu f ü h r e n , s o n d e r n in der D r a m a t u r g i e des S t ü c k e s a u c h das private G e g e n b i l d zu der H a u p t - u n d S t a a t s a k t i o n liefert, die zwischen D i d o u n d Jarbes verhandelt w i r d . Gleichzeitig g e h t aber a u c h F l e i g letztlich v o n einer »Identifikation der beid e n F r a u e n « aus, die sich darin a u s d r ü c k e , » d a ß Elissa als Stellvertreterin D i d o s in der Ö f f e n t l i c h k e i t f u n g i e r t « (Fleig 1 9 9 5 , 2 1 9 ) . D e r B e g r i f f »Stellvertreterin« evoziert das B i l d Elissas als einer A r t E r s a t z k ö n i g i n w ä h r e n d der A b w e s e n h e i t D i d o s - o h n e d a ß es hierfür eine E n t s p r e c h u n g i m S t ü c k gäbe, d e n n Elissas W i r k e n bleibt a u f den privaten Bereich beschränkt. Z u keiner Z e i t n i m m t sie den Platz der R e g e n t i n ein, sie m a c h t a u c h keinerlei A n s t a l t e n , es zu versuchen, u n d n i e m a n d trägt ihr dieses A m t an. Z w a r läßt die in K a r t h a g o o f f e n b a r b e k a n n t e U n z e r t r e n n l i c h k e i t der b e i d e n F r e u n d i n n e n es A l b i c e r i o m ö g l i c h erscheinen, d u r c h die d e m o n s t r a t i v e A n w e s e n h e i t der einen a u c h die A n w e s e n h e i t der a n d e ren g l a u b e n zu m a c h e n , aber es ist n i r g e n d w o die R e d e d a v o n , b e i d e glichen sich in ihrem äußeren E r s c h e i n u n g s b i l d o d e r pflegten e i n a n d e r bei g e g e b e n e m A n l a ß zu >vertretenSpaltung< der Figur D i d o s in zwei getrennte Teile, sondern von einer » D o p p e l u n g « ausgeht, einer Verdopplung der positiv besetzten, weiblichen H a u p t f i g u r u n d d a m i t auch einer Verdopplung der gestalterischen Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn m a n ihr eine Freundin an die Seite stellt. M i t ihrer B e o b a c h t u n g lenkt sie den Blick zurück auf den A u s g a n g s p u n k t der Überlegungen u n d darauf, was die Erfind u n g einer solchen Vertrauten für die Konzeption der Titelheldin bedeutet u n d inwieweit die Figur der Elissa die W a h r n e h m u n g D i d o s durch die Z u s c h a u e r beeinflußt. D a s Gerüst der >hohen< Tragödie u m Königin D i d o wird mit der Elissa-Figur u m eine private, eine >niedere< E b e n e erweitert. D i e s führt, wie gesehen, zwangsläufig zu Brüchen mit der tradierten Tragödienpoetik, aber letztlich ist es nicht die Freundschaft an sich, die die überlieferten Konzepte unterwandert, sondern ihr spezifischer Charakter als Frauenfreundschaft vor d e m H i n t e r g r u n d eines bestimmten Geschlechterbildes. D e m »zerstörerische[n] Geschlecht« der M ä n n e r steht mit der Königin Karthagos eine Regentin gegenüber, die ihr Reich ausschließlich mit » G ü t e « regiert u n d ein »vollkommene[s] Ziel« allgemeiner Wohlfahrt und Liebe ohne all die angeblich zur Herrschaft notwendigen » Ü b e l « wie Gewalt, D r u c k und H ä r t e erreichen möchte (1/6, 4 9 4 ) . Charlotte von Stein zeichnet sie als »schöne Seele« (vgl. III/4, 5 0 9 und III/6, 5 1 0 ) u n d d a m i t als einen in sich selbst ruhenden Charakter, der alle Regeln des Anstandes u n d der T u g e n d , alle Gesetze der Sittlichkeit u n d Reinheit in einem solchen M a ß e verinnerlicht hat, daß sämtliche Affekte und Leidenschaften, die den tragischen H a n d l u n g s ablauf gemeinhin auslösen u n d prägen, ihn nicht aus seiner Bahn drängen kön-
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nen.23 Daß sie selbst dazu neigte, diese um 1800 gängige Projektion von idealer Weiblichkeit, dieses kulturelle gendering (vgl. Gutjahr 1997, 228), als natürliches Wesensmerkmal ihres Geschlechtes anzunehmen, zeigt ihr Schreiben an Charlotte Schiller vom 9. April 1797: Kant und Schiller können wohl recht haben, daß unser Geschlecht mehr aus Neigung als aus Pflicht handle, aber nur deswegen, wie ich bei vielen sehe, weil ihre Pflicht ihnen zur Neigung wird. Ich könnte viele Beispiele davon anführen, unter anderen meine Mutter. Sie gefiel sich so wohl in den beständigen Aufopferungen, die sie zu machen hatte, daß, nachdem sie nach vielen Jahren zu ihrem eigenen freiwilligen Genuß kam, sie eine Öde in sich empfand, die sie noch bis jetzt nicht ganz überwinden kann. Uberhaupt, glaube ich, hat die Natur dafür gesorgt, daß in unserm Geschlecht die ganz echte Tugend soll wohnend bleiben, indem bei uns kein Stolz noch Ruhm eine Triebfeder sein kann; denn unsere zu bearbeitenden Aufgaben, eben wegen ihrer tausendfältigen Kleinlichkeit etwas drückend auszuüben und doch so notwendig im Leben, sind weder der Stoff für einen Dichter noch des Geschichtsschreibers; aufs höchste können sie einmal so nebenher wie die Wäsche der Nausikaa und das Gewebe der Penelope angeführt werden, denn die beste Hausfrau ist die allerunbedeutendste ftir die Welt. (Charlotte von Schiller und ihre Freunde, 116f.)
Die Konzeption der Titelfigur auf Basis des zeitgenössischen idealisierten Frauenbildes ist der Schlüssel zu allen sogenannten Brüchen und Widersprüchen des Stückes, und die Figur der Elissa ist in diesem Entwurf dazu nötig, Didos positiv konnotierte Rolle als schöne Seele abzurunden. Denn wie Bronfen darlegt, definiert sich eine solche im literarischen und philosophischen Diskurs der Zeit nicht zuletzt durch das »Ablehnen der herkömmlichen heterosexuellen Weiblichkeit« (Bronfen 1996, 390) und aller Sinnlichkeit - gleichzeitig aber ist als unverzichtbares Charakteristikum ihre Liebesfähigkeit zu beweisen, um nicht als kalt und hart, mithin als >unweiblich< zu gelten.24 Durch die empfindsame Freundschaft zu einer Frau kann Dido als Liebende gezeichnet werden, ohne der Unkeuschheit verdächtig zu sein - zumal ihre Beziehung zu Elissa im Stück ganz ausdrücklich als »Schwesterliebe« bezeichnet wird (II/4, 501) und damit »vollkommen gezügelte Leidenschaft: voraussetzt« (Fleig 1994, 52). Dem zeitgenössischen Ideal von Weiblichkeit droht bei der Darstellung Didos jedoch auch noch von anderer Seite Gefahr, nämlich von ihrer Eigenschaft als Kö-
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»Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bey einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es« (Schiller, Über Anmut und Würde, SNA XX, 287). »Die Frau wird sodenn entworfen als Trägerin eines idealen Geschlechts. Ihr wird die echte Würde des Menschen, die bessere Moralität, die größere Güte des Herzens, die warme, aufrichtige Freundschaft angedichtet« (Bronfen 1996, 373).
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nigin. M a n d e n k e an die E r s c h e i n u n g Elisabeths I. in Schillers Maria Stuart1''
oder
E g m o n t s B e m e r k u n g ü b e r M a r g a r e t e v o n Parma, die R e g e n t i n der N i e d e r l a n d e : Sie hat auch ein Bärtchen auf der Oberlippe und manchmal einen Anfall vom Podagra. Eine rechte Amazone!26 (MA 3.1, 290) U m D i d o s R u f als >richtige< Frau n i c h t zu konterkarieren, s i n d alle M o m e n t e , d i e sie als >MannweibUnweiblichkeit< möglich. Sie m ü ß t e ihre königliche M a c h t a u s ü b e n u n d i h r e n W i l l e n m e h r o d e r weniger gewaltsam d u r c h s e t z e n . Von alledem ist freilich n i c h t die Rede, w e n n D i d o im E i n g a n g s m o n o l o g d e n paradiesischen Z u s t a n d ihres Reiches beschreibt: Es blühet alles um mich herum, alles ist im Wohlstand, mein Volk, meine Seemacht, alle Handthierungen; es dringt keine Stimme des Mangels mehr zu meinem Ohr! Anbieten muß ich meine Hülfe, es ist nirgends eine dringende Noth, auch Künste und Wissenschaften aus meinem geliebten phönizischen Vaterland, schlagen hier Wurzel, ohne wie dort im übermüthigen Tyrus, aus zuarten. Es ist alles glücklich (1/2, 491) W e n n Cocalis n u n feststellt, »[i]n passages like these, Stein a p p r o p r i a t e s c o m m o n l y m a l e - c o d e d attributes for Q u e e n D i d o w i t h o u t marginalizing h e r as a n aberration of nature« (Cocalis 1 9 9 6 , 88), 2 7 so ist dies zwar richtig, wird aber m i t d e m Verzicht a u f k o n k r e t e D a r s t e l l u n g von D i d o s R e g i e r u n g s h a n d e l n bezahlt.
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Vgl. Elisabeths Überlegungen in II/2, V. 1169-1173 u. 1178-1184: »Es [gemeint ist das Volk; M.W.] zeigt mir dadurch an, daß ich ihm nur / Ein Weib bin, und ich meinte doch, regiert / Zu haben, wie ein Mann und wie ein König. / Wohl weiß ich, daß man Gott nicht dient, wenn man / Die Ordnung der Natur verläßt, [...].[...] Doch eine Königin, die ihre Tage / Nicht ungenützt in müßiger Beschauung / Verbringt, die unverdrossen, unermüdet / Die schwerste aller Pflichten übt, die sollte / Von dem Naturzweck ausgenommen sein, / Der eine Hälfte des Geschlechts der Menschen / Der andern unterwürfig macht —« (vgl. SNA IX, 45). Und Mortimer bescheinigt der Königin in seiner schwärmerischen Begeisterung für Maria kurz darauf abfällig: »Die Frauenkrone hast du nie besessen, / Nie hast du liebend einen Mann beglückt!« (II/6, V. 1655f; vgl. SNA IX, 62). Bezeichnenderweise streicht Schiller die Rolle der Regentin bei seiner Bühnenbearbeitung des Egmont im Frühjahr 1796 (vgl. MA 3.1, 831). Die Frau, die aus ihrer angeblich »natürlichem Rolle heraustritt und ihr »Geschlecht verleugnet«, ist einige Jahre später auch Thema in Schillers Jungfrau von Orleans. Vgl. die Rede des Erzbischofs im dritten Akt: »Dem Mann zur liebenden Gefährtin ist / Das Weib geboren - wenn sie der Natur / Gehorcht, dient sie am würdigsten dem Himmel!« (III/4, V. 2205-2207 u. 2212; vgl. SNA IX, 252).
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Man muß daher weiter gehen als Lange, die anmerkt, bei Charlotte von Steins Titelfigur stünden »die staatsbürgerlichen Pflichten der Herrscherin nicht gegen ihre individuellen Interessen, sondern höchst unvermittelt neben ihnen« (Lange 1995, 109), denn »die staatsbürgerlichen Pflichten der Herrscherin« werden vielmehr im Stück von den »individuellen Interessen« Didos überlagert. Die »widersprüchliche Doppelidentität der Figur als öffentliche Person, und das heißt als Königin, und als Privatperson, und das heißt, als Frau« (Lange 1995, 108f.) wird — bedingt durch das angestrebte weibliche Idealbild - mit deutlichem Schwerpunkt auf der »Privatperson« ausgeführt. Die Trauer um ihren einst ermordeten Ehemann läßt sie bereits in der ersten Szene sogar ihre engste Vertraute Elissa fortschicken - »mein Herz ist selten eines vertraulichen Gesprächs mehr fähig; ich bitte dich, liebe Elissa, laß mich allein!« (1/1, 491) —, und sie raubt ihr gleich darauf im Eingangsmonolog jede Freude an dem eigentlich höchst zufriedenstellenden Zustand ihres Landes: So weit also kann es die menschliche Natur nicht bringen, ein fremdes Glük sich im Gefühl zu zu eignen? ο mein Acerbas! mein Gemahl! mit dir ward mir ein Welt-All geraubt. (1/2,491)
Wie Fleig ausführt, ist Dido »als Trauernde immer schon an einen Verlust gebunden, der sie als Königin schwächen muß« (Fleig 1999, 247). Deutlich wird dies vor allem in der vierten Szene des zweiten Aktes, wenn Dido Elissa gegenüber von dem Krieg spricht, den mir Jarbes ankündigt, wenn ich ihm meine H a n d versage. - Diese H a n d , mit der ich ein Gelübde that, sie nie einem zweiten Gemahl zu reichen — ein Herz hatte ich so nicht mehr zu geben. (II/4, 501)
Das Herz der Frau bleibt vergeben und an den toten Gatten gebunden. Daß damit aber auch die Hand der Königin gefesselt ist, widerspricht dem monarchischen Prinzip, zumal Dido kinderlos ist. Um dereinst eine geordnete Thronfolge zu gewährleisten, müßte die Königin nach Maßgabe der Staatsraison eine neue Verbindung eingehen, ob nun mit Jarbes oder jemand anderem. So etwas wie Staatsraison jedoch existiert für eine schöne Seele nicht, sie bildet ihren eigenen Wertekosmos, den sie keinem Sachzwang unterordnet. Deswegen gibt es bei Dido auch kein Zweifeln, kein Ringen mit sich selbst um den richtigen Weg, denn sie ist sich ihrer Entscheidungen stets gewiß und muß nicht erst in (tragödientypischen) langen monologischen Selbstbefragungen zu ihnen finden. Dementsprechend bleibt den Zuschauern das Zustandekommen all dieser Entscheidungen vorenthalten. Nie läßt Dido das Publikum teilhaben an Überlegungen oder Abwägungen — weil sie derer nicht bedarf. Nachdem die Gesandten ihr die Bedingungen Jarbes' dargelegt haben und ihr Ratgeber sie daran erinnert hat, daß das Volk einen solchen Schritt von ihr verlangen wird, verkündet sie lediglich: »Mein Schluß ist gefaßt« (1/7, 494). Dieser »Schluß« ist denn auch nicht mehr verhandelbar, selbst von Albicerio wünscht sie weniger Rat als vielmehr »Beifall« zu ihrem »Vorhaben« (II/4, 500), ihrem bereits »gefaßten Entschluß« (II/2,499), der - wie die Zuschau-
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er erst kurz darauf erfahren (II/4, 501) - darin besteht, der Krone zu entsagen und Karthago zu verlassen. Wie die Protagonisten des Stücks wird somit auch das Publikum vor vollendete Tatsachen gestellt, eine Konzeption, die befremdet und die der am traditionellen Tragödienschema geschulten Erwartungshaltung zuwiderläuft. Insbesondere vor dem letzten Aufaug entsteht auf diese Weise ein unschöner dramaturgischer Bruch, denn irgendwann zwischen Akt vier und Akt fünf erfährt Dido in ihrem selbstgewählten Exil offensichtlich nicht nur von der Notlage ihrer Freunde, sondern sie entschließt sich auch zur Rückkehr, macht sich auf den Weg und trifft wieder in Karthago ein, ohne daß der Zuschauer von all dem unmittelbar Kenntnis hätte. Er sieht Dido erst wieder, als sie zur Überraschung aller, auch der seinen, plötzlich im Tempel Karthagos auftaucht und das Trauerspiel seinem dramatischen Ende zustrebt. Wenn so der Eindruck entsteht, »that the decision and not the decisionmaking process is more important to the construction of meaning in the play« (Cocalis 1996, 90), so ist dies aber durchaus beabsichtigt. Auch Klauß bemängelt an Charlotte von Steins Stück, daß »fertige, feste, unvereinbare Meinungen« aufeinanderprallen und vermißt die »Entwicklung von Charakteren« (Klauß 1995, 237). Die schöne Seele hat ihre Entwicklung jedoch bereits abgeschlossen, sie galt der Zeit als Ideal- und Endstufe menschlicher, insbesondere weiblicher Persönlichkeitsbildung. Ein mixed character, dessen Fehlen im Stück Cocalis konstatiert (Cocalis 1996, 91), ist sie allerdings wahrlich nicht. Didos Festhalten an ihrem Treueschwur steht nie zur Debatte, zu keinem Zeitpunkt des Stückes erwägt sie ernsthaft, gegen ihr Gelöbnis zu verstoßen oder es auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit Jarbes ankommen zu lassen. Ersteres verbietet ihr Eid, letzteres ihre »Güte«. Innere Konflikte oder Selbstzweifel gibt es nicht. Allenfalls rechnete sie damit, daß ihr Volk sie aus eigenem Antrieb gegen Jarbes' Ansinnen verteidigen würde. Daß es im Gegenteil die Heirat gutheißt, empfindet sie zwar als »Undank«, verübelt es ihren Untertanen aber nicht: — so habe ich also nicht genug gethan! so habe ich mir nicht so viel Liebe von ihnen erworben, daß sie mich gegen die Gewalt eines Nachbars schüzen, der meine H a n d aus Raubsucht begehrt! — Aber auch Undank rührt mich nicht mehr. 28 (1/6, 493)
»[Erstaunlich schicksalergeben« (Fleig 1999, 241) für die Königin eines dank ihrer Führung prosperierenden Reiches fügt sie sich in die gegebenen Umstände, ohne daß ihre innere Ruhe dadurch beeinträchtigt würde oder sie Anstalten machte, die Umstände zu verändern, die als »Schicksal« betrachtet 29 und willig
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Das ist nicht die Haltung einer Regentin, die - insbesondere vor dem Hintergrund geleisteter Wohltaten — Gehorsam und Unterstützung ihres Volkes verlangen könnte, sondern entspricht vielmehr Erwartungen, die im zeitgenössischen Diskurs an die Geschlechterdifferenz zwischen Frau und M a n n gestellt werden: Die Aufgabe, sich Liebe dienend zu >erwerbennature«< gelten (Kord 1994, 96). Die Darstellung der Königin Dido als schöne Seele entsprach ganz dem von ihm entworfenen Programm, und die in der Nebenhandlung versteckten Attacken auf Goethe dürften ihm zum größten Teil gar nicht aufgefallen sein, da er dessen Briefwechsel mit Charlotte von Stein nicht kennen konnte. So spricht er denn der Verfasserin im Brief vom 2. Januar 1797 seine Anerkennung für die »Composition« aus, die man »unter die Bekenntniße rechnen könnte«, denn er habe weniges, ja vielleicht noch nie etwas in meinem Leben gelesen, was mir die Seele, aus der es flöß, so rein und klar und so wahr und prunklos überliefert hätte, und darum rührte es mich mehr als ich sagen kann. (SNA XXIX, 33)
Wie Dido aus dem männlich dominierten Bereich politischer Öffentlichkeit, wird somit indirekt auch die Verfasserin des Stückes aus dem männlich dominierten Bereich der Autorschaft gedrängt, denn indem Schiller ihr Werk »unter die Bekenntniße« rechnet, bedeutet sein Lob zugleich eine »Begrenzung der Frau als Schriftstellerin, die sich [...] nicht durch formale und inhaltliche Distanzierung von ihrer Lebenssituation in ihrer literarischen Produktion ablösen kann und die somit implizit als unkünstlerische [sie] bewertet wird« (Wurst 1991, 13). Diesen Mechanismus erkennt auch Bode (freilich ohne sich daran zu stören) und relativiert Schillers Anerkennung: »Daß Schiller den Ausdruck ihrer eigenen Gefühle und Gesinnungen überall in dem Stücke fand, war noch kein Lob. Das deutete eher auf ein künstlerisches Unvermögen« (Bode 1914, 420). 33
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Vgl. Düntzer 1874 (Bd. II, S. 92), Bode 1914 (S. 420), Seiliiere 1914 (S. 110), Redlsob 1943 (S. 78), Susmann 1951 (S. 172f.), H o f 1957 (S. 196), Klauß 1995 (S. 240), Söhn 1998 (S. 93) sowie Koopmann 2002 (S. 262). Bezugnehmend auf Stockhausen, der 1754 ausführte, einem Weib sei es zwar erlaubt, Empfindungen zu schreiben, aber nicht Schriftstellerin zu sein, heißt es bei Geitner: »Der ideale weibliche Text wäre damit lesbar als Empfindungsabdruck, als großes natürliches Zeichen, als moralisches, vom Charakter der Verfasserin determiniertes Statement.« (Geitner 1998, 39f.) Laut Schiller hätte Charlotte von Stein demnach einen solchen »idealen weiblichen Text« vorgelegt.
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Charlotte von Stein betritt beim Verfassen ihrer Dido nicht nur das traditionell >männliche< Gebiet der Autorschaft, ihr Drama »wagt sich« zudem »auf das traditionell »männliche« Gebiet der Politik« und kann »überdies als Verdammung männlicher Politik verstanden werden« (Kord 1998, IX). Indem sie jedoch diese »Verdammung« letztlich ganz im Kontext des ästhetischen Diskurses ihrer Zeit vorbringt und den programmatischen Gegensatz zwischen Frau (positiv) und Mann (negativ) implizit auf angeblich >natürlichewahre< Weiblichkeit sie per definitionem ausschließt, sondern zugleich auch zur Negierung der Autorschaft Charlotte von Steins, deren »zarte und edle Weibliche Natur« (SNA XXIX, 33) sich in ihrem Drama laut Schiller »so rein und klar und so wahr und prunklos« - will sagen: »so subjektiv und undifferenziert und so unkünstlerisch und abstraktionslos« — ausdrückt. Ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint, denn ein Schreiben außerhalb der gängigen Muster hätte die Hauptfigur zum >unnatürlichen< Mannweib stilisiert und somit ihrer Vorbildfunktion beraubt, und es wäre außerdem der Verfasserin übel angerechnet worden, ihre Protagonistin derart ungestüm Zugriff auf männliches Terrain nehmen zu lassen. So ist die Figur der Dido tatsächlich zum Spiegelbild ihrer Schöpferin geworden, allerdings in einem ganz anderen Sinn, als Schiller das meinte. Zusammenfassend kann man Dido, bezugnehmend auf den Titel der von Hoffschen Studie zum Werk deutschsprachiger Dramatikerinnen um 1800, als
Passagen, die auf das gleiche Denkrauster zurückgehen, finden sich auch in Charlotte von Steins Drama Die zwey Emilien von 1800, beispielsweise das folgende Streitgespräch zwischen dem Kammerdiener Williams und der Kammerfrau Connor aus III/11 (vgl. Die zwey Emilien. Ein Drama in vier Aufzügen. Nach dem Englischen. Tübingen 1803. S. 87f. Reprint in: Charlotte von Stein, Dramen (Gesamtausgabe). Hg. von Susanne Kord. Hildesheim u.a. 1998) III/l l,87f.): Williams·. Den Herrn nach Hause holen, wenn er bei der Geliebten ist, das mag der Beichtvater thun, ich gewiß nicht. Vernünftige Frauen drücken ein Auge zu, wenns nun einmal so ist, und sind versichert, den Beifall unsers ganzen Geschlechts dafür zu gewinnen. Connor. Und den Tadel des unsrigen. Denn die Nachsicht ist Verstellung, und Verstellung verdirbt das Herz. Williams·. Was thuts? Die meisten Stimmen gelten, der Männer sind viele, und das Herz ist nur eins. Daß die zweite der beiden titelgebenden Emilien, Emilie Fitzallen, eine Intrigantin mit durch und durch verdorbenem Charakter ist, wird am Ende des Stückes in ihren letzten Sätzen damit erklärt, daß sie »eine Männerseele« habe und »auf keine Art Fesseln tragen« wolle (IV/11, 129).
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»Drama des Weiblichen« bezeichnen. In ihrer Titelfigur entwirft Charlotte von Stein einen tugendhaften weiblichen Vorbildcharakter, der fest und unbeirrbar an seinen Grundsätzen festhält und am Ende sogar für sie stirbt. Schuld am Tod Didos tragen die männlichen Gegenspieler, machthungrige Akteure des politischen Feldes: Während der Barbarenkönig Jarbes mit seiner Armee die Bedrohung von außen darstellt, gefährden die Vertreter von Kunst und Wissenschaft, die ihren Einfluß mißbrauchen und sowohl das Heer als auch das Volk auf ihre Seite ziehen, Didos Reich von innen heraus. Solchermaßen ohnehin bereits von allen Seiten bedrängt, ist der Handlungsspielraum Didos durch ihre Doppelrolle als Frau und Königin zusätzlich beschnitten. Während ihren Gegnern jedes Mittel recht ist, die weibliche Herrschaft durch eine männliche zu ersetzen, ist sie in ihren Möglichkeiten durch einen festen Wertekanon eingeschränkt. Zwar gelingt es ihr gegen alle Widrigkeiten, sich selbst und ihren Grundsätzen treu zu bleiben, allerdings nur durch Niederlegung ihrer Krone und letztlich sogar um den Preis des eigenen Todes. Charlotte von Stein zeigt, wie die Frau in ihrer öffentlichen Rolle zum Opfer männlicher Machtspiele wird, deren perfide Mechanismen ihr vollkommen fremd sind. Indem sie ihre Titelheldin jedoch nach den Maßgaben des ästhetischen Diskurses ihrer Zeit zum Idealbild der >schönen Seele< stilisiert, vergrößert sie die Distanz zwischen der erhöhten, reinen Frau und den gewissenlosen Männern mit ihren durchtriebenen politischen Strategien derart, daß der Ausschluß des Weiblichen aus der männlich dominierten Öffentlichkeit geradezu folgerichtig erscheint. Mit der per se verderbten Sphäre des Politischen hat Dido >von Natur aus< rein gar nichts gemein, und so wird die Frau als Regentin in den Bereich der Utopie verwiesen, denn allenfalls unter ihresgleichen wäre ihr politisch-kulturelles Wirken möglich. Im diesseitigen Bereich machtpolitischer Intrigen hingegen, wie Männer ihn schufen und beherrschen, ist kein Platz fiir sie. Zur Aufgabe ihrer Prinzipien genötigt und ihres Handlungsspielraums nahezu völlig beraubt, entscheidet Dido sich fiir das öffentliche Selbstopfer als letzte, aufsehenerregende politische Tat, mit der sie sich dem Zugriff ihrer Widersacher entzieht und ihren Subjektstatus bewahrt. Damit bewahrheitet sich die Weissagung des Einsiedlers: Die Raserei wird dieThorheit leiten, und so stürzt ein berühmtes Reich in Abgrund der Dunkelheit, daß es durch Jahrhunderte die Geschichte nicht mehr nennen wird, deine erhabene Tugend aber wird durch Jahrtausende aufgezeichnet bleiben (IV/2, 514).
Denn es ist absehbar, daß in Karthago nun der offene Krieg um die Thronfolge ausbrechen wird. Dido hingegen, so kann man mit Gutjahr annehmen, wird »im Moment der öffentlichen Anerkennung ihrer Tat als Opfer zur Heroine« (Gutjahr 2001, 235), indem sie sich als Paradebeispiel tugendhafter Weiblichkeit durch ihre spektakuläre öffentliche Selbsttötung der kollektiven Erinnerung im Wortsinne einbrennt, ohne daß die zuvor verbannten Vertreter von Literatur, Philosophie
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und Geschichtsschreibung - die gemeinhin das kulturelle Gedächtnis eines Volkes entscheidend mitprägen — darauf noch relativierend Einfluß nehmen könnten. Indem Charlotte von Stein ihr Stück mit einem Menschenopfer enden läßt, mit dem Tod der Heldin auf dem Altar, kehrt sie ein anderes Drama ihrer Zeit um, dessen unmittelbare Vorgeschichte mit einem ähnlichen Ritual ihren Lauf nimmt und dessen Entstehung über mehrere Entwicklungsstufen sie sehr genau mitverfolgt hatte: Goethes Iphigenie. Im Vergleich beider Stücke wird nicht nur erneut deutlich, daß Dido auch jenseits der privaten Auseinandersetzung mit Goethes Person in der Gestalt des Ogon als Beispiel kritischer Goethe-Rezeption zu werten ist, sondern auch, wie sich gerade vor dem Hintergrund der Iphigenie Charlotte von Steins Dido und das darin entworfene Muster der tugendhaften Frau als weibliche Aneignung und partielle Umdeutung des zeitgenössischen ästhetischen Diskurses über das Wesen idealer Weiblichkeit lesen läßt.
6.3.3 Triumph der (inneren) Wahrheit. Dido und Goethes
Iphigenie
Auf deutliche Gemeinsamkeiten, die Charlotte von Steins Dido mit Goethes Iphigenie in Verbindung setzen, wurde seit Ende der 1980er Jahre wiederholt hingewiesen.35 Die auffälligste, das Menschenopfer in seiner speziellen Variante als Frauenopfer, wurde bereits genannt. Der Heiratsantrag eines barbarischen Königs an die Heldin des Stücks, dem durch die Drohung mit massiven, unmenschlichen Konsequenzen (Krieg bzw. Wiederaufnahme des Menschenopfers) Nachdruck verliehen wird, ließe sich hinzufügen. Dabei fallen allerdings auch gleich gravierende Unterschiede ins Auge: Iphigenie überlebt, Dido nicht. Thoas gibt Iphigenie frei, Jarbes beharrt auf seinem Ansinnen. Vergleicht man die beiden mythologischen Stoffe und ihre jeweilige Bearbeitung weiter, sind jedoch noch weitere Ähnlichkeiten, vor allem aber Differenzen zu vermerken. Den Vorgeschichten beider Hauptfiguren gemein ist beispielsweise der Verwandtenmord, und immer ist dieses unselige Geschehen, das den Gang der Handlung fortwährend überschattet, männlich geprägt. Didos Bruder Pygmalion ermordete ihren Gatten, bei Iphigenie reicht sogar eine ganze Kette männlicher Gewalt36 in der Ahnenreihe zurück bis zu Atreus bzw. Tantalus, den Urvätern ihres Hauses. Sie selbst sollte ihr einmal buchstäblich zum Opfer fallen, auf dem Altar der Diana, als ihr Vater Agamemnon einwilligte, die Tochter um günstiger Winde willen zu töten, mit denen das griechische Heer nach Troja segeln wollte. Seinerzeit durch das Eingreifen der Göttin gerettet, ist sie nun im Gang der 35
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Vgl. die Aufsätze von Böhm 1989, Lange 1991 und 1995, Goodman 1992, Fleig 1995 und 1999, Dietrick 1996 und Gutjahr 2001. Thoas gegenüber faßt Iphigenie den grausigen Bericht über ihre Vorfahren mit den Worten zusammen: »Dies sind die Ahnherrn deiner Priesterin; / Und viel unseliges Geschick der Männer, / Viel Taten des verworrnen Sinnes deckt / Die Nacht mit schweren Fittichen« (Iphigenie 1/3, V. 392-395, MA 3.1, 171).
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Dramenhandlung prädestiniert, die unselige Familientradition zu durchbrechen, zum einen weil sie als Frau an dem unseligen Erbe nur mittelbar - eben als Opfer - teilhat, zum anderen weil sie dem als schicksalhaft geltenden Fluch durch göttlichen Eingriff bereits einmal entronnen ist und damit drittens, räumlich von den Angehörigen getrennt, von den gewalttätigen Geschehnissen in ihrer Familie seitdem auch nicht mehr direkt betroffen war. Im fernen Tauris versetzt sie ihr Status als »Gottgegeb'ne« {Iphigenie 1/2, V. 99, MA 3.1, 164) und Priesterin in die Lage, an einflußreicher Stelle zu wirken. Ans Haus gefesselt, in Abhängigkeit vom Gatten ist die Rolle der Frau auch im 18. Jahrhundert auf den privaten Bereich begrenzt. Daß Goethes Iphigenie aus dieser Rolle heraustreten und zu einer im öffentlich politischen Raum erfolgreich Tätigen, zur Reformerin der Taurischen Gesellschaft werden kann, liegt an der Ausnahmesituation, in der sie sich befindet, an ihrem Exilstatus. (Schönborn 1999, 91)
Ein ähnlicher »Exilstatus« macht Dido fern der Heimat zur Regentin statt lediglich zur Gemahlin eines Königs. Beide, Iphigenie und Dido, erlangen ihre herausgehobenen Positionen in der Fremde, nachdem ein tragisches Geschehen sie aus der Einbindung in patriarchale Machtstrukturen befreit und in die vordere Reihe amtlicher Herrschaftsausübung gestellt hat. Ihr Gedenken an die in der Heimat Verlassenen unterscheidet sich jedoch grundlegend. Während Iphigenie, seltsam genug nach der erwähnten Vorgeschichte, sich nach den Verwandten sehnt und insbesondere ihren Vater, »den göttergleichen Agamemnon« {Iphigenie 1/1, V. 45, MA 3.1, 162) - der immerhin bereit war, sie, die eigene Tochter, flir das Gelingen eines Feldzuges zu opfern - mit dem wärmsten Ton sehnsüchtiger Tochterliebe beschreibt,37 ist das emotionale Band zwischen Dido und Pygmalion, dem Mörder ihres Mannes, zerschnitten.38 Nachdem im übertragenen Sinne »[d]er Dolch, mit dem er meinem Gemahl das Herz durchstach, [...] auch das meinige getroffen« hat {Dido 1/8, 494]), ist er für sie nur noch das »Ungeheuer Pygmalion« {Dido IV/14, 522), denn »Bruder kann ich ihn nicht mehr nennen« (ebd.). Charlotte von Stein fuhrt auch in diesem Punkt den Geschlechterkampf mit aller Schärfe aus, den Goethe bei der Bearbeitung seiner Vorlage stark gemildert hat, wie Schönborn ausfuhrt (vgl. Schönborn 1999, 91). Im Falle Didos trennt die mörderische Tat auch Blutsbande; geschwisterliche Liebe wird im Stück nur als »Schwesterliebe«, als Freundschaft unter Frauen ausgeführt. Iphigenie hingegen, die nach dem familiären Gesetz von Mord und Gegenmord als Tochter Klytämnestras eigentlich zur Rächerin der Mutter an ihrem Bruder Orest bestimmt wäre, bringt dem Bruder Freiheit und Erlösung von den Furien, statt
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Vgl. Iphigenie 1/3, V. 400^i03 (MA 3.1, 172): »Des Atreus ältster Sohn war Agamemnon: / Er ist mein Vater. Doch ich darf es sagen, / In ihm hab ich seit meiner ersten Zeit / Ein Muster des vollkommnen Manns gesehn.« Der Name eines zweiten Bruders, der offenbar seinerzeit mit ihr vor Pygmalion floh, und dem sie brieflich die Herrschaft über Karthago anträgt, bleibt im Stück ungenannt.
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in die Fußspuren ihrer Vorfahren zu treten. 39 So wird ihre (scheinbare) Opferung durch Agamemnon nachträglich mit Sinn erfüllt, indem die einstige Gewalttat ihres Vaters sie als Tochter letztlich in die heilbringende Lage versetzt, als »schöne« (.Iphigenie IV/2, V. 1493, MA 3.1, 201), »reine« (IV/4, V. 1583, MA 3.1, 204) und »hohe Seele« (V/6, V. 2143, MA 3.1, 220), vergebend und unbedingter Wahrheit verpflichtet, dem für ewig erachteten Kreislauf von Täuschung, Tod und Rache Einhalt zu gebieten. Sie löst sich aus dem bis dato unentrinnbaren Gesetz des Familienfluches, befreit Orest von der Verfolgung durch die Furien und ermöglicht allen die glückliche Heimkehr in die nunmehr entsühnte Burg von Mykene. Dido hingegen tritt nicht als Erlöserin des männlichen Geschlechts auf. Die »Utopie, die Goethes Dramatik bis zum Ende des Faust fortschreibt«, daß nämlich »[d]ie männliche Kultur [...] durch die weibliche >erlöstverdient< hat: »Sie rettet weder Hoffnung, weder Furcht« (Iphigenie III/1, V. 996, MA 3.1, 187).
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Es sind insbesondere zwei Punkte der Iphigenie, die Charlotte von Stein damit in ihrem Drama negiert. Zum einen die Perfektibilität der (meisten) männlichen Funktionsträger, denn Jarbes ist, anders alsThoas, weit davon entfernt, sich durch das Beispiel tugendhafter Weiblichkeit läutern zu lassen. Zum anderen aber, und das dürfte von noch größerer Bedeutung sein, verneint Charlotte von Stein die Bereitschaft eben dieser tugendhaften Weiblichkeit, sich für solche, der Erlösung durch das Weibliche unwürdigen Männer aufzuopfern. Denn der Tod Didos auf dem Altar ist als Opfer von ganz anderer Qualität, als es im Kalkül der sie bedrängenden Mächte vorgesehen war, die ja sehr wohl bereit waren, die Königin ihren Interessen zu >opfernFortgezogene< mitnichten »hinaus in das Land und weiter, vielleicht gar über die See« gereist ist, sondern sich eventuell nur verborgen hält — dabei aber genau beobachtet (Der Schäferin Klagelied, Strophe 2), wie der Geliebte erneut oder immer noch Blumen für einen Strauß sammelt {Schäfers Klagelied, Strophe 3). So wird die ausdrückliche Ankündigung eines eigenständigen, weiblichen Blickwinkels, wie sie im Titel erfolgt, gerade durch die intertextuelle Verschränkung beider Klagelieder gerechtfertigt. Rein textimmanent und rollenintern liest sich Der Schäferin Klagelied iL· Versuch der Schäferin, ihre ebenso unreflektiert wie unpräzise beklagte Abwesenheit, die Goethes Gedicht lediglich konstatiert, zu erklären, ihren Schmerz auszudrücken und damit die Klage des Schäfers als ungerechtfertigtes Selbstmitleid zu entlarven, das nicht unkommentiert bleiben darf. Vor dem biographischen Hintergrund der beiden Verfasser hingegen ist die weibliche Stellungnahme darüber hinaus als neuerliche Kritik Charlotte von Steins an Goethes früherem Verhalten ihr gegenüber zu werten. Indem sie die Trauer des Schäfers durch den Entwurf einer möglichen weiblichen Gegenposition relativiert, prangert sie die Melancholie in Goethes Gedicht als bloße, ihm nicht zustehende Rolle an. Somit zeigt sich aber, daß auch Charlotte von Stein selbst nach über dreizehn Jahren »seine Worte und seine süße Schalmey« noch nicht vergessen hat. Sie kann die Thematik enttäuschter Liebe im Lied des Schäfers, die Rolle des Verlassenen in Goethes Gedicht nicht einfach stehenlassen. Denn ob sie nun davon ausging, dieser habe tatsächlich ein reines Rollengedicht verfassen wollen und dabei eben mehr oder weniger gedankenlos den gängigen Topos von der untreuen Frau verwendet, oder ob sie in Schäfers Klagelied den subjektiven Ausdruck eigener Empfindung las, vom Autor unter der Maske des Hirten nur notdürftig versteckt - daß Goethe bei der Behandlung einer solchen Thematik von ihr und ihrer Situation offenbar gänzlich absehen konnte, erregt bei ihr immer noch Widerspruch. Nach ihrer Erfahrung sind es nun einmal nicht die Frauen, die kommentarlos »weit in das Land hinaus« ziehen. Und so holt sie die »vielleicht gar über die See« Verwiesene zurück, bricht förmlich in Goethes Gedicht ein, indem sie der von Goethe daraus verdrängten sie eine Stimme - ihre Stimme - leiht, und demontiert die männliche Nabelschau durch Artikulation des weiblichen Blickwinkels. Wie in Dido versucht Charlotte von Stein auch mit Der Schäferin Klagelied sowohl ihren persönlichen Standpunkt gegen den Goethes zu behaupten 167
als auch eine Darstellung von Weiblichkeit zu revidieren, die nicht die ihre ist. In ihrer Uberzeugung, »daß in unserm Geschlecht die ganz echte Tugend soll wohnend bleiben« (Charlotte von Schiller und ihre Freunde, 116), wehrt sie sich gegen das Bild der untreuen, >weggezogenen< Frau, das ihr möglicherweise auch in Anbetracht ihrer persönlichen Erlebnisse mit Goethe besonders unangebracht erscheint. Der larmoyante Ton der Klage über eine entschwundene Geliebte steht dem Mann, steht insbesondere diesem Mann ihrer Meinung nach nicht zu. Als Antwort auf das mitleiderregende Lied des Schäfers, dem »gar so weh« ist, entwirft sie einen kommentierenden weiblichen Gegengesang, der das Klagelied des Mannes vollkommen umwertet. Dabei arbeitet sie zwar subtiler als noch im Herbst 1786, wo sie Goethes Mondlied ausdrücklich nach meiner Manier umschrieb, aber auch in den Gesang ihrer Schäferin mischen sich unüberhörbar eigene Töne, zu offensichtlich sind die Parallelen zwischen der geschilderten Leidensgeschichte und der persönlichen Enttäuschung durch Goethe. Auf diese Weise deutet Charlotte von Steins Parodie Schäfers Klagelied im Sinne der auch schon Dido zugrundeliegenden Geschlechterdichotomie um und untergräbt die Klagelied-Fiktion der Vorlage, indem sie das Augenmerk auf deren reinen Rollencharakter lenkt und eben diese Rolle als unziemliche Maskerade zurückweist, die die Wahrheit verschweigt und das Geschlechterbild auf den Kopf stellt. Indem sie der Schäferin die Klage um ihren untreuen Geliebten in den Mund legt und damit die in Goethes Gedicht unterschlagene weibliche Position einbringt, stellt Charlotte von Stein das Szenario der Vorlage in einen neuen Kontext, der mit der Klage des Schäfers auch Schäfers Klagelied, das Gedicht als solches also, in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Denn in ihrem parodistischen Doppelschlag gegen den Schäfer und seinen Schöpfer ordnet Charlotte von Stein nicht nur ein männerzentriertes Szenario, das ihrem Erleben des Verhältnisses von Mann und Frau widerspricht, wieder bruchlos in ihr Paradigma geschlechtlicher Dichotomie ein, es gelingt ihr darüber hinaus abermals, die Äußerung grundsätzlicher Standpunkte mit der persönlichen Kritik an Goethe zu verbinden. (Daß dies erst auf den zweiten Blick deutlich wird, dürfte wohl mit ein Grund fur die mangelnde Beachtung sein, die Der Schäferin Klagelied in der Rezeptionsgeschichte bislang entgegengebracht wurde.) Ein weiteres Mal bekräftigt sie ihr Selbstverständnis als Opfer Goethes, als verlassene Frau und — in engem Zusammenhang damit - als weibliches Mitglied einer dichotomisch zusammengesetzten Gesellschaft. Schäfers Klagelied widersprach beidem. Charlotte von Stein übertönt es mit Der Schäferin Klagelied und verhilft so nicht nur der imaginären Schäferin, sondern auch sich selbst zu Präsenz und Stimme.
