Formate der Kunstvermittlung: Kompetenz - Performanz - Resonanz 9783839436899

Concepts such as 'educational standards' and 'optimization' have created realities that allow us to

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German Pages 194 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einführung
Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance
Ex Machina. Bildung und Kompetenz im Zeitalter der Digitalisierung
Spiele des Nichtidentischen – Performanz und Resonanz in der künstlerischen Bildung
Fragmente zu einer »Generativen Resonanzästhetik«
Zwischen Performanz und Resonanz. Potenziale einer Kunstvermittlung als Praxis des Erscheinens
Resonanz. Medienökologische Perspektiven der Kunstpädagogik
Auf dem Weg zu einer »Ästhetischen Bildung des Raums«
Form and Formation. Zur existenziellen Notwendigkeit von Kunst
»per faltung ins gebiet« – Zur Genese einer Klassenausstellung. Ein fiktives Gespräch
Perspektiven der Transkulturellen Kunstvermittlung
»Miteinander« – Möglichkeiten einer kindgemäßen Kunstpädagogik im Spannungsfeld von Popkultur und kindlicher Expressivität
»Gangarten« – Zwei Sichtweisen einer künstlerischen Vermittlung
Lob der Gewohnheiten
Autoren
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Formate der Kunstvermittlung: Kompetenz - Performanz - Resonanz
 9783839436899

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Pierangelo Maset, Kerstin Hallmann (Hg.) Formate der Kunstvermittlung

Image | Band 108

Perspektivisch-spekulativ ist alles ganz einfach: Wir wechseln von einer Kultur der Identität zu einer Kultur der Differenz und von einer Kultur der Kontrolle zu einer Kultur des Vertrauens.

Pierangelo Maset, Kerstin Hallmann (Hg.)

Formate der Kunstvermittlung Kompetenz – Performanz – Resonanz

Wir danken der VGH-Stiftung für die großzügige Förderung der Tagungen »Formate der Kunstvermittlung« in 2014 und 2016 sowie für die Förderung dieser Publikation.

Wir danken ebenso dem Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung (IKMV) der Leuphana Universität Lüneburg für die Förderung dieser Publikation.

Überdies danken wir Isabel Pfeiffer für die Endkorrektur und Ellen Grade für die Durchsicht der Texte.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Pierangelo Maset, Lüneburg 2013, © Pierangelo Maset; nach einer Gemeinschaftsarbeit des Seminars Picture-Recycling-Picture (Sommersemester 2013, Leuphana Universität Lüneburg) Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3689-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3689-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einführung Pierangelo Maset/Kerstin Hallmann | 7

Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance Maria Peters/Christina Inthoff | 17

Ex Machina. Bildung und Kompetenz im Zeitalter der Digitalisierung Hagen Steffel | 35

Spiele des Nichtidentischen – Performanz und Resonanz in der künstlerischen Bildung Carl-Peter Buschkühle | 55

Fragmente zu einer »Generativen Resonanzästhetik« Pierangelo Maset | 67

Zwischen Performanz und Resonanz. Potenziale einer Kunstvermittlung als Praxis des Erscheinens Kerstin Hallmann | 79

Resonanz. Medienökologische Perspektiven der Kunstpädagogik Manuel Zahn | 91

Auf dem Weg zu einer »Ästhetischen Bildung des Raums« Rahel Puffert | 105

Form and Formation. Zur existenziellen Notwendigkeit von Kunst Almut Linde | 117

»per faltung ins gebiet« – Zur Genese einer Klassenausstellung. Ein fiktives Gespräch Stella Geppert | 131

Perspektiven der Transkulturellen Kunstvermittlung Inga Eremjan | 147

»Miteinander« – Möglichkeiten einer kindgemäßen Kunstpädagogik im Spannungsfeld von Popkultur und kindlicher Expressivität Andreas Brenne | 157

»Gangarten« – Zwei Sichtweisen einer künstlerischen Vermittlung Hannah-Deborah Gramentz/Maximilian Wittwer | 171

Lob der Gewohnheiten Hans-Christian Dany | 179

Autoren  | 187

Einführung Pierangelo Maset/Kerstin Hallmann

Anlass für diese Publikation ist die Notwendigkeit, der derzeit im Bildungssystem vorherrschenden Kompetenzorientierung die Dimensionen der Performanz und Resonanz entgegenzusetzen. Begriffe wie »Bildungsstandard«, »Evaluation« und »Optimierung« haben auf operative Weise Wirklichkeiten geschaffen, die uns in einer bestimmten Art und Weise über Bildung nachdenken lassen und unser Handeln in Schule, Hochschule und anderen Bildungsinstitutionen zunehmend bestimmen. Seit den neunziger Jahren markiert der Kompetenzbegriff einen einschneidenden Paradigmenwechsel; dabei erstaunt, auf welch dünnem gedanklichem Eis die Wende zur Kompetenzorientierung im Bildungswesen geplant und umgesetzt werden konnte. Kompetenz wird nach Franz E. Weinert als »Verfügbarkeit allgemeiner Problemlösungsstrategien« (Weinert 2001: 27) definiert. Es geht damit um die Erlangung verwertbarer Fähigkeiten, was eine eng geführte Vorstellung von Pädagogik mit sich bringt, der vor allem Normierung, Standardisierung und Kontrolle wichtig sind. Selbst der Begriff des »Wissens« spielt mittlerweile eine untergeordnete Rolle, weil es nicht mehr um das fachliche Wissen geht, sondern um verallgemeinerungsfähige Wissenskompetenzen. Begibt man sich tiefer in die Kompetenz-Exegese, so kommen bemerkenswerte Zusammenhänge ans Licht. Zum Beispiel, dass der für die Kompetenzorientierung zentrale Grundsatz »Das Wissen muss ein Können werden« einen prominenten historischen Vorläufer hat. Der preußische General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz formulierte ebendiesen Satz im frühen 19. Jahrhundert in seiner Schrift »Vom Kriege« (vgl. v. Clausewitz 2007: 73). Dieser Einfluss wird noch deutlicher, wenn wir die von der Boston Consulting Group herausgegebene Schrift »Clause-

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witz. Strategie denken« (BCG 2016) betrachten. Es ist beunruhigend, dass sich im Zuge der Bildungsreformen zugleich auch eine militaristische Sprache eingeschlichen hat. An den Hochschulen setzen »Stabsstellen« die entsprechenden Programme um, die jeweiligen Jahrgänge von Studierenden werden nun als »Kohorte« bezeichnet, und mittlerweile wird einiges sogar »scharfgestellt«. Der Kompetenzbegriff ist aber auch insofern problematisch, als er – gemäß der zitierten Definition nach Weinert – auf die Motivation und den Willen des Subjektes zielt. Damit wird eine der großen Errungenschaften der Aufklärung, die »Selbstbestimmung«, zurückgenommen und durch ein Subjektverständnis ersetzt, das wesentlich durch Prägung bestimmt ist: »Kompetenzschulung bildet den Menschen nicht, sondern sie modelliert den Menschen« (Ladenthin 2011: 3). Eingeleitet und durchgesetzt wurde das Kompetenzkonzept als bildungspolitische Leitorientierung durch die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) mittels der PISAStudien. Obwohl sie wissenschaftlich keineswegs geklärt ist, wurde die Kompetenzorientierung großflächig im europäischen Bildungswesen »implementiert«. So hat die Kultusministerkonferenz die Ergebnisse der drei internationalen Leistungsvergleichsstudien PISA, TIMSS und IGLU zum Anlass genommen, bundesweit geltende Bildungsstandards einzuführen. Argumentiert wird, dass die bisherige Praxis der Inputsteuerung nicht zu den gewünschten Ergebnissen im Bildungssystem führe und daher eine Festlegung und Überprüfung der Resultate, sprich des Outputs, hinzukommen müsse (vgl. KMK 2016). In der Folge wurden Lehrpläne und Schulbücher entsprechend umgeschrieben und die gesamte Lehrerbildung in Richtung Kompetenzorientierung ausgerichtet. Was damit erreicht wurde, ist eine smarte »Schwarze Pädagogik 4.0«, deren Auswirkungen ebenso nachhaltig ausfallen wie die Folgen der disziplinarischen Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts. Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte der Schriftsteller Paul Valéry bereits in seinen Cahiers formuliert: »Kompetenz lässt sich nicht antizipieren« (Valéry 2016: 303). Mit Bildung und Kunst sind immer auch das Nicht-Messbare, das Unerwartete und das Sich-Entziehende verbunden. Die letztlich auf Leistungskontrolle fixierte Kompetenzorientierung verfehlt, was Kunst und Bildung als zentrale Impulse für die menschliche Existenz auszeichnet. Kompetent sein kann sicherlich auch

Einführung

der Barbar – bedeutende kulturelle und künstlerische Hervorbringungen aber als kompetent zu bezeichnen, wäre barbarisch. Längst hat eine breite überregionale Debatte über die Problematik begonnen – vom Deutschen Bildungsrat über zahlreiche Publikationen bis hin zu Tagungen, siehe zum Beispiel die Studien bzw. Beiträge von Richard Münch (2011), Jochen Krautz (2011) oder Konrad Paul Liessmann (2014). Doch während sich die Schul- und Hochschulpolitik einerseits gern mit künstlerischen und kreativen Hervorbringungen profiliert, verhält sie sich gleichzeitig indifferent, was die Förderung der ästhetischkünstlerischen Bildung betrifft. Das hat dazu geführt, dass im Zuge der »Implementierung« von Bildungsstandards das Unterrichtsfach Kunst unter erheblichen Legitimationsdruck geraten ist. Um dem zu begegnen, stellen viele Kunstpädagogen mittlerweile die Vermittlung von Bildkompetenz in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Aufgrund der gesteigerten Bedeutung, die Bilder in unserer Zeit haben, wird der Umgang mit diesen zu den Basiskompetenzen gezählt. Doch stellt es eine reduzierte Perspektive dar, auf die Bildalphabetisierung oder auf eine Medienkunstpädagogik zu setzen, denn im Fach Kunst bewegen wir uns grundsätzlich auf einem interdisziplinären Feld vielfältiger künstlerischer und kultureller Ausdrucksformen. Die derzeitige Vorherrschaft des Bildes und des Blickes sowie die damit verbundene einseitige Zentralität von Bildkompetenz sollte dringend um andere Formate der Kunstvermittlung ergänzt werden. Vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 2007 die Tagungsreihe »Formate der Kunstvermittlung« an der Leuphana Universität Lüneburg ins Leben gerufen, die seitdem in fünf Veranstaltungen Fragen zur zeitgenössischen Kunstvermittlung mit Theoretikern und Praktikern aus Hochschule und Schule sowie mit Künstlern diskutiert hat. In dem vorliegenden Buch, das Beiträge der letzten beiden Tagungen versammelt, geht es um die gegenwärtigen Entwicklungen im Bildungswesen und ihre Auswirkungen auf Bildungsprozesse insbesondere für die Kunstvermittlung und den Kunstunterricht. Es wird ausgeführt, welche Bedeutung der Performanz und Resonanz zukommen sollte und wie diese in ihrem Wirken stärker in den Fokus kunstpädagogischen Denkens und Handelns geraten können. Das Bildungspotenzial performativer Prozesse lässt sich weder durch digitale noch durch andere Formen der Standardisierung fassen. Ästhetische Bildungsprozesse finden differenzbildend in Situationen statt, die nicht

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nur als kognitive, sondern auch als körperliche, soziale, kulturelle und mentale Prozesse verstanden werden müssen (Wulf/Zirfas 2007: 29f.). Der Begriff der »Resonanz« wird derzeit aus unterschiedlichen Perspektiven neu aufgegriffen. Vor Kurzem erschien die deutsche Ausgabe von »Resonanzen: Neurobiologie, Evolution und Theologie« (Mühling 2016), eine theologisch-naturwissenschaftliche Analyse von Markus Mühling, fast zeitgleich mit der soziologischen Untersuchung von Hartmut Rosa »Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung« (Rosa 2016). Gemeinsam mit Wolfgang Endres hat Rosa zudem eine an die Schulpädagogik gerichtete Publikation mit dem Titel »Resonanzpädagogik« (Rosa/Endres 2016) vorgelegt. Der Resonanz-Begriff, den meisten wohl als musikalische Metapher bekannt, ist nicht nur in vielen aktuellen, sondern auch schon in älteren Schriften thematisch geworden, um physikalische, psychologische, phänomenologische und andere Prozesse zu beschreiben. Hier soll nicht unerwähnt bleiben, dass »Resonanz« beispielsweise im Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari eine bedeutende Rolle spielte, die in ihrer Schrift »Was ist Philosophie« Folgendes formulierten: »Die Begriffe sind Schwingungszentren, und zwar jeder für sich und alle untereinander. Darum herrscht überall Resonanz, anstatt Abfolge oder Korrespondenz« (Deleuze/Guattari 1996: 30). Resonanz setzt voraus, dass es Verbindungen, Austauschbeziehungen und Übertragungsmöglichkeiten zwischen Körpern und Systemen gibt, die von ästhetisch-epistemologischer Bedeutung sind. Denn ihre genuine Performativität widersetzt sich wissenschaftslogischen Festschreibungen und trägt dadurch zu einer Destabilisierung standardisierter Wissens-Codes bei. Bisher wurde die Forschungsperspektive der Resonanz im Diskurs von Kunstpädagogik und Kunstvermittlung nicht hinreichend bearbeitet, wenngleich sie durch ihre Verschränkung zwischen passivem Empfangen und handelndem Vollzug für das Verständnis von ästhetischen Bildungsprozessen wesentlich ist. Maria Peters und Christina Inthoff verdeutlichen in ihrem Beitrag »Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance«, dass eine Betonung der Performanz im Kompetenzdiskurs auf die prinzipielle Unbestimmbarkeit des Kompetenzerwerbs aufmerksam macht. Aus dem Blickwinkel des Performativen stellt sich dann die Frage nach den Möglichkeiten einer Orientierung an Kompetenzen im Kunstunterricht

Einführung

neu. Die Autorinnen nehmen hier eine Position ein, die sich nicht prinzipiell gegen eine Kompetenzorientierung sperrt, sondern zeigen Wege auf, wie sich Kunstunterricht den neuen Herausforderungen produktiv stellen kann. Hierfür wird auch das künstlerisch-experimentelle Prozessportfolio (KEPP) als Instrument und Lerngegenstand im Spannungsfeld zwischen Kompetenz und Performanz vorgestellt. Hagen Steffel diskutiert in »Ex Machina. Bildung und Kompetenz im Zeitalter der Digitalisierung«, welche Effekte aktuelle bildungspolitische Maßnahmen zur »digitalen Bildung« auf das Bildungssystem haben. Mit Bezug auf poststrukturalistische Theorien und auf die Kybernetik-Kritik Dieter Merschs werden die Implikationen der digitalen Kompetenzbildung aufgezeigt. Welche Auswirkungen haben der bildungspolitische Wille zum »digitalen Kompetenzlernen« und die Ausweitung der schulischen Infrastruktur in Richtung »E-Learning«? Carl-Peter Buschkühle verdeutlicht mit »Spiele des Nichtidentischen – Performanz und Resonanz in der künstlerischen Bildung«, dass die meist zitierte Definition des Kompetenzbegriffs nach Franz E. Weinert vor allem auf die Ausbildung von Problemlösungsfähigkeiten und auf die erfolgreiche Bewältigung spezifischer Lernsituationen zielt. Diese »pragmatische« Ausrichtung evaluationsorientierter Bildungsanstrengungen verfehlt aber gerade das, was genuin künstlerische Bildung auszeichnet: Performanz und Resonanz. Statt die aktuelle Kompetenzausrichtung einfach zu adaptieren, sollte sich die Kunstpädagogik, so Buschkühle, in ihrer Theoriebildung wieder verstärkt auf ästhetische Theorien besinnen und sich an künstlerischen Denkweisen orientieren. Pierangelo Maset verfolgt anhand einer produktiven Fehleinschätzung in »Fragmente zu einer ›Generativen Resonanzpädagogik‹«, wie sich die Wirkungen künstlerischer Arbeiten durch Resonanzeffekte in unterschiedlichste Richtungen bewegen und weitere Arbeiten hervorbringen. Der generative Impuls speist sich aus der Dichotomie der inneren und der äußeren Seite der Form, wie mit Bezug auf Luhmann und Deleuze dargelegt wird. Das Erkennen des generativen Kerns einer künstlerischen bzw. ästhetischen Arbeit wird hierbei zum Schlüssel für eine mögliche Resonanzästhetik, die sowohl für die ästhetische Theorie wie auch für die Kunstvermittlung wirksam werden sollte. Kerstin Hallmann geht in »Zwischen Performanz und Resonanz. Potenziale einer Kunstvermittlung als Praxis des Erscheinens« der Frage nach, ob sich Resonanz als Denkfigur eignet, um zu erkunden, wie

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sich uns Welt in den Strukturen unseres Wahrnehmens und Bewusstseins zeigt. Ein phänomenologisches Verständnis geht davon aus, dass der Mensch immer schon in Situationen und Austauschbeziehungen verstrickt ist, denen er sich weder entziehen noch sie sich bewusst aneignen kann. Statt auf allgemein verbindliches und schnell abruf bares Wissen zu setzen, plädiert Hallmann für eine Kunstvermittlung, die sich als Praxis des Erscheinens versteht. Manuel Zahn thematisiert in seinem Beitrag »Resonanz. Medienökologische Perspektiven der Kunstpädagogik« aus bildungstheoretischer Perspektive das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das Ausmaß einer resonierenden Welt- und Selbstbeziehung wird angesichts gegenwärtiger globaler, digital-vernetzter und medienkultureller Entwicklungen auf besondere Weise thematisch. Zahn erörtert den Begriff des »Dividuums« mit Bezug auf medienökologische und -ästhetische Theorien sowie kunstpädagogische Positionen und entwickelt hieraus einen »starken Resonanzbegriff« als mögliche Forschungsperspektive für die Kunstvermittlung. Rahel Puffert stellt in »Auf dem Weg zu einer ›Ästhetischen Bildung des Raums‹« eine Version von Kunstvermittlung vor, die in Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert die Verbindung von Kunst und Pädagogik herausstellt und eine repräsentationskritische Arbeit mit räumlichen Konstellationen vorschlägt. Am Beispiel des Hamburger Werkhauses Münzviertel, an dem die Autorin mitarbeitet, wird nachgezeichnet, wie ein möglicher anderer Ort im Hier und Jetzt mit ästhetischen und kommunikativen Mitteln konstruiert und realisiert werden kann. Almut Linde verbindet in »Form and Formation. Zur existenziellen Notwendigkeit von Kunst« ihre künstlerische Position des Dirty Minimal, bei der sie in ihren Aktionen auch außerhalb des Kunstkontextes Felder erzeugt, in denen den Beteiligten eine Neuordnung von Wahrnehmung ermöglicht wird, mit einer erkenntnistheoretischen Betrachtung von Form. Die Möglichkeiten und Limitationen des begrifflichen Denkens werden der unerschöpflichen Vielfalt der Formen gegenübergestellt, was hier auch anhand eigener künstlerischer Arbeiten veranschaulicht wird. Stella Geppert zeigt in ihrem fiktiven Interview »›per faltung ins gebiet‹ – Zur Genese einer Klassenausstellung«, wie die eigene künstlerische Position zu einem Lehrkonzept entwickelt werden kann, das in der gemeinsamen Arbeit mit Studierenden neue Inhalte und Formen hervorbringt. Die bildhauerische Position Gepperts versteht Bewegungen als formbildende

Einführung

Momente. In diesem Sinne können körperliche Handlungen als Möglichkeit zur aktiven Umgestaltung vorgegebener architektonischer, gesellschaftlicher und institutioneller Rahmenbedingungen eingesetzt werden. Andreas Brenne verdeutlicht in seinem Beitrag die bildungstheoretische Bedeutung der Art und Weise, wie sich Kinder Welt performativ und ästhetisch aneignen. Mittlerweile werden aber auch schon diese frühkindlichen, ursprünglich eigenständigen Bildungsprozesse zunehmend gelenkt und zum Gegenstand von Bildungsplänen, wie es beispielsweise im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren intendiert ist (vgl. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration 2007). Anstatt die Potenziale ästhetischer Bildungsprozesse von Kindern durch formale und normative Bildungsbemühungen zu domestizieren, fordert Brenne ein, sie vielmehr durch eine kindgemäße Kunstpädagogik zu schützen. Inga Eremjan fragt in »Perspektiven der Transkulturellen Kunstvermittlung« nach den neuen Herausforderungen für die Kunstpädagogik angesichts globaler Migrationsprozesse. Welche Rolle spielen gesellschaftliche Verhältnisse und institutionelle Reglementierungen wie Standardisierung und Kompetenzorientierung, innerhalb derer Wissensformationen entstehen? Welche Potenziale von Kunst lassen sich für die Entwicklung einer transkulturellen Kunstvermittlung entfalten? Hannah-Deborah Gramentz und Maximilian Wittwer führten das Projekt »Gangarten« durch, das im Rahmen ihres Praxissemesters im Lehramtsstudium im Juni 2015 stattfand. Hierbei wurden Möglichkeiten einer fachdidaktischen Übertragung künstlerischer Praxisformen auf schulische Kontexte untersucht. Durch Praktiken des Performativen, des Suchens und Experimentierens sollten die Schüler eigene Formen des Gehens in Verbindung mit der Zweckentfremdung von Gegenständen erproben. Im performativen Vollzug des anderen Gehens und Hantierens mit alltäglichen Gegenständen konstituierte sich eine Wirklichkeit, bei der das Ereignen zwischen Inszeniertem und wirklichkeitskonstituierenden Momenten des Handelns in den Fokus rückte. Die beiden damaligen Studierenden schildern aus ihrer jeweiligen Sichtweise Impressionen, Intentionen und Reflexionen hierzu. Hans-Christian Dany beschließt diesen Band mit einem Essay zum »Lob der Gewohnheiten«, die erstaunlicherweise dazu dienen könnten, sich dem ununterbrochen wabernden Projekt zu entziehen: ein Text zwischen Rauch und Rhythmus.

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Pierangelo Maset/Kerstin Hallmann

L iter atur Boston Consulting Group (Hg.) (2016): Clausewitz. Strategie denken, München: dtv. Clausewitz, Carl von (2007): Vom Kriege, Erfstadt: Area-Verlag. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1996): Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (2007): Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen, in: https://bep.hessen.de/irj/BEP_Internet vom 06.01.2017. KMK (Kultusministerkonferenz) (2016): Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, in: https://www.kmk.org/themen/qualitaetssicherung-in-schulen/bildungsstandards.html vom 20.09.2016. Krautz, Jochen (2011): Die sanfte Steuerung der Bildung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.09.2011, S. 8. Ladenthin, Volker (2011): Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit, in: Profil, Mitgliederzeitung des Deutschen Philologenverbandes, Heft 09/2011. Liessmann, Konrad Paul (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung – Eine Streitschrift, Wien: Paul Zsolnay Verlag. Mühling, Markus (2016): Resonanzen: Neurobiologie, Evolution und Theologie, Göttingen, Bristol u.a.: Vandenhoeck & Ruprecht. Münch, Richard (2011): Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, Berlin: Suhrkamp. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp. Rosa, Hartmut/Endres, Wolfgang (2016): Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert, Weinheim und Basel: Beltz. Valéry, Paul (2016): Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers, Frankfurt a.M.: Fischer. Weinert, Franz E. (2001): Leistungsmessung in Schulen, Weinheim und Basel: Beltz. Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (2007): Performative Pädagogik und performative Bildungstheorien. Ein neuer Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung, in: Christoph Wulf und Jörg Zirfas (Hg.): Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Perspektiven. Weinheim und Basel: Beltz, S. 7-40.

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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance Maria Peters/Christina Inthoff

Die kulturelle Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen ist zunehmend vielfältiger und komplexer geworden. Insbesondere angesichts der Zuwanderung von Geflüchteten sind die kulturellen Voraussetzungen, die Lernende mit in den Unterricht bringen, extrem divers. Es steigt die Forderung nach Differenzierung in den Lerngruppen, damit Kinder und Jugendliche ihre Kompetenzen als kulturelle Experten in eigener Sache in den Kunstunterricht einbringen und weiterentwickeln können. Ausgehend von der Darstellung eines Verständnisses von Diversität, wie sie im Kunstunterricht als Chance genutzt werden sollte, wird im folgenden Beitrag ein Diskurs zur Kompetenzorientierung entfaltet, der sich der neuen Herausforderungen annimmt. Dabei werden die Begriffe »Kompetenz« und »Performanz« genauer betrachtet und auch das Moment der Resonanz in ihrer möglichen Bedeutung für Bildungsprozesse herausgestellt. Ein kritischer Blick auf eine Auswahl von Bildungsplänen für den Kunstunterricht in vier nördlichen Bundesländern geht der Frage nach, inwiefern der Diskurs der Kompetenzorientierung in Bezug auf die vielfältige Gestaltung, Dokumentation und Reflexion von Prozessen, insbesondere im Kontext von Diversität, in den fachbezogenen Bildungsplänen aufgegriffen und umgesetzt wird. Abschließend wird das Gestaltungsund Reflexionskonzept des künstlerisch-experimentellen Prozessportfolios (KEPP) vorgestellt und in seiner Produktivität für einen diversitätssensiblen und kompetenzorientierten Kunstunterricht beschrieben.

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Maria Peters/Christina Inthoff

D iversität als R essource Diversität bezeichnet das Vorhandensein personeller Vielfalt, im Sinne unterschiedlicher äußerer und innerer Merkmale, die Menschen voneinander unterscheidbar machen. Insbesondere kulturelle Differenzen sind nicht nur auf der Ebene von Nationalität, ethnischer Kultur, Religion, Sprache, Geschlecht und Alter angesiedelt. Stattdessen ist hier ein oftmals konfliktreicher, multidimensionaler Bereich »verschiedener miteinander verwobener Faktoren wie Wohlstandsniveaus, Bildungshintergründe, Milieuorientierungen usw.« zentral, der bei allen Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund handlungsleitend ist (Lutz-Sterzenbach/Schnurr/ Wagner 2013: 16). Mit dem Begriff der Diversität lässt sich ein Verständnis von Vielfalt begründen, in dem individuelle und soziale Merkmale von Menschen nicht nur in ihrer Unterschiedlichkeit, sondern auch in ihrer Ähnlichkeit bedeutsam werden (vgl. Thomas 1996: 5f.). Diese Betrachtungsweise hilft, kulturelle Verschiedenheit anzuerkennen, ohne gleichzeitig kulturelle Separationen zu betreiben: »Die Aufforderung, alle individuellen Unterschiede wie auch alle vorhandenen Gemeinsamkeiten in Betracht zu ziehen […], macht […] auf Differenzen aufmerksam, ohne dadurch Personen auf bestimmte Merkmale oder Verhaltensweisen festzuschreiben« (Spelsberg 2013: 32). Mit dieser Vorstellung von Diversität in heterogenen Lerngruppen können individuelle Fähigkeiten als Ressourcen und Potenziale entdeckt, genutzt und weiterentwickelt werden.1 Diversität ist in dreifacher Hinsicht für die Gestaltung von Lehr- und Lernarrangements im Kunstunterricht gewinnbringend: 1. Sie ist Ausgangspunkt und Leitmotiv (vgl. Spelsberg 2013: 24ff.) und zeigt sich in der Einstellung, die zunehmende Heterogenität in Lerngruppen nicht als defizitär und belastend zu begreifen, sondern ihr wertschätzend und differenzorientiert zu begegnen. 2. Eine Berücksichtigung von Diversität bereichert die methodische Gestaltung der Lehr- und Lernprozesse. Es werden Unterrichtsdesigns entwickelt, die multiperspektivische Sichtweisen provozieren. 3. Die Ausbildung einer Achtsamkeit gegenüber und ein Vermögen im Umgang mit Diversität kann als Ziel des Unterrichts angesehen werden. Es gilt, die Schüler zur kulturellen Teilhabe zu befähigen, sie darin zu bestärken, Widersprüche und Differenzen in Aushandlungsprozessen zu erkennen, um daraus ihre eigene kulturelle Biografie gestalten zu können (vgl. Keuchel 2015: 53f.). Dafür ist es wichtig, dass

Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance

sich die Schüler in Fähigkeiten der kritischen Reflexion, der Bereitschaft zum Dissens und dem Aushalten von Ambiguitäten üben (vgl. Trunk 2012: 222). Seit ein paar Jahren werden im kunstpädagogischen Diskurs Gelingensbedingungen für diversitätssensible Prozesse mit einer Suche nach geeigneten Konzepten interkultureller und transkultureller Praxen im Kunstunterricht verbunden (vgl. Lutz-Sterzenbach u.a. 2013). In einem auf Diversität ausgerichteten Kunstunterricht, als »ein möglicher Raum zur Entfaltung transkultureller Prozesse« (Eremjan 2016: 21), können Kinder und Jugendliche in Auseinandersetzung mit bildnerischen Kontexten »individuelle und gemeinsame Orientierungs- und Wertsysteme« entdecken und aushandeln (ebd.: 139). Indem die Diversität der Lernenden durch spezifische Unterrichtsarrangements als Ressource genutzt wird, kann sich, so Karolin Spelsberg, eine »Diversitätskompetenz« als »unverzichtbare[r] Bestandteil« im Denken und Handeln von Lernenden und Lehrenden ausbilden (Spelsberg 2013: 247).

K ompe tenzen und P erformanzen Kompetenzen sind bewusste Handlungsdispositionen, die erst über Performanz, das heißt in ihrer Anwendung, sichtbar und kommunizierbar werden. Kompetenzen fundieren und steuern einerseits unser Handeln, andererseits können sich im Handeln erst grundlegende Fähigkeiten und Stärken entwickeln. Eine solche Auffassung von Kompetenz rückt eine Achtsamkeit auf die Performanz des Lernens in den Vordergrund und berücksichtigt damit auch die Möglichkeiten der Entwicklung und Veränderung von Kompetenzen im Handeln: »[Es] kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass wir bestimmte Kompetenzen haben oder über solche verfügen. Kompetenzen kommen vielmehr auf uns zu, sie widerfahren uns in einem performativen Zusammentreffen von Reflexion, Emotionalität [innere Beteiligung], Ausdrucksfähigkeiten, sichtbarem äußerem Geschehen und Materialität.« (Kraus 2012: 154)

Eine Betonung der Performanz im Kompetenzdiskurs, wie sie hier zum Ausdruck kommt, deutet sich in der meist zitierten Kompetenzdefinition von Franz  E. Weinert zwar an, wird von ihm aber nicht explizit ausge-

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führt. Weinert begreift Kompetenzen als kognitive Leistungsdispositionen, an die volitionale, motivationale und soziale Fähigkeiten und Bereitschaften gebunden sind, um »Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert 2001: 27f.). In einem solchen Verständnis zielorientierter Problembewältigung laufen zum Beispiel künstlerisch-ästhetische Prozesse mit ihrer größtenteils unbestimmbaren Dynamik der Sinnsuche schnell Gefahr, als »uneffektiv« zu gelten. Wenn Kompetenzentwicklung im Kunstunterricht aus dem Blickwinkel des Performativen betrachtet wird, fokussiert dies auch ein Nachdenken über die pädagogische Inszenierung performativen Handelns in seinen »kreativen und wirklichkeitserzeugenden Momenten« (Wulf/Zirfas 2006: 299). In diesen sind nicht nur kognitive, sondern auch »körperliche, soziale, situative und inszenierte Prozesse« (ebd.) konstitutiv. Eine solche Betrachtungsweise legt das Eingeständnis einer prinzipiellen Unbestimmbarkeit des Kompetenzerwerbes – nicht nur im Kunstunterricht – nahe. Anstatt einer Vermittlung von Problemlösekompetenzen geht es vielmehr um das Inszenieren von Situationen, in denen das Selbstverständliche immer wieder bezweifelt und routinierte Organisationsformen des Lernens kontinuierlich auf die Probe gestellt werden können (vgl. Otto 1999: 201). In einem solchen Prozess des Problematisierens können Fähigkeiten und Fertigkeiten eines produktiven Umgangs mit Ambivalenzen, Momenten der Unbestimmtheit und der Unverfügbarkeit von Sinn entwickelt und geübt werden (vgl. Inthoff 2016: 58f.). Alle an einem kompetenzorientierten Lehr- und Lerngeschehen im Kunstunterricht Beteiligten haben dabei die Aufgabe, in ihren Interaktionen und Beziehungen »die Logik [des] Geschehens, dessen Modalitäten, Kontexte und Funktionen insbesondere unter ästhetischen Gesichtspunkten herauszuarbeiten« (Kraus 2012: 156). Eine Haltung, wie sie auch im Gedanken der Resonanz – als aktueller Beitrag aus einer »Soziologie der Weltbeziehung« von Hartmut Rosa (2016) – für ästhetische Bildungsprozesse interessant ist: »Resonanz […] ist so was wie eine Antwortbeziehung, wo wir das Gefühl haben, wir sind wirklich verbunden mit der anderen Seite. […] Und eine Besonderheit von Resonanzbeziehungen ist, dass sie immer ein Moment der Unverfügbarkeit haben. […] [D]a ist immer auch etwas, was sich entzieht und was sich vor allen Dingen gegen Optimierung sperrt.« (Rosa 2016)

Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance

Im Spannungsfeld von Kompetenz und Performanz das Moment der Resonanz zu betonen, befördert ein Nachdenken über das Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung. Das gilt für die Beziehungen zwischen den Schülern, ihr Verhältnis zur Lehrperson und zum Inhalt des Lerngegenstandes. Dieser Gesichtspunkt wird im letzten Abschnitt im Rahmen der Vorstellung des künstlerisch-experimentellen Prozessportfolios wieder aufgegriffen. Zu den bisher ausgeführten Überlegungen ist festzustellen, dass eine Kompetenzorientierung, die die Performanz des Lernens in den Mittelpunkt rückt, für den Kunstunterricht produktiv sein kann. Die Festlegung von Eckhard Klieme u.a., dass Kompetenzen prinzipiell als »kontextspezifische, erlernbare und vermittelbare Leistungsdispositionen« (Klieme u.a. 2006: 880) gelten, befreit das Fach Kunst einmal mehr vom traditionellen Mythos der »natürlichen« Begabung des künstlerischen Genies und von der Vorstellung eines für vererbbar und stabil gehaltenen Intelligenzkonzepts. Mit der Orientierung an Kompetenzen können im Kunstunterricht das genuin subjektive Geschehen und der Handlungsbezug bei der Produktion, Rezeption und Reflexion bildnerischer Arbeiten stärkere Berücksichtigung finden. Kompetenzen betonen dabei die Entwicklung individueller Stärken und nicht die Feststellung von Defiziten in normorientierten Vergleichssituationen (vgl. Aden/Peters 2012). Es kommt der Kunstpädagogik entgegen, dass sich Kompetenzen darauf beziehen, »Anforderungen in spezifischen Situationen bewältigen zu können« (Klieme u.a. 2006: 879), das heißt, dass sie an konkrete Kontexte und Inhalte gebunden sind. Der Kunstunterricht ist seit jeher ein Fach, in dem das Lernen an die Idee praktischer Handlungsvollzüge in der Auseinandersetzung mit lebensweltbezogenen Anforderungssituationen geknüpft ist (vgl. Aden/Peters 2012). Ein weiterer Aspekt der Kompetenzorientierung kann den künstlerischen Fächern nutzen: Kompetenzen beschreiben Aspekte spezifischer Handlungs- und Reflexionsfähigkeiten, die Lernende bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem längerfristigen Prozess des Einübens auf unterschiedlichen Wegen insgesamt erworben haben müssen. Inhalte und Prozesse sollen »systematisch vernetzt, immer wieder angewandt und aktiv gehalten werden« (Klieme u.a. 2007: 28-29). Auf diese Weise lassen Kompetenzformulierungen Raum für individuelle, variantenreiche Lern- und Umwege und befördern damit die Entwicklung subjektiver Perspektiven, Fragen und Meinungen.

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Es gibt also gute Argumente, eine sich auf Lernprozesse fokussierende Kompetenzorientierung im Kunstunterricht zu befürworten. Gleichwohl spaltet die Kompetenzdebatte den kunstpädagogischen Fachdiskurs seit rund zehn Jahren in unterschiedliche Lager. Zu verzeichnen sind nationale und internationale Bestrebungen, Bildkompetenzen zu formulieren (vgl. Seydel 2007; Blohm 2009; Wagner 2010; Kirchner 2012; Bering/ Niehoff 2013; u.a.). Für die einen ist der Kompetenzbegriff ein Schlüsselwort für mehr Bildungsgerechtigkeit in einem stärker schülerorientierten Unterricht. Sie sind der Meinung, dass durch differenziert und transparent formulierte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vielfältige Möglichkeiten des Feedbacks und der frühzeitigen Diagnose zu einer individuellen Förderung der Schüler führen können. Für die anderen ist es ein Reizwort. Sie meinen, dass die »kleinschrittige, letztlich auf Leistungskontrolle fixierte Kompetenzorientierung« (Maset/Hallmann 2016) gerade das verfehle, was Kunst und Bildung auszeichne. Sie befürchten die unpersönliche Macht des Faktischen, der Standards und der Norm, die über subjektorientierte Reflexionsprozesse, Phantasietätigkeit und Kritikfähigkeit dominieren. Für sie wird Bildung zur quantifizierbaren Ware, was einem Stillstand potenzieller Selbstentfaltung in Bildungsprozessen gleichkommt (vgl. Aden/Peters 2012). Hier wird ein scheinbar unüberwindbarer Widerspruch zwischen Kompetenzorientierung und Ästhetischer Bildung manifest (vgl. Wagner 2014). Manche Lehrende lösen das Problem, indem sie die schwer messbaren Aspekte wie zum Beispiel Gespür und Empfindung, Urteilsvermögen, Kreativität und andere als »ästhetisches Surplus« (Grünewald/Sowa 2006: 302ff.) verhandeln, das zwar wirkungsvoll, aber eben nicht zu erfassen ist. Um trotzdem der Forderung nach Kompetenzorientierung zu entsprechen, formulieren sie stattdessen überprüf bare und bewertbare »Basiskompetenzen« (ebd.), das heißt praktische Fertigkeiten, methodisches Wissen und kunstgeschichtliche Kenntnisse über Bilder und Bildsorten, die es im Kunstunterricht auszubilden gilt. In dieser Verkürzung des Kompetenzbegriffs liegt unserer Meinung nach die Gefahr, dass im Kunstunterricht nur noch die vermeintlich messbaren Basiskompetenzen Anwendung finden und in Kerncurricula konkret beschrieben und eingefordert werden. Weiterführende Unterrichtskonzepte, wie zum Beispiel die Initiierung von experimentellen, künstlerisch-forschenden Prozessen der Gestaltung und Reflexion, in denen sich eine künstlerische Haltung der Individuen im Sinne der Ästhetischen Bildung entwickelt,

Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance

werden dabei als Anspruch zunehmend aus dem Kunstunterricht verdrängt. Vor diesem heterogenen Fachdiskurs ist die Frage interessant, wie im Kunstunterricht das Eigentümliche, Unkalkulierbare und Diffuse der Kunst im individuellen Gestaltungs- und Reflexionsprozess der Schüler produktiv gemacht und gleichzeitig eine Orientierung an Kompetenzen und Kerncurricula konstruktiv integriert werden kann (vgl. Seydel 2007: 6; Peters/Inthoff 2016).

