193 70 2MB
German Pages 52 Year 1944
Pyrit-z . Marianne von W i l l e m e r
MARIANNE VON W I L L E M E R Vortrag von
HANS PYRITZ
Mit einem Anhang:
Gedichte Mariannes von Willemer
1944
WALTER DE G R U Y T E R & CO Berlin W35
Archiv-Nr. 3+67 44 • Gedruckt bei Walter de Gruyter & Co Berlin W 35, vormals G. J. Göschen*sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung: * Georg Reimer * Kar J. Trübner • Veit & Comp • Printed in Germany
VORWORT Der hier veröffentlichte Vortrag ist zuerst am 27. August 1942 bei der Goethe-Geburtstagsfeier des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main als Festrede gehalten, dann im September und November, mit geringen Änderungen, vor den Ortsgruppen der Goethe-Gesellschaft in Berlin und Hannover wiederholt worden. Eine freundliche Aufforderung des Verlages, verbunden mit den Wünschen von Hörern, hat den Druck veranlaßt. Daß er sich um ein Jahr verzögerte, fallt den bekannten Kriegsumständen zur Last. Naturgemäß berühren sich diese Ausfuhrungen inhaltlich, seltener dem Wortlaut nach, mit meinem Buch über „Goethe und Marianne von Willemer" (Stuttgart, Metzler,
1941; 2. Auflage im Er-
scheinen). Doch ist insofern der Gesichtspunkt ein anderer, als dort vor allem die Geschichte einer menschlich-künstlerischen Beziehung, hier vorwiegend das Schicksal einer bedeutenden Frau im Blick steht. Der Vortrag bietet gegenüber dem Buch also einiges mehr und vieles weniger. Er möge wie von seinen Hörern so auch von den Lesem als kleine Ergänzung freundlich aufge-
5
nommen werden und, wo er einen Ton des dunkelreichen Spiels nur eben leise anschlagen kann, zum Rückgriff auf jene umfassendere Darstellung locken. Berlin, im November 1943
6
Pyritz
MARIANNE
VON
WILLEMER
Wir glauben uns heute einig zu sein (und dies auf Goethes wie Nietzsches Linie): Geschichte treiben, das heiße den Bewegungen und Entscheidungen nachspüren, die das Gesicht der Zeiten formen und wandeln; es heiße den Kräften nachgehn, die in solchen Prozessen wirken, und den Menschen, die ihre Träger sind. Unser Ziel ist nicht mehr ein rastloses Zusammenscharren alles einmal Dagewesenen
(wie Nietzsche die Verfallsstufe der antiquarischen Historie kennzeichnet); auch nicht all dessen, was im Umkreis eines bedeutenden und geschichtsträchtigen Daseins einmal dagewesen ist. Was hebt, für unsern rückschauenden Blick, die Existenz einer Frau namens Marianne von Willemer aus dem Schattenreich des
bloßen
Dagewesenseins
heraus? Was hat dies verborgene
Leben mit
dem großen Gang der Geschichte zu schaffen? Treibt uns biographische Kramsucht und Neugierde, wenn wir nach ihr fragen, oder eine innere Nötigung? Als 1860, in hohem Alter, die verwitwete Geheimerätin von Willemer starb, da empfand man in Frankfurt wohl, ein Stück eigener, farbiger Vergangenheit sei mit ihr zu Grabe getragen; eine Meisterin der Geselligkeit, die einstmals mit vielen Berühmten tafelnd den Ruhm der Stadt gemehrt 7
hatte und noch in der Einsamkeit ihrer letzten Jahrzehnte ein lebendiges Bindeglied zwischen den großen städtischen Häusern geblieben war. Man wußte hier und da auch außerhalb Frankfurts> unter Vertrauten, daß Frau von Willemer mit Goethe und den Brentanos Umgang gepflogen hatte; in der breiten Öffentlichkeit hingegen von alledem wenig oder nichts. Die Goethe-Freunde mochten aufhorchen, als 1862 Mathilde Boisser^e mit dem Nachlaß ihres Gatten Sulpiz auch seine Tagebuch-Aufzeichnungen über die Frankfurter und Heidelberger Sommerwochen von 1815 mit Goethe und Willemers veröffentlichte. Aber diese Notizen — selbst wenn sie korrekt und unverstümmelt gedruckt gewesen wären —, in ihrer einsilbigen Kargheit mußten sie ein Text ohne Melodie bleiben (wie das Marianne einst von Goethes eigenen Nachrichten über den gleichen Zeitraum in seinen Tag- und Jahresheften von 1830 bemerkt hatte). Dann kam die Sensation des Jahres 1869: der Aufsatz von Herman Grimm, in dem uns —• heute noch ergreifend, und wie erst damals überwältigend! •— zunächst, von Meisterhand gezeichnet, aus liebender Kenntnis, lebensprühend, das Porträt der greisen Marianne von Willemer entgegentritt; sodann, mit magisch verjüngten Zügen, das menschliche Urbild von Goethes Suleika; und schließlich, mit dem Aufweis 8
ihrer schöpferischen Teilhabe am Divan, das Antlitz einer großen Dichterin. Der unerfreulichen Souvenirs von Emilie Kellner zu geschweigen, folgte 1877 endlich der Briefwechsel Goethes und Mariannes: für viele Leser von Grimms Aufsatz vielleicht enttäuschend in seiner scheinbar so durchaus gemäßigten Temperatur. Die seelischen Gründe, die Grimm nur leise und schonsam berührt hatte, sie wurden durch diesen Briefwechsel eher wieder verdeckt. So glitt man ratlos oder beruhigt über sie hin — auch in den meisten der Abhandlungen und Essays, die nun aufschössen — und legte die persönlichen Voraussetzungen der Diva.n-i.yrTk als ein zierliches Abenteuer oder als geistvolles Spiel aus. Von diesem Zentrum her blieb jetzt das Bild der Marianne von Willemer bestimmt. Auch neue Quellenmitteilungen (von Franz Schultz, von Reinhold Steig u. a.) und ebenso die feinhörigen, nach innen witternden Studien von Burdach vermochten, aufs breite gesehen, nicht viel daran zu ändern. So fest war die Blickgewöhnung geworden, daß man weitere Briefe, die 1922 ans Licht traten und die nun wirklich einige Lichter aufsteckten —• daß man sie glatt überlas. Seit Marianne starb, ist uns in ihrem Nachbild eine Frauengestalt von bestrickender Anmut nahegekommen. Seltsam nur: wenn man zum Text dieses Lebens die Melodie 9
suchte, hinter seinen wechselnden Bekundungen die seelischen Zusammenhänge, dann wuchs in den vermeintlich bekannten Mienen ein Rätselzug herauf. J a , je mehr von Marianne offenbar wurde, um so tiefer schien sie in ihr Geheimnis zurückzutreten. Dennoch war deutlich geworden, daß dieses Frauendasein mehr war als eins unter vielen, wie der Wellengang des Lebens sie emporträgt und w e d e r verspült. Schienen zwar seine geschichtlichen Wirkungen geringe, so zeigte es doch die Atmosphäre einer ganzen Kulturgezeit, und eines bestimmten Kulturraumes in dieser Zeit, zu sinnbildlichem Ausdruck verdichtet. Innerhalb der deutschen Klassik und Romantik war seit der staufischen Hochblüte zum erstennjal wieder die Frau in das Zentrum des kulturellen Vorgangs eingetreten. Aber nun nicht mehr allein als Objekt; als oberster Wert, auf den das ganze gesellschaftliche Lebensgefiige sich ausrichtete; als ruhendes Maß der ästhetischen Bildung und als edelster Gehalt der dichterischen Verkündung. Sondern jetzt auch als aktive Gesetzgeberin in geistig bewegten Kreisen; und als tätige Teilhaberin am künstlerischen Schaffensprozeß. Vor allem die Frauen der Romantik haben vor der Zeit diese neue Form der Geschlechtergemeinschaft dokumentiert, in der der platonische Androgynen10