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8. Widerspruch und Gegenrede. Die produktive Goethe-Rezeption Charlotte von Steins
Die Beziehung zwischen Charlotte von Stein und Goethe war zu keinem Zeitpunkt konfliktfrei, zu unterschiedlich waren die Persönlichkeiten, die hier aufeinandertrafen. Die Adlige, die widerspruchslos die ihr vom Leben zugeschriebene Rolle am Weimarer Hof akzeptiert und eingenommen hatte, sah sich 1775 einem jungen, ungestümen Bürgerlichen gegenüber, dessen Persönlichkeitsentwicklung anscheinend mit dem explosionsartig gestiegenen Grad seiner Berühmtheit nicht hatte Schritt halten können. Der zunächst nur als Besuch geplante Aufenthalt des lauten, ungehobelten, demonstrativ unkonventionellen Dichters aus Frankfurt am Main befriedigte zwar ihre Neugier, denn auch sie hatte seine Werke gelesen und brannte darauf, deren Verfasser kennenzulernen. Aber sein unziemliches Auftreten enttäuschte ihre Erwartungen, ja mehr noch: Es irritierte sie zutiefst, daß es plötzlich Mode zu werden schien, »gewiße Verhältniße aus den Augen« zu setzen, es stieß sie ab, daß der Herzog selbst sich einer solchen Bewegung anscheinend hemmungslos hingab, und es traf sie in ihrem Selbstverständnis als Frau und Mitglied des Hofes, mit welchem Unernst der junge Frankfurter seinen weiblichen Mitmenschen begegnete. Charlotte von Steins Matinee Rino aus dem Frühjahr 1776 spiegelt deutlich die anfängliche Skepsis, die im Laufe der Jahre zwar abnahm, aber wohl nie völlig verschwand. Die Autorin fordert von ihrem Verehrer den Willen zur Ordnung, die Einhaltung protokollarischer Regeln und ein seiner Stellung und der seines Gegenübers angemessenes Verhalten. Seine zur Schau getragene Werther-Attitüde mißbilligt sie zutiefst. Die Pose des unberechenbaren Außenseiters ist für sie nicht interessant, sondern gefährlich, denn sie droht das Gefüge des höfischen Zeremoniells zu unterminieren und damit allem den Boden zu entziehen, worauf Charlotte von Steins (moralische und materielle) Existenz beruht. Ihre Grundeinstellung, daß es die Pflicht eines Menschen sei, seiner Leidenschaften Herr zu werden, und daß sich niemand von Affekten das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen muß, der dies nicht will, prägt nicht nur ihren Charakter, sondern auch ihr Verhältnis zu Goethe - und was sich davon in ihrem Werk niederschlägt. Deswegen ist auch ihre besondere Art der Goethe-Rezeption insbesondere anfangs noch keine im eigentlichen Sinne literarische, sondern vor allem eine, die sich auf seine Person bezieht und nicht in erster Linie auf seine Dichtung. Die Werther-Verweise in Rino dienen dazu, die Selbstinszenierung Goethes karikieren und damit kritisieren zu können, denn nicht der Briefroman wird verhandelt, sondern das gesellschaftliche Auftreten 169
seines Autors. Ahnlich verhält es sich mit dem Mondlied nach meiner Manier, für das Goethes yl« den Mondvot allem deshalb die ideale Vorlage bildete, weil es dem Gehalt und der Entstehungszeit nach ganz in die ersten Weimarer Jahre gehört, und weil Goethe sich durch seine wortlose Abreise, die Charlotte von Stein als brüsken Vertrauensbruch empfinden mußte, zu allen in seinem Gedicht dereinst getroffenen Aussagen in Widerspruch gesetzt hatte. (Daß es einem seiner Briefe an sie beigelegen haben dürfte, tut sein übriges.) Durch sein Verschwinden zudem des einzig denkbaren Adressaten ihrer Enttäuschung und Wut beraubt, verfaßt sie jenen Gegengesang, der nun seinerseits mit der im ursprünglichen Mondlied beschworenen Seelenfreundschaft bricht, und betont durch den Untertitel dieser Paraphrase ausdrücklich ihren Anspruch, Stellung zu nehmen und wenigstens die poetische Vorlage mit etwas Eigenem, Abweichendem zu konfrontieren, wenn sie momentan schon ihres Urhebers nicht habhaft werden kann. Dieser Anspruch auf Bekundung der eigenen Position ist der Motor ihrer gesamten Goethe-Rezeption. Sie will sich äußern. Sie will sich einbringen. Sie will ihre Meinung kundtun. Und in der Regel heißt das: Sie will Kritik üben. Die Verzweiflung darüber, durch Goethes Abreise des Dialogpartners beraubt und damit regelrecht zum Schweigen verurteilt worden zu sein, wie sie sich im Mondlied und in Ihr Gedancken fliehet mich niederschlägt, zeigt, von welcher Bedeutung die Möglichkeit zu direkter Kommunikation für Charlotte von Stein ist. Ihre Domäne ist der Diskurs. Die Gedichte aus dem Herbst 1786 verleihen ihrem Schmerz zwar Ausdruck, vermögen ihn aber nicht zu überwinden, wie dies etwa Goethe bei seiner Überarbeitung des Mondliedes gelingt. Die dichterische Auseinandersetzung mit ihm gestaltet sich für sie als fortwährende Debatte, und so stellt Charlotte von Stein ihre Manier gegen die Goethes oder beantwortet das Klagelied seines Schäfers mit dem einer Schäferin. Der kommunikative Impetus läßt sich auch an dem hohen Stellenwert ablesen, den parodistische Elemente unterschiedlicher Ausprägung in ihrem Werk einnehmen: Rino und die Ogon-Episode der Dido sind Goethe-Parodien, die als Personalsatiren karikaturhaft mit dem Mittel komischer Überzeichnung arbeiten, um konkrete Verhaltensweisen zu kritisieren. An den Mond nach meiner Manier und Der Schäferin Klagelied wiederum sind im traditionellen Sinne Par-Odien, Gegengesänge, die sich der Vorlage bemächtigen, sie dadurch kommentieren und in ihrer Aussage relativieren. Charlotte von Stein geht es nicht in erster Linie um die Autonomie von Kunstwerken, sondern im Gegenteil um deren konkreten Weltbezug, die Wechselwirkung zwischen Kunst und Leben, um Dialogizität. Denn im gesellschaftlichen Leben Weimars ist Kunst fester Bestandteil der höfischen Kommunikation, sie prägt den täglichen Umgang sowohl in Gestalt geselliger Gespräche über Kunst als auch in der beliebten Form des Sprechens durch Kunst. Als entschiedene Verfechterin einer Wirkungspoetik erwartet Charlotte von Stein von Poesie zum einen die Bereitstellung nachahmenswerter Vorbilder (und entwirft dementsprechend mit der Dido-Figur selber eines, das ihrer Idealvor170
Stellung einer selbst-bewußten weiblichen Tugend entspricht) und nutzt die Literaturproduktion zum anderen als Forum, um ihre eigenen Ansichten zu kommunizieren und Themen zu verhandeln, die sie berühren. So ist ihre literarische Auseinandersetzung mit Goethe immer auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen Grundsätzen, deren erprobtes Fundament durch die Empfindungen für den sieben Jahre jüngeren Freund vorübergehend ins Wanken gerät und im Innersten erschüttert wird, als das Verhalten Goethes die einstmals »so liebe Sünde« einer zur reinen Seelenfreundschaft überhöhten außerehelichen Beziehung in den Augen Charlotte von Steins definitiv zum »Unrecht« degradierte. Das Gefühl, von ihm betrogen worden zu sein, ist denn auch die bestimmende Konnotation aller Spiegelungen von Goethes Person im Steinschen Werk seit 1786: Der verzweifelte Aufschrei im Mondlied und in Ihr Gedancken fliehet mich, die Kontroverse zwischen Ogon und Elissa in Dido, die Andeutungen der klagenden Schäferin — immer wieder und immer wieder neu dient Dichtung bei Charlotte von Stein auch als Plattform ihrer privaten Auseinandersetzung mit Goethe. Dieses persönliche Element darf jedoch, insbesondere was ihre späteren Arbeiten betrifft, nicht als Kernbotschaft betrachtet werden, mit der der gesamte Text steht und fällt, denn anders als Rino erschöpfen sich diese Werke nicht mehr in privaten Anspielungen. Ein Gedicht wie Der Schäferin Klagelied wirkt auch außerhalb des persönlichen Bezugrahmens und ist verständlich, ohne daß man den Goetheschen Prätext kennen müßte. Ahnliches gilt auch für Dido, die zudem viel zu komplex ist, als daß man der Figur des Ogon jene Relevanz zubilligen dürfte, die ihr lange Zeit aus einem allzu einseitigen Forschungsinteresse heraus bescheinigt wurde. Die Goethekarikatur dient nur als ein Beispiel unter mehreren, mit Hilfe derer die Grundproblematik des Stückes, das Verhältnis der Geschlechter, illustriert wird, und wenn auch anzunehmen ist, daß Charlotte von Stein in ihrer Vorstellung einer strikt geschlechtsdichotomischen Aufteilung der Welt durch ihre persönlichen Erfahrungen mit Goethe nochmals bestärkt wurde, so geht ihr Stück doch weit über einen privaten Rachefeldzug hinaus. Vielmehr gestaltet sie in Dido den grundsätzlichen weiblichen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben und demonstriert, daß im Zweifelsfalle der Selbstmord (mithin ein selbstbestimmter Tod, der dem selbstbestimmten Leben ein selbstbestimmtes Ende setzt) einer aufgeopferten Existenz allemal vorzuziehen sei. Vom Frauenbild ihrer Zeit, dem die Heldin des Stückes auf den ersten Blick in so vielen Punkten entspricht, rückt Charlotte von Stein damit in einem ganz entscheidenden Punkt ab, nämlich dem Postulat der Opferbereitschaft, zeichnet ihr Ideal von Weiblichkeit darüber hinaus vor dem düsteren Hintergrund einer Gruppe um so verderbterer Männer und weist insbesondere jeden männlichen Zugriff auf das Leben der Frau, den Anspruch des Mannes auf ihre (ihm) heilbringende Opferbereitschaft, scharf zurück. Das hebt die Kontroverse mit Goethe, dessen antiker Heldin Iphigenie in der Steinschen Dido kontrastierend ein Alternativbeispiel mythologischer Weiblichkeit erwächst, auf eine andere, mehr ästhetische Ebene, indem die rein 171
private Auseinandersetzung über das Verhalten des Freundes ihr gegenüber und seine dichterische Vereinnahmung ihrer Person zu einer grundsätzlichen Diskussion der Geschlechterrollen und ihrer künstlerischen Darstellung erweitert wird. Damit pocht Charlotte von Stein ebenso auf die Daseinsberechtigung des eigenen Lebensentwurfes wie die Heldin ihres Trauerspiels. Und wie sie selbst darauf besteht, sich zu äußern, ist es nur folgerichtig, daß sie diese Möglichkeit auch der von Goethe marginalisierten Schäferin einräumt, deren Stimme sich bei ihr erheben kann, wo er nur dem Schäfer Raum zur Klage gibt. In Bezug auf Goethe sind Charlotte von Steins Werke stets Antworten, oder besser gesagt: Entgegnungen, denn seinem Reden folgt ihre Gegenrede, seinen Entwürfen ihr Gegenentwurf. Immer wieder konfrontiert sie ihn literarisch mit der gemeinsamen Vergangenheit, aber eben auch mit ihrer eigenen, ausdrücklich als >weiblich< empfundenen Sichtweise, wodurch die rein persönliche Auseinandersetzung mit ihm zusehends immer weniger das eigentlich ausschlaggebende Moment ihrer Dichtung bildet, sondern im Laufe der Zeit mehr und mehr in der poetischen Darstellung auch ästhetischer und weltanschaulicher Aspekte aufgeht. Die biographischen Aspekte stellen so nicht mehr den alleinigen Schlüssel zum Verständnis der Werke dar, sondern geraten in dem gleichen Maß zu einer Art zweiter Bedeutungsebene mit eher illustrierendem Charakter, in dem Charlotte von Stein neben der kritischen Begleiterin der Person Goethes auch zu der seines Werkes wird. In dieser Doppelrolle läßt sie kaum etwas unkommentiert. Wenn man ihr eigentliches Talent, das parodistische Schreiben, näher untersucht und genau betrachtet, wie Charlotte von Steins Texte sich der Worte ihrer Vorlagen bemächtigen, wenn man feststellt, wie die Autorin frühere Bedeutungsrahmen durch Einbettung in einen neuen Kontext um- und entwertet, Aussagen kontrastiert und so eigene Wertvorstellungen propagiert, dann wird ein ums andere Mal deutlich, wie zielgerichtet sie sich der Worte und Werke Goethes bedient, um sie zweckentfremdet und in einem veränderten Sinnzusammenhang gegen ihren Urheber zu richten. Charlotte von Stein redet Goethe nicht nach dem Munde, sie spricht förmlich gegen ihn an. Nicht trotz, sondern gerade wegen all der Bezugnahmen auf Goethe ist diese weibliche Stimme kein bloßes Echo männlicher Rede. Sie ist ein Widerhall.
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II. Produktive Goethe-Rezeption bei Marianne von Willemer
1. Im Schatten Suleikas
Goethe im Werk Marianne von Willemers, das bedeutet bis heute vor allem: Marianne von Willemer im Werk Goethes. Seit Herman Grimm 1869 in den Preußischen Jahrbüchern ihre Mitwirkung am West-östlichen Divan bekanntgab - Goethe hat mindestens drei ihrer Gedichte mit leichten Abänderungen in seine Sammlung übernommen —, richtet sich die Aufmerksamkeit auf jene Gestalten, die seinem berühmten Aufsatz den Namen gaben, Goethe und Suleika. Rezeptionsgeschichtlich wurde dieser Titel Programm, denn er drückt nicht nur die Rangfolge der beiden betroffenen Personen aus, sondern gibt auch die Blickrichtung vor, aus der das Augenmerk literaturwissenschaftlicher Forschung seitdem auf Marianne von Willemer fällt. In der unseligen Personalunion mit Goethes ästhetischer Figur aus dem Divan, deren Vorbild sie nicht war, aber deren endgültige literarische Ausgestaltung durch die Bekanntschaft mit ihr maßgeblich beeinflußt wurde, ging sie als eigenständige Dichterpersönlichkeit weitgehend unhinterfragt auf — und unter. Was im Divan von ihr stammt, wurde in der Regel als genuiner Teil der Goetheschen Sammlung begriffen und in deren poetischem Kontext gesehen,1 denn da in Marianne von Willemers Gedichten an Goethe, wie man befand, ohnehin »ein Teil seines eignen Wesens atmete« (Wukadinovic 1926, 32) und allein »Goethes dämonische Kraft [...] sie hinauf zu seiner Höhe« gerissen hatte (Keck 1925, 14), da »das Wunder ihrer Existenz« (Unseld 1998, 51) also darin bestand, daß ihre Worte letztlich »Goethes Worte wurden« (Milch 1947, 78), schien eine Beschäftigung mit ihrem lyrischen Werk als solchem zumeist überflüssig.2 Ausführliche Interpretationen ihrer Gedichte - zumal jener
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Vgl. etwa Andreae 1905 und Böckmann 1949. Die Gleichgültigkeit in dieser Hinsicht geht so weit, daß beispielsweise im Goethekalender für die Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts 1998 unter der Überschrift »Marianne schreibt auf ihrem Weg zu Goethe« zwar das Lied an den Ostwind zitiert wird — aber in der von Goethe für die Aufnahme in den Divan überarbeiteten Version (vgl. Biedrzynski 1997, 100f.). Und auch das angeführte Lied an den Westwind hat Marianne von Willemer in dieser Form nie geschrieben, denn es ist das entsprechende Suleika-Lied aus dem Divan (vgl. Biedrzynski 1997, 104). Solche Nachlässigkeit im Umgang mit Marianne von Willemer als Dichterin ist indes keine Seltenheit, wie etwa die Beobachtungen Laufenbergs bezüglich der diversen fehlerhaften Willemer-Zitate im Heidelberger Schloßpark zeigen (Laufenberg 1993, 279-283).
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Gedichte, die nicht Teil des Divan wurden — gibt es bis heute kaum, 3 und die Abhandlungen zum West-östlichen Divan erwähnen zwar die Mit-Urheberschaft Marianne von Willemers und zitieren bisweilen sogar die ursprüngliche Fassung ihrer Gedichte, betrachten diese dann aber doch zumeist ausschließlich im Horizont von Goethes Gedichtsammlung, als seien sie von ihm oder doch zumindest in seinem Namen eigens für die Veröffentlichung darin verfaßt worden. Daß ihre Lyrik sich der Aneignung durch Goethe geradezu anbot, daß sie mit den Gedichten, die sie für Goethe schrieb, »den schönsten, einzigen Lohn in seinem Beifall, seiner Neigung« (Schmidt 1884, 3 0 5 ) suchte, machte diesen als Initianten zum >eigentlichen< Verfasser. Eine eingehende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Dichterin
Marianne von Willemer schien sich daher weitgehend zu erübrigen.
Rege Aufmerksamkeit wurde der Frankfurterin hingegen als biographischer Etappe im Leben des Dichterfürsten zuteil, denn nach wie vor fasziniert diese Altersliebe Goethes zu der fünfunddreißig Jahre jüngeren Ehefrau seines Bekannten Johann Jakob Willemer, die sich - wohl einmalig in der Literaturgeschichte - in Form eines dichterischen Dialoges der Beteiligten produktiver auf das Werk des Dichters auswirkte als andere seiner Beziehungen. Entsprechend zahlreich sind die diesbezüglichen und bis in die jüngste Vergangenheit hinein stetig zunehmenden Abhandlungen. Viele der biographischen Studien zum Thema tragen die Ineinssetzung der historischen Person Marianne von Willemers mit der literarischen Gestalt aus Goethes Werk bereits im Titel: »Marianne - Suleika«, »Marianne von Willemer. Goethes Suleika«, »Suleika. Vom Ewigen in der Liebe«, »Suleika. Marianne von Willemer — ihr Liebesroman mit Goethe«, »Marianne Willemer, Goethes Suleika ( 1 7 8 4 - 1 8 6 0 ) « , »Marianne von Willemer - Goethes Suleika«.4 Nicht nur die Gedichte Marianne von Willemers werden damit implizit Goethe zugerechnet, dessen Divan sie sich so nahtlos einfügten, sondern apostrophiert als Goethes Suleika erscheint sogar die Verfasserin als Goethes Geschöpf, als Dichterin allein von Goethes Gnaden, aus deren Mund letztlich das Genie selbst sprach. D a ß sie selbst in zahlreichen Äußerungen diese Einschätzung teilt, Goethe in ihren Liedern vielfach zitiert und darüber hinaus deren ungefragte Aufnahme in den Divan nie kritisiert, sondern regelrecht als Auszeichnung empfunden hat, trug vermutlich mit dazu bei, daß eine eingehende Untersuchung der ebenso hintersinnigen wie kunstvollen Konstruktion ihrer Lieder an den verehrten Weimarer Dichter als eigenständige Leistung bisher unterblieb. Die systematisch hergestellte Anwesenheit Goethes in ihrem lyrischen Werk ist so unübersehbar, daß sie dessen Charakter als Poesie aus eigenem Recht zu überlagern scheint.
3
Erfreuliche Ausnahmen bilden beispielsweise die Ausführungen von Behrens über das
Gedicht Der Dichter darf zuerst sich nennen (Behrens 1987) sowie Mangers umfassende Analyse von Euch grüß ich weite, lichtumflaßne Räume (Manger 1987). 4
Vgl. Schmidt 1902, Bahn 1928, Buchheim 1948, Stepanek 1960, Wacha 1984 und Kahn-Wallerstein 1985.
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Die vorliegende Analyse wird die Lyrik Marianne von Willemers an Goethe nicht als vertretungshalber angefertigte Verse Goethes, sondern ausdrücklich in ihrer Funktion als Goethe-Lyrik in den Blick nehmen, als bewußt und ausschließlich für den Freund angefertigte Poesie. Auf der Suche nach dem poetologischen Prinzip der Gedichte gilt es sodann, Gestalt und Funktion der mehr oder weniger deutlichen intertextuellen Anspielungen auf Goethes Werk von Fall zu Fall zu hinterfragen. Betrachtet man in dieser Weise Goethe als Objekt der Lyrik Marianne von Willemers und nicht als deren eigentliches Subjekt, stellen sich jene drei Gedichte, die später Eingang in den West-östlichen Divan fanden, nicht mehr als singuläres, einzig durch den schöpferischen Einfluß des Weimarer Genies erklärbares Phänomen dar, sondern ordnen sich ein in eine nachvollziehbare Entwicklungslinie, die sich bereits im Anschluß an die ersten Besuche Goethes in Frankfurt 1814 auf der Basis der beiderseits gepflegten Gelegenheitslyrik im Briefwechsel zu einem dichterischen Dialog auswächst (s. S. 179ff.). So wird der Blick frei auf eine ganze Reihe anderer Gedichte (darunter die bekannten Verse auf das Heidelberger Schloß, s. S. 221 ff.), die ebenfalls in den Kontext der Beziehung zu Goethe gehören, sie immer wieder schlaglichtartig erhellen und neben dem Adressaten auch das Motiv >Goethe< gemein haben. Diesen Bogen chronologisch von den ersten Briefen und Stammbucheintragungen über die Briefgedichte und sonstigen Kasualcarmina bis hin zur tatsächlichen Liebeslyrik zu verfolgen und die fruchtbare Verschränkung von Briefwechsel und Gelegenheitslyrik nachzuvollziehen, aus deren gattungsgemäß vorgegebenem Gesprächscharakter der dichterische Dialog zwischen Marianne von Willemer und Goethe erst erwächst, soll Aufgabe der anstehenden Untersuchung sein. Dementsprechend wird eine Analyse des Briefwechsels mit Goethe die diversen Gedichtinterpretationen ergänzen (s. S. 207ff.). 5 Besonderes Augenmerk gilt dabei — wie bereits im Falle Charlotte von Steins — der gezielten poetischen Vereinnahmung >Goetheshoher< Erlebnisdichtung und vermeintlich per se >niederer< Gelegenheitsdichtung wurde erst später gezogen. »Goethe selbst«, wie Richter in der Münchner Ausgabe feststellt, »macht diesen Unterschied nicht« (MA 11.1.1, 396). Allgemein geht man heute davon aus, daß die Urform von Hochbeglückt in deiner Liebe von Marianne von Willemer stammt und das Gedicht somit das erste ist, das Goethe von ihr in den Divan übernahm. Auch sie selbst hat Herman Grimm gegenüber später angedeutet, diese Verse »auf meinem Gewissen« zu haben (Vgl. Im Namen Goethes. Der Briefwechsel zwischen Marianne von Willemer und Herman Grimm. Hg. von Hans Joachim Mey. Frankfurt a. M. 1988, S. 230. Im folgenden: BW W/G). In wieweit Goethe die Vorlage jedoch abgewandelt hat, ist nicht mehr festzustellen, da die angenommene Urfassung nicht erhalten ist (vgl. ΜΑ 11.1.2, 603).
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vierstrophigen Gedicht, in dem sie scherzhaft ihre Bitte um eine entsprechende Gegenleistung aussprach. Ein Ausspruch Goethes diente ihr dabei als Einleitung, ein weiterer wurde zum Refrain: Zu den Kleinen zähl ich mich, Liebe Kleine nennst D u mich. Willst D u immer so mich heißen, Werd ich stets mich glücklich preisen, Bleibe gern mein Leben lang Lang wie breit und breit wie lang. Als den Größten kennt man Dich, Als den Besten ehrt man Dich, Sieht man Dich, m u ß man Dich lieben, Wärst Du nur bei uns geblieben, O h n e Dich scheint uns die Zeit Breit wie lang und lang wie breit. Ins Gedächtnis prägt ich Dich, In dem Herzen trag ich Dich, Nun möcht ich der Gnade Gaben Auch noch gern im Stammbuch haben, Wärs auch nur den alten Sang: Lang wie breit und breit wie lang. Doch in Demut schweige ich, Des Gedichts erbarme Dich, Geh ο Herr nicht ins Gerichte Mit dem ungereimten Wichte, Find es aus Barmherzigkeit Breit wie lang und lang wie breit. Frankfurt a. M., den 12. Oktober 1814 Mariane Willemer geb. Jung (in: BW G/W, 1 lf.)
Daß der »große« Goethe sie während seines Frankfurter Aufenthaltes offenbar des öfteren »liebe Kleine« genannt hatte, benutzt Marianne Willemer zur Eröffnung ihrer gereimten Ansprache. Das Gedicht kommt dabei in seiner demonstrativen Unbeholfenheit als eine Art poetisches Äquivalent seiner Verfasserin daher, die nicht nur bei der Körpergröße hinter Goethe zurückbleibt, sondern sich auch hinsichtlich ihres dichterischen Vermögens bewußt als die »kleinere« stilisiert. Dieser zweifache >Größenunterschied< trägt als inventio das gesamte Gedicht: Die »liebe Kleine« bittet mit ihrem »ungereimten Wicht« den »größten« Dichter um »der Gnade Gaben«, nämlich um einen (gereimten) Eintrag in ihr Stammbuch (V. 15f.) als Gegenleistung für den ihren. 6 Die übliche Demutshaltung, in der
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Stepaneks Anmerkung zu diesem Gedicht, »sie [gemeint ist Marianne Willemer; M.W.] weiß natürlich, daß es nicht gut ist, daher schließt sie: Find' es aus Barmherzigkeit / Breit wie lang und lang wie breit« (Stepanek 1960, 101), impliziert, der Verfasserin wäre die Verfertigung formal anspruchsvollerer Verse nicht möglich gewesen. Die scheinbare Unzulänglichkeit des »ungereimten Wichtes« ist jedoch absichtsvoll konstruiert und korrespondiert der inhaltlichen Aussage.
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man Ranghöhere um eine Gabe bittet, wird damit zwar beibehalten, die Bescheidenheitsgeste aber zugleich - insbesondere in der letzten Strophe - humoristisch abgemildert und die captatio benevolentiae ironisch gebrochen, wie denn auch die refrainartige Wiederholung der von Goethe oft und gern verwendeten Redewendung »breit wie lang«7 (einer Floskel, die dem heute geläufigeren »gehupft wie gesprungen« entspricht, vgl. ΜΑ 11.1.1, 419) nicht unbedingt von ehrfürchtiger Zurückhaltung zeugt, sondern den Adressaten aus der Position freundschaftlicher Vertrautheit heraus mit einer seiner Marotten neckt und der Hoffnung Ausdruck verleiht, dem so Besungenen eben möglicherweise doch nicht »breit wie lang«, also gänzlich gleichgültig zu sein. Aufschlußreich ist die (Rück-) Datierung des »wohl nicht vor Dezember verfaßten« Gedichts (BW G/W, 292), denn durch den Verweis auf den 12. Oktober 1814 erinnert Marianne Willemer »an ihr erstes Zwiegespräch mit Goethe« (BW G/W, 292). 8 Zu den Kleinen zähl ich mich erfüllt damit alle Voraussetzungen eines klassischen Gelegenheitsgedichts, wie Segebrecht sie 1977 zusammenfaßte: [E]s ist wesentlich situationsbezogen und öffentlichkeitszugewandt, es vollzieht sich als ein gesellschaftlicher Akt; [...]. (Segebrecht 1977, 324)
Der »Situationsbezug« ergibt sich nicht nur aus der Datierung; auf Goethes Aufenthalt in Frankfurt wird auch verwiesen, indem sich Marianne Willemer erneut ausdrücklich als seine »liebe Kleine« in Erinnerung bringt und seine Abreise bedauert (»Wärst Du nur bei uns geblieben«). Als Eintrag in ein Stammbuch, das auch fürderhin von Hand zu Hand gehen würde, sind die Verse darüber hinaus »öffentlichkeitszugewandt«, und sie vollziehen sich »als ein gesellschaftlicher Akt«, denn mit ihnen entspricht die Verfasserin der Bitte Goethes um einige freundschaftliche Zeilen und erwidert sie zugleich mit der entsprechenden Gegenbitte. Auf diese bezieht sich Goethe in seiner prompten Antwort vom 14. Dezember und schreibt an Willemer: Daß ich der lieben Kleinen noch ein Blättchen schuldig bin, habe nicht vergessen, und ich hege diese Schuld gleichsam als ein Denkmal meiner übrigen Schulden. Ein guter Augenblick gibt mir bald, hoff ich, den Mut, einen Teil abzutragen. (BW G/W, 13)
»Bald« erfolgte das versprochene »Blättchen« dann allerdings nicht. Erst gut vier Monate später, am 26. April 1815, schickte Goethe seine gereimte Erwiderung - eine Verspätung, die jedoch vor allem daraus resultierte, daß ihm eine ganz bestimmte Art aufwendiger Umrahmung im orientalischen Stil vorschwebte, die der Weimarer Zeichenlehrer Lieber in seinem Auftrag erst noch fertigstellen mußte
7 8
Vgl. auch Goethes Epigramm Breit wie lang (MA 11.1.1, 55). Goethe hatte am 12. Oktober 1814 seiner Frau geschrieben: »Abend zu Frau Geheimräthinn Willemer: denn dieser unser würdiger Freund ist nunmehr in forma verheiratet. Sie ist so freundlich und gut wie vormals. Er war nicht zu Hause« (WA-IV, Bd. 25, 58f).
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(vgl. B W G / W , 2 9 7 ) , d e n n a u f sie bezieht sich der A n f a n g v o n G o e t h e s A n t w o r t g e d i c h t u n d bliebe o h n e e i n e s o l c h e Verzierung unverständlich: Reicher Blumen goldne Ranken Sind des Liedes würdge Schranken; Goldneres hab ich genossen Als ich Euch ins Herz geschlossen. Goldner glänzten stille Fluten Von der Abendsonne Gluten. Goldner blinkte Wein zum Schalle Glockenähnlicher Kristalle. Weisen Freundes goldne Worte Lispelten am Schattenorte, Edler Kinder treu Bekenntnis, Elterliches Einverständnis. Goldnes Netz das Euch umwunden Wer will seinen Wert erkunden! Wie dem heiigen Stein der Alten M u ß sich Golde Gold entfalten. Und so bringt vom fernen O r t e Dieses Blatt Euch goldne Worte, Wenn die Lettern, schwarz gebildet, Liebevoll der Blick vergüldet. Weimar März 1815.
Goethe (in: BW G/W, 22)
W i e B o s s e (ebenfalls m i t B e z u g a u f Segebrecht) feststellt, w a r e n d u r c h d i e Vorg a b e n , die M a r i a n n e W i l l e m e r m i t ihrer g e r e i m t e n Bitte g e m a c h t hatte, a u c h für Reicher Blumen
goldne
Ranken
bereits i m Vorfeld »die spezifischen B e d i n g u n g e n
e i n e s G e l e g e n h e i t s g e d i c h t s vorgezeichnet«: »situationsbezogen« in der Erinnerung an den gemeinsamen Frühherbst, »öffentlichkeitszugewandt« als Stammbucheintrag, und als Geschenkgabe entsprach es einem »gesellschaftliche(n) Akt«. (Bosse 1999 I, 352) D a das G e d i c h t aber z u d e m » c h r o n o l o g i s c h G o e t h e s ersten Versuch« darstellt, » a u c h die G e d i c h t h a n d s c h r i f t selbst orientalisierend verzieren zu lassen« (Bosse 1 9 9 9 I, 3 5 3 ) , markiert es darüber h i n a u s a u c h j e n e n Z e i t p u n k t , an d e m sich i m lyrischen D i a l o g z w i s c h e n G o e t h e u n d M a r i a n n e W i l l e m e r erstmals s o etwas w i e w e s t - ö s t l i c h e s Kolorit findet9 - e i n M o t i v , das die abermalige E n t g e g n u n g aus Frankfurt, d i e e i n e m Brief J o h a n n Jakob W i l l e m e r s v o m 1. M a i 1 8 1 5 beilag, al-
9
Bosse weist nach, daß Reicher Blumen goldne Ranken Teil des Wiesbadener Registers war, in dem Goethe Ende Mai 1815 seine bis dato fertiggestellten D/yan-Gedichte verzeichnete (vgl. Bosse 1999 I, 35 IfF.). Im fertigen Divan fand es letztlich aber - »wohl wegen des deutlichen biographischen Bezuges«, wie Richter vermutet (MA 11.1.1, 458) - doch keine Aufnahme. Goethe ordnete es 1827 in seiner Ausgabe letzter H a n d der Abteilung »Inschriften, Denk- und Sendeblätter« zu — unter dem Titel An Geheimerath von Willemer, unbeschadet des Plurals »Euch« in der Anrede der Verse (vgl. Bosse 1999 I, 354).
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lerdings noch nicht aufgreift, wenn sie schlicht die vierte Strophe des Goetheschen Gedichts zu einem Dankesgruß umwandelt: Goldnes Netz was Dich umwunden, Kann es Seinen Werth erkunden? Heil! Ihm dessen goldne Worte, Uns beglückt am schatten Orte. (Faksimile auf S. 10 der von Hecker 1922 besorgten Ausgabe des Briefwechsels zwischen Goethe und Marianne von Willemen Original im Düsseldorfer Goethemuseum)
Wie schon in Zu den Kleinen zähl ich mich, geht Marianne Willemer also auch in diesem Fall von einer Vorlage Goethes aus. Waren es damals Aussprüche des Freundes, die sie von ihm anläßlich eben jenes Besuches gehört hatte, auf den ihr Gedicht verwies, so liefern ihr diesmal just die Verse, für die sie sich bedanken möchte, das Motiv für die Antwort. Auf diese Weise klingt die Gelegenheit, der die Gedichte entspringen, jedesmal mit, wenn Marianne Willemer sie dichterisch ver- und bearbeitet. Der Anlaß wird im doppelten Wortsinne »zitiert«, indem die Worte Goethes, des Adressaten, miteinbezogen und zu eigener Aussage umgewandelt werden. Dieses Prinzip liegt auch dem wahrscheinlich ersten der Willemerschen Gedichte zugrunde, das Goethe später in seinen West-östlichen Divan aufnahm. Es entstand als Antwort auf sein Nicht Gelegenheit macht Diebe, das er Mitte September 1815 niederschrieb: Nicht Gelegenheit macht Diebe Sie ist selbst der größte Dieb, Denn sie stahl den Rest der Liebe Die mir noch im Herzen blieb. Dir hat sie ihn übergeben Meines Lebens Vollgewinn, Daß ich nun, verarmt, mein Leben Nur von dir gewärtig bin. Doch ich fühle schon Erbarmen Im Carfunckel deines Blicks Und erfreu in deinen Armen Mich erneuerten Geschiks. (MA 11.1.1, 118)
Die Entgegnung auf diese Verse ist leider nur in Goethes Reinschrift mit Datum vom 16. September 1815 erhalten. Ob und in welchem Ausmaß er die Vorlage verändert hat, läßt sich daher nicht mehr feststellen. Grundsätzlich entspricht die Antwort auf Nicht Gelegenheit macht Diebe jedoch in so hohem Maße dem Produktionsprinzip der bisher betrachteten Willemerschen Gelegenheitslyrik, daß Marianne von Willemers spätere Behauptung, auch dieses Z);M«j-Gedicht »auf dem Gewissen« zu haben (BW W/G, 230), durchaus ihre Berechtigung haben dürfte.
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Hochbeglückt in deiner Liebe Scheit ich nicht Gelegenheit, Ward sie auch an dir zum Diebe Wie mich solch ein Raub erfreut! Warum läß't d u dich berauben? Gieb dich mir aus freyer Wahl, Gar zu gerne möcht' ich glauben Dass dein Herz ich selber stahl. Was so willig d u gegeben Bringt dir herrlichen Gewinn, Meine Ruh, mein reiches Leben Geb ich freudig, n i m m es hin. Scherze nicht! Nichts von Verarmen! Macht uns nicht die Liebe reich? Halt ich dich in meinen Armen Welch ein Glück ist meinem gleich. (MA 11.1.1, 119 bzw. 604 und 603)
Das Gedicht nimmt nicht nur das Versmaß und die zentralen Motive von Nicht Gelegenheit macht Diebe auf, es behält auch die wichtigsten Reimwörter bei: Diebe/Liebe, geben/Leben, Gewinn/bin (hin), Erbarmen(Verarmen)/Armen. Wie es jedoch die Reihenfolge der ersten beiden umkehrt, so stellt es auch die Aussage der Vorlage auf den Kopf. Von »freyer Wahl« statt von Diebstahl ist die Rede, wodurch der Sprecher der Vorlage eben nicht »verarme«, sondern doch vielmehr »reich« werde. Denn wo dieser noch davon sprach, von nun an sein Leben »nur von dir gewärtig« zu sein, bietet die ihm entgegnende Sprecherin im Gegenzug »freudig« auch noch ihr eigenes »Leben« als Dreingabe an. Der Bezug auf das Vorangegangene ist jederzeit spürbar, das Gedicht entsteht unmittelbar aus den Versatzstücken seiner Vorlage. Die weibliche Stimme (im Divan wird Hochbeglückt in deiner Liebe später Suleika zugeschrieben) antwortet der männlichen (Nicht Gelegenheit macht Diebe eröffnet den Dialog als Rede Hatems) mit deren eigenen Worten — und äußert sich dennoch eigenständig, indem sie sich das Entlehnte aneignet und zu dialogischer Gegenrede umformt. Welche Bedeutung dieses Vorgehen innerhalb der Lyrik Marianne Willemers für und an Goethe gewinnt, soll im folgenden nachgezeichnet werden. Zunächst anhand ihrer beiden bekanntesten Gedichte, den Liedern an Ost- und Westwind, die Goethe in leicht überarbeiteter Form seinem West-östlichen Divan einverleibte und die gegenüber Hochbeglückt in deiner Liebe den Vorteil haben, daß ihre ursprüngliche Gestalt bekannt ist.