V ier B ildungspl äne im F okus Im Folgenden soll anhand einer exemplarischen Recherche in Bildungsplänen der Frage nachgegangen werden, welche curricularen Möglichkeiten das Fach Kunst hat, das seit Jahren unter »Luxusverdacht« (Maset 2015: 7) steht und zunehmend an Relevanz verliert, einen bildungspolitisch wichtigen Beitrag zum fachbezogenen Umgang mit Diversität zu leisten. Um erste Antworten zu finden, werden die Pläne für den Kunstunterricht (Sekundarstufe 1) von vier norddeutschen Bundesländern (Bremen, Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein) auf Aussagen zum produktiven und reflexiven Umgang mit der Performanz des Lernens und in Bezug auf Diversität, Experiment und Unbestimmtheit hin befragt. Die nachfolgenden Ausführungen erheben keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sind lediglich »atmosphärische« Stichproben aus einer sehr heterogenen curricularen Gemengelage. Bildungsplan Kunst für die Oberschule, Bremen (2012): Auf siebzehn Seiten werden Anforderungsbereiche für eine überschaubare Anzahl fachbezogener Kompetenzen formuliert, die Schüler am Ende der Jahrgangsstufen 6, 8 und 10 erworben haben sollen. Es geht um die Entwicklung individueller Wahrnehmungsprozesse als Voraussetzung zur kreativen künstlerischen Produktion, die Ausbildung einer Sensibilität für Strukturen, Farben und Gestaltungsformen und um ein kritisches Hinterfragen von Medienproduktion und -rezeption. Ein reflexiver Umgang mit Bildprozessen wird zwar erwähnt, jedoch in seinen Erkenntnisdimensionen oder mittels Handlungsvorschlägen nicht weiter konkretisiert. Die Begriffe »Diversität« oder »Heterogenität« werden nicht genannt. In einer Dualität zwischen »Eigenem« und »Anderem« wird der Begriff des Fremden

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insgesamt zweimal erwähnt (Senatorin für Bildung, Wissenschaft und Gesundheit 2012: 5). Kerncurriculum Kunst für das Gymnasium, Niedersachsen (2012): Auf 40 Seiten wird in den Bereichen der Produktion, Rezeption sowie Reflexion und Präsentation ein umfassender Erwerb von Bildkompetenz differenziert dargestellt. Man unterscheidet dabei inhalts- und prozessbezogene Kompetenzbereiche. Es sollen vier inhaltliche Themenfelder – »Bild des Menschen – Bild des Raumes – Bild der Zeit – Bild der Dinge« (Niedersächsisches Kultusministerium 2012: 10) – mit verschiedenen bildnerischen Techniken bearbeitet und dabei folgende prozessbezogene Kompetenzen ausgebildet werden: Kenntnisse und Fähigkeiten zu einer Symbol- oder Fachsprache, zu fachspezifischen Methoden, zu Verfahren selbstständigen Lernens, zur Reflexion über Lernprozesse und zur Problemlösung (ebd.: 6). Im Kerncurriculum wird differenziert beschrieben, auf welche fachspezifische Weise und mit welchem Lernzuwachs die prozessbezogenen Kompetenzen ausgebildet werden können. Dabei finden zum Beispiel prozessbegleitende Mappen und Portfolioarbeit eine kurze Erwähnung (ebd.: 39f.). Auf Themen wie Diversität und Heterogenität wird indes nicht eingegangen; gleichwohl geht es, wie in den anderen Plänen auch, um ein differenziertes Betrachten und Beurteilen von »eigenen und fremden Bildern« (ebd.: 8). Bildungsplan Bildende Kunst Gymnasium, Hamburg (2011): Auf 31 Seiten wird ein Bildungsplan vorgestellt, der ähnlich wie in Niedersachsen die Kompetenzbereiche Produktion, Rezeption, Reflexion und Präsentation unterscheidet und in verschiedene Mindestanforderungsbereiche differenziert. Dabei sind die Festschreibung von Inhaltsbereichen und ihre Zuordnung zu einzelnen Klassenstufen aber offener gehalten. Überfachliche Fähigkeiten aus den Bereichen der Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz werden im konkreten Fachbezug ausdifferenziert (vgl. Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg 2011: 12). In einer reflexiven Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Handlungs- und Gestaltungsprozessen sollen »Arbeitsweisen mit ungewissem Ausgang« geübt, der Umgang mit »divergenten Denkwegen und Resultaten« (ebd.: 17) gefördert und »Differenzerfahrungen« (ebd.: 14) ermöglicht werden. Begriffe wie Neugierde, Forscherdrang, experimentelles Probehandeln und Problemorientierung finden vielfältige Verwendung. In der Ausgestaltung individueller und auf Interaktion bezogener Arbeitsprozesse sollen nicht nur die soziale und ethnische Herkunft der Schüler, sondern

Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance

auch ihre persönlichen Dispositionen als Potenziale berücksichtigt und in ihrer Entfaltung geschlechtersensibel unterstützt werden (vgl. ebd.: 16). Fachanforderungen Kunst Schleswig-Holstein (2015): Auf 33 Seiten werden zur Ausbildung von Bildkompetenz als zentrale Aufgabe Kompetenzerwartungen in unterschiedlichen Anforderungsniveaus abschlussbezogen formuliert. Ausgehend von den übergreifenden Dimensionen Produktion, Rezeption und Reflexion sind acht Kompetenzbereiche (Wahrnehmen, Beschreiben, Analysieren, Interpretieren, Beurteilen, Herstellen, Gestalten und Verwenden) genannt, die in differenzierten Beschreibungen zu neun Arbeitsfeldern (Zeichnen, Grafik, Malerei u.a.) in Bezug gesetzt werden (vgl. Ministerium für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein 2015: 15). Eine Prozessorientierung rückt durch wiederkehrende Formulierungen wie exploratives, prozessbezogenes, experimentelles und ergebnisoffenes Lernen, das immer von einer Frage oder einem Problem ausgehen soll, deutlich in den Mittelpunkt.2 Das Unterrichtsgeschehen ist dabei ausgerichtet auf ein »Spannungsfeld zwischen künstlerischen Strategien der Weltaneignung, dem Vermitteln handwerklicher künstlerischer Verfahren und Techniken und der Reflexion darüber« (ebd.: 13). Dabei gilt es, in einer kritischen Reflexion eigener und fremder Standpunkte mögliche »Unsicherheiten auszuhalten« (ebd.: 8). Einer personalen und gesellschaftlich bedingten Vielfalt der Schüler soll in einer »kritischen, wertschätzenden und individuellen Rückmeldung auf der Grundlage deskriptiver Kriterien« (u.a. im Rahmen von Prozessportfolios) begegnet werden (ebd.: 74). Ein resümierender Vergleich der vier Bildungspläne zeigt einmal mehr, wie unterschiedlich das Spannungsfeld von Kompetenz und Performanz im Kunstunterricht administrativ zu fassen versucht wird. Deutlich wird, dass die Pläne von Hamburg und Schleswig-Holstein eine grundsätzliche Offenheit und letztlich auch Unkalkulierbarkeit in der Ausbildung ästhetischer und künstlerischer Erfahrungen und Kompetenzen durch differenzierte Beschreibungen sprachlich zum Ausdruck bringen und mitreflektieren. Dahingegen thematisieren die beiden anderen Pläne entweder in einer starken Reduktion auf wenige und sehr abstrakt formulierte Kompetenzen (Bremen) oder durch relativ festgelegte Kompetenzbereiche und Anforderungen, auch in Bezug auf die Jahrgangsstufen (Niedersachsen), die Problematiken des Spannungsfeldes nicht oder nur indirekt.3 Eine erste Antwort auf die Frage, wie in den Bildungsplänen

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die besonderen Möglichkeiten des Faches Kunst, einen wegweisenden Umgang mit Diversität zu pflegen und als Chance zu nutzen, curricular zum Ausdruck kommen, fällt relativ bescheiden aus: Wenn überhaupt, so werden sie nur implizit in der Notwendigkeit zur Ausbildung einer Achtsamkeit gegenüber und einer Reflexion der Dualität zwischen Eigenem und Fremdem beschrieben. Hier sollte wesentlich deutlicher die Chance genutzt werden, für einen immer wichtiger werdenden Diversitätsdiskurs die vor-bildlichen Potenziale des Faches Kunst herauszustellen. Auf diese Weise böte sich auch eine gute Gelegenheit, das Fach aus der Marginalisierungsfalle zu befreien. In diese Richtung weisen auch die Forschungsergebnisse von Inga Eremjan: »Die Lehrpläne in dem ›Kulturfach Kunst‹ nehmen keine Rücksicht auf die zunehmende Mehrfachzugehörigkeit in den Klassenräumen. […] An der Trennwand zwischen dem Eigenen und Fremden wird nach wie vor festgehalten. Jedoch sind Ansätze, die an dieser Trennwand rütteln, bereits beginnend mit den neunziger Jahren zu verzeichnen.« (Eremjan 2016: 132)

KEPP als R esonanzr aum für E rfahrung und A ustausch Das künstlerisch-experimentelle Prozessportfolio (KEPP) wird im Folgenden als Instrument und Lerngegenstand im Spannungsfeld von Kompetenz und Performanz beschrieben und in seiner Wirkung als Resonanzraum weiter ausgedeutet. Eine didaktische Konzeption des KEPP und seine empirische Erprobung im Rahmen von Unterrichtsentwicklungsforschung ist zentraler Gegenstand der Dissertation von Christina Inthoff. 4 Mit dem KEPP wird der Diskurs des Portfolios, wie er in den Erziehungswissenschaften als »Reforminstrument« (Häcker 2007: 72) zur Humanisierung des Lernens geführt wird, durch kunstdidaktische Überlegungen erweitert. Der Erziehungswissenschaftler Thomas Häcker, der an der aktuellen Portfoliodiskussion kritisch und konstruktiv beteiligt ist, bezeichnet die Aufgabe, das »Denken zu lernen« (Häcker 2011: 177), als elementaren Bildungsauftrag und zentrales Element in der Portfolioarbeit. Die vier Buchstaben des KEPP verweisen auf prägende Bezugsfelder der KEPP-Konzeption. Der Begriff »künstlerisch« ermöglicht sowohl Be-

Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance

züge zur Kunst, beispielsweise zum Themenfeld des Künstlerbuches, als auch Verweise auf künstlerische Strategien und Gestaltungsformen, zum Beispiel im Rahmen künstlerischer Forschungsprozesse. »Experimentell« beschreibt den explorativen Zugang und Umgang mit dem KEPP als Möglichkeitsraum und legt einen offenen und am forschenden Lernen orientierten Unterricht nahe. Für das Objekt KEPP bedeutet dies, dass es nicht mit einem »schönen Buch« gleichzusetzen ist, sondern bewusst auch unzulängliche, bisweilen alberne oder scheinbar misslungene Inhalte und Handlungen zulässt, ausstellt und wertschätzt. In einem Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion, Sinn und Un-Sinn kann deutlich werden, dass zwischen einer produktiven Unbestimmtheit im ästhetischen Erfahrungsprozess und der Ausbildung von Problematisierungskompetenz kein Widerspruch herrschen muss. Eine Orientierung am Prozess bedarf Aufgabenstellungen, die nicht ein bestimmtes Ergebnis einfordern. Stattdessen müssen sie geeignet sein, Aufmerksamkeit auf den Verlauf von künstlerisch-gestalterischen Handlungen anzuregen und ein Nachdenken über Dokumentation und Transformation von Entscheidungen und Erfahrungen zu befördern. Der Begriff »Portfolio« rahmt die Bezugsgrößen Kunst, Experiment und Prozess und vernetzt diese mit spezifischen Praktiken der Kollaboration und Reflexion (vgl. Peters/Inthoff 2016: 113ff.). Auf diese Weise ist das KEPP eine Weiterentwicklung bisheriger im Kunstunterricht angewendeter Dokumentationspraktiken, wie zum Beispiel Skizzenbücher, bildnerische Tagebücher oder Werkstattbücher (vgl. Burkhardt 2014: 7). Mit dem Portfolio werden zugleich »Spielregeln« für den Unterricht aufgestellt, die sich über »Transparenz, Partizipation und Kommunikation« beschreiben lassen (Häcker 2007: 3). Diese drei Parameter stellen hohe Anforderungen an die Gestaltung von Unterricht. Das KEPP ist impulsgebendes Objekt und zugleich Gegenstand des Unterrichts. Es wird auf verschiedenen Ebenen (Objekt-Ebene, Schüler-Ebene, Meta-Ebene) und zu unterschiedlichen Zeitpunkten (präaktional, aktional, postaktional) in den Unterricht eingebunden. Dabei knüpft die KEPP-Konzeption an den kreativen Prozess an und berücksichtigt insbesondere dessen Rekursivität in der wiederholenden Durchführung einzelner Phasen (vgl. Csikszentmihalyi 2007: 121). Im Sinne von »erfahrungsbegleitenden Aufzeichnungen« (Sabisch 2009: 5) wird eine Wahrnehmung und Handlung nicht einfach dokumentiert;

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vielmehr konstituiert sie sich als Erfahrung erst im Prozess der zeichenbasierten Reflexion und Kommunikation. Reflexive Aufzeichnungen im Sinne »welterschließender Praxen« (Badura/Hedinger 2013: 31) befördern und unterstützen Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Reflexionsfähigkeiten von Schülern (vgl. Inthoff/Peters 2014: 61f.). Sie betonen auf diese Weise die Resonanzfähigkeit sichtbarer Entscheidungen und glücklicher Zufälle. Jedes Aufzeichnen kann bereits als Antwortgeschehen im Sinne einer Resonanz auf das Vorgefundene ausgelegt und zugleich als weiter zu bearbeitendes Produkt im künstlerischen Forschungsprozess verstanden werden. Abbildung 1: Doppelseite aus einem künstlerisch-experimentellen Prozessportfolio (KEPP): »Reflexionsaufgabe: Geklaute Ideen«, 8. Klasse, Mädchen, Gymnasium Hamburg, 2013

In der Konzeption des Unterrichts mit dem KEPP tragen unter anderem die Merkmale der Performativität und Interaktivität dazu bei, dass DenkHandlungen wahrgenommen, kommuniziert, wertgeschätzt und kritisch hinterfragt werden können. Neben der individuellen Produktion und Reflexion können auch kollaborative, das heißt in der Zusammenarbeit von Schülern entwickelte, Prozesse in den Blick genommen werden. So wird im KEPP ein intersubjektiver Austausch, das Problematisieren und gemeinsame Aushandeln von Sinn im sozio-kulturellen Gefüge produktiv (vgl. Stein 1973: 70f.). Auf diese Weise kann das künstlerisch-experimentelle Prozessportfolio eine Lernkultur der Diversität befördern und in ihren Wirkungen sichtbar machen (vgl. Inthoff 2016).

Kompetenzorientierung in der Kunstpädagogik: Vielfalt als Chance

A nmerkungen 1 | Auf die kritisch zu beurteilende strategische Nutzung von personeller Vielfalt in Wirtschaftsunternehmen – unter ökonomischer Zielsetzung als »Diversity-Management« – kann nicht eingegangen werden (vgl. hierzu Spelsberg 2013: 25ff.). Es wäre hier spannend, zu untersuchen, inwiefern diese Entwicklung nicht auch schon in Bildungsinstitutionen (zum Beispiel Universitäten und Hochschulen) angekommen ist. 2 | In den gewählten Formulierungen ist eine gewisse Nähe zum Konzept der Ästhetischen Forschung von Helga Kämpf-Jansen zu erahnen (vgl. Kämpf-Jansen 2000). 3 | Diese Relation zeigt sich auch an einem zugegebenermaßen sehr assoziativen Versuch des Vergleichs: Während in den Plänen von SH und HH das Wortfeld »Experiment/experimentieren/experimentell« 33 bzw. dreizehn Mal genutzt wird, findet man es im Plan von Niedersachsen acht Mal und im Plan von Bremen genau ein Mal. 4 | Das Dissertationsprojekt von Christina Inthoff ist Teil der fachdidaktischen Verbundforschung in der Creative Unit »Fachbezogene Bildungsprozesse in Transformation (FaBiT)« an der Universität Bremen (Laufzeit 2014 bis 2017, gefördert durch Exzellenzmittel der Universität Bremen), betreut durch Prof. Dr. Maria Peters.

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A bbildung Abbildung 1: Doppelseite aus einem künstlerisch-experimentellen Prozessportfolio (KEPP): »Reflexionsaufgabe: Geklaute Ideen«, 8. Klasse, Mädchen, Gymnasium Hamburg 2013, © Christina Inthoff

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Ex Machina. Bildung und Kompetenz im Zeitalter der Digitalisierung Hagen Steffel »Die Suche nach Universalien der Kommunikation sollte uns das Fürchten lernen.« Gilles Deleuze

Gut fünfzehn Jahre nach Beginn des »digitalen Zeitalters« ereilt den staatlichen Bildungsapparat ein offensiver Marschbefehl in Richtung digitaler Bildung: »Mit der Strategie ›Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft‹ fördert das Bundesbildungsministerium (BMBF) die Vermittlung digitaler Kompetenz und das Lernen mit digitalen Medien. […] Das Deutsche Internet-Institut wird zudem ab 2017 breit und interdisziplinär zur Digitalisierung forschen; ein Themenfeld wird der Bereich ›Bildung und Kompetenzen‹ sein.« (Wanka 2016: 1)

Etwa zeitgleich werden Staatsgelder in Höhe von fünf Milliarden Euro in Aussicht gestellt, um über einen Zeitraum von fünf Jahren digitale Bildung an insgesamt rund 40.000 allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen zu fördern. Das Geld soll vorwiegend investiert werden, um Breitbandanschlüsse und dazu passende Hardware anzuschaffen. Auf Länderebene erwächst daraus die Verpflichtung, Standards für pädagogische Konzepte zur digitalen Bildung zu erarbeiten und entsprechende Weiterbildungen für die Lehrkräfte anzubieten.1 Da an allgemeinbildenden Schulen sowohl den elterlichen als auch den lehrenden Verfechtern der pädagogischen Kreidezeit der schulische Umgang mit den Neuen Medien schon immer suspekt war, steht es um die Akzeptanz des diesbezüglich verstärkten Einsatzes digitaler Medien für unterrichtliche Zwecke nicht viel besser. Mögen sie der Ratio vielleicht zuträglich sein, schnei-

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den sie der Pädagogik selbst jedoch das Herz heraus und verschonen die Hand nur, da diese vorübergehend noch zum Wischen gebraucht werde. Bildungsministerin Johanna Wanka beschwichtigt indes in der bereits oben zitierten Pressemitteilung mit folgenden Zeilen: »Das Ziel digitaler Bildung ist […] im Kern kein anderes als das von Bildung allgemein: Sie soll Menschen befähigen, sich als selbstbestimmte Persönlichkeiten in einer sich beständig verändernden Gesellschaft zurechtzufinden und verantwortungsvoll ihre eigenen Lebensentwürfe zu verfolgen.« (Ebd.)

Das Zitat suggeriert, dass sich digitale Bildung als zeitgenössische Ergänzung unter ein bereits bestehendes und bewährtes Bildungsideal subsumiert. Dies gilt es näher zu untersuchen. Interpretiert man den Passus genauer, verbirgt sich darin zum einen das noch nicht allzu lang propagierte Ideal des »lebenslangen Lernens«, zum anderen das einer permanenten »Selbstbestimmung« in einer sich beständig verändernden Welt. Der »Bildung digitaler Kompetenz« kommt darin eine zentrale Rolle als regulierende Funktion innerhalb der digitalen Wissensgesellschaft zu. Im Folgenden sollen deshalb bestimmte Referenzen bzw. Korrespondenzen des Diskurses der digitalen Kompetenz näher in den Blick genommen werden, um dessen Effekte auf das Bildungssystem offenzulegen. Eine solche Vorentscheidung impliziert der Methode nach einen grundlegenden Verdacht. Dieser äußert sich darin, dass sich die »Bildung digitaler Kompetenz« konzeptionell eben nicht dazu eignet, Menschen dazu zu befähigen, eine selbstbestimmte Position in unserer Gesellschaft einzunehmen, sondern diese ganz im Gegenteil für eine digitale Wissensgesellschaft technizistisch zurichtet.

Ü bergänge Digitale Bildung zielt konzeptionell auf deutlich mehr als verstärkt in den jeweiligen Fachunterricht zu integrierende Internetrecherchen. Sie geht auch weit über die Ansprüche eines klassischen Informatikunterrichts hinaus, in dem etwa Grundlagen des Programmierens oder aber der Umgang mit Textprogrammen erlernt werden. Bezeichnend scheint vielmehr, dass im Rahmen digitaler Bildung über das Erlernen von Hard- und Software-Skills hinaus Bildung durch etwas stattfinden soll,

E x Machina. Bildung und Kompetenz im Zeitalter der Digitalisierung

nämlich den wechselseitigen Prozess technisch-mathematisch mediatifizierter Kommunikativität. Die Fokussierung der Bildungsinitiative auf ebendieses vernetzte Lernen bestätigt sich unter anderem in der Vergabe des oben zitierten Forschungsauftrags zum Themenfeld »Bildung und Kompetenz« an das Deutsche Internet-Institut. Welche Auswirkungen hat diese Schwerpunktsetzung für schulische Bildungsinstitutionen und Bildung überhaupt? Womit ist zu rechnen? Wies der französische Philosoph Michel Foucault in seinem bekannten Werk »Überwachen und Strafen« neben Gefängnissen und Hospitälern auch die Schule als ein durch Disziplinartechniken geprägtes geschlossenes Milieu der Internierung aus (Foucault 1976), markiert die Vernetzung insbesondere für allgemeinbildende Schulen den potenziellen Ausgang aus ebendiesem geschlossenen Milieu, denn zu welchem anderen Zwecke dient der Ausbau der digitalen schulischen Infrastrukturen als zur Ausweitung des E-Learning? Genau darüber schafft sich jedoch jener Teil der Schule ab, den wir als geschlossenes, aber dadurch auch schützendes Lernmilieu in einer bestimmten interpersonellen Konstellation zwischen Lehrer und Schüler verstanden haben. Ein daraus schleichend resultierendes Outsourcing wird mindestens vier Bereiche der Schule treffen: die Unterrichtsgegenstände, die Prüfungen, das Personal und die funktionelle Beschaffenheit der Räume. Das taktische Szenario könnte dann folgendermaßen aussehen: Über die inzwischen etablierte suchmaschinenbasierte und in der Regel über Google Inc. stattfindende Internetrecherche hinaus stellen Online-Lernprogramme zukünftig vermehrt schulexterne Bildungsangebote. Die an manchen Schulen schon eingerichteten »Selbstlernzentren« dürften den geplanten Entwicklungen dabei Pate stehen. Sie erweisen sich jedoch eher räumlich-physikalisch als prototypisch, denn deren momentan eher lustlose Nutzung bedingt sich durch fehlende Konzepte und unzureichend ausgebildetes Schulpersonal. Genau diese Leerstelle wird jedoch unter anderem durch das oben genannte Forschungsprojekt des Deutschen Internet-Instituts gefüllt werden, dessen Ergebnisse schlussendlich »Empfehlungen« für eine entsprechende Programmatik aussprechen, wie sich aus der oben zitierten Verpflichtung der Länder dann die Verordnungen zu den umzusetzenden Standards samt Fortbildungsverpflichtungen ergeben werden. Wir haben es insgesamt also mit Grundsteinlegungen zum Bau ganz neuartiger Schulräume zu tun. Diese werden zukünftig Körper beherbergen, die sich über Portale in die Virtualität

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einer einzigen entmaterialisierten Universal-Schule begeben, welche sich in die Gesamtheit der digitalisierten Welt aufgelöst haben wird. E-Learning dürfte ausgehend von den Kern- und naturwissenschaftlichen Fächern rasch einen größeren Stellenwert im Schulalltag einnehmen. Zu erwarten ist, dass die solcherart aus der Schule ausgelagerten Bildungsangebote zunehmend mit entsprechenden Prüfungs- und Auswertungsleistungen schulexterner Institutionen einhergehen und Lehrpersonal auch in diesen Funktionen entbehrlich machen werden. Inauguriert sich also mit dem Konzept der digitalen Bildung unter Umständen eine grundlegende strukturelle Transformation der Bildungsinstitutionen, so sollen im Folgenden deren Effekte auf die Bildungsprozesse selbst untersucht werden, innerhalb derer der digitalen Kompetenz ein zentraler Stellenwert zugesprochen wird. Diese wird von staatlicher Seite als Ausgangspunkt des »selbstbestimmten« Umgangs mit den durch die Digitalisierung hervorgerufenen Wandlungsprozessen gesetzt und besitzt diesbezüglich somit eine regulierende Funktion. In einem ersten Schritt soll der Kompetenzdiskurs zunächst außerhalb der digitalen Vernetzung untersucht werden. Abbildung 1: Hagen Steffel, o. T.

E x Machina. Bildung und Kompetenz im Zeitalter der Digitalisierung

K ompe tenzdiskurs Inga Truschkat leitet die Prominenz des Kompetenzbegriffs primär daraus ab, dass mit diesem die Anforderungen an ein Individuum erfasst werden können. Das werde besonders dort deutlich, »wo es um das Identifizieren, Bewerten und Vergleichen von Individuen geht« (Truschkat 2010: 69). Im Sinne Michel Foucaults ist dies als Ausdruck neuer Wahrnehmungs- und Beurteilungsformen zu betrachten, der als neue Form von Rationalität innerhalb sozialer Differenzierungen mit Prozessen sozialer Differenzierung einhergehe: »Wenn nun mit dem Begriff Kompetenz die Subjektivierung der Anforderungen fokussiert wird und er ebenso zentral ist für Selektionsprozesse, stellt sich unweigerlich die Frage, ob mit seinem Auftauchen auch neue Formen der sozialen Differenzierung verbunden sind.« (Ebd.: 70)

Den Begriff der Kompetenz definiert Truschkat als einen Gegenstand, der nur dadurch existiert, dass er benannt wird. Er ist per se nicht greifbar, sondern bedarf eines Prozesses des Bezeichnens, erhält seinen Realitätscharakter also erst dadurch, dass er zum Gegenstand eines Diskurses wird. Im Folgenden unterscheidet Truschkat dessen Gebrauch anhand zweier idealtypischer Diskursstränge: eines strukturell-normativen und eines individual-dispositiven Kompetenzdiskurses. Diese treten der Autorin zufolge im Regelfall jedoch immer in verschränkter Form auf (vgl. ebd.: 72). Strukturell-normative Kompetenzdiskurse greifen Kompetenz aus Sicht von Unternehmen als Motor für Innovationen auf, die notwendige Bedingungen für wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit darstellen. Das in diesem Kompetenzdiskurs transportierte Menschenbild ist behavioristisch ausgerichtet, denn das kompetente Individuum wird als »ein trieb- und interessengesteuertes Wesen gedacht, dessen Regulationsmechanismen im Sinne naturwissenschaftlicher Theoreme ableitbar sind« (ebd.: 71). Kennzeichnend ist ferner ein hohes Maß an Operationalisierungsbemühungen. Differenziert wird dazu zwischen Handlungsvermögen und Handlungsantrieb: »Unter der Komponente des Handlungsvermögens werden die einzelnen Fähigkeiten als aggregierbare und technizistische Fertigkeit verhandelt. Durch die richtigen Techniken und das passende Equipment – so wird suggeriert – sei jede(r) in

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der Lage, sich nach dem Baukastenprinzip das notwendige Handlungsvermögen additiv zusammenzustellen.« (Ebd.: 71)

Der Aspekt des Handlungsantriebs hingegen unterliegt nach Truschkat weitaus weniger Operationalisierungsversuchen, denn Werte, Motivation, Persönlichkeit etc. sind lediglich Begriffe, die den von außen nicht einsehbaren und auch nicht manipulierbaren Handlungsantrieb als »Blackbox« umschreiben. Der Handlungsantrieb gilt als Triebfeder des Handelns, ist im Gegensatz zum Handlungsvermögen jedoch fremdgesteuert kaum entwickelbar. An dieser Stelle gestaltet sich sodann die Frage nach Autonomie und Hierarchie als dominant. Kontrolliert wird nicht mehr in direkter Hierarchie und Repression, sondern es gelangt eine subtilere Form der Machtausübung zur Anwendung. Truschkat erläutert dies anhand eines effektvollen Kniffs: Indem der Chef zum Coach umfunktioniert wird, wird eine stärkere Vertrauensbasis geschaffen. An dieser Stelle kann Truschkats ökonomische Perspektivierung des Kompetenzdiskurses fast 1:1 auf die Institution Schule verschoben werden. Exemplarisch lässt sich die methodische Entsprechung am sogenannten Lerncoaching aufzeigen. In diesem Ansatz gerät die Persönlichkeit des Schülers in den Mittelpunkt pädagogischer Prozeduren, und er entwickelt mit seinem Lehrer Lernstrategien, die zum Beispiel Themen der Motivation oder des Selbstmanagements umfassen. Fächerspezifische Aufgabenstellungen, etwa aus den Bereichen Rechnen oder Schreiben, dienen dabei lediglich der Anwendung und Übung dieser erlernten Strategien. Diese Methode kann nur gelingen, indem in dieser Situation keine repressiven Machttechniken seitens eines hierarchisch übergeordneten Lehrers angewendet werden, um den erwünschten Lernerfolg zu erzwingen. Es geht schließlich darum, möglichst vertrauensvolle Informationen zum Operationalisieren des Lernprozesses ans Licht zu bringen. Zur Erreichung der Bildungsziele dient ein listigeres Machtverhältnis zwischen Lehrer und Schüler, das Truschkat mit dem Vokabular Michel Foucaults beschreibt: »Anstelle repressiver Macht wirkt eine Form der Pastoralmacht, durch welche die Selbstorganisation des Einzelnen/der Einzelnen, oder anders ausgedrückt der Handlungsantrieb aktiviert werden soll […].« (Ebd.: 72)

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Den Ausgangspunkt für den Umgang des Einzelnen mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Wandlungsprozessen bildet der individual-dispositive Kompetenzdiskurs (ebd.). Selbstregulation findet hier in einer dynamischen Form der Konzeptualisierung von Kompetenz statt und definiert sich weniger durch ihre Einzelbestandteile als vielmehr durch einen systemischen Charakter: »Das System Kompetenz zeichnet sich durch eine dynamische Stabilität aus, dessen Systemgestalt nicht durch ein Identisch-bleiben der Systemelemente und der zwischen ihnen bestehenden Verknüpfungen erhalten bleibt, sondern durch die selbstreferentielle Operationsweise.« (Ebd.: 72)

Es ist in systemischem Sinne ferner gekennzeichnet durch eine retround eine prospektive Dimension: »Die temporal rückwärts gerichtete Aufmerksamkeit zielt auf den Aspekt der Erfahrungsaufschichtung, der einen Strukturbildungsprozess beschreibt und somit weitaus integrativer angelegt ist als die additiv-funktionalistische Kompetenzentwicklung des strukturell-normativen Diskursstrangs. Die Struktur des Systems Kompetenz beeinflusst ihrerseits aber auch zukünftiges Handeln; Kompetenz umfasst somit auch eine dispositive Seite.« (Ebd.)

Zusammenfassend bedarf das kompetente Individuum innerhalb des strukturell-normativen Kompetenzdiskurses der außenstehenden Instanz einer Pastoralmacht, die dieses aktiviert und begleitet, um selbstregulativ handlungsfähig zu sein. Im individuell-dispositiven Kompetenzdiskurs wird das Subjekt hingegen deutlich stärker als sozial Handelnder und Gestalter des eigenen Bildungsprozesses in die Pflicht genommen (vgl. ebd.). Insgesamt scheint insbesondere die Darstellung des individualdispositiven Kompetenzdiskurses exakt in die Definition von Bildung des Bundesbildungsministeriums zu fallen. Bildung scheint hier auch weiterhin vom Menschen aus gedacht, der lernt, sich selbstverantwortlich auf seine Rolle in der Gesellschaft einzustellen. Die Interdependenzen beider Stränge des Kompetenzdiskurses, die ja gemäß Truschkat in der Regel in Verflechtung auftreten, bleiben bezüglich schulischer Bildung dabei jedoch merkwürdig unklar.

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Daran anknüpfend ist dann auch Kritik an der schwammigen Verwendung des Begriffes der Selbstbestimmung zu üben. Worin bestimmt der Mensch sein Selbst? Man könnte meinen, dies geschehe im Akt der Selbstreflexivität, weshalb an eine entscheidende Position der Selbst-Bestimmung im Rahmen des Kompetenzdiskurses zurückgekehrt werden soll; als Beispiel dient das oben genannte Szenario des Lerncoachings. Die dort pastoralmächtig zu erschleichende Vertrauensbasis zwischen Lehrer und Schüler bedarf einer speziellen Form von Kommunikation und findet methodisch in der Regel im Sinne eines Feedbacks statt. Durch dieses soll die Selbstorganisation des Einzelnen – oder eben anders ausgedrückt: sein Handlungsantrieb – aktiviert werden, um ihn Zielsetzungen formulieren zu lassen und gleichzeitig zum Garanten seines schulischen Lernerfolges zu machen. Bekanntermaßen wird Feedback im systemischen Denken als zirkulärer und sich selbst organisierender Prozess verstanden, der simultan mehrschichtig verläuft. Systemisch gedacht geht es darin nicht um Ursachen und Wirkungen, sondern um Wechselwirkungen. Ulrich Bröckling erläutert in seinem Aufsatz »Und … wie war ich?« (Bröckling: 2006) den Werdegang dieses Konzepts: Der Begriff des Feedbacks meint in der deutschen Übersetzung Rückkopplung oder Rückmeldung und ist seinem Ursprung nach in der Regeltechnik beheimatet. Dort bezeichnet er im allgemeinen Sinne einen Selbststeuerungsmechanismus. Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik, definierte diesen folgendermaßen: »Rückmeldung ist die Steuerung eines Systems durch Wiedereinschalten seiner Arbeitsergebnisse in das System selbst« (Wiener 1958: 57). Er beschreibt damit, dass sich dynamische Systeme darüber stabilisieren, dass sie ihre Ist-Werte permanent mit einem Soll-Wert vergleichen und bei auftretenden Abweichungen automatisch gegensteuern. In komplexeren Rückkopplungssystemen zeigen sich die entsprechenden Apparaturen als »lernfähig«, denn sie sind so konzipiert, dass sie ihren Soll-Wert anpassend verändern können oder sogar einen Wechsel der Programmierung ihrer Operationen ausführen. Diese Vorgänge als ›Lernen‹ zu bezeichnen gelingt allerdings nur zum Preis nachrichtentechnischer Formalisierung des Lernbegriffs, worauf später noch näher einzugehen sein wird. Genau diese machte die Kybernetik dann auch anschlussfähig für verhaltensund sozialwissenschaftliche Konzepte (vgl. Bröckling 2006: 29), und auf ebendiesem Wege gelangte der Begriff des Feedbacks zu seiner pädagogischen Prominenz.

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Christoph Türcke bringt in seiner diesbezüglich kritischen Schrift »Lehrerdämmerung« den gesellschaftlichen Reiz des Prinzips auf den Punkt: »Je subtiler es gelingt, menschliches Verhalten maschinell zu simulieren, desto verständlicher und steuerbarer wird es« (Türcke 2016: 27). Diese Machtutopie beruht jedoch auf einer völlig falschen Gleichsetzung des physiologischen Auf baus des Gehirns mit der Struktur digitaler Rechenmaschinen. Letztere operieren, wie an den technischen Rückkopplungssystemen aufgezeigt, über Rekursionen und nicht im Sinne des menschlichen Vermögens der Reflexivität. Dieter Mersch führt diesen entscheidenden Unterschied aus: »Man muss […] Rekursivität, Referenzialität und Reflexivität auseinanderhalten: Reflexivität setzt Bewusstsein voraus, Referenzialität Bezugnahme, während Rekursionen auf formalisierbaren Wiederholungen beruhen. Nur letztere ist mathematisierbar […]« (Mersch 2014: 33). Es bleibt somit festzuhalten, dass ein technisch-funktionalistisches Element der Selbstregulation als systemisches Rückmeldeprinzip ein bestimmender Faktor zur Bildung von Kompetenzen ist. Wie am Beispiel des Lerncoachings ausgewiesen, vollzieht sich dieser Prozess mitnichten als ein selbstbestimmtes Aushandeln zwischen zwei gleichberechtigten Partnern, sondern innerhalb einer durch machttechnische Asymmetrie gekennzeichneten kommunikativen Verflechtung der beiden Diskursstränge. Darin wird der Schüler dazu gebracht, seinen Ist-Zustand preiszugeben, um diesen dann über die Prozeduren eines Feedbacks selbstreferenziell in Richtung eines systemisch zugerichteten Soll-Zustandes anpassend zu verändern. Das Ergebnis darf sich dann individual-dispositiv »gebildete« Lernkompetenz nennen.

D igitale K ompe tenz In der oben beispielhaft genannten Szenerie des Lerncoachings als Form kompetenzorientierter Bildungsarbeit steht das Beziehungs- und Interaktionsfeld zwischen Lehrern und Schülern im Mittelpunkt. Arnold Windeler lässt in seiner Untersuchung zum Thema Kompetenz auch den Soziologen Hans Geser zu Wort kommen, der in dieser Fokussierung von Kompetenzentwicklung auf den Beziehungsaspekt zwischen Lernenden und Lehrenden für individuelles Lernen allerdings ein immanentes

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Lernhindernis sieht und zu folgendem Urteil kommt: »›Organisationales Lernen‹ ist im Bildungsbereich bisher durch die pädagogische Fixierung auf interpersonelle Beziehungen sowie auf das informelle System ›Schulunterricht‹ verhindert worden« (Windeler 2014: 8). Beginnen die Erziehungswissenschaften nach Windeler heute erst die Bedeutung von Organisationen – etwa im Rahmen von Schulentwicklungsprogrammen – auszuloten, so werde die Rolle von Netzwerken für die Entwicklung individueller Kompetenzen gerade erst entdeckt (vgl. ebd.). Im Folgenden gilt es, den Kompetenzdiskurs im Lichte digitaler Vernetzung zu betrachten, »denn ein Verständnis von Kompetenzen ist in modernen Gesellschaften ohne die Berücksichtigung von Organisationen und Netzwerken kaum befriedigend zu erzielen« (ebd.: 12). Wie aber wirken sich digitale Netzwerke auf die Entwicklung individueller Kompetenzen innerhalb schulischer Lernprozesse aus? Abbildung 2: Adele Ward, o. T.

V erne t zung In seinem Text »Ordo ab Chao – Order from Noise« zeichnet der Medientheoretiker und Philosoph Dieter Mersch eine Geschichte der Maschinen und der Kanäle nach. Sie beginnt zu Zeiten der maschinellen Revolution, findet in der Kybernetik einen neuen Höhepunkt und endet bei den heutigen Netzwerktheorien. Kern seiner Betrachtungen ist ein stetig wiederkehrendes Grundproblem menschlicher Kulturen, nämlich ein

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Ordnungssystem zu produzieren und zu erhalten, indem man ein dazugehöriges universelles Gesetz sucht, formuliert und einhält (vgl. Mersch 2014: 19). Mersch markiert damit eine gesellschaftlich-funktionale MetaEbene, unter der sich auch die in diesem Text verhandelte Definition von digitaler Bildung als ein die Gesellschaft ordnendes bzw. neu ordnendes und gleichzeitig erhaltendes Prinzip einreiht. Dieses Paradigma zeigte sich schon in Ausklammerung der digitalen Vernetzung als bestimmende Komponente innerhalb des oben verhandelten kompetenzorientierten Bildungsbegriffs in einer technizistischen Logik der Übertragung, deren gouvernementale Umsetzung Mersch als Substitution des Politischen und Sozialen durch rekursive Selbstkontrolle und des Denkens durch mathematische Rekursion beschreibt (vgl. Mersch 2014: 35). Das Ansinnen seines Textes kann als medientheoretische Herausstellung jenes mathematisch-technologischen Grundprinzips gelesen werden, auf das die von Deleuze beschriebene Machtpraxis der Kontrolle über die Kommunikation auf baut. Die Ermächtigung der Handlungen und Kommunikationen zwischen den Menschen ordnet er darin explizit einer Regelung zur Selbstkontrolle zu (Mersch 2014: 23), womit sich der Anknüpfungspunkt zum Kompetenzdiskurs ergibt und sich andeutet, dass seiner Wirksamkeit innerhalb digitaler Netzwerke eine Ablösung des darin wirksamen Machttyps folgt. Die Einsetzung der Rekursion als universelles Gesetz beginnt nach Mersch mit der Überführung des begrifflichen Konzepts der aufklärerischen Vernunft in das der Technik. Im Gegensatz zu Naturphilosophie und Rationalismus, welche die Ordnung des Menschlichen noch durch die Dimension des Geistes herzustellen trachteten, trat die Technik von Anfang an in die »Dienste einer Ökonomie der Substitution, und zwar durch Ersetzung des Materiellen, das den Grund aller Hemmnis und Dysfunktionalität zu bilden schien, durch einen immateriellen Funktionalismus« (Mersch 2014: 21). Das Credo der nunmehr technologischen Kultur zielt auf eine Befreiung des Menschen in Form einer Entstofflichung der Welt. Innerhalb dessen reduziert der Mensch die Natur und ihre Kräfte auf einen nutzbaren Bestand: »Gemeint ist die ungehinderte Verfügbarkeit der Stoffe als Energien sowie die Entfesselung ihrer Dynamik bis zur totalen Beschleunigung« (Mersch 2014: 21). Diese Entwicklungen bildeten sich zum einen in der Maschine und zum anderen im Kanal, seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Kanalisierung der Kommunikation, ab.

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Erstere leistete eine Automatisierung der Produktivkräfte, durch letztere erfolgte die Distribution der Produkte, also Waren und Informationen. Technisierung erfasste sowohl Produktion als auch Distribution und damit die beiden Funktionskreise des Ökonomischen. Beispielhaft nennt Mersch die Dampfmaschine, welche Energie in Leistung und damit Arbeit überführte. Aus den Kanälen wurden neben Transportwegen zunehmend auch technische Übertragungsmedien, wie etwa die Telegrafie, später das Telefon oder der Rundfunk. Beide Formen stiegen damit zu dem Grundbegriff der technologischen Kultur auf: Übertragung (vgl. Mersch 2014: 22). Nun stellt Mersch weniger die physikalischen Maschinen in den Mittelpunkt seiner Untersuchung, sondern unterstreicht die Kanäle und ihre Systeme als maßgebendes Herrschaftsparadigma der Moderne, denn diese übernehmen die Ermächtigungen der Handlungen und Kommunikationen zwischen den Menschen. Es darf, so Mersch, gegenüber den Produktionsverhältnissen nicht übersehen werden, »dass zur Struktur des Sozialen wesentlich der Austausch gehöre« (Mersch 2014: 23), womit er Marx eine Analyse des Medialen mit der Begründung zur Seite stellt, dass sich soziale Herrschaft weniger auf die Kontrolle der ökonomischen Sphäre der Produktion auswirke »als vielmehr auf jene Prozesse, die im weitesten Sinne die Übertragung betreffen« (ebd.: 23). Netze lassen sich kybernetisch bzw. informationstheoretisch »als rekursive Kanalsysteme zum Zwecke der Effektivierung und Steuerung von Informationsströmen« (Mersch 2014: 22) beschreiben. Die einzelnen Kanäle erfüllen darin strukturell eine doppelte Funktion: Ihr Inhalt ist gleichgültig, denn sie vektorisieren lediglich Ströme, machen sie berechenbar und damit optimierbar. Darin seien wir »mit einem Willen zur Beherrschung von Bewegung durch Richtungsgebung konfrontiert, die, einmal ›orientiert‹, zugleich zu deren Akzeleration führt« (Mersch: 22). Die zweite Funktion sieht Mersch hingegen in der Eingrenzung oder Einhegung der Informationsströme, ihrer Kontrolle und Lenkung, denn einer Bewegung kann nur dann Orientierung gegeben werden, wenn diese im gleichen Maße »eingeschnürt und verdichtet wird« (ebd.). Er erläutert dies zusammenfassend wie folgt: »Kanäle sind technische Dispositive – sie bilden, so der entsprechende Ausdruck Heideggers, ›Ge-stelle‹ mit der charakteristischen Doppelstruktur einer gleichzeitigen Ermöglichung wie Eingrenzung oder, um genauer zu sein: einer Ermöglichung

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durch Beschränkung und einer Beschränkung zum Zwecke der Hervorbringung.« (Mersch 2014: 22f.)

Innerhalb digitaler Netzwerke generiert sich über diese Doppelfunktion der Kanäle nach den Prinzipien selbstreferenzieller Systeme Kommunikativität. Selbstreferenziell meint dabei »eine Kommunikation, die sich kommuniziert« (Mersch 2014: 25). Sie tut dies auf Grundlage formalisierter Definitionen von Information und Rückkopplung, die sich einer mathematischen Beschreibung von Kommunikativität als Konnektibilität, dem Modell der Turingmaschine und deren Reduktion von Mathematik auf die Pragmatik von Algorithmen, sowie der Logik von selbstreferenziellen Systemen verdanken (vgl. Mersch 2014: 26).

Technische M ediatisierung Die solcherart stattfindende technische Mediatisierung menschlicher Wahrnehmung beginnt nach Mersch optisch, er nennt stellvertretend dafür die barocke Spiegelmetapher. Deren Optik funktioniere, abgesehen von Verzerrungen, durch die Übereinstimmung von Bildraum und Gegenstandsraum und erlaube, »Betrachter und Betrachtetes wie auf einer Bühne miteinander zu verschränken und ineinander abzubilden« (Mersch 2002: 70). Es bildet sich darin das Modell eines souveränen Blicks, der selbstverständlich auch mit einer Kontrollfunktion einhergeht, denn durch das Sehen dieser Repräsentation verändert sich auch das Sehen selbst: »Das Sehen wird dem Bild der Vorstellung angeglichen, das der Funktionalität von Abbildung genügt« (ebd.). Dinge, ein Gegenüber oder sich selbst technisch in ein Bild zu setzen, beinhaltet Prozesse der optischen Berechnung. Diese manifestieren sich in der Konstruktion eines Spiegels ebenso wie in der eines Elektronenmikroskops, das für das menschliche Auge, technisch-mathematisch mediatisiert, ein möglichst exaktes und sonst unzugängliches Bild generiert, um sich des dadurch sichtbaren Teils unserer Welt funktionell zu bemächtigen. Die Struktur technischer Mediatisierung legt menschlicher Wahrnehmung darin eine Ordnung auf, innerhalb derer sich die Macht der Bilder als reflexive Form einer wiederholten Angleichung darstellt. Doch auch hier gilt es zu differenzieren, denn wie oben mit Mersch aufgezeigt besteht ein maßgeblicher Unterschied zwischen Reflexivität, die ein Bewusstsein voraussetzt,

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und Rekursionen, die auf mathematisch formalisierbaren Wiederholungen beruhen. Denn im Falle digitaler Übertragungen wird lediglich ein entmaterialisiertes Stück Wirklichkeit in Form statischer Mathematisierung transportiert, und Information bedeutet hier nichts anderes als eine Auswahlreihe von Signalen. Darin zählen weder Bedeutungen noch materielle Präsenzen, sondern allein Algorithmen (vgl. Mersch 2002: 76). Begreift man diese Prozesse insgesamt als Kommunikationen innerhalb digitaler Netzwerke, ist mit Mersch zu differenzieren und darf Kommunikativität nicht mit der Möglichkeit von Kommunikation gleichgesetzt werden, denn: »Kommunikativität und entsprechend Konnektibilität induzieren nicht schon die Möglichkeit von Kommunikation, ihre Eröffnung, soweit sie die Erfahrung der Alterität, Responsivität und performativen Reziprozität einschließt, vielmehr garantiert sie alleine eine Übertragbarkeit« (Mersch 2014: 27).

Die Wirklichkeit zerfällt somit innerhalb mathematisierter Kommunikativität in ein Ensemble diskreter Daten, und diese »lassen sich beliebig konfigurieren und konzeptualisieren, eben weil ihnen jede Bedeutung, ebenso wie das Gewicht ihrer Materialität fehlt« (Mersch 2002: 77). Insgesamt lässt sich genau dieses Szenario dann auch in Begrifflichkeiten des durch Norbert Wiener geprägten Zweigs der Kybernetik fassen, die diesen Vorgang als »rekursive Anpassung der Systeme an ihre Umwelt durch Adaption fremder Elemente« (Mersch 2014: 31) beschreibt. Die Leistung der Rekursionen besteht, so Mersch, in einer systemischen Reproduktion durch Inklusion: »Ihre Entsprechung findet sich heute in der Artificial Life- und Intelligence-Forschung sowie in den verschiedenen Selbstevaluierungs- und -optimierungspraktiken der Deleuze`schen ›Kontrollgesellschaft‹. Sämtlich zielen sie auf die Produktion offener Regelkreisläufe […], und zwar so, dass sie ohne Zentrum oder, im Falle von Persönlichkeitsentwicklungen oder der Ausbildung stabiler gesellschaftlicher Strukturen, ohne jede autoritäre Macht oder Disziplinarordnung auskommen.« (Mersch 2014: 31)

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Abbildung 3: Hagen Steffel, o. T.