Mythos auf der Stufe einer geistigen Symbiose verwirklicht schien. Was hier z. T. aus Programm u n d Anspruch kam, das hat Marianne von Willemer unbewußt und aus der Fülle des Herzens geleistet; in der Stille freilich, nicht auf dem literarischen Marktplatz; jenseits von ästhetischen Doktrinen und Tageskämpfen einer erlesenen Reihe von Männern der Kunst und Wissenschaft verbunden, die alle durch ihr warmes Mitfühlen, ihr kluges Mitdenken steigernde Impulse erfuhren, oder in ihrer unbeirrten Teilnahme einen Ruhepunkt fanden; und deren einer, der größte, im Spiegel ihres Wesens staunend das eigene, verklärte Selbst empfing. Wir dürfen nach unserer heutigen Kenntnis sagen: neben Caroline Schlegel, der sie in manchem verwandt ist, versichtbart Marianne am eindrucksvollsten den Anteil eines produktiv mitschwingenden und entzündenden Frauentums, der über die machtvollen Aufbrüche dieser Epoche den weichen Glanz legt. Aber nicht nur für eine Zeitkultur, auch für eine Raumkultur steht Marianne von Willemer als hervorragende Repräsentantin. Aus fremder Sphäre kommend, von einem leisen Hauch der Fremdheit stets umfangen, ist sie doch in jene Altfrankfurter Bürgerkultur hineingewachsen, die in ihrer ebenso ausladenden wie verwinkelten Behäbigkeit, ihrem Gemisch von Erwerbs- und Bildungssinn, von BeII
sitzstolz und Kunstfreude, von kleinstädtisch-beschränkten und reichsstädtisch-weitgespannten Interessen zum Nährboden so vieler bedeutender oder mindestens scharfgeschnittener Köpfe wurde. S o innig verwuchs sich Marianne in dieses Gewebe, und blieb dennoch so im tiefsten frei, daß sie in die Reihe der wenigen einrücken konnte, die aus der nicht immer erquicklichen Realität des Frankfurter Tages die Idee „Alt-Frankfurt" herauszuläutern und herauszuleben vermochten. Drei Generationen hat Marianne von Willemer diese Idee „Alt-Frankfurt" verleiblicht: (um nur drei Namen zu nennen) Goethe und Clemens Brentano als die Wärme der Heimat, die sie unverloren im Blut trugen; und Herman Grimm als Inbegriff eines geistigen Bereichs, in dem seine Seele atmete. Die gealterte Marianne, die in den engen Stiibchen der Mainzer Gasse mit den Schatten einer überreichen Vergangenheit Zwiesprache hielt, sie hätte wohl mit Recht, als legitime Erbin der Frau Rath, die Herrin des heimlichen Frankfurt heißen dürfen. Bot diese Frau, deren hinreißende Vitalität uns übereinstimmend beglaubigt wird •— von Brentanos Entzückensausbrüchen über das Bühnenspiel der 15jährigen Demoiselle J u n g bis zu Herman Grimms bewundernden Worten von der greisen Geheimrätin,
sie wirke
zuweilen,
als hätte ein
junges liebenswürdiges Mädchen zum Spaß die Maske 12
einer Frau in Jahren vorgebunden —; Marianne, der Brentano, der dämonisch Treulose aus Unrast, bis in seine verstockteste Weltabkehr unwandelbar ergeben blieb; und mit der Goethe, der dämonisch Treulose aus Wachstumszwang, bis in sein Todesjahr (länger als je mit einer andern Frau) die seelische Bindung wahrte; Marianne, die kraft ihrer symbolfahigen Menschlichkeit (wir sahen es) Goethe das Köstlichste entgegentrug, dessen er 1814/15 begehrte und bedurfte: den beinah unheimlichen Instinkt eines geistdurchleuchteten Weibtums für sein einsames Sein und Werk; und den Duft der Heimat, den Hauch der eigenen Vergangenheit, wie aus Traumtiefen leibgeworden in einer Gestalt von Rokoko-Grazie; und beides, wie wir wissen, von verjüngender, beseligender Gewalt — diese Frau, die so seltsam bannen, so hintergründig begreifen konnte: bot sie Goethe wirklich nur eine besonnte Stunde; ein zärtliches Neigen auf der Grenze freigesinnter Geselligkeit, noch eben durch Schick und Maß gedämpft, und ausgeformt, entfahrdet zu einem artistischen Abenteuer? Wie kommt es dann, daß Marianne, die wir aus einer Reihe von Gelegenheitsversen früher und später Zeit, Gebilden von zarter Anmut, als poetisches Talent kennen, daß sie in ihren Gedichten an Goethe, und nur in diesen Gedichten, die Handschrift des Genius schreibt? Und wie 13
kommt es, daß Goethe, der sich einmalig wußte und schon historisch zu sehen anfing, der sich immer spröder in seine eigene Welt zurückzog u n d ein peinlich genaues Verantwortungsgefühl über sie als Hüter setzte, daß er Mariannes Gedichte iri seinen Divan aufnahm, als stammten sie von ihm (man muß sich das Ungeheuerliche solches Verfahrens ganz klarmachen!), und daß er den Ruhm erborgter Autorschaft an Liedern, die auf Flügeln des Gesanges in alle Herzen drangen und als Perlen der Goethe-Poesie gepriesen wurden, mit einer merkwürdigen Lust (und übrigens im vollen Einverständnis mit der Dichterin) genoß? Wer diese Dinge erwägt, in ihrem vollen inneren Gewicht, der liest die Zeugnisse des GoetheMarianne-Bundes noch einmal — und liest dann freilich in ihnen ein Kapitel echter Geschichte. E r erkennt, daß Mariannes Bedeutung für uns sich nicht in ihrer kulturzeitlichen und kulturräumlichen Repräsentanz erschöpft, und auch nicht darin, daß sie episodisch die Lebenskurven der großen Zeitgestalter schneidet. Nein, dieses Frauendasein ist selbst geschichtsbildend geworden: nicht allein dadurch, daß sein edelster dichterischer Ertrag als Einschluß im Goethe-Werk zeitüberdauernde Geltung gewann und unermeßliche Wirkung übte; sondern vor allem dadurch, daß es in Goethe Frucht trug, seine Existenz zu neuen, steigernden Ent'4
Scheidungen und Entfaltungen zwang, seine Schaffensmacht zu neuen und vordem unerhörten Möglichkeiten entband. Ohne Marianne von Willemer hätte die Kunst des alten Goethe (wie die des reifen Goethe ohne die Frau von Stein) ein anderes Gesicht. Das ewige Wunder der Geschichte ist hier vollzogen; die transrationale Wandlung, die das Chaos des Lebens für unsern Sinn suchenden Geist zum Kosmos bildet: aus der Zufälligkeit privaten Gewesenseins wölbt sich die Notwendigkeit und Gesetzlichkeit überpersönlicher, Epochen formender Zusammenhänge herauf. Eine menschliche Begegnung, eine Laune der Tyche, ein Fremdes erst, dann Erregendes, enthüllt sich, auf beiden Seiten, als Stufe des innersten Werdens, als Anruf des eigensten Wesens, und erweist sich, im Spiel einer höhern Fügung, als Saatwurf in eine ferngedehnte Zukunft. Aber noch ein weiteres und letztes. Wer die Zeugnisse mit solchem Auge, als GhifTern eines geschichtlichen Vorgangs liest, der vernimmt unter der farbenschimmernden Melodie der Divan-Lyrik dunkle Herztöne, unter der zarten Wärme der Marianne-Briefe einen mühsam verhehlten Schrei, und zwischen Goethes behutsam gleitenden Antworten, in versteckten Wendungen und in gleichzeitigen Versen, ein seltsam nächtiges Geraune. Zieht man Goethes Tagebücher hinzu und die 15
Boisserdeschen, die nun erst zu sprechen beginnen (natürlich in ihrer echten, seit 1916 bekannten Gestalt), und endlich die Briefe des Gatten Willemer mit ihren flackernden, bald scheu-gepreßten, bald jäh ausfahrenden Bekenntnissen, Klagen, Beschwörungen, und versucht man durch die Polyphonie der Stimmen zu den tragenden Motiven hindurchzustoßen, so begreift man erschüttert, daß dieses Kapitel Geschichte mit Lebensblut geschrieben wurde, daß es aus einem Schicksal (und zwar einem doppelseitigen) reifte, in dem sich irdische Tragik mit schöpferischen Aufträgen, letzte seelische Not mit der dreifachen Gnade des Erlebens, Ubenvindens, Verklärens geheimnisvoll verwebt. Menschlich gesehen, war Mariannes Anteil an dieser Fügung der schwerere, weil er ihr zum Schicksal ihres Daseins schlechthin wurde. Uns scheint es rückblickend, als kam ihr solch Verhängnis, Flamme und Opfer für Goethe zu sein, von weither, schon seit Jugendtagen, zugegangen; und bis zum letzten Tage schwingt es in ihr aus. So ist dies Schicksal die Melodie zum Text ihres Lebens geworden; und die spannungsträchtige Aufgabe, es zu ertragen, es zu erfüllen, es zu verbergen, prägt auf ihr Antlitz den Rätselzug. Damit steht nun doch wieder, als letzte Instanz unseres Interesses, hinter dem Geschichtlichen das Menschliche auf. Aber jetzt nicht mehr das 16