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3. Mit gleichem Wort und Klang.1 Marianne Willemers Gedichte an Ost- und Westwind
Ende Mai 1815 bricht Goethe, wie schon im Vorjahr, zu einer Reise an Rhein und Main auf. Von Wiesbaden aus, wo er sich bis einschließlich Juli einer Badekur widmet, meldet er Johann Jakob Willemer (der ihn seit den letztjährigen Begegnungen wiederholt eingeladen hatte, den nächsten Aufenthalt in Frankfurt bei ihm zu verbringen) seine Anwesenheit und trifft am 12. August auf dessen Sommerwohnsitz ein, der unmittelbar am Mainufer gelegenen Gerbermühle. Bis zum 18. September bleibt er dort Gast Willemers und seiner Frau, unterbrochen nur durch einen einwöchigen Aufenthalt in deren Frankfurter Stadthaus, während dem der Kontakt aber keineswegs abreißt. Wie schon die Monate zuvor stehen auch diese Wochen für Goethe ganz unter dem Zeichen seines West-östlichen Divan, der in der geselligen Atmosphäre der Gerbermühle stetig weiter wächst. Das Ehepaar Willemer nimmt regen Anteil an Goethes Produktivität. An den Abenden sitzt man gemeinsam mit dem Freund Sulpiz Boisseree lange beisammen, Goethe liest aus seinen Gedichten (nicht nur, aber insbesondere aus den allerneuesten), und Marianne Willemer - ausgebildete Sängerin - trägt Vertonungen seiner älteren Lieder vor. Beide knüpfen übergangslos wieder an jenen Grad tiefer gegenseitiger Sympathie an, der sich zwischen ihnen bereits im Vorjahr entwickelt hatte, und Goethes Begeisterung für den Orient überträgt sich auf seine junge Verehrerin. Wie er liest auch sie im Divan des persischen Dichters Hafis, denn Goethe hatte ihr ein Exemplar in der Ubersetzung Hammers geschenkt, und sie weiß, daß insbesondere diese Gedichtsammlung für ihn der inspirierende Anstoß gewesen war, selbst etwas Derartiges zu verfassen.2 Und so wird aus dem literarischen Divan-Spiel allmählich Leben, spätestens als Marianne Willemer Goethes 66. Geburtstag mit viel Liebe und Aufwand ganz im orientalischen Stil ausrichtet. Boisseree berichtet in seinem Tagebuch von
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Goethe: Behramgur, sagt man, hat den Reim erfanden, V. 4 (vgl. M A 11.1.2, 84). Vgl. Goethes Eintrag in den Tag- und Jahresheften von 1815: »Schon im vorigen Jahre waren mir die sämtlichen Gedichte Hafis in der von Hammerschen Ubersetzung zugekommen, und wenn ich früher den hier und da in Zeitschriften übersetzt mitgeteilten einzelnen Stücken dieses herrlichen Poeten nichts abgewinnen konnte, so wirkten sie doch jetzt zusammen desto lebhafter auf mich ein, und ich m u ß t e mich dagegen produktiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. Die Einwirkung war zu lebhaft, die Deutsche Ubersetzung lag vor, und ich m u ß t e also hier Veranlassung finden zu eigener Teilnahme« (MA 14, 239).
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Schilf, das »wie Palm-Bäum zwischen d. Fenster gebunden« worden war, von einem »Turban von dem feinsten indischen Muslin« (möglicherweise eine direkte Anspielung auf Goethes im Februar entstandenes Gedicht Komm Liebchen, komm! umwinde mir die Mütze) und von »passende[n] Verse[n] aus dem Hafis«, die die Geschenke zierten (Boisseree: Tagebücher I, 258). Aufmerksamkeiten wie diese oder der türkische Sonne-Mond-Orden, den Marianne Willemer Goethe von der Frankfurter Messe mitbringt3 (und der später Anstoß gibt zu dessen Die Sonne kommt! Ein Prachterscheinen!) sowie der wechselseitige und gemeinsame Vortrag goethescher Gedichte in Gesang und Rezitation prägen die gesellige Atmosphäre, in der letztlich, als Krönung des längst angebahnten dichterischen Dialogs und direkte Reaktion auf Goethes Nicht Gelegenheit macht Diebe, Marianne Willemer jene Entgegnung verfaßt, die als Hochbeglückt in deiner Liebe Eingang in den West-östlichen Divan finden sollte (s.o.). Dichtend schlüpft die junge Frau in die von Goethe bereits im Mai geschaffene und ihr aus seinen Vorträgen bekannte Rolle der »Suleika«, der jugendlich-schönen Angebeteten »Hatems«, deren Erwiderungen und Gedanken dem späteren Buch Suleika seinen Gesprächscharakter verleihen. So entstehen wesentliche Teile des Divan nicht nur für Marianne Willemer (als Gruß und Geschenk Goethes), sondern regelrecht durch sie, sowohl indirekt, wenn Geschenke wie der orientalische Orden zum Nährboden neuer Gedichte werden, als auch ganz direkt, wenn Goethe ihre eigenen Verse später nahezu unverändert in seinen Divan übernimmt. Kaum mehr auszumachen ist heute unter all den Legenden, die sich um diesen Herbst 1815 ranken, jener Punkt, an dem für Marianne Willemer die Grenze zwischen Spiel und Ernst zu verwischen begann. An der Leidenschaftlichkeit der Beziehung besteht kein Zweifel; gleichwohl bleibt sie eingelassen in eine Sphäre geselligen Umgangs, in die auch der Gatte Mariannes mit einbezogen war. (MA 11.1.2, 315)
Richters vorsichtige Einlassung trifft den Kern des Problems, denn der Divan ist mehr als nur Reim gewordene Biographie, und »seine biographistische Reduktion auf einen >Liebesroman< verbietet sich« (ΜΑ 11.1.2, 316). Insbesondere das Buch Suleika ist geprägt durch das kaum durchschaubare Ineinander von spielerischen Elementen und dem poetischen Ausdruck subjektiven Empfindens. Dabei »gibt das persönliche Erleben den Gedichten ein gutes Stück ihrer eigenen Lebensverbindlichkeit« (MA 11.1.2, 316), denn daß sowohl Goethe als auch Marianne Willemer emotional ganz erheblich involviert waren, belegen zum einen die Willemerschen Briefe, in denen sich nach vollzogener Trennung teilweise tiefe Depression spiegelt, und zum anderen die Tagebucheintragungen Boisserees, der
3
Vgl. ihren Brief vom 2. März 1824: »[I]ch brachte damals den Mondesorden mit nach Haus, den mir der türkische Kaufmann für den großen Dichter gegeben hatte. Wie glücklich war ich über den gelungenen Scherz, er schien Ihnen Freude zu machen;« (BW G/W, 147).
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Goethe nach dem Abschied in Heidelberg noch einige Tage begleitete und seine tiefgreifende Erschütterung dokumentiert hat. Eine Erschütterung freilich, an der er selbst nicht unschuldig war, als er, wie früher schon so oft, die ihn bedrängende Situation durch Flucht beendete, nämlich durch die Heimreise über die Würzburger Route, anstatt, wie den Willemers versprochen, noch einmal in Frankfurt vorbeizuschauen. Heidelberg und insbesondere das Heidelberger Schloß wurde so für Marianne Willemer zum Ort des Wiedersehens und zugleich - was sie damals noch nicht wissen konnte und viele Jahre lang nicht wahrhaben wollte — zum Ort des endgültigen Abschieds, denn Goethe und sie haben sich nie wiedergesehen. Am 18. September 1815 hatte er die Gerbermühle verlassen und war über Darmstadt nach Heidelberg gereist. Boisseree unternahm Anstalten, das Ehepaar Willemer am 25. besuchsweise nachkommen zu lassen, aber völlig überraschend trafen Willemer, seine Frau und seine älteste Tochter bereits am 23. September ein. Es folgten noch einmal drei letzte gemeinsame Tage unbeschwerten Miteinanders, denen Goethes Divan Herzstücke wie An vollen Büschelzweigen, Lieb' um Liebe, Stund'um Stunde und insbesondere das für dieses Wiedersehen programmatische Wiederfinden verdankt. Aber auch die beiden bedeutendsten Beiträge Marianne Willemers zum West-östlichen Divan stehen in unmittelbarem thematischen Zusammenhang mit diesen Heidelberger Tagen, das Lied an den Ost- und sein Gegenstück an den Westwind. Man muß allerdings betonen, daß die Verfasserin ihre Gedichte ganz sicher nicht als zukünftige Teile des Divans geschrieben hat, ebensowenig wie das vorangegangene Hochbeglückt in deiner Liebe. Es waren ihrerseits persönliche Grüße an Goethe, (Rollen-)Gedichte, in denen sie sich selbst einbringen und doch hinter dem Schleier »Suleikas« die gesellschaftlich verlangte Distanz zu einem Mann wahren konnte, der seinerseits verheiratet und darüber hinaus nicht nur ein berühmter Dichter, sondern auch ein Freund ihres Mannes war. Mit einer Veröffentlichung ihrer Verse im West-östlichen Divan kann Marianne Willemer nicht gerechnet haben, dazu bestand überhaupt kein Anlaß. Man muß die Urschrift ihrer Lieder daher als das betrachten, als was Goethe sie erhielt: Als Liebesgedichte in west-östlichem Gewand,4 Ausdruck eigenen Empfindens unter der orientalischen Maske, die Goethe ihr angeboten und die die begabte junge Frau bereitwillig angelegt hatte, um dem Dichter durch demonstrative Eingliederung in die von ihm geschaffene Welt ihre Zuneigung und Ehrerbietung zu erweisen. Der charakteristische Divan-Ton bot ihr dabei die Möglichkeit, die erprobte Praxis der produktiven Anverwandlung zu perfektionieren und sie über den Gebrauch vorgegebener Textbausteine hinaus wie spielerisch auch auf stilistische und allgemein thematische Elemente auszuweiten. Sowohl das Lied an den Ostwind als auch jenes an den Westwind verhandeln dabei Situationen der Einsamkeit, in denen die direkte Kommunikation zwischen 4
Trunz spricht etwas zurückhaltend von den »privaten Gedichten« an Goethe (HA II,
639). 189
den Liebenden durch räumliche Trennung verhindert wird. Beide Gedichte entspringen der Distanz, denn während in Was bedeutet die Bewegung? das Wiedersehen noch Gegenstand sehnsüchtiger Erwartung ist, wurde 'mAch um deinefeuchten Schwingen bereits der Abschied vollzogen. Aus diesem Grunde wird bis heute häufig davon ausgegangen, beide Lieder seien unmittelbar auf der Hin- und Rückreise Marianne Willemers nach bzw. von Heidelberg entstanden. 5 Daß sie die Trennung von Goethe, das Wiedersehen sowie den erneuten Abschied thematisch aufnehmen und im Divan-Ton stilisieren, steht außer Zweifel (die Ortsbezeichnung Dort wo hohe Mauern glühen dürfte sich auf das im Abendrot leuchtende Heidelberger Schloß beziehen). Daß sie allerdings wirklich exakt am 23. und 26. September - in der fahrenden Kutsche zwischen Frankfurt und Heidelberg - verfaßt worden seien, erscheint in der Tat »wenig glaubhaft« (Debon 1992, 164). Vermutlich ist es die faszinierende Authentizität der (Manenbader) Elegie Goethes, 1823 im Gefühl des endgültigen Abschieds von der Liebe tatsächlich im Wagen niedergeschrieben (der in Spezialanfertigung für den Weimarer Dichter und Minister über ein Schreibpult verfügte), die diese liebgewonnene Anekdote über den Heidelberger Aufenthalt Marianne Willemers so unentbehrlich werden ließ; der voreingenommene Blick von Goethe her gab auch hier das Ergebnis der Untersuchung vor. Aber selbst Goethe hat nicht alle seine Gedichte in der rollenden Kutsche verfaßt, und auch die Lieder an Ost- und Westwind verlieren nichts von ihrer poetischen Kraft, wenn Marianne Willemer sie nicht auf den Knien im schaukelnden Wagen, sondern am Schreibtisch geschrieben hat - wovon im übrigen neben Debon auch Weitz auszugehen scheint. Er nimmt zumindest die Entstehung von Ach um deine feuchten Schwingen aufgrund markanter Ähnlichkeiten in Wortwahl und Tonfall eines Briefes an Boisseree erst fur die Zeit nach dem 9. Oktober 1815 an und damit für einen Termin, zu dem Marianne Willemer bereits von Goethes plötzlicher Abreise aus Heidelberg über Würzburg nach Weimar erfahren hatte und ihr daher klar gewesen sein mußte, daß ein erneuter Besuch in Frankfurt keinesfalls vor dem nächsten Jahr zu erwarten war (BW G/W, 342). 6 Wenn nun Goethe seine beiden
5
6
Entsprechende Aussagen beispielsweise bei Scherer 1886 (245), Keck 1925 (14), Pyritz 1948 (41), Böckmann 1949 (226), Angelica 1950 (663), Korff 1958 (II, 181), Staiger 1959 (III, 50), Beutler 1995 (408f.), Biedrzynski 1998 (lOOf.), Unseld 1998 (64) und Schütt 2001 (120). Friedenthal hingegen n i m m t eine feinsinnige Unterscheidung vor, wenn er vermutet: »Marianne folgt ihm, zunächst mit Gedichten: »Was bedeutet die Bewegung? / Bringt der Ostwind frohe Kunde?', dann in persona, mit Willemer und dessen Tochter« (Friedenthal 1963, 610). Dem widerspricht Debon, wenn er nachzuweisen sucht, daß das Lied an den Ostwind erst »in Frankfurt und aus der Rückschau entstanden« sei (Debon 1992, 166). In der M ü n c h n e r Ausgabe urteilt Richter salomonisch, Marianne Willemer habe ihr Gedicht »wohl am 23. September 1815, dem Tag ihrer Reise nach Heidelberg, geschrieben« (MA 11.1.2, 635), während Trunz in der Hamburger Ausgabe ebenfalls noch der Überzeugung Ausdruck verleiht, es sei »auf ihrer Fahrt von Frankfurt nach Heidelberg« entstanden (HA II, 639). Weitz zitiert aus dem Brief vom 9. Oktober: »[D]er Westwind hat sein Amt angetreten und hat uns Regen gebracht... Der Nachricht zufolge, die einige Damen [...] nach Frank-
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Reinschriften der überarbeiteten Gedichte Marianne Willemers auf den 2 3 . und den 2 6 . September 1 8 1 5 datiert (vgl. Μ Α 1 1 . 1 . 2 , 6 3 5 u. 6 3 9 ) , so ist dies zunächst nicht mehr als ein ideeller Verweis auf die Tage des unverhofften Wiedersehens und der erneuten Trennung in Heidelberg, ähnlich dem Bezug, den Marianne Willemer mit ihrer Datierung von Zu den Kleinen
zähl ich mich
auf den 12. Oktober
1 8 1 4 herstellte (s.o.). Einen unmittelbaren Rückschluß auf das Entstehungsdatum seiner Vorlagen kann man daraus nicht ziehen; allenfalls auf zeitliche Nähe läßt sich schließen, wie sie auch der Inhalt beider Gedichte impliziert. Die Verfasserin selbst hat eine Abschrift des Ostwind-Liedes, die sie vermutlich als Beilage ihres Schreibens vom 2 1 . Januar 1 8 5 7 an Herman G r i m m sandte, auf den 6. Oktober 1 8 1 5 datiert. 7 Auch vor dem Hintergrund der Tatsache, daß sie ihr Gedicht auf das Heidelberger Schloß aus dem Sommer 1 8 2 4 nachweislich noch einmal gezielt überarbeitet hat (s. S. 2 2 1 - 2 2 3 ) , und angesichts ihrer späteren Ermahnungen an Herman Grimm, den Wortlaut seiner Gedichte mit Bedacht auszuarbeiten und auf Details in der Diktion zu achten, 8 ist die Legende von den im Kutschgalopp zu Papier gebrachten Strophen für Goethe mit Vorsicht zu genießen, zumal es ihren Verfechtern in der Regel nicht darum geht, das handwerkliche Können Marianne
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furt brachten, dürfte Ihr Gast wohl schon abgereist sein, und mit ihm verschwindet auch unsre Hoffnung, den 18. Octobre in seiner Gesellschaft zu erneuen; der Turm auf dem Mühlberg wird sich gewaltig wundern, mag er; solange man sich wundert, betrübt man sich nicht, und so hat er das beste Teil erwählt... [Nachschrift] Soeben erhielten wir Goethes Brief und erfahren mit Bedauern, daß er über Würzburg nach Weimar reist« (BW G/W, 34lf.). »Vielleicht hat Claudine auch einiges von mir erzählt, wenn sie dich überhaupt schon gesehen; es war meine Absicht, dir dieses Briefchen durch ihre Vermittlung zu senden, aber ich brachte es nicht zur Ausführung, weil ich noch unbeweglich war, und sie nicht mehr zu mir kommen konnte. So sende ich es denn auf seine eigne Füße gestellt und zugleich jene Strophen, die du von mir verlangtest« (BW W/G, 239f.). Vgl. etwa die folgenden Briefstellen: »Nur zwei Stellen sind mir störend: die eine heißt: >Ich auch folge dir nach' etc. - die beiden Worte machen nacheinander beim lauten Lesen keinen guten Effect, und dann: >ich verlasse den Platz, da mein ich, Ort wäre schöner, (am 2. Januar 1853, vgl. BW W/G, 132) — »Und ich muß noch einmal bemerken, deine Sprache leidet nicht an Sandkörnern deinem Caracter entsprechend, wohl eher daran, daß in deinem Schreibtisch neben der guten Idee kein Platz für die Feile zu sein scheint.« (am 18. Juni 1853, vgl. BW W/G, 148) - »Aber genug, die Idylle ist gut, einige kleine Fehler im Rhythmus wirst du entfernen im Lautlesen.« (am 22. November 1853, vgl. BW W/G, 164) — »Nun habe ich das Ganze nochmals durchgelesen und finde vortreffliche Stellen, aber im ganzen ist es nicht so fleißig gearbeitet wie deine früheren Sachen; besonders sind mir die vielen Abbreviaturen aufgefallen, die für die Diction nachteilig sind; ich müßte dir alles mit dem Buch in der Hand bemerken, was mich befremdet. Und gerade darum, weil das Stück gesehen, aber auch gehört wird, so muß die Sprache Wohllaut haben; aber ich kann nur nach dem Gehör darüber urteilen, wenn ich mir die fraglichen Stellen laut vorlas.« (am 10. Januar 1855, vgl. BW W/G, 196) - »Im ganzen muß ich dir und deinem Urteil durchaus beipflichten: das Stück ist nicht reif, du hast es übereilt, es spricht sich, wie du selbst sagst, eine unruhige Hast darin aus und das ist schade, es könnte vollkommen sein, und ist besonders in Hinsicht auf Sprache für einen Dichter, denn das bist du! unverantwortlich nachlässig behandelt. Worte wie verlöret, geböte sind unschön« (am 28. Februar 1855, vgl. BW W/G, 2 0 5 f ) . 191
Willemers herauszustellen (das sie befähigt hätte, vollendete Lyrik aus dem Stegreif zu dichten), sondern hier häufig lediglich der Versuch bzw. die Versuchung spürbar wird, die bewunderten Produkte ihrer Feder wie selbstverständlich aus einem blinden Schaffensrausch im Moment starker Gefuhlsaufwallung herzuleiten. Eine solche Beschwörung begeistert-unbewußten Liebestaumels dient jedoch nur dazu, Was bedeutet die Bewegung und Ach um deine feuchten Schwingen letztlich wieder allein dem genialen Initianten Goethe zuzuschreiben, der Muse, der diese Gedichte gewidmet waren. Im Gegensatz zu solcher Mystifizierung soll die folgende Analyse nachzeichnen, wie bewußt Marianne Willemer die Anverwandlung des Goetheschen Divan-Konzeptes einsetzt, um sich Goethe dichtend anzunähern, unter der Maske seiner Suleika sich selbst einzubringen und unter Zuhilfenahme seiner Bildersprache bzw. unter Rückgriff auf seine literarischen Vorbilder den eigenen Standpunkt zu artikulieren.
3.1
Erfrischtes Leben. Marianne Willemers Gedicht an den Ostwind Was bedeutet die Bewegung? Bringt der Ostwind frohe Kunde? Seiner Schwingen frische Regung Kühlt des Herzens tiefe Wunde. Kosend spielt er mit dem Staube, Jagt ihn auf in leichten Wölkchen, Treibt zur sichern Rebenlaube Der Insekten frohes Völkchen. Lindert sanft der Sonne Glühen, Kühlt auch mir die heißen Wangen, Küßt die Reben noch im Fliehen Die auf Feld und Hügel prangen. Und mich soll sein leises Flüstern Von dem Freunde lieblich grüßen, Eh noch diese Hügel düstern Sitz ich still zu seinen Füßen. Und du magst nun weiter ziehen, Diene Frohen und Betrübten, Dort wo hohe Mauern glühen Finde ich den Vielgeliebten. Ach, die wahre Herzenskunde, Liebeshauch, erfrischtes Leben Wird mir nur aus seinem Munde, Kann mir nur sein Athem geben. (in: BW G/W, 335f.)
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Zwei Fragen des lyrischen Ichs eröffnen das Gedicht als inneren Monolog, wobei die zweite lediglich eine etwas ausführlichere Wiederholung der ersten darstellt. Die Sprecherin nimmt einen Lufthauch (»Bewegung«) wahr, als dessen Verursacher Vers 2 den »Ostwind« kenntlich macht. Unmittelbar darauf wird auch das Rätsel seiner »Bedeutung« gelöst: Ausgestattet mit »Schwingen« (und damit gattungsgemäß personifiziert) ist er durch sein Wehen offenbar in der Lage, »des Herzens tiefe Wunde« zu »kühlen«, also Liebesschmerz zu lindern - eine Feststellung, mit der die Frage, ob er denn »frohe Kunde« bringe, bereits Ende der ersten Strophe implizit bejaht wird. Auch die Folgestrophen unterstreichen den mildtätigen und wohltuenden Charakter dieses Ostwindes, der nicht mehr zu sein scheint als eine sanfte Brise. Nur »in leichten Wölkchen« jagt er den Staub auf, er »kost« und »spielt« und stellt offenbar auch für »der Insekten frohes Völkchen« keine ernsthafte Bedrohung dar. Vielmehr bringt er angesichts herrschender Hitze Natur und Mensch Erleichterung, indem sein Wehen »der Sonne Glühen lindert«. Dabei müssen jedoch die »heißen Wangen« des lyrischen Ichs, die es zu kühlen gilt (Strophe 3), nicht allein durch einen klimatisch begünstigten Spätsommer begründet sein. Denn berücksichtigt man, daß das Gedicht ein bevorstehendes Wiedersehen mit dem Geliebten thematisiert, dann assoziiert das erhitzte Gesicht ebensogut Aufgeregtheit, Erröten und freudige Anspannung. Der Ostwind scheint somit nicht nur jene Hitze zu »lindern«, die mit »der Sonne Glühen« vom Himmel niederbrennt, sondern auch die, die aufgrund emotionaler Betroffenheit aus dem eigenen Innern aufsteigt und als deren Ursache bereits eingangs »des Herzens tiefe Wunde« ausgemacht wurde. Sein Talent als Seelentröster resultiert aus seiner Botenrolle: Eine »kühlende«, schmerzstillende Wirkung entfaltet »seiner Schwingen frische Regung« deshalb, weil der Ostwind einen »lieblichen« Gruß »von dem Freunde« mit sich führt, eine Botschaft, die zwar nur »leise flüsternd« übermittelt wird, aber der Sprecherin doch die Gewißheit bringt, daß sie »eh noch diese Hügel düstern« bescheiden und »still zu seinen Füßen« sitzen wird. Keine Rede von Uberschwang und Leidenschaft, von Kuß und Umarmung. Es wirkt daher auf den ersten Blick befremdlich, welche Veränderungen Goethe an dieser Strophe vorgenommen hat, als er das Gedicht in den Divan aufnahm: U n d mir bringt sein leises Flüstern Von d e m Freunde tausend Grüße; Eh noch diese H ü g e l düstern Grüßen mich wohl tausend Küsse. ( M A 11.1.2, 86)
Die Bewertungen der Eingriffe Goethes fallen dementsprechend unterschiedlich aus. Marianne Willemer schreibt am 21. Januar 1857 in einem Brief an Herman Grimm: Es ist doch nur eine einzige [die Rede ist von einer einzigen Strophe; M . W . ] , die G [oethe] verändert hat, und ich weiß wirklich nicht warum, ich finde die meine wirklich schöner. ( B W W / G , 240)
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In seinem Aufsatz Goethe undSuleika
stimmt Grimm ihr zu:
Goethe hat die vierte Strophe ins Leidenschaftliche verändert und nicht zu ihrem Vorteile, scheint mir. (Grimm 1869, 152)
Deutlicher noch wird Korff: »Er hat das Gedicht nicht verbessert, sondern verschlechtert« (Korff 1958 II, 184). Staiger geht daher dienstfertig davon aus, daß die Überarbeitung, die auch Bahn als »nicht nötig und auch nicht berechtigt« bezeichnet (Bahn 1928, 33), sich »absichtslos beim Erstellen der Reinschrift nach dem Gedächtnis ergeben hat« (Staiger III, 50), eine Theorie, der Atkins energisch widerspricht, intendiert sie doch eine vermeintliche Schwäche Goethes.5 Debon hingegen versucht nicht, die Überarbeitung zu entschuldigen, sondern begrüßt, daß Goethe Marianne Willemers »demütige Haltung [ ... ] zugunsten eines frischeren Suleika-Tonfalls verändert« habe (Debon 1992, 163), und auch Richter sieht in Goethes Eingriffen in erster Linie die systematische »Beseitigung einer etwas devoten Rolle« Suleikas, die »nicht recht zu dem Gleich-zu-Gleich der Liebenden« passen wollte, wie es sich im Divan darstellt. Gleichwohl stellt er angesichts des Reimes »tausend Grüße / tausend Küsse« fest, daß »sich solche gängigen Hyperbeln zweifellos konventioneller und distanzierter« lesen als die Urfassung (MA 11.1.2, 636). In der Tat sind Distanzierung und Konventionalisierung der Haupteffekt von Goethes Korrekturen, denn was er verändert, sind gerade jene Zeilen, in denen Marianne Willemer hinter der Maske Suleikas mit am sichtbarsten hervortritt. Konsequent überarbeitet er die Verse, die für ihn entstanden, dabei »den Ton, welchen Marianne in den privaten Gedichten an ihn anschlug, umwandelnd in denjenigen, den er für die Suleika des dichterischen Werkes brauchte« (HA II, 639). So wird es ihm möglich, das Lied an den Ostwind nahtlos in die Dramaturgie seines Divan einzugliedern. Der charakteristische Tonfall bewundernder Zurückhaltung, der die Strophen der Vorlage prägte, wird dabei jedoch größtenteils getilgt. Goethe macht aus dem Gedicht Marianne Willemers, das in bewußter Ambivalenz ein literarisches Doppelspiel von subjektiver Äußerung und literarischer Rolle pflegte, vollends das Lied seiner Suleika - und eignet sich damit auch faktisch an, was aus Liebe und Bewunderung in seiner Manier für ihn geschrieben wurde. Freilich lenkt die Änderung (worauf die Kommentare der Goetheausgaben und Debons bereits hinwiesen) das Augenmerk auf einen wichtigen Unterschied zwischen Marianne Willemer und Goethes Suleika, mit der man sie so gerne gleichsetzt. Denn die Sprecherin des Originals betont nicht die Quantität des übermittelten Grußes (»tausend Grüße«), sondern seine Qualität (»lieblich grüßen«), und diese äußert sich für sie auch nicht in »tausend Küsse[n]«, sondern 9
»Daß Goethes Gedächtnis lange nach der Zeit des Divan erstaunlich gut blieb, weiß jeder, der sich eingehend mit dem biographischen Quellenmaterial befaßt hat; jede Erklärung der Goetheschen Abänderungen, die auf einem angenommenen Gedächtnisfehler ruht, ist von vornherein abzulehnen« (Atkins 1973, 129).
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schlicht in vertrautem Beisammensein. Als ihr dieses in Aussicht gestellt ist, unterbricht sie ihre Überlegungen und wendet sich erstmals direkt an den Ostwind, der nun, nachdem er ihr »lieblichen Gruß von dem Freunde« und damit die ersehnte Gewißheit gebracht hat, »eh noch diese Hügel düstern [...] still zu seinen Füßen« sitzen zu dürfen, in Gnaden entlassen wird. Angesichts des bevorstehenden Wiedersehens mit dem »Vielgeliebten« wird dessen geflügelter Bote nicht länger benötigt. Er darf »weiter ziehen«, um »Frohen und Betrübten« zu dienen, nämlich all den anderen unvereinten Verliebten auf der Welt, denen er in Wiedersehensvorfreude (»Frohen«) und Trennungsschmerz (»Betrübten«) tröstende »Kunde« bringt. Somit formuliert Strophe 5 ein letztes Grußwort an den davoneilenden Ostwind, während sich die Gedanken der Sprecherin bereits ganz auf das Wiedersehen mit dem »Vielgeliebten« richten, dem die letzte Strophe gewidmet ist. Sie schließt den Kreis der Betrachtungen, der mit der ersten eröffnet wurde, wobei beide Strophen über den Reim auf -künde korrespondieren10 - aber die »frohe Kunde«, die der Ostwind brachte, ist nun einmal doch nicht mit der »wahre[n] Herzenskunde« zu vergleichen, die allein der »Athem« des »Vielgeliebten« geben kann. Überhaupt fällt die Schlußbilanz beeindruckend aus, wenn nun alle eingangs angesprochenen Eigenschaften des Ostwindes zusammengefaßt und in gesteigerter Form dem Geliebten zugeordnet werden, von dem sich die Sprecherin dreifachen Segen erwartet. Denn es gibt drei elementare Dinge, die »mir nur sein Athem geben« kann. Als erstes nennt das Gedicht den Neologismus Herzenskunde, für Staiger »das neue Wort, in dem sich Gelehrtes und Inniges unbeschreiblich verbinden« (Staiger III, 50). »Wahre Herzenskunde« fungiert hier als denkbar höchste Intensivierung der »frohe[n] Kunde« aus der ersten Strophe, denn was Mund und Atem des »Vielgeliebten« geben können, ist mehr als alles, was ein Gesandter ausrichten könnte, ist eben nicht bloße Mitteilung, sondern profundes, weitreichendes Wissen um die Befindlichkeiten des »Herzens«. Viele Jahre später gebraucht Marianne von Willemer »das neue Wort« auch einmal Herman Grimm gegenüber: Ja du bist ein Dichter! nicht daß alles vollkommen wäre, an der Diction ist vieles zu verbessern oder eigentlich) am Metrum, aber das sind kleine Mängel, die du in jedem Augenblick verbessern kannst, aber es sind so viel Anmut, Zartgefühl, Herzenskunde, so liebliche Bilder in dem Gedicht, [...]; ich finde kein Ende und habe keine Zeit, alles zu besprechen. (Brief vom 16. Dezember 1853, vgl. B W W / G , 166f.)
10
Eine ähnliche Beziehung besteht zwischen den Strophen 3 und 5 über die Reime »Glühen« / »Fliehen« / »ziehen« / »glühen«. Strophe 3 spricht das Entschwinden des Ostwindes schon an (»küßt die Reben noch im Fliehen«), in Strophe 5 wird es vollzogen (»Und du magst nun weiter ziehen«), Strophe 4 dazwischen steht wie in Parenthese, ein innerer Monolog außerhalb der Zeitachse aus Vor- und Folgestrophe, mit dem die Sprecherin die Bedeutung der »Bewegung« enträtselt und endlich zu der Gewißheit gelangt, dem »Vielgeliebten« schon bald nahe zu sein. Der Bote hat damit seine Schuldigkeit getan und kann entlassen werden, um anderen »Frohen und Betrübten« zu dienen.
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Der lobende Kontext ästhetischer Betrachtungen und die Sparsamkeit, mit der das Wort ansonsten benutzt wird, lassen auf die große Bedeutung schließen, die dem damit Bezeichneten im poetischen Zusammenhang beigemessen wird. Neben »wahre[r] Herzenskunde« wird der Sprecherin Liebeshauch zuteil, ein Begriff, der das in den Strophen 2 und 3 beschriebene Wirken und Walten des Ostwindes nun in Form einer »Zusammenschau von Natur- und Seelengeschehnis« (Pyritz 1948, 41) von der Natur auf die zwischenmenschliche Ebene überträgt. Äquivalent zur beschriebenen Wirkung seines geflügelten Boten impliziert auch der »Liebeshauch« des Geliebten ein »Kosen«, er »spielt«, »kühlt« und »küßt«, aber er »treibt« auch und »jagt auf«. In diesem anmutig-indirekten Vergleich mit der belebenden Ostbrise findet nichts Geringeres Ausdruck als die unvergleichlich inspirierende Wirkung, die für die Verfasserin von Goethe ausgeht, und die sich darin äußert, daß Marianne Willemer sich durch ihn zu ganz neuem dichterischen Ausdruck animiert fühlt. Bewußt intendiert sind dabei die Anklänge an Gen. 2, 7, jene Passage aus dem älteren der beiden biblischen Schöpfungsberichte, in der Gott dem von ihm aus Erde geformten Menschen den göttlichen Lebensodem einbläst, um ihn zum Leben zu erwecken. Die Sprecherin beschreibt die Wirkung des »Liebeshauch[es]« als erneuerte Schöpfung durch den »Vielgeliebten«, die sie teilhaben läßt an der schöpferischen Kraft seines »Athem[s]«, und so ist denn auch zusammenfassend erfrischtes Leben die dritte Gabe, die sie »aus seinem Munde« erhält. Goethe, der Adressat des Gedichts, 11 wird bei diesen Zeilen die Bezüge auf den Divan von Hafis erkannt haben, denn nur kurze Zeit später arbeitet er mit nahezu demselben Motivkomplex: Im Zusammenhang mit Kaum daß ich dich wieder habe verweist Richter auf die bei Hafis vorkommende »Wendung vom Hauch, der Treue bezweifeln läßt«, und auf Hammers diesbezügliche Anmerkung: >»Du bist der Hauch des Lebens, aber ach! du belebst nicht mich allein, sondern auch Andre, du bist mir untreu.«< (ΜΑ 11.1.2, 632f.) In ihrem Gedicht verzichtet Marianne Willemer auf das Motiv der Untreue und nimmt nur das der »Belebung« auf, verknüpft es allerdings über den Begriff der Herzenskunde zugleich mit dem der »Belehrung«. Denn der »Hauch des Lebens« gewinnt bei ihr — als Liebeshauch emotional überhöht — insofern zentrale Bedeutung, als der »Athem des Freunde [s]« sie in einer Art göttlichen Anhauchs »Herzenskunde« lehrt und zu »erfrischtem«, ihrerseits schöpferischem Dasein be-geistert. Zu solcher (im Wortsinne) Inspiration bedarf es keiner »tausend Küsse«, sondern des Gesprächs. »Aus seinem Munde« erhält sie, »still zu seinen Füßen« sitzend, Worte und Anregungen, um sich selbst dichterisch auszudrücken. Goethe nimmt diesen Motivkomplex bereits Anfang Oktober für Kaum daß ich dich wieder habe auf (die
"
Goethe erhielt das Gedicht entweder noch während des gemeinsamen Heidelberger Aufenthaltes (23. bis 26. September 1815) oder (spätestens) als Beilage eines Briefes von Rosine Stadel, Willemers ältester Tochter, am 1. Oktober 1815 (vgl. B W G/W, 335).
1%
Reinschrift trägt das D a t u m » H . [eidelberg] 7. O c t b . 1 8 1 5 « , vgl. M A 1 1 . 1 . 2 , 6 3 2 ) . D o r t stellt H a t e m — m i ß t r a u i s c h g e w o r d e n o b der i h m u n b e k a n n t e n Lieder, d i e seine Geliebte statt der seinen f ü r ihn singt - Suleika vorwurfsvoll die Frage: Sag hast du dich neu verpflichtet? Hauchest du so froh-verwegen Fremden Athem mir entgegen! Der dich eben so belebet, Eben so in Liebe schwebet, Lockend, ladend zum Vereine So harmonisch als der meine. (ΜΑ 11.1.2, 84) Suleika o f f e n b a r t d a r a u f h i n die H e r k u n f t ihrer Lieder: Wohl daß sie dir nicht fremde scheinen; Sie sind Suleika's, sind die deinen! (ebd.) » H a u c h e s t « , »Fremde[r] A t h e m « u n d »belebet« sind s o w o h l direkte W o r t a n k l ä n g e a n die S c h l u ß s t r o p h e des O s t w i n d - L i e d e s als auch a n die H a f i s s c h e Vorlage, u n d das P a r a d o x o n , m i t d e m G o e t h e seine Suleika d a s p o e t o l o g i s c h e Prinzip ihrer Lieder beschreiben läßt, gilt in g l e i c h e m M a ß e für die G o e t h e l y r i k M a r i a n n e W i l lemers, deren Z u s t a n d e k o m m e n sie selbst in ihrem G e d i c h t d e m inspirierenden E i n f l u ß G o e t h e s zuschreibt. D a ß wesentliche Teile ihres dichterischen S c h a f f e n s für G o e t h e tatsächlich »aus s e i n e m M u n d e « s t a m m t e n u n d ihr v o n » s e i n [ e m ] A t h e m « g e g e b e n w u r d e n , ist an d e n o b e n betrachteten G e l e g e n h e i t s g e d i c h t e n bereits deutlich g e w o r d e n , deren zentrale K o m p o s i t i o n s p r i n z i p i e n d a s Z i t a t u n d die A n s p i e l u n g sind. Interessanterweise ist n u n aber Was bedeutet die
Bewegung?
m i t s e i n e m a u s d r ü c k l i c h e n B e k e n n t n i s e m o t i o n a l e r wie p o e t ( o l o g ) i s c h e r A b hängigkeit das erste unter M a r i a n n e W i l l e m e r s G e d i c h t e n a n G o e t h e , d a s k e i n e wörtlichen Zitate v o n i h m verarbeitet. Stattdessen erfolgt die A n l e h n u n g ü b e r stilistische Ähnlichkeiten, i n d e m d a s L i e d an den O s t w i n d d u r c h a u s e i g e n s t ä n d i g u n d o h n e a u f eine k o n k r e t e Vorlage zu reagieren j e n e n west-östlichen T o n f a l l ü b e r n i m m t , den G o e t h e in d e n vergangenen a n d e r t h a l b J a h r e n f ü r seinen
Divan
entwickelt hatte. S o ist beispielsweise m i t der Fahrt der W i l l e m e r s v o n F r a n k f u r t n a c h H e i d e l b e r g die T a t s a c h e nicht erklärt, d a ß es i m U m f e l d d e s 2 3 . S e p t e m b e r s 1 8 1 5 ausgerechnet der Orfwind ist, a n d e n sich die Sprecherin in Was bedeutet die Bewegung? w e n d e t - wie ein Blick a u f die L a n d k a r t e zeigt. Schon Ernst Beutler hat bemerkt, daß auf Grund der geographischen Verhältnisse eigentlich vom Südwind die Rede sein müsse, daß aber der Ostwind als Liebesbote in der persischen Dichtung [... ] fungiere. (Debon 1992, 165) H e r i führt z u d e m aus, d a ß »nicht n u r das M o t i v des O s t w i n d s als L i e b e s b o t e n , s o n d e r n auch das S t a u b - M o t i v « ( S t r o p h e 2) »orientalischen U r s p r u n g s « sei ( H e r i 1 9 8 2 , 3 7 7 ) . B e i d e M o t i v e waren M a r i a n n e W i l l e m e r mittlerweile b e k a n n t , nicht allein aus den G e s p r ä c h e n m i t G o e t h e , s o n d e r n vor allem aus der L e k t ü r e des H a f i s s c h e n Divan, w o sich S t a u b u n d O s t w i n d an vielen Stellen finden lassen (vgl.