B ildung digitaler K ompe tenz Anhand der gewonnenen Erkenntnisse dieses Abschnittes lässt sich nunmehr genauer bestimmen, inwiefern die Fokussierung von Kompetenzentwicklung auf den Beziehungsaspekt zwischen Lernenden und Lehrenden für »individuelles Lernen« tatsächlich ein Hindernis für das Lernen in Netzwerken darstellt. Betrachtet man das Feedback als Mediatisierungstechnik im Sinne der von Mersch eingebrachten barocken Spiegelmetaphorik, so zeigt sich der Lehrende dem Lernenden dieser Methode entsprechend und in metaphorischem Sinne als repräsentatives Bild seiner selbst und bringt ihn dazu, sich mit souveränem Blick zu berechnen. Durch das Sehen seiner Repräsentation verändert sich auch der Blick auf sich selbst, und er bemüht sich, sich seiner selbst funktionell und damit selbsttechnologisch in Analogie zu einer mathematischen Rekursion zu bemächtigen. Die Funktion des Lehrers innerhalb einer interpersonellen Konstellation von Kompetenzentwicklung erweist sich beim individuellen Lernen im Netz als obsolet und zeigt den Lehrer dann tatsächlich als den digitalen Informationsfluss störend. Darin bedarf es keines realen Gegenübers und auch keines Lerncoaches mehr, eine zwischenmenschli-

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che Vertrauensbasis, um den Schüler zum Sprechen zu bringen, erübrigt sich. Denn in dem Moment, in dem Kommunikativität Kommunikation ersetzt, weicht die Vermittlung der Übertragbarkeit, deren Regime die technisch-mathematische Mediatisierung menschlicher Wahrnehmung betreibt und sinnlich entleerte Repräsentationen als Universalien totalitär setzt. Geträumt werden darf dabei von einem entfesselten E-Learning, von diesbezüglichen Anwendungsmöglichkeiten einer bildungspolitisch regulierbaren Auswertungslogik à la Big Data, einer Ausschöpfung der Möglichkeiten des Quantified-Self unter der Kontrolle algorithmischer Berechenbarkeit von Lernprozessen samt korrelierender Diagnostik und Prognostik. Der Kompetenzdiskurs schmiegt sich diesen Entwicklungen an, wie er sie auch vorbereitet hat. Er zeigt seine Kompatibilität sowohl als System, das sich durch das Prinzip dynamischer Stabilität auszeichnet, als auch in seiner selbstreferenziellen Operationsweise.

E pilog Die »Risiken des Umgangs mit neuen Medien« werden in der Pressemitteilung des BMBF nur lakonisch bedacht. Eine genauere Beschreibung derselben findet sich in einem 25 Jahre alten Buch. Knapp sechs Jahre nach dem Tode Michel Foucaults schrieb Gilles Deleuze in seiner 1990 auf Französisch erschienenen Textsammlung »Unterhandlungen« von der Ablösung der foucaultschen Disziplinarmacht durch eine neue, hegemonial werdende Macht, welche ihre Wirkung als Kontrolle über die Kommunikation entfalte. In einem untypisch dystopischen Moment seines Denkens beschrieb Deleuze seinerzeit verblüffend weitsichtig, wie sich unter dieser Machtpraktik das Programm der Schulentwicklung im digitalen Zeitalter entfalten könnte: »Wir treten ein in Kontrollgesellschaften, die nicht mehr durch Internierung funktionieren, sondern durch unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation […]. Gewiß, man spricht ständig vom Gefängnis, von der Schule, vom Hospital: diese Institutionen befinden sich in der Krise. Sie sind zwar in der Krise, aber gerade weil sie anachronistisch sind. Denn allmählich entwickeln sich neue Typen der Sanktionierung, der Erziehung und der Krankenpflege. […] Und es ist absehbar, daß die Ausbildung nicht länger ein geschlossenes Milieu bleiben wird, das sich von der Arbeitswelt als anderem geschlossenen Milieu unterscheidet, son-

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dern daß beides verschwinden wird zugunsten einer schrecklichen permanenten Fortbildung, einer kontinuierlichen Kontrolle […]. Es geht nicht um eine Reform der Schule, wie man sie uns vorgaukelt, sondern um ihre Liquidierung.« (Deleuze 1993: 250ff.)

Die »Bildung digitaler Kompetenz« ist Dreh- und Angelpunkt einer Bildungsinitiative, die den Menschen befähigen will, sich als selbstbestimmte Persönlichkeit in einer sich beständig verändernden Gesellschaft zurechtzufinden und verantwortungsvoll seine eigenen Lebensentwürfe zu verfolgen. Wie sich zeigte, scheint das Setzen auf Kompetenzen jedoch das Gegenteil zu bewirken. Und doch sollen nicht nur, sondern müssen – da bildungspolitisch angeordnet – die spezifischen Herausforderungen einer »digitalen Wissensgesellschaft« damit gemeistert werden. In Form der staatlichen Verabreichung eines Aspirins scheinen Kompetenzen insgesamt jedoch jeglichen Kopfschmerz des Bildungswesens bezüglich der fachspezifischen pädagogischen Herausforderungen des digitalen Zeitalters sediert zu haben, denn alternative Behandlungsmethoden werden schlichtweg ignoriert.2 Rahmenrichtlinien für das Fach Kunst fordern digitale Bildung etwa über die Vermittlung fachspezifischer Kompetenzen; so muss Kunstunterricht der Topik entsprechend zum Zwecke des Erwerbs digitaler Bildkompetenz oder Medienkompetenz konzipiert werden. Statt die in der Kunstvermittlung über Jahre entwickelten Konzepte adaptierend zu verwässern oder gar ganz über Bord zu werfen, sollte im Rahmen schulischer Bildung doch vielmehr von Interesse sein, welchen spezifischen Bildungsbeitrag das Fach Kunst und dessen kunsthafte Vermittlungsformen innerhalb der neuen Herausforderungen des Gefüges zwischen Mensch und digitalen Übertragungstechniken leisten könnte, anstatt diese einer szientistischen Methodik unterzuordnen. Denn gerade die Möglichkeiten ästhetischer Bildungsprozesse gestatten einen Umgang mit den Kommunikationstechnologien unserer Zeit, der eben nicht in funktionalen Anpassungen aufgeht.

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A nmerkungen 1 | Kritisch dazu Matthias Burchardt und Ralf Lankau: Trojaner aus Berlin: Der ›Digitalpakt#D‹, GBW (Gesellschaft für Bildung und Wissen e.  V., in: https://bildung-wissen.eu/kommentare/trojaner-aus-berlin-derdigitalpaktd.html vom 02.11.2016. 2 | Eine lesenswerte Kritik der Kompetenzorientierung liefert etwa Jochen Krautz: Kompetenzen machen unmündig. Streitschriften zur Bildung, Heft 1., Hg. Fachgruppe Grundschulen der GEW BERLIN. Berlin, Juni 2015, in: https://www.gew-berlin.de/13418.php vom 24.12.2016.

L iter atur Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses, 11. Aufl. 1993, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mersch, Dieter (2002): Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mersch, Dieter (2014): Ordo ab chao/Order from Noise. Überlegungen zur Diskursgeschichte der Kybernetik, Paderborn: Wilhelm Fink. Truschkat, Inga (2010): Kompetenz – Eine neue Rationalität sozialer Differenzierung?, in: Kurtz, Thomas/Pfadenhauer, Michaela (Hg.), Soziologie der Kompetenz. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Türcke, Christoph (2016): Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, München: C. H. Beck. Windeler, Arnold/Sydow, Jörg (Hg.) (2014): Kompetenz. Sozialtheoretische Perspektiven, Wiesbaden: Springer Fachmedien. Bröckling, Ulrich (2006): Und … wie war ich? Über Feedback, https:// www.soziologie.uni-freiburg.de/personen/broeckling/dokumente/6und-wie-war-ich-mittelweg36.pdf/view vom 24.12.2016. Wanka, Johanna (2016): Digitale Bildung, Pressemitteilung 120/2016 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, in: https://www. bmbf.de/de/bildung-digital-3406.html vom 14.10.2016. Wiener, Norbert (1958): Mensch und Menschmaschine, Berlin: Ullstein.

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A bbildungen Abbildung 1: © Hagen Steffel, o. T., 2015 Abbildung 2: © Adele Ward, o. T., 2015 Abbildung 3: © Hagen Steffel, o. T., 2016

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Spiele des Nichtidentischen – Performanz und Resonanz in der künstlerischen Bildung Carl-Peter Buschkühle

K ompe tenzorientierung und P r agmatismus Wenn es um die Frage geht, was denn unter Kompetenzen als Bildungsziele zu verstehen ist, dann wird immer wieder die Definition von Franz Weinert herangezogen. Kompetenzen sind demzufolge »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (Weinert 2001: 27f.). Kompetenzen sind also kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten. Was damit gemeint ist, wird zunächst nicht genau definiert, aber der Begriff der Kognition trägt weit: Er umfasst nicht nur rationale, sondern auch emotionale Denkprozesse sowie Vorstellungen, die durch die Einbildungskraft hervorgebracht werden. Legt man der Kompetenzdefinition diesen weiten Kognitionsbegriff zugrunde, so ist zunächst keine Einschränkung des Lernens angelegt. Die Wendung folgt aber unmittelbar: Die Kompetenzen sind darauf ausgerichtet, bestimmte Probleme zu lösen und diese Problemlösefähigkeiten in verschiedenen Situationen erfolgreich und verantwortlich nutzen zu können. Auch dies klingt zunächst ganz folgerichtig, denn: »Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir«, wie der berühmte Spruch Senecas besagt. Was hier mit der Ausrichtung des Lernens auf erfolgreiche Situationsbewältigung gemeint ist, ist das, was in den PISA-Evaluationen als »pragmatische« Ausrichtung der Bildungsanstrengungen bezeichnet wird. Pragmatisch heißt in diesem Zusammenhang: tauglich für die Pra-

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xis. Welche Praxis? PISA untersucht bekanntermaßen die Lernerfolge im Hinblick auf die folgenden Kulturkompetenzen: Sprache, Mathematik, Naturwissenschaften, soziales Lernen. Betrachtet man die Aufgaben und Erwartungshorizonte, dann geht die Pragmatik so weit, dass bei den sprachlichen Kompetenzen die Fähigkeit, Gebrauchstexte zu lesen, und beim sozialen Lernen Teamfähigkeit im Vordergrund steht, aber weniger ethisch-moralische oder gesellschaftlich-politische Kompetenzen. Inwiefern Mathematik und Naturwissenschaften basale Kulturkompetenzen sind, ist nicht klar, während ästhetische Kompetenzen ganz ausgeklammert bleiben. Brauche ich erweiterte Fertigkeiten in Mathematik oder Naturwissenschaften als Grundlage für ein selbstbestimmtes gesellschaftliches Leben? Benötige ich ästhetische Kompetenzen, um in einer ästhetisch aufgerüsteten Alltagskultur selbstbestimmungsfähig zu bleiben? In der gegenwärtigen kunstpädagogischen Debatte im deutschsprachigen Raum wird die »Bildkompetenz« als zentrale Begrifflichkeit benutzt, um die Bildungsrelevanz des Faches zu betonen (Bering/Niehoff 2013). Die dabei angegebenen »Dimensionen« der Bildkompetenz stellen kognitive Leistungen in den Vordergrund, die im Wesentlichen auf rationalen Wahrnehmungs- und Denkprozessen basieren. Rolf Niehoff nennt hier Dimensionen wie bildstrukturale und bildinhaltliche oder cross-mediale und bildgeschichtliche Dimensionen (Niehoff 2011: 204ff.). Diese beziehen sich allesamt auf das Verhältnis zwischen der Analyse formaler Eigenschaften eines Werkes und der Deutung seiner inhaltlichen Aussage. Auch die biografische Dimension, die den Einbezug der eigenen Person mit ihren Erfahrungen und Fragen meint, sowie die komparative Ebene, die sich auf den Unterschied zwischen Bild- und Wortsprache bezieht, sind rationale Operationen. Überdies sind diese Bildkompetenzen zunächst auf die Bildrezeption beschränkt, während der Bereich der Bildproduktion in den Überlegungen nicht vorkommt. Damit fehlt der Kernbereich der Performanz in der künstlerischen Bildung. Den hat eine andere prominente Stimme der aktuellen Fachdiskussion zwar im Blick, aber dennoch gelingt ihr nur eine weitere Eingrenzung der Bildungsdimensionen des Künstlerischen. Franz Billmayer schwenkt vollständig auf den Bildungspragmatismus der Kompetenzorientierung ein, wenn er als mögliche Aufgabenstellung vorschlägt, man solle mit den Schülern zum Beispiel Kompetenzen üben, die für die »Erstellung einer

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Dokumentation eines Betriebsausfluges« erforderlich seien. Billmayer sagt unumwunden: »Dies ist ein pragmatischer Ansatz: Kompetenzen werden gebraucht, um Probleme zu lösen« (Billmayer 2015: 20). So wird geübt, »den Regeln und Konventionen« des »Genres« gerecht zu werden. Es sollen zentrale Ereignisse und Orte gezeigt werden – Landschaft, Sehenswürdigkeiten, gemeinsames Essen, lustige Begebenheiten. Ferner lachende, glückliche Menschen mit natürlichen Gesten in entspannten Situationen (ebd.). Was hier passiert, zeigt, wohin der Pragmatismus der Kompetenzorientierung führen kann: Bildung wird durch Ausbildung ersetzt. Im Beispiel von Billmayer wäre noch eher von »Coaching« zu sprechen. Es geht um die vollständige Anpassung an das, was die »Situation«, in der die Kompetenzen »erfolgreich genutzt« werden sollen, an Anforderungen stellt. Von kritischer Reflexion und emanzipiertem Individuum ist nicht mehr die Rede – gecoacht werden willfährige Funktionäre. Das alte Bildungsideal der Persönlichkeitsbildung, welches viele Unterrichtsrichtlinien der deutschen Bundesländer einst mit der Formel »Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung« umschrieben, kommt gar nicht mehr vor. Hier wird auch die rationale Kognition minimiert, indem die kritisch-reflexive Distanz zum Gegenstand aufgegeben wird. Performanz wird pragmatisch geübt, nach Maßgabe der situativen Ansprüche. Von Resonanz ist die Rede, ohne darin jedoch ein kritisches Bildungsmoment zu erkennen. Wenn lustige Situationen und glückliche Menschen auf dem Betriebsausflug gezeigt werden sollen, dann sind die herzustellenden Bilder auf eine entsprechende emotionale Resonanz beim Betrachter angelegt. Welchen Sinn das macht, welche Klischees damit bedient werden, wie »echt« oder »gestellt« das wirkt, wird außer Acht gelassen.

P ol aritäten künstlerischen D enkens In künstlerischen Bildungsprozessen werden kognitive Kompetenzen geübt. Dabei wird der Kognitionsbegriff vollumfänglich zugrunde gelegt, während rationale Rezeptions- oder pragmatische Schulungsprozesse Wege der Reduktion des künstlerisch Denkbaren und somit Bildbaren darstellen. Ein Problem der kunstpädagogischen Theoriebildung besteht darin, dass eine grundlegende Bezugswissenschaft zu wenig zurate gezogen wird: Es ist die Philosophie, die in Form der ästhetischen Theorie eine lange Tradition der Frage nach der Kunst und nach den künst-

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lerischen Denkprozessen aufweist. Seit die Ästhetik als philosophische Disziplin durch Alexander Gottlieb Baumgarten begründet wurde1, sind viele Theorien zum Künstlerischen formuliert worden. Immer ist dabei – in unterschiedlichen Ausprägungen und Begrifflichkeiten – von einer Komplexität die Rede, die sich in polaren Verhältnissen ausdrückt. Betrachtet man allein den deutschsprachigen Raum, stößt man auf eine Reihe prominenter Beispiele. So fasst etwa Friedrich Schiller die künstlerische Polarität in den Antagonismus von Stoff- und Formtrieb, der sich im Spieltrieb der Kunst synthetisiert (vgl. Schiller 1795). Friedrich Nietzsche indes bemüht zwei griechische Gottheiten zur Beschreibung des Künstlerischen: Dionysos, den Gott der Erde und des Rausches, und Apoll, den Gott des Lichtes und des Maßes (vgl. Nietzsche 1872). Theodor W. Adorno spricht vom Verhältnis von Mimesis und Konstruktion in der Produktion und Rezeption von Kunstwerken (vgl. Adorno 1970), Joseph Beuys, Künstler und Theoretiker, ist in der Kunst nach eigenen Angaben auf der Suche nach »Element 3«, der Synthese von Intuition und Rationalität (vgl. Beuys Aktion »Manresa« 1966; vgl. auch Buschkühle 1997: 121ff.). Die genannten Polaritäten beinhalten das Moment der Resonanz. Es ist elementar für das künstlerische Denken und steht in dynamischer Beziehung zur Rationalität mit ihren Aspekten des Wissens und der Reflexion. Sie drückt sich aus in Begriffen wie Intuition oder Mimesis. Mimesis ist für Adorno die Art und Weise, wie sich der Betrachter dem Rätsel des Kunstwerkes annähert (vgl. Adorno 1980: 190ff.). George Didi-Huberman unterstreicht in seinen Studien zu Aby Warburg die Bedeutung, die in dessen Konzept von Kunst und Kunstgeschichte die Einfühlung als das bewegende Element einnimmt, welches das Kunstwerk in seinem Ausdruck und seiner Anmutung zu einer lebhaften Erfahrung werden lässt (vgl. Didi-Huberman 2010: 431ff.). Intuitiv erfasst der Betrachter die Wirkung der Form, intuitiv reagiert der Künstler auf die Ansprüche, die die Form des entstehenden Werkes an ihn stellt. Kandinsky spricht in diesem Zusammenhang von einer »inneren Notwendigkeit«, mit der bestimmte formale Entscheidungen getroffen werden (vgl. Kandinsky 1912, 2004). Beuys erläutert, dass man dem nachspüren müsse, wohin das Werk von sich aus will, damit es am Ende nicht an sich leide (vgl. Beuys in Harlan 1988: 44). Das deutet darauf hin, dass die Künstler nicht machen können, was sie wollen, sondern dass sie auf ihr Werk reagieren müssen. Adorno beschreibt es so:

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»Die Aufgaben tragen ihre objektive Lösung in sich, wenigstens innerhalb einiger Variationsbreite, obwohl sie nicht die Eindeutigkeit von Gleichungen besitzen. Die Tathandlung ist das Minimale, zwischen dem Problem zu vermitteln, dem er sich gegenüber sieht und das selbst bereits vorgezeichnet ist, und der Lösung, die ebenso potentiell in dem Material steckt.« (Adorno 1980: 249)

Abbildung 1: C.-P. Buschkühle: Tafelzeichnung »Künstlerische Kommunikation« nach Beuys

Beuys fasst die künstlerische Kommunikation in eine Abwandlung des Sender-Empfänger-Modells. Bei ihm geht die Aktivität, die Aufmerksamkeit, vom Empfänger aus. Das »E« ist umgedreht und wendet sich dem Gegenüber, dem Sender, zu. Die gekrümmte Linie geht von dort zurück zum Empfänger, der auf das »hört«, was der Sender – das Werk, der Gegenstand, die Person, die Handlung … – ihm »sagt« (vgl. dazu die Aktion »Eurasienstab«, 1967, 1968). Hartmut Rosa erkennt im Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk ein »prekäres Antwortgeschehen, das der Schaffende als künstlerisches Ringen erfährt« (Rosa 2016: 478). Insofern handelt es sich in der Resonanz von Künstler und Werk um ein doppeltes Bildungsgeschehen. »Fabricando fabricamur«, so bezeichnet es Wilhelm Schmid – im Machen werden wir verändert (Schmid 1998: 137, 242, 313). Hartmut Rosa äußert sich in seiner Resonanztheorie des Künstlerischen diesbezüglich ambivalent: Künstler, wie auch Betrachter, befinden sich in der Situation

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vom Werk berührt zu werden. Wenn diese Berührung in Ergriffenheit umschlägt, verlieren sie – Autor wie Betrachter – die Fähigkeit, »selbstwirksam« zu sein und sich so zu erfahren. Überwältigung verhindert Resonanz auf das Werk, in der Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung eine Rolle spielen, wofür die Möglichkeit der Distanznahme vorhanden sein muss. Überwältigung wäre mithin wenig bildungswirksam, da sie die Beteiligten quasi »besinnungslos« und somit »unmündig« macht. In anderer Hinsicht geht bei Rosa die Bildungswirksamkeit der künstlerischen Performanz auch verloren. Der virtuose Künstler, sagt er, müsse von seiner Kunst »beseelt« sein. Diese Beseelung könne man nicht üben (vgl. Rosa 2016: 475). Das mag so sein. Aber darum geht es in künstlerischen Bildungsprozessen auch nicht. Das Ziel ist hier – in Produktion wie Rezeption – die Bildung eines künstlerischen Denkens. Nach dem, was bisher über Denken im künstlerischen Kontext gesagt wurde, zeichnet es sich dadurch aus, dass es nicht auf rationale Operationen reduziert ist, die indes nicht preisgegeben werden, und dass es ein Denken in Polaritäten ist, die sich nicht wie Antagonismen ausschließen – denn dann könnten sie nicht produktiv sein. Aus ihrem Verhältnis zueinander entspringt ihre Dynamik, die im »Ringen« des Künstlers um sein Werk, aber auch des Betrachters um dessen Erfahrung und Deutung in Bewegung ist. Stellt man den Fokus etwas feiner, ergeben sich mehrere Elemente eines künstlerischen Denkens, die in den polaren Verhältnissen von Mimesis und Rationalität, von Resonanz und Reflexion enthalten sind. Es ist eine einfühlsame Wahrnehmung am Werk, eine kritische Reflexion von Zusammenhängen, wesentlich aber auch eine eigenständige Imagination. Hinzu kommt eine Übung des Willens, denn ohne »guten Willen« kommt keine Erfahrung, keine Einsicht und keine Gestaltung zustande. Schließlich braucht das Künstlerische, um real zu werden, ausgebildete Fertigkeiten, die es unter Gebrauch bestimmter Medien zutage fördern.

P erformanz und R esonanz in der künstlerischen B ildungspr a xis In der kunstpädagogischen Debatte sind Ansätze einer Produktionsdidaktik vergleichsweise rar. Viele Autoren bewegen sich auch heute noch im Fahrwasser der Didaktik Gunter Ottos, die einen Schwerpunkt auf Verstehensprozesse im Hinblick auf Kunstwerke und andere Bilder legte

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(Otto 1987). Künstlerische Bildung findet sinnvollerweise in künstlerischen Projekten statt, die ihren Fokus auf den Gestaltungsprozess der Schüler richten und Recherchen von relevantem Wissen und die Analyse von Bildern darin integrieren (vgl. Buschkühle 2017). Es ist ein Lernen, in dem die Performanz der Beteiligten eine zentrale Rolle spielt. Lehrende sind in diesen Prozessen Initiatoren, Begleiter, Anreger, kritische Fragesteller, Bestärker, Aufgabensteller, Hinweiser. Strukturierte künstlerische Projekte verbinden Elemente des Unterrichts mit solchen der experimentellen Arbeit des Einzelnen. Solche Strukturen sind so lange notwendig, wie die Lernenden nicht genügend Erfahrung gesammelt und Kompetenzen gebildet haben, um selbst ihre Arbeitsprozesse zu bestimmen. Das Beispiel einer Schülerinarbeit aus einem Projekt in einer achten Klasse am Gymnasium soll Einblicke geben in das, was im Resonanzgeschehen in der künstlerischen Praxis von Lernenden im Hinblick auf die Entwicklung künstlerischen Denkens bildend wirken kann. Abbildung 2: Schülerinarbeit aus dem Projekt »Unbekannte Dinge« (Klasse 8, Gymnasium)

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Im Projekt »Unbekannte Dinge« stellte eine Schülerin ein plastisches Gebilde aus gefundenen Hölzern, Textilien und einem Kabelstück zusammen. Die Herausforderung bestand darin, aus den Elementen eine Form zu erstellen, die »stimmig« ist. Was aber heißt das? Hier nimmt ein umfangreiches Resonanzgeschehen seinen Lauf: Einfühlsame Wahrnehmung ist gefragt, um die Einzelteile in ihrer Besonderheit erst zu erfassen. Imagination ist gefordert, um sich vorstellen zu können, wie diese Elemente zusammenpassen könnten. Kritische Reflexion fußt dann auf erneuter Wahrnehmung dessen, was die Konstellation der Materialien ergibt, und wendet Wissen hinsichtlich verschiedener Aspekte der plastischen Gestaltung an, die bedeutsam werden und der Formfindung dienen. So sind Fragen der Mechanik und der Statik zu lösen, wobei keine externen Hilfsmittel wie Klebstoffe, Nägel oder Schrauben zur Hand genommen werden sollten. Die Plastik sollte sich aus dem Verhältnis der Materialien selbst ergeben. Diese Anforderung erwies sich als ein wesentlicher Impuls, um so etwas wie eine »Formlogik« herauszuarbeiten. Bei den unbekannten Dingen, die die Schüler »erfinden« sollten, standen keine Vorbilder zur Verfügung, nur vielfältige Materialien, aus denen etwas Neues entstehen konnte. Die Dinge konnten eine fiktive Funktion erfüllen und so einen »Sinn« ergeben. Sie konnten aber auch frei, experimentierend zusammengesetzt werden. Die anfängliche Verwendung von Klebstoff führte hier zu völlig willkürlichen Ergebnissen, die keinen »Sinn« ergaben, wo die Form mithin »nichtssagend« blieb. Wurden die Materialien aber so zusammengefügt, dass sie sich selbst Halt geben, wurde eine »logische« Verbindung zwischen ihnen erzeugt, die zunächst rein mechanischer Natur war. Hier waren Beobachtungsgabe und praktisches Wissen gefordert. Um eine Form wie die des Holzobjekts zu erstellen, braucht es jedoch mehr: Hilfreich waren aus Beobachtungen gewonnene Kriterien. Welche Materialien passen zueinander? Dafür gibt es keine Regel, das muss man »erspüren«. Eine dynamisch bewegte statt einer statischen Form wirkt lebendiger und ist anspruchsvoller. Diese Bewegung sollte so sein, dass die Plastik von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet verschiedene Anblicke ergibt. Kontrastverhältnisse erwiesen sich als fruchtbares Leitmotiv. Bei der Holzplastik waren das Volumen-/Körperformen, Flächenformen und lineare Formen. Diese wurden an gegebenen Stellen zusammengefügt, Textilien wie Jute und Wollfaden ermöglichten durch Umwindungen eine weitere Stabilisierung der Teile. Weitere Kontraste ergaben sich aus der Verwendung von natürlich

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gewachsenem Holz und bearbeitetem Holz, weichen Stoffen und harten Stoffen, geschlossenen Formen und offenen Formen, rechtwinkligen, diagonalen und verschlungenen Bewegungsrichtungen sowie Größenverhältnissen. Bei aller Gegensätzlichkeit stiftet die gebrauchte Oberfläche aller Teilelemente einen weiteren Zusammenklang zwischen ihnen, sodass ein Ganzes entstehen kann, in dem die Teile sowohl sich selbst repräsentieren als auch in Beziehung zueinander treten. Wenn bei der Erläuterung der Schülerinarbeit vom »Sinn« die Rede ist, den die Form macht, von ihrer »Logik«, dann sind das Begriffe, die aus dem rationalen Bereich stammen. Augenscheinlich ergibt die Form der Holzplastik keinen Sinn im Sinne von »es ist zu etwas zu gebrauchen«, mithin erfüllt sie einen Zweck oder bedeutet etwas, ist Symbol eines komplexen Inhalts. Der Sinn der Verbindung der Teilelemente in dieser Montage-Arbeit ist der, dass diese Verbindung die Logik der Form ausmacht. Diese Logik trägt den Zweck in sich selbst, verweist auf nichts Abzubildendes oder praktisch Funktionierendes. Es ist eine formale Logik, die Kandinsky etwa mit der inneren Notwendigkeit von Formentscheidungen umschrieb. Diese Logik ist mimetisch zu erfassen, im Gespür für die materialen und formalen Eigenschaften der Teile und des Ganzen, das sie ergeben. Sie entsteht als intuitive Logik im prekären Antwortgeschehen zwischen der Schülerin und den Dingen und Maßnahmen, die ihr Werk ergeben. Dabei ist sie einerseits berührt von der Anmutung der Fundstücke und der entstehenden Form, andererseits erfährt sie sich als selbstwirksam, indem sie diese Form zwischen Versuch und Irrtum, zwischen Chaos und Klärung experimentell hervorbringt. Sie verbindet die Einfühlung ins Material und die Erscheinung des Ganzen mit Vorstellungskraft, die Möglichkeiten der Weiterarbeit erahnen lässt, sowie mit Wissen um relevante Sachverhalte: Mechaniken der Verbindung, dynamische Statik, benennbare Kontrastverhältnisse der Elemente. Rosa spricht vom Ringen ums Werk, wohingegen Beuys den kreativen Prozess als Bewegung zwischen Chaos und Form ansiedelt. Mithin ist der Wille mobilisiert, um dieses Gebilde zu erschaffen, denn so etwas zu finden und zu erfinden, läuft nicht glatt, sondern fordert heraus, manche Schwierigkeit zu überwinden, alternative Lösungen zu erproben, mit vorübergehendem Scheitern fertigzuwerden. Beim Machen werden die handwerklichen Fertigkeiten geübt, die vonnöten sind, damit das Werk entsteht.

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Dieser künstlerische Produktionsprozess ist ein Lernen, in dem Performanz und Resonanz wesentliche Rollen spielen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein »abstraktes« Werk. Ein Werk, welches sich mit einem bestimmten Inhalt befasst und diesen zur Darstellung bringt, müsste auf der Seite der Reflexion des zu transformierenden Wissens auch relevante inhaltliche Sachzusammenhänge recherchieren und in die Form einarbeiten – wobei die Form dann den Inhalt ausmacht, soll das Werk nicht vordergründige Illustration der Aussageabsicht werden. Auch dazu sind wiederum Resonanz, einfühlsame Wahrnehmung und kritische Reflexion der Form in ihrer Wirkung vonnöten.

M or alität des K ünstlerischen – K ultur der F r age Was so geübt wird in der Produktion wie auch in der Rezeption im künstlerischen Kontext, ist eine Kultur der Frage. Sie steht im Kontrast zu einer Kultur der Anordnung, die Menschen, Dinge, Handlungen anordnet, sie in bestimmte pragmatische Kontexte setzt, wo sie nach der leitenden Intention in einer bestimmten Ordnung funktionieren müssen. Pragmatische kompetenzorientierte Bildung hat etwas von einer solchen Kultur, die dem Kapitalismus grundsätzlich eigen ist. Wissen wird angeordnet und so geordnet vermittelt, dass es in der Abprüfung als ordentlich gelernt nachgewiesen werden kann, was bedeutet, dass es sich in die Ordnung der Produktionsverhältnisse, denen es dienen soll, einfügt. Billmayers Lernen für eine Dokumentation des Betriebsausflugs ist ein solches Lernen für die Anwendung gemäß einer geltenden Ordnung. Das experimentelle Arbeiten am künstlerischen Werk übt stattdessen eine Grundhaltung der Frage gegenüber dem Objekt – wie es Beuys in seinem künstlerischen Kommunikationsmodell mit dem zugewandten, aktiven Empfänger andeutet. Diese Hinwendung, die für das Besondere im Gegenüber aufmerksam ist und darauf reagiert, deutet es nicht als etwas Allgemeines (»Stück Holz«), lässt es nicht verschwinden als Mittel für andere Zwecke (»Holzrahmen«). Sie erkennt das Ding als Selbstzweck, in seiner eigenen Erscheinung, mit seinen jeweils besonderen Eigenschaften. Der Gegenstand wird in der Kultur der Frage zum Nicht-Identischen (vgl. Adorno 1966, 1980; vgl. auch Mersch 2002: 266ff.2). Hierin liegt die eigentümliche Moralität des Künstlerischen. Moralisch ist nicht eine Kunst, die hehre Ideale pathetisch inszeniert, wie zum

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Beispiel die Propaganda des »Sozialistischen Realismus«. Moralischer als Pathosgesten zur »Völkerfreundschaft« wäre zum Beispiel das kleine Spargel-Stillleben von Eduard Manet. Hier steht das Erlebnis des Besonderen im Mittelpunkt, welches von diesem unscheinbaren Gegenstand ausgeht und im Künstler so viel Resonanz seines Wahrnehmens und Denkens auslöst, dass er daraus eine Vergegenwärtigung des Erlebten in der von ihm gefundenen impressionistischen Form schafft. Die Aufmerksamkeit für das Besondere fußt auf der Aktivierung der Einfühlung, der Reflexion und der Vorstellungskraft. In heterogenen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen ist die Fähigkeit, das jeweils Besondere zu erfassen und darauf schöpferisch und selbstwirksam zu reagieren, eine basale Kulturkompetenz der Lebenskunst.

A nmerkungen 1 | Weinert definiert Kompetenzen als individuelle, leistungsbezogene Eigenschaften, »mentale Voraussetzungen für kognitive, soziale und berufliche Leistungen« (Weinert 1999). Kompetenzen sind die »kognitiven, affektiven, persönlichen und sozialen« Fähigkeiten, gegebene Ressourcen und Potenziale zu einem gesetzten Ziel zu führen (vgl. Maurer/Garzeler 2005 zit.n. Treichel 2011: 271). 2 | Mersch neigt allerdings zur Überspitzung einer »Ethik ästhetischer Performanz«, indem er gegenüber dem Sein-Lassen des Gegenstandes die für das Handeln notwendigen Eingriffe minimieren will und stattdessen »zur Disziplin einer Hinnahme, zur Askese einer ›Akzeptanz‹« verleiten will (Mersch 2002: 286).

L iter atur Adorno, Theodor W. (1966; 1980): Negative Dialektik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1970; 1980): Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bering, Kunibert/Niehoff, Rolf (2013): Bildkompetenz: eine kunstdidaktische Perspektive, Oberhausen: Athena.

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Billmayer, Franz (2015): … nächste Woche ist Betriebsausflug. Visuelle Kompetenzen in speziellen Situationen, in: BöKWE 2_2015, S. 20-23. Buschkühle, Carl-Peter (1997): Wärmezeit. Kunst als Kunstpädagogik bei Joseph Beuys, Frankfurt a.M.: Peter Lang. Buschkühle, Carl-Peter (2017): Kunst als Bildung, Oberhausen: Athena. Harlan, Volker (1988): Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys, Stuttgart: Urachhaus. Didi-Huberman, George (2010): Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin: Suhrkamp. Kandinsky, Wassily (1912; 2004): Über das Geistige in der Kunst. Insbesondere in der Malerei, Bern: Benteli. Mersch, Dieter (2002): Ereignis und Aura. Untersuchung zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Niehoff, Rolf: Bildung – Bild(er) – Bildkompetenz(en), in: Bering, Kunibert und Cornelia (2011): Konzeptionen der Kunstdidaktik. Dokumente eines komplexen Gefüges, Oberhausen: Athena, S. 201-207. Nietzsche, Friedrich (1872): Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, in: Werke in drei Bänden, Bd. 1, hg. von Karl Schlechta (1994), München/Wien: Hanser. Otto, Gunther und Maria (1987): Auslegen. Ästhetische Erziehung als Praxis des Auslegens in Bildern und des Auslegens von Bildern, Velber: Friedrich. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp. Schiller, Friedrich (1795; 1979): Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart: Reclam. Schmid, Wilhelm (1998): Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weinert, Franz E. (2001): Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim/ Basel: Beltz.

A bbildungen Abbildung 1: C.-P. Buschkühle: Tafelzeichnung »Künstlerische Kommunikation« nach Beuys, © Carl-Peter Buschkühle Abbildung 2: Schülerinarbeit aus dem Projekt »Unbekannte Dinge« (Klasse 8, Gymnasium), © Carl-Peter Buschkühle

Fragmente zu einer »Generativen Resonanzästhetik« Pierangelo Maset für Michael Hieronymus Schmidt

Die gegenwärtige Situation der Kunstvermittlung ist als zwiespältig einzuschätzen. Einerseits gibt es höchst interessante Weiterentwicklungen, andererseits hat eine völlige Indienstnahme durch neoliberale CoachingStrategien in den Institutionen stattgefunden. 2016 veranstaltete das »Berlin Career College«, das zur Universität der Künste gehört, den »Zertifikatskurs Besucherorientierte Kunstvermittlung«. Im dazu passenden Flyer wurden die Ziele und Methoden des Kurses wie folgt beschrieben: »Modul II bietet eine intensive Auseinandersetzung mit aktuellen Lehr-Lern-Theorien. Die derzeit wichtigen Lern- und Motivationstheorien werden vorgestellt und auf ihre Anwendbarkeit in der Kunst- und Kulturvermittlung hin überprüft. Im Seminar stellen wir darüber hinaus eine Reihe von Methoden zur kreativen Nutzung von Smartphones im Vermittlungskontext vor, erproben diese in der praktischen Anwendung und reflektieren gemeinsam unsere Erfahrungen. Dabei werden auch die jeweiligen Rahmenbedingungen im Museum berücksichtigt, wie z.B. ein Blitzoder Aufnahmeverbot.« (UdK Berlin 2015: 7)

Dieses realsatirisch anmutende Dokument einer sich der bundesrepublikanischen Servicewüste unterwerfenden Kunstvermittlung könnte für diejenigen, die in den neunziger Jahren das Paradigma auf den Weg gebracht hatten, als Symptom eines Niedergangs gelesen werden. Doch abgesehen von der Frage, was eine zeitgenössische Kunstvermittlung im heutigen total ökonomisierten Bildungssystem überhaupt noch sein kann, ist trotz aller widrigen bis schrecklichen Umstände doch das Weiterdenken ihrer Möglichkeiten eine feine und gelegentlich auch Zuver-

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sicht erzeugende Sache. Ein erster Schritt besteht sicherlich darin, sich die Frage zu stellen, worin eigentlich die Arbeit von Kunstpädagogik und Kunstvermittlung bestehen sollte. Ist ihre Fachlichkeit noch relevant? Sind Begriffe wie Imagination, Gestaltung, Experiment, sind die kritische Urteilskraft und ein historisches Bewusstsein noch notwendig? Angesichts der widrigen Identitätspolitik, die im Bildungssystem durch Kompetenzorientierung und Digitalisierung im Gleichschritt durchgesetzt wird, stellen sich zudem auch die Fragen nach dem Singulären, dem Ereignis, dem Unbestimmten und dem Zweck- und Sinnlosen. In diesem Sinne – und um auf erlebbare Überraschungen hinzuweisen – möchte ich mit einem Missverständnis beginnen, das mich auf einer Norwegenreise ereilte und das Effekte nach sich zog, die auch zu theoretischen Spekulationen führten.

K urt Mein Missverständnis hat mit einem Künstler zu tun, der in vielfältige Bedrängnis geraten war und dessen Schicksal sich in der Emigration beschloss. Ich spreche von Kurt Schwitters, dessen künstlerische Nachwirkungen immer noch unterschätzt werden. Schwitters hatte einige Norwegenreisen unternommen, bei denen er auch mehrfach die im Romsdalenfjord vis-á-vis von Molde gelegene Insel Hjertøya (»Herzinsel«) besucht hatte. Dort mietete er im Jahre 1932 eine winzige Hütte an, deren Pachtvertrag nach norwegischem Recht 99 Jahre Gültigkeit hat. In einem Brief beschrieb Schwitters die Hütte wie folgt: »Unser Häuschen besteht einfach gesehen aus zwei Bettkisten mit angehängter Speisekammerküche aus Margarinekästen, Sitz- und Essgelegenheit, Schränken und Fächern, und alles ist durch Gips miteinander verbunden. Dieses war der Innenraum, der durch einen lebensgefährlichen, niedrigen Ausgang, der zugleich Eingang für den Kartoffelkeller des Fischers ist, mit unserer Drahtgitterveranda verbunden ist. Eine Holzwand schützt vor Ostwind, die Steinwand des Hauses vor Nordwind, und das Drahtgitter vor Hühnern, Hähnen, Ochsen und anderem Geflügel.« (In: Nündel 1981: 103)

Anfang 1937 flüchtete Schwitters mit seinem Sohn Ernst über Hamburg nach Norwegen, ohne jedoch das Ziel gehabt zu haben, endgültig zu emi-

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grieren. In Deutschland wurde er zu dieser Zeit von den Nazis bereits als »entarteter Künstler« gebrandmarkt, und die Gestapo ermittelte kurze Zeit nach seiner Ausreise gegen ihn. In der Hoffnung, in Norwegen bleiben zu können, mietete er in Lysaker am Oslo-Fjord eine Wohnung an, für die Sommermonate diente die Hütte auf Hjertøya als Domizil. Schwitters verdiente sich seinen Lebensunterhalt vor allem mit Landschaftsbildern und Portraits, die er in Molde an Einheimische und Touristen verkaufte. Obwohl er diese Arbeiten nicht zu seinem großen konzeptuellen Wurf MERZ zählte, finden sie sich heute völlig zu Recht in Werkverzeichnissen wieder und erstaunen den Betrachter mit ihrer subtilen Verbindung von genauer Beobachtung, konzeptioneller Tiefe und handwerklichem Geschick. Nach der deutschen Invasion Norwegens konnte sich Schwitters nicht mehr sicher fühlen, im Juni 1940 floh er auf einem Eisbrecher nach Großbritannien. Im selben Jahr wurde Molde als letztes Quartier des norwegischen Königs Haakon VII. von der Nazi-Armee völlig zerstört. Abbildung 1: Schwitters-Hütte

Zurück zur Hütte auf Hjertøya. Schwitters lebte dort unter extremen Bedingungen. Alle Lebensmittel, alles Material musste er mit einem Ruderboot aus Molde holen. Heute ist der Ort mit einer Fähre, wofür kleine Yachten eingesetzt werden, in rund zehn Minuten zu erreichen, für ein

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schwer beladenes Ruderboot ist die Strecke aber beachtlich. Der Fjord ist tief, und es kann heftigen Seegang geben.

W eiterführendes M issverständnis Mit etwas Glück konnte ich 2015 die letzte Fähre der Saison nehmen. Unweit des Anlegers zeigte sich die Schwitters-Hütte, auch eine Merzsäule setzte sich weiß von allen anderen Objekten des Ortes ab. Diese heutige Säule wurde nach Entwürfen von Schwitters’ Sohn Ernst angefertigt, die ursprüngliche Merzsäule musste umgesetzt werden, nachdem die Stadtverwaltung Molde dem ehemaligen Vermieter, dem einzigen Fischer der Insel, die Pacht gekündigt hatte. Dieser baute das Kunstwerk dann auf einer kleinen Schäreninsel auf, wo es rasch von Wind und Wetter abgetragen wurde. Gegenüber der heutigen – zum Teil rekonstruierten – Hütte befindet sich ein Bootshaus, in dessen Erdgeschoss eine kleine Ausstellung zu Schwitters’ Wirken in Norwegen aufgebaut ist. Das obere Geschoss ist eigentlich nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, an meinem Hjertøya-Tag stand die Tür jedoch offen, und ich zögerte nicht, einzutreten. Allerlei Materialien für Bootsreparaturen und -instandhaltungen waren dort gelagert, ein alter Erste-Hilfe-Kasten hing an der Wand, und von der Decke hing ein Boot herunter, das sich wohl seit längerer Zeit in Reparatur befand. Es ruhte auf einer verrosteten Signalleiter, deren Sprossen mit Glasscheiben ausgestaltet waren, in denen grafische Darstellungen zu sehen waren. War diese Metallleiter etwa eine vergessene Arbeit des Künstlers? Ich wurde leicht euphorisch, doch eigentlich konnte das nicht sein, denn alles, was Schwitters auf der Insel hinterlassen hatte, war seit Längerem unter anderem durch das Romsdalen-Museum gesichert worden. Noch wollte ich an eine mögliche Entdeckung glauben: Zurück in Deutschland, kontaktierte ich das Schwitters-Archiv im Sprengel-Museum Hannover. Rasch wurde ich darüber aufgeklärt, dass es immer wieder Workshops auf der Insel gegeben hatte, in denen Arbeiten entstanden waren, die nun wohl noch auf der Insel lagerten. Eine Nachfrage im Romsdalen-Museum bestätigte diesen Sachverhalt. Trotzdem war ich nicht enttäuscht.