Menschliche, weil und insofern es einmal dagewesen ist; sondern weil und insofern es im Schöpfungsakt des Genius exemplarisch geworden ist. Denn das hat Goethe seinem und der Freundin Schicksal geleistet: indem er es im Kristall des Kunstwerks zu urbildlicher (oder wie er sagt: musterbildlicher, musterhafter) Gültigkeit verewigte. Und das bedeutet: menschliches Leben über die Stufen des Dagewesenseins, der Repräsentanz, der geschichtlichen Wirkung hinaufgehoben in das Reich der zeitlosen Werte, der reinen Wesenheiten, an denen alles Leben, alle Geschichte, alle Kunst sich letzthin mißt und beglaubigt. Daß Goethe seine Begegnung mit Marianne von Willemer zu solcher mythischen Aussagekraft erhoben hat, dies vor allem macht uns ihre Existenz wissenswürdig, und zum Erlebnis. Am Schluß des Goethischen Hymnus Wiederfinden, in Heidelberg 1815 auf der Höhe des Rausches gedichtet, stehn die Verse, die den Mythos von der Urbildlichkeit der Hatem-Suleika-Liebe am wuchtigsten gestalten und in seinem Zeichen die Ewigkeit einer so ins Kosmische erhöhten Gemeinschaft verkündigen: Beide sind wir auf der Erde Musterhaft in Freud und Qyal, Und ein zweites Wort: Es werde! Trennt uns nicht zum zweitenmal. 17
Vergegenwärtigen wir uns, im knappsten Umriß, und vorwiegend von Marianne her gesehen, die Etappen eines Schicksals, das in solche Sphärenklänge zu münden bestimmt war. Wo Rätsel und Geheimnisse sind — und das Marianne-Geschick hat deren die Fülle —, da wollen wir sie weder vertuschen noch vernünftlerisch auflösen, sondern sie zeigen und auch umschreiten, soweit uns die Quellen fuhren, dann aber ehrfürchtig stehn lassen, was dem Unerforschlichen gehört. Schon über den Ursprüngen liegt Zwielicht. Daß Marianne Jung am 20. November 1784 geboren ist, scheint festzustehn; ob wirklich in Linz, das ist bereits unsicher. Wir wissen, daß ihre Mutter aus einer österreichischen Beamtenfamilie kam; aberüber ihren Vater, der Matthias Jung hieß, Instrumentenmacher und Musiker gewesen sein soll und frühzeitig starb, besitzen wir nur unverläßliche Traditionen. Bei ihrer spätem Heirat hat Marianne weder den eigenen Taufschein (sie war Katholikin) noch die elterlichen Ehepapiere beibringen können, sodaß ihr das Frankfurter Bürgerrecht verweigert blieb. Auch heutige Lokalforschung hat dies Dunkel nicht zu heben vermocht. Wir spüren nur ein doppeltes Blutserbe, das existenzprägend wird: die graziöse Beschwingtheit des österreichischen Lebensstils; und zweitens — aus unbekannten Ahnengängen — ein unbändiges Künstlertempera18
ment, das auf totalen Ausdruck drängte.
Daß
Marianne diesen künstlerischen Urtrieb später in Ersatzformen ausleben mußte (in einem Sprühfeuer
geselliger
Zierlichkeiten),
war
eine
der
Wurzeln ihrer Tragik; daß sie ihn einmal ganz ausströmen durfte — im lyrischen Zwiegesang mit Goethe — , war die kurze, j ä h aufbrechende und j ä h endende Erfullungsstunde ihres innersten Gesetzes. I m Jahre 1798 erscheint die 14jährige Marianne Jung, von ihrer Mutter begleitet, als Mitglied des Traubschen Balletts in Frankfurt. Sie spielt sich durch ihre strahlende Anmut rasch in die Herzen der Frankfurter: auch mit darstellenden und Gesangsrollen, vor allem aber doch mit tänzerischen Schaustücken. 1799 erlebt sie der 2 1 jährige Clemens Brentano in einer solchen Ballettszene; und noch nach 39 Jahren weiß er Marianne beziehungsreich daran zu erinnern: ich sah etwas ganz Allerliebstes, nehmlich, ein kleiner Harlekin kroch aus einem Ei und machte die zierlichsten Spränge. Aber schon 1800 findet die Bühnenlaufbahn der Demoiselle Jung ein plötzliches Ende: der Bankier und Geheimrat Johann Jakob Willemer schickt die Mutter mit einer Abfindungssumme ihres Weges und nimmt das unmündige Mädchen als Pflegetochter in sein Haus. Der Knoten ihres Schicksals beginnt sich zu schürzen.
Wer war Willemer? Ein 40Jähriger, zur Ruhe gesetzter Geschäftsmann, zweimal verwitwet, mit fünf hinterbliebenen Kindern, der seine Zeit an popularphilosophische Schriftstellerei, an volkserzieherische, kommunalpolitische und bühnenreformatorische Projekte wendet; ein Sonderling in wohlhabenden Umständen; ein manchmal unbequemer Mitbürger, ein streitlustiger Starrkopf, aber jedenfalls eine stadtbekannte und geachtete Persönlichkeit. Die genaue Analyse seiner Briefe, und der Zeugnisse seiner Tochter Rosette, Goethes und Boisseries, entfernt den Firnis, mit dem wohlmeinende Literarhistoriker sein Bild überzogen haben, und deckt eine edel angelegte, aber zerstörte Seele auf. Ein Charakter tritt uns entgegen, dem ein maßloser, die geistigen Kräfte überfliegender und stets enttäuschter Ehrgeiz zurücklodernd das eigene Gebälk zerfrißt; ein Mann, der unheilbar am unbewältigten Leben leidet und stöhnend an den Ketten eines Geschickes reißt, das seinen Tatendrang zum Leerlauf und seine Höhensehnsucht zur Mittelbahn verdammt. Von früh an ist ihm Goethe, seinem Hause nahestehend und ihm selber nachsichtig geneigt, als Dichter unbegriffen, um seiner dämonischen Sicherheit und ruhmumglänzten Sternenfahrt willen der scheu, mit schmerzlicher Demut verehrte Göttersohn. Sein eigenes heißes Mühen um sittliche Läuterung läuft 20
sich in verkrampftem Begrübein der inneren IchProblematik lahm, das sich mit den Jahren zunehmend als grilliges Tyrannentum nach außen kehrt. Er sucht — und bleibt sich bitter des Trugs bewußt — den Mangel an gültiger und erfüllender Wesenssubstanz,
an
echter
Bedeutung,
durch
Scheinehre zu verdecken, d. h. durch die Gebärde des Bedeutens, die öffentliche Rolle. U n d ebenso sucht er, wie es scheint (hier sehen wir nicht völlig klar) die Unerlöstheit eines starken Sinnentriebs durch das Spiel mit erotischen Spannungen zu übertäuben. Beides zieht ihn zur Welt des Theaters: hier darf er eine Zeitlang als plänewirbelnder Mitdirektor, als Mäzen der Akteurs und Aktricen, in der erregenden Luft ihres Umgangs, seine verborgene Wunde kühlen. Und hier trifft er auf Marianne Jung. Was man über die Motive seines Schrittes von 1800 in der frühern Literatur gemutmaßt findet — Menschenfreundlichkeit
oder
Kunstgönnerschaft
habe ihn bewirkt — ,
ist schönmalende
Fabel
(schönmalend im Sinne einer bürgerlichen K o n ventionsethik, die uns allzulange den Blick für menschliche Wirklichkeiten verstellt hat). Wenn Goethe später, zu Boisserde, von einer Rettung Mariannes spricht und sie als ein großes sittliches Gut bezeichnet, so zielt er auf die Bedenklichkeit der Bühnenverhältnisse,