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HA II, 639 sowie ΜΑ 11.1.2, 464f. bzw. 636). Daß das Willemersche Lied an den Osrwind »deutliche Wortanklänge zum Gedicht >Allleben«< aus dem West-östlichen Divan aufweist, wie Heri in diesem Zusammenhang betont (Heri 1982, 377), 12 ist daher zwar sicherlich richtig, aber doch als sekundär zu bewerten, da die Verwendung des Staub-Motivs bei Marianne Willemer keinen intertextuellen Verweis auf ein bestimmtes Gedicht darstellt, sondern schlicht durch dessen Häufigkeit in den orientalischen Vorlagen inspiriert sein dürfte, wie ja auch Goethe sich durch Hafis hatte zu Allleben anregen lassen (vgl. MA 11.1.2, 464f.). Deutlicher noch als in Hochbeglückt in deiner Liebe bedient sich Marianne Willemer damit in Was bedeutet die Bewegung? der Motivwelt des DzWrc-Projektes und seiner orientalischen Vorbilder, indem sie nicht mehr nur antwortet, sondern von sich aus das Wort ergreift - und dabei dennoch ganz bewußt in den west-östlichen Tonfall einstimmt, mit dem Goethe sie in den vorangegangenen Wochen vertraut gemacht hat. Wie selbständig sie die Bilderwelt des Divan aus den Quellen generiert und wie souverän sie sie handhabt, wird insbesondere in der zweiten und dritten Strophe deutlich, wenn das von Hafis übernommene Motiv des Ostwinds und das des von diesem »aufgejagten« Staubes gezielt mit Versatzstücken kombiniert werden, die in dieser west-östlichen Szenerie wiederum verstärkt das westliche Element zum Ausdruck bringen: »Rebenlaube«, »prangende Reben« und das »Feld« evozieren trotz »Staub« und »der Sonne Glühen« eher das heimische Bild herbstlicher Weinanbaugebiete, wie sie die Landschaft zwischen Frankfurt und Heidelberg prägen, als die Vorstellung orientalischer Gegenden. So bleibt die subjektive Situation der Verfasserin unter der west-östlichen Verbrämung für Goethe als Adressaten des Gedichts stets erkennbar, obwohl die klimatisch-geographischen Gegebenheiten der Bergstraße an anderer Stelle bewußt verschleiert werden und, wie gesehen, der Wind nicht einfach nur im Rahmen herkömmlicher Topoi zum Boten des Geliebten stilisiert wird,13 sondern in seiner speziellen Gestaltung als »Ostwind« darüber hinaus bewußt symbolische Aufladung erfährt, die als liebevolle Hommage und Versuch dichterischer Annäherung an Goethe sowie dessen damaliges Hauptprojekt, den West-östlichen Divan, verstanden werden muß. Die Souveränität in der Handhabung des von Goethe vorgeprägten Stils bedeutet nun jedoch nicht, daß der in der letzten Strophe von Was bedeutet die Bewegung.? metaphorisch proklamierte Schöpfungsvorgang als leere Demutsgeste oder gar als ironische Hyperbel zu verstehen wäre, die durch das Gedicht selbst konterkariert werden sollte. Vielmehr lenkt die Vollendung der Anverwandlung
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Vgl. insbesondere die dritte Strophe von Allleben·. »Treibt der Wind von ihrer Pforte / Wolken Staubs behend vorüber« (ΜΑ 11.1.2, 20). Wie Goethe dies beispielsweise am 28. Januar 1781 in einem Brief an Charlotte von Stein getan hatte: »Der Wind geht von mir zu Ihnen also bringt er Ihnen meine Gedancken« (BW G/St I, 267).
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in Ton und Gehalt den Blick auf die ganze Tragweite einer solchen poetischen Angleichung. Die besprochenen Beispiele ihrer Gelegenheitslyrik für Goethe haben gezeigt, daß Marianne Willemer in der Lage war, einzelne Elemente aus dem Vorgefundenen herauszulösen und mit den so gewonnenen Textbausteinen ein neues, eigenständiges, dem jeweiligen Anlaß angemessenes Ganzes zu formen. Was sie mit dem Ostwind-Lied (und seinem Gegenstück an den Westwind) schreibt, geht jedoch deutlich über diese bisherige Praxis wörtlicher Bezugnahme hinaus - möglicherweise, weil das auslösende Moment diesmal kein gesellschaftlicher Anlaß, sondern ein emotionales Bedürfnis ist. Um Goethe zu gefallen und ihm trotz der Trennung nahe zu sein, unternimmt Marianne Willemer den Versuch, unter der mit Hochbeglückt in deiner Liebe erstmals angelegten Maske Suleikas fort- und sich in jene Szenerie hineinzuschreiben, der derzeit Goethes ganze Aufmerksamkeit gilt. Dabei bietet erst die von ihm entworfene Rolle ihr die Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben, da das Divan-Prinzip des als ob mit seinem spielerischen Charakter die verhüllt-enthüllende Artikulation eigener Gefühle gestattet, ohne die Regeln des gesellschaftlichen Anstandes zu verletzen. Indem Marianne Willemer in der von Goethe erdichteten Welt für ihn schreibt, findet sie zu eigenem poetischem Ausdruck. Gerade deshalb hat die Inspiration durch den Liebeshauch des Freunde[s\ keine weitgehend passive Reproduktion zur Folge, sondern eigene, aktive Teilhabe an den als göttlich apostrophierten Eigenschaften und damit die Befähigung, in der Welt seines Divan selbst schöpferisch tätig zu werden. Das eigene »Leben« als Dichterin wird »erfrischt«, indem sich ihm nach der begeisternden Anregung durch den »Athem« des Geliebten eine neue Dimension poetischer Selbstentfaltung eröffnet. Die so entstehenden Lieder gehören daher beiden Sängern an, nicht nur Marianne Willemer - aber eben auch nicht nur Goethe, ein Umstand, den dieser sehr wohl erkannte und mit seiner Formulierung »Sie sind Suleikas, sind die deinen!« ausdrücklich anerkennt, der aber gelegentlich vernachlässigt wurde, wenn man in erster Linie auf den »schöpferischen Anhauch« Goethes (Beutler 1995,420) abhob, dem Marianne Willemer ihre Dichtungen zu verdanken habe (s.o.), und darauf, daß »diese Lieder unter der Glut von Goethes Sonne [...] gereift, aus seinem Geist hervorgegangen« seien (Kühn 1932, 504). Marianne Willemer verfaßt ihr Lied an den Ostwind als dichterische Aneignung des Goetheschen Divan-Ym)eVxs. Indem das Gedicht eine Reise dorthin, wo der »Vielgeliebte« weilt, zumindest ankündigt, und die Sprecherin sich demnach anschickt, dem Ursprung des mitteilsamen Ostwindes entgegenzueilen, um dort erneut mit dem entfernten Geliebten zusammenzutreffen, deutet die Verfasserin ihre (bevorstehende oder bereits zurückliegende) Fahrt zu Goethe ins südlich gelegene Heidelberg bewußt zu einer Fahrt in den »reinen Osten« um, wo sie auf den Spuren des »Freunde[s]nahe< Adele Schopenhauer »überwiegen« zu können. Das
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Creizenach gibt in seiner Ausgabe des Briefwechsels zwischen Goethe und Marianne von Willemer an, letztere habe diesen Titel erhalten »wegen der entschlossenen Miene, mit der sie bei Tische die Plätze anwies und auf Spaziergängen Befehle gab« (Creizenach 1877: BW G/W, 161). Ob dies tatsächlich der Ursprung der Bezeichnung war, muß jedoch dahingestellt bleiben, da von den Betroffenen diesbezüglich keine Äußerungen vorliegen.
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Resultat der geschilderten Ereignisse, die ersehnte Versicherung seiner Zuneigung, wird so dem geschilderten Erlebnis wie selbstverständlich vorausgesetzt. In ihrem Antwortgedicht, dem Brief vom 30. Dezember 1822 beigelegt, bezieht sich Marianne von Willemer in bewährter Manier auf diese Vorlage: Was uns die Erfahrung lernt: Fernes m u ß dem Nahen weichen, D a das Ferne weit entfernt, Sich mit Nahem zu vergleichen; Diese Überlegenheit Setzt uns in Verlegenheit; Wenn wir schon dem Nahen weichen, Möchten wirs doch gern erreichen; N u r indem wir uns bewußt, D a ß man auch dem Fernen gut, Regt sich in beklommner Brust Unterdrückter Ubermut. (in: B W G / W , 132f.)
Dem zuvor in Goethes Gedicht konstatierten Gefühl von »Sicherheit« setzt die Replik eine Lebens-»Erfahrung« entgegen, jene nämlich, daß »Fernes« dem »Nahen« nun einmal weichen müsse. Diese Gesetzmäßigkeit bezieht sich auf kein körperliches Weichen, da das »Ferne« ja per definitionem immer bereits »gewichen« sein muß, um eine Differenzierung von Nahem überhaupt zu rechtfertigen. Der angesprochene Verdrängungsprozeß ist vielmehr im übertragenen Sinne zu verstehen, da Marianne von Willemer im fernen Frankfurt befürchtet, über dem unmittelbaren Eindruck, den Adele Schopenhauer durch ihre persönliche Anwesenheit in Weimar bei Goethe zu hinterlassen vermag, möglicherweise vergessen zu werden. 23 Im Brief vom 20. Oktober 1822 schreibt sie: Wie glücklich ist Fräulein Adele, ihr Talent und ihren Verstand, durch Ihre Nähe belebt, für Sie und zu Ihrer Zufriedenheit zu verwenden; (BW G/W, 128)
»Diese Überlegenheit / setzt uns in Verlegenheit«, denn 1815 hatte Marianne von Willemer selbst »Talent« und »Verstand [...] durch Ihre Nähe belebt« empfunden und sich bemüht, sie »für Sie und zu ihrer Zufriedenheit zu verwenden«. Nun muß sie eifersüchtig nicht nur um die vage Möglichkeit einer Wiederholung, sondern auch um die Fortsetzung des Briefwechsels furchten, sollte sie als »Ferne« tatsächlich von einer >Näheren< verdrängt und von Goethe vergessen werden. Das daraus resultierende Gefühl von Beklemmung (V. 11) löst sich erst, nachdem Goethe sie seiner fortdauernden Verbundenheit versichert hat. Damit widerspricht
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Vgl. ihre Äußerung vom 25. September 1829: »Man hat gut sagen: Goethe gehört der Welt an; ich weiß aus eigner Erfahrung, daß man sich damit nicht beruhigt, man will auch einen Teil für sich allein« (BW G/W, 218). Ahnlich hieß es in dem bereits mehrfach angesprochenen Brief vom Dezember 1818: »Wie gerne machte ich die Bekanntschaft des muntern Hausgeists, den mir Meline so hoch gepriesen; wohl ihm, daß er in Ihrer Nähe und in einem solchen Verein wirken kann« (BW G/W, 78).
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Was uns die Erfahrung Ferne sicher
lernt
gewissermaßen der Darstellung aus Goethes Da
das
ist, indem es die korrekte zeitliche Abfolge von Ursache und W i r k u n g
wiederherstellt - und bedankt sich doch gerade dadurch f ü r die zuvor erhaltene gereimte Freundschaftsbekundung, die so als einzig denkbare Rechtfertigung für »Übermut« erscheint, der sich nun wieder zu regen wagt. Ähnliches ist in den Briefen Marianne von Willemers häufiger zu lesen. A m 18. Dezember 1 8 2 0 beispielsweise heißt es: In der Hoffnung lebend, daß der verehrte Freund meiner nicht vergißt, habe ich bis jetzt die kühnen Wünsche bezähmt; nun, da sie wirklich zahm sind, sprechen sie sich doch aus: indem sie von andern zahmen Wesen gehört haben [gemeint sind die Zahmen Xenien; M.W.], wünschen sie durch diese ihre alte Kühnheit wiederzuerlangen. (BW G/W, 103f.) Die »kühnen Wünsche« nach einem Wiedersehen und der erneuten A u f n a h m e des liebevollen, west-östlichen Dialogs erlöschen nie ganz, und Marianne von W i l lemer läßt daran auch keinen Zweifel. Immer wieder deutet sie an, daß jedes W o r t der Zuneigung aus Weimar den »unterdrückten Ubermut« bzw. die »bezähmten Wünsche« - »wenn ich mir sie erfüllt denke, erscheinen sie mir verwegen« (am 19. Juli 1 8 1 9 , vgl. B W G/W, 8 3 ) - zu neuem Leben erweckt: So wie die Natur aus ihrem langen Winterschlafe erwachen will und der erste Athemzug das Erwachen von tausend Keimen und Leben zur Folge hat, so fängt auch die Hoffnung sich an zu regen, und lang genährte und heimlich gepflegte Wünsche scheinen aus dem Schlafe erwachen zu wollen und bewegen von neuem das beschwichtigte Herz, wie denn überhaupt der Frühling die Jahreszeit der Hoffnungen ist; ob der Sommer die Blüte zur Reife und der Herbst die Frucht bringt, das wird die Zeit lehren, (im Brief vom April 1821, vgl. BW G/W, 109f.)25 W i e Weitz konstatiert, ist dieser Briefwechsel »in seinem Innersten nach rückwärts gewandt« ( B W G/W, XXXIII). Die Gegenwart will teilhaben an der Vergangenheit und wehrt sich gegen das Vergessen (werden). Die Schreiben Marianne von Willemers entspringen dem Wunsch, die Gegenwart durch den Rückbezug auf
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Ähnlich äußert sich Marianne von Willemer auch in den folgenden Passagen: »Insofern man einen schönen Traum immer und immer wieder erzählt und, wiewohl mit wenig Wahrscheinlichkeit, auf dessen Erfüllung hofft, so sei es mir auch vergönnt, jenen Wunsch zu erneuern, der uns nie verläßt und in diesen Monaten um so sehnlicher wird, als eine Reihe von Sonntägen mit ihren Verheißungen und Vertröstungen als ein Unterpfand einer schönen vergangenen Zeit für eine zukünftige gelten könnten, und dem Reminiscere auch wohl Laetare folgen sollte.« (im Brief von Mitte März 1822, vgl. BW G/W, 122. Der Verweis auf den zweiten und den vierten Sonntag der Fastenzeit spielt mit den Unterschieden im jeweils namensgebenden Introitus, Reminiscere nach Psalm 25,6: »Denk an dein Erbarmen, Herr, / und an die Taten deiner Huld; / denn sie bestehen seit Ewigkeit.« und Laetare nach Jes 66,10: »Freut euch mit Jerusalem! / Jubelt in der Stadt, alle, die ihr sie liebt.«), »Doch ist [es] eine eigene Geschichte mit dem Aufgeben, und wenn ich schon früher mein Herz besänftigte, mit süßer Hoffnung ihm schmeichelnd, so fehlt auch der Nachsatz nicht: >Kurz ist das Leben fürwahr, aber die Hoffnung ist lang!« und ich kann trotz allen Gründen das widerspenstige Wesen nicht dahin bringen, daß es schweigt und auf das nächste Jahr hofft« (im Brief vom September 1823, vgl. BW G/W, 143). 219
die erfüllte Vergangenheit mit Goethe aufzuwerten, indem sich die Verfasserin dieser Vergangenheit stets aufs neue rekapitulierend vergewissert und sich die »Erinnerungen einer glücklichen Vergangenheit« wie einen »Traum [...] in der Gegenwart wiederholt, um ihn nicht zu vergessen« (BW G/W, 83). Obwohl sie ihre identitätsstiftende Funktion, ein biographisches Schlüsselerlebnis fortwährend erinnernd zu bestätigen, erfolgreich erfüllen, bleibt das vordergründige Ziel, Goethe mit der wiederholten Beschwörung jener Zeit möglicherweise zu einem weiteren Besuch zu bewegen, unerfüllt. Goethe macht keine Anstalten, auf das Angebot einzugehen, das Marianne von Willemer ihm durch die geduldig erneuerten Einladungen, durch die Versicherung geistiger Nähe trotz räumlicher Ferne und nicht zuletzt durch die verlockenden Beschreibungen der Gerbermühle und ihrer idyllischen Lage fortwährend unterbreitet. Nach dem Vorbild ihrer Lieder an Ost- und Westwind mit ihrer poetischen Überwindung räumlicher Distanz nimmt Marianne von Willemer daher seinen 75. Geburtstag zum Anlaß, die gemeinsam verbrachten Wochen des Jahres 1815 dichtend zu rekapitulieren und so nicht nur die räumliche, sondern auch die zunehmende zeitliche Entfernung zu überbrücken. Im Sommer 1824 verdichtet sie die zentralen Motive ihrer Briefe zu einem letzten großen Liebesgedicht an Goethe, Das Heidelberger Schloß.
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5. Hier war ich glücklich, liebend und geliebt. Marianne von Willemers Gedicht auf das Heidelberger Schloß
Das Heidelberger Schloß den 28. Juli abends 7 Uhr Euch grüß ich weite, lichtumfloßne Räume, Dich alten reichbekränzten Fürstenbau, Euch grüß ich hohe, dichtumlaubte Bäume, Und über euch des Himmels tiefes Blau. Wohin den Blick das Auge forschend wendet In diesem blütenreichen Friedensraum, Wird mir ein leiser Liebesgruß gesendet Aus meines Lebens freudevollstem Traum. An der Terrasse hohem Berggeländer War eine Zeit sein Kommen und sein Gehn, Die Zeichen, treuer Neigung Unterpfänder, Sie sucht ich, und ich kann sie nicht erspähn. Dort jenes Baumsblatt, das aus fernem Osten Dem westöstlichen Garten anvertraut, Gibt mir geheimnisvollen Sinn zu kosten Woran sich fromm die Liebende erbaut. Durch jene Halle trat der hohe Norden Bedrohlich unserm friedlichen Geschick; Die rauhe Nähe kriegerischer Horden Betrog uns um den flüchtgen Augenblick. Dem kühlen Brunnen, wo die klare Quelle Um grünbekränzte Marmorstufen rauscht, Entquillt nicht leiser, rascher, Well auf Welle, Als Blick um Blick, und Wort um Wort sich tauscht. O! schließt euch nun ihr müden Augenlider. Im Dämmerlichte jener schönen Zeit Umtönen mich des Freundes hohe Lieder, Zur Gegenwart wird die Vergangenheit. Aus Sonnenstrahlen webt ihr Abendlüfte Ein goldnes Netz um diesen Zauberort, Berauscht mich, nehmt mich hin ihr Blumendüfte, Gebannt durch eure Macht kann ich nicht fort. Schließt euch um mich ihr unsichtbaren Schranken Im Zauberkreis der magisch mich umgibt, Versenkt euch willig Sinne und Gedanken, Hier war ich glücklich, liebend und geliebt. (in: B W G / W , 157f.)
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Das Gedicht erreichte Goethe als Beilage zu Marianne von Willemers Glückwunschschreiben vom 25. August 1824.1 Erst kurz zuvor waren in Frankfurt die Erinnerungen an den Heidelberger Aufenthalt von 1815 erneut lebendig geworden. Im Frühsommer hatte die Mutter Marianne von Willemers überraschend die Gerbermühle besucht, und weil sie und ihre Tochter sich seit zwölf Jahren nicht gesehen hatten, versuchte man, einen neuerlichen Abschied so lange wie möglich hinauszuzögern. Das Ehepaar von Willemer begleitete die 63jährige daher auf deren Rückreise bis nach Linz und machte auf dem Heimweg unter anderem auch in Heidelberg Station. »[D]aß ich Heidelberg wiedersah; und in welcher Bewegung, ist mir unmöglich zu sagen« (an Goethe bereits im Brief vom 15. August 1824, vgl. BW G/W, 154). Die Eindrücke dieses Wiedersehens bannt Marianne von Willemer später in die oben wiedergegebenen Verse. Der Titel, unter dem sie dies tut, führt allerdings in die Irre, denn »[t]rifft das Datum der Überschrift zu, dann wäre das Gedicht auf der Gerbermühle entstanden, am selben Tage wie ein Brief Mariannes an Goethe« (Weitz 1965 in seiner Ausgabe des Briefwechsels zwischen Willemers und Goethe, S. 659). An besagtem 28. Juli nämlich hatten Willemers in Frankfurt überraschend Besuch von Johann Peter Eckermann erhalten,2 hielten sich also mitnichten in Heidelberg auf. Offenbar boten die Gespräche mit dem unverhofften Weimarer Gast sowie der bevorstehende halbrunde Geburtstag des Freundes jedoch Anlaß genug ftir eine lyrische Rückbesinnung, bei der sich das durch die Visite Eckermanns neu belebte Andenken Goethes mit den Eindrücken der noch nicht lange zurückliegenden Reise zu einer lyrischen Würdigung jenes für den Divan und seine Autoren so bedeutsamen Schlosses verbanden.3 Dabei ist aufschlußreich zu sehen, daß - wovon bereits bei früheren Gedichten Marianne
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Definitiv falsch ist daher Fischers Behauptung, es sei »am 75. Geburtstage Goethes, den 28. August 1824 gewesen, daß Marianne Willemer auf unserem Schlosse verweilte, [...]. Da entstand ihr letzter Suleikagesang« (Fischer 1949, 51). »Diesen Mittag überraschte uns Herr Eckermann mit seinem Besuch und beantwortete alle unsere vielen Fragen nach Ihnen zu unsrer großen Freude« (Marianne von Willemer im Brief an Goethe vom 28. Juli 1824, vgl. BW G/W, 151). Manger mutmaßt, daß es sich beim Verweis auf den 28. Juli auch um ein »sprechendes Datum« handeln könne, vermöge es doch »an den Tag zu erinnern, an dem Goethe zehn Jahre zuvor, unterwegs nach Wiesbaden, vom 28. auf den 29. Juli 1814 in Frankfurt übernachtete. Zwar heißt es in Goethes Brief vom 29. Juli 1814 an Christiane nach Weimar, Willemer sei auf der Mühle. Das muß noch nicht heißen, daß Goethe und Marianne Jung, wie sie damals noch hieß, sich beispielsweise in Willemers Stadthaus nicht begegnet sein können« (Manger 1987, 209). Die erste Begegnung Goethes mit Willemers späterer Frau hätte somit knapp eine Woche früher stattgefunden als bisher angenommen. Rundweg von der Hand zu weisen ist diese Argumentation nicht, einzuwenden wäre jedoch, daß vor diesem Hintergrund die bewußte Rückdatierung von Zu den Kleinen zähl ich mich auf den 12. Oktober 1814 - nach bisherigen Erkenntnissen den Termin des ersten Zusammentreffens Goethes mit Marianne von Willemer unter vier Augen — unverständlich würde oder zumindest neu bewertet werden müßte. Der 28. Juli spielt darüber hinaus zwischen beiden ansonsten keine besondere Rolle, während der 12. Oktober, beispielsweise im Briefwechsel, immer wieder von Bedeutung ist.
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v o n W i l l e m e r s a u s z u g e h e n war — a u c h dieses G e b u r t s t a g s g e d i c h t f ü r G o e t h e o f f e n b a r das P r o d u k t eines g e n a u kalkulierten Schreibprozesses ist. N a c h v o l l z i e h bar wird dies a n h a n d einer v o n Weitz 1 9 6 5 i m K o m m e n t a r z u m Briefwechsel veröffentlichten, später erfolgten Ü b e r a r b e i t u n g (S. 6 6 0 f . ) , die i m Vergleich m i t der v o r a n g e g a n g e n e n F a s s u n g gezielte Ü b e r a r b e i t u n g s s c h r i t t e e r k e n n e n läßt, m i t d e n e n die schon zuvor deutlich sichtbare M e t h o d i k eines anlaß- u n d adressatenbezogenen, ver-gegenwärtigenden D i c h t e n s weiter ausgefeilt wird. D i e U n t e r s c h i e d e der beiden F a s s u n g e n werden i m Z u g e dieser U n t e r s u c h u n g zu b e r ü c k s i c h t i g e n sein, daher soll die spätere hier ebenfalls w i e d e r g e g e b e n werden. Euch grüß ich weite lichtumfloßne Räume Dich alten reichbekränzten Fürstenbau, Euch grüß ich hohe dicht umlaubte Bäume Und über euch des Himmels tiefes Blau. Wohin den Blick das Auge forschend wendet, In diesem blütenreichen Wunderraum, Wird mir ein leiser Liebesgruß gesendet Ο freud- und leidvoll, schöner Lebenstraum. Auf der Terrasse hoch gewölbten Bogen War eine Zeit sein Kommen und sein Gehn, Die Chiffer von der lieben Hand gezogen Ich fand sie nicht, sie ist nicht mehr zu sehn. Dort jenes Baums Blatt das aus fernem Osten Dem westöstlichen Garten anvertraut, Gibt mir geheimer Deutung Sinn zu kosten, Ein Selam, der die Liebende erbaut. Durch jenen Bogen trat der kalte Norden Bedrohlich unserm friedlichen Geschick. Die rauhe Nähe kriegerischer Horden Betrog uns um den flüchtgen Augenblick. Dem kühlen Brunnen wo die klare Quelle Um grünbekränzte Marmorstufen rauscht, Entquillt nicht leiser, rascher, Well auf Welle, Als Blick um Blick, und Wort um Wort sich tauscht. Ο schließt euch nun ihr müden Augenlider! Im Dämmerlicht der fernen schönen Zeit Umtönen mich des Freundes hohe Lieder, Zur Gegenwart wird die Vergangenheit. Aus Sonnenstrahlen webt ihr Abendlüfte Ein goldnes Netz um diesen Zauberort. Berauscht mich, nehmt mich hin, ihr Blumendüfte, Gebannt in euren Kreis, wer möchte fort? Schließt euch um mich, ihr unsichtbaren Schianken, Im Zauberkreis, der magisch mich umgibt, Versenkt euch willig, Sinne und Gedanken, Hier war ich glücklich; liebend und geliebt, d 28 August 1824 (in: Weitz 1965: BW G/W, 660f.)
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Es ist bereits in anderem Zusammenhang auf den Brief Marianne von Willemers vom 23. Mai 1829 hingewiesen worden, in dem sie von jener »Fähigkeit« spricht, die mir angeboren scheint — denn ich besinne mich, sie, solange ich denken kann, gehabt zu haben - : sie besteht in der Fertigkeit, mir alle Naturgegenstände, die einen lebhaften Eindruck auf mich machten, augenblicklich zu vergegenwärtigen, und so bleibt mir für lange Zeit der Genuß, mich immer wieder an Ort und Stelle zu versetzen, [...]. (BW G/W, 206)
Die Passage liest sich wie eine späte Erläuterung des Gedichttitels von 1824, denn was Marianne von Willemer mit ihren Versen vom 28. Juli unternimmt, ist der poetische Versuch exakt einer solchen »augenblicklichen Vergegenwärtigung«. Eine strikte Trennung von lyrischem Ich und Autor-Ich, wie sie aufgrund der skizzierten Widersprüche hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten geboten erscheinen könnte, wird den Intentionen der Verfasserin daher nicht gerecht. Demonstrativ sieht sich Marianne von Willemer mit der Niederschrift von Titel und Datumsangabe als Subjekt des eigenen Gedichts selbst von der Gerbermühle auf das Heidelberger Schloß versetzt. Dort in Gedanken angekommen, artikulieren die Eingangsverse ihre Wiedersehensfreude beim Anblick des fur sie so erinnerungsträchtigen Platzes, den die wiederholte Grußformel nun plastisch in den imaginierten Raum projiziert. Buchstäblich vor Augen geführt werden die Dimensionen der weitläufigen Anlage durch eine ausführliche Rundumschau, indem die Sprecherin sich um die eigene Achse zu drehen scheint und dabei neben den »weitefn] lichtumfloßne[n] Raume[n]« des Schlosses den nicht weniger imposanten »hohe[n]« Baumbestand wahrnimmt und an dessen Stämmen entlang zu den Kronen emporblickt, um schließlich über der gesamten Szenerie auch »des Himmels tiefes Blau« noch zu begrüßen, das allein die Begrenzung dieses »weiten« und »hohen Friedensraum [es]« bzw. »Wunderraum[es]« darzustellen scheint. In Fortsetzung der begeisterten Kreisbewegung (»Wohin den Blick das Auge forschend wendet«) wandelt sich die optische Wahrnehmung ab der zweiten Strophe von einer Betrachtung des imaginierten Raumes in eine Betrachtung erinnerter Zeiten. Dank der »leisen Liebesgrüße«, die jeder Zentimeter des Schloßgeländes aussendet, richtet sich der »Blick« nicht mehr allein auf die unmittelbare Umgebung, sondern über sie hinaus assoziativ-erinnernd in die Vergangenheit, deren Zeugen den Schauplatz bevölkern und die Sprecherin allerorts an »meines Lebens freudevollste[n] Traum« gemahnen. In der späteren Fassung ändert Marianne von Willemer diese letzte Zeile der zweiten Strophe in »O Freud- und leidvoll, schöner Lebenstraum«, offenbar in der Absicht, auf Freudvoll
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voll, das Lied Clärchens in Goethes Egmont anzuspielen. Eine zweite Änderung innerhalb dieser Strophe — von »Friedensraum« in »Wunderraum« — trägt der magischen Kraft des Ortes Rechnung, mittels derer die mentale Zeitreise überhaupt erst möglich wird und der angesprochene (»Lebens-)Traum« nun in den vier Folgestrophen poetische Gestalt gewinnt. 224
Indem die Strophen 3 bis 6 je einen jener »leisen Liebesgrüße« beschreiben, die die Umgebung der Erinnernden aus allen Winkeln »sendet«, wandelt sich der titelgebende Schauplatz endgültig zum Ort subjektiv-biographischen Angedenkens, an dem neben der Verfasserin nur der Adressat des Gedichts teilhat. Diese besondere Qualität der Heidelberger Schloßanlage beschreibt Marianne von Willemer in ihrem beiliegenden Glückwunschbrief: Gedenken Sie meiner, und in Liebe; daß ich Ihrer gedenke, möge Nachstehendes beweisen, so wie, daß die schönste Gegend immer eine fremde bleibt, wenn nicht durch Liebe und Freundschaft sie heimisch geworden; wo fände sich für mich eine schönere als Heidelberg! (BWG/W, 157)
Damit bezieht sie sich indirekt auf eine Passage aus Goethes Distichen-Reihe Vier Jahreszeiten. Unter der Überschrift Sommer heißt es dort: Immer war mir das Feld und der Wald, und der Fels und die Gärten Nur ein Raum, und du machst sie, Geliebte, zum Ort. (MA 4.1, 834)
Marianne von Willemer spielt Goethe gegenüber gerne mit diesem Gegensatz zwischen dem alltäglichen Raum und dem durch eine geliebte Person, »durch Liebe und Freundschaft« aufgewerteten Ort·. [...], indem Sie sich lebhaft in unsre Mitte in den so wohlbekannten Raum oder noch lieber Ort denken, [...]. (Am 12. Oktober 1816, vgl. B W G/W, 46) [E]s gibt eben gar zu viel schöne Räume in der Welt, doch nur einige schöne Orte! (am 14. Mai 1830, vgl. BW G/W, 231)
Entsprechend schreibt sie in der zweiten Dezemberhälfte 1818: Als ich diesen Sommer Heidelberg wiedersah, habe ich alle Orte besucht, die mir wert sind, und ihre Wirkung auf mich war unbeschreiblich wohltuend. (BW G/W, 78)
Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, daß sich das Motiv auch im Gedicht auf das Heidelberger Schloß findet und die »lichtumfloßne[n] Räume« (Strophe 1) bzw. der »Friedens-/Wunderraum« sich kraft der zu neuem Leben erweckten Erinnerungen an die »Liebe und Freundschaft« Goethes zum »Zaubere«« der vorletzten Strophe wandeln. Die Assoziationen, die der Anblick der örtlichen Gegebenheiten bei der Sprecherin auslöst, machen das Heidelberger Schloß — »jenen Ort [...], der mir ewig unvergeßlich sein wird« (an Goethe am 19. Juli 1825, vgl. BW G/W, 168) - zum privaten Schicksals- und Erinnerungsort und die betreffenden Strophen zu einer Art Schlüsseldichtung, die nur mit Wissen um die Ereignisse des Herbstes 1815 aufgelöst werden kann. So befand sich beispielsweise »[a]n der Terrasse hohem Berggeländer« bzw. »[a]uf der Terrasse hoch gewölbten Bogen« neun Jahre zuvor vermutlich einer der Treffpunkte Marianne von Willemers mit Goethe, hier »[w]ar eine Zeit sein Kommen und sein Gehen«. Bei neuerlicher Betrachtung der Örtlichkeiten wird dieses neun Jahre zurückliegende Erlebnis wieder präsent - und der Divan-Sommer im Gedicht systematisch unter Zuhilfenahme von
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Divan-Vzrsen erinnert. Denn in Goethes An des lust'gen Brunnens Rand hatte es geheißen: Von Suleika zu Suleika Ist mein Kommen und mein Gehn. (ΜΑ 11.1.2, 83)
Um die Anspielung noch deutlicher zu machen, schreibt Marianne von Willemer die zweite Hälfte der Strophe später völlig um und paßt den ursprünglichen Wortlaut (»Die Zeichen, treuer Neigung Unterpfänder, / Sie sucht ich, und ich kann sie nicht erspähn«) dem Anfang des erwähnten Brunnengedichts an. Der nämlich enthält das Motiv der Chiffer: An des lust'gen Brunnens Rand Der in Wasserfäden spielt Wußt ich nicht was fest mich hielt; Doch da war von deiner Hand Meine Chiffer leis' gezogen, Nieder blickt' ich dir gewogen. (ΜΑ 11.1.2, 83)
Schon einmal hatte sich Marianne von Willemer auf dieses Gedicht bezogen, in ihrem Brief an Goethe aus der zweiten Dezemberhälfte 1818 (s. S. 211): Nur jene Lettern, fein gezogen an des lustgen Brunnens Rand, hatte die Hand der Zeit verwischt; [...]. (BW G/W, 78)
Das Motiv der verwischten »Chiffer«/»Lettern«/»Zeichen« bezeichnet dort wie hier die schmerzhafte Empfindung einer Diskrepanz zwischen der zur Seligkeit verklärten Vergangenheit und einer im Kontrast dazu als defizitär begriffenen Gegenwart. Diese Empfindung stellt sich gerade in Heidelberg und dort um so stärker ein, als nirgendwo sonst die Erinnerungen so überwältigend erscheinen. Daher weist die Formulierung der späteren Fassung (»Die Chiffer von der lieben Hand gezogen / Ich fand sie nicht, sie ist nicht mehr zu sehn«) durch ihre intertextuellen Bezüge einerseits - die Rückschau literarisch illustrierend - in die Zeit gemeinsamen Liebens und Dichtens zurück und betont andererseits gleichzeitig die seitdem gänzlich veränderten Verhältnisse. Ebenfalls nach dem Prinzip intertextuell gestalteter Rückbesinnung arbeitet die vierte Strophe mit ihrem deutlich erkennbaren Zitat des berühmen G i n k g o Gedichts »Dieses Baums Blatt, der von Osten / Meinem Garten anvertraut« (MA 11.1.2, 71), in das nun der Verweis auf den Titel des »west-östlichen« Divans demonstrativ eingebettet wird. Dem korrespondiert auch die später hinzugefügte Wendung »Selam, der die Liebende erbaut«, die durch das traditionelle arabische Grußwort das Bild des »leisen Liebesgrußes« aus der zweiten Strophe in orientalischer Verbrämung wieder aufnimmt. Die fünfte Strophe läßt sich möglicherweise durch eine Schilderung Emilie Kellners erklären, mit der die alt gewordene Marianne von Willemer viele Jahre später noch einmal das Heidelberger Schloß aufsuchte. Sie will sich an folgende Äußerung ihrer Bekannten erinnern können: 226
Ja, ja, dieses Plätzchen auf dieser Stirne haben die Lippen Goethes berührt! Hier saß ich lange ganz allein mit ihm in traulichem Gespräche! Hier schrieb er mit seinem Stock mir einen Vers in den Sand und dann wurden wir durch eine Horde jubilirender Studenten und Soldaten gestört. (Kellner 1876, 4 5 )
Zumindest der Kern dieses Berichtes dürfte der Wahrheit entsprechen (obwohl Kellner in vielerlei Hinsicht keine sonderlich zuverlässige Quelle darstellt),4 hatte doch Goethe in dem an anderer Stelle bereits zitierten Brief an seine Frau vom 27. September 1815 (s. S. 207) von »Russen« gesprochen, die »in drey Colonnen durch Francken« zogen. Auch Weitz deutet die »kriegerischen Horden« als »russische Soldaten, auf dem Rückweg von Frankreich« (BW G/W, 425). Bezeichnend ist — worauf Manger hinweist —, daß »[i]m Augenblick, da das Gedicht das einzige Mal den Freund und die Liebende in der ersten Person Plural des Personalpronomens >uns< (v. 20) vereint« (Manger 1987, 194), dies im Kontext tumultuarischer Störung durch »kriegerische Horden« geschieht, die das Paar seinerzeit um den ohnehin nur »flüchtgen Augenblick betrogen«. Ausgerechnet die Erinnerung an diesen verhinderten Moment vertraulicher Nähe bildet als fünfte Strophe von insgesamt neun die Mitte des Gedichts, bevor die Verfasserin in Strophe 6 wieder zum Mittel intertextueller Anspielung greift und den bildhaften Vergleich zwischen dem Fließen der Quelle und dem Austausch von Worten und Blicken mit Hilfe der Anfangszeilen eines weiteren Gedichts aus dem Buch Suleika entwickelt: Lieb' um Liebe, Stund' um Stunde, Wort um Wort und Blick um Blick; Kuß um Kuß, vom treusten Munde, Hauch um Hauch und Glück um Glück. ( Μ Α 11.1.2, 7 6 )
Die zweite Zeile wird unter Umkehrung der Begriffsfolge in den eigenen Text integriert und durch diese Verknappung Goethes Vorlage zwar als Ganzes assoziiert, die Bedeutung des Austausche von »Worten« jedoch im Vergleich zu dieser durch die Auswahl und die betonende Schlußstellung aufgewertet. Der die siebte Strophe einleitende Ausruf »O!« markiert deutlich den Einschnitt, mittels dessen sich die drei Schlußstrophen auch optisch als eine Art Finale von dem Vorangegangenen abheben. Der in Strophe 3 begonnene Erinnerungsprozeß erreicht nunmehr eine qualitativ höhere Ebene, indem all die Erinnerungen nicht mehr indirekt durch optische Eindrücke ausgelöst werden (»schließt euch nun ihr müden Augenlider«), sondern unmittelbare Präsenz gewinnen. Denn nun »umtönen« die Sprecherin »des Freundes hohe Lieder«, also Goethes Gedichte, und dies nicht allein im übertragenen Sinn, sondern durch die zuvor hergestellten intertextuellen Verweise des Heidelberg-Liedes auch ganz wörtlich. So erklingen beispielsweise die genannten Freudvoll und leidvoll, An des
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»Was Frau Kellner im weiteren berichtet, trägt eindeutig die Stigmen gartenlaubenhafter Phantasterei einer sentimentalen Wichtigtuerin« (Kahn-Wallerstein 1985, 2 5 4 ) .