Fragmente zu einer »Generativen Resonanzästhetik«

Abbildung 2: Vermeintliche Schwitters-Arbeit

A ndere S eite der F orm Von einem – zeitgenössisch erweiterten – Merz-Standpunkt aus war die auf Hjertøya zur Stabilisierung eines Bootsauf baus verwendete Arbeit durchaus als Kunst misszuverstehen, und deshalb war sie – auch durch den Entzug der üblichen White-Cube-Bedingungen der Kunst-Zuschreibung – auf noch verschwommene Weise brisant. Dass Menschen Jahrzehnte nach dem Tod des Künstlers an einer seiner Wirkungsstätten Objekte herstellten, die der Merz-Kunst ähnelten, kann entweder als eine der üblichen schwachen Nachahmungen verstanden werden oder aber als eine Erprobung dessen, was für Merz gestalterisch wichtig war, ohne unbedingten Kunst-Anspruch. Selbst wenn es sich um uninspirierte Ergebnisse eines Workshops oder eines Schulprojekts gehandelt haben sollte, so zeigte sich hier doch eine wirkende Resonanz. Diese hatte sich durch Jahrzehnte der Kunstentwicklung hindurch erhalten, sich mit dem operativen Kern von Merz befasst und möglicherweise auch Aspekte von Schwitters’ Merz-Kunst transformiert. Der Impuls der Arbeiten auf Hjertøya aus den dreißiger Jahren führte viel später zu weiteren Hervorbringungen, die vielleicht kunstgeschichtlich nicht von Belang sind, aber im Kontext von Kunstvermittlung interessante Fragen aufwerfen. Wenn

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man diese Arbeiten nicht nur als Kopien oder Imitationen betrachtet, stellt sich die Frage, was in Schwitters’ Kunst diese Resonanz auslösen konnte. Die naheliegende Antwort könnte lauten: Die Formen bzw. die Konzepte des Künstlers beinhalten einen beständigen Impuls, der ein empfängliches Subjekt zur Formenbildung bewegt. Denn die Form eines Werkes, die sich sinnlich wahrnehmbar präsentiert, ist nur ihre eine Seite, ihre andere – innere – Seite beinhaltet einen generativen Kern. Bei Niklas Luhmann heißt es, unter Bezugnahme auf George Spencer Brown: »Ein differenztheoretischer Umbau des Formbegriffs verschiebt den Schwerpunkt vom (geordneten) Inhalt der Form auf deren Differenz. […] Wenn Differenz als Form (oder umgekehrt: Form als eine Unterscheidung mit zwei Seiten) verstanden wird, heißt dies, dass die Unterscheidung sich vollständig selbst enthält. […] Sie ist durch nichts anderes gehalten. Sie ist Sinn und wiederholbares Resultat der Operation, die sie in die Welt einführt.« (Luhmann 1996: 49)

Die andere Seite der Form wird von Luhmann als Überschuss bzw. als das Atmosphärische beschrieben, das Formen mit sich führen bzw. erzeugen: »Formen müssen asymmetrisch gebildet werden, weil ihr Sinn darin liegt, ihre eine (ihre innere), aber nicht ihre andere (ihre äußere) Seite für weitere Operationen (Ausarbeitungen, Komplexitätssteigerungen etc.) verfügbar zu machen.« (Luhmann 1996: 51)

Aus Gründen der Kohärenz seiner Theorie, die auch an dieser Stelle auf der Unterscheidung von »marked space« und »unmarked space« beruht, hat Luhmann das Innen und das Außen nicht weiter differenziert, wodurch die beiden Dimensionen als in sich geschlossen erscheinen. Das sind sie aber nur, wenn sie als markiert/unmarkiert beschrieben werden, also semiotisch aufgefasst werden. Differenztheoretisch müsste jedoch weiterhin das Innen des Außen sowie das Außen des Innen mit bedacht werden, wenn die Unterscheidung »sich selbst enthält«. Weder das Innen noch das Außen ist hermetisch, vielmehr wirken beide Dimensionen aufeinander, sie stehen in einem Verhältnis der Resonanz. Mit dieser Erweiterung kann auch die »andere Seite der Form« als für weitere Operationen anschlussfähig verstanden werden, da damit das Innen der Form – das auch eine äußere Seite hat – nicht mehr als in sich

Fragmente zu einer »Generativen Resonanzästhetik«

geschlossen begriffen wird, sondern über ein anschlussfähiges Außen verfügt, das gleichermaßen eine innere Seite hat. Genau hier lässt sich der generative Kern lokalisieren, der mit einem emotiv und konzeptionell empfänglichen Subjekt in Resonanz tritt. Die andere Seite der Form ist nicht nur als das Atmosphärische zu beschreiben; vielmehr vermag es die differenzielle Kraft der Form, weitere Formen auszulösen, was nicht nur der von Luhmann häufig ins Spiel gebrachten »Anschlussfähigkeit« geschuldet ist, sondern vor allem auch der Resonanz zwischen unterschiedlichen Energien und Effekten, Objekten und Subjekten. Es sei in diesem Zusammenhang an eine Theorie erinnert, die bereits Ende der achtziger Jahre erschien und unbedingt einer Re-Lektüre unterzogen werden sollte, nämlich die Theorie der »Morphischen Resonanz« nach Rupert Sheldrake (vgl. Sheldrake 1992). Es geht hierbei um die Frage, wie sich Formen in der Natur bilden und wie sie sich erhalten und verändern. Sheldrake stellt dar, dass es resonante morphogenetische Felder und Rhythmen gibt, durch die »[…] formative Kausaleinflüsse über Raum und Zeit wirksam werden« (ebd.: 436). In der Natur entwickeln sich Formen nach dem Prinzip der (Selbst-)Ähnlichkeit, in der Kunst hingegen nach dem Prinzip der Unähnlichkeit gegenüber anderen Formen. Doch die Wirksamkeit eines morphischen Feldes ist auch hier gegeben: »Der Begriff ›morphisches Feld‹ bezieht sich nicht nur auf morphogenetische Felder im engeren Sinne, sondern auch auf Verhaltensfelder, soziale Felder, kulturelle Felder und mentale Felder. Morphische Felder werden durch morphische Resonanz mit früheren morphischen Einheiten einer ähnlichen Art […] geformt und stabilisiert.« (Ebd.)

Eine solche Betrachtungsweise könnte sich anders als die kunstgeschichtliche oder bildwissenschaftliche Herangehensweise mit dem generativen bzw. formativen Kern künstlerischer Arbeiten befassen und ihre transformativen Effekte ins Zentrum stellen. Der in diesem Text vorgeschlagene Begriff der Generativen Resonanzästhetik ist an Noam Chomskys »Generativer Transformationsgrammatik« angelehnt (vgl. Chomsky 1973), er wird jedoch deutlich für andere Kontexte verwendet. Nach Bußmann war es Ziel von Chomskys Transformationsgrammatik, »[…] durch ein System von expliziten Regeln das (dem aktuellen Sprachgebrauch zugrunde liegende) implizite Wissen von Sprache abzubilden« (Bußmann 1990: 801). Dagegen kann mit der Generativen Resonanzästhetik keinesfalls ein Sys-

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tem von Regeln aufgestellt werden, da die Generierung von Formen sowie deren Transformation im Gegensatz zur sprachlichen Kommunikation nicht vom kommunikativen Verständnis abhängt, sondern von den situativen Potenzialen der Formbildung bzw. Gestaltung. Die künstlerische bzw. ästhetische Arbeit trifft hierbei auf ein empfängliches Subjekt, das einen Impuls aufnimmt und eine differente Form generiert. Resonanz kann sich dabei im Sinn von Kunst oder im Sinn von Nicht-Kunst ereignen bzw. im Sinn von Nicht-Kunst als Kunst oder Kunst als Nicht-Kunst. Die andere Seite der Form entfaltet folglich Resonanz, sie ist generativ konstituiert und stellt die Bedingung der Möglichkeit dar, differente bzw. transformative Formen bzw. Gestaltungen hervorzubringen. Der Begriff der Resonanz wird bei Deleuze in mehreren Schriften thematisiert: »Wenn heterogene Reihen miteinander in Kommunikation getreten sind, ergeben sich daraus alle möglichen Folgen im System. Es ›passiert‹ etwas zwischen den Rändern; Ereignisse brechen los, Phänomene leuchten auf, wie Blitz oder Blitzschlag. Raum-zeitliche Dynamiken erfüllen das System und drücken zugleich die Resonanz der verkoppelten Reihen wie die Amplitude der erzwungenen Bewegung aus, die sie übersteigen.« (Deleuze 1992: 156)

Nicht die Frage nach den Bedeutungen der Formen oder dem Gelingen künstlerischer Programmatiken wird hier aufgeworfen, sondern die nach den Kopplungen intensiver Serien, die Frage nach dem Und, nach dem Weiter der Generierung (noch) unwahrscheinlicher Formen. In Deleuzes’ Schriften kommt dieser Konjunktion nahezu eine programmatische Bedeutung zu: »Der Baum braucht das Verb ›sein‹, doch das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion ›und … und … und …‹. In dieser Konjunktion liegt genug Kraft, um das Verb ›sein‹ zu erschüttern und zu entwurzeln« (Deleuze/Guattari 1992: 41).

O rdnung des U nd Schwitters’ Arbeitsweise bewegte sich in der Ordnung des Und, diese Konjunktion stellte er in seinem berühmten Undbild aus dem Jahre 1919 in Form einer Assemblage programmatisch dar. Immer wieder führten Resonanzen des von ihm gestalteten Merzbaus zu neuen Nischen, Ecken, Regalen, Grotten, die durch seine Behausungen wucherten und nicht von

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der logischen Verbindung unterschiedlicher Teile anhand eines übergeordneten künstlerischen Planes bestimmt waren, sondern vom konstruktiven Und. Dieses generative Prinzip des Merzbaus wurde zum Antrieb seiner weiteren Arbeiten. Das macht deutlich, dass es hier nicht um die beliebte »Komplettierung des Werkes« oder die Berücksichtigung eines »impliziten Betrachters« (vgl. Kemp 1986: 203ff.) bzw. gar um die Werk-Herstellung durch den Betrachter geht (vgl. Huber 2001: 129ff.). Diese einflussreichen kunstwissenschaftlichen Ansätze halten an einer Subjekt-Objekt-Gegenüberstellung fest und erweitern entweder die Bestimmung von Werk-Gehalten oder stellen die Unbestimmbarkeit von Inhalten als Meta-Ebene heraus. Im Prinzip betreiben diese Ansätze jedoch die Untersuchung von Lesarten, sie beschreiben nicht, welche Effekte der generative Kern künstlerischer Arbeiten auslösen kann bzw. worin er überhaupt besteht. Zwei Beispiele für weitere Wirkungen der Merz-Resonanz: Der Berliner Künstler Wolfgang Müller (»Die Tödliche Doris«, »Geniale Dilletanten«) reiste Ende der neunziger Jahre nach Hjertøya, um nach den Überresten von Schwitters’ Hütte Ausschau zu halten. Dort fiel ihm auf, wie manche Stare merkwürdige Geräusche von sich gaben, die ihm aber irgendwie vertraut vorkamen. Müller mutmaßte, dass die Vögel Passagen von Schwitters’ Ursonate imitierten. Es könnte also sein, dass die Vorfahren jener von Müller beobachteten Stare den Künstler bei seiner Rezitation belauscht und entsprechende Auszüge seiner Komposition an spätere Generationen weitergegeben hatten. Aus dieser Beobachtung entstanden eine CD und ein Katalog (vgl. Müller 2000) mit dem Titel »Stare aus Hjertøya singen Kurt Schwitters«. Eine noch aktuellere Anwendung des Merz-Impulses ist im Genre der Graphic Novel zu finden. »Herr Merz«, von dem norwegischen Zeichner Lars Fiske, wurde in Deutschland 2013 veröffentlicht (vgl. Fiske 2013). In diesem brillant gezeichneten Comic findet eine differenzielle Anwendung von Merz-Prinzipien in einem zeitgenössischen Medium statt. Fiske war mit seinem Freund und Kollegen Steffen Kverneland an die Wirkungsstätten Schwitters’ gereist, wo die beiden das, was sie noch vorfanden, sehr genau untersuchten. Vielleicht kann man sich Schwitters’ Kunst am besten annähern, indem man sie in Situationen außerhalb der gewöhnlichen Kunstbetrachtung erfährt, ähnlich wie Peter Handke das in seiner »Lehre der St. Victoire« in Bezug auf Paul Cézannes Malerei getan hat (vgl. Handke 1984). Leben und Kunst waren bei Schwitters, selbst in höchst bedrängenden

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Situationen, stets miteinander verschränkt – MERZ wurde aus resonanten Lebenssituationen heraus entwickelt. Schwitters’ wichtigste Arbeiten wurden zerstört: der Hannoveraner Merzbau von Bomben der Alliierten, der Bau in Lysaker von mit Feuer spielenden Kindern, die Merzsäule im Romsdalenfjord vom Wetter. Von der Merzsäule über den Merzbau bis hin zur Merzbarn hat Schwitters einen künstlerischen Impuls gesetzt, der immer noch ästhetische Resonanzen auslöst. Diese müssen nicht zwingend als »Kunst« etikettiert werden. Auf Hjertøya steht vor einem Haus, in dem an manchen Sommerwochenenden ein kleines Café betrieben wird, ein zurechtgeschnitzter Baum, der ein hölzernes Schild trägt. Auf diesem ist zu lesen: »Kleine Merzsäule«. Abbildung 3: Kleine Merzsäule

L ifelines Die Kunstvermittlung hat zu jeder Zeit die Aufgabe, Impulse aus Kunst und Alltagsästhetik nicht als berechenbare Vorlagen zu entwerten, sondern sie für Differenzbildungen an- und umzuwenden. Derzeit passiert

Fragmente zu einer »Generativen Resonanzästhetik«

in dieser Hinsicht einiges, sogar eine »Resonanzpädagogik« liegt bereits vor (vgl. Rosa/Endres 2016). Es stimmt zuversichtlich, dass Stimmen sich mehren, die der bedrückenden Welt der Standardisierung und Kontrolle andere Entwürfe entgegensetzen. In diesem Sinne gilt es, in Kunstvermittlung und Kunstpädagogik weiter zu forschen und zu lehren. Das Konzept der »Ästhetischen Operationen«, bei dem ein Impuls aus der Kunst bzw. aus einer ästhetischen Alltagspraxis zu einer Fragestellung oder Gestaltung führt, die in gänzlich andere Richtungen führen kann als der Ausgangspunkt (vgl. Maset 2012 und 2013), bietet hierfür einen methodischen Rahmen. In Kunstvermittlung und Kunstpädagogik kann es heute nicht mehr nur um »Entschleunigung« gehen, denn insbesondere die Beschleunigung muss – auch angesichts eines mittlerweile fast völlig sinnentleerten Bildungssystems – aus ihrer einseitigen Bewegungsrichtung gelöst werden. Im »Manifest für eine akzelerationistische Politik« heißt es: »Wir mögen uns vielleicht schnell bewegen, aber nur innerhalb eines streng definierten Sets stabiler kapitalistischer Parameter. Wir erfahren nur die ansteigende Geschwindigkeit innerhalb eines beschränkten Umfelds, ein simples hirntotes Vorpreschen anstelle einer Beschleunigung, die auch navigiert, die ein experimenteller Entdeckungsprozess innerhalb eines allgemeinen Möglichkeitsraumes ist. Die letztere Form der Beschleunigung halten wir für die wesentliche.« (Srnicek/ Williams 2013, in Avanessian 2013: 25)

Zur Überwindung einer derzeit global erfahrbaren lebensfeindlichen Konstellation und einer allgemeinen Verstellung von Zukunft durch Kontrolltechnologien sind Konzepte, Gedanken und Formen notwendig, die ihre jeweils anderen Seiten in Resonanz treten lassen. In diesem Sinne darf der Vorschlag zu einer Generativen Resonanzästhetik missverstanden werden.

L iter atur Bußmann, Hadumod (1990): Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart: Kröner. Chomsky, Noam (1973): Sprache und Geist, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus, Berlin: Merve Verlag. Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung, München: Fink. Fiske, Lars (2013): Herr MERZ, Berlin: avant-verlag. Handke, Peter (1984): Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Huber, Hans-Dieter (2001): Irritierende Bilder – Wie verstehen wir, was wir sehen?, in: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.), Bildhandeln, Magdeburg: Scriptum. Kemp, Wolfgang (1986): Kunstwerk und Betrachter, in: Belting, Hans/ Dilly, Heinrich/Kemp, Wolfgang/Sauerländer, Willibald/Warnke, Martin: Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin: Reimer. Maset: Pierangelo (2012): Ästhetische Bildung der Differenz. Wiederholung 2012, Lüneburg: edition HYDE. Maset, Pierangelo (2013): Beauty Police, Berlin: kookbooks. Luhmann. Niklas (1996): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Müller, Wolfgang (2000): Hausmusik. Stare aus Hjertøya singen Kurt Schwitters, Katalog mit CD, Berlin: Verlag Martin Schmitz. Nündel, Ernst (1981): Kurt Schwitters, Hamburg: Rowohlt. Rosa, Hartmut/Endres, Wolfgang (2016): Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert, Weinheim/Basel: Beltz. Sheldrake, Rupert (1992): Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur, Bern/München/Wien: Scherz Verlag. Srnicek, Nick/Williams, Alex (2013): #Accelerate. Manifest für eine akzelerationistische Politik, in: Avanessian, Armen (Hg.), #Akzeleration, Berlin: Merve. UdK Berlin (2015): Programmheft Zertifikatskurs Besucherorientierte Kunstvermittlung, Berlin. Website: www.ziw.udk-berlin.de/filead min/user_upload/kufer_flyer_detail/flyer_532011.pdf

A bbildungen Abbildung 1: Schwitters-Hütte, © Pierangelo Maset 2015 Abbildung 2: Vermeintliche Schwitters-Arbeit,  Pierangelo Maset 2015 Abbildung 3: Kleine Merzsäule, © Pierangelo Maset 2015

Zwischen Performanz und Resonanz. Potenziale einer Kunstvermittlung als Praxis des Erscheinens Kerstin Hallmann

Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Stabilität nur dynamisch erhalten können, also indem sie fortwährend auf Wachstum, Beschleunigung und Innovation angewiesen sind. Die Steigerungsprogrammatik und -logik hat schon längst sämtliche Gesellschafts- und Lebensbereiche erreicht. In der Folge wird die Fixierung auf die Ressourcenausstattung, -erweiterung und -verbesserung zu einer der wesentlichen Kategorien für die Gestaltung unseres Lebens, wie unter anderem der Soziologe Hartmut Rosa mehrfach verdeutlicht hat (vgl. u.a. Rosa 2016: 46). Eine Grundhaltung des Beherrschens, Kontrollierens und Manipulierens geht damit einher und äußert sich in strukturellen Veränderungen aller Bereiche menschlichen Lebens. Nach Rosa hat dies massive Konsequenzen für die Art und Weise, wie Subjekte »in die Welt gestellt sind« und welche Beziehungen sie zur Welt auszubilden vermögen (vgl. ebd.: 520). Bildung nimmt hier eine besondere Rolle ein, sie beeinflusst die Art und Weise, in der sich Menschen zur Welt, zu anderen und zu sich selbst in Beziehung setzen. Auch die Bildungspolitik hat den Impetus moderner Gesellschaften aufgegriffen: In Wissenschaft und Bildung sind seit Jahren gravierende Veränderungen zu beobachten, die unter anderem seit der Bologna-Erklärung aus dem Jahre 1999 das europäische Bildungssystem massiv in Richtung Output-Orientierung umgestalten – inklusive entsprechender Maßnahmen zu deren Qualitätskontrolle ­ (vgl. BMBF 2015: 5). Auch dies erfolgt im Modus der Steigerung. So haben sich die wissenschaftliche Bildungsforschung, die bildungspolitische

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Steuerung wie auch die schulische Unterrichtspraxis in atemberaubender Geschwindigkeit den administrativen Vorgaben angepasst. Insbesondere die Kompetenzorientierung steht hier in der Kritik, weil mit ihr eine ökonomisch ausgerichtete Bildungsorientierung verbunden ist. Zudem akzeptiert eine kompetenzorientierte Bildung nur die empirisch messbare Anwendbarkeit von Kenntnissen und Fertigkeiten vorher festgelegter Bildungsstandards (vgl. Aden/Peters 2012: o. S.). Wie reagiert die Kunstpädagogik darauf? Im Zuge der Implementierung von Bildungsstandards steht das Unterrichtsfach Kunst unter erheblichem Legitimationsdruck. Um die Potenziale des Faches zu bestimmen, stellen viele Kunstpädagogen die Ausbildung von Bildrezeptions- und ‑produktionskompetenzen in den Mittelpunkt. Die beschleunigte Verlagerung vieler Funktionen menschlicher Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnis in digitale Informations- und Bildtechnologien prägt unseren Alltag. Aufgrund der gesteigerten Bedeutung, die Bilder heutzutage haben, wird der Umgang mit ihnen neben Lesen, Schreiben und Rechnen zu den Basiskompetenzen gezählt. So setzt sich beispielsweise »ENVIL« (European Network for Visual Literacy) vehement für die Ausbildung visueller Kompetenzen als domänenspezifische Aufgabe des Kunstunterrichts ein (vgl. ENVIL; vgl. Wagner 2015). Doch schränkt dieser enge Bezug zur Bild- und Medienwissenschaft nicht die eigentlichen Bildungsdimensionen des Faches Kunst ein? Im folgenden Beitrag wird die Frage erörtert, welche Bedeutung Performanz und Resonanz in einer durch Kompetenzorientierung geprägten Bildungslandschaft speziell für die Kunstvermittlung haben.

R esonanz Die Definitionen und metaphorischen Ausdeutungen zum Begriff der Resonanz gehen je nach wissenschaftlicher Disziplin in unterschiedliche Richtungen. Entscheidend für die Resonanz-Metapher im kunstpädagogischen Kontext ist jedoch ihre ereignishafte Unmittelbarkeit des Geschehens, die sie gerade im Hinblick auf ihre Potenziale für ein Denken fernab ergebnisorientierten und normierten Lernens interessant werden lässt. Nach der lateinischen Wortbedeutung ist Resonanz eine akustische Erscheinung: »re-sonare« bedeutet »widerhallen« oder »ertönen lassen«

Zwischen Per formanz und Resonanz

– durch die Schwingung eines Körpers wird die Eigenfrequenz eines anderen angeregt (Musikbrockhaus 1982: 492). Während im musikalischen Bereich die Resonanz als Mitschwingen eines schwingungsfähigen Körpers erwünscht ist (zum Beispiel zur Klangerzeugung bei Streichinstrumenten), kann das physikalische Potenzial der Resonanz auch zerstörerische Ausmaße annehmen. So vermag beispielsweise der Gleichschritt marschierender Soldaten auf einer Brücke diese derart in sich potenzierende Resonanzschwingungen zu versetzen, dass sie zum Einsturz gebracht werden kann – weshalb es auch nach § 27 (6) der Straßenverkehrsordnung verboten ist, auf Brücken im Gleichschritt zu marschieren (vgl. BMJV 2013). Noch etwas anders verhält es sich mit der »Synchronresonanz«, bei der sich zwei oder mehr Systeme wechselseitig so beeinflussen, dass sie nach einer gewissen Zeit im Gleichtakt oder -klang schwingen. Deutlich wird in allen Fällen – trotz unterschiedlicher Ausprägung – eine Grunddimension der »Resonanz«, die darin besteht, dass es sich um ein relationales Verhältnis zwischen zwei Körpern oder Systemen handelt. Im Sinne eines »Berührens und Berührtwerdens« beeinflussen sich Erregerfrequenz und Eigenfrequenz gegenseitig: »Ihre Impulse beeinflussen den jeweils anderen Schwingungskörper, und sie reagieren wiederum auf dessen Reaktion« (Rosa 2016: 284). In der wechselseitigen Beeinflussung von Anspruch und Response entsteht etwas Neues. Hartmut Rosa hat jüngst den Resonanzbegriff als Metapher zur Beschreibung von Beziehungsqualitäten in den Wissenschaftsdiskurs eingeführt und darauf auf bauend eine ganze »Soziologie der Weltbeziehung« entwickelt (vgl. Rosa 2016). Der potenzierenden Dynamisierungslogik moderner Gesellschaften setzt er ein Konzept entgegen, in dem »Resonanzerfahrungen« zu einem zentralen Moment von Weltbegegnung erklärt werden: »Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung«, so seine zentrale These (ebd.: 13). Wenn alles immer schneller wird, führt dies zu einer Störung unserer Beziehungen zu uns selbst, zu anderen und zu den Dingen. Diesen Entfremdungstendenzen stellt Rosa den Begriff der Resonanz entgegen und plädiert für eine Besinnung auf sogenannte »Resonanzbeziehungen«, mit denen wir wieder in einen direkten Beziehungsmodus zur Welt treten und sie uns »anverwandeln« statt ressourcenorientiert aneignen könnten (vgl. ebd.: 326; vgl. Rosa/Endres 2016: 17). Resonanz fungiert bei Rosa als Schlüsselwert auf der Suche nach einem besseren, gelingenden Leben. Schule als gesellschaftliches Teilsystem wird hierbei als »Resonanzraum« verstanden, innerhalb des-

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sen Schüler, Lehrer und Unterrichtsstoff im Idealfall in ein Resonanz-Verhältnis treten, das als »Knistern im Klassenzimmer« oder als Moment des »Mitschwingens im Unterricht« beschrieben wird (Rosa/Endres 2016: 16, 29, 46; vgl. Rosa 2016: 52, 59). Anders als bei Rosa soll hier Resonanz jedoch nicht zur Voraussetzung für ein glücklicheres Leben verklärt werden, läuft sie doch so vorschnell Gefahr, als ein gemeinsames esoterisches Aufeinander-Einschwingen oder als gleichmachender Gleichklang missverstanden zu werden. Ein Blick aus phänomenologischer Perspektive heraus erlaubt die Entfaltung eines begrifflichen Verständnisses von Resonanz, in dem die Erfahrung von Welt eine wesentliche Bedeutung einnimmt. Dabei geht es nicht um ein harmonisches Aufeinander-Ein- oder Mitschwingen. Vielmehr soll hier ein Aspekt verdeutlicht werden, der als ein Grundzug der Resonanz auch für Bildungsprozesse bedeutsam wird: Es geht um das Moment des Anspruchs auf eine »Anrührung« durch etwas, durch anderes.

R esonanz als aisthe tische U nmit telbarkeit In der Phänomenologie wird das Verhältnis des Subjekts zur Welt als ein leiblich grundiertes verstanden. So verdeutlicht Maurice Merleau-Ponty, dass wir nicht einfach einen Körper haben, mit dessen Hilfe wir uns Welt aneignen können, sondern dass wir immer schon als leibliche Wesen in Welt anwesend sind: »[M]ein Leib ist nicht einfach ein Gegenstand unter all den anderen Gegenständen, ein Komplex von Sinnesqualitäten unter anderen, er ist ein für alle anderen Gegenstände empfindlicher Gegenstand, der allen Tönen ihre Resonanz gibt, mit allen Farben mitschwingt und allen Worten durch die Art und Weise, in der er sie aufnimmt, ihre ursprüngliche Bedeutung verleiht.« (Merleau-Ponty 1945: 276)

Merleau-Ponty formuliert eine phänomenologische Vorstellung von Wahrnehmung und Bewusstsein, nach der der Mensch nicht primär als ein sprach- oder vernunftmäßiges Wesen der Welt gegenübertritt, sondern als ein resonanzfähiges Wesen in der Welt erscheint (vgl. Rosa 2016: 68). Verwiesen wird auf die leibliche Verbundenheit des Bewusstseins von Welt. Das wirft die Frage auf, wie Sinn und Sinnlichkeit auf-

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treten bzw. gedacht werden können. Der Leib, der auf vielfältige Weise mit Welt physisch, sozial, kulturell usw. verschränkt ist, wird zum Ort von Wahrnehmung und Bewusstseinsbildung. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass wir immer schon als leibliche Wesen im Wahrnehmungsprozess anwesend sind, dann müssen auch Bewusstseinsbildung und Reflexion situiert und an leiblich-sinnliche Erfahrungen gebunden sein. Wahrnehmung ist daher auch keine reine Datenaufnahme, sondern ein grundlegender Prozess, in dem sich unsere leibliche Verbindung zur Welt ausdrückt – noch bevor wir sie reflektieren können (vgl. Westphal 2014). Normalerweise unterteilen wir unsere Sinneswahrnehmung in die fünf Sinne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Das Modell der fünf Sinne gibt es seit der Antike, und es ist eng verbunden mit dem Versuch, einzelnen Körperorganen die Zulieferfunktion für kognitive Erkenntnisse zuzuschreiben. Allerdings zeigen uns Wahrnehmungserfahrungen immer wieder, dass sich die Komplexität und Wechselbeziehung der Sinne viel weniger sortenrein und arbeitsteilig fassen lässt, als wir gemeinhin annehmen (vgl. Schulze 2016: 78). Phänomenologische Theorien machen vielmehr darauf aufmerksam, dass wir als leibliche Wesen mit all unseren Sinnen im Wahrnehmungsprozess anwesend sind. In solch elementaren Wahrnehmungsprozessen nehmen wir nicht mit einzelnen Sinnen, sondern synästhetisch wahr. In dieser Synästhesie ­– verstanden als ursprüngliche Ungeschiedenheit der Sinne – befinden wir uns in der Gegenwart des Wahrnehmungsaugenblicks in sinnlicher Präsenz. Eine Differenzierung in einzelne Sinnesregister erfolgt immer erst in einem zweiten, reflexiven Schritt, in dem wir uns gewahr werden, dass wir etwas wahrnehmen, etwas sehen, hören oder Ähnliches (vgl. Hallmann 2016: 9ff.). Resonanz bildet in diesem Zusammenhang eine spezifische, grundlegende Art unseres »Zur-Welt-Seins« (Merleau-Ponty). Als leibliche Angesprochenheit ­setzt Resonanz einen intensiven Weltbezug voraus, der als aisthetische Unmittelbarkeit ausgemacht werden kann. Denn in der Resonanz befinden wir uns in einem wechselseitigen Verhältnis, in dem wir auf etwas antworten, was zunächst nur in unseren Sinnen »widerhallt«. Resonanzphänomene erscheinen so gesehen immer dann, wenn Körper und/oder Systeme in einem Verhältnis zwischen Eigen- und Fremddynamik oszillieren. Statt eines sinnesfokussierten Wahrnehmungsprozesses werden wir in Resonanz-Erfahrungen auf unsere Wahrnehmung im Modus von Aisthesis verwiesen. Die Unmittelbarkeit des performativen Re-

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sonanzgeschehens bezieht sich nicht auf einen einzelnen Sinn, sondern bringt das gesamte »Regime der Sinne« ins Spiel. Derartige Erfahrungen entziehen sich einer vorgegebenen oder festen Sinnbedeutung. Sie weisen vielleicht auf einen möglichen Sinn hin, der in unserer Sinnlichkeit aufscheint, der aber dennoch nicht unmittelbar zugänglich ist (vgl. Nancy 2002: 15).

R esonanz als W iderfahrnis »Von dem Augenblick an, in dem ich erkannt habe, daß meine Erfahrung gerade insofern sie die meine ist, mich dem öffnet, was ich nicht bin, daß ich für die Welt und die Anderen empfindsam bin, nähern sich mir in einzigartiger Weise alle Wesen, die das objektive Denken auf Distanz hielt. Oder umgekehrt: Ich erkenne meine Verwandtschaft mit ihnen, ich bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen, ihnen zu antworten.« (Merleau-Ponty 1947: 63)

Wahrnehmung muss als ein Moment von Offenheit verstanden werden, indem uns etwas erscheint, was wir aber noch nicht als etwas identifizieren können. Erfolgen kann dies nur in Relation zu etwas, was sich einer unmittelbaren Zugänglichkeit widersetzt und sich so einer sinnhaften Deutung entzieht. Bewusstsein ist vielmehr immer schon Wahrnehmung und Bewusstsein einer Gegenwart von etwas, was konstitutiv für die Erfahrung an sich ist (vgl. Waldenfels 2010; vgl. Westphal 2014). Die Resonanz-Metapher eignet sich daher besonders für die Frage, wie sich uns die Welt in den Strukturen unseres Bewusstseins zeigt. In ihrer performativen Unmittelbarkeit, die sich im Sinnlichen bewegt, drückt sich unser relationales Verhältnis zur Welt aus, das durch wechselseitige Resonanzen nach allen Seiten hin offen ist. Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozesse sollten daher nicht nur als aktive Aneignung, sondern primär von ihren passiven Momenten her gedacht werden. Als resonanzfähige Wesen werden wir zunächst einer Präsenz von etwas gewahr, die uns anspricht und die zum »Antworten« herausfordert. Und dies meint eben kein seichtes emotionales Mitschwingen oder Aufeinander-Einschwingen, sondern eine existenzielle Angesprochenheit. Das Phänomen der Resonanz verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass Weltbegegnung nicht als Gegensatz von Fremdem und Eigenem, von Innen und Außen beschrieben werden kann, sondern als wechselseitige Durchdringung. In

Zwischen Per formanz und Resonanz

diesem Sinne widerfährt uns Resonanz. Etwas erscheint, und noch bevor es als etwas erfasst, verstanden oder gedeutet werden kann, löst es schon eine Resonanz meiner Sinne aus. Sinndeutung ist daher auch nichts objektiv Gegebenes, was lediglich »freigelegt« bzw. erkannt werden muss, sondern Sinn entzieht sich und fordert uns zu schöpferischem Ausdruck heraus, der immer wieder neu erfolgen kann (vgl. Sabisch 2009: 17, vgl. Westphal 2014: o. S.). Bildungsprozesse beginnen so gesehen nicht im Erkennen oder Wiedererkennen, sondern in jenen Momenten, in denen uns etwas »widerfährt«. Es ist nicht ausschließlich die eigene Aktivität bzw. Initiative, die das Lernen auslöst, sondern wir sind immer schon von etwas anderem, wie Dingen oder Menschen, in Anspruch genommen (vgl. Meyer-Drawe 2003: 510). Lernen wird so nicht als Erlernen oder als Aneignung einer Wissensressource vorstellbar, sondern als ein Prozess der transformativen Erfahrung verständlich, aus dem wir verändert hervorgehen. Die phänomenologische Betrachtungsweise betont hierbei die leibliche Dimension von Bildungsprozessen und zeigt, mit Käte Meyer-Drawe gesprochen, die Grenzen intentionaler Akte auf. Damit wird ein »Nicht-Sinn« ins Spiel gebracht, der sich gegenüber dem Anspruch des »universalen und radikalen Verstehens« als sperrig erweist (Meyer-Drawe 2003: 512).

K unst vermit tlung als P r a xis des E rscheinens Das europäische Bildungssystem steht derzeit im Zeichen der berechenbaren und kontrollierbaren Aktivität, des Beherrschens und instrumentellen Erreichens. Das Passive und das Ausgeliefertsein werden im Rahmen durchgeplanter Zielvorstellungen zurückgewiesen (vgl. Masschelein/ Simons 2005: 108). Einher geht damit eine Reduktion von Vielfalt und Differenz, weil sie sich nicht dem Wachstumsimperativ unterordnen lassen. In den letzten Jahren konnte sich in vielen Bildungseinrichtungen eine Lernkultur entwickeln, die sich an einem fragwürdigen Kompetenzbegriff orientiert, der sich als Reproduktionsfähigkeit von Faktenwissen entpuppt. Die Einengung auf allgemein verbindliches und schnell abrufbares Wissen wurde mit der Einrichtung zeitlich eng getakteter Testverfahren noch gesteigert (vgl. Aden/Peters 2012: o. S.). Doch die Logiken von Steigerung, Optimierung und Kontrolle beeinflussen unser Gefüge von Sinneswahrnehmung, Denken und Erinnerung. Jean-Luc Nancy

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konstatiert, dass wir schon längst in einer Kultur leben, in der das Erkennen und Wiedererkennen von Formen dominiere (vgl. Nancy 2002: 20). Hingegen verweisen Resonanzen darauf, dass wir uns immer auch in Zuständen der Passivität und Aufmerksamkeit befinden, in denen wir von anderem beeinflusst werden und in denen wir zugleich durch unser Dasein anderes beeinflussen. So ist die Resonanz (résonance) für Jacques Derrida auch nicht mehr der Akt des Ertönens (résonner), sondern verharrt zwischen dem Aktiv und Passiv (Derrida 1988: 34). Durch ihre performative Unverfügbarkeit und Sinnverweigerung widersetzen sich Resonanzmomente gerade der Logik kompetenzorientierter Bildungsstandards. Performanz und Resonanz erinnern daran, dass Wahrnehmung und Sinnkonstitution wesentlich mehr sind als die Aktualisierung eines vorgegebenen Codes oder das schnelle Decodieren einer festgelegten Bedeutung. Die Engführung der menschlichen Vermögen auf Erkennbarkeit muss daher radikal infrage gestellt werden. Eine Kunstvermittlung, die sich primär auf die Ausbildung visueller Kompetenzen konzentriert, schränkt die Potenziale menschlicher Fähigkeiten ein. Stattdessen müssen wieder verstärkt vielfältige Wahrnehmungs- und Erkenntnisdimensionen in ästhetischen Bildungsprozessen gefördert werden. Denn für die Entwicklung einer kritischen Erkenntnisfähigkeit ist die Ausbildung aller Wahrnehmungsfähigkeiten unerlässlich, um auf die Erscheinungen und Mechanismen unserer Lebenswelt aufmerksam zu werden. Dies würde allerdings bedeuten, dass wir unsere sinnesfokussierte Wahrnehmung zeitweise zurückstellen und uns, wie Nancy es beschreibt, auf die »Lauer« begeben. Der Modus, so fährt Nancy fort, »der Modus aber, in dem es hier zu lauern gilt, ist gerade nicht der einer Lauer, einer Obacht und Wache im Sinne einer visuellen Überwachung« (Nancy 2002: 20). Vielmehr müsse man sich in einen Modus der offenen und öffnenden Präsenz begeben. Im Gegensatz zur Reduktion auf alltagstaugliche Nützlichkeit oder automatisierte Reaktionen bewirkt das Erscheinen eine temporäre Intensitätsverschiebung unserer Wirklichkeitsrelation (vgl. Fliescher/ Goppelsröder 2013: 7). Wahrnehmung und Erfahrung von Erscheinungen bilden die Voraussetzung dafür, Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Nur so wird Sinnzuschreibung als etwas erfahrbar, was sich immer wieder neu ereignen kann. Für Bildungsprozesse ist dieses Verständnis von Relevanz, weil dadurch angepasste Interpretationen und die Vorherr-

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schaft des Repräsentativen relativiert werden. Geschlossenheit und Eindeutigkeit von Sinn verlieren an Bedeutung. Die Herausforderung für die Kunstvermittlung schließt hier an und liegt darin, Situationen zu inszenieren, die das Potenzial haben, zu einer »Praxis des Erscheinens« zu werden. Es geht um eine Kunstvermittlung, die auf ästhetische Erfahrungen setzt, die sich offenhalten für die Fülle des Wahrnehmungsaugenblicks in sinnlicher Präsenz. Eine solche Kunstvermittlung sucht Momente des Erscheinens an immer wieder neuen Gegenständen und Situationen. Wobei sich insbesondere die Auseinandersetzung mit Kunst dadurch kennzeichnet, dass sie die Wahrnehmung fragmentiert und nur prekäre Reflexionen zulässt. Ihre konstitutive Flüchtigkeit macht die Auseinandersetzung mit Kunst zur eigentlichen Herausforderung aisthetischer Praxis. Gerade in einer durch Beschleunigung und Steigerung geprägten Welt mit ihren Optimierungszwängen fällt es immer schwerer, jenen Zustand zu erreichen, in dem es nicht um ein schnelles Erkennen geht. Dieser Zustand, in dem etwas geschehen kann, in dem man einer Sache ausgesetzt wird und deshalb aufmerksam werden kann, ist kein planbarer und berechenbarer. Doch auch wenn sich diese Zustände nicht planen lassen, so kann man mit Michaela Ott einige wesentliche Bedingungen nennen, unter denen potenziell etwas geschehen kann, was uns ermöglicht, uns »auszusetzen«: »Um heute befremdet zu werden, braucht es ungewöhnlicher Vorgehensweisen, kunstnaher Praktiken, dezidierter Rahmungen und übernormaler Zeitgebungen, die sich der Reproduktion ästhetischer und epistemischer Stereotypen entziehen« (Ott 2014: 17). Hierbei lassen sich nicht zielorientiert Kompetenzen und Ressourcen anhäufen, sondern es geht um Zustände, in denen uns etwas widerfährt und wir zwischen passivem Bewegt-Werden und aktivem Bewegen oszillieren. Es lohnt sich, sich auf derartige Zustände einzulassen, denn sie machen uns möglicherweise wieder darauf aufmerksam, dass es auch anders gehen kann.

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Kerstin Hallmann

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Der Begriff der Resonanz war zuletzt in vieler Munde und ist vor allem durch den Soziologen Hartmut Rosa (vgl. Rosa 2015, 2016) einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Dass Rosa den Begriff an die zentrale Stelle seiner Soziologie der Weltbeziehungen setzt, verwundert wenig. Zuvor schon ist der Begriff von den unterschiedlichsten weltanschaulichen und wissenschaftlichen Denkrichtungen in Anspruch genommen worden und hat dementsprechend eine schillernde Geschichte, wie der Kulturwissenschaftler Holger Schulze in seiner Klangkolumne Resonanz (2016) zusammenfasst. Der Begriff diente als: »Projektionsfläche einer Ratgeberliteratur, die Rezepte zur Welt- und Selbstbeglückung empfiehlt. Im Stil theosophischer oder pantheistischer Geheim- und Banallehren wird Resonanz als Kraftquelle besungen, wird medizinisches Handwerk darin begründet, Seelenleben und Lebensprinzip ganz darauf ausgerichtet. Resonanz gerät zum allgemeinen Gesetz aller Lebens- und Dingverhältnisse zwischen Quantenbewegung und Persönlichkeitsentwicklung.« (Schulze 2016: 75)

Diese Geschichte, inklusive ihrer Fallstricke und blinden Flecken, gilt es zu berücksichtigen, wenn der Versuch unternommen werden soll, den Begriff der Resonanz auch für eine zeitgemäße Theorie der Kunstpädagogik und der Ästhetischen Bildung anzuwenden. Dazu möchte der vorliegende Text weniger systematische als vielmehr erste tastende Überlegungen in medienökologischer und -ästhetischer Perspektive vorstellen, die im Anschluss an einen starken Resonanz-Begriff den Menschen als in mannigfachen Beziehungen zu seiner Umwelt (Materialien, Tiere, Dinge, Instrumente, Maschinen, Techniken, Technologien und nicht zu-

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letzt auch andere Menschen) eingelassen und dementsprechend sowohl Subjektivität, Wahrnehmung, Erfahrung wie auch ästhetische Praxis als mediatisierte und verteilte – als Environmental Agency – zu konzipieren sucht. Mich interessiert dabei insbesondere in bildungstheoretischer Hinsicht die Frage, welche Verschiebungen sich im Nachdenken über Kunstvermittlung und Kunstpädagogik ergeben. Bevor ich mich aber dem Begriff der Resonanz und dem Konzept der Medienökologie zuwende, will ich kurz den Einsatzort meines Denkens im kunstpädagogischen Diskurs markieren.