denen 21
die junge
Tänzerin
durch ihren Übertritt in die patrizische Gesellschaft entrückt war. Was aber Willemer betrifft, so wissen wir aus seinem eigenen (wenn auch verhüllten) Bekenntnis, daß persönliche Wünsche und Hoffnungen das 16jährige Pflegekind an der Schwelle seines Hauses empfingen. Und wir wissen ferner, aus der gleichen Quelle, daß diese Hoffnungen noch acht Jahre später unerfüllt geblieben waren, und daß die Qual erfolglosen Werbens sein ohnehin zerrüttetes Selbstgefühl an den Rand des Untergangs brachte. Was Marianne von der (unzweifelhaft über ihren Kopf vollzogenen) Wendung dachte, die das Steuer ihres Lebens herumwarf; was sie gegen Willemer empfand und auf welchen Wegen ihre Seele in diesen Jahren ging: das liegt uns völlig im Dunkeln. Und ebensowenig haben wir eine Antwort auf die Frage, wieweit Clemens Brentanos wachsende, 1803 jäh aufschießende Leidenschaft ihr Herz traf; wieweit ihre Abwehr gegen Willemer aus solcher Betroffenheit Nahrung zog. Es müssen ergreifende Stunden gewesen sein, wenn diese beiden begnadeten Musikantennaturen gemeinsam auf der Gitarre den Rhythmus ihres Blutes in Klänge verwandelten. Die greise Marianne gesteht Herman Grimm, Brentano ohne Wissen um seine lang verhehlten Gefühle geliebt zu haben. Umgekehrt gewinnen wir aus dem Briefwechsel des 22
jungen Brentano den Eindruck, daß er mit stürmischen Geständnissen nicht sparte. Das ganze Verhältnis wird unter dem fahlen Gesetz aller Brentanoschen Frauen-Erlebnisse gestanden haben: wo seine Flammen hinschlagen, da fließen uns Objektgegebenheit und Subjektschwingung, empirische und Traumwirklichkeit ununterscheidbar in eines. Immerhin haben wir Gründe, zu glauben, daß Willemer den Umgang der beiden jungen Menschen mit Argwohn ansah, daß es zum Aufprall kam, und daß Brentano nicht Luft spinnt, wenn er im Mai 1803 an Arnim berichtet: seine Eifersucht vertrieb mich. (Nur beiläufig, um das ironische Spiel der Fügungen zu beleuchten: wie wir heute wissen, hatte Willemer sechs Jahre zuvor Brentanos Lieblingsschwester Sophie vergeblich umworben!) Das Klagelied Es stehet im Abendglanze, in dem Brentano zur gleichen Zeit sein Leid um Marianne ausströmt, formt die spannungsgeladene Situation in eine schwermütige Ballade um: die Geliebte, einst im Hause der Götter beheimatet und die Menschen durch ihre Kunst bezaubernd, nun ein gefangener Vogel im Garten des reichen Mannes; ihr Lebenslos vergeudet und vertan; der Dichter aber, in Gärtnersgestalt, ohnmächtig zu helfen, vom Schmerz zerrissen, lauscht ihrem tränenvollen Gesänge. Wieviel von Mariannes konkreter innerer Seinslage in diesem Sinnbild befaßt ist, wir ahnen es wiederum 23
nicht. Brentano selber, der Rastlose, während er noch (im September 1803) von ewiger Liebe z u Marianne spricht, liegt schon der versöhnten Sophie Mereau im A r m ; im November führt er sie heim. In seiner Dichtung aber wird nun erst Mariannes Nachbild mächtig. Die Romanzen vom Rosenkranz, sie zeigen in dem breit erzählten und lyrisch verinnigten Geschehen zwischen der frommen Tänzerin und Sängerin Biondetta, dem teufelsbündlerischen Magier
A p o und
dem
schwärmerischen
Studenten Meliore noch einmal, und jetzt aus entfesselter Phantasie, das Verhältnis von Marianne, Willemer, Brentano gespiegelt. Durch Zauberkünste will A p o das Mädchen seiner Begierde gewinnen; er setzt das Theater in Brand; Biondetta, schon in den Fängen seines höllischen Dieners, wird durch Meliore gerettet, den reinen Liebenden; doch A p o beseitigt den Nebenbuhler, verstört die klare Seele Biondettas, zwingt sie durch hypnotische Praktiken in seinen Turm. Noch eben reicht ihr K r a f t und Bewußtsein, sich durch den Freitod dem Zugriff des Verderbers zu entziehen; nur ihr entseelter Leib, durch Teufelsspuk zu neuem Scheinleben erweckt, dient ihm zu trügerischem Spiel. Der alte Brentano, als er 1838 der alternden Marianne sein erweitertes GocM-Märchen widmet, bekennt ihr die Romanzen, und ihr das Märchen verpflichtet, und dankt ihr filr die treue Zuneigung, die sie ihm 24
lebenlang bewahrte und die dem Umgetriebenen in der Tat — wie seine Biographie bezeugt — eine immer wieder begütigende Heimstatt bot. Zwischen 1808 und 1814 muß sich die Entscheidung vollzogen haben, die Brentano schon vorher zu wittern glaubte und die dann Goethe später in seinen ersten Frankfurter Briefen an Christiane berechtigte, im Hause Willemers eine Konstellation nach Art der eigenen frühern Gewissensehe vorauszusetzen. In die seelischen Vorgänge, die solche Schwenkung ermöglichten, fallt wiederum für uns kein Strahl. Von einem Votum des Gefühls wird man jedenfalls nicht sprechen dürfen, wo alles auf ein schließlich ausweglos verdichtetes Netz von Nötigungen deutet. Der Trauungsakt, der am 27. September 1814 den 5 4jährigen Johann Jakob Willemer mit der 30jährigen Marianne Jung gesetzlich verbindet — überstürzt und insgeheim, ohne Fristen und Formen —, er beschließt mit Rätseln die erste geheimnisumdunkelte Epoche eines Daseins, das sich nun abgemattet und resigniert in die Nestwärme eines bürgerlichen Konventionsglücks zu schmiegen scheint, dem aber der Schicksalsanruf schon zum Ikarus-Flug die Schwingen spreitet. Wenn wir Clemens Brentano glauben dürfen, so hat die Frau Rath an jenem Theaterabend des Jahres 1799 zu ihm gesagt: Hätte nur Wolf gang 25
diesen Harlekin im Ei gekannt, was hätte der für schöne Mährchen von ihm erzählt. I m August 1814 steht Goethe, von bewußten Wünschen und unbewußten Erwartungen in die lang entfremdete Heimat gelockt, einer neuen Stufe seines Weges zugereift, in Wiesbaden zum erstenmal Marianne Jung gegenüber. Die Reflexe dieser Begegnung, wie auch der zweiten vom September, sind beiderseits spärlich und indirekt. I m Oktober von Heidelberg nach Frankfurt zurückkehrend, findet Goethe die frisch vermählte Geheimerätin Willemer vor. Nun drängen sich in kurzer Frist die Besuche; gesellige Freuden in kleinem und größerm Kreis erreichen den Höhepunkt am Abend des 18. Oktober, des Jahrestags der Schlacht bei Leipzig, den Goethe mit Willemers im Mühlberg-Häuschen festlich begeht. I m Schein der Freudenfeuer, die rings von allen Höhen leuchteten, sind Goethe und Marianne — nur so erklärt sich das später immer wieder beschworene Gedenken dieser Stunden — der wachsenden Glut in eigenen Tiefen erstmalig inne geworden. A b e r noch hebt sich uns der Schleier von den Ereignissen nicht. Wir spüren nur: als Goethe nach Weimar heimfahrt, da muß er sich ein wenig rütteln, u m für den T a g und für die gewohnte Ordnung seiner Dinge wieder gestimmt zu sein. I m Winter und Frühjahr werden einige Briefe und Verse gewechselt, vertraulichen Tons (in dem auch Willemer, 26
die
Gattin betreffend, merkwürdig
unbefangen
mithält); aber es ist, bei Goethe wie Marianne, eine Vertraulichkeit
aus Distanzwillen,
beschweigen erlaubt, woran man nicht
die
zu
rühren