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lust'gen Brunnens Rand, Gingo biloba oder Lieb'um Liebe, Stund'um Stunde. Aber auch jene Verse Goethes, mit denen er seinerzeit auf Zu den Kleinen zähl ich mich geantwortet hatte - Reicher Blumen goldne Ranken (s. S. 184). Strophe 8 verdankt ihnen das Bild des »goldnen Netzes«:5 Goldnes Netz das Euch umwunden Wer will seinen Wert erkunden! (BW G/W, 22)
All diese Gedichte Goethes eignet sich die Autorin als »hohe Lieder« und daher mit ausdrücklichem Verweis auf das biblische Hohelied Salomos als Liebeslieder an (vgl. Manger 1987, 201f.),6 die ihr nun aufs neue in solcher Deutlichkeit in den Sinn kommen (»umtönen mich«), daß sie die Vergangenheit zur Gegenwart werden lassen. Auffällig ist die spätere Überarbeitung dieser Strophe, denn mit der Änderung von »Im Dämmerlichte jener schönen Zeit« zu »Im Dämmerlicht der fernen schönen Zeit« betont Marianne von Willemer abermals ausdrücklich die Distanz zwischen Jetzt und Damals, die es zu überwinden gilt. Die »Lettern« sind verwischt und die »schöne Zeit« fern. So fern, daß sie nur noch ein »Dämmerlicht« auszustrahlen vermag, in dem ihre Konturen bereits verschwimmen. Die »Zeichen treuer Neigung« sind nicht mehr zu »erspähn«, die »Chiffer« ist »nicht mehr zu sehn« - aber »des Freundes hohe Lieder« sind wieder und immer noch zu hören, sie »umtönen« die Sprecherin und ermöglichen unbeschadet aller gegenwärtigen Kümmernisse ein erneutes Versinken in die Vergangenheit. Längst hat an dieser Stelle des Gedichts sich das Heidelberger Schloß in jenen nur noch unklar dimensionierten »Friedens-« bzw. »Wunderraum« verwandelt, als der es bereits in der zweiten Strophe apostrophiert wurde. Die konkreten Umrisse und örtlichen Gegebenheiten des »alten reichbekränzten Fürstenbau[s]« und der ihn umgebenden weitläufigen Anlage verflüchtigen sich in gleichem Maße, wie - der Zeitangabe »abends«, die mit der Überschrift vorgegeben ist, entspre-
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Die Behauptung Debons, Marianne von Willemer zitiere sich hier selbst (Debon 1992, 178), greift zu kurz, da die von ihm gemeinte Strophe »Goldnes Netz was dich u m w u n den, / Kann es deinen Wert erkunden?« (s. S. 185) lediglich die Antwort auf Reicher Blumen goldne Ranken darstellte und als solche die vierte Strophe der Vorlage umgestaltet. Ein solcher Bezug zwischen dem West-östlichen Divan und dem Hohen Lied Salomos ist bereits im Divan selbst angelegt. Im Prosateil verweist Goethe ausdrücklich auf das Hohe Lied u n d bezeichnet es als das »zarteste und unnachahmlichste was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmuthiger Liebe zugekommen« (MA 11.1.2, 132). Wie Bohnenkamp betont, ist zudem gerade das Buch Suleika als »produktive Aufnahme und Spiegelung« des Hohen Liedes zu betrachten, weil es durch »eine Reihe von strukturellen Analogien« mit diesem verbunden ist: »Wie das Lied der Lieder bietet das Buch Suleika eine Sammlung von Einzelgedichten, in denen sich ein vom Sich-Finden, Sich-Verlieren und Wiederfinden der Liebenden geprägtes >Duodrama< zwischen den Protagonisten abspielt [...]. Die entscheidende Gemeinsamkeit aber ist die grundlegend dialogische Struktur beider Gedichtsammlungen. Es verbindet sie die in der Geschichte der Liebesdichtung keineswegs häufig anzutreffende Tatsache, daß beide Stimmen zu hören sind« (Vgl. Bohnenkamp 2004, S. 154 u. 155).
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chend - die Beleuchtungsintensität von »lichtumflossen« (V. 1) über »Dämmerlicht« (V. 2 6 ) bis zum »Gewebe« letzter »Sonnenstrahlen« in »Abendlüfte [n]« (V. 29) abnimmt. Damit einher geht eine immer stärkere Fokussierung auf die Person der Sprecherin, wenn sich die Dimensionen der Szenerie von der enormen Weite der Schloßanlage (»weite, lichtumfloßne Räume«), über der sich der blaue Himmel wölbt (V. 1—4) über einen einzelnen »Wunderraum« (V. 6) und »Zauberort« (V. 30) bis hin zu den »unsichtbaren Schranken« (V. 3 3 ) eines »Zauberkreis[es]Berauscht mich, nehmt mich hin, ihr Blumendüfte!.« (BW G/W, 222). Das in der späteren Fassung eingefugte Semikolon vereindeutigt die Schlußzeile. Gemeint ist nicht, daß die Sprecherin »glücklich, liebend und geliebt«, also dreifach vom Schicksal begünstigt war, sondern sie bezeichnet jene Zeit als »glücklich«, weil sie liebte und »geliebt« wurde.
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etwas wie »eine Collage aus dem >Buch Suleika«< (Manger 1987, 192). Wie das Heidelberger Schloß, sind auch jene Divan-Ge.dichte aufgrund privater Erlebnisse zum individuellen Erinnerungsort geworden,9 und die Strophen 3 bis 6 bedienen sich daher der intertextuellen Ausgestaltung visueller Eindrücke, um das assoziative Moment subjektiver Erinnerung poetisch umzusetzen. Daß die Goethezitate des Gedichts jedoch »sämtlich aus dem >Buch Suleika«< stammen, wie Debon behauptet (Debon 1992, 168), stimmt nicht. Reicher Blumen goldne Ranken beispielsweise fand keinen Eingang in den West-östlichen Divan, gehört allerdings unbestritten (insbesondere für Marianne von Willemer) in dessen Umkreis, und war ja auch als Teil des »Wiesbadener Registers« zunächst für die Aufnahme in die Sammlung vorgesehen, bevor sich Goethe letztlich doch noch dagegen entschied (vgl. Bosse 1999 I, 351 u. 354f.). Freudvoll und leidvoll hingegen, das Lied Clärchens aus dem dritten Aufzug des Egmont, steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den west-östlichen Liedern. Gleichwohl läßt sich jedoch ein subjektiver Bezug herstellen, wie Marianne von Willemer selbst dies in ihren Briefen an Goethe tut. Im Juni 1821 erwähnt die Bewunderin Beethovens dessen Musik zum Egmont in direktem Zusammenhang mit dem West-östlichen
Divan.
Sie bestätigt den Empfang der Dz'tww-Kompositionen Eberweins, deren zweites Heft Goethe ihr gerade hatte zukommen lassen und erklärt: Wenn ich recht aufrichtig sein soll, so möchte ich wohl, Beethoven schriebe Melodien zu jenen herrlichen Liedern, er würde Sie ganz verstehen, sonst niemand; ich habe dies lebhaft empfunden, als ich diesen Winter die Musik zu Egmont hörte, die ist himmlisch - er hat Sie ganz verstanden, ja man darf fast sagen: derselbe Geist, der Ihre Worte beseelt, belebt seine Töne. (BW G/W, 114)
Es ist zum einen dieser Wunsch, auch die Gedichte des West-östlichen Divan von Beethoven musikalisch umgesetzt zu finden, der diese für die Sängerin und Gesangslehrerin Marianne Willemer, die auch selbst Melodien zu Goethes Gedichten komponierte,10 mit Clärchens Lied in Verbindung bringt. Hinzu dürfte freilich eine inhaltliche Parallele kommen, die Marianne von Willemer die Verse aus dem Egmont so beziehungsreich erscheinen läßt.
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Ein Phänomen, das bereits der Brief Marianne von Willemers an Goethe vom Dezember 1818 ansprach: »Ihr freundlicher Brief und die ihn begleitenden Blätter haben mich wieder ganz in jene Zeit versetzt, in der ich so glücklich, ja ich darf wohl sagen, jugendlich-heiter war« (BW G/W, 77). Die ersten Druckbögen des Divan — in Verbindung mit Goethes »freundlicher Versicherung, daß ich, schon seit geraumer Zeit, um die Mühle und um das Rote Männchen her beschäftigt bin« (BW G/W, 75) - versetzen die Empfängerin »wieder ganz in jene Zeit«. Vgl. Willemers Brief an Goethe vom 12. Oktober 1816: »[S]chon hat sie mehr wie 20 Ihrer Liedern in der neuern Ausgabe Musik unterlegt, und die 3 Könige lassen sich vor allen andern vorzüglich gut anhören, wie dann, um den ganzen Wert Ihrer Dichtungen zu fühlen, auch das Reich des Klangs dazu gehört« (BW G/W, 48).
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Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein, Langen und bangen in schwebender Pein, Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt, Glücklich allein ist die Seele die liebt.
(MA 3.1, 286)
Für das Verhältnis Marianne von Willemers zu Goethe kann das Lebens- und Liebesgefiihl dieser Zeilen als programmatisch angesehen werden. Neben »zum Tode betrübt[en]«, schwer depressiven Phasen, wenn Antworten ausblieben oder der Weimarer Freund abermals alle Hoffnung auf ein Wiedersehen zunichte machte, findet sich immer wieder auch jene »[hjimmelhoch jauchzend [e]« Begeisterung, wie Willemer sie Goethe am 23. Juli 1817 schildert: Ein Brief von Goethe — ein Brief von Goethe! ruft Mariane, auf der untersten Stufe, und damit die Treppe hinauf. Nun sind der Stufen eine große Anzahl, es ist darum begreiflich, daß Ungeduld und Sehnsucht sich nicht auf das einließen, was recht seie — der Brief war an mich —, sondern unterstützt vom weiblichen Obergefühl, mit jedem Aufstieg in lebhaftere Wallungen versetzt, schon auf dem halben Weg das Siegel gelöst und fortan langsamem Schritts bis zur obersten Stufe den Inhalt des Briefs längst erspäht hatten. (BW G/W, 62)
Daß die »schwebende Pein«, das »[B]angen« um den Fortbestand der Liebe Marianne von Willemer alles andere als fremd war, zeigt die Episode um Adele Schopenhauer (s. S. 2l6fF.), und so werden denn im überarbeiteten Heidelberg-Gedicht jene Erlebnisse, die sich im Schloßpark durch die Vielzahl der »Liebesgrüße« erneut in Erinnerung bringen, als »freud- und leidvoll, schöner Lebenstraum« bezeichnet. »Freudvoll« aufgrund der erfüllten und glücklichen Augenblicke, »leidvoll« durch Trennung, Zweifel und Sehnsucht, aber dennoch »schön« durch das inspirierende Moment des Liebens. Noch am 17. Dezember 1831 berichtet Marianne von Willemer Goethe dementsprechend, daß sie »diesen Herbst in Heidelberg war« und bei dieser Gelegenheit »die durch Freud und Leid geweihten Orte alle besucht habe« (BW G/W, 163). Dies ist die Thematik, die die Anspielung auf Freudvoll und leidvoll bereits in der zweiten Strophe von Euch grüß ich weite lichtumfloßne Räume rechtfertigt, und die Marianne von Willemer in der Schlußzeile ihres Gedichts mit zwei anderen, ebenso bekannten und bedeutenden Gedichten Goethes zusammenführt. Zum einen mit Willkommen und Abschied, das - deutlicher noch als Freudvoll und leidvoll — mit denselben Begriffen endet: Und doch, welch Glück geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück! (MA 3.2, 16)
Und zum anderen - in der Gleichzeitigkeit des Ausübens und Erfahrens von Liebe, wie sie die Partizipialkonstruktion ausdrückt - mit Ganymed. Dessen Ende lautet wiederum: 232
Aufwärts! Umfangend umfangen, Aufwärts an deinen Busen Allfreundlicher Vater! (MA 1.1, 233 u. 873)
Auf diese Weise verschränkt die Verfasserin ihr Lied auch und gerade in der Schlußzeile erneut mit dem Werk des Angesprochenen. Die »liebende Seele« erinnert ihren freud- und leidvollen »Lebenstraum« - von dem sie ja bereits im Brief an Goethe vom 19. Juli 1819 schrieb, sie wiederhole ihn sich »in der Gegenwart, um ihn nicht zu vergessen« (BW G/W, 83) - und vergegenwärtigt bewußt noch einmal jenen einen, »flüchtgen Augenblick« ungetrübten Glücks, den sie mit einem seinerseits liebenden Gegenüber teilen konnte. Die überzeitliche Feier des Prinzips der Liebe als solchem, wie sie der Verweis auf Willkommen und Abschied impliziert, wird dabei über die Ganymed-AnsHeidelberg< erquicke; raten Sie ihr, das Blättchen wieder vorzunehmen, und es wird gewiß auch ihr eine freundliche Stimmung gewähren. Möge sie meiner gedenken, wie ich ihrer, so würde sich kein Unterschied des Vergangenen und Gegenwärtigen fühlen lassen. (BW G/W, 162)
Ohne daß Willemer etwas über die Gründe der »Nervenschwäche« gesagt hätte, kennt Goethe deren Ursachen offenbar genau, und so gibt er der Kranken indirekt zu verstehen, daß kein Grund bestehe, einen »Unterschied des Vergangenen und Gegenwärtigen« zu fühlen. Obwohl er ihr damit versichert, der erinnerte Zustand des Liebens und Geliebtwerdens dauere immer noch an, zeigen seine tröstend gemeinten Worte doch, wie unterschiedlich er und Marianne von Willemer mit dem gemeinsam Erlebten umgehen: »Möge sie meiner gedenken, wie ich ihrer«. Ihm war es gelungen, sowohl die frühere Leidenschaft als auch die seelische Erschütterung infolge seines Entschlusses, es zu keinem weiteren Wiedersehen kommen zu lassen, in der Dichtung zu bearbeiten und in Gestalt seines lyrischen Großwerks regelrecht außer sich zu setzen. Mit verwundertem Wohlwollen kann er nun zurückblicken auf jene Zeit und sich der Divan-lAedct als Dokumente einer Epoche freuen, die zwar abgeschlossen sein mag, aber durch den Wechselgesang von Hatem und Suleika bezeugt ist und so - als »Vergangenes« im »Gegenwärtigen« - im Kunstwerk weiterlebt. Anders als für ihn jedoch, dem sich im West-östlichen Divan »das Erlebte [...] in Poesie« gewandelt hatte, »die keiner Wirklichkeit mehr bedurfte« (BW W/G, 10), sind für Marianne von Willemer die Lieder des Divan zwar ebenfalls Instrumente der Erinnerung, aber als solche allenfalls Mittel zum Zweck, einen gleichwertigen Ersatz für »Wirklichkeit« bieten sie nicht. Wo Goethe ihrer gelegentlich mit liebevoller Anteilnahme und in stillem Bewußtsein des gemeinsam Erlebten gedenkt, bedarf sie nicht nur als »Liebende«, sondern auch als Dichterin der steten Selbstvergewisserung durch wiederholte Bestätigung seiner Zuneigung. Die Jahr um Jahr vergebliche Hoffnung auf einen Besuch, das Warten auf den nächsten Brief und Erlebnisse wie jenes mit Adele Schopenhauer verstärken die (Selbst-)Zweifel und damit den Wunsch, diese in einer neuerlichen Begegnung mit dem Freund auszuräumen. Dieser jedoch hat derartigen Bedürfnissen spätestens nach dem Kutschunfall des Jahres 1816 bewußt entsagt und sich der emotionalen Irritationen jener Wochen durch Distanzierung (im wörtlichen und im übertragenen Sinn) zunehmend entwunden. Schon in seinem dem Divan zwecks »besserem Verständniß« beigegebenen Prosateil, den Noten und Abhandlungen, hatte es bezüglich des Buches Suleika geheißen, [d]ieses, ohnehin das stärkste der ganzen Sammlung, möchte wohl für abgeschlossen anzusehen seyn. Der Hauch u n d Geist einer Leidenschaft, der durch das Ganze weht, kehrt nicht leicht wieder zurück. (ΜΑ 11.1.2, 210)
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Und Eckermann zitiert ihn am 12. Januar 1827 - nach einem Konzert, bei dem neben anderen Dz'tvw-Liedern auch jenes an den Westwind gesungen worden war - mit den Worten: Ich habe [...] diesen Abend die Bemerkung gemacht, daß diese Lieder des Divans gar kein Verhältnis mehr zu mir haben. Sowohl was darin orientalisch als was darin leidenschaftlich ist, hat aufgehört in mir fortzuleben; es ist wie eine abgestreifte Schlangenhaut am Wege liegen geblieben. (MA 19, 181)
Während Goethe im Fortgang des Lebens Schlangenhaut um Schlangenhaut ablegt (s. S. 122) und Erlebtes im Medium der Dichtung verarbeiten kann, scheint Marianne von Willemer zeitlebens emotional an die für sie zutiefst beglückende Atmosphäre der Heidelberger Tage gebunden. Nicht nur ihr Selbstverständnis als Liebende, sondern auch als Dichterin, das Gefühl, sich in bedeutsamer lyrischer Form ausdrücken zu können, schreibt sich von dieser Zeit mit Goethe her, die sie sich deswegen immer wieder neu ins Gedächtnis ruft. An Herman Grimm schreibt sie Jahre später, am 4. August 1852: [I]ch weiß nichts und kann dir wenig bieten. Einmal in meinem Leben war ich mir bewußt, etwas Hohes zu fühlen, etwas Liebliches und Inniges sagen zu können, aber die Zeit hat alles, nicht sowohl zerstört, als verwischt, und was von Erinnerung mir geblieben, ist ein ahnungsvolles Erkennen der Wahrheit und Schönheit, wo ich sie zu finden glaube. ( B W W / G , 119)
Es äußert sich hier das gleiche Empfinden wie im Oktober 1819, als Marianne von Willemer Goethe für den Erhalt des (noch ungebundenen) West-östlichen Divan dankte: Sie fühlen und wissen genau, was in mir vorging, ich war mir selbst ein Rätsel; zugleich demütig und stolz, beschämt und entzückt, schien mir alles wie ein beseligender Traum, in dem man sein Bild verschönert, ja veredelt wieder erkennt, und sich alles gerne gefallen läßt, was man in diesem erhöhten Zustande Liebens- und Lobenswertes spricht und tut; ja sogar die unverkennbare Mitwirkung eines mächtigen höheren Wesens, insofern sie uns Vorzüge beilegt, die wir vielleicht gar nicht besitzen, und andere entdeckt, die wir nicht zu besitzen glaubten, ist in seiner Ursache so beglückend, daß man nichts tun kann, als es für eine Gabe des Himmels anzunehmen, wenn das Leben solche Silberblicke hat. (BW G/W, 92)
Um diesen »beseligende[n] Traum« (meines Lebens »freudevollste[n] Traum«, den »Freud- und leidvoll, schöne[n] Lebenstraum«) zu bewahren, bedarf es seiner permanenten Auffrischung und damit entweder der fortwährenden Rückschau oder einer erneuten Begegnung mit Goethe, von der sich Marianne von Willemer die so sehr gewünschte Wiedererlangung jenes »erhöhten Zustande [s]« verspricht, der ihr seinerzeit solche »Vorzüge beilegt [e]« und ihr die Fähigkeit verlieh, »Liebens- und Lobenswertes« zu sprechen und zu tun. In Ermangelung neuerlicher »Silberblicke« stellt das Heidelberg-Gedicht den Versuch dar, sich das Lebensgefühl der Vergangenheit zumindest poetisch wieder anzueignen. Wenigstens für Augenblicke gelingt so die Ver-Gegenwärtigung der Zeit mit Goethe und die erinnernde Teilhabe an dem damaligen Bewußtsein, »zu lieben und geliebt 236
zu werden«. Poetische Gestalt gewinnt diese Teilhabe durch die intertextuelle Einbindung jener Lieder, die »der glücklichsten Zeit meines Lebens« (im Brief an Grimm vom 21. Januar 1857, vgl. BW W/G, 240) entsprungen waren und nun in der Lage sind, sie neuerlich wachzurufen, denn die Erwähnung jener Tage gleicht einem Liede, wozu nur einige die Melodie kennen, [...]. Da ich nun so glücklich bin, die schöne gefühlvolle Weise zu kennen, so schließen mir einige Worte einen Himmel von Erinnerungen auf, [...]. (im Brief an Goethe vom 18. Juli 1830, vgl. BW G/W, 235)
Das Thema der persönlichen Rückschau angesichts einer erinnerungsträchtigen Umgebung erfährt so seine literarische Umsetzung, und das Bild, am Ort der letzten Begegnung plötzlich wieder von »des Freundes hohe[n] Lieder[n] umtönt« zu sein, wird auch poet(olog)isch eingelöst. Damit bringt das Gedicht den Spätsommer 1815 nicht nur als Zeit gegenseitiger Liebe, sondern auch als Zeit gemeinsamen Dichtens erneut vor Augen und Ohren. Und indem Marianne von Willemer ihre Worte dichtend abermals mit denen Goethes kunstvoll zu etwas substantiell Neuem verbindet, entsteht »[i]m Dämmerlicht der fernen schönen Zeit« ein letzter wehmütiger Nachhall des west-östlichen Wechselgesangs mit dem fernen Freund. Er zeigt Marianne von Willemer noch einmal in dem Bewußtsein, »etwas Hohes zu fühlen, etwas Liebliches und Inniges sagen zu können«, als Liebende und als Dichterin: Was ich mir von Paradiesesquellen aneignen durfte, und wiederholt aneigne, erfrischt und erquickt mein Leben, und erhebt mich in mir selbst; [...]. (im Brief an Goethe vom 7. August 1829, vgl. BW G/W, 214)
Ihr Versuch, sich des Lebensgefühls von 1815 aufs neue zu bemächtigen, war erfolgreich.
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6. Eins und doppelt} Die produktive Goethe-Rezeption Marianne von Willemers
Wenn Marianne von Willemer für Goethe dichtet, ist dieser nicht nur Adressat, sondern stets auch Stichwortgeber. Bereits die Gelegenheitslyrik aus der Anfangszeit ihrer Bekanntschaft nimmt Aussprüche, Verse oder sonstige von Goethe herrührende Prätexte auf und überführt diese Versatzstücke in einen neuen, eigenen Kontext. Dieses poetologische Prinzip dichterischer Anverwandlung liegt später auch jenen Gedichten zugrunde, mit denen Marianne von Willemer Eingang in Goethes West-östlichen Divati findet, und so wie die jahrelange Routine im Verfertigen personen- und anlaßbezogener Gedichte die handwerkliche Grundlage für das Verfassen einer Lyrik vom Rang des Ost- oder des Westwind-Liedes darstellt, erwachsen (und entwachsen) auch die Willemerschen Divan-Gtdiichte jenem poetischen Dialog, der sich auf dem Gebiet der Gelegenheitslyrik längst zwischen Goethe und seiner Frankfurter Verehrerin entwickelt hatte. Dies um so mehr, als auch die bereits vorhandenen west-östlichen Lieder Goethes die ihnen zugrundeliegenden Gelegenheiten« unter der orientalisierenden Verbrämung oftmals kaum verbergen und Marianne von Willemer überdies als Teil der geselligen Abendunterhaltung auf der Gerbermühle bekannt werden, in die sie sich sodann auch selbst mit Versen einbringt. Der spielerisch-heitere Kontext kommt somit der Fortführung des lyrischen Dialoges unter nunmehr orientalischen Vorzeichen ebenso zugute wie die durch Goethes Beispiele vorgegebene west-östliche Szenerie, ihre Motivik und die durch sie mögliche Maskerade dem diskreten Ausdruck persönlicher Zuneigung und Bewunderung. Von der vormaligen Gelegenheitslyrik unterscheiden sich Marianne Willemers Gedichte für Goethe denn auch nicht allein durch ihre poetische Qualität, sondern insbesondere durch ihren tief emotionalen Gehalt, der nur zu Teilen den Stoff- und Gattungskonventionen geschuldet ist und den Versen hinter der west-östlichen Maske einen ausschließlich privaten Charakter verleiht. Die Verfasserin will ihre nun entstehenden Liebeslieder aber nicht nur als Dokumente der Zuneigung, sondern auch als Dokumente der Be-geisterung verstanden wissen und mit ihnen deutlich machen, in welchem Maße sie sich durch die Anwesenheit Goethes inspiriert und darüber hinaus ermuntert fühlt, sich in einem Tonfall an ihn zu wenden, der ihren vorherigen Gedichten nicht
1
Goethe: Gingo biloba, V. 12 (ΜΑ 11.1.2, 71).
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eignet. U m diesem Gefühl »erfrischte [n] Leben [s]« durch den »Liebeshauch« des »Vielgeliebten« poetischen Ausdruck zu verleihen, greift Marianne Willemer zum bewährten Prinzip der dichterischen Anverwandlung bestehender Muster und illustriert durch die souveräne Aneignung des >west-östlichen< Konzeptes, das Goethe für sein Divan-Projekt
entworfen hat, ihr subjektives E m p f i n d e n
eines allein durch die Anregungen des Freundes deutlich erweiterten poetischen Ausdrucksvermögens. Im Austausch mit Goethe fühlt sie ihre Zuneigung erwidert und (damit) ihr dichterisches Talent potenziert. So setzen die Lieder an Ost- und Westwind die Uberzeugung der Verfasserin, erstmals »etwas Hohes zu fühlen, etwas Liebliches und Inniges sagen zu können«, poetisch um, bestätigen sie durch ihre formale wie sprachliche Qualität und sind als D a n k s a g u n g für ein durch den Adressaten gesteigertes Selbst(wert)gefühl zugleich Liebeserklärung und H o m m a g e . Solchermaßen an die Person Goethes und den Austausch mit ihm gebunden, m u ß die Trennung, müssen die andauernde räumliche Distanz und das oftmals lange Schweigen des Briefpartners jedoch zu einer schweren Krise führen, wie sie sich in den Appellen Willemers aus dem Jahre 1818 auch widerspiegelt. Goethe hingegen ist es aus seinem Selbstverständnis als >Künstler< heraus möglich, »meine Lage, in der sich ein Zwiespalt nicht verleugnet« (im Brief an Willemer am 6. O k tober 1815, vgl. B W G/W, 29), dichterisch zu be- und damit auch zu verarbeiten. Er verwandelt die an ihn gerichteten Liebesgedichte mittels weniger Änderungen in SuleikaAJieAer,
entkleidet sie durch diese Aneignung und die anschließende
Veröffentlichung gänzlich ihres privaten Charakters und befreit sich so zugleich von den Ansprüchen, die derartige persönliche Einlassungen ihm implizit an den Empfänger zu richten scheinen. Auch das Heidelberg-Gedicht Marianne von Willemers wird er später im Chaos, der Zeitschrift seiner Schwiegertochter Ottilie, veröffentlichen - anonym (Ottilie von Goethe: Chaos, 9). Mittels dichterischer Bewältigung und Publikation vermag er eine innere Distanz zu schaffen, die Marianne von Willemer so nicht möglich ist. Ihr ist das Liebeskonzept Goethes fremd, das sich in seiner abstrakten Feier der grundsätzlichen Möglichkeit erfüllender Liebe als solcher mit der grundsätzlichen Vergänglichkeit der einzelnen Liebesepisode abfindet (s. S. 106). D a s Lebens- und Liebesgefühl, das sie zurückerobern will, ist an eine bestimmte Zeit, einen bestimmten O r t und insbesondere an die Gegenwart einer bestimmten Person gebunden. 2
2
Eine solche Gegenwart zumindest subjektiv herzustellen und die Distanz zu überbrükken, dient auch die zwischen Goethe und Marianne von Willemer 1815 getroffene Vereinbarung, einander künftig bei Anblick des Vollmondes zu gedenken (wie sie in der dritten Strophe des Divan-Gedichts Vollmondnacht anklingt, vgl. MA 11.1.2, 90): Die Blicke der Beteiligten >trefFen< sich in einem Punkt — ganz gleich, wie weit sie auch auf Erden voneinander entfernt sein mögen. Goethes Gedicht Dem aufgehenden Vollmonde aus dem Sommer 1828 nimmt dieses Motiv wieder auf, Marianne von Willemer erhält die drei Strophen in leicht überarbeiteter Abschrift mit dem Brief vom 23. Oktober. Die
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Die daraus resultierende individuelle Problematik wird spätestens im Westwind-Lied deutlich, das »mein Leben« von »seine\r\ Liebe« herleitet und in dem im Umkehrschluß das »freudige Gefühl seine[r] Liebe« und damit auch »mein[es] Leben [s]« explizit als von »seine [r] Nähe« abhängig dargestellt wird. Da Goethe sich dieser »Nähe« verweigert, muß der Briefwechsel den direkten Umgang ersetzen. Die Briefe aus Frankfurt zeigen denn auch das Bemühen, den Freund in zweifacher Hinsicht >herbeizuschreibenÜberselig ist die Nacht!'« (BW G/W, 201 u. 202). D e m »neuen Beweis von Liebe und Anhänglichkeit« (BW G/W, 199), den sie in Goethes Brief und dem ihn begleitenden Gedicht sieht, schreibt sie regelrecht »heilbringende Kraft« zu [ebd.].
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»Chiffer« jener gemeinsamen Tage könne durch die »Hand der Zeit verwischt« worden sein. Sie setzt dem in ihren Heidelberg-Versen die vergegenwärtigende Rückschau entgegen und unternimmt erfolgreich den Versuch, sich der Grundstimmung ihrer Zeit mit Goethe erneut zu vergewissern. Möglich wird ihr dies durch die poetische Zusammenfuhrung zweier für diese Beziehung bedeutender Erinnerungsorte: Wenn sich Marianne Willemer 1815 als Liebende aufmacht, um in Heidelberg noch einmal mit Goethe zusammenzutreffen, schreibt sie sich zur gleichen Zeit auch als Dichterin in die west-östliche Welt seines Divan ein, um dort dem »Vielgeliebten« zu begegnen. Diese zweifache Liebesbegegnung ver-ortet sich ihr daher zum einen auf dem Heidelberger Schloß, dem lebenswirklichen Schauplatz gemeinsamen Liebens und Dichtens, zum anderen im Buch Suleika, dessen Lieder die Ereignisse des Spätsommers 1815 poetisch (iib)erhöhen und bewahren und so erst dem »flüchtgen Augenblick« Dauer verleihen. In ihrem Heidelberg-Gedicht bedient sich Marianne von Willemer des vergegenwärtigenden Potentials, das für sie in beiden Erinnerungsorten verfügbar wird, und obgleich der »Freund« auf diese Weise allein in Gestalt von Erinnerungen und seiner die Verfasserin »umtönenden« Lieder präsent ist, reicht dies aus, um jenen bedeutsamen »flüchtgen Augenblick« - um den sie seinerzeit und seitdem »betrogen« wurde - und mit ihm das Gefühl, »liebend und geliebt« und daher »glücklich« zu sein, aufs neue wachzurufen. Mit dem in Bezug auf Goethe durchgängig eingesetzten poetologischen Muster der Verquickung von Eigenem mit Fremdem, der dichterischen Aneignung unterschiedicher Vorlagen Goethes, prägt Marianne von Willemer vor, was dieser während der Heidelberger Tage im Bild des Ginkgo-Blattes, das er ihr schenkt, symbolisch fassen und als Grundprinzip des Divan in seinem Gedicht Gingo biloba poetisch ausdrücken wird: Fühlst du nicht an meinen Liedern Daß ich Eins und doppelt bin? (ΜΑ 11.1.2, 71)
Im Divan wird dieses Prinzip des Eins und doppelt beispielsweise deutlich, wenn Goethe die Anregungen durch Hafis nicht leugnet, sondern ausdrücklich betont, oder wenn er der Gedichtsammlung eine nicht weniger poetische Erläuterung seiner Auseinandersetzung mit der orientalischen Welt in Prosa zur Seite stellt. Und ebenso wie er in seinen Liedern ausgiebig mit der Ambivalenz von Goethe und Hatem spielt, ebenso wie er selbst die meisten Lieder schreibt, die »Suleika« im Dialog mit »Hatem« singt, sich darüber hinaus aber auch (»im schönsten Sinne«) jene Gedichte aneignet, die eigentlich gar nicht von ihm, aber für und durch ihn geschrieben wurden - so gestaltet auch Marianne von Willemer in ihrer Liebeslyrik ftir Goethe das Prinzip einer höheren Einheit in der Zweiheit. Ihrer produktiven Goethe-Rezeption in Gedichten und Briefen liegt die feste Uberzeugung zugrunde, die eigene »erfrischte« Existenz als »Liebende« (»etwas Hohes zu fühlen«) und damit zugleich auch als Dichterin (»etwas Liebliches und 241
Inniges sagen zu können«) ausschließlich dem inspirierenden »Athem« Goethes zu verdanken. Um das Phänomen einer solchen >Belebung< poetisch umzusetzen, verwebt sie ihre Worte mit denen Goethes oder bindet »meinen Autor«3 auf andere Weise in den eigenen Text ein, wo räumliche Entfernung einen mündlichen Austausch verhindert. Jeder derartige Versuch poetischer Sublimierung verweist somit zugleich auf das Sublimierte zurück, und jedes Liebesgedicht schreibt sich von seinem Adressaten her. Wo aber der Mensch Goethe sich ihrem Werben entzieht, gelingt es Marianne von Willemer durch die dichterisch produktive Aneignung des Dichters Goethe 4 innerhalb der Poesie und mit Hilfe von Poesie, die Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit vorübergehend aufzuheben. Da »des Freundes hohe Lieder« nach Abschluß des Divan keine poetische Parallelwelt mehr bilden, in die sie sich mittels dichterischer Anverwandlung hineinschreiben könnte, um »ihrem« Autor näherzukommen (da Goethe den »reinen Osten« mittlerweile verlassen hat), instrumentalisieren die assoziativen »Gartenstrophen« des Heidelberg-Gedichts die west-östlichen Versatzstücke bewußt als erinnerungsträchtige Relikte zur Rekapitulation der Vergangenheit. Durch den auf diese Weise so anschaulich erinnerten Moment der »Nähe« wird es der Verfasserin möglich, auch das damalige »freudige Gefühl seine[r] Liebe« und »mein[es] Leben[s]« wiederzuerlangen, das die Lebenswirklichkeit ihr seitdem verweigert und das für ihr dichterisches Selbstverständnis als Liebende und Ge-liebte unverzichtbar ist. Erst das allmähliche Begreifen des Spätsommers 1815 als singuläres und definitiv abgeschlossenes Ereignis sowie das zunehmende Bewußtsein, sich in der Poesie (der eigenen und der Goethes) der steten Teilhabe an diesem »kurzen Lichtblick in meinem Leben« sicher sein bzw. werden zu können, wie es sich in den Strophen von 1824 erstmals ausdrückt, machen es ihr nach und nach möglich, sich mit Goethes Zurückhaltung abzufinden. Das Heidelberg-Gedicht bildet den ersten Schritt auf dem langen Weg von Goethes »lieber Kleinen« zu jener anderen Lebensrolle des »Großmütterchens«, in der Marianne von Willemer später im Familien- und Freundeskreis bekannt wird. Ihre Briefe an Herman Grimm in den 1850er Jahren unterschreibt sie stets mit »Großmütterchen«, denn längst ist dieser Titel zum gängigen Synonym für ihre Person geworden. Erste Anklänge dieses
3
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Vgl. Marianne von Willemers Brief an Goethe vom 14. Mai 1826: »Mit welcher Sehnsucht seh ich der neuen Ausgabe entgegen, mit welcher Freude werde ich meinen Autor zu ergänzen suchen, um ihn wo möglich zu verstehen« (BW G/W, 176). Ihre intensive Goethelektüre versteht sich auch als Ausdruck des Bedürfnisses, »meine[m] Autor« durch das gründliche Studium seiner Werke so »nah« wie möglich zu kommen. Die Differenzierung zwischen dem Dichter einerseits und dem Freund andererseits findet sich auch in den Briefen Marianne von Willemers an Goethe: »[M]öge mir der Dichter verzeihen, wenn ich dem Freunde einige Augenblicke stehle« (am 25. Juni 1825, vgl. B W G/W, 167). Hinsichtlich ihres Arztes Dr. Passavant unterscheidet sie ähnlich zwischen A m t und Person: »Ihrer Auforderung buchstäblich Genüge zu leisten erhalten Sie hiemit 2 Briefe, der eine ist dem Arzte bestirnt, der andre dem Freunde« (im Brief an Passavant vom 21. Juni 1818, vgl. BW G / W 481).
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neuen Selbstverständnisses finden sich aber schon im Briefwechsel mit Goethe. Als »kleine[s] Großmütterchen« bezeichnet sich Marianne von Willemer darin am 9. Dezember 1824 (BW G/W, 161). Es ist ihr erster Brief an Goethe nach Ubersendung des Heidelberg-Gedichts.
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III. Produktive Goethe-Rezeption bei Bettina von Arnim
1. Kunst und Leben
Die Begegnung mit Bettina war für Goethe eine unbedeutende Episode; sie nahm in der Zeit seines Lebens nicht nur quantitativ einen kleinen Platz ein, der Dichter bemühte sich darüber hinaus auch auf jede nur mögliche Weise, daß sie nie die Rolle einer Ursache spielte, und er hielt sie sorgfältig außerhalb seiner Biographie. Genau hier wird aber die Relativität des Begriffs Episode deutlich, eine Relativität, die Aristoteles nicht zu Ende gedacht hat: niemand kann nämlich garantieren, daß irgendein rein episodisches Ereignis nicht eine kausale Kraft in sich birgt, die diese Episode eines Tages zur Ursache weiterer Ereignisse werden läßt. Wenn ich »eines Tages« sage, kann dieser Tag sogar erst nach dem Tod liegen, was die triumphierende Bettina beweist, die zu einer Geschichte in Goethes Leben erst wurde, als Goethe nicht mehr lebte. (Kundera 1992, 366) Daß Bettina von Arnim 1 das Kunststück gelang, über das sich Milan Kundera in Die Unsterblichkeit
so pointiert ausläßt, verdankt sie ihrem schriftstellerischen
Erstling, dem Briefroman Goethes
Briefwechsel
mit einem
Kinde,1
mit dem sie 1 8 3 5
schlagartig berühmt wurde. Der Sensationserfolg, der, drei Jahre nach Goethes Tod, von der Welle des immensen Interesses an allem, was mit dem Privatleben des Dichters zu tun hatte, profitieren konnte, wurde zunächst als Originalbriefwechsel der jungen Bettina Brentano mit Goethe und damit als Dokument eines sehr intimen Verhältnisses des Dichters zu der späteren Ehefrau Achim von Arnims rezipiert. Nur wenige Zeitgenossen nahmen die artifizielle Uberformung der Korrespondenz wahr. Die Herausgeberin hatte die Vorlagen durch massive Interpolation stark verändert, Briefe nachträglich erweitert und neue hinzuer-
1
2
In der Forschung haben sich mittlerweile zwei >Schulen< formiert. Die Vertreter der einen sprechen von Bettinf (von Arnim), die der anderen ebenso hartnäckig von Bettina (von Arnim). In der Regel wird dergleichen eingangs unter Berufung auf Briefunterschriften oder Titelblätter begründet. Vorliegende Arbeit schließt sich der letztgenannten >Schule< an, um die Autorin Bettina von Arnim (so nämlich die Verfasserangabe auf ihren Büchern) deutlich von ihrem teilweise fiktiven und nachnamenlosen Jugend-Ich »Bettine« aus Goethes Briefwechsel mit einem Kinde unterscheiden zu können. Die Bezeichnung »Briefroman« für den Briefwechsel mit einem Kinde oder die anderen auf Briefen basierenden Werke Bettina von Arnims ist wiederholt problematisiert oder sogar in Frage gestellt worden, vgl. etwa Bäumer 1986 (S. 43), Bunzel 1987 (S. 14), Zimmermann 1992 (S. 21-23), Bäumer/Schultz 1995 (S. 146) oder Bossinade 1995 (S. 88). Da aber bislang kein wirklich befriedigender Alternativterminus ge- bzw. erfunden wurde, soll in Ermangelung eines solchen auch in der anstehenden Untersuchung anstelle von »Briefwerk«, »Brief-Buch«, »Dialogroman« oder »Brief-Erinnerungsbuch« gelegentlich die in der Literatur nach wie vor dominierende Bezeichnung »Briefroman« verwendet werden, sehr wohl wissend, daß durch Bettina von Arnims »kunstvolle Technik des Mischens verschiedener Textsorten« dieser Gattungsbegriff »eindeutig überfrachtet [wird], wenn nicht sogar gesprengt« (Bäumer/Schultz 1995, 146).