V on der R el ationalität zur E nvironmentalität Im jüngeren kunstpädagogischen Diskurs wurden zuletzt verschiedene Positionen formuliert, die ästhetische Bildungsprozesse im Zusammenhang mit kunstpädagogischen Situationen und Aktionen als ein komplexes relationales Geschehen verstehen (vgl. z.B. Meyer 2015; Pazzini 2015; Wetzel/Lenk 2013, 2016). So haben beispielsweise Tanja Wetzel und Sabine Lenk mit dem Begriff der Haltung eine kritische Position zur Kompetenzdebatte in der Kunstpädagogik formuliert. Angesichts der Dynamik und Komplexität unterrichtlicher Situationen, verstanden als ein vielschichtiges Beziehungs- und Übertragungsgeschehen zwischen Lehrer und Schülern, argumentieren sie für die Bildung einer reflexiven kunstpädagogischen Haltung. Und Karl-Josef Pazzini beendet seine jüngste Veröffentlichung kunstpädagogischer und bildungstheoretischer Schriften mit einem Aufsatz über die Stimmung (vgl. Pazzini 2015: 317-340). Sein Plädoyer für das Transindividuelle fragt nach den Grundierungen, den sozialen, materialen, körperlichen und situativen Bedingungen von pädagogischen Aktionen und gleichsam nach den Bedingungen der Möglichkeit individueller ästhetischer Bildungsprozesse. Wie auch schon Wetzel/Lenk bezieht er sich dabei auf die Psychoanalyse und deren Theorie der Übertragung. Mit der Stimmung, die er in großer Nähe zur Resonanz verortet (vgl. ebd.: 326f.), denkt er über das partielle Eingelassensein von Subjektivität in das zuvor genannte Bedingungs- und Beziehungsgeflecht nach. Stimmung hat in dieser Perspektive viel mit dem psychoanalytischen Konzept der Übertragung gemein. Beide stellen sich als relationale Geschehen mindestens zwischen zwei oder mehreren Menschen her; und sie prozessieren unbewusst, lassen sich also nicht willentlich herstel-

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len oder steuern. Schon Freuds Konzeption von Übertragung stellt gleichsam die Vorstellung eines geschlossenen, klar abgrenzbaren Individuums infrage. Freud, so Pazzini, suchte mit dem Begriff »eine wirksame relationale Raumzeit zwischen Menschen zu fassen […], die über die individuelle Abschottung, genannt Autonomie, Individualismus, gar Autarkie hinausgreift. Das Konzept konfrontiert mit der Fiktionalität, […] der Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft oder – etwas kleiner – Gesellung, lässt juristische Abgrenzungen (etwa Zurechenbarkeit) der individuellen Eigenschaften (etwa dem, was Kompetenz heißt) anders sehen.« (Pazzini 2016, 319)

Übertragung ist demnach ein Geschehen zwischen nur scheinbar klar abgegrenzten Individuen, das diese verändert, ohne dass es die Möglichkeit gibt, diese Veränderungen als Resultat eindeutiger Richtungsvektoren zu erkennen, wie Pazzini an anderer Stelle schreibt: »Es gibt offenbar einen energetischen Fluss zwischen Menschen, der Effekte am einen wie am anderen Pol der Beziehung entstehen lässt und sich aus der Relation der Individuen als Subjekt zueinander ergibt. Ein Effekt von Übertragungen ist wahrscheinlich die Kristallisation eines individuellen Subjekts und eines Objekts als sedimentierte Pole vieler Übertragungsbeziehungen, bereit und angewiesen auf weitere Übertragung.« (Pazzini 2011: 197)

Vor dem Hintergrund seiner Studien zur Übertragung stellt Pazzini dann die für mich entscheidende Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. nach dem Stellenwert der Relationen dieses Verhältnisses: »Stimmt es eigentlich, dass das Individuum sozialisiert wird? Oder ist es so, dass das Soziale ein Individuum entlässt – als Fiktion – genauso fiktiv wie die Gesellschaft« (Pazzini 2016: 319). Mit anderen Worten: Ist der Mensch noch sinnvoll als vereinzelt und abgeschlossen zu verstehen, der dann als Heranwachsender sozialisiert wird, oder ist er nicht vielmehr von Geburt an auf den/das Andere hin geöffnet, in vielfältige Beziehungen, Inanspruchnahmen, Teilungs- und Teilhabeverhältnisse eingelassen und somit das »Individuum« eine historische Form seiner Selbstbeschreibung? Eine Selbstbeschreibung, die angesichts derzeitiger technologischer, medienkultureller Entwicklungen nicht mehr ausreicht, um die Komplexität menschlicher Subjektivierungsprozesse zu erfassen?

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Mit diesen Fragen ist gleichsam der Einsatzort meiner Überlegungen markiert. Aus einer ökologischen Perspektive, wie sie sich derzeit in großen Teilen der deutschen kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft durchsetzt, schließe ich an die zuvor skizzierten kunstpädagogischen Positionen an und versuche, an einigen Stellen über sie hinaus zu gehen.1 Ein Paradigma des medienökologischen und -ästhetischen Denkens ist die radikale Bejahung eines »Relational-Seins« (Debaise nach Hörl 2016: 39) im Gegensatz zum »Individual-Sein«. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Alles hängt mit allem zusammen, die Leitformel des ökologischen Denkens und der Umweltbewegungen der 1970er Jahre ist heute medienwissenschaftlicher Allgemeinplatz. Das medienökologische und -ästhetische Denken geht dementsprechend einher mit einem Medienbegriff, der nicht länger (nur) Einzelmedien erfasst, sondern sich insbesondere für Medienensembles und ganze Netzwerke medientechnologischer Verbindungen interessiert, die sich in ihrem je spezifischen Gebrauch herstellen, stabilisieren, auflösen und umwandeln. Medien werden in dem skizzierten ökologischen Sinne als Infrastrukturen von Wahrnehmungen, Affekten und Handlungen von sowohl menschlichen als auch nicht-menschlichen Akteuren thematisch. Sie ermöglichen, erzwingen und verschließen Verbindungen, Relationen auf vielen Ebenen, wie beispielsweise auf bio- und soziotechnologischer Ebene; zugleich werden Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten auf die an diesen Prozessen beteiligten Akteure verteilt, und man spricht von einer Environmental Agency, die weder von Menschen noch von Technologien allein dominiert wird. Diese verteilte Subjektivität, Erfahrung und Handlungsmacht taucht allerdings nicht erst mit der Computertechnologie auf, sondern es lassen sich eine Vielzahl von ökologisch argumentierenden Positionen anführen (z.B. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Erich Hörl, Bruno Latour, Brian Massumi, Jean-Luc Nancy, Gilbert Simondon, Bernard Stiegler), die herausstellen, dass Menschen immer schon in Bezug auf Techniken und Technologien zu Subjekten wurden und dass uns diese subjektivierenden Teilungs- und Teilhabeprozesse in der gegenwärtigen globalen, digitalvernetzten »Technosphäre« (vgl. Hörl 2016: 42ff.) in ihrem ganzen Ausmaß deutlicher bewusst werden. Die skizzierte medienökologische Perspektive erweitert so die psychoanalytischen Ansätze von Pazzini und Lenk/Wetzel in mindestens zwei Dimensionen: Zum einen wird das soziale Beziehungsgeflecht der Men-

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schen um diverse nicht-menschliche Akteure ergänzt, und zum anderen werden die Übertragungsprozesse nicht nur an mediale und symbolischimaginäre Ordnungen von Wahrnehmung, Gefühl und Artikulation, von Anspruch und Erwartung geknüpft, sondern auch als energetische Flüsse zwischen Materialien und Körpern sowie als Datenströme in vernetzten Medientechnologien denkbar.

»S chwache « und von R esonanz

» starke « K onzep tionen

Die kulturwissenschaftliche Medienökologie unterscheidet sich zudem von frühen medienökologischen Ansätzen, die in anthropozentrischer Perspektive vor allem die Reduzierung des Mediengebrauchs (insbesondere der Bildschirmmedien) forderten und die bis heute den Begriff der Medienökologie in der Kommunikationswissenschaft, der Medienpädagogik und auch in Teilen der Kunstpädagogik bestimmen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Konzeptionen von Medienökologie lässt sich auch noch einmal an der Verwendungsweise des Resonanz-Begriffs verdeutlichen: in Form eines schwachen und eines starken Begriffs von Resonanz. In einer ersten Annäherung lässt sich feststellen, dass Resonanz ein relationaler Begriff ist, wie er sich in seinen einfachsten alltagssprachlichen Verwendungen andeutet. Hier finden sich verschiedene Spielarten des Begriffs, die von »etwas findet Resonanz« bis hin zu »jemand resoniert auf/mit etwas« reichen. Diese Aussagen implizieren einen schwachen Resonanz-Begriff, da sie noch von relativ abgegrenzten, klar identifizierbaren Entitäten ausgehen, die dann in ein Resonanzverhältnis eintreten. In diesem Sinne benutzt auch Hartmut Rosa »Resonanz«. Auch er geht dabei von einem relativ autonomen Individuum aus, das sich intentional in Beziehungen zu Welt, Mitmenschen, Tieren, Natur, Artefakten und gleichsam zu sich selbst begibt, in Bewegung, gar Veränderung gerät und dann wieder zu einem semistabilen Zustand zurückfindet – dies entspricht einem Schematismus, Bewegung/Veränderung zu denken, der sich auch in vielen bildungstheoretischen Positionen wiederfindet. Das Ausmaß und die Wucht von resonierenden Welt- und Selbstbeziehungen für den Menschen, ihre Bedeutung für ein zeitgemäßes anthropologisches und bildungstheoretisches Denken gehen aber

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meines Erachtens in diesen Rede- und Denkfiguren verloren.2 Gehen wir daher wieder einen Schritt zurück zum Begriff der Resonanz. In der Physik bedeutet Resonanz konkret eine Kraftübertragung, die eine bestimmte materielle Entität, die als schwingungsfähig bezeichnet wird, in ihrer Eigenfrequenz anregt. Diese Formulierung ist auch noch reichlich kausalistisch gedacht, doch sie lässt sich weiter ausführen und komplizieren. Denn Erreger und Resonator – so die Bezeichnungen der physikalischen Elemente, die schwingungstätig bzw. schwingungsfähig sind – sind nie wirklich bewegungslos, sondern immer in unterschiedlichen Bewegungen begriffen; sie schwingen immer in unterschiedlichen Frequenzen. Resonanz lässt sich vor diesem Hintergrund als ein komplexes Beziehungsgeflecht von schwingenden, beweglichen Materien im Raum denken, die sich wiederum durch Reflexionen (im Wortsinn von resonare, zu Deutsch: widerhallen, widerklingen) und Transmissionen in ihren Frequenzen verstärken oder auch abschwächen können, sich eben in resonanzreicheren bzw. -ärmeren Beziehungen bewegen.

D ie verteilte S ubjek tivität des D ividuums Übertrage ich diesen starken Begriff der Resonanz aus der Physik auf ein anthropologisches Denken, dann sind der Mensch und die ihn umgebende Welt auf materieller und physischer Ebene immer schon in Bewegung und unhintergehbar in vielfältige Beziehungen untereinander verstrickt. Der nur scheinbar individuelle (ungeteilte, abgeschlossene) Mensch wird gleichsam geöffnet auf das Andere, die Anderen in seiner Umgebung. Er ist vielfach geteilt, zum Beispiel teilt er sich in Kommunikationen auf symbolische Weise anderen mit und ist zugleich immer auch körperlich-sinnlich in Anspruch genommen, wie die Philosophin Michaela Ott in ihrem jüngsten Buch »Dividuationen. Theorien der Teilhabe« (2015) ausführt. Im Anschluss unter anderem an Schriften von Gilles Deleuze und Félix Guattari versammelt sie theoretische Beschreibungsmöglichkeiten für das zeitgenössische In-der-Welt-Sein des Menschen. Der leitende Begriff ihrer Beschreibungen ist das »Dividuum«. Der Mensch als Dividuum ist zwar auch noch als Einzelnes erkennbar, aber nicht abgeschlossen, nicht ungeteilt, eben nicht individuiert in der Welt, sondern in mannigfaltige Bezüge, Teilhabe- und Teilungsprozesse verschiedenster Größenordnung mehr oder weniger bewusst eingelassen, die ihn wiederum unablässig

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informieren (hier auch im Sinne von In-Form-Bringen) und subjektivieren. In dieser Doppelfigur von Teilhabe und Teilung potenzieren zum Beispiel die technologischen Dispositive der digitalen Medienkultur nicht nur unsere möglichen Welt- und Selbstverhältnisse, sondern sie sind es auch, die uns, weit unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle, unwillentlich affizieren, konditionieren und subjektivieren. Denn die Sensorik der digitalen Apparate greift nicht nur wie Mikroorganismen und andere Umweltfaktoren in unsere Physis ein, sondern schließt sich gleichsam an unser Wahrnehmen, Empfinden und Denken an und bestimmt sie in Teilen mit (vgl. dazu auch Hörl 2011, 2013 und Perniola 2009). In dieser Perspektive erscheint der Mensch, menschliche Subjektivität, als eine verteilte, durch vielfältige Andere mitkonstituierte Größe, die in für ihn teils unbekannte materielle, kulturelle, sozial- und medientechnologische Dispositive eingelassen ist. Die menschliche Subjektivität der skizzierten medienökologischen und -ästhetischen Theorien ist dabei nur eine unter vielen anderen, miteinander vernetzten Subjektivitäten. Die medienökologischen Ansätze unterscheiden sich in diesem Zuschnitt von anderen Theorien, die menschliche Subjektivität als Integration, als Verinnerlichung äußerlicher Einflüsse (wie beispielsweise Vergesellschaftungsprozesse, Kulturtechniken und symbolische Praktiken), denken. Die medienökologischen Theorien erweitern damit ein Nachdenken über Subjektivität nicht nur um neue Aspekte, sondern bringen auch überdeutlich ans Licht, dass der Mensch noch nie ein Individuum gewesen ist, sondern vielmehr als eine Mannigfaltigkeit im Sinne von Gilles Deleuze zu denken ist. Der Medienwissenschaftler Mark B. N. Hansen führt dazu aus: »Buchstäblich in ein multiskalares und verteiltes sensorisches Umfeld eingehüllt, erlangt unsere Subjektivität höherer Ordnung ihre Macht nicht, weil sie das, was außen ist, aufnimmt und verarbeitet, sondern vielmehr durch ihre unmittelbare Mitteilhabe oder Beteiligung an der polyvalenten Handlungsmacht unzähliger Subjektivitäten. Unsere ausgesprochen menschliche Subjektivität operiert demnach als mehrwertiges Gefüge größenvariabler Mikrosubjektivitäten, die je unterschiedlich, doch mit erheblichen Überschneidungen funktionieren.« (Hansen 2001: 370f.)

Wenn wir unsere Welt und uns darin begreifen als in mannigfaltige Bezugnahmen eingelassen, in Teilhabe- und Teilungsprozessen uns ver-

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haltend zu Menschen und Tieren, Technologien, Maschinen, Dingen, materiellen Flüssen und Texturen, wenn wir diese materielle Fülle der Welt als Grundlage unseres Denkens annehmen, dann entsteht für eine Anthropologie, Erkenntnistheorie, Ästhetik, Bildungstheorie u.a.m. eine höchst folgenreich gewandelte Ausgangslage: Eine vermeintlich voraussetzungslose Erkenntnis scheint vor dem skizzierten theoretischen Hintergrund nicht einmal mehr im Ansatz denkbar. In einer dichten Welt unter verbindlich einander zugetanen Körpern, Dingen und Artefakten ist das Absehen von dividuellen, situativen Gegebenheiten nicht mehr vorstellbar. Materielle und mediale Wahrnehmungen, Berührungen und Verbindlichkeiten, Übertragungsbeziehungen in vielen Richtungen und Qualitäten sind dann das Gegebene, die Voraussetzung und der Grund eines jeden Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Handelns. Resonanz in diesem Sinne beginnt in materiellen Schwingungsübertragungen, setzt sich fort auf physiologischer Ebene in zum Beispiel menschlichen Körpern und wirkt hinein in menschliches Verhalten, Empfinden, Denken und Handeln. Jede Körperhaltung ist in diesem Sinne auch immer eine Empfindungs- und Denkhaltung – und umgekehrt ist jeglicher Sinn, jede Sinnbildung und Erkenntnis nicht ohne die zuvor skizzierte grundlegende materielle, körperlich-sinnliche Resonanz zu denken. Gleiches gilt auch für die Vermittlung von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissen.

K unstpädagogik der R esonanz : E ine kleine F orschungsskiz ze Was ist mit den bisher formulierten Überlegungen zum Begriff der Resonanz in medienökologischer Perspektive für die Erforschung und theoretische Beschreibung von kunstpädagogischen Situationen und Aktionen sowie Ästhetischer Bildung gewonnen? Einige Punkte, an denen meines Erachtens weitergearbeitet werden sollte, will ich im Folgenden skizzieren: 1. Wählt man einen starken Resonanz-Begriff als Paradigma subjektund bildungstheoretischer Überlegungen, dann lässt sich der Mensch nicht länger als autonomes, sich selbst steuerndes und optimierendes Individuum verstehen, sondern muss ganz im Gegenteil als heteronomes, verteiltes und vielfach in Anspruch genommenes Dividuum gedacht wer-

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den. In einer dichten Welt steht das Dividuum in mannigfaltigen körperlichen, sensorischen, technischen und sozialen Bezügen zu einem Außen (zu Anderen, einer Umwelt oder einem Milieu). Dementsprechend braucht es eine komplexere Theorie, die die Dynamik, Situativität, Materialität und Medialität subjektiver Bildungsprozesse beschreiben kann und die insbesondere den Einfluss der technologischen Bedingungen und Infrastrukturen auf dieselben in den Blick bekommt. An anderer Stelle habe ich auf den Begriff des Dispositivs hingewiesen, der mir geeignet erscheint, medientheoretische, praxeologische mit (kunst-)pädagogischen und bildungstheoretischen Perspektiven zusammen zu denken (vgl. Zahn 2015). Die Dispositivanalysen kunstpädagogischer und -vermittelnder Situationen könnten sich unter anderem in vertiefter Weise mit den sensologischen Wirkungen von Materialien, künstlerischen Techniken und Praktiken sowie Medientechnologien auf den Menschen beschäftigen, wie es Mario Perniola (2009) in seiner Sensologie vorschlägt. Perniola zufolge repräsentieren Artefakte, Medien aller Art nicht allein Bedeutungen und Diskurse: Sie wirken vielmehr sensologisch durch den Gebrauch der Sinne, die sie bahnen, trainieren und so bilden. 2. Dementsprechend wäre Ästhetische Bildung theoretisch zu reformulieren als differenzierende Praxis des Dividuums in und an den je unterschiedlichen situativen, materialen, medialen, sozialen Beziehungen, Interdependenzen und Übertragungen, in denen es sich gebildet hat und sich weiter bildet – auf der Suche nach anderen, neuen Wahrnehmungs-, Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten sowie Gebrauchsweisen in komplexen medientechnologischen Milieus. An dieser Stelle halte ich es für äußerst gewinnbringend, die bereits erwähnten kunstpädagogischen Positionen von Pierangelo Maset (1995) und Eva Sturm (2011) einer genauen Relektüre zu unterziehen, da beide auf je unterschiedliche Weise für eine Ästhetische Bildung der Differenz durch Kunstpädagogik/ Kunstvermittlung plädieren (vgl. Anmerkung 1). Ich kann hier aus Gründen der gegebenen Kürze nur ein Beispiel skizzieren: Maset hat schon in den 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass die Subjektzentrierung des kunstpädagogischen Diskurses, beispielsweise im Begriff der ästhetischen Erfahrung, Gefahr läuft, die eigentlichen empirischen Bildungsprozesse von Menschen in Bezug auf/mit/durch Kunst zu verdecken bzw. sie stark in ihrer Komplexität zu reduzieren. Die in dieser Zeit geführte Rede von der ästhetischen Erfahrung implizierte eine Gegenüberstellung von Subjekt und Kunstwerk. In kritischer Absetzung schlägt Maset (1997:

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198ff.) in Bezug auf Deleuze/Guattari vor, den Blick auf »ästhetische Gefüge« und ihre Produktivität zu verschieben. Dabei, so kann er überzeugend zeigen, muss der Begriff der ästhetischen Erfahrung nicht aufgegeben werden. Er bekommt in dieser Perspektive allerdings eine andere Bedeutung: »[Ästhetische Erfahrung, M. Z.] kann nun nicht mehr auf die Gegenüberstellung von Subjekt und ästhetischem Gegenstand beschränkt bleiben, sondern sie muß im Kontext eines Außen, einer Gefüge-Bildung verstanden werden. Gerade dadurch wirkt Kunst differenzbildend, daß sie Subjektivierungsprozesse in Verschränkung mit einem jeweiligen Außen in Gang setzt.« (Maset 1997: 201)

Mit Maset lassen sich Anschlüsse an die aktuelle medienökologische Position von Katja Rothe (2016) herstellen, indem man das von Maset beschriebene Außen von Subjektivierungsprozessen als heterogenes medientechnologisches Gefüge begreift. Rothe schlägt in praxeologischer sowie ethisch-ästhetischer Perspektive vor, den Mediengebrauch kritisch zu untersuchen und darüber hinaus die Gestaltung von medialen Gebrauchsfragen im Anschluss an Michel Foucault als ethisches Projekt zu denken, in dem man eine Haltung, einen Stil im Umgang mit der Welt, den Anderen und seinem eigenen Leben in ästhetischen Gefügen bildet. In medienökologischer Perspektive verschiebt sich dabei die gestaltende Praxis an Existenz- oder Lebensweisen von der anthropologischen Frage des gelingenden oder glücklichen Lebens des Einzelnen hin zu medienanthropologischen Fragen, die »unter der Voraussetzung der technischhumanen Koexistenz die Möglichkeiten der ›Sorge um sich‹ ausloten« (ebd.: 51). Mit anderen Worten: Dividuelle Subjektivität, ästhetische Erfahrung – allgemeiner: Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten – müssen in irreduzibler Abhängigkeit von jeweils anderen ästhetischen Gefügen konzipiert und dementsprechend die produktiven Anteile von anderen Lebewesen, Materialien, Praktiken, Techniken, Medientechnologien u.a.m. an der begrifflichen und praktischen Verfertigung von menschlichen Existenzformen untersucht werden. 3. (Kunst-)Pädagogisch gesehen verliert die Individualisierung als Ausrichtung des Arbeitens ihre prominente Stellung. Sie gerät sogar in Verdacht, Fehleinschätzungen der tatsächlichen Bedingungen und komplexen Interdependenzen der pädagogischen Praxis zur Folge zu haben. Die Aufmerksamkeit wird stattdessen stärker auf die (materiellen, kör-

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perlichen, sozialen, medientechnologischen) Milieus, in denen sich bildende Prozesse vollziehen, zu richten sein. Der Lehrer ist dabei meines Erachtens nach wie vor nicht obsolet, sondern vielmehr ein wichtiger Akteur des pädagogischen Milieus, ein Teil eines ästhetischen Gefüges. Lehrer bestimmen sowohl die Ausrichtung des Unterrichts oder anderer pädagogischer Situationen als auch die komplexen Resonanz- und Übertragungsbeziehungen aller beteiligten Akteure zumindest mit – wohlgemerkt ohne sie planen, steuern oder kontrollieren zu können, wie es uns die technokratische Logik des Kompetenzdiskurses zu vermitteln sucht. In professionstheoretischer Perspektive wäre ein anderes »Lehrerbild« zu entwickeln: Kunstpädagogen sind vor dem Hintergrund der hier skizzierten Kunstpädagogik der Resonanz nicht länger Zuarbeiter des Kompetenzdiskurses und seines operational zugerichteten Umgangs mit Kunstwerken. Sie tragen im Gegenteil dafür Sorge, dass in der Auseinandersetzung mit Kunst, in ästhetischen Gefügen, Offenheit, Unbestimmtheit und experimentelle Praxis walten, um so die Bedingungen der Möglichkeit für ästhetische Bildungsprozesse im Sinne eines Anderswerdens zu verbessern.

A nmerkungen 1 | Es liegen schon zwei kunstpädagogische Positionen vor, die in Bezug auf die Schriften von Gilles Deleuze andere, in heterogene Gefüge eingelassene Subjektivierungsprozesse in Bezug zur Kunst konzipieren: Pierangelo Masets »Ästhetische Bildung der Differenz« (1995) und sechzehn Jahre später Eva Sturms »Von Kunst aus: Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze« (2011), die beide meines Erachtens bisher noch nicht die Beachtung im kunstpädagogischen Diskurs gefunden haben, die ihnen gebührt. Meine Überlegungen formuliere ich im Geiste beider kunstpädagogischen Konzepte, obwohl ich in Bezug auf aktuelle medientheoretische Positionen aus etwas anderer Richtung das kunstpädagogische Feld durchquere. Ich werde später, im Abschnitt Kunstpädagogik der Resonanz: Eine kleine Forschungsskizze, auf beide kunstpädagogischen Positionen zurückkommen. 2 | Für eine ausführlichere kritische Auseinandersetzung mit Rosas Resonanz-Begriff verweise ich auf Holger Schulze (2016). Er attestiert Rosa unter anderem ein naives Verständnis von Resonanz, da er beispielsweise

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die zahlreichen »kritischen Forschungen zur materiellen Kultur, zu den Affekten und Dingen in den Sensory Studies weiträumig« (ebd.: 80) umgehe, und gleichsam eine Aktualisierung einer audiopietistischen Haltung, wenn Rosa in seinen Büchern und Interviews fordere, die Bildschirme weltweit zu reduzieren, da Bildschirminteraktionen, Fernseher und Computer resonanzfrei seien.

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Auf dem Weg zu einer »Ästhetischen Bildung des Raums« Rahel Puffert

N ähe z wischen K unst und P ädagogik Die Geschichte der Kunstvermittlung bzw. Kunstpädagogik wird meist beginnend bei Schiller und der Kunsterzieherbewegung mit Alfred Lichtwark über die Stufen von musischer Erziehung, Visueller Kommunikation, Ästhetischer Erziehung etc. erzählt. Mit »Die Kunst und ihre Folgen« (Puffert 2013) fügte ich dieser Geschichte eine zweite hinzu. Angelegt als Genealogie der Kunstvermittlung trägt sie Begründungsmuster und Ausformungen von künstlerischen Arbeiten des 20. Jahrhunderts zusammen, die sich mit sozialen Absichten und Bildungsfragen befassen und mit einem expliziten Vermittlungsanspruch auftreten. Als besonders aufschlussreich erwies sich die russische Avantgarde, da hier die soziale Funktion von Kunst in extenso debattiert und variantenreich erarbeitet wurde. Aber auch bei Verfahren der Nachkriegskunstgeschichte, speziell der 1960er und 1970er Jahre, springt deren edukative Dimension ins Auge. Was mich dazu veranlasste, diese weitgehend unerzählte Geschichte nachzutragen, war der ungewöhnliche Kreuzungspunkt von Kunst und Pädagogik in den 1990er Jahren. Zu der Zeit bedienten sich Künstler vermehrt pädagogischer Verfahren und Pädagogen experimentierten mit künstlerischen Fragestellungen. Die lange Zeit tabuisierte und nun erfahrbare Nähe zwischen Kunst und Pädagogik eröffnete mir einen neuen Blick auf die Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts, quasi unter Verwendung einer sozialen oder pädagogischen Sehhilfe.

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G egenwart Mit der Genealogie intendierte ich, dem Feld der Kunstvermittler ein variantenreiches Ressort an Praktiken zuzuspielen, welches für die schulische oder auch außerschulische Praxis als Referenzpunkt genutzt werden kann. Mir schienen diese Arbeiten jede Menge Anregungen für eine aktuelle Kunstvermittlung zu bieten. Zudem ging es darum, durch eine historische Rekonstruktion vom Standpunkt der Gegenwart aus an der Legitimation eines Streams innerhalb der Ästhetischen Bildung oder Kunstvermittlung mitzuwirken, den ich hier mit Carmen Mörsch »kritische Kunstvermittlung« nennen möchte. Inwiefern lassen sich aber aus dieser historischen Rekonstruktion Ableitungen für die gegenwärtige Praxis vornehmen? Worin genau besteht die Brücke zur Gegenwart?

K ritische K unst vermit tlung Betrachtet man das Feld der Kunstpädagogik/Kunstvermittlung, lassen sich sehr unterschiedliche Schwerpunktsetzungen finden: So gibt es Kunstpädagogiken, die die ästhetische Praxis zum Anlass nehmen, bestimmte Aspekte der Kindheitsforschung weiterzuverfolgen und das Subjekt in den Fokus der Auseinandersetzung zu stellen, und andere, die die Kunst zum zentralen Bezugspunkt erklären. Es gibt Ansätze, die primär medienpädagogisch ausgerichtet sind, ebenso wie Kollegen, die das Bild und die Visualität ins Zentrum ihrer Kunstpädagogik stellen. Jüngst wurde dem Begriff der Bildlichkeit die Vorstellungsbildung/Imagination zur Seite gestellt. Die kritische Kunstvermittlung wiederum zeichnet sich durch zwei Fokussierungen aus, die aus meiner Sicht in einem produktiven Widerspruch zueinander stehen: Zum einen ist für sie der Kunstbezug zentral, zum anderen ihr kritisches Verhältnis zu den Institutionen. Um einer Didaktisierung oder auch Zurichtung der Kunst zu entgehen, ist Kunst Ausgangspunkt und Ziel vermittelnden Handelns. Es geht darum, Schüler, Beteiligte, Besucher in Prozesse zu involvieren, die »kunsthafte Züge« an sich haben. Kunst wird dabei durch das Potenzial spezifiziert, eine Erfahrung von Andersheit oder auch Fremdheit in sich zu tragen, die mit einer sehr grundlegenden Kritik an bestimmten Prämissen europäischer Denkmuster und Kultur verknüpft wird (vgl. z.B. Maset 1995: 122). Kritische Kunstvermittlung sieht sich der kritischen Pädagogik

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und Soziologie verpflichtet, nimmt Bezug auf postkoloniale Theorien, die Kritische Theorie oder (post-)strukturalistische Philosophien. Aufgrund ihrer Perspektivierung durch solche Kultur- und Sozialwissenschaften sind sich kritische Kunstvermittler der exklusiven, Ungleichheit produzierenden Rolle, die Kunst gesellschaftlich bis heute hat, bewusst. Sie sind deswegen besonders aufmerksam für die elitäre und diskriminierende Struktur des Kunstsystems. Tendenziell skeptisch gegenüber den Kunstinstitutionen mit ihren Ausschlussmechanismen machen sie es sich zur Aufgabe, »die Gewaltverhältnisse offenzulegen, die den [dominanten] Erzählungen, Versprechungen und Legitimationsweisen innewohnen« (Mörsch 2012: 64). Da Kunstvermittler aber häufig mit und für diese Institutionen, seien es Museen, Ausstellungshäuser, Schulen oder Universitäten, tätig sind, ist das »Arbeiten im Widerspruch« (Mörsch 2011) für sie gewissermaßen programmatisch. Die Arbeit am Kunstbegriff mit dem Ziel der Fortsetzbarkeit von Kunst steht also in einem gespannten Verhältnis zu den Institutionen, die sie traditionell vermitteln und verbreiten. Nun gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich in dieser widersprüchlichen Situation zu verhalten. Mir scheint es weiterführend, eine Zusatzfrage in den sich auf Kunst berufenden Diskurs kritischer Kunstvermittler einzuschleusen, nämlich die Frage: Von welcher Kunst gehen wir eigentlich aus? Entgegen einer idealistischen Überhöhung jeglicher Kunst ist es für die Perspektive der Vermittlung durchaus relevant, dass die kritische Haltung gegenüber den Institutionen inzwischen auf eine Geschichte zurückblicken kann – freilich eine wenig bekannte.

R epr äsentationskritische W ende Das Studium jener Verfahren, die sich den Kunstinstitutionen gegenüber kritisch verhalten und/oder mit einem Änderungswillen auftreten, ist also von Interesse. Was solche Ansätze verbindet, ist ihre Verankerung in der Repräsentationskritik. Mit »Repräsentation« ist dabei nicht nur die Vertretung im Sinne der politischen Stellvertretung gemeint, sondern auch die den kommunizierenden Zeichen zugesprochene Funktion, etwas nicht Anwesendes durch Verweis zu re-präsentieren. In der Erkenntnis, dass althergebrachte Bestimmungen unseres Wirklichkeitsbezuges einer grundlegenden Korrektur bedürfen, waren sich Wissenschaftler unterschiedlichster Fach- und ideologischer Ausrichtun-

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gen – etwa Marx, Freud, Nietzsche, Helmholtz oder Cassirer – um die Jahrhundertwende relativ einig: Von einem Übereinstimmungsverhältnis von Seiendem und Begriff sei nicht mehr auszugehen, das Paradies der reinen Unmittelbarkeit auf ewig verschlossen. Es gäbe keine Auseinandersetzung von Ich und Welt außerhalb der Formung. Die wesentlichen Inhalte und Folgeaufgaben, die aus dieser Krise der Repräsentation resultierten, fasst Silja Freudenberger in drei Punkten zusammen: 1. Die Idee eines Gottesgesichtspunktes ist sinnlos. 2. Die Abbildkonzeption von Erkenntnis und Repräsentation muss aufgegeben werden. 3. Die Bedeutung spezifischer (konzeptueller, kultureller, sozialer) Bedingungen für die Konstitution von Welt und diese repräsentierende Erkenntnis kann kaum überschätzt werden.« (Freudenberger 2003: 76) Für die Malerei und Skulptur bedeutete die Krise der Repräsentation zunächst die endgültige Verweigerung der bloßen Darstellungsfunktion. Die Hinwendung zu einer intensiven »Grundlagenerforschung« zu künstlerischen Mitteln hinsichtlich ihrer variablen Funktionen und Wirkungen schloss sich unmittelbar an. Die Hinwendung zum Ungegenständlichen bedeutete, wie Arnold Hauser es formuliert, »in gewisser Hinsicht einen tieferen Einschnitt in der Geschichte der Kunst […] als sämtliche anderen Stilwandel seit der Renaissance«. Er führt aus: »Es gab zwar stets eine Pendelbewegung zwischen Formalismus und Antiformalismus, die Aufgabe der Kunst, lebenswahr und naturgetreu zu sein, wurde aber seit dem Ende des Mittelalters prinzipiell nie in Frage gestellt« (Hauser 1953/1990: 996f.). Auch die Kunsthistorikerin Maria Gough betont, dass die in den letzten Jahrzehnten üblich gewordene Skepsis gegenüber »radikalen Brüchen, epistemologischen Verschiebungen oder großen Einschnitten« (Gough 2005: 9) an dieser Stelle verfehlt sei. So hätten die Konstruktivisten ab November 1921 allesamt mit der Malerei aufgehört, viele von ihnen ihr Arbeitsfeld mehr oder weniger in die industrielle Produktion verlegt oder sich fotografischen Techniken zugewandt. Diese von den Konstruktivisten ausgeführten Schritte stehen aber erst am Ende einer Kette von Folgerungen, die sich aus der Infragestellung der Malerei ergaben. Mit der Hinwendung zur Abstraktion wird die Ablösung von bisherigen Funk-

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tionen der Kunst möglich und die Suche nach neuen sozialen Verankerungen notwendig. Die Erkenntnis, dass Bilder immer auch Ideologien transportieren, und der Wunsch, weder höfischen Interessen noch dem bürgerlichen Geschmack mehr entsprechen zu wollen, mündeten in der Suche nach den Möglichkeiten einer Kunst, die sich an den Werten einer egalitär organisierten Gesellschaft orientiert.

E rprobung des M öglichen Welchen Zweck verfolgt ein Künstler oder eine Künstlerin, wenn es nicht mehr darum geht, mit dem Artefakt auf eine außerkünstlerische Realität zu verweisen, Wirklichkeit auf die eine oder andere Art abzubilden? Abbildung 1: Werkhaus Münzviertel: Rückbau der Aula

Die russischen Konstruktivisten, Suprematisten und Produktivisten wandten sich abstrakten Formensprachen zu. Weit entfernt davon, ein abgehobenes Gedankenspiel zu sein, zeigt sich gerade bei Lissitzkys Prounen (vgl. Puffert 2013: 39-43), dass das abstrakte Bild aus avantgardistischer Perspektive auf seine weitere Anwendung ausgerichtet war: Es diente als Erfahrungsangebot, um der Potenziale und der eigenen Anteile an aktuellen Raumvorstellungen und -gestaltungen gewahr zu werden. Lissitzkys Prounen markieren aus heutiger Sicht genau den Übergang von einem den Betrachter auf einen bestimmten Blickpunkt fixierenden repräsentativen Bildkonzept hin zu einer Situierung des Betrachters in ein Raumgefüge.

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Während bei Ersterem sowohl der Bildraum als auch der Raum der Betrachtung statisch konzeptualisiert sind und das Bild vortäuscht, in einen illusionären Raum zu führen, steht bei Letzterem der Bildinhalt in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zum Betrachter. Der Bildinhalt wird nicht repräsentiert, sondern die Achsen und Materialien (in diesem Fall Farbe und Formen, es könnten aber auch Wörter oder Töne sein), innerhalb derer und mit denen gesehen wird, werden zur Verfügung gestellt und so verfügbar gemacht. Das Bild ist nicht mehr gleichbedeutend mit dem Tableau oder der Leinwand, sondern verweist auf den Raum der Betrachtung selbst. Lissitzkys Arbeiten sind Beispiele dafür, dass und wie ein Funktionswechsel der Kunst, aber auch der Rezeption stattfindet. Aufgabe der Kunst ist es nach diesem Verständnis nicht mehr, Autonomie darzustellen oder zu symbolisieren; Ziel ist es nun, sich als Medium für die Praktizierung von Selbstbestimmung anzubieten. Michel Lingner hat das immer wieder sehr deutlich betont (vgl. Lingner 1999: 25-45). Für die Konstruktivisten verlief der Weg von der Komposition über die Konstruktion der Einzelteile bis hin zur Organisierung eines Zusammenhangs, in dem der vormalige Betrachter einbezogen wird. Kunst wird als Experimentierfeld erschlossen, welches Raum bietet, um das Mögliche zu erproben. Dieses geschieht nicht, um diesem Möglichen als dem unrealisierbar Anderen einen unmöglichen Ort zu geben, sondern es geschieht, um das Mögliche im Jetzt als seiner einzig möglichen Erfahrbarkeit zu situieren, die sich nicht dauerhaft etablieren lässt.

A rbeit am R aum Anhand der Arbeiten von El Lissitzky (vgl. Puffert 2013: 92-96) lassen sich exemplarisch bestimmte Kennzeichen des künstlerischen Verfahrens ausfindig machen, die ich hier in vier Punkten zusammenfassen möchte: • Die Relativierung der Autorenrolle zugunsten einer Einbeziehung der (vormaligen) Betrachter in die Werkherstellung • Die Betonung des Wahrnehmungsprozesses gegenüber dem künstlerischen Produkt

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• Die Schaffung von Übergängen zwischen Genres wie Malerei, Architektur, Design etc. • Das Verständnis der künstlerischen Arbeit als raum-zeitliches Arrangement Im Folgenden werde ich anhand einer aktuellen künstlerisch-edukativen Praxis zeigen, wie diese Aspekte Berücksichtigung finden. Szenenwechsel: Wir befinden uns im Hamburger Münzviertel. Es besteht aus wenigen, nach der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg übrig gebliebenen Straßenzügen zwischen Hauptbahnhof und den Ausfallstraßen Richtung Autobahn. Am Ende einer dieser Wohnstraßen befindet sich ein altes Schulgebäude, dessen zweiter Stock von verschiedenen Menschen aktiv gestaltet wird. Die Etage ist das Ergebnis eines langatmigen und von vielen Rückschlägen geprägten politischen und künstlerischen Durchsetzungskampfes: Im Herbst 2013 wurde das »Werkhaus Münzviertel. Modellprojekt zur Verschränkung von Pädagogik, Kunst & Quartiersarbeit« eröffnet (vgl.: http://werkhaus-muenzviertel.de/index.html). Das Werkhaus Münzviertel will offen sein für junge Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen in schwierige Lebenslagen geraten sind; Wohnungslosigkeit ist meist eine davon. Ziel ist es, ihnen in einer aus dem Ruder gelaufenen Situation Halt zu vermitteln. Das geschieht durch akute Hilfestellungen bei der Lebensorganisation und durch die Möglichkeit, sich gemeinsam mit anderen an diesem Ort einzurichten – ob sie dazu für gemeinsame Mahlzeiten sorgen, den Vorgarten pflegen oder einen Konzertabend mit vorbereiten. Das Team, bestehend aus Sozialpädagogen, einer Gärtnerin und ein bis zwei Künstlern, nimmt die Arbeit in unrenovierten Räumen auf. Die 1833 entstandene Architektur mit den hohen Decken, Fluren und an Schulklassen angepassten Raumgrößen gibt der Etage bereits ein Gepräge. Der ursprünglich als Aula konzipierte Saal, Eichenparkett, holzvertäfelte Wände, abblätternde Farbe laden zum erneuten Einrichten ein. Es gilt, die noch leeren Räume entsprechend dem Bedarf zu gestalten. Die Werkhäusler werden hierbei von Anfang an einbezogen. Die Idee besteht darin, sich gemeinsam eine Einrichtung zu schaffen, die den hier tätigen Menschen entgegenkommt, in der sie sich wohl – ja aufgehoben – fühlen. Erfahrungen mit Einrichtungen, in denen die Werkhäusler gescheitert sind, bringen sie in der Regel mit.

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Die Bereitstellung einer basalen Infrastruktur mit Küche, Büro und Duschen ermöglicht es, dem Tag eine Struktur zu geben. Die regelmäßigen Mahlzeiten werden von allen als unverzichtbarer Bestandteil der Gemeinschaftsbildung erlebt. Um weiterhin mit Pflanzen und Holz arbeiten zu können, wird eine erste Werkstatt eingerichtet. Hier entsteht auch ein Modell der Räumlichkeiten, dessen Bestandteile ebenso als Stehpult oder Hocker benutzbar sind. Das Modell ist Tool und Symbol zugleich. Der Modellcharakter des Werkhauses erlaubt es und fordert dazu auf, bewährte Logiken zu hinterfragen und unerprobte Lösungen zu suchen. Im Alltag zeigt sich, wie sich pragmatischer Sinn, die Infragestellung der Bedeutung und Sinnhaftigkeit konventioneller Verfahrensweisen, aber auch funktionale Notwendigkeiten immer wieder aneinander reiben. Abbildung 2: Arbeit am Modell (Entwurf: Veit Rogge), Werkhaus Münzviertel

Beim Umgang mit den Pflanzen und im Gespräch mit den Werkhäuslern geht es immer wieder um geografische Herkunftsorte. Man beschließt, ein Wandbild mit einer Weltkarte herzustellen, die allerdings ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, indem sie das eurozentrische Weltbild aus den Fugen geraten lässt.