möchte. Es ist der Versuch, sich mit tänzelnder Fechterkunst gegen ein Verhängnis zu wehren, das lautlos, aber unbeirrbar heranschattet und schließlich, in jähem Ausfall, die Entscheidung erzwingt. A l s Goethe sich, nach langem innerm Zwist, im Frühjahr 1815 zum zweitenmal westwärts wendet, d a ist er dem Notwendigen bereitet, ein geöffneter Acker für die kommende Frucht: schon am ersten Reisetag, dem 24. Mai, erblühen die beiden Gedichte, die vorweggenommene Eros-Beseligung mit der durch
Hafis inspirierten
Divan-Konzeption
zusammenschließen und damit die eigentümlich zweipolige Form schaffen, in der das menschlichdichterische Doppelerlebnis dieses Sommers sich auffangen wird. D a ß auch in Marianne die Monate der Trennung und des vergeblichen Widerstandes die Stunde des Aufbruchs gezeitigt haben, das erweisen uns bereits die ersten Verse, mit denen sie Goethes Bekenntnissen antwortet (Hochbeglückt in deiner Liebe): Verse von einer Mächtigkeit des Gefühls und des Wortes, wie wir sie in Mariannes bisheriger, graziöser Gelegenheitslyrik nicht einmal ahnen konnten, und zugleich von einer Fähigkeit des weich-modulierenden Einschwingens in 27
den Goethe-Klang, wie sie n u r eine grenzenlose seelische Hingabe erwirken konnte; Verse, mit denen nun neben Goethe-Hatem als ebenbürtige Partnerin eines in der Weltliteratur einzigartigen lyrischen Zwiegesangs, als Schicksals- u n d Schaffensgefahrtin, Marianne-Suleika tritt. U n d so feiern denn zwei vom Gott ergriffene Menschen — im Wissen u m die Vergänglichkeit des Augenblicks; aber trotzig und stark genug, ihm das Ewige zu entreißen — das hohe Fest ihrer Gemeinschaft: in den seligen August- und September-Wochen auf der Gerbermühle; und d a n n noch einmal, auf dem Gipfel der Kurve, in den drei Heidelberger Tagen, nach denen sich Goethe und Marianne niemals wiedergesehen haben. Das Fest einer Gemeinschaft, von der uns im biographischen Sinne nur weniges überliefert ist, deren innere Wirklichkeit uns aber der Divan iur alle Zeiten gültig besiegelt: die Fülle von Goethes hier und jetzt entstandenen Diwan-Liedern, die Glück und Leid d e r Gegenwart bis in mystische Tiefen durchglühen; u n d die kostbaren Perlen von Mariannes Lyrik, in denen der innige Schmelz einer ganz im D u verlorenen Fraucnseele mit einer Reinheit und sanften Leuchtkraft aufschimmert, der sich in deutscher Dichtung kaum Vergleichbares zur Seite stellt. (Das gilt vor allem von ihren Liedern an den Ost- und Westwind, die die Heidelberger Schlußbegegnung rahmen.) 28
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, den äußern und innern Ablauf des Geschehens datenmäßig und in seinen dichterischen Sinnbildern nachzuzeichnen; und erst recht nicht, den menschlichen Ausdrucksformen dieses Erlebnisses nachzuspüren. Aber zu fragen haben wir, oder noch einmal zu erhärten, was es für Marianne bedeutete, was es über ihr Wesen, und was es über ihre Bedeutung für Goethe aussagt. — Wer alles zusammennimmt, einschließlich der späteren Zeugnisse, der kann über zweierlei nicht zweifelhaft sein: daß Marianne in diesen Wochen und Monaten, mit dem Ernst einer letzten Entscheidung, ihre gesamte Existenz in die Waage wirft; und daß sie in der Gemeinschaft mit Goethe die erste und letzte, die einmalige, aber nun auch universale Erfüllung ihres Lebens, die jäh vollendende Entfaltung ihres Saiucov erfahrt. Das gilt für die Frau, die hier, wie nie vordem, im Zentrum ihrer Art, in der Ganzheit ihrer Kräfte sich angerufen und gefordert fühlt, deren betrogene Seele ihrem Durst nach wahrhaftem Dasein hier endlich den strömenden Quell findet, und die für solche Begnadung, in einer hinreißenden Unbedingtheit des Reagierens, mit dem besinnungslosen Opfer ihres Selbst, j a noch nach dem tragischen Abbruch, bis zuletzt, mit einem überschwänglichen Vertrauen dankt. Und es gilt ebenso für die Künstlerin, deren fast über29
reiche Möglichkeiten — bislang gehemmt, in ihrem Urtrieb gefesselt; in Sang und Saitenspiel, in geselligen Versen und Zierwerken glanzvoll aufsprühend, aber doch immer vermittelbart und zersplittert — nun in steilem Strahl gesammelt zur Höhe der schöpferischen T a t emporsteigen, in der geheimstes Müssen aus mitgegebenem Auftrag sich erlöst und zugleich durch bleibende Symbole von zeitlosem Rang vergültigt. Daß für Marianne der Bund mit Goethe solche doppelte, menschliche und künstlerische, Bedeutung gewann, das konnte nur geschehen, weil der ganze Vorgang zwischen beiden, in einer geheimnisvollen Verwirktheit, ein gleichzeitiges Erglühen und Verschmelzen aus menschlichem u n d künstlerischem Eros war. Und dies wiederum wurde möglich, weil der alte Goethe und die junge Marianne sich in einem Grundelement ihres Wesens trafen: nämlich in dem Bedürfnis wie der Fähigkeit des Existierens aus Blut u n d Geist. Daß man dies Ineinander, als den tragenden Akkord zweier gleichgestimmter Naturen, und als die schwingende Mitte ihrer Gemeinschaft wie ihres Werkes, so oft verkannte und in ein problematisches Gegeneinander zerlegte — das ist die letzte Ursache der langen Ratlosigkeit gegenüber dem Divan und seinen biographischen Voraussetzungen. Hier eben ereignete sich das Wunder, daß die Leidenschaft 3°
den Geist n i c h t überwirbelte, daß aber umgekehrt auch der Geist die Leidenschaft n i c h t entmächtigte; sondern daß eins sich im andern feurig spiegelte, daß eins das andere steigerte und emporriß: zu einem rauschhaften und dennoch schwerelosen Tanz über Abgründen, zu einem entrückten Spiel, wie es der Mensch spielen darf, wenn er noch den Müttern oder schon dem Göttlichen nahe ist. In solcher leib-geistigen Einheit wohnend, und darum solcher letzten Gemeinsamkeit iahig hat Goethe weder vorher noch nachher j e eine Frau gefunden. Dieser Sphärengruß der verwandten Seele — er hat ihn als eine kosmische Prädestination empfunden und gefeiert — hat den alten Goethe noch einmal zur lodernden Flamme verwandelt. Er begriff — das bezeichnet Mariannes Bedeutung für ihn wie den Grund seines Glückes —, daß ihm hier die verheißene, lebenlang ersehnte Gefahrtin erschienen war, in der er seine Einsamkeit hätte erlösen können. U n d er begriff — auf der Höhe des Glückes zur Qual der weckenden Einsicht verdammt —, daß dieses Geschenk von oben zu spät kam; daß der Versuch, es sich für immer anzueignen, in Frevel und Chaos enden mußte: in Frevel an Marianne oder an Christiane oder an beiden; und im Zusammenbruch der eigenen Seinsordnung, die er in unablässiger Zucht aus 3i
dem Rohstoff persönlicher Triebe und Gefühle zur Weite eines geistig-sittlichen Weltbildes entfaltet, zu normativer Gültigkeit gehämmert und nun vor Volk und Geschichte verantwortlich zu vertreten hatte. Weil Goethe auf dieser Stufe seiner Existenz nicht mehr sich selbst gehörte, durfte er das Richtmaß seines Handelns nicht mehr in menschlicher Glückserfüllung finden. 'AvdryKT) meldete gegen den ScciiKov ihr unerbittliches Recht an. Der Kampf zwischen Leidenschaft und Verzichtsnotwendigkeit hat Goethe, nach der Abreise Mariannes, an den Rand einer leib-seelischen Katastrophe geführt und in der plötzlichen Flucht aus Heidelberg, am 7. Oktober 1815 (die Goethe als verhängt von fremder Gewalt erlitt), seine eruptive Entscheidung erfahren. Wohl hat er, nach einem verwirrten und umdunkelten Jahr, im Sommer 1816 eine dritte Westfahrt gerüstet. Ein leichter Wagenunfall am ersten Reisetag erschien seiner aufgewühlten Seele als warnendes Schicksalszeichen und gab den Anlaß nicht allein zur Umkehr, sondern zur unausgesprochenen, aber unheimlich endgültigen Absage an jegliches Wiedersehen. Nur ganz allmählich hat sich Goethe zwischen schirmender Einsilbigkeit (in den Briefen) und heißem Aufschrei (in immer wieder hervorbrechenden Versen) zu einer beruhigten Wärme des Erinnerns hindurchgerungen. 32