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funden, und damit den ursprünglichen Schreiben einen Charakter gegeben, der mitnichten exakt dem des Briefwechsels entsprach, den sie von 1807 bis 1811 und von 1817 bis 1832 tatsächlich mit Goethe geführt hatte. Im Vergleich mit diesem fällt insbesondere auf, daß die Zahl von Goethes Briefen im Roman deutlich gestiegen ist. Zwar überwiegen die Briefe seiner Korrespondentin Bettine nach wie vor, nicht nur was die Menge betrifft, sondern allein schon durch ihre Länge, aber es herrscht längst nicht so ein Mißverhältnis, wie es sich im Originalbriefwechsel, der 1922 von Reinhold Steig erstmals herausgegeben wurde, zwischen Bettina Brentano und dem doch deutlich reservierteren Goethe ausmachen läßt. Auch stößt der programmatisch stilisierte Ton schwärmerischer Begeisterung und Liebe, der bereits die Jugendbriefe Bettina Brentanos geprägt hatte und der durch die bei Veröffentlichung rund 30 Jahre ältere Witwe von Arnim sogar noch intensiviert und zur Pose regelrechter Anbetung gesteigert worden war, nun bei Goethe zumeist auf ein anteilnehmendes, anerkennendes, ja liebevolles Echo. Voll Zuneigung widmet er Bettine sogar eine ganze Reihe Liebesgedichte. Zu Lebzeiten hatte er sich hingegen merklich zurückgehalten, das Verhältnis zwischen ihm und seiner fast 40 Jahre jüngeren Verehrerin war, wie man weiß, alles andere als ungetrübt - erinnert sei an den oft zitierten Ausspruch Goethes von der »leidige[n] Bremse« (im Brief an Carl August vom 13. September 1826, vgl. WA-IV, Bd. 50, 55). Den großen Bruch, die handgreifliche Auseinandersetzung zwischen der noch nicht lange verheirateten Frau von Arnim und Christiane von Goethe im September 1811, in deren Folge Goethe das Ehepaar Arnim seines Hauses verwies und den Kontakt auf Jahre abbrach, weiß der Briefwechsel mit einem Kinde im Gestus liebender Anhänglichkeit zu verschleiern, weiß ihn zu verschweigen, ohne ihn zu leugnen. Womit Bettina von Arnim vier Jahre nach dem Tod ihres Ehemanns und drei Jahre nach dem Tod Goethes an die Öffentlichkeit tritt, ist keine Briefedition, sondern Poesie, ein literarisches Kunstwerk. Es enthält die Korrespondenz Bettines - die nur in Teilen mit der Verfasserin Bettina von Arnim identisch ist — mit einem Goethe, der ebenfalls zumeist nur dem Namen nach der >wirkliche< Goethe ist, insofern nämlich, als es sich zwar in der Tat um den Autor der Lehrjahre, des Divan oder der Wahlverwandtschaften zu handeln scheint, dieser aber, wie man nachweisen konnte, den größten Teil der Briefe, die hier unter seinem Namen abgedruckt werden, gar nicht (oder zumindest nicht so) geschrieben hatte. Eröffnet und eingeleitet wird das Ganze (nach einer Widmung für Fürst Hermann von Pückler-Muskau und einer Vorrede) durch Bettines Briefivechsel mit Goethes Mutter, der knapp die Hälfte des ersten Teiles ausmacht, Höhe- und Schlußpunkt bildet dann das Tagebuch Bettines, das den gesamten dritten Teil einnimmt. Im Kontext der Goethe-Rezeption Charlotte von Steins und Marianne von Willemers ist der Briefwechsel mit einem Kinde jedoch nicht nur von Interesse, weil darin gewissermaßen eine erfundene Goethe-Figur vorkommt, sondern auch, weil Goethes Werke und die Beschäftigung Bettines damit einen großen 248
Raum einnehmen. Aus ihren Briefen scheint Goethe Anregungen zu beziehen für eine ganze Reihe seiner Gedichte, den Sonettenzyklus etwa oder den Divan. Mit den Wablverwandtschafien wiederum setzt sie sich kritisch auseinander. Auch hier ließ sich rasch nachweisen, daß die meisten der behaupteten Bezugnahmen auf die junge Korrespondentin nicht den Tatsachen entsprechen. So gehen zwar wirklich einige der Sonette Goethes auf Briefpassagen Bettina Brentanos zurück, die Inspirationsquelle für seinen West-östlichen Divan aber war sie definitiv nicht. Und Wilhelm Meisters Lehrjahre mit ihrer Mignon-Figur waren in der Originalkorrespondenz noch gar kein Thema, werden aber im Briefwechsel regelrecht zum Gegenstand tagespolitischer Betrachtungen. Eine derart positivistische Auseinandersetzung nach wertenden Kategorien wie Wahrheit oder Lüge mit den größtenteils erst nachträglich hergestellten intertextuellen Bezügen wird dem sogenannten >Goethebuch< jedoch nicht gerecht, da sie die Ehrenrettung Goethes als Dichtersouverän in den Mittelpunkt stellt und seine Textherrschaft gegen die als unberechtigt empfundenen Übergriffe der Herausgeberin zu verteidigen sucht. Nimmt man aber den konstatierten Kunstcharakter des Briefwechsels und damit die Verfasserin Bettina von Arnim als Autorin ernst, so muß das Augenmerk der Analyse sich auf das poetische Konzept ihrer Versuche richten, Goethes Werke in den eigenen Text einzubinden. Ausgehend von den Sonetten, an denen sie sich teilweise tatsächlich beteiligt fühlen durfte, über die Aneignung diverser Divan-WtAzr und Goethes Mignon bis hin zu ihrer ablehnenden Haltung den Wahlverwandtschaften gegenüber soll daher im folgenden die fortschreitende textuelle Einverleibung Goethes im Briefwechsel mit einem Kinde - die sich in ihrer grundsätzlichen »Fiktion der Authentizität« (vgl. Anton 1995) immer zugleich als Aneignung des Lebens wie auch des Werks darstellt — nachvollzogen werden. Die vergleichende Gegenüberstellung von Originalbriefwechsel und Briefroman wird hierbei helfen, die Einfunktionierung der jeweiligen Werke wie auch der Person Goethes offenzulegen, und so nicht nur aufzuzeigen, wie durch die gezielte Aneignung Goethescher Texte eine eigene, fiktive Goethe-Figur entworfen wird, sondern auch, in welchem wechselseitigem Abhängigkeitsverhältnis diese Goethe-Figur wiederum zu der ebenfalls fiktiven Gestalt Bettine steht und welche Konsequenzen dies für den Selbstentwurf Bettina von Arnims hat, den diese mit Hilfe ihrer Bettine entwickelt. Erst der Blick auf die Instrumentalisierung Goethes gibt somit letztlich den Blick frei auch auf die Autorin selbst und ihre Motive, rund 30 Jahre nach Beginn ihres Briefwechsels mit dem bewunderten Dichter die Korrespondenz im Hinblick auf eine geplante Veröffentlichung zu fiktionalisieren und nicht nur Goethe, sondern auch sich selbst zu diesem Zweck ein zweites Ich zu entwerfen, das sie stellvertretend in einen rekapitulierten Dialog führt. Die Untersuchung wird dabei, anders als etwa Bäumer 1986 oder Weißenborn 1987, ihren Ausgangspunkt nicht bei der Biographie nehmen, sondern vom Text selbst ausgehen. Lebensgeschichtliche Details werden jedoch — wie schon im Falle der Analyse zum Werk Charlotte von Steins oder Marianne von Willemers — dort 249
miteinbezogen, wo sie zur Erhellung der Arbeit am Briefwechsel und der Funktion des zentralen Motivs Goethe darin beitragen können. Dabei wird deutlich werden, inwiefern die Autorin gerade der demonstrativ engen Anbindung an Goethe, der nachträglich und absichtsvoll geschaffenen wechselseitigen Durchdringung des eigenen mit dem fremden Werk bedurfte, um im Ubergriff auf die Textherrschaft Goethes die eigene zu schaffen und sich so in der fiktiven Doppelgängerin Bettine der eigenen Identität zu versichern.
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2. Ich aber sehe mit Lust, wie Du mich in Dich aufnimmst} Goethes Sonette im Briefwechsel mit einem Kinde
Ihren ersten Brief an Goethe schreibt Bettina Brentano am 15. Juni 1807. Von nun an wendet sie sich immer wieder in schwärmerischer, stilisiert-kindlicher Offenheit an den berühmten Dichter, dem sie knapp zwei Monate zuvor erstmals begegnet ist und mit dessen Mutter sie seit nunmehr fast einem Jahr in freundschaftlichem Kontakt steht. Ein wirklicher Briefwechsel im eigentlichen Sinne setzt allerdings erst zu Beginn des Folgejahres ein, mit Goethes erstem Antwortschreiben vom 9. Januar 1808, einem Dankesbrief fur Weihnachtsgeschenke, die Bettina Brentano ihm und seiner Familie hatte zukommen lassen. Bereits kurz zuvor, wenige Tage vor Weihnachten, läßt er der 22jährigen — »offensichtlich ohne weiteres Begleitschreiben« (Werke und Briefe II, 1112) - die eigenhändigen Abschriften zweier Gedichte zukommen, zweier Sonette, die er, zu diesem Zeitpunkt noch lediglich / und III genannt, erst knapp acht Jahre später unter den Titeln Mächtiges Uberraschen und Abschied veröffentlichen wird. Sie erschienen 1815 in den Werken als Teil eines ganzen Zyklus von insgesamt 15 Sonetten, denen 1827 in der Ausgabe letzter Hand noch zwei weitere hinzugefügt wurden. Alle siebzehn entstanden aber bereits zwischen Dezember 1807 und (Früh-)Sommer 1808, und einige von ihnen nehmen ganz unverkennbar Motive und Formulierungen auf, die Goethe in den Briefen Bettina Brentanos aus dem zweiten Halbjahr 1807 begegnet waren. So auch jene beiden, die er ihr im Dezember 1807 nach Frankfurt sandte.
2.1
Zwei Sonette für Bettina Brentano?
In einem Brief Bettina Brentanos von Ende November oder Anfang Dezember 1807 hatte es geheißen: das bin ich! die Dir von Gott gegeben ist, als ein D a m m , über welchen Dein Herz nicht mit dem Strohm der Zeit S c h w i m m e n soll, sondern ewig j u n g in Dir bleibt u n d ewig geübt in der Liebe - 2
1 2
Vgl. GBmeK, 117. Vgl. Der originale Briefwechsel zwischen Bettina von A r n i m u n d Goethe. In: Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Frankfurt a. M . 1 9 8 6 - 2 0 0 4 . Bd. II (1992). S. 5 7 3 - 7 5 3 . Hier: S. 5 8 1 . Im folgenden: B W A / G .
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Dieses Bild einer weiblichen Kraft, die sich als »Damm« d e m »Strohm« in den W e g stellt, findet sich auch in Goethes Sonett /, dem späteren Eröffnungsgedicht des Zyklus, Mächtiges
Überraschen,
w o die Bergnymphe Oreas den Lauf des Was-
sers aufhält: Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale Dem Ozean sich eilig zu verbinden; Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen, Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale. Dämonisch aber stürzt mit einem Male Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden — Sich Oreas, Behagen dort zu finden, Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale. Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet, und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken; Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben. Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet; Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben. (MA 9 , 1 2 ) Deutlicher noch sind die Bezüge zwischen Brief und Gedicht im Falle des zweiten Sonetts, das Bettina Brentano mit der gleichen Sendung erhielt. Unmittelbar vor der oben zitierten Passage hatte sie in ihrem Schreiben v o n Ende November/Anfang Dezember 1 8 0 7 ausgeführt: So wie der Freund Anker löst nach langer Zögerung und endlich scheiden muß; ihm wird die lezte Umarmung was ihm hundtert Küße und Worte waren, ja mehr noch, ihm werden die Ufer die er in der Entfernung ansieht, was ihm der lezte Anblick war, Und wenn nun endlich auch das blaue Gebirg verschwindet, so wird ihm seine Einsamkeit seine Erinnerung alles, so ist das treue Gemüth beschaffen das Dich lieb hat, [...]. (BW A/G, 581) G o e t h e f o r m t dieses Bild im Sonett III (dem späteren Abschied) War unersättlich nach viel tausend Küssen, Und mußt mit Einem Kuß am Ende scheiden, Nach herber Trennung tiefempfundnem Leiden War mir das Ufer, dem ich mich entrissen, Mit Wohnungen, mit Bergen, Hügeln, Flüssen, So lang' ich's deutlich sah, ein Schatz der Freuden; Zuletzt im Blauen blieb ein Augenweiden An fernentwichnen, lichten Finsternissen. Und endlich, als das Meer den Blick umgrenzte, Fiel mir zurück ins Herz mein heiß Verlangen; Ich suchte mein Verlornes gar verdrossen. Da war es gleich als ob der Himmel glänzte; Mir schien, als wäre nichts mir, nichts entgangen, Als hätt' ich alles, was ich je genossen. (MA 9,15f.)
252
wie folgt um:
Auf ihr damit dokumentiertes Eintreten in Goethes Werk reagiert Bettina Brentano am 21. Dezember 1807 mit dankbarer Begeisterung: Und so weit hatte ich gestern geschrieben, saß heute morgen auf dem Sessel und laß still und andächtig in Carls des großen Jugendjahren, ohne nur mich zu bewegen, denn ich wurde dabey gemahlt, so wie Du mich bald sehen sollst, da brachte man mir das blaue Couvert, und ich brach auf, und fand mich darinn in Göttlichem Glanz wiedergebohren, und zum erstenmal glaubte ich an meine Seeligkeit. (BW A/G, 584)
Was sie nicht wußte (und auch nicht wissen konnte), war, daß Goethe diese Gedichte gar nicht speziell für sie angefertigt hatte. Vielmehr waren sie - wie auch seine anderen Sonette, die in dieser Zeit entstanden — die Resultate eines poetischen Wettstreits zwischen Goethe, Zacharias Werner, Friedrich Wilhelm Riemer und einigen anderen, die bei Carl Friedrich Ernst Frommann in Jena zusammentrafen und dessen Pflegetochter Wilhelmine (Minna) Herzlieb zur umworbenen Mitte ihres Kreises erklärten. Wenn überhaupt, dann ist sie die eigentliche Adressatin vieler dieser Sonette, fur deren Ausgestaltung Goethe sich teilweise durch die Briefe Bettina Brentanos inspirieren ließ - und auch im Nachlaß Wilhelmine Herzliebs fanden sich eigenhändige Abschriften Goethes von Abschied und Mächtiges Uberraschen (vgl. Baumgart 2001, 264). Sein bereits erwähnter erster Brief an Bettina Brentano vom 9. Januar 1808 jedoch endet mit der ausdrücklichen Aufforderung »Schreiben Sie bald daß ich wieder was zu übersetzen habe« (BW A/G, 584). Das mußte die Empfängerin in dem Glauben bestärken, ihre Briefe seien der Anlaß der erhaltenen Gedichte gewesen. Ob sie auch noch Abschriften weiterer Sonette erhielt, ist nicht belegt, aber Abschied und Mächtiges Uberraschen sind nicht die einzigen Gedichte des Zyklus, in denen Goethe Briefe Bettina Brentanos verarbeitet hat (s.u.). Selbst wenn ihr die anderen Sonette bis zu ihrer Veröffentlichung unbekannt geblieben sein sollten, dürften ihr die Ähnlichkeiten 1815 beim Blick in Goethes Werke aufgefallen sein, spätestens jedoch bei den Vorbereitungen zur Herausgabe von Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, als sie die erhaltenen Unterlagen redigierend durchsah. In ihrem Buch betont Bettina von Arnim nun die offenbar inspirierende Kraft ihrer Jugendbriefe ganz ausdrücklich, ja sie verändert die entsprechenden Schreiben so, daß die intertextuellen Bezüge überdeutlich hervortreten, und fügt neben expliziten Anmerkungen, in denen sie - um den Wiedererkennungseffekt nur ja nicht dem Zufall zu überlassen — zur Erläuterung einzelne der betroffenen Gedichte Goethes im Ganzen zitiert, nicht wenige Passagen neu hinzu, mit denen sie auch solche Sonette als Poetisierung ihrer Briefe erscheinen läßt, für deren Anfertigung Goethe seinerzeit gar nicht auf ihre Ausführungen zurückgegriffen hatte. Zugleich verändert sie mitunter auch gerade solche Briefe, die tatsächlich fiir ein Sonett Goethes Pate gestanden hatten, stets in dem Bestreben, sich über den Briefivechsel mit einem Kinde den gesamten Sonettenzyklus im Wortsinne zuzuschreiben - die meisten der Gedichte ganz ausdrücklich, die verbleibenden zumindest implizit. Die Strategie dieser poetischen Vereinnahmung fremder Texte soll im folgenden näher untersucht werden. 253
2.2
Ein epochales Ereignis: Bettine als Oreas
Dem eigentlichen »Briefwechsel mit Goethe«, der in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde vom Briefivechsel mit Goethes Mutter und dem Tagebuch eingerahmt wird, stellt Bettina von Arnim Goethes Sonett Epoche voran [GBmeK, 85]: Mit Flammenschrift war innigst eingeschrieben Petrarcas Brust, vor allen andern Tagen, Cbarfreitag. Eben so, ich darf's wohl sagen Ist mir Advent von Achtzehnhundert sieben. Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort zu lieben, Sie, die ich früh im Herzen schon getragen, D a n n wieder weislich aus dem Sinn geschlagen, Der ich nun wieder bin ans Herz getrieben. Petrarcas Liebe, die unendlich hohe, War leider unbelohnt und gar zu traurig, Ein Herzensweh, ein ewiger Charfreitag; Doch stets erscheine, fort und fort, die frohe Süß, unter Palmenjubel, wonneschaurig, Der Herrin Ankunft mir, ein ew'ger Maitag. (MA 9, 20f.)
Mit diesem Mottogedicht liefert die Autorin des Buches allerdings nicht nur einen »poetischen Datierungshinweis auf den Beginn ihrer Beziehung zu Goethe« (Bäumer 1986, 42). 3 Vielmehr präsentiert sich der anschließende Briefwechsel dem Leser auf diese Weise geradezu als Antwort auf die Frage nach dem besonderen biographischen Ereignis, das den »Advent von Achtzehnhundert sieben« derart auszeichnete, daß es einer ausdrücklichen lyrischen Würdigung wert war. Die verheißungsvolle Eröffnung stilisiert die gesamte Korrespondenz mit Goethe, als deren Uberschrift sie gewissermaßen auftritt, zum entstehungsgeschichtlichen Kontext der Sonette von 1807/08, denn Epoche (gemeinsam mit Charade eines jener beiden Sonette, die Goethe aus Rücksichtnahme auf Minna Herzlieb bei der Veröffentlichung des Zyklus 1815 zunächst zurückgehalten hatte) lenkt aufgrund seiner dezidiert auto(r)biographischen Anspielungen und in dem Zusammenhang, in den es durch Bettina von Arnim gestellt wird, das Augenmerk der Leser auf das lebensweltliche Abhängigkeitsverhältnis von Kunst und Leben, nämlich auf die Frage nach der »Herrin« und damit nach jener Person, die 1807 in Goe-
3
In der ersten Strophe setzt Goethe dem D a t u m der ersten Begegnung Petrarcas mit der Laura seiner Sonette den Schlüsselmoment seiner eigenen Sonettendichtung entgegen: die Adventszeit 1807, die er in Jena im dichterischen Wettstreit mit Freunden - und in Gesellschaft Minna Herzliebs verbringt. D a Bettina von Arnim von dieser Episode aber nichts wußte, sondern die Anspielung auf »Advent von Achtzehnhundert sieben« vielmehr nach einer zweiten persönlichen Begegnung mit Goethe Anfang November desselben Jahres und dem Erhalt seiner beiden Gedichte kurz vor Weihnachten durchaus auf sich beziehen konnte, mag sie die Datumsangabe des Sonetts als ausdrücklichen Beleg ihrer eigenen, zentralen Rolle beim Zustandekommen dieser Dichtung verstanden und daher ihrem Briefroman an so exponierter Stelle auch datierend eingefügt haben.
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thes Leben >Epoche gemacht< und so seine Arbeit am Sonettenzyklus ausgelöst hat. Die veröffentlichten Briefe sollen dem Leser zweifelsfrei belegen, daß Bettine diese Person gewesen ist. Das erste von Goethes Sonetten, das den Lesern des Briefivechsels mit einem Kinde als Resultat der Inspiration durch einen Brief Bettines präsentiert wird, ist das bereits zitierte Abschied. In der Tat gehen ja einzelne Elemente des Gedichts auf den oben wiedergegebenen Abschnitt des Brentanoschen Schreibens von Ende November oder Anfang Dezember 1807 zurück. Aber in ihrem Buch bedient sich die Verfasserin nun gar nicht dieser authentischen Passage, um ihren Einfluß auf Goethes Dichtung zu demonstrieren. Sie erfindet vielmehr einen vollständig neuen Brief, den sie auf »den 1. August in der Nacht« datiert und in dem sie eine Schreibsituation wehmütiger Rückschau auf die offenbar unmittelbar zurückliegende erste Begegnung mit Goethe fingiert. Bettina von Arnim entwirft das Szenario einer nächtlichen Rast auf der Wartburg, die Bettine in Erinnerung an »das höchste Ereignis meines Lebens« (GBmeK, 103) schlaflos und daher an Goethe schreibend verbringt: Es war freilich ein letzter Kuß, mit dem ich scheiden mußte, da ich glaubte, ich müsse ewig an Deinen Lippen hängen, u n d wie ich so dahin f u h r durch die Gänge unter den Bäumen, unter denen wir zusammen gegangen waren, da glaubte ich, an jedem Stamme müsse ich mich festhalten, — aber sie verschwanden, die grünen wohlbekannten Räume, sie wichen in die Ferne, die geliebten Auen und Deine W o h n u n g war längst hinabgesunken, und die blaue Ferne schien allein mir meines Lebens Rätsel zu bewachen; - doch die mußt' auch noch scheiden, und n u n hatt' ich nichts mehr als mein heiß' Verlangen, u n d meine Tränen flössen diesem Scheiden; ach, da besann ich mich auf alles, wie D u mit mir gewandelt bist in nächtlichen Stunden, und hast mir gelächelt, daß ich Dir die Wolkengebilde auslegte und meine Liebe, meine schönen Träume, und hast mit mir gelauscht dem Geflüster der Blätter im Nachtwind; der Stille der fernen weit verbreiteten Nacht. - Und hast mich geliebt, das weiß ich; wie D u mich an der H a n d führtest durch die Straßen, da hab' ich's an Deinem Atem empfunden, am Ton Deiner Stimme, an etwas, wie soll ich's Dir bezeichnen, das mich umwehte, daß D u mich aufnahmst in ein inneres, geheimes Leben, und hattest Dich in diesem Augenblick mir allein zugewendet und begehrtest nichts als mit mir zu sein; und dies alles, wer wird mir's rauben? — was ist mir verloren? — mein Freund, ich habe alles, was ich je genossen. Und wo ich auch hingehe - mein Glück ist meine Heimat. (GBmeK, 103f.)
Wenn die Verfasserin nun kurz darauf unter der Uberschrift An Bettine die beiden Sonette Abschied und Mächtiges Uberraschen einschaltet, die Goethe ihr im Dezember 1807 geschickt hatte (GBmeK, 107f.), muß War unersättlich nach viel tausend Küssen dem Leser als Poetisierung dieser fiktiven Briefpassage erscheinen, zu deutlich sind Signalwörter wie das Bild vom »letzten Kuß«, mit dem sie »scheiden mußte«, die »Wohnung«, die »blaue Ferne« und nicht zuletzt die im Druckbild hervorgehobene Zeile »[I]ch habe alles, was ich je genossen«, die nahezu wörtlich den Schlußvers des Goetheschen Gedichts vorwegzunehmen scheint, indem sie ihn wiederholt.
255
In ähnlicher Weise setzt sich das fiktive Wartburg-Schreiben auch dem anderen Sonett voraus, denn dem ersten Teil des Briefes, der zitierten
Abschied-Paraphrase,
schließt sich unter dem Datum des 2. August ein zweiter an, in dem es heißt: [I]ch sah die Wasser sich sammlen and ihren Weg zwischen den Felskanten suchen hinab in die Flut; gestürzte Tannen brachen den brausenden Wassersturz, und Felssteine spalteten seinen Lauf; er war unaufhaltsam; er riß mit sich, was nicht widerstehen konnte. — Da überkam mich eine so gewaltige Lust — ich konnte auch nicht widerstehen: ich stürzte mich hoch, der Morgenwind hielt mich bei den Haaren im Zaum; ich stützte beide Hände in die Seite, um mich im Gleichgewicht zu halten, und sprang hinab, in kühnen Sätzen von einem Felsstück zum andern, bald hüben bald drüben, das brausende Wasser mit mir, kam ich unten an; da lag, als wenn ein Keil sie gespalten hätte bis an die Wurzel, der halbe Stamm einer hohlen Linde, quer über den sich sammlenden Wassern. (GBmeK, 105f.) Hierin soll der Leser das Urbild von Goethes Mächtiges
Uberraschen
erkennen
und damit auch dieses Sonett als von Bettine inspiriert begreifen. Vorbereitet wird eine solche Deutung von langer Hand. So findet sich etwa bereits im
wechsel mit Goethes Mutter, der den Briefwechsel
Brief-
mit einem Kinde einleitet, ein
Schreiben Bettines an die Frau Rat, 4 in dem sie unter dem Datum des 1 6 . Mai 1 8 0 7 verkündet: Da dacht' ich an ihn, wenn der mich [sie] in seinen Jugendjahren so begegnet hätte, ob das nicht einen poetischen Eindruck auf ihn gemacht haben würde, daß er Lieder auf mich gemacht hätte und mich nimmermehr vergessen. (GBmeK, 22) Und im »Briefwechsel mit Goethe« läßt die Verfasserin den Briefpartner Bettines am 10. Juni 1 8 0 7 in einem fiktiven Brief sagen: Der Dichter ist manchmal so glücklich, das ungereimte zu reimen, und so wär' es Ihnen zu gestatten, liebes Kind, daß Sie ohne Rückhalt alles, was Sie der Art mitzuteilen haben, ihm zukommen ließen. (GBmeK, 92] Bettine folgt dieser Aufforderung, sie »teilt mit« (»Wartburg, den 1. August«), der korrespondierende »Dichter« »reimt das Ungereimte« (zwei Sonette An
Bettine)
und bittet am 5. September: Adieu mein artig Kind! schreibe bald, daß ich wieder was zu übersetzen habe. (GBmeK, 117) Auch dieser Satz - bis auf den vertraulichen Ton ein Originalzitat Goethes aus seinem ersten Brief v o m 9. Januar 1 8 0 8 (s. S. 2 5 3 ) - gehört in jenes Netz aus
4
Schmitz/von Steinsdorff weisen im Kommentar zu Goethes Briefivechsel mit einem Kinde daraufhin, daß »[v]on B.s Briefen an Elisabeth Catharina Goethe, geb. Textor, [...] nur der im >Goethebuch< auf den 5.5.1807 datierte, tatsächlich aber erst kurz vor Pfingsten (17.5.1807) geschriebene im Original überliefert« ist (Werke und Briefe II, 971). Über die Feststellung hinaus, daß es mit Sicherheit einen Briefwechsel Bettina Brentanos mit Goethes Mutter gab, läßt sich daher über die Authentizität der anderen im ersten Teil des Briefwechsels mit einem Kinde abgedruckten Briefe nicht zweifelsfrei urteilen. 256
Andeutungen und Querverweisen, vor dessen Hintergrund Bettina von Arnim sich als Muse des Dichters in Szene setzt.5 So bleibt die Frage, warum sie es nicht bei den Originalpassagen ihrer Briefe von 1807 belassen hat. Weißenborn, die in ihrer Studie zu Bettina von Arnim und Goethe das intertextuelle Verhältnis von Goethes Sonettvorlagen und ihrer nachträglichen Uberführung in Briefprosa durch Bettina von Arnim bisher als einzige näher untersucht hat (vgl. Weißenborn 1987, 166—174), blendet dieses Problem weitgehend aus und bezieht sich vorwiegend auf die »geistige Ferne« (Weißenborn 1987, 167) zwischen den Sonetten selbst und den ihnen zugeordneten Abschnitten des fiktiven Briefes vom 1. bzw. 2. August 1807, wie sie sich in Goethes Briefwechselm.it einem Kinde finden. Diese »geistige Ferne« mag bestehen, sie zeigt sich aber nicht in der linearen Abfolge des Briefromans, die ein vorgeblich reales Erlebnis und den brieflichen Bericht darüber als Grundlage zweier Gedichte präsentiert und dadurch ja gerade eine Art »geistiger Nähe« zu erzeugen sucht, sondern wird erst im komplexen Verhältnis der unterschiedlichen Zeitebenen deutlich, was jedoch das zeitgenössische Publikum mangels Hintergrundwissens nicht erkennen konnte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, daß das Selbstverständnis Bettina von Arnims als >Muse< Goethes bereits den Originalbriefwechsel prägte, ja diesem möglicherweise sogar vorausging und nicht nur der anmaßende Versuch der Witwe von Arnim ist, sich wider besseres Wissen anzueignen, was nicht ihr gehörte. Gesteht man dem oben zitierten Abschnitt aus Bettines (vermutlich fiktivem) Brief an Goethes Mutter vom 16. Mai 1807 trotz des Fehlens einer Vorlage und trotz der abenteuerlich stilisierten Szenerie, in die er eingebettet ist, ein gewisses Maß an Authentizität zu, so spricht Böttger wohl nicht zu Unrecht von »[k]ühne[n] Träume[n]«, die »in Erfüllung zu gehen schienen«, als die junge Bettina Brentano im Winter 1807 Goethes Brief mit den beiden Gedichten erhielt (Böttger 1986, 219]. Die Tatsache, daß er tatsächlich »Lieder auf mich gemacht« hatte, führt zu begeisterten Ausbrüchen wie den bereits zitierten im Dankesbrief vom 21. Dezember 1807: da brachte man mir das blaue Couvert, u n d ich brach auf, u n d fand mich darinn in Göttlichem Glanz wiedergebohren, und zum erstenmal glaubte ich an meine Seeligkeit. ( B W A / G , 584)
Bettina von Arnim übernimmt diesen Satz wörtlich in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (GBmeK, 110] und unterstreicht damit, wie sie den dargestellten
5
Höhepunkt dieser Inszenierung ist ein Gespräch, das Bettine mit Goethe geführt haben will und in ihrem Tagebuch rekapituliert: »— da begann ich meine Liebesgeschichte von der ich nichts mehr weiß. U n d Du, Herrlicher! ließest mich nicht weiter sprechen und riefst: »Nein, nein! d u bist mein? — d u bist meine Muse! — kein anderer soll sagen können, daß du ihm so zugetan warst wie mir, daß er deiner Liebe so versichert war wie ich« (GBmeK, 547]. Goethe selbst scheint damit noch einmal ausdrücklich zu bestätigen, was im Verlauf des Briefwechsels bereits schrittweise vor den Augen der Leser entwickelt wurde.
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Vorgang versteht und verstanden wissen will: »[I]n Göttlichem Glanz wiedergebohren«, erlangt sie im Werk Goethes Unsterblichkeit, in den Sonetten sieht sie ihre eigene Apotheose gestaltet. Diese Angewohnheit, Goethes Texte allein auf sich selbst hin zu lesen, zeigte sich schon früher, insbesondere bei der biographisch belegten Identifikation Bettina Brentanos mit Goethes Figur der Mignon, 6 die auch im Briefwechsel
mit
einem Kinde ihre Spuren hinterlassen hat (s. S. 282ff.)· Im Falle der Sonette aber hat diese Art der Lektüre eine besondere Berechtigung, und damit erreicht die Auseinandersetzung mit Goethes Werk eine neue Qualität: »Aus >MignonVorlagen< zu den von ihr seinerzeit (mit)angeregten Gedichten erfindet, Vorlagen, die ihr individuelles Lektüreerlebnis widerspiegeln, aber im Briefroman den Sonetten vorgeschaltet werden, denen sie ihre Entsteh u n g eigentlich erst verdanken. Die Abschied-Y&tap\\rise. deutet das ihr zugrundeliegende Gedicht ebenso ins Persönliche um und aufs Persönliche hin wie die Adaption von Mächtiges Uberraschen, und in den so entstehenden Schilderungen erscheint Bettine - und damit auch die Verfasserin, mit der die Zeitgenossen sie identisch glauben (sollen) - nicht mehr allein als Ideenlieferantin der Sonette, wie dies beim Abdruck der Originalpassagen der Fall gewesen wäre, sondern regelrecht als deren personifiziertes Vorbild. Bettine, so die implizite Botschaft, hat das Oreas-Gedicht seinerzeit nicht bloß angeregt, sie ist Oreas, die sich den Berg hinunterstürzt, und von ihr stammt auch nicht allein das Motiv des sich langsam entfernenden Ufers, sondern der von Goethe gestaltete Abschied schildert exakt ihre Trennung von ihm u n d ihre Empfindungen dabei, wie sie sie ihm berichtet hatte. Die Neuerungen werten - so man sie, wie es die A n o r d n u n g im Briefivechsel nahelegt, als Vorlage der Sonette liest - die Rolle der Korrespondentin bei Entstehung der Sonette enorm auf: Aus einer bloßen Inspirationsquelle wird das eigentliche Muster der Dichtung. Schon im Originalbriefwechsel deutete sich dies an. Angesichts der Entsprechungen zwischen ihren Briefen und den erhaltenen Gedichten, angesichts der überwältigenden Erfahrung, für den berühmten Dichter - den sie bislang zweimal aufgesucht hatte, der aber noch nicht einmal auf ihre Briefe geantwortet hatte - offensichtlich doch von Bedeutung zu sein,
6
U m nur einen der vielen entsprechenden Belege zu zitieren, sei auf die Äußerungen Henry Crabb Robinsons verwiesen: »Als ich das erstemal nach Frankfurt kam, war sie ein kurzes untersetztes wildes Mädchen, die jüngste und am wenigsten angenehme Enkelin der Frau von La Roche. Sie wurde stets als ein grillenhaftes unbehandelbares Geschöpf angesehen. Ich erinnere mich, daß sie auf Apfelbäumen herumkletterte und eine gewaltige Schwätzerin war; desgleichen auch, daß sie in überschwenglichen Ausdrücken ihre Bewunderung der Mignon in W i l h e l m Meisten aussprach. Indem sie ihre Hände gegen ihre Brust drückte, sagte sie: So liege ich immer zu Bett, um Mignon nachzuahmen« (zit. n. Die Andacht zum Menschenbild. Unbekannte Briefe von Bettine Brentano. Hg. von Wilhelm Schellberg u. Friedrich Fuchs. Jena 1942, 13f.).