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Abbildung 3: Arbeit an einer Weltkarte nach einer Vorlage von Buckmister Fuller (Konzept: Veit Rogge), Werkhaus Münzviertel

Gerade in der ersten Zeit, als noch nichts feststeht, wird um jede Entscheidung gerungen. Häufig scheinen sozialpädagogische Anforderungen die künstlerischen Fragen zu dominieren. Und doch wollen eigentlich alle Kunst machen. Was Pierangelo Maset an anderer Stelle zur Sprache gebracht hat, gilt auch hier: »Der sensus communis ist nicht in kleinen Lernschritten vermittelbar, vielmehr ist er Ergebnis langer Bemühungen in der theoretischen und praktischen Arbeit an Kunstbegriffen. Er geht nicht in der ästhetischen Erfahrung des Subjekts auf, sondern hält das Außen der gemeinschaftlichen Wahrnehmung im günstigsten Fall offen.« (Maset 2001: 8)

A tmosphären erzeugen Bei der Arbeit an ihrer Einrichtung merken die Werkhäusler nicht nur, wie viele Einzelentscheidungen getroffen werden müssen, wenn man selbstbestimmt arbeitet, sie erfahren auch, dass ihre Sichtweise gefragt

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ist. Wiewohl fast jede Tat erst einmal mit Abwehr beginnt, ist das Erfolgserlebnis, sobald ein Stück fertig ist, umso größer. Und die Dinge, die entstehen, sind nicht für die Mülltonne gemacht, sondern erfüllen im weiteren Alltag einen Zweck: Der Teewagen wird benutzt, das Regal gefüllt, der Song gespielt, die Suppe ausgelöffelt. Jede Tätigkeit ist immer auch Arbeit an der Gemeinschaft und damit an der Atmosphäre, die das Werkhaus ausmacht. Versteht man Atmosphäre als den »geteilten Raum gemeinsamer Stimmung« (Böhme 2006: 43), so wird deutlich, dass sich der schwer zu fassende Begriff aus dem objektivierbaren Außen und dem von jedem Einzelnen mitgebrachten Gestimmtsein zusammensetzt. Fragt man nach den Möglichkeiten der Herstellung von guter Atmosphäre, so kommt man dem vielleicht durch eine Haltung näher, die eine Aufmerksamkeit für das Zwischenmenschliche mitbringt, aber ebenso verhalten ist: sich zurücknimmt in ihren expressiven oder aktiven Intentionen zugunsten von Beiträgen zu etwas, was sich noch entwickeln muss. Das heißt auch: Die Atmosphäre muss jedem oder jeder Raum geben, mitsamt der Melancholie, Wut oder Angst, die seine oder ihre Situation mit sich bringt. Dass solche Gefühle Gelegenheiten erhalten und dennoch nicht dominant werden, ist entscheidend für den aufmerksamen Umgang aller unter- und miteinander. Raum und Zeit zu haben, sich zu entfalten, bedeutet im Werkhaus, dass Sorgen und Emotionen auftauchen dürfen. Ihnen wird dabei ein Platz eingeräumt, der sie nicht übermächtig werden lässt und die Befassung mit anderen Dingen erlaubt. Auch Sorgen müssen also relativiert werden, gerichtet, eingerichtet. Das gilt für die, die sie mitbringen, gleichermaßen wie für die, die sich ihrer annehmen. Wenn die Werkhäusler lernen, was es heißt, eine Atmosphäre zu erzeugen, dann erhalten sie Kenntnis über etwas, was sich zu großen Teilen bei der Ästhetisierung unserer Welt vollzieht: bei der Gestaltung von Städten und Landschaften, der Inszenierung der Warenwelt in Kaufhäusern oder von Bars, Flughäfen und Sportereignissen. Dabei geht es weniger um das Suggerieren von Bedeutung oder das Setzen von Zeichen als vielmehr um das Konstellieren von Dingen, Geräuschen, Bewegungsmöglichkeiten etc., um Stimmungen zu erzeugen. Gernot Böhme macht darauf aufmerksam, dass das Einüben der Erzeugung von Atmosphären zugleich ein kritisches Verhältnis zu den diversen Formen der Manipulierbarkeit mit sich bringe. Die Arbeit am Raum und die Erzeugung von Atmosphären stellt für ihn deshalb auch eine Möglichkeit der ästhetischen Bildung an Schulen bzw. für den Kunstunterricht dar:

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»Zunächst: Man lernt die Bedeutung leiblicher Anwesenheit kennen. […] Das Zweite ist die Wiederentdeckung des Leibes selbst als Medium emotionaler Teilnahme. Befindlichkeiten […] sind immer Befindlichkeiten im Raume. Schließlich muss man lernen bzw. einüben, dass Atmosphären wahrzunehmen Zeit braucht und Offenheit, man muss sich auf sie einlassen, man muss bereit sein, sich berühren zu lassen.« (Böhme 2006: 51)

Eine differenziertere Herausarbeitung des ästhetischen Bildungsmomentes bei der Gestaltung von Räumen steht sicherlich noch aus. Dabei wäre unter anderem zu untersuchen, wie sich an reformpädagogische Ansätze – etwa die Reggio-Pädagogik oder Montessori – anknüpfen ließe. Und zwar insbesondere in Umgebungen, die von ganz anderem Gedankengut »vorbereitet« sind. Auszugehen wäre dabei von einem Raumverständnis, dem der Gedanke der Aktualisierung durch Wahrnehmung zugrunde liegt. Martina Löw hat diesen Aspekt wie folgt herausgestellt: »Raum entsteht immer dadurch, dass Menschen Objekte zu einem Raum verknüpfen, sozusagen in einer Syntheseleistung die sozialen Güter oder Lebewesen, die sie wahrnehmen oder erinnern, zu einem Raum zusammenschließen.« (Löw/Geier 2014: 129)

Hier ging es zunächst darum, Anschlussmöglichkeiten an künstlerische Verfahren vorzustellen, die sich kritisch mit den Institutionen, in denen sie operieren oder von denen sie gerahmt werden, auseinandersetzen. Den Raum der Begegnung selbst in all seinen Facetten zum Thema zu machen, scheint mir für diese Unternehmung aber ein geeigneter Ausgangspunkt zu sein. Und so bietet sich eigentlich immer und überall eine Fülle an Material.

L iter atur Böhme, Gernot (2006): Architektur und Atmosphäre, München: Wilhelm Fink. Freudenberger, Silja: Repräsentation. Ein Ausweg aus der Krise, in: Freudenberger, Silja/Sandkühler, Hans Jörg (Hg.) (2003), Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Ein Forschungspro-

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gramm in Philosophie und Wissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 71-102. Gough, Maria (2005): The artist as producer. Russian Consructivism in Revolution, Berkeley/Los Angeles: University of California Press. Hauser, Arnold (1953/1990): Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München: Beck. Löw, Martina/Geier, Thomas (2014): Einführung in die Soziologie der Bildung und Erziehung, Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich. Lingner, Michael (1999): Krise, Kritik und Transformation des Autonomiekonzepts moderner Kunst. Zwischen Kunstbetrachtung und ästhetischem Dasein, in: Michael Lingner, Pierangelo Maset, Hubert Sowa (Hg.), ästhetisches dasein. Perspektiven einer performativen und pragmatischen Kultur im öffentlichen Raum, Hamburg: Materialverlag, S. 25-45. Maset, Pierangelo (1995). Ästhetische Bildung der Differenz. Kunst und Pädagogik im technischen Zeitalter, Stuttgart: Radius. Maset, Pierangelo (2001): Praxis Kunst Pädagogik. Ästhetische Operationen in der Kunstvermittlung, Lüneburg: edition HYDE. Mörsch, Carmen (2011): Arbeiten im Widerspruch, www.goethe.de/wis/ bib/prj/hmb/the/156/de8622710.htm [zuletzt 26.09.2016]. Mörsch, Carmen (2012): Sich selbst widersprechen. Kunstvermittlung als kritische Praxis innerhalb des educational turn in curating, in: Sternfeld, Nora/Jaschke, Beatrice (Hg.), educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung, Ausstellungstheorie & Praxis. Band 5, Wien: Turia+Kant, S. 55-77. Puffert, Rahel (2013): Die Kunst und ihre Folgen. Zur Genealogie der Kunstvermittlung, Bielefeld: transcript.

A bbildungen Abbildung 1: Werkhaus Münzviertel: Rückbau der Aula, © Werkhaus Münzviertel Abbildung 2: Arbeit am Modell (Entwurf: Veit Rogge), © Werkhaus Münzviertel Abbildung 3: Arbeit an einer Weltkarte (Konzept: Veit Rogge nach einer Vorlage von Buckminster Fuller), © Werkhaus Münzviertel

Form and Formation. Zur existenziellen Notwendigkeit von Kunst Almut Linde

Im Dezember 2016 wurde »postfaktisch« zum Wort des Jahres gekürt. Wie soll Bildung in einem sogenannten »postfaktischen Zeitalter« funktionieren? Wie damit umgehen, wenn Jugendliche als »Digital Natives« bezeichnet werden, nur weil sie die richtige App finden, ohne zu verstehen, wo sie ihre persönlichen Daten hinterlassen und welche Auswirkungen das haben kann? Die Diskrepanz zwischen minimaler Handlung – wie dem Klick auf einem Touchscreen – und maximalen Folgen – wie der unkontrollierten Verbreitung persönlicher Daten und deren Konsequenzen – ist immens. Die Verbindung zwischen formgebenden Ursachen, zwischen Form und Inhalt, scheint im digitalisierten Alltag vielerorts zerrissen. Die Potenziale eines Umgangs mit Kunst, sowohl in der Kunstproduktion als auch in der aktiven Rezeption im Zeitalter, in der sich angeblich jeder seine eigene Wahrheit zurechtbasteln kann, sollen hier untersucht werden. Wie kann sich ein anderer Umgang mit Realität in Kunstwerken manifestieren? Es wird die These aufgestellt, dass die Beschäftigung mit Form und formgebenden Kräften zu Sinnzuweisungen führt, die nicht von Sprache geleitet sind, sondern von der Deutung beobachtbarer Phänomene, die man im weitesten Sinne als Tatsache oder »Fakt« bezeichnen könnte (ohne jedoch an dieser Stelle die epistemologischen Implikationen und Widersprüche auszuleuchten, da das hier zu weit führen würde). Wenn hier über eine existenzielle Notwendigkeit von Kunst nachgedacht wird, so erscheint das vielleicht erst einmal verwunderlich. Es gibt den Kunstmarkt, den Kunstbetrieb, die Kunstsammler, das Kunstmuseum, die Kunstgalerie, die Kunstausstellung, die Kunstproduktion usw. Es ist offensichtlich, dass der Begriff »Kunst« in vielfältigster Weise in-

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haltlich belegt ist und ausgelegt werden kann, dass er instrumentalisiert wird und dass an dieser Stelle darum differenziert werden sollte. Hier geht es um das Erkenntnispotenzial von Kunstproduktion und darum, Dinge sichtbar zu machen, die noch nicht in das allgemeine Bewusstsein eingegangen sind und daher auch noch nicht mit Begriffen festgelegt und eingeengt sind. Begriffe sind Repräsentationen von Bedeutungszuweisungen. »Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig« (de Saussure 2001: 79). Form ist das nicht. Wie kann der Umgang mit Form als bildungsrelevante Funktion von Kunst verstanden werden? Im Folgenden soll dargestellt werden, inwiefern es im Umgang mit Kunst und mit Kunstrezeption um die Notwendigkeit eines Bewusstseins, eines genaueren Beobachtens von elementaren Formen, die der Wahrnehmung verborgen waren, geht. Wahrnehmung von Form und den Kräften, die hinter einer beobachtbaren Form stehen, ist eine Bewusstseinsarbeit, die von künstlerischen Werken ausgelöst werden kann. Es gilt, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, dass mehr Komplexität beobachtet und wahrgenommen werden kann, als es im begrifflich-sprachlichen Raum abgebildet werden kann. Es geht darum, Vorurteile zu verlassen, Einengungen der Begriffe zu verstehen und Verantwortung für das Beobachtete zu übernehmen.

S tandpunk t Eine Besonderheit der Perspektive des hier vorgestellten Entwurfs zur existenziellen und erkenntnisrelevanten Rolle von Form und von Kunst besteht darin, dass ich mich im Kunstfeld bewege. Aus diesem Grunde werde ich eigene Werke zur Argumentation heranziehen. Eine wesentliche Charakteristik meiner Praxis des Dirty Minimal besteht darin, dass ich in meinen Aktionen auch außerhalb des Kunstkontexts im Alltag oder in Extremsituationen Felder erzeuge, in denen ich mit den Beteiligten an einer Neuordnung von Wahrnehmung arbeite.

Form and Formation

F orm und F ormation . E ine kurze B egriffsdefinition Im Deutschen verweisen die Begriffe »bildende Kunst«, »Bildhauerei« und »Bildung« auf die starke Bindung an den Begriff »Bild«. Der englische Terminus für Ausbildung – formation – enthält dagegen den Begriff »Form«. Das Wörterbuch übersetzt Formation unter anderem auch mit der biologischen Bedeutung von Entstehung und Bildung. Der Begriff beinhaltet somit ein aktives Element, in dem der Prozess enthalten ist. Ähnlich begreift Meister Eckhard Bildung als einen Selbstformungsprozess, der mehr den Akt der Formung selbst als das Ansammeln von Erkenntnissen im Blick hat (vgl. Pazzini 1992: 47). Hier verwende ich den Begriff »Form« als eine Ordnung, die sichtbar ist. Dies umfasst sowohl Formen, die von Künstlern geschaffen werden, als auch Form als Ordnung, mit der wir Wirklichkeit wahrnehmen, indem wir Formen von anderen Dingen abgrenzen. Der Begriff »Form« ist nicht auf dreidimensionale Objekte beschränkt, sondern bezieht sich auch auf Ordnungen, die sich beispielsweise als Klänge, Farben, Bewegungen oder Handlungen manifestieren. Bereits Aristoteles entwickelt einen dynamischen Formbegriff, der Bewegung impliziert. In seiner Lehre tritt Stoff oder Materie immer nur geformt auf, und Form bedarf wiederum der Materie. Mit anderen Worten: Form ohne Materie oder Materie ohne Form ist nicht möglich. Das Besondere dieser Dichotomie ist, dass es auf den Funktionszusammenhang – also den Kontext – ankommt, ob wir etwas als Materie oder als Form begreifen. Ein Ziegelstein kann sowohl Materie als auch Form sein, je nach Kontext, in dem er betrachtet wird. Der Ziegel ist einerseits die Materie, aus der ein Haus gebaut wird, andererseits die Form, in welche die Materie Tonerde gebrannt wird (vgl. Höffe 1996: 107).

F ormation Aristoteles definiert Form nicht als ein statisches Objekt, sondern als Teil einer Bewegung, als innere formende Tätigkeit. Sein Begriff der Kausalität unterscheidet vier Ursachen: Stoff, Wirkung, Form und Zweck. So ist die stoffliche Ursache für eine Pflanze die Materie – Erde, Luft, Wasser, Sonnenlicht –, auf welche die anderen Ursachen einwirken. Die Wirkungsursache ist das Pflanzen des Samenkorns. Die formale Ursache ist

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die gesamte innere Bewegung von Osmose, Zellwachstum, Entwicklung und Ausrichtung von Stamm, Zweigen, Wurzeln und Blättern. Da die innere Bewegung des Samenkorns, die den Baum hervorbringt, nicht vom Baum als Ergebnis dieser Bewegung zu trennen ist, impliziert die formgebende Ursache stets auch die Zweckursache (vgl. Bohm 1987: 33). Eine Isolierung von Form und Zweck, also auch Form und Bedeutung, ist demnach stets eine künstliche Trennung, die nur im Denken oder in Sprache möglich ist, nicht jedoch in der Realität. Die aristotelische formale Ursache bezieht sich auf die Formgenese. »In der altgriechischen Philosophie […] bedeutet das Wort Form in erster Linie eine innere formende Tätigkeit (forming activity), die die Ursache für das Wachstum der Dinge und für die Entwicklung und Differenzierung ihrer verschiedenen wesentlichen Formen ist. […] Besser ließe sich dies vielleicht als formgebende Ursache (formative cause) beschreiben, um zu betonen, daß es sich nicht um eine bloße Form handelt, die von außen übergestülpt wird, sondern vielmehr um eine geordnete und gegliederte innere Bewegung, die den Dingen wesensmäßig eigen ist.« (Bohm 1987: 33)

Der Begriff »Formation« nimmt sowohl Bezug auf diesen beständigen intrinsischen Formungsprozess, der allen Dingen wesensmäßig eigen ist, als auch Bezug darauf, wie im Akt der Wahrnehmung eine neue Ordnung ausgestaltet wird. Form ist immer das Ergebnis von Bewegungen. Sowohl in der Kunst als auch in der Kunstvermittlung geht es darum, diese Bewegung hinter der Form aufzuspüren und Form als abhängig von Kontext zu verstehen. Bedeutung ist intrinsisch mit Form verbunden. Form kann nicht als eine beliebige leere Hülle, auf die neue Bedeutungen appliziert werden können, verstanden werden. In diesem Sinne stellt »Form« als Ausgangspunkt der Wahrnehmung ein Faktum dar; dessen Wahrnehmung bezeichnet der Quantenphysiker David Bohm als einen künstlerischen Akt: »Eine solche Wahrnehmung beginnt damit, daß man das ganze Faktum in seiner vollen Einzigartigkeit beobachtet und dann nach und nach die Ordnung ausgestaltet, die der Assimilation dieses Faktums gemäß ist. Sie beginnt nicht damit, daß man abstrakte vorgefaßte Meinungen darüber hat, wie eine Ordnung auszusehen hätte […].« (Bohm 1987: 189)

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Im Folgenden soll vorgestellt werden, inwiefern die Beobachtung von Form einen anderen Bezug zur Realität herstellen kann als die vorgefasste Ordnung eines Begriffes. Es geht darum, auf den Ursprung einer Form, auf die formgebenden Kräfte, zu achten und daraus mehrdeutige Bedeutungen abzuleiten, was den kreativen Prozess beinhaltet, eine neue Ordnung herzustellen.

U nterscheiden z wischen B egriff und F orm : Z wei B eispiele Die Videoarbeit Dirty Minimal #80.1 – Quietud/Cadena de Producción/ Stillness/Assembly line von 2013 entstand für die Ausstellung Radical Beauty im Domus Artium 2002 in Salamanca. Die spanische Stadt ist berühmt für ihre Wurst- und Fleischwaren. Das Video zeigt einen Moment der Produktion am Fließband eines Schlachthofes vor Ort. Zu sehen sind zehn frisch geschlachtete Ferkel, die an den Schnauzen mit Fäden vertikal an einem Metallring aufgehängt sind. Etwa zwei Drittel der Körper sind sichtbar. Die hellen, rosaweißen Körper sind an den Schultern mit roten Fleischstempeln versehen, die Augen sind geschlossen, die Körper aufgeschnitten und die Innereien entfernt. Abbildung 1: Dirty Minimal #80.1 – Quietud/Cadena de Producción/ Stillness/Assembly line; HD Video, 1:00 min., 2013

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Begriff Auf den ersten Blick erscheint das Bild im Reigen aufgehängter geschlachteter Ferkel brutal und abstoßend. Dies geschieht, wenn Aufhängung, geschlossene Augen, geöffnete Körper, Stempel als Zeichen interpretiert werden. Wir sehen »geschlachtete Tiere« und schauen zunächst nicht genauer auf die Form, in der diese erscheinen, das heißt, wir sehen die festgelegte Ordnung eines Begriffes. Der Anblick geschlachteter Tiere ist in unserem Kulturkreis unangenehm, für einige sogar schwer zu ertragen.

Form Aber auch Form, Farbe, Material und Bewegung sind sichtbar. Das hier abgebildete Filmstill zeigt einen bestimmten Ausschnitt, eine bestimmte Belichtung und ein bestimmtes Format. Im Video bewegt sich das Bündel der aufgehängten Tierleiber leicht wiegend erst in die eine, dann in die andere Richtung. Die Bewegung ergibt sich aus dem Moment eines kurzen Innehaltens des Produktionsprozesses des Bündels auf dem Fließband. Es handelt sich um eine natürliche Bewegung, die aus dem Arbeitsprozess heraus entsteht. Das Schaukeln der Körper ist gleichmäßig und ruhig. Es kann wie ein Wiegen wirken, nicht wie ein Moment im funktionalen groben Alltag eines Schlachthofes. Die Bedeutung ist nicht mehr eindeutig. Das heißt nicht, dass Bedeutung beliebig ist, sondern nur, dass der Betrachter in der Verantwortung steht, selbst genau zu definieren, was er beobachtet, und sich nicht auf vorgefertigten Begriffen oder Vorurteilen ausruhen kann.

Formgebende Kräfte Das Werk beleuchtet die Diskrepanz zwischen Materie (Ferkel) und formgebender Ursache, die hier in den Prozessen der Abläufe im Schlachthof besteht. Der Moment der Transformation von lebender Materie (Tier) zu Ware (Fleisch) ist sichtbar. Im zweiten Beispiel wird die Transformation durch die Präsentation eines Materials hergestellt: In Dirty Minimal #86.1 – 35 Hüllrohre zur Herstellung von Brennstäben für Kernreaktoren wird Wahrnehmung der Materie mit dem Wissen um ihre Verwendung kontrastiert. Eine Installation

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aus in einem Ausstellungsraum verteilten Hüllrohren zur Herstellung von Brennstäben für Kernreaktoren zeigt sich biegende leichte, dünne Metallstäbe aus Zirkaloy, die sich in der Zugluft der durchschreitenden Betrachter bewegen. Die Realität des Materials, die Leichtigkeit der Präsentation widersprechen der Vorstellung fester Brennstäbe oder Brennelemente und ihrer Verwendung in Kernkraftwerken. Der Betrachter ist mit seinen Vorurteilen konfrontiert. Die formgebenden Kräfte sind zum einen die industrielle Produktion der Elemente, die zur Betreibung eines Kernkraftwerkes notwendig sind, zum anderen die Aufhängung des Materials. Ebenfalls ist zu den formgebenden Kräften die Überzeugungsarbeit zu rechnen, derer es bedarf, um das Originalmaterial von der Kernenergiefirma zu erhalten. Die Neuordnung von Wahrnehmung ist Teil des Werkes. Abbildung 2: Dirty Minimal #86.1 – 35 Hüllrohre zur Herstellung von Brennstäben für Kernreaktoren. 35 Hüllrohre, Zirkaloy, je 1 x 400 cm. Installationsansicht Kunstpalais Erlangen 2014

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M inimal A rt Mit einer Neuordnung der Wahrnehmung von Form hat sich dezidiert auch die Minimal Art Mitte des letzten Jahrhunderts auseinandergesetzt. »[Der Künstler] Robert Morris bezieht sich beispielsweise auf die Gestalttheorie und geht nicht mehr von einer rein visuellen, sondern von einer körpergebundenen Wahrnehmung seiner extrem reduzierten Arbeiten aus« (Marzona 2005: 14). Die Minimal Art hat sich damit beschäftigt, die Essenz von Form zu definieren. Ihre Errungenschaft besteht darin, dass erstmals die konkrete Erfahrung und Wahrnehmung von Form innerhalb des Raumes durch den Betrachter in den Mittelpunkt rückt: »Dieser [Betrachter] war jetzt nicht mehr aufgefordert, in einem Akt der stillen Überlegung an der unveränderlichen Bedeutung des vor ihm aufgestellten oder aufgehängten Kunstwerkes nachzusinnen, sondern das seinen Raum teilende Werk aktiv wahrzunehmen, den Prozess dieser Wahrnehmung selbst zu reflektieren und mit Bedeutung aufzuladen.« (Marzona 2006: 11)

An dieser Stelle der Bedeutungsaufladung irrten die Minimalisten, indem sie die Form als ein leeres weißes Blatt definierten, das der Betrachter wiederum mit Bedeutung auflädt, anstatt die in der Form implizierte Bedeutung zu entfalten. Wie zuvor ausgeführt, wird Form in einem Material realisiert. Sowohl das Material als auch die Herstellung implizieren bereits Bedeutungen. An dieser Stelle setzt Dirty Minimal ein, indem es das Material und den Kontext, aus dem eine Form entsteht, in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Die Frage ist, was geschieht, wenn Konzepte der Minimal Art in der Realität außerhalb des White Cubes angewendet werden.

D irt y M inimal : K onzep t und R e alität In meinem Studium an der Hamburger Kunsthochschule interessierte es mich, wie die beiden scheinbar konkurrierenden Prinzipien, mit Realität umzugehen – Minimal Art als größtmögliche Reduktion von Komplexität und das Action-Painting von Jackson Pollock als generatives Verfahren zur Erzeugung von Komplexität –, miteinander verbunden werden können. An der Minimal Art faszinieren die Klarheit der Analyse und die

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Radikalität der Formreduktion, am Action-Painting die zur Erscheinung gebrachte komplexe Form, die aus einem anderen Raum als das Denken kommt. Es sollte untersucht werden, was geschieht, wenn Konzepte der Minimal Art in der Realität außerhalb des White Cubes angewendet werden und Materialität und Raum mit ihrer eigenen Bedeutungsvielfalt sichtbar werden. In der Arbeit Dirty Minimal #5.1 – Minimal Cube/Root von 1989 wurden auf einer Baumwurzel sechs gerade Sägeschnitte so platziert, dass ein regelmäßiger Würfel von prinzipiell gleicher Seitenlänge entstand. Die logische Ordnung des Kubus kontrastiert mit der scheinbar chaotischen Ordnung der Wurzelstränge. Die Anordnung der einzelnen Wurzelstränge kann nur generell, nicht aber im Detail genau beschrieben werden. Die Zusammenführung beider Formungsprinzipien offenbart den Konflikt zwischen Denken (Kubus) und Realität (Baumwurzel). Eine in der Logik der euklidischen Geometrie klare, einfache Form ist, sobald sie in der Realität angewendet wird, überhaupt nicht mehr einfach. Die zum Kubus gestutzte Wurzel zeigt eine Struktur, aus der ein Konflikt entsteht: Der Mensch will etwas, das im Gedanken einfach, klar, überschaubar und präzise ist wie ein Kubus. Wird der Gedanke in die Realität übertragen, wird der Konflikt manifest. Es entsteht mehr: Die regelmäßige Form ist verzerrt, es erscheint vermeintliche Imperfektion durch die Komplexität des Materials. Aus diesem Grund wird in meinen Werken dem Begriff »Minimal« der Begriff »Dirt« zugeordnet. Aus der Perspektive des Denkens erscheinen die unvorhersehbaren Elemente, die aus dem Kontakt mit Realität resultieren, als Störungen.

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Abbildung 3: Dirty Minimal #5.1 – Minimal Cube/Root. Ulmenholz, 100 x 100 x 100 cm, 1989; Studio Leverkusenstraße

Der perfekte Kubus ist ein Konzept. Der perfekte Kubus existiert in der Realität nicht. Er kann es nicht, da er immer aus einem Material bestehen muss. Im Denken ist ein Kubus eine einfache Form; in der Realität ist er das überhaupt nicht. Im Gegensatz zum mathematischen Kubus ist die genaue Form von Dirty Minimal #5.1 – Minimal Cube/Root komplex und in der Totalität ihrer Ausformungen nicht komplett beschreibbar. Was sich beim Anblick sofort erschließt: Die Komplexität der Wurzelformen ist in Sprache so nicht abbildbar.

R e alität und W irklichkeit Da Denken Einfluss auf Formen und damit auf die Wirklichkeit hat, ist es notwendig, die Begriffe »Realität« und »Wirklichkeit« voneinander zu unterscheiden. Im Gegensatz zum Begriff der Wirklichkeit bezeichnet Realität die Gesamtheit des Realen, all dessen, was möglich ist und (auch) außerhalb des Denkens existiert. Da Realität die Totalität all dessen, was möglich ist, darstellt, kann sie dem Menschen nie in ihrer Gesamtheit zugänglich und verständlich sein. Dem deutschen Wort »Wirklichkeit« als Meister Eckharts Übersetzung des lateinischen Begriffes actualitas ist der Aspekt des Wirkens immanent. Im Gegensatz zur Realität, die

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auch das Mögliche enthält und unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung ist, ist Wirklichkeit vom Menschen wahrnehmbar und auch beeinflussbar. Wirklichkeit beinhaltet gleichermaßen das Denken. Denken bringt Wirklichkeit hervor. Auch ein irrtümlicher Gedanke hat eine Wirkung, ebenso wie emotionale und subjektive Empfindungen für ein Subjekt eine bestimmte Wirklichkeit erzeugen.

F orm ist B e wegung »Matter is not a dead thing.« (Bohm 1989: 63)

Ergebnisse der Quantenphysik besagen, dass Realität etwas ganz anderes beinhaltet, als die Alltagserfahrung fester Körper, lokaler Bezüge und Zeit uns glauben macht. Das bedeutet auch, dass Realität nicht fassbar und nicht vorhersagbar ist. Wie David Bohm weiter ausführt, ist Quantentheorie nicht kausal, nicht kontinuierlich, es vollziehen sich diskrete Sprünge, aber die Dinge wandern dabei nicht durch einen Raum. Quantentheorie ist nicht lokal. Elektronen sind miteinander auf weite Entfernungen verbunden. Was Quantenmechanik und Relativitätstheorie miteinander verbindet, ist das Konzept einer »ungeteilten Ganzheit«: »Quantum mechanics […] says the energy exists in a form of indivisible quantum. The entire movement of the universe is made of unbreakable, indivisible links which include the observer and the observed which includes us as well as the atom we are looking at.« (Bohm 1979)

Somit nimmt der Prozess des Beobachtens bereits Einfluss auf das Beobachtete. Beobachter und Beobachtetes sind nicht voneinander zu trennen. Dies beinhaltet eine Verantwortung des Beobachters für das, was er beobachtet. Der Wunsch, eine allgemeingültige Bedeutung zu finden, ist unerfüllbar, da Bedeutung immer kontextabhängig, unabgeschlossen und mehrdeutig ist (vgl. Bohm 1989: 66). Mit dieser Unsicherheit zu leben heißt nicht, dass alles möglich ist oder dass Bedeutung beliebig ist. Es bedeutet, dass der Betrachter selbst Verantwortung für die Bedeutung übernehmen und sich des Kontextes und der Limitationen bewusst sein muss.

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A k tive und potenzielle F orm Der Physiker Bohm beleuchtet den Begriff der Information, in dem auch das Wort »Form« enthalten ist, wodurch Bedeutung und Information untrennbar miteinander verbunden sind. Informieren heißt: Form geben. »Literally ›to inform‹ means ›to put form into‹ something« (Bohm 1989: 43). Dabei muss die Information in einem Träger enthalten sein. Zum Beispiel in einer Radiowelle ist die Information inaktiv und nur potenziell. Aktiv wird die Information erst, wenn sie in die elektrische Energie eines Empfängers gelangt, der mit seiner Energie auf die Information antwortet. Wie wir schon bei Aristoteles gesehen haben, kann eine reine Form nicht existieren, sie muss immer in einem Material realisiert sein. Die Information gibt es genauso wenig wie die Form. Der aktive Prozess der Formgestaltung obliegt dem Betrachter im Moment der Wahrnehmung. Formwahrnehmung ist somit ein aktiver Prozess. Betrachtet man das Beispiel eines Wasserstrudels, so wird deutlich, dass das, was als Form sichtbar wird, keine eigene unabhängige Existenz besitzt, sondern sich in ständiger Bewegung befindet. Form ist eine Abstraktion vom Ganzen. Die sichtbare Gestalt des Strudels ist nur temporär, sie besteht nicht aus einem festen Material, sondern bildet sich durch die Bewegung der Wasserpartikel in jedem Moment neu. Es ist unmöglich, den Strudel zu beobachten ohne das Wasser, in dem er gebildet wird. Form muss daher immer wieder neu beobachtet werden. Die existenzielle Notwendigkeit eines Bewusstseins über Form und Formation besteht in der Folge darin, dass wir die Dinge nicht isoliert betrachten können, da Realität ein Ganzes bildet, von dem wir ein Teil sind, auch wenn wir Realität als Ganzes nicht verstehen können. Der Kontext – in diesem Fall die Bewegung im Material, in dem sich die temporäre Form bildet – muss mit beobachtet werden.

A k tive F orm : F ormbe wusstsein Ein Vorschlag ist, sich über den Prozess des Beobachtens bewusst zu sein und nicht Zeichen oder Begriffe zu sehen, sondern auf die Form und ihren Entstehungsprozess zu achten. Da die Welt ein Ganzes ist, wir das Ganze aber nicht erfassen können, bedeutet dies zum einen, dass Handlungen, die die Folge von Konzepten

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sind, immer mehr Konsequenzen haben, als wir uns vorstellen können. Diese Konsequenzen sind »Dirt« im schönen, sauberen »Reinraum« des Denkens, des »Minimal«. Zum anderen ist der Raum dessen, was wir als Form beobachten können, größer als der Raum, den wir mit Begriffen abbilden können, wie zum Beispiel die komplexe Form des Wurzelgeflechts in einem ausgeschnittenen Kubus. Radikal ist – in seiner ursprünglichen Bedeutung – der Verweis auf den Ursprung, die Wurzel der Form. Etwas anderes und mehr (Dirt) wird sichtbar als gedacht (Minimal). Entweder wir versuchen, die Realität unseren Vorstellungen anzupassen – was nicht geht –, oder wir versuchen, unsere Vorstellungen der Realität anzupassen – was wir tun müssen, um zu überleben. Dies bedeutet, systematisch zu lernen, mehr zu sehen, als wir wissen, uns vorstellen können oder adäquat in Begriffen abbilden können. Das beinhaltet ein neues Beobachten von Fakten oder Form mit einem Bewusstsein über Möglichkeiten und Limitationen des begrifflichen Denkens.

L iter atur Aristoteles/Hans Günter (Hg.) (1987): Aristoteles’ Physik. Vorlesung über Natur. Erster Halbband: Bücher I(A)-IV(Δ), Hamburg: Meiner. Bohm, David (1989): Meaning and Information, in: Pylkkänen, Paavo (Hg.) (1989), The Search for Meaning. The New Spirit in Science and Philosophy, Wellingborough: Crucible, S. 43-85. Bohm, David (1979), in: Dr. David Bohm interviewed by David Suzuki »The Nature of Things« CBC Canadian Radio 26 May 1979. Bohm, David (1987): Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus, München: Goldmann. Bohm, David (1990): www.bbk.ac.uk/lib/archive/bohm/BOHMB.32.pdf vom 18.11.2016. Höffe, Otfried (1996): Aristoteles, München: Beck. Marzona, Daniel/Grosenick, Uta (Hg.) (2006): Minimal Art, Köln: Taschen. Pazzini, Karl-Josef (1992): Bilder und Bildung. Vom Bild zum Abbild bis zum Wiederauftauchen der Bilder, Münster: Lit-Verlag. de Saussure, Ferdinand (2001): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin/New York: de Gruyter.

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A bbildungen Abbildung 1: Dirty Minimal #80.1 – Quietud/Cadena de Producción/Stillness/Assembly line; HD Video, 1:00 min., 2013, © Almut Linde Abbildung 2: Dirty Minimal #86.1 – 35 Hüllrohre zur Herstellung von Brennstäben für Kernreaktoren. 35 Hüllrohre, Zirkaloy, je 1 x 400 cm. Installationsansicht Kunstpalais Erlangen 2014, © Almut Linde Abbildung 3: Dirty Minimal #5.1 – Minimal Cube/Root. Ulmenholz, 100 x 100 x 100 cm, 1, Studio Leverkusenstraße 1989, © Almut Linde

»per faltung ins gebiet« – Zur Genese einer Klassenausstellung. Ein fiktives Gespräch Stella Geppert

Interviewerin: Wie kam es zu der Idee, eine Klassenausstellung zu machen, und wer hat sie genau geplant und umgesetzt? Stella Geppert: Die Ausstellung entstand aus dem Bedürfnis der Klasse, sich mit den künstlerischen Arbeiten der Öffentlichkeit und damit einem interessierten Publikum zeigen zu wollen. Deshalb waren folgerichtig alle Studierenden meiner Klasse und ich an der Konzeption und Durchführung der Ausstellung beteiligt. I: Bevor wir darauf ausführlich eingehen werden, möchte ich Sie bitten, zuerst kurz die Klassenstruktur zu erläutern. G: Gerne. Meine Klasse besteht aus circa vierzig Studierenden – davon sind zwei Drittel Kunst-Lehramt-Studierende und ein Drittel KunstpädagogikStudierende. Diejenigen, die sich für meine Klasse entscheiden, interessieren sich verstärkt für raumbasierte Künste. Das konzeptionelle Arbeiten steht dabei medienübergreifend im Vordergrund, und experimentelle Verfahrensweisen sind häufig Ausgangslage der künstlerischen Arbeiten. I: Zurück zur speziellen Ausstellungssituation – wie sind Sie damit umgegangen? G: Ich habe die Ausstellung explizit aus meiner Sichtweise als Bildhauerin gemeinsam mit den Studierenden geformt. Meine bildhauerischen Erfahrungen setzte ich dabei prozessinitiierend und methodisch ein, aber darauf werden wir später noch näher eingehen können.

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I: Aber gewiss doch! G: Das Ausstellen an und für sich war bei der speziellen Ausstellungssituation zunächst einmal die thematische Klammer, denn mir war es wichtig, dass die Ausstellung von der Vielfalt der künstlerischen Arbeiten heraus gedacht und umgesetzt wird. Das war ein komplexes Unterfangen, denn schließlich waren es die künstlerischen Arbeiten von 35 Studierenden, die ausgestellt werden sollten. In aller Ausführlichkeit wollte ich die Studierenden an den Gesamtgestaltungsprozess einer Ausstellung von der Reflexion der eigenen künstlerischen Arbeit über die Entwicklung einer gemeinsamen Ausstellungskonzeption bis hin zur Vermittlung heranführen. Nach einführenden Veranstaltungen zum Kuratieren, zur Vermittlung, zur Ausstellungsarchitektur und zu visueller Kommunikation wurden zu den jeweiligen Arbeitsfeldern Arbeitsgruppen gebildet, in denen die Studierenden nach ihren Vorstellungen Konzepte entwickelten. Basis für unsere Arbeit war das regelmäßig stattfindende Klassenplenum, in dem wir unsere gemeinsame Haltung zur Ausstellung präzisieren konnten. I: Was genau ist ein Klassenplenum? G: Vermutlich ist es eines der ältesten Lehrformate im Rahmen eines Kunststudiums überhaupt: Im Klassenplenum treffen Studierende einer Klasse den Lehrenden, und es werden künstlerische Arbeiten besprochen. Je nach Hochschulkultur und Künstlergeneration stehen und fallen dort die Hierarchien. Das Klassenplenum ist in meiner Klasse weitestgehend von den Studierenden selbst organisiert und ein Versuch, Hierarchien zugunsten künstlerischer Lernprozesse zu befragen. Erklärtes Ziel ist es, einen Raum für zwischenmenschliche Interaktion zu schaffen, in dem kollektive Situationen zur ästhetischen Wahrnehmung erlebt werden. Durch experimentell angelegte Gesprächssettings werden künstlerische Arbeiten hinsichtlich ihrer inhaltlichen und visuellen Logik diskutiert. Auf dieser Basis wird auch gemeinsam überlegt, wie die Klasse als Betrachtungs- und Kommunikationskatalysator für die Weiterentwicklung der künstlerischen Arbeit hilfreich sein kann und nicht, wie ich als Professorin vor der Klasse die jeweils diskutierte Arbeit bewerte. Besonders interessiert mich dabei der Einzelne mit seinen Ausdrucksimpulsen im Zusammenspiel künstlerischer kollektiver Betrachtungs- und Besprechungsszenarien.

»per faltung ins gebiet«

I: Das Plenum ist folglich so etwas wie eine Matrix für verschiede­ne Gruppenzusammenkünfte, Betrachtungs- und Vermittlungszusammenhänge? G: Ja, genau. Deshalb können im Plenum unterschiedliche Formen der Teilhabe und des basisdemokratischen Handelns erprobt werden. Die Sensibilisierung für gruppendynamische Prozesse und diskursive Verhaltensweisen befördert ein klassenspezifisches Vorhaben wie zum Beispiel die Klassenausstellung. I: Welche Folgen hatte das letztendlich für die Auswahl der Arbeiten für die Ausstellung? G: Die Studierenden trafen die Auswahl der künstlerischen Arbeiten vollkommen eigenständig. Jede Arbeit sollte nach ihren inneren Prinzipien zur Geltung kommen und im Zusammenspiel mit allen anderen Arbeiten in eine übergeordnete Ordnungsstruktur übertragen werden. Mir ging es schwerpunktmäßig darum, einen flexiblen Gestaltungsrahmen zu spinnen und eine präzise angelegte Ausstellungsstruktur zu schaffen. I: Wie wurden im Zuge der Arbeit an der Ausstellung die basisdemokratischen Vorgehensweisen genau sichtbar? G: Wir entwickelten zunächst einen Leitfaden, der eine wertvolle Orientierung und diskursive Grundlage für eine auf Vertrauen auf bauende, eigenständige Tätigkeit der einzelnen Arbeitsgruppen bildete. Gleichzeitig warf er grundlegende Fragen der künstlerischen und kunstpädagogischen Haltung, der Innen- und Außenwahrnehmung von künstlerischen Arbeiten und zum Sendungsbewusstsein der Klasse auf. I: Könnten Sie die wichtigsten Punkte dieses Leitfadens kurz umreißen? G: Ein wiedererkennbares oder assoziativ funktionierendes Erscheinungsbild und eine inhaltliche Klammer sollten alles verbinden. Die einzelnen Konzepte der Arbeitsgruppen sollten wiederum aufeinander reagieren können, wobei die Arbeit in den Gruppen eigenständig stattfand. Das Auflösen der Wissenshierarchie zwischen Künstlern und Besuchern war ein wichtiges Anliegen und ging mit dem Bedürfnis jedes Einzelnen einher,

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sich an einer Tätigkeit orientierend zu identifizieren. Das heißt, je nach Handlung bin ich entweder Künstlerin oder Vermittlerin. Da die Beschlüsse konsensbasiert waren, folgte später die Vereinbarung, dass analoge Kommunikation und Präsenz Vorrang vor digitaler Kommunikation haben wird. Das heißt also, dass Beschlüsse, die vor Ort gemacht worden sind, nicht nachträglich durch Meinungsbildung via E‑Mail beeinflusst werden dürfen. Das Gleichgewicht zwischen individuellen Entscheidungen und denen der Klasse sollte im Rahmen der Ausstellung gewährleistet werden. I: Was meinen Sie damit? G: Die Auswahl der künstlerischen Arbeiten sollte die künstlerische Arbeitsweise eines jeden Einzelnen repräsentieren. Jede Arbeit wurde so lange im Gesamtzusammenhang der Ausstellung positioniert, bis jeder mit Ort und Kombination einverstanden war. Jeder war zum einen für die Ausrichtung der eigenen Arbeit zuständig und zum anderen auch für den Überblick über alle Exponate, was von der räumlichen Vorstellungskraft her eine große Anstrengung darstellt. I: Wie wurde diese Anstrengung von Ihnen und der Klasse aufgefangen? G: Zur Vereinfachung der Kommunikation wechselten sich Phasen der Diskussion mit Phasen der Visualisierung der theoretischen Konzepte regelmäßig ab. Ich bezweckte damit, dass die verbale Auseinandersetzung mit materialisierten Gedanken in Form von Collagen, Modellbauten und Mindmaps verknüpft wurde und sich sämtliche Informationen in unseren Köpfen bildhaft verankern konnten. Das vereinfachte ein komplexes Anliegen wie »Ich stelle meine Arbeit aus« im Zusammenhang mit allen anderen Anliegen enorm. Diese materialgebundenen Gesprächssettings, wie ich sie nennen möchte, bildeten sich als wertvolle Grundlage von Entscheidungsprozessen heraus. Als eine Art von Übersetzungsleistung waren sie für die künstlerische Positionierung generell sehr anregend und im Spezifischen für die Vermittlung von großem Wert.