Für Marianne indessen beginnt mit jenem Abschied von 1815 eine Tragödie, gegen die alles frühere Leid ihres geprüften Daseins nur Vorspiel ist. Eine Tragödie aber, die Reinheit und Größe ihres menschlichen Wesens noch einmal überwältigend offenbart, und vielleicht noch überwältigender als in den Tagen des Glückes. Denn sie, die den kaum empfangenen Sinn ihrer Existenz verloren weiß (und für sie war das Erlebnis des Sommers mit Goethe wirklich zum einzigen, alles durchdringenden Sinngehalt geworden), sie hat im Meer der Klagen kein Wort der Anklage; sie •wahrt im flehendsten Sehnsuchtslaut die ehrfurchtige Scheu vor dem Gesetz, das dem Geliebten seine unerreichlichen Kreise weist; und selbst im Schauder des tiefsten Verlassenseins die stete Bereitschaft zu gütigem Verstehen und wandellosem Vertrauen. Nur eines vermag sie nicht: dem Gram zu wehren, daß er die Behauptungskraft ihres Geistes und Körpers zerfrißt. Sie fallt einem Siechtum anheim, das erst spät und nie völlig überwunden wird, auf seiner Höhe aber den Anstoß zu einem seltsamen Unterfangen bildet, mit dem Willemer, der bisher Undurchsichtige, aus seiner Wolke tritt. Gepackt vom Mitleid mit der Frau, die er sich entglitten wußte; berauscht von dem Wahngedanken, seine eigene Nichtigkeit durch ein höchstes Opfer an den bewunderten Genius zu 3
33
erlösen, durch Teilhabe an seinem menschlichen Reich in seine geistige Wirkungsbahn miteinzuschwingen, hat peitschten
und
1817 und
1818, in schmerzge-
orakel-feierlichen
Briefen,
der
kranke Mann den Freund in Weimar beschworen,, für immer nach Frankfurt zurückzukehren; er hat ihm sein Haus als Heimstatt und endlich — als letztes Rettungsmittel für die tödlich Getroffene,, deren Zustand er mit den Farben der Verzweiflung malt — die Freigabe der Gattin geboten. Wir verstehn, daß
Goethe
diese
phantastische
Ausgeburt eines bizarren Kopfes nur schweigend ablehnen konnte. Seine Reaktion hat sich in jenen schlimmen Monaten des Jahres 1818 bis zu dem Entschluß eines Abbruchs der brieflichen Beziehungen verhärtet; und dies grausame Verstummen hat wiederum die Qualen Mariannes zur Krise gesteigert. Erst die Arbeit an der Druck-Redaktion des Divans (die auch die Hudhud-Gedichte von 1819 hervortreibt), sie taucht Goethe in die Gewalt eines Erlebens zurück, das in Tiefen seines Innern unverloschen war; und sie löst den K r a m p f der abweisenden
Gebärde.
Wir können
diesen
Prozeß etappenweise in Briefen und Gedichten verfolgen, und sehen ihn menschlich gekrönt in dem überströmenden Herzensbekenntnis und neübesiegelnden Gelöbnis des Du-Briefs an Marianne vom 26. Juli 1819, dichterisch aber in den von
34
mystischer Eros-Weihe durchglühten gedichten von
Nachtrags-
1820 zum Buch des Paradieses
(denen sich in Mariannes Heidelberger Gedenkversen von 1824 ein letztes, weicheres, doch in anderer Art gleich wundersames Gegenstück gesellt). Auch Marianne hat der fertige Divan — der Zauberspiegel,
in
dem
sie mit
überwallenden
Augen die Geschichte ihrer Seligkeit lesen, ihr verklärtes und zur Unsterblichkeit erhöhtes Jugendantlitz beschauen durfte — mit lindernder Kraft gesegnet und zur Genesung bereitet. Seit 1819 sind Goethe und Marianne, bis zu seinem Tode,
in einer Vertraulichkeit
verbunden
ge-
blieben, durch die, gespenstisch fast, von Jahr zu Jahr erneuert, die nie verwirklichte Fiktion des Wiedersehens geistert, und hinter der doch, groß und still aus Seelentiefen, die Gewißheit hervorleuchtet, daß die Substanz des gemeinsam Erlebten jenseits von Zeit und Raum, im Reich der Urwirklichkeiten geborgen, und also ewig gegenwärtig sei. Wir wissen durch Herman Grimm, wie die letzten Jahrzehnte der Alternden und
der
Greisin dem toten Freund gehörten — mit einer Unmittelbarkeit
des inneren
Bezogenseins
und
Gerichtetseins, die alle Begegnisse dieses langen Lebensabends
entweder,
erinnernd
und
ver-
knüpfend, in den Strahlkreis jenes Herzensmysteriums hineinzwang oder sie ins Bedeutungslose 35
verrinnen ließ. Und so nehmen wir ergriffenen Abschied von einem reichen Menschentum, das, groß genug, sich kraft eigenen Rechtes zu verewigen, in einem größeren sich ganz verliert und vollendet und in solcher unlöslichen Geselltheit geschichtlich wird; j a von einer begnadeten Dichterin — und das ist einmalig —, deren Werk Unsterblichkeit gewann, aber keine selbständige Stimme im Chor der Poesie, sondern als zauberhaftes Echo auf immer verschwistert bleibt dem gewaltigen Klanggefiige der Goethe-Lyrik, der Marianne auch als Künstlerin selbstverleugnend, in höchster Seligkeit und letzter Größe des Opferns, ihren kostbarsten Rechtstitel, den Lorbeer des Ruhmes, übereignet hat.
36
ANHANG: GEDICHTE MARIANNES VON WILLEMER Die nachfolgende Auswahl von Gedichten Mariannes soll die Doppelschichtigkeit ihres poetischen Schaffens veranschaulichen, von der im Text die Rede war: hier zarte Empfindung, geistvoller Scherz, graziöse Spielfreude einer Meisterin der Freundschaft und der Geselligkeit; dort die Urlaute einer Liebenden, die dem Gluthauch des Genius mit anverwandelter Ausdrucksmächtigkeit erwidern; dazwischen die Gelegenheitsverse an Goethe, in denen der große Atem nur erst oder nur noch verhalten hinter anmutigem Geschwebe sich kündigt. — Die Gedichte sind sämtlich bereits gedruckt, in Herman Grimms Suleika-Aufsatz, in Theodor Creizenachs und Max Heckers Briefausgaben und sonst gelegentlich. Die Zusammenstellung und kurze Erläuterung ist von mir vorgenommen worden, wobei die genannten Quellen und Konrad Burdachs •Diuan-Kommentar sowie mein Goethe-Marianne-Buch benutzt wurden. Die Handschriften neu zu vergleichen, verbot sich durch die Zeitverhältnisse, wenige Stücke ausgenommen, die in Heckers Briefausgabe faksimiliert sind. Rechtschreibung und Zeichensetzung sind heutigem Gebrauch angeglichen. i. PROBEN IHRER GELEGENHEITSLYRIK
Auf Zacharias Werner Du willst ein Frommer werden? Das rat ich nimmermehr! Das Frommsein hat Beschwerden, Die drücken gar zu sehr. Wie solltest du denn können Die Sünden all benennen, 37
Die du geliebet sehr, Bis nichts mehr übrig wär? Vorerst die guten Weine! Die schönen Mägdeleine! Mit guten Bissen auch Hast du gepflegt den Bauch. Nun willst du all dies meiden, Parforce in Himmel reiten? Wird kosten Müh und Zeit So große Frömmigkeit. Dir wünsch ich Lebensfrist, Bis du ein Frommer bist! Wahrscheinlich 1810 in R o m entstanden, w o Willemer und Marianne Jung mit Werner zusammentrafen, der soeben zum Katholizismus übergetreten war und nun auch die Frankfurter Gastfreunde zu bekehren sich abmühte.