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ja sogar auf seine Dichtung Einfluß genommen zu haben, stilisiere sich Bettina Brentano in begeisterter Uberschätzung dieser Bedeutung und dieses Einflusses selbst zur Bergnymphe Oreas und schreibt in ihrem Antwortbrief vom 21. Dezember 1807: Du breiter voller Strohm wie D u damals durch die üpige Gegenden der Jugend durchbraußtest, und jezt eben ganz still durch Deine Wiesen zogst. Ach und ich stürzte Dir Felssteine vor, und wie D u wieder Dich auftürmtest, wahrlich es war nicht zu verwundern denn ich hatte mich tief eingewühlt. ( B W A / G , 5 8 4 )
Wortgleich findet sich dieser Abschnitt auch im Briefivechsel mit einem
Kinde
wieder (GBmeK, 111) und illustriert dort wie hier die feste Überzeugung der Verfasserin, den alternden Goethe — der 1807 eben längst nicht mehr »die üpige Gegenden der Jugend durchbraußte«, sondern »jezt eben ganz still durch [s]eine Wiesen« zog — zu neuem Schaffen aufgewühlt, ihn buchstäblich verjüngt und so zu erneutem Dichten bewegt zu haben. Welch' heiliges Abenteuer, das unter dem Schutze des Eros sich kühn und stolz aufschwingt, kann ein herrlicher Ziel erreichen, als ich in Dir erreicht habe! Wo Du mir zugibst mit Lust: Gehemmt sei nun zum Vater hin das Streben. — Ο glaub' es: Nimmer trink' ich mich satt an diesen Liebesergießungen; ewig fühl' ich von brausenden Stürmen mich zu deinen Füßen getragen, und in diesem neuen Leben, in dem meine Glückssterne sich spieglen, vor Wonne untergehn. ( G B m e K , 118)
Als Bettine erhebt sie den Anspruch, dem berühmten Dichter als Oreas zu »neuem Leben« verholfen zu haben. Ihrer Meinung nach verdanken sich die Sonette ihr ganz allein, und ihr Ziel in Goethes Briefivechsel mit einem Kinde ist es, diesen tiefempfundenen ursächlichen Zusammenhang auch deutlich zu machen. Der Leser soll zum Zeugen ihrer »Wiedergeburt in Göttlichem Glanz« werden, wie sie Bettina von Arnim in Goethes Sonetten vollzogen sah, und damit zugleich auch das »neue Leben« des Dichters, seine wiederbelebte Schaffenskraft als Verdienst der so gefeierten Muse Bettine würdigen. Die fingierten Wartburg-Briefe sind dabei in ihrem Bestreben, die eigene Person in eine Goethesche Szenerie hineinzuschreiben, auf den ersten Blick dem Versuch Marianne Willemers nicht unähnlich, sich Goethe dichtend anzunähern, indem sie ihm in der Maske Suleikas auf dem Weg in den reinen Osten folgte. Wo aber die Divan-Lyrik
Marianne Willemers sich selbst immer aus-
drücklich als Nachfolge versteht und als ehrerbietiges Wandeln auf den Spuren des Geliebten kenntlich bleibt, wird Bettina von Arnims poetische Aneignung der Sonetten-Motivik durch die Anordnung im Briefwechsel zu dem Versuch, die zeitliche Reihenfolge von Arnimscher Briefprosa und Goethescher Lyrik umzukehren. Daß sich Bettina von Arnim »zu einem bewußten und autonomen Umgang mit dem Datum« in ihrem Briefroman ausdrücklich bekennt, hat bereits Bunzel aufgezeigt und beispielsweise auf »eklatante Fehldatierungen« hingewiesen, die die Autorin bei Überarbeitung der ihr vorliegenden Originalbriefe ganz gezielt vornimmt (Bunzel 1987, 8). So wie dadurch im Briefwechsel »das
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Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft ganz allgemein thematisiert« wird (Bunzel 1987, 9) 7 - denn »es ist als ob sich's nicht schicke für meine Liebe, daß ich mich um die Zeit bekümmere« (GBmeK, 364) - , setzt Bettina von Arnim auch bei der Begründung ihres Anspruchs auf Teilhabe an den Goetheschen Sonetten in ihrem Briefroman die zeitliche Abfolge von Ursache und Wirkung außer Kraft. Wie Bunzel feststellt: »Im realen Leben besteht diese Möglichkeit nicht, aber im Zusammenhang des Briefkunstwerks gelten die starren Regel objektiver Chronologie nicht« (Bunzel 1987, 9). So erfolgte die Identifikation mit Oreas im Jahre 1807 noch nachträglich, als Reaktion auf Goethes Gedicht, aber in der interpolierten Beschreibung vom 2. August kann die Verfasserin ihre Bettine Goethes Bild von der den Berg hinabstürzenden Nymphe voraussetzen. Sie verwischt damit nicht nur die Grenze zwischen Leben und Werk, sondern auch jene zwischen den >WerkenWirklichkeit< oder gar die Regeln philologischer Textedition gebunden fühlen, wie ja überhaupt Goethes Briefwechsel mit einem Kinde nicht die bloße Herausgabe authentischer Briefe zum Ziel hat, sondern ein hochartifizielles Konstrukt aus Phantasie und Fakten darstellt, in dem die Verfasserin über die Auseinandersetzung mit Goethe zu sich selbst findet. Ihr sind die Ähnlichkeiten mit ihren Briefen aus Herbst und Winter 1807 Anlaß genug, sich Goethes Sonette in Gänze poetisch anzueignen. Denn auch in Sie kann nicht enden hatte Goethe wieder mit Versatzstücken aus den von ihr erhaltenen Schreiben gearbeitet. So findet sich hier beispielsweise Bettina Brentanos bereits zitierter Bericht vom Erhalt des »blauen Couverts« wieder (»Wenn ich den blauen Umschlag dann erblickte«), und auch die Wunschvorstellung der Liebenden, vom Geliebten mit Kosenamen bedacht zu werden - »Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!« - geht ursprünglich auf eine Brentanosche Vorlage zurück, denn im Brief vom 15. Juni 1807 imaginiert die Verfasserin Goethe gegenüber »die Antwort [...], die ich mir in Ihrem Nahmen gebe [...], mein Kind! mein artig gut Mädgen! Liebes Herz!« (BW A/G, 576). Hier nun das Gedicht, wie es im
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Erstdruck 1 8 1 5 erschien - und danach, wie Bettina von A r n i m es wiederum in
Goethes Briefivechsel mit einem Kinde paraphrasiert. Wenn ich nun gleich das weiße Blatt dir schickte, Anstatt daß ich's mit Lettern erst beschreibe, Ausfülltest du's vielleicht zum Zeitvertreibe Und sendetest's an mich, die Hochbeglückte. Wenn ich den blauen Umschlag dann erblickte; Neugierig schnell, wie es geziemt dem Weibe, Riß' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe; Da las' ich was mich mündlich sonst entzückte. Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen! Wie du so freundlich meine Sehnsucht stilltest Mit süßem Wort und mich so ganz verwöhntest. Sogar dein Lispeln glaubt' ich auch zu lesen, Womit du liebend meine Seele fülltest Und mich auf ewig vor mir selbst verschöntest. (MA 9 , 1 7 ) Was soll ich Dir denn schreiben, da ich traurig bin und nichts neues freundliches zu sagen weiß? lieber mögt' ich Dir gleich das weiße Blatt schicken, statt daß ich's erst mit Buchstaben beschreibe, die doch immer nicht sagen, was ich will, und Du fülltest es zu deinem Zeitvertreib aus, und machtest mich überglücklich und schicktest es an mich zurück, und wenn ich denn den blauen Umschlag sähe und riß ihn auf: Neugierig eilig, wie die Sehnsucht immer der Seligkeit gegenwärtig ist, und ich lese nun, was mich aus deinem Mund' einst entzückte: Lieb' Kind, mein artig Herz, mein einzig Liebchen, klein Mäuschen, die süßen Worte mit denen Du mich verwöhntest, so freundlich mich beschwichtigend; - ach! mehr wollt' ich nicht, alles hätt' ich wieder, sogar dein Lispeln würde ich mitlesen, mit dem Du mir leise das lieblichste in die Seele ergossen und mich auf ewig vor mir selbst verherrlicht hast. (GbmeK, 130) W i e schon im vorangegangenen Fall folgt dieser Passage im Briefivechsel Kinde Hand?
mit
wieder der Verweis auf Goethes Gedicht, zitiert nach der Ausgabe
einem letzter
Insbesondere an diesem Sonett läßt sich nachvollziehen, wie der Gedanke,
»einen poetischen Eindruck« auf Goethe gemacht zu haben, so übermächtig hatte werden können, daß er zur systematischen Aneignung des gesamten Zyklus berechtigte. Die »Antwort«, die Bettina Brentano sich seinerzeit »in Ihrem Nahmen« gegeben hatte, scheint Goethe in seinem Sonett nun tatsächlich auszusprechen, modifiziert zwar, aber doch so unverkennbar, daß es der Leserin v o r k o m m e n mußte, als sei ihre Wunschvorstellung tatsächlich Wirklichkeit geworden. Der Traum von der liebevollen Ansprache durch den Geliebten tritt über die Poesie ins Leben, und auf dieser Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit spielen auch die paraphrasierten Briefe des Briefwechsels,
geschrieben, um abermals eine poetische
Realität zu schaffen und eine »innere Wahrheit< ins Leben zu rufen, die für die Autorin ohnehin längst den Charakter eines Faktums hatte. Aufschlußreich ist die ausdrückliche Abweichung von der letzten Zeile des Sonetts, die Bettines Brief
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Von der Fassung des Erstdrucks weicht die wiedergegebene Version abermals nur marginal ab. So schließt das zweite Quartett nicht mit einem Punkt, sondern mit einem Doppelpunkt. 263
vornimmt. Hieß es bei Goethe: »Und mich auf ewig vor mir selbst verschöntest«, ändert Bettina von Arnim die Formulierung ab zu: »und mich auf ewig vor mir selbst verherrlicht hast«. Es geht um mehr als bloße Verschönerung, es geht um Apotheose, um die > Verherrlichung! der eigenen Person durch den Dichter - und zwar »auf ewig«. In einem fiktiven Brief Bettines an Goethe vom 17. September heißt es diesbezüglich: Ich aber sehe mit Lust, wie Du mich in Dich aufnimmst, wie D u diese einfachen Blumen, die am Abend schon welken müßten, ins Feuer der Unsterblichkeit hältst und mir zurück gibst.- Nennst D u das auch übersetzen, wenn der göttliche Genius die idealische Natur vom irdischen Menschen scheidet, sie läutert, sie enthüllt, sie sich selbst wieder anvertraut, und so die Aufgabe, selig zu werden, löst? (GBmeK, 117)
Wenn Goethe davon gesprochen hatte, ihre Briefe »übersetzt« zu haben, dann stellen spätestens diese Zeilen klar, wie dies zu deuten ist. Das Eingehen in Goethes Dichtung wird als sakraler Akt dargestellt, als Läuterung in Anlehnung an den Mythos von Demeter, die den ihr anvertrauten Demophon unsterblich machen wollte, indem sie seine sterblichen Anteile im Feuer wegzubrennen suchte (vgl. Werke und Briefe II, 766 u. 999). Indem Bettine aber davon spricht, daß sie ihre »einfachen Blumen« wieder zurückerhält, daß ihre »idealische Natur«, nachdem sie »vom irdischen Menschen« geschieden wurde, »sich selbst wieder anvertraut« wird, meldet sie Besitzansprüche an auf das Produkt solcher Verherrlichung, auf Goethes Sonettenzyklus, in dem sie ihren Traum vom liebenden Einvernehmen mit dem Angebeteten aufs feierlichste bewahrheitet sieht. Mächtiges Überraschen und Abschied (auf die sich die Textstelle durch den Verweis auf Goethes Ausspruch vom »Ubersetzen« bezieht) stehen damit stellvertretend auch für die anderen Sonette. Indem Goethe ihre Briefe lyrisch verarbeitet und damit ihre Person in der Poesie verherrlicht, indem er ihr darüber hinaus die Früchte dieses Prozesses zuschickt, sie ihr also zueignet - ein Vorgang, der im Briefwechsel mit einem Kinde mehrfach wiederholt und damit betont wird, etwa wenn Goethe Bettine als Beilage zu einem Brief an seine Mutter im Mai 1808 das Sonett Wachstum schickt (vgl. GBmeK, 149), 10 oder wenn Bettine am 21. August 1808 seine Charade erhält (vgl. GbmeK, 2 1 9 ) 1 e r k e n n t er sie vor aller Welt als seine Muse an, widmet er ihr die Gedichte, die er ihrer Anregung verdankt und anerkennt damit ihre inspirierende, den Dichter zu neuem Schaffen verjüngende Kraft. Diese dem Briefroman Bettina von Arnims »immanente Poetologie, nach der sich die Schöpferkraft des >alten< Goethe eben aus der Begegnung mit ihr, dem >Kind< der Poesie, gespeist habe« (Schmitz 1994), spiegelt sich auch im ausdrücklichen Lob einer ganzen Reihe von Jugenddichtungen Goethes, das
10
1
'
Hierzu merken Schmitz/von Steinsdorff im Kommentar des Briefwechsels an: »Daß Goethe tatsächlich auch B. eine Abschrift übermitteln ließ, ist nicht belegt« (Werke und Briefell, 1015). Der Brief ist fiktiv, und auch das Gedicht hat Goethe Bettina Brentano nie geschickt.
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s i c h v o r a l l e m i m Briefwechsel
mit
Goethes
Mutter
findet12
u n d s o d o r t bereits
t h e m a t i s c h d i e e r n e u t e >Verjüngung< G o e t h e s vorbereitet, wie sie sich d a n n — bewirkt d u r c h d i e j u n g e B r i e f f r e u n d i n - i m Briefwechsel
mit Goethe a m B e i s p i e l d e r
S o n e t t e darstellt, die d o r t als B e l e g e erneuerter K r e a t i v i t ä t i n f o l g e der liebevollen Ü b e r e i n s t i m m u n g z w i s c h e n A b s e n d e r i n u n d A d r e s s a t gefeiert w e r d e n . E i n e r s o l c h e n D e u t u n g d i e n t a u c h ein drittes j e n e r S o n e t t e d e s Z y k l u s , die B e t t i n a v o n A r n i m i m Part der s c h r e i b e n d e n L i e b e n d e n e i n g e r a d e z u ideales R o l l e n a n g e b o t m a c h e n : Die Liebende
schreibt.
Gänzlich ohne konkrete Vorlage
in d e n O r i g i n a l b r i e f e n , findet sich i m Briefwechsel
a u c h dieses G e d i c h t -
pa-
raphrasiert u n d s o d a n n , wie die b e i d e n v o r g e n a n n t e n , in einer A n m e r k u n g in G ä n z e zitiert. Ein Blick von deinen Augen in die meinen, Ein Kuß von deinem Mund auf meinem Munde, Wer davon hat, wie ich, gewisse Kunde, Mag dem was anders wohl erfreulich scheinen? Entfernt von dir, entfremdet von den Meinen, Führ' ich stets die Gedanken in die Runde, Und immer treffen sie auf jene Stunde, Die einzige; da fang' ich an zu weinen. Die Träne trocknet wieder unversehens: Er liebt ja, denk' ich, her in diese Stille, Und solltest du nicht in die Ferne reichen? Vernimm das Lispeln dieses Liebewehens; Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille, Dein freundlicher zu mir; gib mir ein Zeichen! (MA 9, 16) D e m k o m m e n t i e r e n d e n A b d r u c k d e s G e d i c h t s geht d e r f o l g e n d e A b s c h n i t t voraus: Ein Blick von Deinen Augen in die meinen, ein Kuß von Dir auf meinen Mund, belehrt mich über alles; was könnte dem auch wohl noch erfreulich scheinen zu lernen, der wie ich, hiervon Erfahrung hat. - Ich bin entfernt von Dir, die Meinen sind mir fremd geworden, da muß ich immer in Gedanken auf jene Stunde zurückkehren, wo D u mich in den sanften Schlingen Deiner Arme hieltest, da fang' ich an zu weinen; aber die Tränen trocknen mir unversehens wieder: Er liebt ja herüber in diese verborgne Stille, denke
12
Vgl. beispielsweise die folgenden Passagen: »Ich sitze dann noch am Klavier, und da fallen mir Melodien ein, auf denen ich die Lieder die mir lieb sind, gen Himmel trage. Wie ist Natur so hold und gut [= Vers 3 von Aufdem See·, M.W.]. Im Bett richte ich meine Gedanken dahin wo mir's lieb ist, und so schlafe ich ein.« (vgl. G B m e K , 36) - »In den kleinen Gedichten vom Wolfgang ist die Empfindung aus einem Guß, und was er da ausspricht, das erfüllt reichlich eines jeden Seele mit derselben edlen Stimmung. In allen liegt es, ich will Ihr aber nur dies kleinste zitieren, das ich so oft mit hohem Genuß in den einsamen Wäldern gesungen habe, wenn ich allein von weiten Spazierwegen nach Hause ging. Der Du von dem Himmel bist«, (vgl. G B m e K , 56) — »So könnte ich noch manches seiner Lieder hersetzen die mich über alles erheben, und mir einen Genuß schenken der mich in mir selber reich macht. Das Lied: Die schöne Nacht hab' ich wohl hundertmal dies Jahr auf spätem Heimweg gesungen: Luna bricht durch Busch und Eichen« (vgl. G B m e K , 56).
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ich, und sollte ich mit meinem ewigen ungestörten Sehnen nach ihm nicht in die Ferne reichen? Ach vernimm es doch was Dir mein Herz zu sagen hat, es fließt über von leisen Seufzern, alle flüstern Dir zu: mein einzig Glück auf Erden sei Dein freundlicher Wille zu mir. Ο lieber Freund, gib mir doch ein Zeichen, Du seist meiner gewärtig. (GBmeK, 128f.)
Das im Briefwechsel mit einem Kinde erst im Anschluß gedruckte Gedicht dient so als Beleg einer gegenseitigen Liebe über alle räumliche Distanz hinweg. Scheinbar auf Basis des Briefes entstanden, beweist es dem Leser nicht nur, daß die sehnsüchtigen Wünsche der Schreibenden tatsächlich »in die Ferne reichen« und dort den fernen Dichter zu poetischem Schaffen anzuregen vermögen, sondern bestätigt auch das vermutete Herüber-Lieben Goethes, die liebende Beschäftigung mit der Vertrauten, die ihm die Feder führt und seine Gedanken fesselt. Vor dem Hintergrund der tatsächlichen Entstehungsgeschichte der Sonette und angesichts der Art und Weise, wie sie in den Kontext des Briefwechsels mit einem Kinde eingefügt werden, zeigt sich somit hier wie in den anderen Sonett-Paraphrasen Bettina von Arnims, wie die Selbsteinschätzung der Verfasserin als Muse Goethes das eigentliche poetologische Konzept der Sonette konterkariert, indem sie jede Verallgemeinerung, jede Überhöhung ins Allgemeingültige, Uberpersönliche konsequent verneint und Goethes Zyklus als bloße Schlüsseldichtung für sich reklamiert. Besonders deutlich wird diese »geistige Ferne« (Weißenborn 1987, 167) zwischen dem Original und seiner Behandlung durch Bettina von Arnim im Umgang mit dem Sonett Wachstum, das im Briefwechsel mit einem Kinde als Beilage Goethes zu einem Brief an seine Mutter abgedruckt ist: Als kleines artges Kind, nach Feld und Auen Sprangst du mit mir, so manchen Frühlingsmorgen. »Für solch ein Töchterchen, mit holden Sorgen, Möcht' ich als Vater segnend Häuser bauen!« Und als du anfingst in die Welt zu schauen, War deine Freude häusliches Besorgen. »Solch eine Schwester! und ich war' geborgen: Wie könnt' ich ihr, ach! wie sie mir vertrauen!« Nun kann den schönen Wachstum nichts beschränken; Ich fühl' im Herzen heißes Liebetoben. Umfaß' ich sie, die Schmerzen zu beschwichtgen? Doch ach! nun muß ich dich als Fürstin denken: Du stehst so schrofF vor mir emporgehoben; Ich beuge mich vor deinem Blick, dem flüchtgen. (MA 9, 14)
Nachdem sie dieses Gedicht eingeschaltet hat, läßt Bettina von Arnim ihre Bettine in einem fiktiven Brief antworten: Ist es Dir eine Freude, mich in tiefer Verwirrung, verschämt zu Deinen Füßen zu sehen, so sehe jetzt auf mich herab; so geht's der armen Schäfermaid, der der König die Krone aufsetzt; wenn ihr Herz auch stolz ist, ihn zu lieben, so ist die Krone doch zu schwer; ihr Köpfchen schwankt unter der Last, und noch obendrein ist sie trunken von der Ehre, von den Huldigungen, die der Geliebte ihr schenkt.
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Ach, ich werde mich hüten ferner zu klagen, oder u m schön Wetter zu beten, kann ich doch den blendenden Sonnenstrahl nicht vertragen. Nein, lieber im Dunkel seufzen, still verschwiegen, als von deiner Muse a n s helle Tageslicht geführt, beschämt, bekränzt; das sprengt mir das Herz. Ach, betrachte mich nicht so lange, n i m m mir die Krone ab, verschränke deine Arme u m mich an Deinem Herzen, und lehre mich vergessen über Dir selber, daß D u mich verklärt mir wiederschenkst. (GBmeK, 149f.)
Was der Dichter in Goethes Versen dem »Mädchen« gegenüber äußert (und was, wollte man es biographisch aufschlüsseln, sich wohl eher auf Minna Herzlieb in Jena beziehen dürfte, die Goethe nämlich - anders als Bettina von Arnim — tatsächlich von klein auf kannte), wird durch die Replik in eine direkte Ansprache an Bettine umgedeutet, die wie selbstverständlich die Rolle des Du einnimmt und als solches mit ihrem Brief auf die Worte des lyrischen Ich antwortet. Legitimiert wird das im Vorfeld durch die angeblichen Einlassungen Goethes, die das Gedicht begleiten. Im Briefwechsel mit einem Kinde erscheint dessen Ubersendung am 4. Mai 1808 als Entschuldigung Goethes für seine »kurzen kalten Briefe« (GBmeK, 148), über die Bettine sich zuvor beschwert hatte. In einer fiktiven Passage seines Briefes schreibt er abschließend: Gestern schickte ich meiner M u t t e r ein kleines Blättchen für Dich; nimm's als ein bares Äquivalent für das, was ich anders auszusprechen in mir kein Talent fühle; sehe zu wie D u Dir's aneignen kannst. Leb' wohl, schreib' mir bald, alles was Du willst. (GBmeK, 148)
Die gewünschte »Aneignung« erfolgt umgehend. Indem die so Angesprochene in ihrer Antwort Einspruch erhebt gegen die petrarkistische Schlußwendung des Gedichts, indem sie die Erhöhung zur »Fürstin« demonstrativ zurückweist, die das lyrische Ich (in der Lesart des Briefivechsels·. Goethe) nötig zu haben vorgibt, um sein »heißes Liebetoben« beherrschen zu können, entsteht nicht nur erneut der Eindruck, sie ganz persönlich sei die Vorlage gewesen, auf die das Sonett zielt, sondern durch die Fiktion des brieflichen Dialoges wird das Gedicht - und mit ihm auch die anderen Sonette - als Teil eines brieflich-lyrischen Zwiegesprächs lesbar, bei dessen Zustandekommen die Rezipienten dem liebenden Paar Bettine und Goethe über die Schulter sehen können. Der Sonettenzyklus als solcher erscheint in diesem Zusammenhang von der jungen Muse vorgeprägt, die Rollengedichte des »Mädchens« und der »Liebenden« als gereimte Fassung vorausgegangener Briefe, und die Reden des Dichters an ein geliebtes Du als Liebeserklärungen Goethes an die Bettine des Romans - die für zeitgenössische Leser mit der Autorin Bettina von Arnim identisch gewesen sein dürfte. Sie erleben Goethes Zyklus dadurch als Liebeslyrik im ganz konventionellen Sinne, als biographisches Zeugnis einer konkreten Leidenschaft, die der Dichter zugibt auf andere Weise nur schwer in Worte fassen zu können (»was ich anders auszusprechen in mir kein Talent fühle«). Bewußte Bezüge auf die Gattungstradition wie das Motiv der unerreichbaren Fürstin werden zu Nebensächlichkeiten, das hochgradig Artifizielle des Zyklus, die Virtuosität, mit der Goethe die Konventionen des Sonetts handhabt, geraten in den Hintergrund. Mitnichten hat dies zum Ziel, »den Prozeß
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des Dichtens, den das frühe 19. Jahrhundert bis zur Trivialität verherrlicht hatte, zu entmythisieren« und den Prozeß des Dichtens »zu einer nachvollziehbaren, natürlichen Angelegenheit« zu machen, wie Weißenborn vermutet (Weißenborn 1987, 176). Im Briefwechsel mit einem Kinde werden die Sonette zum Forum der Apotheose Bettines stilisiert. Sie bildet das Zentrum der Gedichte, die allein durch sie und für sie entstanden sind. Was sie ohnehin als poetisches Eigentum begriffen hatte, eignet sich die Verfasserin auf diese Weise auch vor aller Welt an; indem sie Goethes Sonette ihrem Briefwechsel einverleibt, erlangt sie die Deutungshoheit über seinen Text und ergreift Besitz von einer Dichtung, in der sie ihre eigene Person durch Goethes Kunst verherrlicht sieht. Vor ernsthaften Schwierigkeiten steht diese Aneignung nur im Fall des Sonetts Charade, des einzigen Gedichts, dessen auto(r) biographische Bezugnahmen jeden Anspruch Bettina von Arnims auf geistige Teilhabe explizit auszuschließen scheinen, indem sie die Rolle der Angebeteten ganz deutlich einer anderen Frau zuweisen. Im Jenaer Kreis hatte man sich 1807 offenbar die Aufgabe gestellt, jeder der anwesenden Dichter müsse zu Ehren Minna Herzliebs ein Sonett auf den Namen Herzlieb anfertigen. 13 Goethe dichtete daraufhin ein gereimtes Rätsel, als dessen Lösung der genannte Namen zu denken ist: Zwei Worte sind es, kurz, bequem zu sagen, Die wir so oft mit holder Freude nennen, Doch keineswegs die Dinge deutlich kennen, Wovon sie eigentlich den Stempel tragen. Es tut gar wohl in jung und alten Tagen Eins an dem andern kecklich zu verbrennen; Und kann man sie vereint zusammen nennen, So drückt man aus ein seliges Behagen. N u n aber such ich ihnen zu gefallen Und bitte mit sich selbst mich zu beglücken; Ich hoffe still, doch h o f f ' ich's zu erlangen: Als Namen der Geliebten sie zu lallen, In Einem Bild sie beide zu erblicken, In Einem Wesen beide zu umfangen. (MA 9, 21)
Das Gedicht wurde aufgrund der (eigentlich) deutlichen Anspielungen auf die (eigentlich) Gemeinte erst 1827 veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt dürfte es auch Bettina von Arnim kennengelernt haben. Verfolgt man ihren Umgang mit dem Gedicht im Briefwechsel mit einem Kinde genauer, wird deutlich, wie angestrengt sie um eine Interpretation des Versrätsels gerungen haben muß, die sich im Hinblick auf die eigene Person und damit als Bestätigung ihrer Ansprüche auf die Rolle der geliebten Muse Goethes lesen ließ. Jede andere Auslegung hätte ihrem
13
Bei Kemp findet sich eine vergleichende Gegenüberstellung der »Herzlieb«-Sonette Werners (Herz ist was Liebes, was so lieb wir haben), Goethes und Riemers (Herz ist das Allerliebste was wir kennen), vgl. Kemp 2002 II, 92f.
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Selbstentwurf als poetische Inspiration des Dichters die Legitimation entzogen. Auch die Bettine ihres R o m a n s setzt sich lange mit dem G e d i c h t und seiner möglichen Bedeutung für sie auseinander — allerdings vergeblich, wie sie betont: Deine Charade hab' ich schlaftrunken ans Herz gelegt, aber geraten hab' ich sie nicht; wo hätt' ich Besinnung hernehmen sollen? [...] Ach ich möchte wissen, was es ist: [...] ach wie viele Rätsel in einem verborgen, und wie brennt mir der Kopf! - Nein, ich kann es nicht raten; es will nicht gelingen, mich von deinem Herzen loszureißen und zu spekulieren. [...] das irdische Wort, was der Schlüssel zu allem ist, das kann ich nicht finden. (GBmeK, 228) Z u dieser Passage findet sich verständlicherweise kein Originalbrief in der erhaltenen Korrespondenz, da Bettina Brentano das G e d i c h t 1 8 0 7 noch gar nicht kennengelernt hatte. Gänzlich aus der Luft gegriffen ist das Szenario j e d o c h auch nicht, wie wiederum Bettina von Arnims B r i e f an ihren Bruder C l e m e n s vom 4 . Juli 1 8 3 4 zeigt: Goethe hat eine Charade auf mich gemacht anno 9 ich hab sie nie errathen, in der Nacht da ich seinen Tod erfuhr hab ich ihre Auflösung geträumt, ich erwachte und sprang eilig nach den Gedichten um zu sehen ob dass Wort passe, und es hat mich sehr erschüttert wie es wircklich das rechte Wort war; das bis heute noch kein Mensch errathen hat [...]. (Werke und Briefe II, 1029) D a sie sich einmal als geliebtes Gegenüber des Dichters in den Sonetten erkannt zu haben glaubt, m u ß auch dieses letzte Sonett auf sie bezogen werden können, ja von vornherein a u f sie bezogen sein. Bettina von Arnim ist geradezu besessen von der Notwendigkeit, in Goethes Rätselversen »sich und nur sich selbst als die vom Autor geliebte Frau zu suchen und, wenn auch nicht wirklich zu finden, so doch die Sicherheit zu gewinnen, daß nur sie gemeint sein könne« (Schlichtmann 2 0 0 1 , 48f.). U m diese »Sicherheit« auch dem Leser zu vermitteln, stellt sie dem Gedicht »an Bettine« ein fiktives Begleitschreiben Goethes voraus, in dem dieser selbst einen entscheidenden Fingerzeig gibt, wie das Rätsel aufzulösen sei: [D]u bist mir ein liebes, freundliches Kind, das ich nicht verlieren möchte, und durch welches ein großer Teil des ersprießlichsten Segens mir zufließt. Du bist mir ein freundliches Licht, das den Abend meines Lebens behaglich erleuchtet, und da gebe ich Dir, um doch zu Stande zu kommen mit allen Klagen, zum letzten Schluß beikommendes Rätsel; an dem magst Du Dich zufrieden raten. (GBmeK, 218) D i e Hervorhebungen im Druckbild machen die Intention für den Leser überdeutlich, obgleich Bettine vorgibt, das »rechte Wort«, das Lösungswort des Rätsels, nicht erraten zu können. Es laute »Abendlicht«, suggeriert der G o e t h e des Romans, und so abwegig diese Auslegung heute auch auf den ersten Blick erscheinen mag (insbesondere im Wissen um die Jenaer Herzlieb-Episode), versinnbildlicht sie doch trefHich die Bedeutung für Goethes Leben und Werk, die Bettina von A r n i m sich nur zu gern beimessen wollte: die junge Geliebte, die dem D i c h t e r an seinem Lebensabend n o c h einmal zu »neuem Leben« verholfen hatte. Sie selbst vermittelt ihrem Publikum durch die K o m b i n a t i o n aus Goethes Fingerzeig und Bettines
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Ratlosigkeit das Gefühl, mehr zu wissen als die im Sonett Gemeinte. Mit der obigen Passage scheint Goethe seiner Korrespondentin abermals ihren exklusiven Rang zu bestätigen, er gebraucht die Schlüsselwörter, hebt sie sogar hervor und schließt sein Gedicht an. Solchermaßen vorbereitet, muß der Leser folgerichtig die kaum verhüllt vorweggenommene >Lösung< aus den Versen herauslesen, und so verhilft der Wunsch sich abermals selbst ins Leben, wird der Traum auch hier mittels Poesie Wirklichkeit. Zwar läßt sich Charade mit Hölscher-Lohmeyer tatsächlich als »Rückverwandlung von Worten in Leben« bezeichnen (MA 9, 1085), zeigt sich doch kein anderes der 17 Sonette so deutlich an den Namen einer bestimmten Person gebunden und damit sichtlich biographisch begründet. Gerade seine diesbezügliche Sonderstellung im Zyklus wird in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde jedoch zum Verschwinden gebracht, noch nicht einmal, indem den Lesern eine falsche Bezugsperson angeboten wird, sondern vor allem, indem nun sämtliche Sonette als bloßes Echo biographischer Zusammenhänge erscheinen. Hatte Goethe mit seinem Sonettenzyklus eine Vielzahl verschiedenster Anregungen (die Zuneigung zu Minna Herzlieb, den poetischen Wettstreit, die vertiefte Beschäftigung mit der Gattung des Sonetts, die Briefe der jungen Bettina Brentano u.v.m.)14 in die Überzeitlichkeit des Kunstwerks übergeführt, werden die Gedichte in der Anordnung Bettina von Arnims wieder zu einem Dokument erlebter Wirklichkeit, wobei die Subjektivität solchen Erlebens dem Leser allerdings verschlossen bleibt. »Der Sinn des Textes«, der sich bei Goethe, wie Borgstedt in seiner Analyse von Mächtiges Überraschen schreibt, nicht in einem Zentrum orten [läßt], in einem »hervorbrechenden Lebensmoment« (Schleiermacher) oder einer gespiegelten Idee, sondern [...] als ein Netz von einzelnen Sinnelementen [erscheint], die kunstvoll in ein scheinbar geschlossenes Bild gewoben sind (Borgstedt 1992, 205),
wird durch Bettina von Arnim seiner Vieldeutigkeit beraubt und jede Auslegungsambivalenz zugunsten eines einzigen Interpretationsansatzes negiert, den sie Bettine im Zusammenhang mit Charade noch einmal ausdrücklich auf den Punkt bringen läßt. Unbeschadet ihrer vorgeblichen Ahnungslosigkeit bezüglich der Lösung des gereimten Rätsels, faßt sie zusammen, wie die Sendung Goethes zu verstehen ist:
14
Kemp etwa weist auf auffällige Parallelen zwischen Goethes Sonett Mächtiges Überraschen u n d einer Passage aus A. W. Schlegels Sonett-Vorlesung von 1803/04 hin, die vor dem Hintergrund weitgehender Übereinstimmung in der Strom-Metaphorik das Gedicht als »einzige große Metapher für das, was poetische Form konstituiert und wie sie sich manifestiert« lesbar machen und eine mögliche Mit-Anregung durch Bettina Brentanos Brief allenfalls noch als Marginalität oder zufällige Entsprechung erscheinen ließen (vgl. Kemp 2002 II, 87).
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Aber deinen Zweck hast Du erlangt, daß ich mich zufrieden raten solle, ich errate daraus meine Rechte, meine Anerkenntnis, meinen Lohn und die Bekräftigung unsers Bundes, und werde jeden Tag deine Liebe neu erraten, verbrenne mich immer, wenn Du mich zugleich umfangen und spiegeln willst in deinem Geist, und vereint mit mir, gern genennt sein willst. (GBmeK, 229)
Die Sonette erscheinen so als »ein Kreis liebender Worte! man auch nicht Liebkosungen, man genießt sie und weiß, der Liebe sind« (GBmeK, 228). Die Selbstverständlichkeit, diese »Blüten« pflückt, täuscht die Leser über den Verdacht möglicherweise in fremden Gärten.
2.4
- so unterscheidet daß sie die Blüten mit der Bettine all hinweg, sie wildere
Nachträgliche Teilhabe. Bettina von Arnims Aneignung der Goetheschen Sonette
Spiegel Bettines, Geschenk der Liebe, Lohn und Lob der Muse: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde macht aus dem Sonettenzyklus die Poesie gewordene Feier der Briefpartnerin. Indem Goethe dabei jedoch in so hohem Maße wörtlich auf deren Vorlagen zurückzugreifen scheint, geht ihm an künstlerischer Dignität verloren, was die Muse Bettine gewinnt. Er bittet das Kind förmlich um weitere Anregungen (»Adieu mein artig Kind! schreibe bald, daß ich wieder was zu übersetzen habe«) und erweckt nicht gerade den Eindruck, wirklich wortmächtig aus dem eigenen Innern schöpfen zu können (»nimm's als ein bares Äquivalent für das, was ich anders auszusprechen in mir kein Talent fühle«). Vielmehr bleibt er abhängig von den poetischen Vorgaben Bettines, die er größtenteils wörtlich in seine Gedichte übernimmt. 15 Die liebe- und anbetungsvollen Briefe, die ihm im Verlauf der Korrespondenz zugehen, stehen somit seiner Kunstfertigkeit und Formbeherrschung als spontane Artikulation der Liebe gegenüber, als authentische Poesie des Gefühls, auf die Goethe nicht anders zu reagieren weiß, als sie im Regelkorsett des Sonetts zum zeitlosen Kunst-Werk zu bannen, die »Geliebte als Fürstin« zu denken und sich so vom unmittelbar emotionalen Erlebnis in der dichterischen Bearbeitung zu distanzieren. Wenn dieses künstlerische Vorgehen nun im Briefwechsel zugleich vorgeführt, kritisiert und vereitelt wird, so mag das zwar nicht die Hauptintention sein, aus der heraus Bettina von Arnim ihr Buch geschrieben hat, aber doch ein Nebeneffekt, den sie durchaus einkalkulierte. Im Vordergrund steht für sie jedoch nicht die Charakterisierung Goethes als Künstler oder als Mensch, sondern die Auseinandersetzung mit sich selbst — in der Gestaltung eines poetischen Mit- und Gegeneinanders zwischen Bettine und Goethe.
15
In seiner wirkungsmächtigen Rezension des Briefwechsels befindet Ludwig Börne: »Die Prosa ihrer Briefe putzte er [gemeint ist Goethe; M.W.) in Poesie« (Börne: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, 862).
271
Ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der weiblichen Protagonistin wurde bereits angesprochen, es ist der von der bewundernden Leserin und vom bloßen Objekt des Dichters Goethe (etwa in der Identifikation mit Mignon) hin zur inspirierenden Freundin. Hier endet der poetische Werdegang Bettines in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde aber nicht, denn auch die Rolle der Muse, wie Bettina von Arnim sie im Zusammenhang mit Goethes Sonetten inszeniert, ist nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zu jenem Selbstentwurf als eigenständige Dichterin, mit dem die Autorin 1835 an die Öffentlichkeit tritt. Dies deutet sich bereits in der Art und Weise an, in der Bettine als Muse des Dichters präsentiert wird. Sie erscheint nicht als passives Objekt dichterischer Begeisterung, sondern prägt das Schaffen des ihr ergebenen Dichters aktiv mit, denn es sind ihre Vorlagen, die er in seinem Werk verarbeitet. Goethe verdankt dieser Muse mehr als nur die emotionale Disposition zur Poesie, ohne sie fehlte ihm sogar die Grundlage aller Dichtung: die Worte. Seine »Oreas« stürzt ihm mithin nicht nur in einer leidenschaftlichen Begegnung Steine vor, um ihn zu erneuertem Schaffen aufzuwühlen, sondern sie legt ihm auch erst die dazu nötigen Worte in den Mund. Und letzteres gilt neben dem innertextlichen Verhältnis zwischen den Protagonisten Bettine und Goethe in gleichem Maße auch für das zwischen der Autorin Bettina von Arnim und dem Goethe ihres Romans: Die Selbststilisierung zur Muse des Dichters wird erst möglich durch den gezielten Eingriff in das vorliegende Material, durch Auswahl, Verzicht auf einzelne Passagen, geschickte Anordnung der verbleibenden und - nicht zuletzt - durch die Schaffung neuer Textelemente, mithin durch Dichten und Umdichten. Bettina von Arnim dichtet Goethe, und sie dichtet Bettine als dessen Muse. Von den zeitgenössischen Lesern weitgehend unbemerkt, hat sie bereits im »Briefwechsel mit Goethe« die ohnehin ungewöhnlich kreativ ausgestaltete Rolle der inspirierenden Gefährtin hinter sich gelassen und »sich Goethe im wahrsten Sinne des Wortes posthum angeeignet« (Bäumer 1986, 215). Wie sich das »neue Leben« Goethes als Dichter der Sonette im Roman von Bettine herschreibt, so entspringt deren postulierte »Wiedergeburt« in seinem Werk zum größten Teil der Feder Bettina von Arnims. Das unterscheidet beide - die Autorin ebenso wie das von ihr imaginierte Selbst »Bettine« - von der Laura Petrarcas, die zwar besungen wird, aber selbst nicht als Dichterin in Erscheinung tritt. Der Verweis auf das Diskursmuster, dem der »Briefwechsel mit Goethe« durch das Mottogedicht Epoche zugeordnet wird, führt in die Irre. Denn Bettina von Arnim stilisiert sich als Bettine zwar zu Goethes Muse, wodurch allein schon im Zusammenhang mit Sonetten der Bezug auf Petrarca unübersehbar wäre. Anders als seinerzeit Laura ist Bettine jedoch selbst aktiv am Zustandekommen der Gedichte beteiligt, indem die Poesie ihrer Briefe Goethe die Vorlagen liefert, mit deren Hilfe er seine Sonette generiert. Somit hat in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde eine Neubewertung der Rollen stattgefunden, die sich ansatzweise schon in den Originalbriefen nachweisen läßt, von
272
Bettina von Arnim bei der Überarbeitung der Dokumente aber in Umkehrung des gegebenen Diskursmusters explizit herausgearbeitet wurde: Sie hat die Rolle des unerreichbaren Liebesobjekts mit der Kunstfigur Goethe besetzt, die partiell, vor allem im Hinblick auf seine Werke, mit d e m realen Goethe identisch ist (Liebertz-Grün 1989, 7).
Indem die Autorin einleitend just jenes Gedicht zitiert, das den Sonettenzyklus seinerzeit in einen poetischen Dialog mit Petrarca brachte, führt sie ihr 1807 eröffnetes Gespräch mit Goethe im Rahmen des petrarkistischen Diskurses unter veränderten Bedingungen fort. Der entscheidende Unterschied zu den bestehenden Mustern ist der, daß sie ihre Bettine als Quelle der Inspiration nicht zum stummen Objekt dichterischer Leidenschaft stilisiert, sondern Wert darauf legt, diesen Objektstatus bei der Ausgestaltung ihrer Rolle ins poetisch selbst Tätige umzudeuten. Auf diese Weise wird auch Bettine zum Subjekt der Dichtung (was Bettina von Arnim als Verfasserin zu diesem Zeitpunkt längst ist). Es ist daher nur folgerichtig, wenn sie in der Folge den einmal definierten Part auch an anderen Gedichten Goethes zu belegen sucht. Ihr Rollenentwurf als kongeniale Muse Goethes ist zu umfassend, als daß er auf einen Zyklus von 17 Gedichten beschränkt bleiben könnte. Die Praxis, Lyrik Goethe scheinbar brieflich vorwegzunehmen, wendet sie daher noch auf eine zweite Gruppe seiner Liebesgedichte an: die Lieder des West-östlichen Divans.