»per faltung ins gebiet«

Abbildung 1: Motiv für die Einladungskarte/Fotografie von Therese Lippold aus dem Modell des Ausstellungsraumes heraus, Halle 2013

I: Wie habe ich mir diese Übersetzungsleistungen konkret vorzustellen? G: Mit Übersetzungsleistung meine ich zum Beispiel: »Baue einen idealen Raum für deine künstlerische Arbeit im Maßstab 1:10.« So konnten wir später objekthaft veranschaulicht die Parameter für das Ausstellen der jeweiligen künstlerischen Arbeit im Architekturmodell des gesamten Ausstellungsraumes in verschiedenen Kombinationen mit anderen Arbeiten diskutieren. Und: Stellen Sie sich diese 35 Modelle von idealen Räumen in einem realen großen Raum aufgebaut vor – Sie erhalten dann eine Ausstellung als relationalen Behälter, der zur Schulung im Herstellen von Kontexten ideal geeignet ist. I: Die Ausstellung also als Kontextproduzentin? G: Genau. Indem Marcel Duchamp die Wirkung des Kontextes auf die Kunst – der Verpackung auf das Verpackte – ausstellte, besetzte er auf diese Weise ein Feld der Kunst, das bisher unentdeckt geblieben war. Die Entdeckung des Kontextes hatte eine Reihe von Gesten zur Folge, welche die Idee der Galerie als geschlossene Einheit und als manipulierbarer äs-

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thetischer Zähler weiterentwickelten. Von diesem Moment an steht die Verbindung zwischen Kunst und Kontext unter Strom (vgl. O’Doherty 1996: 75). Und um jener »Verpackung« nachzukommen, wollte ich erst mal das Licht ausmachen und gerade eben jene erwähnten Gesten aktivieren. Was macht ein Kunstwerk im Raum und mit dem Raum? Setzen, Stellen, Legen; in den Raum hinein und aus dem Raum heraus; über den Raum hinausgehen; Räume bauen, Räume verwerfen; über ihn hinwegschauen, durch ihn hindurch. Das sich installierende Kunstwerk kann als ein den Raum aktivierendes Element betrachtet werden, das die Aufmerksamkeit und die Verhaltensweisen des Betrachters lenkt. Es aktiviert und agiert – mal im direkten und mal im indirekten Sinne. I: Wie sind Sie dann auf die Ausstellung bezogen methodisch weiter vorgegangen? Wie könnten Sie das auf einen Punkt bringen? G: Kurz gesagt: mit der Wortreihe »von – zur – über – aus«. Denn es war eine Ausstellung, die sich langsam durch Methoden der Raumbeschreibung und Übersetzung nach und nach installierte. Die Tätigkeit des Ausstellens unter dem Aspekt des Installierens war die Ausgangslage – also die Ausstellung als Installation. I: Der Begriff der Installation lässt sich allerdings schwer fassen. G: Das stimmt. Installieren beschreibt den künstlerischen Vorgang, den Ausstellungsraum zu organisieren oder ihn sich anzueignen. Das meint in vielfältiger Hinsicht ein In-Beziehung-Setzen zum Ort und zum Publikum. Den Begriff der Installation verwenden Künstler mit der Ausstellungsform und Auf bauweise eines komplexeren plastischen Werkes an einem spezifischen Ort, um die Beziehung der Teile untereinander und zum gegebenen Raum festzulegen (Schlüter 2014: 46). I: Welche Rolle spielte der Titel »per faltung ins gebiet«, und wie ist er entstanden? G: Die Titelfindung der Ausstellung bildete ein eigenes Arbeitsfeld, denn schließlich war der Titel für alle Tätigkeiten rund um die Ausstellung nach innen ein wichtiger Impulsgeber und nach außen ein Scharnier. Es galt, einen gemeinsamen Überbau zum Ausdruck der Klassenidentität

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zu formulieren. »Als es meinen Körper durch den Raum bewegte« stand lange zur Diskussion. Übernommen haben wir aus diesem Titel den Bewegungsimpuls, der in dem Titel »per faltung ins gebiet« ebenfalls verankert ist. Also die Ausstellung quasi als Entfaltung. I: Per Faltung – wie soll das gehen? Das stelle ich mir sehr ungemütlich vor. G: Das ist es aber ganz und gar nicht (lacht). Wir befanden uns in den Vorbereitungswochen in einem Transferprozess, in dem durch das Arbeiten anhand von Modellen künstlerische Arbeiten positioniert wurden. Wir verhandelten die Kombinationen von Arbeiten und Vermittlungsmethoden. Das sind Denk- und Projektionsleistungen, die in der professionellen Arbeit eines Künstlers Tagesgeschäft und wertvolle Übersetzungstätigkeiten sind, in denen der Körper sich in etwas hineindenkt – konkret und konzeptionell. Hier berühren sich Kunst und Vermittlung; sie scheinen unzertrennlich, wie aus einem Gewebe gefertigt. Denn die »Faltung […] besitzt die Fähigkeit und das Potential, alles mit allem zu verbinden. Mit der Faltung spielen Künstler die großen Zusammenhänge durch und holen zugleich kleine Besonderheiten hervor« (Kunstmuseum Krefeld 2008: 19). I: Dann ist also die Faltung im Rahmen der Ausstellung im übertragenen Sinne als räumliche Figur oder als Kommunikationselement zu verstehen? G: So ist es. Als verbindendes Element der Ausstellung schien die Form der Falte sowohl als räumliches Prin­zip als auch als inhaltliche Denkfigur und den Prozess beschreibender Vorgang gut zu funktionieren. Die Falte ist per se ein Phänomen der Bewegung von Raum, denn sie faltet sich zweimal. Zunächst aufgrund der Elastizität des Materials und dann als plastische Form. Deleuze beschäftigte sich ja ganz ausführlich mit der Falte bezogen auf den Barock und den Begriff der Monade bei Leibniz: »Immerzu Falte in der Falte, wie eine Höhlung in der Höhlung. Die Einheit der Materie, das kleinste labyrinthische Element ist die Falte« (Deleuze 1988: 16, 20). Die Falte ist hier ein Kontinuum, das sich ins Unendliche in Falten unterteilt oder in Kurvenbewegungen auflöst. Die Falte schafft Raum und verbindet zugleich – das ist hier für die Vorstellung des sich bewegenden Körpers durch den Raum von Relevanz, aber auch für die Entwicklung von Organismen. Falten heißt nicht einfach Spannen oder

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ist das Gegenteil von Entspannen, sondern beschreibt auch Ausdehnen, Umhüllen, Auswickeln, Zurückentwickeln, Fortentwickeln, Entwickeln. I: Entsprechend der Deleuzeschen Auffassung der Falte schlägt Eva Sturm vor, doch besser von Faltung zu sprechen als von Meinung. Bei der Analogie zur Falte sind weitestgehend Zwischenstationen gemeint, die es zu verstehen gilt. Ihr geht es weniger um das Anhäufen von Meinungen als um das »genaue Beobachten–dessen–was–sich–zeigt« (Sturm 2011: 196f.). Eine Lernsituation findet sozusagen innerhalb von Faltungen und Entfaltungen und Zusammenfaltungen statt. G: Diese Analogie ist sehr interessant. I: Wie lässt sich auf dieser Grundlage die Sichtbarkeit der »Falte« in der Ausstellung konkret beschreiben? G: Als die Wahl für den Titel auf »per faltung ins Gebiet« fiel, stand schon fest, dass die Kunstvermittlung sich auf den öffentlichen Raum beziehen wird und die Einladungskarte multifunktional sowohl als Faltblatt zur Navigation durch die Ausstellung als auch als Plakat gestaltet sein wird. Darüber hinaus hatten die Studierenden beschlossen, nicht in hochschuleigenen Räumen auszustellen. Anstelle der Hochschulgalerie wurden zwei leer stehende Wohnungen im Zentrum von Halle gefunden. Anliegen der Klasse war es, dass diese Wohnungen in eine Art Ausstellungsplattform verwandelt werden sollten, die sich durch performatives und ortsspezifisches künstlerisches Handeln in den öffentlichen Raum ausbreitet. Die Ausstellung entfaltete sich also auf diese Weise im doppelten Sinne in den Außenraum jenseits der Hochschule. Die Kunstvermittlung benutzte dabei das Prinzip der Falte als konzeptuelle Grundlage und bildete den Auftakt und den Schlüssel zur Ausstellung. Interventionen bzw. Aufmerksamkeitsstudien, in denen sich Aspekte von künstlerischen Arbeiten qua Handlungsanweisung in das städtische Umfeld ausbreiteten, waren Teil des Vermittlungsprogramms namens »Streifzüge«. Die »Streifzüge« nahmen für sich keine übergeordnete Sichtbarkeit in Anspruch, aber trotzdem verwandelten sie das umliegende Gebiet punktuell in Orte des Erprobens und der Erfahrung. Durch diese Bewegung »von innen nach außen nach innen« wurde auch das Gehen zur und der Gang durch die Ausstellung in den Fokus gerückt.

»per faltung ins gebiet«

I: Sie sagen, das Gehen zur und durch die Ausstellung wurde thematisiert. Wie haben wir das genau zu verstehen? G: Die Ausstellung erschloss sich über einen Parcours, der beide Etagen miteinander verband. Durch die unerwartete Kombination und die teilweise unkonventionelle Positionierung und Hängung der künstlerischen Arbeiten wurden Gehrichtungen provoziert und Richtungswechsel motiviert. Mäandernd ließ es sich also durch die Ausstellung flanieren – das kuratorische Konzept und die Vermittlung ermöglichten somit auf unterschiedliche Art und Weise Raumerfahrungen. I: Wie verhielt es sich mit der Ausstellungsarchitektur? Oder genauer gefragt: Wie ist es Ihnen allen gelungen, die ehemaligen Wohnräume mit deutlich sichtbaren Spuren des Wohnens in einen Ausstellungsort zu verwandeln? G: Die Ausstellungsarchitektur bezog sich konkret auf das Wesen der Faltung. Durch gespannte Stoffbahnen wurden Raumelemente des Verhüllens, des Auf- und des Abdeckens installiert und somit räumliche Fragmentierungen statuiert. Die gesonderte Behandlung der Wandoberflächen schuf teilweise unerwartete Atmosphären, die zugunsten der künstlerischen Arbeiten nebeneinander in einem Raum wirken konnten. Eine Raumeinheit wurde einerseits in mehrere Segmente aufgeteilt und andererseits über den Dialog der Arbeiten untereinander wieder verbunden. Der Raum wurde auf diese Weise sozusagen aufgefächert und durch unerwartete Verknüpfungen zwischen den Arbeiten wiederum verdichtet. So konnten auch Blickachsen über bestehende Räume hinaus gebildet werden. I: Könnten Sie das näher beschreiben? G: Durch die frei schwebende Hängung der Malerei im Raum begegnete der Besucher ihr von der Rückseite her. Das heißt, er musste um die Leinwand herumgehen, die dem Material der architektonischen Raumelemente sehr ähnlich war, um anschließend zur Vorderseite der abstrakten Farbraummalerei von Nadine Fischer zu gelangen. Der ausufernde Farbraum innerhalb des Bildes verband sich mit dem Farbklang der Farbrückstände der Seitenwand. Dieser wurde dann durch die Installation von Elisabeth Decker an der gegenüberliegenden Wand aufgegriffen. Darüber

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hinaus hinterließen deren unzählige Sturmhaken kreisrunde Furchen im Putz der Wandoberfläche. Abbildung 2: Ausstellungsansicht »per faltung ins gebiet« mit Arbeiten von Nadine Fischer (Malerei), Elisabeth Decker (Rauminstallation) und Fotografie von Thomas Kirchner, Halle, 2014

I: Wir wollten ja nochmal auf Ihre Sichtweise als Bildhauerin und Ihre bildhauerischen Erfahrungen näher eingehen. Welche Rolle spielt hierbei die Bildhauerei genau? G: In meiner bildhauerischen Auffassung beinhalten Bewegungen jeglicher Art bereits formbildende Momente; das heißt, Handlungen kündigen Formen an, bevor sie entstehen. Ich betrachte deshalb körperliche Handlungen als eine Vorstufe »bildhauerischer Formprozesse« und als eine Möglichkeit der aktiven Umgestaltung vorgegebener architektonischer, gesellschaftlicher und institutioneller Rahmenbedingungen. Mich interessiert stets die Art, wie wir uns physisch und psychisch Raum aneignen und uns in ihm verorten, um uns in gesellschaftlichen Zusammenhängen ausdrü­cken und orientieren zu können. Es ist nie »copy and paste«, sondern immer »enter and change«. Genau genommen werden in meinen Arbeiten Verhaltensmuster hinterfragt und konkret räumlich verhandelt.

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Denn nur, wenn sich Bewegungsabläufe durch eine künstlerische Arbeit verdichten, raumbildende Momente entstehen und diese auf den Betrachter und den jeweiligen Raum zurückwirken, können Sehgewohnheiten erst in existenzielle räumliche Erfahrungen umgewandelt werden. I: Und wie kommen diese Ansichten über die Bildhauerei in Ihrer Arbeitsweise konkret zum Ausdruck? G: Als Bildhauerin bestehe ich auf eine intensive Vorbereitung von Prozessen und deren Beobachtung. Den vorbereitenden Handlungen wohnen Formen inne, die weitere nach sich ziehen. Das Arbeiten an einer Form oder Raumsituation zum Beispiel begreife ich daher als einen fließenden und sich ständig verändernden Vorgang, der sich in einer vorab von mir festgelegten Rahmensetzung bewegt und somit einer in sich variablen Programmatik folgt. Oder metaphorisch gesprochen: Die Form navigiert sich innerhalb der Wogen des zuvor auf bereiteten Hafenbeckens selbst. Wellenbewegungen schlagen auf und ab, Ströme und Strudel bilden sich. Diese Zielsetzung meiner Vorgehensweise bildet eine Art Vokabular, das einerseits Orientierung und andererseits Desorientierung herstellt. Meist erst im Widerstand zu diesem Widerspruch bilden sich Züge einer bildnerischen Form heraus. Ich sehe daher keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem Ursprung der Entwicklung einer modellierten Form und dem eines kommunikativen Aktes. I: Sie sprachen ganz zu Anfang davon, dass Sie als Bildhauerin prozessinitiierend und methodisch lehren. Wie meinen Sie das genau? G: Raumbasiertes künstlerisches Denken und Handeln ist für mich relationales Denken und Handeln. Bildhauerisches Denken verstehe ich deshalb als eine Methode, die ich in diesem Fall auf kunstvermittlerische Zusammenhänge anwende. Innerhalb meines Lehrprofils stellt also die Verknüpfung von künstlerischer, »bild-/räumlicher« Praxis und struktureller, prozessualer Denk- und Handlungsweise eine wesentliche Grundlage innerhalb der Lehrpraxis dar. Ich bin der Auffassung, dass bildhauerisches Handeln ein umfassendes Lernen ist, das die Komplexität der Sinne und deren Kombinatorik wachruft. Es ist ein Prozess, der über das Sehen und Sitzen, Verbalisieren und Diskutieren hinausgeht.

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I: Was ist im Rahmen der künstlerischen Praxis das Besondere an der Klassenausstellung für Sie gewesen? G: Im Kern war die Ausstellung nicht nur Raum- und Kontextproduzentin, sondern auch ein relationales Behältnis. Indem die Studierenden die künstlerischen Arbeiten im Raum installierten, klärten sie nicht nur ihre eigene künstlerische Position, sondern erlebten auch, wie die Räume sich durch die Bezüge der Gegenstände untereinander veränderten. Angeregt und motiviert durch die atmosphärisch aufgeladenen Wand- und Bodenoberflächen und die Faltungen der Ausstellungsarchitektur mussten sich die künstlerischen Arbeiten und die Studierenden im übertragenen Sinne räumlich im Gesamtkontext der Ausstellung verorten. Die Klassenausstellung war ein kollektives Ereignis, das die Gestaltungs- und Kommunikationsradien von Kunst räumlich erfahrbar machte, denn eine umfassende künstlerische Praxis ist ohne die Kultur des Ausstellens und deren Vermittlungszusammenhänge schlichtweg unvollständig. Im Moment der Übersetzungsmotivation sind sich künstlerische und kunstpädagogische Handlungen unglaublich ähnlich, weil im Zirkel dieser sogenannten »Verhältnisforschung« Instrumentarien des Eindrucks und des Ausdrucks dicht beieinander liegen. Diese Koexistenz bildet den Nährboden einer Übersetzungskultur, die sich stets in Formen äußert – und nur wenn sie sich in Formen äußert, ist sie körperlich erfahrbar und somit räumlich wahrnehmbar. »Per Faltung in die Galaxie« oder von der Betrachtung einzelner Planeten in ein materialisiertes, kollektiv erfahrbares Universum – Übersetzungskulturen umkreisen die Umlauf bahn. Hiermit wären wir dann auch wieder bei den raumbasierten Künsten. I: Mir fällt dazu der Ansatz von Markus Miessen zur konfliktorientierten Partizipation ein: »Erst wenn man den Bereich der Profession verlässt, wird architektonisches Denken (in diesem Fall bildhauerisches Denken) interessant« (Miessen 2012: 26). Was sagen Sie dazu? G: Ich finde, das ist ein sehr nachvollziehbares Statement. Ich thematisierte raumspezifische Fragen im Zusammenhang mit diskursiven Settings zur Förderung von Teilhabe. Zudem wollte ich von Beginn an, dass diese Ausstellung unter Bewusstwerdung von hierarchischen Strukturen, die einerseits in der Hochschule, aber andererseits auch im Ausstellungszusammenhang zwischen den unterschiedlichen Positionierungen als

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Künstler, Kurator und Vermittler existieren, entwickelt wird. Rückblickend würde ich die Arbeit an der Ausstellung wie einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Tanz beschreiben: Das Zuschauen als alleinige Funktion ist dabei nicht vorgesehen, vielmehr erfolgen das eigene Handeln, also das Umsetzen der Bewegungsvorschläge, und gleichzeitig genaues Zuschauen und Im-Blick-Behalten von allen Teilnehmenden – es entsteht somit eine gemeinsame choreografische Komposition. Schnell wird dabei deutlich, dass die Beziehungen zwischen den Handlungsvorschlägen quasi ein »choreografisches Konzert« als ein komplexes soziales Gefüge entwickeln, in dem es notwendig ist, auf die Aktionen der anderen Teilnehmer zu achten. Erst so ist es möglich, Handlungsvorschläge umzusetzen, die sich direkt auf andere Aktionen beziehen (Burri, Evert, Peters, Pilkington, Ziemer 2014: 14). In diesem Fall kann diese Ausstellung als ein komplexes Gefüge betrachtet werden, in dem alle Aktionen der Teilnehmenden Bezüge zueinander auf bauten.

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Abbildung 3: Aus den Fenstern vorgetragene Eröffnungsrede zu »per faltung ins gebiet«, Innenhof, Oleariusstraße 9, Fotografie des Klassenarchives, Halle, 2014

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»per faltung ins gebiet«

A bbildungen Abbildung 1: Motiv für die Einladungskarte/Fotografie von Therese Lippold aus dem Modell des Ausstellungsraumes heraus, Halle 2013, © Klassenarchiv Stella Geppert/Therese Lippold Abbildung 2: Ausstellungsansicht »per faltung ins gebiet« mit Arbeiten von Nadine Fischer (Malerei), Elisabeth Decker (Rauminstallation) und Fotografie von Thomas Kirchner, Halle 2014, © Klassenarchiv Stella Geppert/Thomas Kirchner Abbildung 3: Aus den Fenstern vorgetragene Eröffnungsrede zu »per faltung ins gebiet«, Innenhof, Oleariusstraße 9, Fotografie des Klassenarchives, Halle 2014, © Klassenarchiv Stella Geppert

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Perspektiven der Transkulturellen Kunstvermittlung 1 Inga Eremjan

Unsere Gesellschaften sind durch vielschichtige Ungleichzeitigkeiten geprägt. Individualität, Mehrfachzugehörigkeiten und Grenzüberschreitungen werden gehypt und Offenheit propagiert. Gleichzeitig bestimmen Standards unser Denken, Wahrnehmen und Handeln. Denn um die Wandelbarkeit und Flexibilität der leistungsbezogenen Gesellschaft zu gewährleisten, orientieren sich Bildungsinstitutionen an Maßgaben internationaler Standards. Komplexe Bildungsreformen und die Reduktion der Bildung auf überprüf bare Leistungen hinsichtlich ihrer Verwertbarkeit kennzeichnen dabei den Kern der Bestrebungen (vgl. Borst 2011: 14f.). Bildung wird so als eine Produktivkraft definiert, die eine Bedingung für technischen, ökonomischen und kulturellen Erfolg von Staaten darstellt (vgl. Uhle 2006: 41, 48f.), und Wissen als Ressource ökonomischen Wohlstands gedeutet (vgl. Maset 2009: 110). Die Reflexion der Einführung von Bildungsstandards und Bildungsmonitoring veranschaulicht, dass sich gesellschaftliche Veränderungen im Bildungssystem festsetzen und hier durchaus destruktive Wurzeln schlagen (vgl. Foucault 1977, 1994). So artikuliert sich Macht etwa durch institutionelle Reglementierungen. Praktiken wie die »Disziplinierung« (nach Foucault) und das »Mind-Fucking« (nach Spivak) setzen dabei am Körper an. Macht wird als das dynamische Verhältnis verstanden, das in der Geschichte der menschlichen Zivilisation immer stärker in die Körper der Subjekte eingeschrieben wird. Dabei produziert Macht ein bestimmtes Wissen, das Ignoranz als Unwissen, »welches [nach Spivak] nicht blamiert, sondern gegenteilig die eigene Position der Macht stabilisiert« (Castro Varela 2007: o. S.), und dadurch eine bestimmte gesellschaftliche Klasse an der Macht hält und eine andere vom Instrumentarium der Macht

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ausschließt. Es besteht eine voneinander abhängige Verzahnung zwischen dem jeweiligen Wissen und den gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb derer dieses Wissen entsteht. Die Geltung dieser Verbindung fundiert sich, indem sie durch verschiedene institutionelle Reglementierungen wie ausgreifende Standardisierung und Kompetenzorientierung konkrete, sich binär gegenüberstehende, ausschließende Zugehörigkeiten entwirft, innerhalb derer sie den Einzelnen und die Gesellschaft ordnet, diszipliniert und sozialisiert (vgl. Foucault 1991: 93ff.). Nationale und internationale Vergleichsstudien (wie etwa IGLU und PISA) belegen diese selektive Wirkung unseres Bildungssystems, das auf einer (Aus-)Musterung nach sogenannten Defiziten basiert. Denn wie in keinem anderen Land steht in Deutschland der Bildungserfolg in einem signifikanten Zusammenhang zu der Ethnizität und der sozialen Position. Insbesondere die ausgreifende Standardisierung mit ihren ordnenden Strukturen, die auf das Gleichmachen von Ungleichem zielt, verdeutlicht, dass Bildung zu einem Regulator von sozialer Inklusion und Exklusion2 geworden ist. So ist Bildung das Mittel einer diskriminierenden Fremdbestimmung, die auf die Allgemeinbildung als politisch motivierte Bildung zielt, wenn sie ihren Zweck in der »Mündigkeit des Subjekts« sieht, wobei dieses »mündige« Subjekt als Basis der funktionierenden Staats- und Gesellschaftsordnung erkannt wird (vgl. Legler 2009: 133). Durch Vereinfachung wird der Bildungsgedanke reduziert, Beteiligung simuliert, ohne Einmischung und Teilhabe zu ermöglichen (vgl. Mörsch 2006: 181). Auf diese Weise werden das selbstständige Urteilen und die vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen vertan (vgl. Legler 2009: 61f.; vgl. Adorno 1998: 103). Das Denken, Wahrnehmen und Handeln findet somit gekennzeichnet durch den »Mangel der Erfahrung« (Adorno 1998: 103) im Rahmen der eigenen »mumifizierten Kultur« statt (Fanon 1980 zit.n. Bhabha 2000: 12). Bildung spiegelt auf diese Weise die hegemonialen Strukturen von Gesellschaften auf die Individuen (vgl. Böhmer 2012: 389). In ihrer aktuell institutionalisierten Form ist sie Ausdruck und Instrument von Macht- und Herrschaftsbeziehungen und somit unabdingbar für die Organisation des Staates und das Wirtschaften der Ökonomie (vgl. Heydorn 1967-1970: 207). Auch der Kunstunterricht wird von den gegenwärtigen Entwicklungen geprägt und zugleich eingeschränkt. Um seine Verdrängung zu verhin-

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dern, konzentriert sich auch die Kunstdidaktik zunehmend auf Bildungsstandards, Bildungssicherung und orientiert sich somit am Kompetenzbegriff.3 Im Mittelpunkt der fachspezifischen Kompetenzen steht das Bild. Die Konzentration auf das Bild als Alleinstellungsmerkmal zeugt von einem an der Sachstruktur orientierten Agieren und dient der Verbesserung der Standortbestimmung. Dadurch werden jedoch originäre Formate der Kunstvermittlung unterdrückt und das besondere Bildungspotenzial von Kunst für den Einzelnen in der transkulturellen Gesellschaft verschwendet. Wie auch Maset pointiert, hat die Kunst dabei das »Nachsehen, denn ihr wird genau das vorgeworfen, was für sie konstitutiv ist: sich zwischen Sein und Schein zu bewegen und deshalb zwangsläufig nicht eindeutig auf der Seite des Authentischen zu stehen« (Maset 2000: 72). Sich an gesellschaftlichen Wandlungen orientierend, versteht sich die Transkulturelle Kunstvermittlung als Gegenbewegung zu entsprechenden aktuellen Entwicklungstendenzen. Sie wehrt sich gegen die Verkürzung des Bildungspotenzials (von Kunst) und nimmt die speziellen – kritischen und konstruktiven – Aufgaben in den Blick, die der Kunstvermittlung zukommen. Die bildungstheoretische Legitimation einer derartigen zeitgenössischen Kunstvermittlung erfolgt vor dem Hintergrund einer identitätstheoretischen Forschung und der Transkulturalität sowie Hybridität als Grundlage jeglichen pädagogischen Handelns. Die Entfaltung von Möglichkeiten mittels ästhetisch-künstlerischer Verfahren zur Bildung und Förderung der Entwicklungsfähigkeit des Subjekts in der transkulturellen Gesellschaft und zugleich transkultureller Prozesse wird in den Fokus gerückt. Zentral ist die Erhöhung der Selbstbestimmung und aktiven Teilhabe des Einzelnen, der sich angesichts fortwährender Differenzierungstendenzen, verbunden mit einer Komplexitätssteigerung zur Bewältigung gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen, positionieren und handlungsfähig bleiben soll. Es geht darum, Bezugspunkte und Räume aufzuspüren, die Umstrukturierungen und neue Orientierungsmuster schaffen. Ein differenziertes Repertoire als Basis für das Handeln und Aushandeln von transkulturellen Grenzüberschreitungen, Rollenambivalenzen und flexiblen Modifizierungen von verinnerlichten Mustern und Strukturen ist wegweisend. Prozesse, die durch vielfältige Begegnungen und Erfahrungen zwischen dem sogenannten Eigenen und dem Fremden entstehen, werden in den Mittelpunkt gestellt und als Potenziale für eine zukunftsorientierte,

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dialogische Entwicklung von Transformation, Kommunikation und Partizipation gedeutet. Das Eröffnen von selbstbestimmten, gleichberechtigten und wechselseitigen Austauschprozessen steht im Vordergrund. Insbesondere diese Art der Erzeugung von Teilhabe bleibt als grundlegende Perspektive bei der Beobachtung ästhetischer Prozesse wesentlich. In diesem Kontext ist das Eröffnen verschiedener Felder von Autonomie zentral. Im Sinne Sartres ist es von essenzieller Bedeutung, dass die Teilhabenden »denkend-handelnd-reflexiv-emphatisch […] etwas aus dem […] machen, was man aus ihnen gemacht hat« (Sartre zit.n. Sturm 2002: 206). Doch wie kann sich nun der Einzelne gegen die ausgreifenden Machtund Herrschaftsstrukturen, die sich aktuell etwa durch institutionelle Reglementierungen artikulieren, auflehnen, um seine Entwicklungsfähigkeit und aktive, selbstbestimmte Teilhabe in der transkulturellen Gesellschaft zu entfalten? Bildung als »innerer Vorgang«, welcher »die Formung und Entfaltung der menschlichen Kräfte im jeweiligen Subjekt« (Kunze 2012: 136) betrifft, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Gerade Bildung als ein individueller und unendlicher Prozess beinhaltet Wesenszüge, die in der transkulturellen Gesellschaft, wo das Subjekt selbstbestimmt und aktiv Vielfalt, Mehrfachzugehörigkeiten und Grenzüberschreitungen aushandeln und gestalten lernen sollte, immer wichtiger werden. Denn Bildung hört nicht beim Wissenserwerb auf, sondern schließt das Werten und Entscheiden ein und entfaltet derart Möglichkeiten von Zukunft. Diese Prozesse sind Bewegungen, die sich durch »ein mobilisierendes und Handlungen ermöglichendes Verhältnis« (Mecheril/Vorrink 2013: o. S.) zu der Welt, zu dem Anderen und sich selbst artikulieren, die nach sich ziehen, »dass man eine andere [bzw. ein anderer] wird, die Welt eine andere wird und zu einer solchen, der man antwortet« (Mecheril/Vorrink 2013: o. S.). Geprägt sind diese Prozesse durch Erfahrungen, die die Eigenaktivität des Einzelnen im foucaultschen Sinne markieren. Denn Erfahrung bedeutet: »mich von mir losreißen, mich daran hindern, derselbe zu sein« (Foucault 1996: 27). Selbstgestaltung als zentrales Moment von Bildung widersetzt sich, nur ein Produkt fremder Ziele und Erwartungen zu sein, und befördert derart zum Widerstand eigener Subjektwerdung als eine wesentliche Grundlage in der transkulturellen Gesellschaft (Pazzini 2003: 13). Die Gesellschaft ist ebenso wie die Stellung des Einzelnen der Reflexion von Bildung unterworfen (vgl. Heydorn 1967-1970: 221). Im Zuge

Perspektiven der Transkulturellen Kunstvermittlung

dessen bewahrt Bildung als »Erhaltung bei gleichzeitiger Weiterentwicklung« (Maset 2012: 83) und Entgrenzung das transkulturelle Subjekt vor der Auflösung im Prozess und fördert zugleich seine Entwicklungsfähigkeit als ein Hauptelement der hier vorgestellten Vermittlungsarbeit. Mit der Befähigung zur Selbstbestimmung trägt dieses Bildungsverständnis vorrangig zur Steigerung der Handlungsfähigkeit bei und ermächtigt zugleich zur sozialen Teilhabe und Mitgestaltung unterschiedlicher Praxen in der transkulturellen Gesellschaft (vgl. Kunze 2012: 337). In diesem Zusammenhang wird die Strategie der Hybridität ins Blickfeld gerückt. Die Hybridität ist eine zentrale Strategie des Widerstandes, eine »Überlebensstrategie« (Bhabha 1996: 346) in der transkulturellen Gesellschaft. Unter Berücksichtigung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen verdeutlicht der Kulturtheoretiker Bhabha – aus einer postkolonialen Perspektive mit seiner Theorie der Hybridität – die Gleichzeitigkeit von Identifikation und Abspaltung. Hybridität ist dabei nicht die nachahmende Angleichung und Handlung, die die Regelmäßigkeiten des eigenen Feldes reproduzieren, sondern eine performative Aushandlung und Erzeugung von Neuem, von Transformationen (vgl. Lacan 1980 nach Bhabha 2000: 125; vgl. Bhabha 1994: 126). Bis zur täuschenden Ähnlichkeit werden die charakteristischen Merkmale des (mächtigen) Anderen, also etwa des Systems, zu eigenen gemacht, durchdrungen von einem unüberwindbaren Rest, der Differenz. Diese Differenz wirkt als Störung, welche dem System seine eigene Diskursivität verdeutlicht (vgl. Bhabha 2000: 126f.): »Hybridität […] entthront die Forderungen der herrschenden Macht, führt ihre Identifikationen aber in Strategien der Subversion wieder ein, die den Blick des Diskriminierten zurück auf das Auge der Macht richten« (Bhabha 2000: 165). Es erwachsen voneinander abhängige Referenzsysteme von Bedeutungszuweisungen und gesellschaftlichen Machtordnungen, bestimmt durch eine ungleiche Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden (vgl. Schneider 1997: 43). Derart graben Hybridisierungsstrategien Entfremdungsbewegungen aus Einschreibungen kultureller Zeichen, epistemischer und symbolischer Gewalt hervor. Durch das Überschreiten der herrschenden Diskurse mobilisieren sie neue Bedeutungen und Vorstellungen jenseits von eindeutigen Unterscheidungen und Zuordnungen. Sie eröffnen Verhandlungsräume (vgl. Schneider 1997: 43). Dabei schwächen Strategien der Hybridität bestehende Macht- und Herrschaftsformen nicht, sondern tragen zu ihrer Neuanordnung bei, und zwar von innen

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heraus, im Sinne der Dekonstruktion nach Derrida (Derrida 1983). Es geht hier in erster Linie um Transferleistung im Medium körperlicher Transformation der imitierten Vorgaben in den Bereich individueller, ästhetischer Wahrnehmungen und Erfahrungen als permanente Quelle kreativer Variationen (vgl. Adorno 1970: 38f.). Hybridität ist eine zentrale Strategie des Einzelnen in der transkulturellen Gesellschaft und verweist auf das besondere Bildungspotenzial der Kunst. Kunst als permanente Quelle von Bildung in der transkulturellen Gesellschaft kristallisiert sich als wegweisend heraus. Das Potenzial der Kunst für den Einzelnen ist allen voran durch ihre Inhalte und Strategien fundiert und daher geeignet, innovative Zwischenräume der Aushandlung und transkulturellen Transformationen zu entfalten, aus denen heraus anknüpfend an vergangene und bestehende alternative Positionen kreiert werden können. Gerade weil Gesellschaften zunehmend von Übergängen, Ungleichzeitigkeiten und schnelllebigen Transformationen durchdrungen sind, gilt es innerhalb dieser Strukturen zu agieren und diese aktiv gestalten und insbesondere mitbestimmen zu lernen. Die aktuellen Standard- und Kompetenzorientierungen stellen hierbei keine adäquaten Instrumente dar. Anders verhält es sich mit den auf Grenzüberschreitungen angelegten Übergangsformen der Pluralität der Kunst, denn sie können dem Einzelnen ermöglichen, in Situationen der Pluralität zu handeln. Modifikationen von Realitäten und divergente Räume können im Medium ästhetisch-künstlerischer Artikulation entwickelt werden, in denen Verbindung und Begegnung möglich und Gelegenheiten kreiert werden, starre Bedeutungen zu hinterfragen, auszuhandeln, neu zu konstruieren und sich in alternativen Formen der Identitäts-, Fremd- und Kulturproduktion zu erforschen. So eröffnen sich vielfältige Aushandlungen mit Fremdheit des Selbst und des Anderen. Die Verhandlung von Fremdheit als eine Grundlage der Kunst kennzeichnet dabei keinen Zustand, welcher überwunden wird, sondern hat eine eigene »ästhetische Qualität« (Leskovec 2011: 14). Sich an ästhetisch-künstlerischen Prozessen orientierend kann eine Bewusstseinsänderung, die Fremdheit als Potenzial nutzt und nicht zu überwinden sucht, angestoßen werden. Insbesondere ästhetisch-künstlerische Praktiken, die den Rezipienten einbeziehen und ihn auffordern, Mehrfachzugehörigkeiten, Grenzüberschreitungen, Überschneidungen des eigenen transkulturellen Lebens sowie die Oszillation zwischen

Perspektiven der Transkulturellen Kunstvermittlung

der Verortung und Entortung des Selbst reflexiv erfahrbar zu machen, sind wegweisend. Derartige Praktiken konstruieren und dekonstruieren Möglichkeiten für die Auseinandersetzung mit sozialen Realitäten und künstlerischen Interventionen, die eine Verhandlung aus divergenten Perspektiven und einen subjektiven Zugriff des Einzelnen auf die Gegenwart entfalten. Der Wert derartig initiierter und wirklichkeitsanaloger Situationen offenbart sich durch das Ästhetische selbst, welches uns mit Möglichkeiten des Erahnens von Unbestimmbarem bereichert. Potenziale der Methoden und Strategien solch partizipatorischer Praktiken können nicht in dem Sinne verallgemeinert werden, dass sie zu normativen Grundlagen der Kunstvermittlung werden. Es sind Bearbeitungen, die sich den beschriebenen komplexen Prozessen, mit denen sich der Einzelne auseinandersetzen muss, stellen. Und auch im Feld der Kunstvermittlung können diese Prozesse bearbeitet werden. Sie münden in einer Habitualisierung im Medium und der Einschreibung des mimetischen Körpers. Sie leisten in den Spurenbildungen innerhalb des Artefakts Grenzüberschreitungen, die eben vor dem kognitiven Bereich liegen. Dabei vollzieht sich die Hybridisierung als eine Quelle permanenter Kreativität. Es scheinen Strategien auf, die in ihrer Komplexität lediglich erahnt werden können. Und genau solchen Strategien und Prozessen versucht sich die Transkulturelle Kunstvermittlung zu nähern. Künstlerische Strategien sind der zentrale Ausgangspunkt der Kunstvermittlung, wenn es um die Erweiterung der Denkraumgrenze, um die performative Aushandlung und Erzeugung von Neuem sowie um Transformationen geht. Auch wenn aus dieser Position Zukunft nicht gedacht werden kann, so lassen sich doch mit Hilfestellungen von Künstlern Strategien zur Hybridisierung erahnen, aus denen heraus eine Fülle von Plateaus an Lösungsideen generiert werden können. Diese bieten Anstöße bei der Gestaltung von experimentellen und irritierenden Erfahrungsräumen. Hier kann sich die grundlegend hybride Selbst-, Fremd- und Weltverzahnung als Potenzial einnisten und – über die ästhetische Praxis und eigene ästhetische Erfahrung – alternative Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsformen auch innerhalb administrativer Strukturen generieren. Die Entfaltung mannigfaltiger ästhetisch-künstlerischer Dimensionen erlaubt es, Strukturen für eine auf Heterogenität und Diversität angelegte Praxis aufzuzeigen. Diese wiederum evoziert innovationsfördernde Unterrichtskonzepte und stärkt überdies die Gewichtung ästhetisch-künstlerischer Bildung.

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Zweifelsohne muss eine Kunstvermittlungsstrategie reflektier- und rationalisierbar sein. Aber die Mitte muss ganz klar frei bleiben. Die Kunst ist unsere Plattform. Und so geht es in der ästhetisch-künstlerischen Praxis, die insbesondere den Blick auf das Eigene und Fremde freizugeben und Macht- und Herrschaftsstrukturen zu erforschen sucht, letztendlich um Strategien des Loslassens. Der hier vorgestellte Anspruch an die Kunstvermittlung bedeutet, derartige Strategien hinüberzutragen und Grenzraumüberschreitung zu erforschen, wo kognitive Haltungen ihre Grenzen erreichen.

A nmerkungen 1 | Diese Schrift beruht im Wesentlichen auf meiner Dissertation »Transkulturelle Kunstvermittlung. Zum Bildungsgehalt ästhetisch-künstlerischer Praxen« (transcript-Verlag, Juli 2016, Bielefeld). 2 | In Leistungsgesellschaften wie in Deutschland ist die soziale Teilhabechance besonders bildungsabhängig. Bildung ist eine Voraussetzung zur Vermeidung von sozialer Exklusion. 3 | Weinert definiert Kompetenzen als individuelle, leistungsbezogene Eigenschaften, »mentale Voraussetzungen für kognitive, soziale und berufliche Leistungen« (Weinert 1999). Kompetenzen sind die »kognitiven, affektiven, persönlichen und sozialen« Fähigkeiten, gegebene Ressourcen und Potenziale zu einem gesetzten Ziel zu führen (vgl. Maurer/Garzeler 2005 zit.n. Treichel 2011: 271).

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»Miteinander« – Möglichkeiten einer kindgemäßen Kunstpädagogik im Spannungsfeld von Popkultur und kindlicher Expressivität Andreas Brenne

K inder bilden sich ästhe tisch Kinder bilden sich von Anfang an – und zwar ästhetisch (vgl. Schäfer 2001). Bildung ist nicht auf die Anpassung an sozioökologische Gegebenheiten reduziert, sondern als dekonstruktive und produktive Entwicklung sinnstiftender Perspektiven im Kontext einer vermittelten Lebenswelt zu verstehen. Der von Edmund Husserl geprägte Begriff der Lebenswelt ist dabei nicht mit einer objektivierbaren Realität zu vergleichen, sondern eine sinnhaft strukturierte Einrichtung in das Vorgefundene. Abweichend von Husserl geht es aber nicht um materielle Phänomene, sondern um alles, »was der Fall ist« (Wittgenstein 1998) – Objekte, Dinge, Konzepte, Begriffe, Ideen und Phantasien. In diesem Sinne ist die Verwendung des Begriffs »Welt« durchaus prekär, setzt er doch voraus, dass es eine Ganzheit gibt, in der alles mit allem zusammenhängt. So erscheint der Begriff »Sinnfeld« (Gabriel 2016: 163) angemessener, denn dieser verzichtet zum einen auf einen exklusiven Holismus, zum anderen macht er deutlich, dass es eine unbestimmbare Fülle an perspektivischen Beschreibungen von Tatsachen gibt, die im Rahmen von Bildungsprozessen bearbeitet werden und dann Gegenstand von Modellbildungen sind. Derartige Prozesse sind in hohem Maße ästhetisch aufgeladen. Dies zeigt sich bereits in der frühen Kindheit im Hang zur expressiven und transmedialen Artikulation leibsinnlicher Erfahrungen. Zu nennen sind Sprache, Bewegungsformen, Bilder, Erzählungen und Klänge. Diese For-

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Andreas Brenne

men kindlicher Äußerungen sind keine vordergründigen Symbolisierungen von Affekten, sondern Versuche, die Realität zu deuten und sie sich produktiv anzueignen. Diese Prozesse sind performativ strukturiert, das heißt, sie entwickeln sich dynamisch und in responsiven Zusammenhängen, in denen Dritte (die Familie, der Erzieher, die Peergroup) eine wesentliche Rolle spielen. Jedes Kind durchläuft solche holistischen Prozesse unabhängig von den curricularen Festlegungen der formalen Bildung. In den Bildungsinstitutionen der frühen und mittleren Kindheit wird versucht, diese Entwicklungsprozesse aufzugreifen und zu erweitern. Man orientiert sich als Übergangsinstitution an den informellen und nonformalen Bildungsprozessen der frühen Kindheit. Doch bereits hier scheitert man allzu oft an der fakultativen Ausrichtung der propagierten Angebote (vgl. Hessischer Bildungs- und Erziehungsplan 2011). Kindergärten stehen an dieser Stelle in einer ambivalenten Tradition: Zum einen geht es um die fürsorgliche und kompensatorische Unterstützung von Kindern in prekären Situationen, zum anderen in der Tradition von Fröbel und Montessori um die frühkindliche Bildung. Zeitgenössische Modelle orientieren sich vor allem am Kompetenzbegriff und bemühen sich um die Etablierung von konkreten Lernfeldern, die sich stark an die curricularen Strukturen der schulischen Bildungsangebote anlehnen. Die Tendenz einer formalen und normativen Bildung setzt sich dann in der Grundschule weiter fort. Es erscheint also dringend geboten, die Potenziale ästhetischer Bildungsprozesse zu schützen, anstatt sie curricular zu domestizieren. Substanzielle ästhetische Bildungsprozesse ermöglichen Kindern Einsichten in die Produktion von Weltverhältnissen. Objekte, Konzepte und Ideen sind nicht einfach nur vorhanden, sondern entstehen im Spannungsfeld von Zusammenbruch und Neuschöpfung – und dies ist ein kreativer bzw. künstlerischer Akt. Gefragt sind die Kreativität des »L’art pour l’art« und eine kommunikative Neuschöpfung aus dem Vorgefundenen. Dadurch wird die Tradition lebendig und kann im Lichte einer aktualisierten Sinnbestimmung verstanden werden. Das heißt aber auch: Alles Vorgefundene ist für Kinder zunächst einmal interessant und kann Gegenstand einer substanziellen Untersuchung sein. Die akademische Unterscheidung zwischen High und Low spielt dabei keine Rolle. Kulturelle Substrate werden diskursiv transformiert und kommuniziert. Das, was sich auf KiKa oder dem Disneychannel abspielt, durch Fanzines,

»Miteinander«

Spielfiguren oder Smartphones intermedial dargeboten wird, ist genauso Gegenstand kindlicher Bildungsprozesse wie sogenannte Naturmaterialien. Eine kindgemäße Kunstpädagogik in der Primarstufe kann kein formaler Kunstunterricht sein, der sich auf die Vermittlung technischer Fertigkeiten beschränkt oder die vordergründige Vermittlung großer Künstler favorisiert. Im Zentrum muss vielmehr eine interessengeleitete ästhetisch-künstlerische Forschung stehen, die sich auf die Gegenstände bezieht, die Kinder wirklich interessieren. Dadurch wird die Realität zu einem lebendigen Experimentierfeld, das viele Perspektiven eröffnet. Nicht nur Kinder brauchen Kunst, auch die Schule braucht sie – ein Perspektivenwechsel ist angezeigt! Die entscheidende Frage stellte der Grundschulpädagoge Horst Bartnitzky: »Muss jedes Kind schulfähig sein oder die Schule kindfähig?« (Bartnitzky 2011: 13f.)

W ie sich K inder bilden – drei F allstudien Um das Potenzial kindlicher Bildungsprozesse aufzudecken, sollen anhand von Auszügen aus drei Fallstudien zentrale Motive identifiziert werden. Methodisch geht es um eine Sichtbarmachung kindlicher Perspektiven, wobei spezifische Erfahrungsräume in den Blick genommen werden. Es handelt sich um Einblicke in die Praxis von Kindern der frühen und mittleren Kindheit in ihrem räumlichen, familialen und institutionellen Umfeld.

Fridas Kanalrunde – über Raum und Erfahrung (vgl. Brenne 2009) Frida lebt seit ihrer Geburt in einem kleinen Reiheneckhaus am Dortmund-Ems-Kanal. Zum Haus gehört auch ein großer, mit Obstbäumen bestandener Garten, der an den Kanal grenzt. Hier hat das inzwischen zweijährige Mädchen die meiste Zeit seines bisherigen Lebens verbracht.