Auf Herrn Finger Gar manche Trepp hab ich erstiegen, Doch keine mit so viel Vergnügen, Als die Herr Finger angelegt; Des Schmutzes Not ist nun bezwungen, Herrn Finger sei drob Dank gesungen, So oft man sich bergab bewegt. Doch auch im Steigen ists erfreulich, Den Lungen wahrlich höchst gedeihlich, An Atem wird gar viel gespart;
38
Der Dachberg wird bequem erstiegen, I m Kot bleibt ferner niemand liegen, Vor Fallen ist man nun bewahrt. In Frankfurt kenn ich keine Steige, Von der sich so viel Nutzen zeige, Kein Fingerwerk dem Dachweg gleich. Was hilfts, daß sich die Federn regen, ^ e n n sie nichts wie Papier bewegen, Dem Schmutz wehrt nur ein fester Steig. Herr Finger sei von allen Füßen Und allen Zungen hoch gepriesen, Es mag nun regnen oder nicht. Doch muß die Sonne nur nicht meinen, Sie brauche gar nicht mehr zu scheinen, Sonst schweige lieber mein Gedicht. 1 8 1 6 in Bad Soden zu Ehren eines Kurgastes namens Finger gedichtet, der den bei Regenwetter lehmigen Weg auf den Dachberg durch Stufen hatte gangbar machen lassen.
An Sulpiz Boxsseree
Kennst du die Stadt an dem bescheidnen Strom? Dem niedern Dach entsteigt der ernste Dom, Den Hügel schmückt der Gärten Blütenkranz, Den Berg entflammt der Abendsonne Glanz. Kennst du sie wohl? Dahin, dahin Mußt du, o Freund, mit deinen Schätzen ziehn. 39
Kennst du das Haus, zum Ruhm der Stadt erbaut Es glänzt der Saal, es fehlt nur noch die Braut. Fünf Jünger stehn, die Lämpchen in der Hand, Ob klug, ob töricht, ist noch unbekannt. Kennst du es wohl? Dahin, dahin Mußt du, o Freund, mit deinen Schätzen ziehn. Kennst du den Weg durch Feld und Wiesengrün? Willkommen! ruft der Schafe friedlich Ziehn. Fern unter Bäumen rauscht der Mühle Bach, Ihr Schatten birgt dem Freund ein gastlich Dach. Kennst du es wohl? Dahin, dahin Mußt du, o Freund, mit all den Deinen ziehn. Kennst du das Haus, in dessen stillem Raum Schaut' ahnungsvoll im ersten Dichtertraum Ein schlafend Kind das Land, wo mild umweht Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? Kennst du es wohl? Dahin, dahin Mußt du, o Freund, mit all den Deinen ziehn. Paraphrase von Goethes Mignon-Lied (Kennst du das 1818 an Boisserie gerichtet, dessen berühmte
Land),
Sammlung
altdeutscher Bilder (jetzt in München) man damals für das Städtische Kunstinstitut in Frankfurt a. M.
zu
erwerben
hoffte. — Die Stadt ist Frankfurt, das Haus der zweiten Strophe das Städelsche Institut, das Haus der letzten Strophe Goethes Geburtsstätte, die Mühle
die Gerbermühle; die fünf
Jünger
sind die fünf Administratoren des Städelschen Institutes (mit Anspielung auf das Evangelien-Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen).
40
An Johann Michael Sailer Sankt Christoph ohne Zagen Bezwingt der Wellen Wut; Die starken Schultern tragen Ein Kindlein durch die Flut. Den Riesenkörper bieget Die nicht vermeinte Last, U n d seine Kraft erlieget Der schweren Bürde fast. Doch dringt er ohne Zagen Durchs Wasser tief und breit; Die starken Schultern tragen Das Heil der Christenheit. — Du schreitest ohne Zagen Durch Lebenssturm bewegt; Die starken Schultern tragen, Was Gott dir auferlegt. Was Körperkraft im Bilde Bewußtlos willig tut, Wirkt deine Herzensmilde Durch Geist und Glaubensmut. D u trägst zu Gottes Ehre Des Hirten Stab und Kleid; Durch Beispiel und durch Lehre Führst du zur Seligkeit. 4i
Du schreitest ohne Zagen Auf gottgeweihter Bahn; Die starken Schultern tragen Den Schwächen himmelan. Hier lohnet Gott dein Streben Mit Liebe und Vertraun, Und dort in jenem Leben Wirst du sein Antlitz schaun. Wahrscheinlich 1823 an Sailer, damals Coadjutor des Bistums Regensburg, mit einem Christophorus-Stich gesandt. Was ist Gesang?
Was ist Gesang? Was, kaum gehört, Dich faßt, dich hält, dich mit sich nimmt Und, wie durch Liebe schön betört, In seinen Ton die Seele stimmt, Dich ernst macht, dann bald hoch dich schwingt Zu dem was heilig, ewig groß, Bald dich zum Mitgefühle stimmt Mit Erdenschönheit, Menschenlos, Was du erlebt, in dir erneut Und rein und mild dirs nun gewährt, So daß, was schmerzte, sich verklärt, Was freute, inniger erfreut. Was dies nicht wirkt, ist nicht Gesang, Ist Klang nur, höchstens hübscher Klang. Undatiert, an eine Sängerin (Lena Lambmann?) gerichtet.
42
2. A N G O E T H E GERICHTETE GELEGENHEITSVERSE
Zu den Kleinen zählt man mich Zu den Kleinen zählt man mich, Liebe Kleine nennst du mich. Willst du immer so mich heißen, Werd ich stets mich glücklich preisen, Bleib ich gern mein Leben lang Lang wie breit und breit wie lang. Als den Größten kennt man dich, Als den Besten ehrt man dich; Sieht man dich, muß man dich lieben. "Wärst du nur bei uns geblieben! Ohne dich scheint uns die Zeit Breit wie lang und lang wie breit. Ins Gedächtnis prägt ich dich, In dem Herzen trag ich dich; Nun möcht ich der Gnade Gaben Auch noch gern im Stammbuch haben, Wärs auch nur der alte Sang: Lang wie breit und breit wie lang. Doch in Demut schweige ich. Des Gedichts erbarme dich! Geh, o Herr, nicht ins Gerichte Mit dem ungereimten Wichte; 43
Find es aus Barmherzigkeit Breit wie lang und lang wie breit! A m I i . Oktober 1814 gedichtet und als Stammbucheintragan Goethe gesandt, mit der Bitte u m Gegenleistung. H i e r nach einer textlich etwas abweichenden Niederschrift M a r i annes, die wohl die Erstfassung darstellt und die sich in Heckers Briefausgabe faksimiliert findet. — Lang wie breit und treit wie lang eine von Goethe gern gebrauchte Gesprächsformel.
Was uns die Erfahrung lernt
Was uns die Erfahrung lernt: Fernes muß dem Nahen weichen, Das das Feme weit entfernt, Sich mit Nahem zu vergleichen; Diese Überlegenheit Setzt uns in Verlegenheit; Wenn wir schon dem Nahen weichen, Möchten wirs doch gern erreichen; Nur indem wir uns bewußt, Daß man auch dem Fernen gut, Regt sich in beklommner Brust Unterdrückter Übermut. I m Brief vom 30. Dezember 1822 an Goethe, Antwort a u f dessen Gedicht Da das Feme sicher ist. —
Am
18. August
hatte Adele Schopenhauer bei Willemers Besuch gemacht und, von Goethe kommend, in Marianne verworrene, mit leiser Gifersucht geniischte Empfindungen erregt. Fernes ist Marianne selbst, die vom Freund Getrennte; Nahes ist A d e l e , die um ihn sein darf.
44
Drei Vierzeiler Neue Häuser, neuer Raum Mögen sich gestalten; Der Erinnerung schöner Traum Ruht doch auf den alten. Tore, Häuser alter Art, Bleibt mir ungetadelt! Durch des Freundes Gegenwart Seid ihr längst geadelt. Von der Ilme bis zum Rhein Mahlet manche Mühle, Doch die Gerbermühl am Main Ists worauf ich ziele. Auf drei kolorierten Stichen mit Frankfurter Ansichten {Untermaintor; Leonhardskirche und Fahrtor; Obcrmaintor und Stadtbibliothek mit Blick auf die Gerbermühle); mindestens zwei davon im September 1823 an Goethe geschickt.
1825 Zarter Blumen reich Gewinde Flocht ich dir zum Angebinde; Unvergängliches zu bieten, Ist mir leider nicht beschieden. In den leichten Blütenranken Lauschen liebende Gedanken, 45
Die in leisen Tönen klingen Und dir fromme Wünsche bringen. Worte aus des Herzens Fülle Sind wie Duft aus Blumenhülle; Blumen müssen oft bezeigen, Was die Lippen gern verschweigen. Und so bringt vom fernen Orte Dieses Blatt dir Blumenworte; Mögen sie vor deinen Blicken Sich mit frischen Farben schmücken! Als Geburtstagsgruß für Goethe bestimmt, aber erst am 18. Oktober 1825 abgesandt; von einem Kranz aus aufgeklebten Blumenblättern und -blüten umrahmt. Goethe antwortet am 14. November mit dem Gedicht Bunte Blumen irt dem Garten und nimmt beide Stücke (Mariannes Verse mit einigen Änderungen) als Wechselgesang in seine Werke auf.