273
3. Autorschaft als Partnerschaft.1 Goethes Divan im Briefwechsel mit einem Kinde
Die vielfältigen direkten und indirekten Bezugnahmen auf den West-östlichen Divan übertreffen zahlenmäßig sogar noch jene, die im Briefwechsel mit einem Kinde auf Goethes Sonettenzyklus verweisen. So ist etwa bereits der Widmung an Fürst Pückler ein Ghasel aus dem Buch der Betrachtungen vorangestellt, das Tagebuch ist wie das dritte Buch des Divan mit Buch der Liebe überschrieben, und einige Z)zVörc-Gedichte werden nach dem bekannten Prinzip auf eine Weise in Briefprosa übersetzt, die den Leser glauben macht, sie seien erst auf Basis der Schreiben entstanden. Hinzu kommt eine Vielzahl mehr oder weniger direkter Anspielungen. In tausend Formen magst du dich verstecken (ΜΑ 11.1.2, 93f.) etwa klingt an, wenn Bettine ihren Briefpartner mit »Du allbegehrlichster!« anredet (GBmeK, 132),2 oder wenn sie ausführt, wahre Liebe »sucht den Geliebten, den Genius, wie den Proteus unter jeglicher Verwandlung«. 3 Wenn Bettine sich erinnert: »Da fielen meine Haarflechten nieder, Du nahmst sie und nanntest sie braune Schlangen« (GBmeK, 547), ist der Verweis auf Locken! haltet mich gefangen (MA 11.1.2, 79f.) unüberhörbar, 4 und wenn Goethe im Gespräch mit Bettine auf deren Frage >»Was sagen deine Blicke?Du gefällst mir wie keine andre mir gefällt«< (GBmeK, 563), so läßt sich dieser Dialog durchaus als verkürzte Prosafassung des DzW^-Gedichts Kenne wohl der Männer Blicke (ΜΑ 11.1.2, 70f.) lesen.5 Am auffälligsten hingegen ist die bereits im Zusammenhang mit den Sonetten aufgezeigte Praxis Bettina von Arnims, Gedichte Goethes als nachträgliche Poetisierung der Briefe Bettines erscheinen zu lassen, wozu sie im Falle des Divan jedoch
' Vgl. Drewitz 1999, 187. In Goethes Gedicht wird die Geliebte als »Allerliebste«, »Allgegenwärtige«, »Allschöngewachsne«, als »Allschmeichelhafte«, »Allspielende«, »Allmannigfaltige«, und »Allbuntbesternte« sowie als »Allumklammernde«, »Allerheiternde«, »Allherzerweiternde« und »Allbelehrende« angesprochen. 3 Schmitz/von SteinsdorfF vermuten in ihrem Kommentar zum Briefwechsel hier eine Anspielung auf Goethes Gedicht Liebhaber in alten Gestalten (Werke und Briefe II, 1097). Ein Bezug auf das Lied aus dem Buch Suleika dürfte jedoch thematisch näher liegen als ein Verweis auf das humoristische Gedicht vom Anfang der 1780er Jahre (vgl. MA 2.1, 52). 4 Vgl. die erste Strophe: »Locken! haltet mich gefangen / In dem Kreise des Gesichts! / Euch geliebten braunen Schlangen / Zu erwiedern [sie] hab' ich nichts.« 5 Vgl. die Verse 7-10 (»Aber Hatem! deine Blicke / Geben erst dem Tage Glanz. / Denn sie sagen: Die gefällt mir, / Wie mir sonst nichts mag gefallen.«) und 23-27 (»Lächeltest und sahst herüber / Wie du nie der Welt gelächlet. / Und Suleika fühlt des Blickes / Ewge Rede: Die gefällt mir / Wie mir sonst nichts mag gefallen.«). 2
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die Originalbriefe in keiner Weise berechtigten, gar nicht berechtigen konnten, da Goethes Gedichtsammlung bekanntermaßen erst Ende 1819 erschienen war und Bettina von Arnim nicht das geringste mit ihrer Entstehung zu tun gehabt hatte. Im Briefwechsel mit einem Kinde tauchen die west-östlichen Lieder dennoch auf, beispielsweise Als ich auf dem Euphrat schiffte, der Traum Suleikas, den Bettina von Arnim paraphrasiert in ihren Brief vom 20. Juni 1808 einarbeitet und Bettine dann im Briefwechsel unter dem Datum des 18. Juli 1808 berichten läßt: [D]ann träumte ich, daß ich längs den schilfigen Ufern des Rheins schiffe, u n d da w o es am tiefsten war, zwischen schwarzen Felsspalten, da entfiel mir dein Ring; ich sah ihn sinken, tiefer und tiefer, bis auf den Grund! Ich wollte nach Hülfe rufen, - da erwachte ich im Morgenrot, neubeglückt, daß der Ring noch am Finger war. Ach Prophet! - deute mir diesen Traum; [...]. (GBmeK, 168f.)
In der hierauf eingefügten Anmerkung bleibt es nun aber nicht allein beim Abdruck der entsprechenden acht Verse Suleikas, sondern die Verfasserin führt auch die zugehörige Antwort Hatems an, die Auslegung des Traumes {Dies zu deuten bin erbötig!)·. Als ich auf dem Euphrat schiffte, Streifte sich der goldne Ring Fingerab in Wasserklüfte, Den ich jüngst von Dir empfing. Also träumt' ich. Morgenröte Blitzt' ins Auge durch den Baum, Sag' Poete, sag' Prophete! 6 Was bedeutet dieser Traum? Dies zu deuten bin erbötig! Hab' ich Dir nicht oft erzählt, Wie der Doge von Venedig Mit dem Meere sich vermählt? So von deinen Fingergliedern Fiel der Ring dem Euphrat zu. Ach zu tausend Himmelsliedern, Süßer Traum, begeisterst du! Mich, der von den Indostanen Streifte bis Damascus hin, U m mit neuen Caravanen Bis ans rote Meer zu ziehn, Mich vermählst D u deinem Flusse, Der Terrasse, diesem Hain, Hier soll bis zum letzten Kusse Dir mein Geist gewidmet sein. (GBmeK, 169)
6
Vorbereitend finden sich diese Anreden bereits in Bettines Briefen an Goethe vom 19. Juni 1807 (»So bist D u Poete ein vom Sternenreigen seiner Eingebungen umtanzter Mond;« vgl. GBmeK, 97) und vom 13. August 1807 (»Ja, D u hast recht, Prophet;« vgl. GBmeK, 109). Die erste Textstelle ist Teil eines gänzlich fiktiven Briefes, diezweite wurde der Umarbeitung des Briefes vom 21. Dezember 1807 nachträglich beigefügt.
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Um einfach nur den Bezug auf Suleikas Traum zu belegen (der nicht von der Hand zu weisen, weil absichtsvoll nachträglich konstruiert ist), hätte es ausgereicht, Als ich auf dem Euphrat schiffte zu zitieren. Daß das Antwortgedicht Dies zu deuten bin erbötig! nahtlos angeschlossen wird, legt den Lesern nahe, diesen Wechselgesang zwischen Suleika und Hatem als Dialog zwischen Bettine und Goethe aufzufassen - und in der Folge nicht nur diesen einen, sondern das poetische Gespräch des »Buches Suleika« als solches. Es entsteht der Eindruck, Goethe habe nicht allein die Traumerzählung Bettines in Verse gefaßt, sondern ihr sodann auch in gereimter Form geantwortet, als habe er die Schilderung der Freundin aus eigenem Antrieb zum liebevollen Dialog gewandelt. Die Rollen Suleika und Hatem werden so als poetische Verbrämungen Bettines und Goethes aufgeschlüsselt und die Traumdeutung in eine Liebeserklärung Goethes an Bettine umgedeutet. In der Tat hatte Goethe Bettina Brentano einen Ring geschenkt, als sie ihn in Weimar besuchte.7 Das dürfte es ihr später erleichtert haben, den Bericht einer weiblichen Stimme über den (geträumten) Verlust eines »jüngst« aus der Hand des Geliebten empfangenen Ringes als Rollenangebot anzunehmen. Vor allem jedoch entspricht Suleika wohl wie kaum eine andere literarische Gestalt Goethes in solchem Maße dem Wunschbild Bettina von Arnims von sich selbst, wie sie es ja auch im Umgang mit Goethes Sonetten entwickelt: Die gleichberechtigte Partnerin in Poesie und Liebe, vor aller Welt verherrlicht durch gemeinsames Dichten und das öffentliche Bekenntnis Goethes zu ihr als Muse und Geliebte, die ihn durch ihre poetischen Briefe zu »tausend Himmelsliedern begeistert«. Mit ihrem Briefwechsel versucht sie, diesen Selbstentwurf zu einem generellen Image auszuweiten, indem sie sich der Öffentlichkeit als lebensweltlicher Bezugspunkt der Werke Goethes präsentiert. Das Gedicht Wie! Mit innigstem Behagen (MA 11.1.2, 92) beispielsweise erhält Bettine als Beilage zu Goethes Brief vom 7. Juli 1809 (GBmeK, 284f.). Daß es erst 1815 entstanden ist,8 konnte Bettina von Arnim so genau vermutlich nicht wissen - daß Goethe ihr in Wirklichkeit das Gedicht seinerzeit gar nicht geschickt hatte, hingegen schon. Und so baut sie möglichen verwunderten Fragen bezüglich der späten Veröffentlichung solcher angeblich bereits 1809 entstande-
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Vgl. ihren Brief vom 13. Juli 1807 an Achim von Arnim: »[I]ch trag einen Ring von ihm am Mittelfinger der rechten Hand, es ist eine kleine Figur in einen blauen Stein geschnitten die ihre Haare löst, oder bindet.« (Werke und Briefe IV, 49) Sie schenkt diesen Ring später Hermann von Pückler-Muskau, vgl. den Brief an ihn von Anfang April 1832: »Pückler willst Du den Ring tragen den er mir an den Finger steckte, wie wir zum erstenmal uns sahen?« (Vgl.: »Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt«. Briefwechsel 1832—1844 zwischen Bettine von Arnim und Hermann von Pückler-Muskau. Hg. u. erl. von Enid u. Bernhard Gajek. Stuttgart 2001. S. 112.) sowie das Schreiben Pücklers vom 1. Juni 1832: »Den Ring betreffend, den ich sehr hoch schätze, muß ich doch mir fast Vorwürfe machen Dir ein so kostbares Andenken Göthes zu entziehen« (»Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt«, 159). Die Druckvorlage Goethes für den Erstdruck datiert Wie! Mit innigstem Behagen auf den 23. Dezember 1815 (vgl. MA 11.1.2, 650).
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nen Lieder vor, indem sie Goethe in dem fiktiven Brief, der das Gedicht begleitet, schreiben läßt: [D]a D u so entschieden die Divinität des schöpferischen Dichtervermögens erhebst, so glaube ich nicht unpassend beifolgendes kleine Gedicht vorläufig fur Dich herausgehoben zu haben aus einer Reihe, die sich in guten Stunden allmählig vermehrt, wenn sie Dir später einmal zu Gesicht k o m m e n werden, so erkenne daran, daß, während D u glaubst, mein Gedächtnis für so schöne Vergangenheit wieder anfrischen zu müssen, ich unterdessen der süßesten Erinnerung in solchen unzulänglichen Reimen ein Denkmal zu errichten strebe, dessen eigendste Bestimmung es ist, den Wiederhall so zarter Neigung in allen Herzen zu erwecken. (GBmeK, 284)
Somit ist nicht nur ein zwar unbestimmter (und unzutreffender), aber durchaus denkbarer Entstehungszeitraum für den Divan eröffnet, in dessen Verlauf sich die neue »Reihe« sodann »in guten Stunden« Gedicht um Gedicht vermehren läßt. Durch die Veröffentlichung einer vorgeblich so privaten Widmung wird Wie!Mit innigstem Behagen zudem (wie vorher schon die Sonette Wachstum und Charade - s. S. 266 u. S. 268) Bettine vor aller Welt als Geschenk zugeeignet und zum »Denkmal« der »süßesten Erinnerung« an sie stilisiert, einem Denkmal, von dem man annehmen soll, daß sich nicht nur seine Entstehung sondern auch seine Veröffentlichung dieser »Suleika« verdankt. Denn Bettine weist die erhaltene Gabe mit demonstrativer Bescheidenheit zurück: Das Gedicht gehört der Welt, nicht mein, denn wollt ich es mein nennen, es würde mein Herz verzehren. (GBmeK, 285)
Indem sie Goethes »unzulängliche Reime« (erneut legt Bettina von Arnim ihrem Goethe eine captatio benevolentiae in den Mund) in dieser Form und an diesem Ort der »Welt« gönnt und widmet, eignet sie sie sich vor den Augen eben dieser Welt nur desto gewisser an, wie etwas später auch das berühmte Wiederfinden Hatems mit seiner Suleika (MA 11.1.2, 88f.), dessen interpolierte Prosafassung unter dem Datum des 31. März 1810S sie (ausnahmsweise, muß man sagen) zwar nicht ausdrücklich durch ein Zitat, aber doch durch die fast beiläufige Anmerkung Buch Suleika unmißverständlich zu Goethes Gedicht in Bezug setzt: [J]a nach so vielem was ich erlebt und Dir treulich mitgeteilt habe, wie kann es anders sein da m u ß das Wiedersehen eine neue Welt in mir erschaffen. Wenn alle freudigen Hoffnungen in die Wirklichkeiten ausbrechen, wenn die Gegenwart die Finsternis der Ferne durch ihr Licht verscheucht, ach und mit einem Worte wenn Gefühl u n d Blick Dich erfaßt und hält. D a weiß ich wohl daß mein Glück zu ungemeßnem Leben sich steigert, ach und es reißt mich mit Windesflügeln zu diesen höchsten Augenblicken, wenn auch bald die süßesten Genüsse scheidend fliehen, einmal m u ß doch wiederkehren zu festem Bund was sich begehrt. (GBmeK, 334)
Schon in der Korrespondenz mit Hermann von Pückler-Muskau, wo Bettina von Arnim sich wie zur Probe ihres späteren Briefwechsels emphatisch in die Rol-
5
Tatsächlich entstanden ist auch dieses Gedicht erst 1815, Goethes Reinschrift datiert es auf den 24. September (vgl. Μ Α 11.1.2, 641).
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le der geliebten Muse Goethes hineinschreibt (was ihren Briefpartner mitunter irritiert)10, findet sich eine ähnliche Passage. Auch dort liefern Wortwahl und Szenario des Wiederfinden-Ge&ic\its das Grundmuster der Ausführungen: [E]s ergreift sich was sich angehört, mag es einander habhaft werden auf die fabelhafteste Weise und es wird auseinander fallen was sich nicht angehört mag es auch mit Ketten aneinander geschmiedet, mit Vorurtheilen umschlossen mit Tugend vertheidigt seyn. alles ist nichts was nicht inmitten ungemeßner Räume sich durch die Gewalt der Sehnsucht zusammen findet, wer der Liebe entrathen könnte, der soll nicht glauben daß die gewaltige Beschwörungsformel: »es Werde ihn nicht ein mal an den M u n d reißen würde dessen Flammenhauch die Siegel der verschloßnen Wollust zu schmelzen vermag und wenn auch Berge zwischen ihnen lägen und Ströme zwischen ihnen flössen, wenn Zeit und Raum sich zwischen sie drängte. (»Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt«, 60)
Die erneute Liebesbegegnung zwischen Hatem und Suleika, die kosmische Gesetzmäßigkeit des »Wiederfindens« bietet sich der Verfasserin als Folie für die Gestaltung ihrer Wunsch- und Idealbeziehung zu Goethe geradezu an. Ihrem Selbstentwurf als gleichberechtigter Partnerin läßt sich mit Goethes Gedicht ein Schöpfungsmythos aus dem Zusammenwirken zweier Liebender unterlegen, vor dessen Bildkraft Altersunterschied, räumliche Distanz und die demonstrative Zurückhaltung Goethes schwinden: Allah braucht nicht mehr zu schaffen, Wir erschaffen seine Welt. (ΜΑ 11.1.2, 89)
Auf die göttliche, schöpferische Kraft einer solchen Verbindung, wie sie die Verse 39 und 40 von Goethes Kosmogonie formulieren, verweist in der Folge sowohl die fingierte Voraussage Bettines, ein Wiedersehen mit Goethe werde »eine neue Welt in mir erschaffen«, als auch der Bezug auf »die gewaltige Beschwörungsformel« Es werde im Brief Bettina von Arnims an Pückler. Indem Bettine nun im Briefivechsel mit einem Kinde durch die anachronistische Paraphrasierung des Gedichts zu dessen Mit-Schöpferin wird, erscheint als lebendiges Vorbild der Goetheschen Welterschaffungslehre, was erst inspiriert durch sie verfaßt wurde. Wo Goethe die Lebenswirklichkeit mittels Dichtkunst überhöhte, stellt sich die Dichtkunst Bettina von Arnims als authentisches Lebenszeugnis dar. In ihren Paraphrasen macht sie Goethes Worte zu ihren eigenen, um so diese eigenen Worte in Goethes Gedichten wiederauferstehen sehen zu können. Nachträglich stilisiert sie sich
10
Vgl. Pücklers Brief vom 25. Dezember 1833: »[I]ch k o m m e mir immer, selbst wieder [sie] meinen Willen, nur wie Dein Spielwerk vor, zu einem Zweck der weder Dir noch mir ganz klar ist.« - (»Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt«, 258) Anfang Mai 1832 verkündet Bettina von Arnim freimütig: »Pückler ich spreche oft mit ihm wenn ich mit Dir spreche; — Was Dir nicht recht ist; was an Deinem Herzen abgleitet das schreibe nur Ihm zu; das nehme Dir nicht an, sondern höre ihm zu wie ein dritter, oder besser: dencke Dich in Ihm« (»Die Leidenschaft ist der Schlüssel zur Welt«, 137).
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d a m i t als Bettine z u m »süße[n], liebe [n] W i d e r p a r t « Goethes 1 1 u n d schreibt sich die Rolle der »Suleika« auf d e n Leib. F ü r die N a c h w e l t , die sich i m W i s s e n u m die tatsächlichen E n t s t e h u n g s b e d i n g u n g e n des West-östlichen
Divan
n i c h t m e h r betrogen f ü h l e n m u ß , w i r k t dieses
Vorgehen insbesondere bei d e r poetischen A n e i g n u n g des O s t w i n d - L i e d e s Was bedeutet die Bewegung.? ( M A 11.1.2, 85f.) erheiternd, m i t d e r Bettina v o n A r n i m sich zuschreibt, was nicht G o e t h e , s o n d e r n M a r i a n n e v o n W i l l e m e r gedichtet h a t te. Sich in der Pose der k o n g e n i a l e n M u s e aneignen zu wollen, was bereits G o e t h e sich n u r angeeignet hatte, in W i r k l i c h k e i t aber von einer tatsächlich k o n g e n i a l e n M u s e verfaßt w o r d e n war, e n t b e h r t wahrlich nicht einer gewissen Ironie. 1 2 In e i n e m u n d a t i e r t e n Brief Bettines an G o e t h e h e i ß t es: Jetzt am hohen Mittag, sitz ich allein im Garten, und möchte nur fühlen — nicht denken - was Du mir bist; da kommt so leise der Wind, als kam er von Dir; er legt sich so frisch ans Herz, — er spielt mit dem Staub zu meinen Füßen und jagt unter die tanzenden Mückchen, er streift mir die heißen Wangen, hält schmeichelnd den Brand der Sonne auf; am unbeschnittnen Rebengeländer hebt er die Ranken, und flüstert in den Blättern, dann streift er eilend über die Felder über die neigenden Blumen. Brachte er Botschaft? hab ich ihn recht verstanden? — Ist's gewiß? er soll mich tausendmal grüßen vom Freund, der gar nicht weit von hier meiner harrt um mich tausendmal willkommen zu heißen? — Ach könnt ich noch einmal ihn fragen! — er ist fort; — laß ihn ziehen, zu andern die auch sich sehnen, ich wende mich zu ihm der allein mein Herz ergreift mein Leben erneut mit seinem Geist, mit dem Hauch seiner Worte (GbmeK, 364) Vorbereitet w u r d e das Bild des W i n d e s als geflügeltem B o t e n bereits i m ersten Teil des Briefwechsels,
als Bettine in e i n e m d e r fiktiven Briefe v o n C a u b aus schrieb:
Vorgestern auf dem Rochus, in tiefer weitem herankommen; — er nahm zu zu meinen Füßen senkte er die Flügel daß er mich anhauchte, mußte ich da grüßen? (GBmeK, 173)
Nacht allein, da hörte ich den Wind ganz von in rascher Eile, je näher er kam, und dann, grade sanft, ohne nur den Mantel zu berühren, kaum nicht glauben, er sei bloß gesendet, um mich zu
U n d auch im d r i t t e n Teil, d e m Tagebuch, t a u c h t das M o t i v wieder auf:
11
Vgl. Wiedetfnden, V. 5f: »Ja du bist es! meiner Freuden / Süßer, lieber Widerpart« (MA
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Marianne von Willemer selbst fand dergleichen freilich alles andere als lustig. Die heutige distanziert-wissenschaftliche Einschätzung, der Briefwechsel mit einem Kinde sei »als die poetische und damit legitim freie Gestaltung eines von vornherein subjektiven Goethe-Bildes zu verstehen« (Herzog 1988, 729), teilte sie ganz und gar nicht. Als einzige noch lebende Person, die um die faktische Unrechtmäßigkeit der poetischen Aneignung in Bettina von Arnims >Goethebuch< tatsächlich aus erster Hand wissen konnte, schrieb sie am 27. Mai 1852 in einem Brief an Herman Grimm: »Es ist ganz eigen, daß durch die ganze Brentanoische Familie dieser Grundzug oder dieser Windzug durchweht, und daß alle produktiven Glieder der Familie diesen Krankheitsstoff mit in ihre geistreichsten Gebilde einschmugglen, wie die Bettine, die sich nicht entblödet, mehrere von Göthes Gedichten im Divan für ihre Gedanken auszugeben, und deren Ich immer vor ihre Werke gespannt ist, damit man den Postillion gehörig blasen hört« (BW W / G , 112f.).
11.1.2, 88).
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Der W i n d rasselt am Fenster; welche Länder hat er schon durchstreift? Wo k o m m t er her? Wie schnell hat er die Strecke von Dir zu mir durchflogen? hat er keinen Atemzug, in seinem Rasen und Toben, keinen Hauch von Dir mit fortgerissen? (GBmeK, 440)
Schon bei Marianne Willemer bildeten »Athem« und »Liebeshauch« des Freundes die zentralen Metaphern, und Bettina von Arnim nimmt das vorgefundene Bild, das sie für Goethes Erfindung hält und als Poetisierung ihres Verhältnisses zu ihm versteht bzw. verstanden sehen möchte, wiederholt auf: Ihm entspricht der allen drei zitierten Passagen gemeinsame »Hauch«, jener »Hauch seiner Worte«, von dem Bettine im Tagebuch sagt: Dein Hauch, dem der Gott Unsterblichkeit einblies, hat ja mir den Atem der Begeistrung eingeblasen. (GBmeK, 544)
Was Bettina von Arnim im nachhinein schafft und dann als Vorbild gestaltet, ist die persönliche Aneignung einer poetischen Konstellation, unter deren Eindruck Goethe dem Buch Suleika seines West-östlichen Divan die Gestalt eines lyrischen Dialoges zweier sich wechselseitig inspirierenden Liebenden gegeben hatte. Hebt die Partnerin die begeisternde Kraft des »Athems«/»Hauches« ihres Freundes auch stets hervor — was ihn nicht nur als Metapher fur seine Lieder und Gedichte als Sänger und Dichter in den Blickpunkt rückt, sondern durch den impliziten Bezug auf Stimme und Kuß auch als Mensch und Geliebten —, so gilt aber doch gleichzeitig auch umgekehrt, was Hatem seiner Suleika bescheinigt: »Hast mir dieß Buch geweckt, du hast's gegeben« (MA 11.1.2, 84). Diese von beiden Partnern bekundete Gegenseitigkeit im Lieben und Dichten betont auch der Briefwechsel mit einem Kinde, zum einen durch die emphatische Briefpoesie Bettines, die sich immer wieder an der Person Goethes entzündet, zum anderen durch Goethes Liebesgedichte, die — so der erzeugte Eindruck — im Zusammenspiel mit Bettine entstehen und sie als Muse in gleichem Maße verherrlichen, wie sie dies in ihren Briefen mit Goethe tut. Man muß Bäumer daher zustimmen, wenn sie schreibt, es greife »zu kurz, in Bettina von Arnims so deutlich zutage tretendem epigonalen Zug lediglich den Ausdruck einer >liebenden< Verehrungshaltung gegenüber Goethe zu sehen« (Bäumer 1986, 219). Die »Verehrungshaltung« ist in der Tat nur ein Teilaspekt eines umfassenden poet(olog)ischen Konzepts, das Bettina von Arnim nach dem Vorbild von Goethes Buch Suleika in ihrem Briefwechsel umsetzt. 13 »Autorschaft als Partnerschaft« nennt Drewitz dieses Konzept (Drewitz 1999, 187), und daß es auch die nachträgliche Inbesitznahme der Sonette Goethes prägt, hat bereits Hermann von Pückler-Muskau erkannt. Als »Suleika-Oreas, phantastisch Rätselwesen« bezeichnet er die Verfasserin des Briefwechsels in einem Gedicht, das er ihr am 22. Februar 1835 von Algier aus zuschickte (»Die Leidenschaft ist der
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Bis auf das Widmungs-Ghasel für Pückler und den Untertitel des Tagebuches, das wie das dritte Buch des Divan als Buch der Liebe bezeichnet wird, stammen sämtliche Bezüge auf Goethes Lyriksammlung aus dem Herzstück des Divan, dem nach der kongenialen Geliebten Hatems benannten Buch Suleika.
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Schlüssel zur Welt«, 352), ein Doppelname, der die entworfenen Charakterzüge der selbsternannten Muse Bettine trefflich bündelt, indem er das Element gleichberechtigter Partnerschaft in Liebe und Poesie mit der bezwingenden weiblichen Kraft zusammenfuhrt, die sich dem Dichter in den Weg wirft und auf sein Leben und Werk machtvoll Einfluß nimmt. Ihre kreative Mitwirkung macht Bettina von Arnims Bettine zur Mitautorin von Goethes Lyrik. Aber bei der fingierten Dokumentation solcher Teamarbeit bleibt der Briefivechsel mit einem Kinde nicht stehen. Nachträglich webt die Verfasserin weitere Werke Goethes in die Korrespondenz ein, und so sind auf einmal Mignon und Wilhelm Meisters Lehrjahre ein Gegenstand des Gesprächs, obwohl sie im Originalbriefwechsel gar nicht vorkamen,14 und auch die Auseinandersetzung mit den Wahlverwandtschaften wird im Zuge der Überarbeitung spürbar ausgeweitet. Betrachtet man nun, wie sich die Auseinandersetzung mit diesen beiden Romanen von der Inbesitznahme der Sonette und der Z)ztvz«-Gedichte unterscheidet, so kann man beobachten, wie die kongeniale Muse Bettine sich von Goethe distanziert, wie sie sich von ihrem Abgott emanzipiert und ihn, nach wie vor in der Pose der Anbetung, der Herrschaft über die von ihm geschaffenen Texte nach und nach beraubt. Dieser identitätsstiftende Griff des »Kindes« Bettine nach dem Werk des bewunderten Dichters soll zunächst am Beispiel der ältesten »Lebensrolle« (vgl. Schmitz 1992) Bettina von Arnims untersucht werden, anhand der poetischen Aneignung der Mignon-Figur, wie sie im Briefwechsel gestaltet wird.
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Die einzige Ausnahme bildet Bettina von Arnims Beschreibung des von ihr entworfenen Goethe-Denkmals im Januar 1824, für das sie auch eine Mignonfigur vorsah: »Mignon an Deiner rechten Seite im Augenblick wo sie entsagt« (vgl. B W A/G, 734).
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4.
... und ich fühle einen Triumph des Gelingens.1 Mignon-Adaption im Briefwechsel mit einem Kinde
Die für die Instrumentalisierung der Mignon-Figur zentrale Passage im Briefwechsel mit einem Kinde bildet die Beschreibung eines Traumes im Brief Bettines vom 29. Juni 1807, die in der Originalkorrespondenz kein Vorbild hat. Darin verwebt Bettina von Arnim drei Szenen aus Wilhelm Meisters Lehrjahre zu einer neuen, eigenen Erzählung: den Eiertanz Mignons für Wilhelm (MA 5, 113f.), die Umarmung durch Wilhelm, mit der er Mignon an Kindes Statt annimmt (MA 5, 141), und den Auftritt Mignons im Engelskostüm, als sie mit dem Lied So laßt mich scheinen bis ich werde ihren Tod antizipiert (MA 5, 517f.): 2 Häufig hab' ich denselben Traum, und es hat mir schon viel Nachdenken gemacht, daß meine Seele immer unter denselben Bedingungen mit Dir zu tun hat; es ist als solle ich vor Dir tanzen, ich bin ätherisch gekleidet, ich hab' ein Gefühl, daß mir alles gelingen werde, die Menge umdrängt mich. — Ich suche Dich, dort sitzest Du frei mir gegenüber; es ist als ob Du mich nicht bemerktest und seiest mit anderem beschäftigt; — jetzt trete ich vor Dich, goldbeschuhet, und die silbernen Arme hängen nachlässig, und warte; da hebst Du das Haupt, dein Blick ruht auf mir unwillkürlich, ich ziehe mit leisen Schritten magische Kreise, dein Aug' verläßt mich nicht mehr, Du mußt mir nach, wie ich mich wende und ich fühle einen Triumph des Gelingens; — alles was Du kaum ahndest, das zeige ich Dir im Tanz, und Du staunst über die Weisheit, die ich Dir vortanze, bald werf' ich den luftigen Mantel ab und zeig' Dir meine Flügel, und steig' auf in die Höhen; da freu' ich mich, wie dein Aug' mich verfolgt; dann schweb' ich wieder herab, und sink'
1 2
Vgl. GBmeK, 98. In der Literatur ist gemeinhin die Rede von lediglich zwei Elementen: Eiertanz und Engelsszene (beispielsweise bei Zimmermann 1992, 169ff. oder Gille 1994, 280f.). Die Traumerzählung Bettines schließt aber auch eine Umarmung ein, wie sie zwischen Wilhelm Meister und Mignon im 14. Kapitel des zweiten Buches stattfindet: »Mein Kind! rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte, mein Kind, was ist dir? - Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte; sie hing nur in seinen Armen. Er Schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen. [...] Er hielt sie nur fester und fester. - Mein Kind! rief er aus, mein Kind! du bist ja mein! wenn dich das Wort trösten kann. Du bist mein! ich werde dich behalten, dich nicht verlassen! — Ihre Tränen flössen noch immer. - Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Gesichte. - Mein Vater! rief sie, du willst mich nicht verlassen! willst mein Vater sein! - Ich bin dein Kind! Sanft fing vor der Türe die Harfe an zu klingen; der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind immer fester in Armen haltend, des reinsten unbeschreiblichsten Glückes genoß« (MA 5, 141). In der Eiertanz-Szene fehlt eine solche Umarmung, hier sehnt sich Wilhelm lediglich, »dieses verlassene Wesen an Kindesstatt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen, und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken« (MA 5, 114). Vollzogen wird diese symbolische Adoption aber erst mit der zitierten Umarmung nach Mignons Anfall.
282
in deine umfassenden Arme; dann atmest Du Seufzer aus, und siehst an mir hinauf und bist ganz durchdrungen; [...] — und nun laß mich bekennen, daß bei diesem Bekenntnis meiner Traumspiele meine Tränen fließen. Einmal hast Du für mich gesungen: So laßt mich scheinen bis ich werde, zieht mir das weiße Kleid nicht aus. - Diese magischen Reize, diese Zauberfähigkeiten sind mein weißes Kleid; [...].3 (GBmeK, 98f.)
Die Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand: Auch Mignon tanzt für Wilhelm, und das genannte Lied singt sie in einem Engelskostüm. Spätestens das wörtliche Zitat markiert den intertextuellen Bezug. Bedeutsamer als die Parallelen sind jedoch die Unterschiede, ja man kann sagen, daß die Entsprechungen vor allem dazu dienen, die Abweichungen um so deutlicher hervortreten zu lassen. Anders als Mignon beispielsweise führt Bettine ihren Tanz nicht vor dem Geliebten allein auf, sondern vor Publikum (»die Menge umdrängt mich«). Und sie vollbringt ihr Kunststück auch nicht mit verbundenen Augen, sondern beobachtet die Reaktionen ihres Gegenübers sehr genau. Ihr Traum-Tanz ist kein Geschenk, keine untertänige Darbietung, sondern entpuppt sich als Mittel, denjenigen zu unterwerfen, vor dem (bezeichnenderweise nicht: »für« den!) er stattfindet. Der Auftritt zwingt Goethe, der zunächst »mit anderem beschäftigt« ist und die Tänzerin nicht zu bemerken scheint, den »magische[n] Kreise[n]« mit den Augen zu folgen: »[DJein Aug' verläßt mich nicht mehr, Du mußt mir nach, wie ich mich wende und ich fühle einen Triumph des Gelingens.« Tanzend zieht Bettine den Betrachter in ihren Bann, tanzend kommuniziert sie mit ihm, tanzend belehrt sie ihn (»alles was Du kaum ahndest, das zeige ich Dir im Tanz, und Du staunst über die Weisheit, die ich Dir vortanze«). Im dritten Teil des Briefwechsels (im ersten der »Bruchstücke aus Briefen in Goethes Gartenhaus geschrieben«) findet sich der Ausruf: »Musik und Kunst und Sprache alles möcht ich beherrschen um mich drin auszusprechen« (GBmeK, 529). In der geträumten Szene kommt zu all diesen möglichen Ausdrucksformen also auch noch der Tanz hinzu, Bettine »beherrscht« ihn tatsächlich (und mit seiner Hilfe beherrscht sie zugleich auch Goethe), sie fühlt »einen Triumph des Gelingens«, und am Ende »atmest Du Seufzer aus, und siehst an mir hinauf und bist ganz durchdrungen« - nicht der Umarmende tröstet die Umarmte, sondern die lösende Wirkung dieser Umarmung geht von Bettine aus, die »in deine umfassenden Arme« gesunken ist.
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Neben den drei intertextuellen Verweisen auf die Lehrjahre ließen sich — als möglicherweise viertes Element - in Bettines Eiertanz Parallelen zur Figur Euphorions aus dem zweiten Teil des Faust ausmachen. Goethe schrieb die entsprechende Szene des dritten Aktes, Schattiger Hain, zwischen März und Juni 1826 nieder (vgl. MA 18.1, 985), und es ist nicht auszuschließen, daß Bettina von Arnim bereits im Spätsommer bei ihrem rund zweiwöchigen Besuch in Weimar (August/September 1826) Einblick in die Konzeption erhalten hat. Auch Euphorion schwingt sich empor (V. 9711-9715: »Nun laßt mich hüpfen, / Nun laßt mich springen, / Zu allen Lüften / Hinauf zu dringen / Ist mir Begierde«, MA 18.1, 272) und enthüllt seine Flügel (V. 9897f.: »Doch! - und ein Flügelpaar / Faltet sich los.« MA 18.1, 277). Ähnlichkeiten der Traumszene aus dem Briefwechsel mit dem Höhenflug von Fausts Sohn vor den Augen seiner Eltern und des Hofes sind nicht von der Hand zu weisen.
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Wie in ihrem Selbstentwurf als Muse Goethes kehrt sie auch mit dieser Traumsequenz das traditionell zu erwartende Verhältnis von dichterischem Subjekt und dem Objekt seiner Poesie um. Der Blick des Geliebten vermag sie nicht in die Rolle der bloß passiv Betrachteten zu zwingen, vielmehr dominiert sie das Geschehen durch den künstlerischen Ausdruck ihres Tanzes und überwindet als tanzender Engel - Goethe im Wortsinne >überflügelnd< - sogar den Tod Mignons, indem sie anders als diese nicht stirbt und als einbalsamiertes Artefakt des Abbes endet, 4 sondern den letztlich letalen Konflikt von Rolle und Identität, von Kunst und Leben, auf den das Liedzitat verweist, aufzuheben vermag - zumindest im Traum. Wobei eine solche >nur< geträumte Künstlerschaft freilich weder für Bettina von Arnim noch für ihre Bettine eine Künstlerschaft zweiter Klasse darstellt, wie der folgende Ausspruch aus einem der Originalbriefe an Goethe zeigt, den die Autorin wörtlich in ihren Briefwechsel übernommen hat: [I]st denn ein Traum nichts? mir ist er alles; (am 20. Oktober 1809, vgl. B W A7G, 657) Ist denn ein Traum nichts? - mir ist er alles; (21. Oktober 1809, vgl. GBmeK, 303) 5
Wie Gille mit Bezug auf Habermas darlegt, ist im Rahmen einer solchen öffentlichen Darbietung ihrer Macht über Goethe die »Anerkennung auch durch den >Meister«< (die gesteigerte Personalunion aus Goethe und Wilhelm) für Bettine und ihre Schöpferin besonders wichtig: [D] ie Sozialwissenschaft belehrt uns, daß Rollenidentität und Anerkennung durch die anderen unabdingbar miteinander verbunden sind. Mit anderen Worten: Bettina mußte die Mignongestalt umfunktionieren, u m ihr eigenstes Anliegen, die Rollenidentität als Künstlerin, zum Ausdruck zu bringen. (Gille 1994, 281)
Die Art, wie dies in der Traumszene vor Publikum geschieht, macht die Sequenz zur poetologischen Chiffre fur den gesamten Briefwechsel, denn von Bedeutung ist nicht allein die Anerkennung durch Goethe — wie sie die modifizierte Übernahme der verwandtschafts- und damit identitätsstiftenden Umarmung Mignons durch Wilhelm ausdrückt - , sondern insbesondere der Umstand, daß diese Anerkennung vor Zeugen stattfindet. »Obwohl sich Bettine ganz Goethe zuwendet und seinen Blickkontakt sucht, hat ihre künstlerische Darbietung keinen Privatcharakter mehr« (Zimmermann 1992, 169) - ebensowenig wie die als Briefwechsel mit einem Kinde veröffentlichte Korrespondenz, in der Bettine sich ja ebenfalls,
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Diese Behandlung von Mignons Leichnam wird im Briefivechsel an anderer Stelle noch einmal ausdrücklich kritisiert, wenn Bettine den Heldentod im Kampf für die Freiheit der Tiroler als bessere Alternative rühmt und sich an Wilhelm Meister mit der Frage wendet: »[B]eide Arm in Arm verschränkt lägt Ihr unter der kühlen gesunden Erde, und mächtige Eichen beschatteten Euer Grab; sag, wär's nicht besser als daß D u bald ihr feines Gebild den anatomischen Händen des Abee überlassen m u ß t daß er ein künstliches Wachs hineinspritze« (vgl. GBmeK, 252). Im Tagebuch heißt es zudem: »Ja warum sollte ich mich nicht glücklich träumen? - welche höhere Wirklichkeit gibt es denn als der Traum?« (vgl. GBmeK, 519).
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der Öffentlichkeit stets eingedenk, vorgeblich allein an Goethe richtet. Die dem Vorgang beiwohnende »Menge« erlebt mit, wie sich Bettine aufschwingt und Goethe in der Kunst ihres Tanzes belehrt, wie sie Anerkennung und Bewunderung bei ihm findet, und so geht dieser Traum noch über die anhand der Sonette und der Suleika-Gedichte praktizierte Selbstschöpfung zur kreativen Muse hinaus, indem er deren öffentliche Inszenierung antizipiert und Bettines Traum-Ich als eigenständige Künstlerin enthüllt. Die Umarmung besiegelt kein Vater-Kind-Verhältnis und damit eine Abhängigkeit des »Kindes« mehr, sondern etabliert im Rekurs auf den romantischen Kind-Mythos das >göttliche Kind< als zumindest gleichberechtigte, im Prinzip jedoch überlegene Künstlerpersönlichkeit (vgl. Bäumer/Schultz 1995, 65).6 Den »Dualismus« solcher »künstlerische[n] Authentizität« hat schon Bäumer formuliert: [A]ngestrebt wird nicht nur die Uberwindung des Meisters Goethe durch eigene künstlerische Abgrenzung, sondern auch die Vereinigung mit ihm in der Anerkennung seiner Vorbildhaftigkeit und der partiellen Aneignung seiner Kunstfertigkeit. (Bäumer 1986, 143)
Das ambivalente Verhältnis zum angebeteten Vorbild Goethe zeigt sich vielleicht an keiner Stelle so komprimiert wie bei der Auseinandersetzung mit dessen Mignon-Figur, als deren »romantische Doppelgängerin« Bäumer Bettine auch bezeichnet (Bäumer 1986, 135). Die Traum-Szene ist immer auch Zitat, aber das Zitat wird abgewandelt, wird anverwandelt, um eine eigene künstlerische Aussage transportieren zu können. Die vorgegebene Rolle, an die im Briefwechsel so vieles erinnert - das häufige Springen und Klettern etwa oder die Travestiemotivik 7 - , ist viel zu eng, als daß Bettine sich darin adäquat ausdrücken könnte. »Bettine-Mignon ist eine Anti-Mignon«, wie Liebertz-Grün feststellt (LiebertzGrün 1989, 8). Um den eigenen Selbstentwurf ausarbeiten und illustrieren zu können, wird die vereinnahmte literarische Vorlage umgestaltet, denn »Bettine ist richtig, das Vorbild falsch!« (Diers 2001, 91 f.) Diese Grundhaltung erweitert in ihrer selbstbewußten Pose die Rolle der kongenialen Muse eindeutig um Elemente künstlerischer Überlegenheit. Die unterschwellige Uberzeugung, Goethe belehren zu können, die hier noch lediglich mittels eines Traumbildes zum Ausdruck gebracht wird (Bettine >tanzt Goethe Weisheit vor