Jene
Blätter....
Jene Blätter, die in Sachsen Still gekeimt durch deine Hand, Auf der Mühle hoch gewachsen, Drängen sich um Luft und Sand. Jener liebe Freund aus Schwaben, Der dich zu besuchen kam, Rühmte sich, von dir zu haben, Was er mit ins Wiesbad nahm. 46
In den nassauischen Staaten Pflanzt er sie am schönen Rhein, Und wie herrlich sie geraten, Bracht er sie mir an den Main. Aber die du selbst gesendet, Leg ich selbst auf guten Grund; An den Blüten, die sie spendet, Werde treue Pflege kund! A m 26. November 1826 als Briefbeilage an Goethe geschickt, als D a n k für einige Blätter von Bryophyllum calycinum, die Goethe am 15. November mit dem Gedicht Was erst still gekeimt in Sachsen übersandt hatte, und andere, die er durch Sulpiz Boisseree hatte überbringen lassen. (Boisserie ist der Freund aus Schwaben; er hatte Goethe im Mai in Weimar aufgesucht.)
3. M A R I A N N E S G R O S S E
LYRIK
Suleika (Hochbeglückt in deiner Liebe) N u r in der Fassung bekannt, die Goethe in das Buch Suleika des West-östlichen Divans aufnahm. A m 16. September 1815 entstanden, als Antwort auf Goethe-Hatems Nicht Gelegenheit macht Diebe. Die verlorene Urfassung wird von Goethe nicht wesentlich verändert worden sein. Wahrscheinlich stecken in den gestrichenen Stellen von Goethes Handschrift noch Hinweise auf den ursprünglichen Wortlaut. (So ist etwa in Vers 11 mein ganzes Leben durch mein reiches Leben ersetzt.)
47
An den Ostwind
Was bedeutet die Bewegung? Bringt der Ostwind frohe Kunde? Seiner Schwingen frische Regung Kühlt des Herzens tiefe Wunde. Kosend spielt er mit dem Staube, Jagt ihn auf in leichten Wölkchen, Treibt zur sichern Rebenlaube Der Insekten frohes Völkchen. Lindert sanft der Sonne Glühen, Kühlt auch mir die heißen Wangen, Küßt die Reben noch im Fliehen, Die auf Feld und Hügel prangen. Und mich soll sein leises Flüstern Von dem Freunde lieblich grüßen; Eh noch diese Hügel düstern, Sitz ich still zu seinen Füßen. Und du magst nun weiterziehen, Diene Frohen und Betrübten; Dort, wo hohe Mauern glühen, Finde ich den Vielgeliebten. Ach, die wahre Herzenskunde, Liebeshauch, erfrischtes Leben Wird mir nur aus seinem Munde, Kann mir nur sein Atem geben. 48
Dies die Urfassung von Mariannes Lied: auf der Fahrt von Frankfurt nach Heidelberg zu Goethe, die Bergstraße entlang, am 23. September 1 8 1 5 entstanden. Als Goethe das Lied unter der Überschrift Suleika in das Buch Suleika des Diixms aufnahm, überarbeitete er den Wortlaut, an einigen Stellen leise, in Strophe 4 und 5 mit stärkerem und leidenschaftlicher akzentuierendem Eingriff.
An den Westwind Ach, um deine feuchten Schwingen, West, wie sehr ich dich beneide: Denn du kannst ihm Kunde bringen, Was ich durch die Trennung leide. Die Bewegung deiner Flügel Weckt im Busen stilles Sehnen; Blumen, Augen, Wald und Hügel Stehn bei deinem Hauch in Tränen. Doch dein mildes, sanftes Wehen Kühlt die wunden Augenlider; Ach, für Leid müßt ich vergehen, Hofft ich nicht, wir sehn uns wieder. Geh denn hin zu meinem Lieben, Spreche sanft zu seinem Herzen; Doch vermeid, ihn zu betrüben, Und verschweig ihm meine Schmerzen. Sag ihm nur, doch sags bescheiden: Seine Liebe sei mein Leben; 4
49
Freudiges Gefühl von beiden Wird mir seine Nähe geben. Ebenfalls in der Urfassung: auf der Rückfahrt von Heidelberg nach Frankfurt, nach der endgültigen Trennung von Goethe, am 26. September 1 8 1 5 gedichtet. Dann unter der Überschrift Suleika in das Buch Suleika des Diuans eingereiht. Auch hier hat Goethe eine Anzahl von Änderungen, aber durchweg kleineren, an Mariannes Wortlaut vorgenommen. Suleika (Nimmer will ich dich verlieren!) Nur in der Fassung bekannt, die Goethe im Buch Suleika des Divans mitteilt. Die genaue Entstehungszeit der Verse liegt nicht fest; sie antworten auf Goethe-Hatems vulkanisches Eros-Bekenntnis vom 30. September 1815: Locken, haltet mich gejangen. Die Urform der Marianne-Verse dürfte hier so gut wie unangetastet geblieben sein. Suleika (Wie
mit innigstem Behagen)
Nur in der ZhVan-Fassung (Buch Suleika) bekannt; in Goethes Reinschrift auf den 23. Dezember 1815 datiert; Antwort auf Goethes Grußverse vom 27. Oktober: Abglanz (Ein Spiegel, er ist mir geworden). An der unmittelbaren Autorschaft Mariannes ist gegenüber geäußerten Zweifeln nachdrücklich festzuhalten. Nur stilistisch wird Goethe, namentlich in der dritten Strophe, eingegriffen haben. Zu Heidelberg
Euch grüß ich, weite lichtumfloßne Räume, Dich, alten reichbekränzten Fürstenbau;
50
Euch grüß ich, hohe dicht umlaubte Bäume, Und über euch des Himmels tiefes Blau. Wohin den Blick das Auge forschend wendet In diesem blütenreichen Wunderraum, Wird mir ein leiser Liebesgruß gesendet; O freud- und leidvoll schöner Lebenstraum! Auf der Terrasse hochgewölbtem Bogen War eine Zeit sein Kommen und sein Gehn; Die ChifTer, von der lieben Hand gezogen, Ich fand sie nicht, sie ist nicht mehr zu sehn. Doch jenes Baums Blatt, der aus fernem Osten Dem westöstlichen Garten anvertraut, Gibt mir geheimer Deutung Sinn zu kosten, Ein Selam, der die Liebenden erbaut. Durch jenen Bogen trat der kalte Norden Bedrohlich unserm friedlichen Geschick; Die rauhe Nähe kriegerischer Horden Betrog uns um den flüchtgen Augenblick. Dem kühlen Brunnen, wo die klare Quelle Um grünbegrenzte Marmorstufen rauscht, Entquillt nicht leiser, rascher Well auf Welle, Als Blick um Blick und Wort um Wort sich tauscht. O schließt euch nun, ihr müden Augenlider! I m Dämmerlicht der fernen schönen Zeit 4«
51
Umtönen mich des Freundes hohe Lieder; Zur Gegenwart wird die Vergangenheit. Aus Sonnenstrahlen webt, ihr Abendlüfte, Ein goldnes Netz tun diesen Zauberort. Berauscht mich, nehmt mich hin, ihr Blumendüfte; Gebannt in euren Kreis, wer möchte fort? Schließt euch um mich, ihr unsichtbaren Schranken; Im Zauberkreis, der magisch mich umgibt, Versenkt euch willig, Sinne und Gedanken; Hier war ich glücklich, liebend und geliebt! Beilage zu Mariannes Brief an Goethe vom 25. August 1824, erinnerungsschwerer Gruß zu Goethes 75. Geburtstag. Entstanden sind die Verse bereits am 28. Juli, als Marianne wieder einmal in Heidelberg die Stätten einstigen Glückes durchwanderte. — Die dritte Strophe zielt auf das DivanGedicht'-i4fi des lustgen Brunnens Rand, die vierte auf das DnianGedicht Gingo biloba, die fünfte auf eine Episode in Goethes und Mariannes Zusammensein während der Heidelberger Septembertage 1815. *
52