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Abbildung 1: Unterwegs

Je nach Witterung wird dieses Gebiet nahezu täglich umrundet: Zunächst geht es durch das Holztor links auf den Bürgersteig hinaus und an der Begrenzung der Vorderfront des Wohnhauses entlang. Hierbei versucht Frida schiebend den Buggy richtig in Fahrt zu bringen, was ihr nach einigem Schwanken auch gelingt. Nun folgt eine breite Erhebung, die aus Waschbetonplatten besteht und die von einem ausladenden, in Blüte stehenden Rosenstrauch überwuchert wird. Hier bugsiert Frida das Gefährt auf die Erhebung und genießt für einen Moment das Ruckeln des Buggys. Dann wird es kompliziert, denn es gilt, dem Strauch auszuweichen. Frida traut sich, mit dem ausgestreckten Zeigefinger einen Dorn zu berühren, und sagt »Aua«. Nun folgt eine längere, weiß getünchte Wand. In Bodenhöhe befindet sich ein Kellerfenster, das durch ein gestanztes Blech bedeckt wird. Frida hat ihren Buggy stehen lassen und schleicht betont langsam und aufmerksam die Wand entlang. Sie wählt den Abstand derart, dass sie die Wand fast berührt. Die weiße Fläche hat etwas körperlos Schwebendes an sich und scheint ein Näherkommen geradezu herauszufordern. Dann wird es wieder konkret: Frida bückt sich und untersucht mit dem Zeigefinger, die Größe der Löcher des Kellerfenstergitters, die aber zu klein sind, um den Finger ganz hindurchzustecken. Als nächstes Ereignis erwartet

»Miteinander«

Frida ein Busch mit rosafarbenen Blüten. Sie ergreift eine volle Blüte, wobei sich diese vom Busch löst. Dann zerreibt Frida die Blüte in ihrer Faust und lässt die Teilchen langsam zu Boden rieseln. Es ist ein Akt der Neugierde, der mit ambivalenten Emotionen und Empfindungen verbunden ist. Die zarten Blütenblätter kitzeln die Haut und lassen sich einzeln kaum fassen. Auch wenn die gesamte Blüte kompakt und fest wirkt, zerreißt sie bereits unter leichtem Druck und gibt ihre Bestandteile frei. Als das Kanalufer erreicht ist, interessiert Frida nicht das große Wasser, sondern die Pfütze unterhalb des Bootshauses. Sie betrachtet ihr Spiegelbild im trüben Nass, um dann vorsichtig und mit spitzen Fingern die Oberfläche zu teilen. Daraufhin sammelt das Mädchen einen Haufen herumliegender Kieselsteinchen und wirft sie in die Pfütze: »Opa hat mir das gezeigt«, kommentiert sie. Auch hier setzt sich Frida komplex mit der Welt und ihrer eigenen Erfahrungsgeschichte auseinander. Durch die Spiegelung entsteht ein disparates Bild ihres Körpers, das mit dem beobachteten Phänomen verwoben zu sein scheint – eine Manipulation der Wasseroberfläche verändert das Bild. Auch durch das Befeuchten der Finger wird diese Erfahrung intensiviert, wobei an die Berührungen von Dorn, Metall, Kiesel und Blüte angeknüpft werden kann – es entstehen komplexe Relationen. Der Steinwurf knüpft an Erfahrungen an, die Frida zuvor mit ihrem Großvater gemacht hat. Dies schafft Identität durch Kontinuität und ermöglicht neue Anschlüsse.

Topologische Bezüge ästhetischer Erfahrungsbildung Fridas Bemühungen und Aktivitäten sind mehr als die sukzessive Eroberung eines Territoriums, das sich gemessen an ihrem Entwicklungsstand verschließt oder nach abgeschlossener Reifung in Gänze darbietet. Frida geht es primär um eine verschränkte Begegnung mit sich selbst und den Gegenständen, wodurch sich nicht nur eine spezifische räumliche Strukturierung konstruktiv entwickelt, sondern auch die Erfahrung Raumcharakter annimmt. Frida entwirft während ihres Spaziergangs ein ausgeklügeltes Netz von Ereignisfeldern, die niemals isoliert stehen, sondern untereinander Resonanzen erzeugen. Ästhetische Erfahrung entsteht nicht nur durch eine Bewegung zwischen den Gegenständen und dem Selbst, das heißt zwischen den Begriffen der individuellen Erfahrungsgeschichte und der Negation des gegenwärtig noch nicht Begriffenen. Sie

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ist gebunden an mannigfaltige räumliche Strukturen, die durch diese erst hervorgerufen werden und einen beständigen Resonanzraum erzeugen.

Adrian und die Ordnung der Dinge – über das Material und die Komposition Adrian ist vier Jahre alt und sitzt mit dem zweijährigen Tjado auf dem Holzfußboden im Wohnzimmer. Um sich herum hat er seine »Schätze« konzentrisch ausgebreitet. Es handelt sich um eine Sammlung unterschiedlichster Gegenstände und Spielzeuge: eine Polizeikelle (bedruckt mit einem Benjamin-Blümchen-Motiv), ein Holzmesser, ein kleines Gleitflugzeug, ein Schraubenschlüssel inklusive Inbusschlüssel und eine Spielzeug-Stichsäge. Diese Anordnung ist nicht beliebig – Adrian prüft, sortiert und ordnet das Material scheinbar nach einem inneren Plan. Gegenstände werden probeweise platziert und wieder umgruppiert; es entsteht ein Bild, eine Komposition. Nun begrenzt Adrian das Ganze durch einen Greifarm, der eine Schnur hält. Diese ist an einer Seifenblasenvorrichtung befestigt, die wiederum in einer leeren Papprolle steckt. Dann kniet sich der Junge vor die Kiste und sondiert weiteres Material; offenbar soll das Arrangement erweitert werden. Sein zweijähriger Spielgefährte sitzt interessiert daneben und bewegt Arme und Beine dazu – ganz so, als wolle er den Prozess befördern. Aus der Perspektive eines Erwachsenen ist dieses Spiel zunächst unstrukturiert und wenig sinnvoll. Zu unterschiedlich sind die Objekte, deren offenkundige Semantik nicht beachtet wird. Es wirkt so, als wolle der Junge eine Ansammlung beliebiger Dinge vor sich ausbreiten, um sich einen Überblick zu verschaffen. Womit er spielen will, ist noch nicht entschieden. Unordnung und Beliebigkeit scheinen die Szene zu bestimmen. Eine genaue Betrachtung lässt aber auch andere Schlüsse zu. Der Betrachter ist Zeuge einer dichten und konzentrierten Auseinandersetzung mit Material, das sinnlich-haptische Eigenschaften hat. Und es geht um Ordnung – um die Ordnung der Dinge und das Aufspüren eines impliziten Sinns, der sich nicht allein durch den vermittelten Gebrauch erschließt. Foucault schreibt: »Erkennen heißt also interpretieren: vom sichtbaren Zeichen zu dem dadurch Ausgedrückten gehen, das ohne das Zeichen stummes Wort, in den Dingen schlafend bliebe.« (Foucault 1966: 63)

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Zunächst fällt auf, dass die »Unordnung« System hat: Dinge werden unabhängig von ihrem Gebrauch gesammelt und in eine Komposition überführt. Mit Akribie und Kontemplation wird das Material begutachtet, und Positionsbestimmungen werden vorgenommen. Von Langeweile, Überdruss oder Unentschiedenheit ist nichts zu bemerken. Auch wenn die Dinge nicht gemäß eines festgelegten Gebrauchs benutzt werden, so werden sie doch Kriterien-gestützt sortiert. Ein Aspekt ist Funktionalität im Hinblick auf Verbindungs- und Anschlussmöglichkeiten. Des Weiteren sind auch qualitative Eigenschaften wie Größe und Farbe bedeutsam. Das zentrale Materialcluster versammelt Objekte mit einer spezifischen Größe, während andere farblich arrangiert werden. Also keine Beliebigkeit, sondern Komposition und Arrangement auf der Grundlage von relationalen Bestimmungen. Die »Ordnung der Dinge« ist demnach nichts Gegebenes, sondern muss individuell geschaffen werden. Daraus folgt, dass sprachliche Bezeichnungen für ein Kind nicht fundamental und vorgängig sind, sondern erst dann Sinn ergeben, wenn dieser performativ erzeugt wurde. Derartig manifeste Sinnkonstruktionen haben Bildcharakter. Und noch etwas ist bedeutsam: Bildfindungen basieren auf haptischen und sensitiven Erfahrungen. Der reine Augenschein reicht hier nicht aus. Adrian prüft sorgfältig die Dinge und kommt darüber zu gestalterischen Entscheidungen. Er geht ihnen buchstäblich auf den Grund. Nach Heidegger findet eine wesentliche Auseinandersetzung mit dem »Zeug« dann statt, wenn das »Zuhandene« durchkreuzt wird: »Was aber die Unverwendbarkeit entdeckt, ist nicht das hinsehende Feststellen von Eigenschaften, sondern die Umsicht des gebrauchenden Umgangs. In solchem Entdecken der Unverwendbarkeit fällt das Zeug auf.« (Heidegger 2006: 73) Kinder sind nicht dem Mainstream verhaftet. Sie entwickeln ihre Ordnungen und geben sich nicht mit dem Selbstverständlichen zufrieden. Durch Umgruppierung und Neustrukturierung des Vorgefundenen entsteht eine substanzielle Ordnung als Basis für ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben. Ethik und Ästhetik hängen eng zusammen (vgl. Welsch 1994).

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D as K onzep t der J unk yard E ducation der isr aelischen F rühpädagogik nach M alk a H a as Abbildung 2: Der Junkyard

Malka Haas (geboren 1920 in Berlin-Schöneberg) immigrierte im Alter von fünfzehn Jahren in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, wo sie 1939 zu den Gründern von Sde Eliyahu gehörte, einem religiös geprägten Kibbuz im heutigen Israel. Im Jahr 1940 gründete sie die erste israelische Preschool und arbeitete als Dozentin an der pädagogischen Hochschule in Haifa. In diesem Kontext erarbeitete sie ein einzigartiges kunstpädagogisches Konzept frühkindlicher Entwicklungsförderung. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die sogenannte »Junkyard Education«. Dabei handelt es sich um ein offenes Angebot, das in den Kindertagesstätten der Kibbuzim einen wesentlichen Teil des Tagesprogramms ausmacht. In einer vorbereiteten Umgebung (die aus einem geräumigen Hof besteht, der Stellagen mit verschiedenen Materialien enthält – eine Art überdimensionale Werkstatt) haben die Kinder unterschiedlichen Alters die Möglichkeit, mit ausrangierten Alltagsgegenständen frei zu agieren. Das kann alles sein, was der unmittelbaren Verwendung entzogen wurde: technische Geräte, Baustoffe und Werkstücke. Diese Objekte werden Teil eines ästhetisch affizierten Materialspiels – eines Spiels, in dem es um Dekonstruktion und Ko-Konstruktion einer ganzen Welt geht. Die Ob-

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jekte des Alltags werden von den Kindern genutzt, dekonstruiert, transformiert, um Teil eines neuen Sinnfelds zu werden. Dadurch wird der durch Erwachsene und die Peers vermittelte Alltag symbolisch verfügbar gemacht. Ein wichtiges Moment, auf welches Malka Haas in ihren Texten abzielt, ist das der Erinnerung: Nur, was sich in Bewusstseinsprozessen ansiedelt, kann in ein Netz von Bedeutungen eingeflochten werden. Erinnerung stellt sich dadurch ein, dass Objekte dekonstruktiv bearbeitet, in Handlungsvollzügen und in die eigene Erfahrungsgeschichte eingebunden werden. Dieser Prozess beinhaltet Freud- und Lustvolles, aber auch destruktive und obsessive Affektionen. Ein anderes Strukturelement besteht in der Wiederholung, denn die Junkyard-Prozesse sind zyklisch organisiert: Nach einem Zeitintervall von drei Wochen werden alle Konstruktionen rückgebaut, und der Prozess beginnt von Neuem. Dies ist aber keine Wiederkehr des ewig Gleichen, sondern ein repetitiver Durchlauf durch das Vertraute mit der Tendenz einer sukzessiven Verschiebung. Leitbild der Junkyard Education ist ein spezifisches Menschenbild: Es geht um die Entwicklung des Kindes zu einem unabhängigen, reflexiven, an sich selbst und an seine Mitmenschen glaubenden Menschen, der kreativ und respektvoll mit seiner Umwelt kooperiert (vgl. Haas/Gavish 2008). Folgende Zielsetzungen und Lernfelder sind damit verbunden: 1. Orientierung/Vertrautheit und Unabhängigkeit Der Junkyard, bestehend aus einer Überfülle an stimulierenden Objekten, bietet den Kindern ein kontinuierliches und herausforderndes Angebot mit dem Ziel der Orientierung in einer komplexen und problembelasteten Welt. Beständig werden Schwierigkeiten erkannt und Problemlösungen entwickelt. Dabei lernen die Kinder, eigenständig und initiativ zu handeln. 2. Kooperation In der Entwicklung von baulichen Strukturen, deren Dimensionen allein nicht zu bewältigen sind, entwickeln sich Kooperationen unter den Peers. Durch Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse entwickeln sie soziale und emotionale Kompetenzen. 3. Dreidimensionale Designs Im Junkyard entwickeln die Kinder selbstständig dreidimensionale und vor allem funktionstüchtige Designs. Dabei spielt die Stabilität der hervorgebrachten Konstruktionen eine wichtige Rolle, denn sie

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ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines kontinuierlichen und dynamischen Spiels. Ästhetische Wahrnehmung Die Kinder setzen sich holistisch mit den zur Verfügung stehenden Materialien auseinander, wobei alle Sinne beansprucht werden: Sehen, Berührung, Bewegung, Lagebeziehungen, Klang und Geruch beeinflussen Auswahl und Verwendung der Gegenstände. Wahrnehmung und Genuss Freude und Genuss des sinnlichen Vermögens stellen eine energetische Quelle dar, aus der sich eine intensive und erfahrungsreiche Exploration der Lernumgebung speist. Imagination Die Entwicklung der kindlich imaginativen Kräfte vollzieht sich in künstlerisch-gestalterischen Zusammenhängen. So gibt es Wechselwirkungen zwischen den Kinderzeichnungen und dem dreidimensionalen Design im Junkyard. Literalität Literalität ist mit der Gesamtheit der kindlichen Produktion im Junkyard verwoben. Freier emotionaler Ausdruck In dem offenen Areal gehen die Kinder im Rahmen der selbst gewählten Spielzusammenhänge frei ihren Emotionen nach. Kultur und Tradition Kulturelle Traditionen und Narrative sind relevante gesellschaftliche Konstanten, die in Spielzusammenhänge adaptiert und transformiert werden.

Als vorbereitete Lernumgebung erweitert der Junkyard die Möglichkeiten kindlichen Lernens und kindlicher Ausdrucksfähigkeit. An diesem Ort ist es möglich, Identitätsbildung und Wissensakkumulation simultan miteinander zu verzahnen, sodass eine komplexe kindliche Lebenswirklichkeit entsteht. »The junkyard playgrounds are a local cultural project of childhood in Israel. Their existence is based on an image of a highly competent child and an image of the teacher as a metaphorical detective, following the children’s footprints and welcoming the unexpected.« (Malka Haas 2008)

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M iteinander ? Wie fängt alles an? Wie müssen Lernarrangements strukturiert sein, damit sie das weiterführen, was bereits grundgelegt wurde? Dass hierbei kein eindimensionales Eintauchen in eine vordergründige Sinnlichkeit wirksam ist, wurde in den drei Fallstudien sichtbar. In der ästhetischen Erfahrungsbildung der frühen Kindheit geht es um nichts weniger als die Wirklichkeit der Tatsachen. Dieser Zusammenhang entwickelt sich durch Interaktion mit den Dingen und den Menschen. Dabei kommt das Sinnlich-Emotionale ebenso zum Tragen wie das (selbst-)reflexive Denken. Es entstehen bewohnbare Räume, Netzwerke, in denen man sich orientieren kann. Daraus entwickelt sich ein begründetes Selbst, das sich in der Wirklichkeit zurechtfindet und in ihr einen herausragenden Platz einnehmen kann. Ein derart gestärktes Selbst ist dann auch in der Lage, Krisen zu bewältigen und Erschütterungen auszuhalten, und zwar nicht als egozentrischer Egomane, sondern eingebunden in ein komplexes Bezugssystem. Kunstpädagogische Praxis im Kontext kindlicher Bildungsprozesse muss diese Zusammenhänge nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern pädagogische Entscheidungen und curriculare Festlegungen daran ausrichten. Beim Eintritt in die Bildungsinstitutionen bringen die Kinder viel mit – vor allem ein erfahrungsreiches Leben mit vielschichtigen Kompetenzen und Positionen. Damit die individuelle Entwicklungsgeschichte nicht nur Beachtung findet, sondern auch produktiv weiterentwickelt werden kann, brauchen Kinder • • • • • • •

eine offene und wertschätzende Lernumgebung, gestaltbare und flexible räumliche Situationen, eine materialreiche Ausstattung, die jederzeit erweitert werden kann, thematisch offene Lernsituationen, fachliche Expertise der Lehrenden, eine achtsame und moderierende Lernbegleitung und substanzielle Partizipationsmöglichkeiten auf der organisatorischen und inhaltlichen Ebene.

Diese Aspekte einer Pädagogik vom Kind aus sollten auch für das Fach Kunst gelten, sei es in Kindertagesstätten oder in Grundschulen. Künstlerisch-ästhetische Bildung beginnt ganz am Anfang.

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L iter atur Bartnitzky, Horst (2011): Grundschule aktuell Nr. 15, Frankfurt a.M.: Grundschulverband. Beck-Neckermann, Johannes/Braun, Daniela/Ebert, Sigrid/Hasemann, Klaus (Hg.) (2008): Die Bildungsbereiche im Kindergarten: Orientierungswissen für Erzieherinnen. Freiburg i.Br.: Herder. Borke, Jörn/Keller, Heidi (2014): Kultursensitive Frühpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. Brenne, Andreas (2008): Künstlerisch-Ästhetische Forschung – über substantielle Zugänge zur Lebenswelt, in: Brenne, Andreas: Zarte Empirie – Theorie und Praxis einer künstlerisch-ästhetischen Forschung. Kassel: Kassel-University Press, S. 5-22. Brenne, Andreas (2012): Das Fremde in mir – Imaginäre Welten schaffen, in: Grundschule Kunst: Kunst der Gegenwart. Nr. 48/2012, Seelze: Friedrich-Verlag, S. 10-15. Brenne, Andreas (2009): Fridas Kanalrunde – Einblick in den Charakter topologischer Raumaneignung im Kontext ästhetischer Erfahrungsprozesse, in: Gaedtke-Eckardt, Dagmar-Beatrice/Kohn, Friederike/ Krinninger, Dominik/Schubert, Volker/Siebner, Blanka Sophie (Hg.): Raum-Bildung: Perspektiven. Beiträge zur sozialen, ästhetischen und praktischen Aneignung von Räumen. München: kopaed. Deci, Edward L./Ryan, Richard M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik. Nr. 39. Foucault, Michel (1966): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, in: Ders.: Die Hauptwerke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gabriel, Markus (2016): Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Haas, Malka/Gavish, Tzilla (2008): »Mommy Look, it’s Real« The junkyard-playground as a model of early childhood. Washington DC: Association for Childhood Education International. Haas, Malka/Gavish, Tzilla (2008): Touching Reality: On the Co-construction of Knowledge and Identity in the Junkyard Playgrounds of Israel. Washington DC: Association for Childhood Education International. Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer.

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Hessisches Sozialministerium, Hessisches Kultusministerium (Hg.) (2011): Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen. Wiesbaden. Husserl, Edmund (1996): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hg.  v. Elisabeth Ströker. Hamburg: Meiner. Schäfer, Gerd E. (2001): Bildungsprozesse im Kindesalter: Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit. Weinheim: JuventaVerlag. Welsch, Wolfgang (1994): Ethik der Ästhetik – Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik, in: Wulf, C./Kamper, D./Gumbrecht, H. U. (Hg.): Ethik der Ästhetik. Berlin: Akad.-Verl. Wittgenstein, Ludwig (1998): Logisch-philosophische Abhandlung, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

A bbildungen Abbildung 1: Unterwegs, © Andreas Brenne Abbildung 2: Junkyard, © Andreas Brenne

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»Gangarten« – Zwei Sichtweisen einer künstlerischen Vermittlung H andlungen in kunst vermit tlerischen S ituationen Hannah-Deborah Gramentz Das im Juni 2015 realisierte Projekt »Gangarten« stellt unter theoretischem Einbezug Handlungspotenziale sowie -notwendigkeiten innerhalb kunstvermittlerischer performativer Situationen vor. Handlungsbetonte, situationsbezogene und ephemere Darbietungen kreuzen sich dabei. Es ist offen, »in welchem Verhältnis das Ausführen und Aufführen zueinander stehen« (vgl. Eikels 2013: 21). Ein Bezug zu Marina Abramovic wird hergestellt. Zusätzlich wird der handlungsorientierte künstlerische Ansatz von Erwin Wurm berücksichtigt. Den Ausgangspunkt seiner Arbeiten bilden alltägliche Gebrauchsgegenstände, mit denen die Betrachtenden hantieren sollen. Dabei lassen sich als weiteres Merkmal die Gebrauchsanweisungen herausstellen, die den Handelnden als Vorlage dienen. Resultierend daraus wird die eindeutige Abgrenzung des künstlerischen Handelns aufgegeben, und stattdessen werden Anweisungen an die Rezipierenden übermittelt. Die etablierte Handlungsstrategie des distanziert Beobachtenden lässt Situationen entstehen – mitunter auf voyeuristische Art und Weise (vgl. Voigt 2009: 10). Als fachdidaktische Grundlage fungiert der kunstvermittlerische Ansatz der Ästhetischen Operationen. Diese knüpfen an bereits vorhandene kunsthafte Operationen an und existieren nicht losgelöst voneinander. Eine Fortsetzbarkeit von Kunst wird evoziert (vgl. Maset 2001: 22ff.). Die in dem vermittlerischen Setting zu initiierenden performativen Akte sind überdies durch »Handlungen, die im Verlauf ihres Vollzugs Strukturen, Tatsachen und damit Wirklichkeiten erzeugen, und zwar auch emotionale Wirklichkeiten« (Aden; Peters 2011: 13), gekennzeichnet und be-

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inhalten somit, dass bestimmte Phänomene nicht nur vorgängig gegeben sein müssen, sondern durch die Ausführung erlernter Handlungs- und Ausdrucksweisen das Ergebnis solcher performativen Akte sein können (vgl. ebd.). Gemäß Judith Butler, deren Ausgangs- und Bezugspunkt die Phänomenologie bildet, gibt es transformative Kräfte des Performativen, welche soziale und körperliche Wirklichkeiten konstituieren. Diese Wirklichkeiten stellen die Identität dar, die nicht ontologisch oder biologisch gegeben ist, sondern das Resultat spezifischer kultureller Konstitutionsleistungen markieren (Fischer-Lichte 2012: 41). »Wie Derrida geht Butler von der Wiederholbarkeit performativer Akte aus« (ebd.), die durch Abweichungen und Modifikationen geprägt und »durch die immer wieder neu durch den Vollzug lebensweltlich geprägten Gesten und Gebärden« (Aden; Peters 2011: 13) geformt sind. Diesbezüglich kann die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gangarten eine solch relationale Subjektsituation bilden. Durch das Experimentieren, Erkunden, Erproben und Reflektieren der individuellen bzw. gewohnten Gangarten können sich neue Erfahrungsräume und Perspektiven der Wahrnehmung ergeben. Es ist essenziell, durch die Vorgaben des Settings in dieser Operation genügend Freiräume für die aktiven Handlungen der Teilnehmenden zu eröffnen. Die Entwicklung einer eigenen Gangart, bei der ein selbst ausgewählter Alltagsgegenstand zur Fortbewegung elementar und somit notwendig ist, gilt als grundlegendes Setting für die performativen Prozesse. In einer ersten Erarbeitungs- und anschließenden Präsentationsphase auf einer Theaterbühne im Schulgebäude werden die jeweiligen performativen Arbeiten besprochen sowie die damit verbundenen Bewegungsobstruktionen und deren Wirkung auf andere reflektiert und über diese diskutiert. In einem weiteren Handlungsschritt, der als Anschlussoperation unter der Voraussetzung einer polyvalenten Zielstruktur dient, werden die Gangarten im öffentlichen Raum erprobt. Ein nahe gelegener und sehr belebter Busbahnhof wird dafür gewählt. Es besteht außerdem die Möglichkeit, bei den Gangarten weitere Ausdrucksformen wie beispielsweise selbst kreierte Geräusche oder fusionsartige Kooperationshandlungen zu entwickeln. Abschließend werden die Erfahrungen im öffentlichen Raum vergleichend mit denen im Schulgebäude analysiert und reflektiert. Die Handlungen im öffentlichen Raum weisen einen deutlich anderen Charakter auf, wie von einigen Schülern angemerkt wird. Es kann

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festgehalten werden, dass die Kursteilnehmenden grundsätzlich darauf achten, wie sie mit ihren performativen Handlungen auf ihre Mitmenschen wirken, wodurch sie wiederum sich selbst auf eine andere Art erfahren und reflektieren. Dies wird in einem anschließenden Gespräch kommuniziert. Die Reflexion der künstlerischen Auseinandersetzung findet nicht nachträglich statt, sondern ist vielmehr produktiver Teil der Aktion. Auf der Theaterbühne wirken die Handlungen überwiegend auf die Auseinandersetzung mit ebendieser und sind auf die Alltagsgegenstände fixiert. Der Fokus wird mehr auf die Immanenz der Handlung gerichtet. Vermutlich wird dies durch die räumliche Struktur des Bühnenambientes verstärkt. Dieser Effekt wird zudem durch die mehrheitlich nonverbalen Vortragsweisen in den Arbeiten der Schüler potenziert. Zusammenfassend kann behauptet werden, dass sich die Chancen performativer Handlungen sowie deren Reflexion hinsichtlich dieses Kunstvermittlungsprojektes gerade aus einem Wechselspiel der Erprobung performativer Prozesse auf der Bühne sowie im öffentlichen Raum herausstellen lassen. Das Sich-in-die-Situationen-Versetzen, in denen ästhetische Erfahrungen in Form von eigens produzierten Handlungen provoziert werden und intersubjektive Reflexionen auf kommunikativer Ebene stattfinden, kann tiefgreifende Effekte haben.

Literatur Aden, Maike; Peters, Maria (2011): ›Standart‹ – Möglichkeiten, Grenzen und die produktive Erweiterung kompetenzorientierter Standards in performativen Prozessen der Kunstpädagogik, in: Sabisch, Andrea/ Meyer, Torsten/Sturm, Eva: Kunstpädagogische Positionen (hier: Bd. 22), Hamburg: Hamburg University Press. Eikels, Kai van (2013): Die Kunst des Kollektiven: Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, Paderborn: Wilhelm Fink. Fischer-Lichte, Erika (2012): Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript. Maset, Pierangelo (2001): Praxis Kunst Pädagogik, Ästhetische Operationen in der Kunstvermittlung, Lüneburg: edition HYDE. Voigt, Kirsten Claudia (2009): Erwin Wurm, Gurke, Köln: DuMont Buchverlag.

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G angarten – einige rückblickende nach vorne

G edanken

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Lehrmaster Cycle 1 Menschen, die vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sind, müssen arbeiten. Sie stören mit ihren Körpern. Einige bewegen sich von sich aus oder auch einige weniger. Diese und jene sitzen, und andere laufen. Es herrscht erstickende Luft, und alle schweigen, weil sie es gewohnt sind. Aber alle dürfen – was genau, muss erprobt werden.

Zeitgenössische Kunst und ihre Vermittlung Ein Erfahrungsdogma erschöpft sich im selbstreferenziellen symbolischen Aufzeigen. In Grabenkämpfen fallen selbst ernannte Helden der Vermittlung in kritische Ohnmacht. Und das, was erwünscht wird, erscheint entgegen dem, was tatsächlich passiert, nur als eine Verwechslung der Orte, an denen weit entfernt noch Türen knallen, wie einst ein Enfant terrible vor der unachtsamen Überquerung einer Londoner Straße schrieb (Brinkmann 1975: 115). Ein Dilemma, das sich als weiterer Fetisch unserer gegenwärtigen Zeit (Badiou 2014: 13f.) manifestiert und derzeit oftmals in Form ambitionierter kritischer Ästhetik zum Ausdruck gebracht wird – um dann als kapitalistische Kosmetik der Gesellschaft zu enden. Doch nicht alles scheint hier oder dort verloren. Schleichen sich Wunder ein, sollte auf diese aufmerksam gemacht werden. Unsere demiurgischen Freunde und Helfer sind zur rechten Zeit am rechten Ort. Etwas Neues, Reales durchbricht an einem zu befragenden Ort scheinbare Ordnungen. Radikale Kontingenz: um das Undenkbare, noch nicht Seiende als (anders) Werdendes zu denken (Meillassoux 2014: 92f.). Ein Damit-Sie-sehen-wie-Sie-sehen-was-Sie-sehen ist ein guter Anfang, reicht aber allein nicht mehr aus. Neue Räume und Perspektiven auf die Welt ergeben sich poietisch: Machen. Mal anders gehen: Hinken – nicht als Unterbrechen der Bewegung, sondern als Sondieren und Erforschen des Terrains, um der Welt neue Spielarten hinzuzufügen mit dem, was da ist.

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Planung: Vorhandenes wird gefressen Man bedient sich konzeptionell künstlerischer Strategien, die sich durch aktive Handlungen auszeichnen. Gehen als eine Form des Widerstandes: Auf dem Feld von Kunst und Politik stellt es ein Oppositionell zur Struktur der sozialen, physischen und psychischen Entwicklung des Kapitalismus dar (Medina 2007: 77). Entgegen darauf zurückzuführenden Beschränkungen des alltäglichen zirkulierenden Lebens auf Medienrezeption und (daraus folgendem) materiellen Konsum beharrt das Oppositionell auf einer Definition des Lebens – anstatt Überlebens – bei der Handlungen in Form von räumlichen und politischen Aktivitäten in Erscheinung treten. Alltägliche Gebrauchsgegenstände bilden Ausgangspunkte einiger zeitgenössischer künstlerischer Arbeiten, mit denen Menschen hantieren.

Lehrmaster Cycle 2 Handlungsbedürfnisse – aber keiner scheint überhaupt danach zu fragen. Der Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht, und dabei steht der Mensch im Vordergrund (de Certeau 1988: 217ff.). Wo ist der Mensch? Wo kann er im System eingesetzt werden? Das lediglich auf Formalismus und Bürokratie ausgelegt wirkende Optimierungshandeln hin zur Herstellung von technokratisch wertvollen Produkten für die Gesellschaft scheint sich einem differenziellen Entwicklungsprozess von Subjekten und weltschaffenden Handlungsformen entgegenzustellen: »Wir sind hier nicht bei ›Wünsch Dir was‹, sondern bei ›So isses‹!« – »Quatsch mich nicht voll!« – »Unser Hocker des Selbstvertrauens: Fähigkeiten, Anerkennung, Verantwortung«. Die Panoptisten schmücken ihre Spinte mit identitätsstiftenden Schriftstücken. Und wenn wir schon von Gefängnis sprechen: Einst benannte ein Archäologe die perfide präventive Ausbildung von Gewohnheiten und Objekten sowie subjektivierende Unterwerfungen – auch soziale Konformität des Individuums, Nutzbarmachung und Verwertung sowie Mikrophysiken der Macht (Foucault 1977: 251ff.).

Veränderung: Gefressenes wird ausgespuckt Obstruktive Vehikel zur Verwendung: Ein ausgewählter Alltagsgegenstand ist für die Fortbewegung elementar und somit notwendig, um eine neue Gangart zu entwickeln. Ohne die Benutzung des Gegenstandes – zugleich von seinem eigentlichen Zweck entfremdet – gibt es keine Fortbewegung. Ohne die Umnutzung dessen, was da ist, gibt es keine Fortbe-

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wegung aus einer automatisierten und vorherbestimmten Gegenwart, die durch kapitalistische – oder neofeudalistische – Konstanten vermauert wird (Avanessian/Malik 2016: 8ff.). In einem Theaterambiente werden Handlungen gezeigt und besprochen. Damit verbundene Bewegungen und Obstruktionen sowie deren Wirkung werden währenddessen reflektiert und über diese diskutiert. Zwei Menschen bedienen sich eines Pylons. Einer steckt seinen Fuß in den umgedrehten Pylon. Er hinkt, vom Anderen gestützt, jeweils fünf Schritte. Jene wird dem Anderen übergeben und sie bewegen sich weiter. Eine andere Gruppe Menschen marschiert im Gleichschritt, ein weiches Sitzkissen zwischen den Schultern, während die Worte »links, zwei, drei, vier!« in hartem Ton erklingen.

Nun saget doch etwas Die Handelnden und die Zuschauenden schildern Eindrücke ihrer emporgehobenen Performativitäten. Um in einen kommunikativen Austausch zu gelangen, um Gespräche zu initiieren, muss jemand anleiten. Die Antworten auf die Frage, ob es Menschen gibt, die besser bestimmen können als andere, sind im Übrigen sehr verschieden. Ein machendes Erkennen und kritisches Hinterfragen von alltäglichen Strukturen sowie eine ethische Sensibilisierung sind intendiert. Die Beiträge der Menschen thematisieren und diskutieren dann doch die Sinnhaftigkeit marschierender Soldaten sowie eigene alltägliche, ritualisierte und disziplinierende Bewegungen in den Arbeitshallen der Lehre: zum Beispiel das An-seinen-Platz-Gehen, das Aufstehen-und-sich-hinsetzen-Müssen auf Befehl einer bestimmenden Person. Auch die Bewegungsbeeinflussungen im Alltag durch vorgegebene Zeit- und Raumstrukturen werden angerissen. Als Anschlussoperation werden neue Gangarten im öffentlichen Raum erprobt. Die Einflechtung ins Virale ist ein spannender Punkt. Es wird ein nahe gelegener und belebter Busbahnhof gewählt. In reflexiven bzw. rekursiven Momenten können die Vergangenheiten durch die perspektivische Verrückung handelnd andere werden (Avanessian 2015: 215, 251). Zwei Menschen scheinen eine Bewegung zu fiktionalisieren, in deren real-phantastischer Differenz sie nebeneinander in ein Buch schauend voranschreiten und die Umgebung zu einer anderen machen. Sie wollen sich in neue Welten – sogleich reale neue Welten – leiten lassen, wobei das bereits Kartierte zugunsten von Unbekanntem verlassen wird, damit

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vielleicht das passieren kann, was passieren könnte (Dany 2016: 36, 92). Ein Paar schöne Gedanken.

Rückwirkungen nach vorne Die Erinnerungen an die Ereignisse im öffentlichen Raum werden vergleichend mit denen im Gebäude besprochen. »Das ist mal wieder so ein komisches Kunstprojekt – Flashmob oder so.« Auf die unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, wird grundsätzlich verzichtet. Wirkungen, die Veränderungen durch veränderndes Handeln mit sich bringen und sich durch vermeintlich unbemerkte Irritationen einschleichen, die sich vielleicht auch erst später als blitzartiges »Hm!?« während des morgendlichen Müslis manifestieren, bleiben zunächst bei den Menschen, die sie vielleicht irgendwann und irgendwo bemerken. Doch Resonanzen in Form kleiner Verwunderungsmomente können hier und dort bereits jetzt vernommen werden. Unterschwellige und subtile Weisen als Einflechtungen in den Alltag zu integrieren und einen Raum für mögliche (folgende) Bewusstwerdungen zu eröffnen, stellt erst die Grundlage für veränderndes Handeln im ethischen wie im politischen Sinne dar. Der Hammerschlag muss ausbleiben und durch leise, stichartige und subversive künstlerisch-politische Bildungsarbeiten, die in die Realität einsickern, zu eben dieser werden, ohne es gleich zu bemerken sowie manipulativ und navigierend zu agieren, um alles in einen anderen Zustand zu versetzen, ersetzt werden. Es gilt, sich das Vorhandene anzueignen und dessen verändernd habhaft zu werden: Nimm, was du kriegen kannst, und gib es anders wieder her! Der künstlerisch-politische Rückgriff nach vorne mithilfe von Elementarem kann ein guter Anfang sein. Die Notwendigkeit all dessen speist sich aus den Potenzialen einer Poietik der Veränderung: Die Handlungen mitsamt ihren spurhaften Ein- und Auswirkungen sowie unwiderruflichen Einschreibungen in das Gegebene bilden veränderte Handlungsgrundlagen für fortwährende Folgehandlungen, in deren dynamischen Prozessen dann vielleicht alles anders werden kann.

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Literatur Avanessian, Armen (2015): Überschrift, Berlin: Merve Verlag. Avanessian, Armen/Malik, Suhail (2016): Der Zeitkomplex. Postcontemporary, Berlin: Merve Verlag. Badiou, Alain (2014): Pornographie der Gegenwart, Wien: Turia + Kant. Brinkmann, Rolf Dieter (1975): Westwärts 1 & 2. Gedichte (Neuveröffentlichung 2005), Reinbeck: Rowohlt. Dany, Hans-Christian (2015): Schneller als die Sonne. Aus dem rasenden Stillstand in eine unbekannte Zukunft, Hamburg: Edition Nautilus. de Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve Verlag. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Medina, Cuahtemoc (2007): Fable Power, in: Ferguson, Russel; Fisher, Jean; Medina, Cuauhtémoc (Hg.): Francis Alÿs, New York: Phaidon. Meillassoux, Quentin (2014): Nach der Endlichkeit, Zürich/Berlin: Diaphanes.

Lob der Gewohnheiten Hans-Christian Dany

Lob der Gewohnheiten, bei denen es einem an nichts mangelt und sich das Zuviel entfalten kann, statt dem Projekt zu dienen.

Dem, was ich tue, versuche ich einen Rhythmus zu geben, der sich an sieben Tagen der Woche kaum verändert. Was sich verstetigt, wird zur Gewohnheit. Wird diese unterbrochen, muss die Bewegung erst wieder in Gang gesetzt werden. Läuft sie in einem täglichen Gleichmaß, beginnt es zu fließen und tut sich fast wie von selbst. Noch benommen vom Schlaf, versuche ich nach dem Aufwachen den Takt zu finden. Obwohl ich kaum wach bin und jede Handlung unmöglich scheint, finde ich ihn. Um die Hände mit dem Rhythmus zu synchronisieren, brauche ich keinen Einfall. Vom Vortag klingt genug nach, und bald findet sich ein Schlupfloch. Nach einer Stunde, um sechs, rauche ich die zweite Zigarette. An Werktagen verliere ich den Rhythmus gegen sieben das erste Mal. Am Wochenende kann ich ihn etwas länger halten. Aber unter der Woche ahne ich: Gleich wird der Wecker läuten. Bevor das passiert, hole ich meinen Sohn aus dem Schlaf, gehe anschließend runter auf die Straße, kaufe Brötchen. Wir frühstücken, bis ich ihn zur Schule bringe. Danach schreibe ich weiter. Es belebt den Rhythmus, für einen Moment unter Zeitdruck zu stehen, bis ich um neun zwanzig Minuten schwimmen gehe. Ohne auf die Zeit zu achten, versuche ich alles so gleichförmig zu tun, dass meine

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Nachbarn die Uhr nach mir stellen könnten. Ein wenig Langeweile muss sein, um mich von ihm treiben zu lassen. Nicht zu aufgeregt starre ich auf den Bildschirm und drücke die Tasten. Um zwölf verlässt mich der Takt. Für einen Moment werde ich melancholisch, und das Gefühl einer latenten Leere streift mich. Mit dem Rhythmus allein ist es aber nicht getan. Es gibt noch andere Regeln. Ich darf an keinem Schreibtisch sitzen, das würde zu sehr an Arbeit erinnern. Es muss ein Tisch sein, der eine andere Funktion hat, wie der Küchentisch, an dem gegessen und das Schreiben zur Nebensache wird. Was ich tue, soll sich am Rand zur Freizeit bewegen. Auch mag ich die Vorstellung, meine Nachbarn könnten tuscheln: Ach, der arme Arbeitslose, zumindest weiß er sich zu beschäftigen. Ich möchte, dass niemand etwas erwartet, geschweige denn die Vorstellung hat, ich würde etwas untersuchen. Allein der Gedanke an die obszöne Frage, woran ich gerade arbeite, ist mir unangenehm. Kommt es mal zu so einem Übergriff, stammele ich etwas Unverständliches, was nach einer Minute niemand mehr so genau wissen will. Selbstverständlich nenne ich es nicht »Arbeit«. An den Rändern meiner Zone ohne Erwartungen beschäftige ich mich. Meine Beschäftigung ähnelt dem Rauchen: Warum ich es tue, kann ich nur bedingt erklären, tue es aber mit dem größten Vergnügen, weiß davon zu schwärmen und werde es morgen wieder tun. Rauchen kann ich inzwischen so, dass andere Lust darauf bekommen, wenn sie mir zusehen. Ich bin großartig darin, Nichtraucher zum Rauchen zu verführen. Beim Schreiben hoffe ich noch, an diesen Punkt zu kommen. Manche kritisieren wegen meiner List, einen Raum unbegründeten Handelns zurückzuerobern, ich wäre ein Abstauber, weil ich mich immer wieder von anderen, die Projekte haben, auf Zeit abholen lasse. Neben der Lust am Kontakt empfinde ich die kurzfristige Bewegung mit denen, die auf etwas hinarbeiten, als eine belebende Störung, die verhindert, dass ich in der Suppe meines Systems versinke. Um mich nicht zu eng in diese Störungen von außen zu verstricken, achte ich darauf, mich nicht zu oft von ihnen abholen zu lassen. Es ist eine Frage der Balance, auf die ich in jeder Hinsicht achten muss. Manchmal verdichtet sich mein Rhythmus zu Vorstellungen von Zielen. Wenn sie mir gefallen, segle ich ein wenig in ihrem Rückenwind, um im richtigen Moment wieder abzuspringen und zurückzukehren, in die Gewohnheit ohne Perspektive. Dass ich mich in ihr bevorzugt ein wenig unterhalb des Radars bewege, rührt aus der Erfahrung: Es läuft so

Lob der Gewohnheiten

ganz gut und hört nicht auf zu laufen. Der die Begründung und das Ziel ersetzende Rhythmus gibt mir die notwendige Erdung, um eine relativ abgespaltene, sich neben dem Hauptstrom bewegende Form der Produktivität aufrechtzuerhalten. Ihre kontinuierliche Gewohnheit gibt mir den Halt, um nicht in den Sog bestimmter Vorstellungen meiner Umgebung zu rutschen. Der Halt hat gegenüber der Haltung den Vorteil, dass der Körper beweglich bleiben kann. Diese Flexibilität entzieht sich einem Sog, der neben Geld durch eine Sprache hergestellt wird und selbstbestimmtes Handeln fast unmöglich macht. Inflationär verwendet diese Sprache zur Steuerung von Verhalten den Begriff »untersuchen«, wenn künstlerisches Handeln in Worte übersetzt werden soll. Warum gerade das Untersuchen zum wirksamen Jargon verkommen ist, lässt sich nachvollziehen. Neben der Konjunktur von digitalen Suchmaschinen erklärt sich diese Verengung durch den Aufschwung der sogenannten künstlerischen Forschung. Deren Institutionalisierung als Artistic Research mag wohlwollende Motive gehabt haben, wie die Gleichberechtigung von künstlerischen Methoden gegenüber der Wissenschaft oder eine Vermittlung von Techniken, die als exklusives Geheimwissen galten. Mittlerweile zeigt sich die künstlerische Forschung gerade wegen ihrer Bemühungen um Nivellierung, Normierung und Transparenz in erster Linie als Einbindung der Möglichkeiten der Kunst in die Kontrollgesellschaft. Durch eine Ankündigung kann die darauf folgende Bewegung im Nachgang besser ausgewertet werden: Was war die Frage, wurde sie im Blick behalten, und wurde dabei methodisch vorgegangen? Das, was jetzt »Arbeit« genannt wird, ist auf einen Mehrwert, den Erkenntnisgewinn und dessen Vermittlung, ausgerichtet. Mag all das auch nicht so streng gehandhabt werden, können die Handlungen mithilfe einer Bedienungsanleitung in einen Rahmen geschoben werden, in dem sich ihre Verwaltung vereinfacht. Die künstlerische Forschung wird dadurch für viele sogar attraktiv. Eine Konstruktion von Sinn, der im Gewinn an Erkenntnis liegen soll, überblendet die etwas anstrengende Frage nach dem unklaren Warum des künstlerischen Tuns. Die Verunsicherung seiner selbst durch eine grundlose Bewegung im Nebel muss nicht mehr ausgehalten werden. Bequem, aber um die speziellen Möglichkeiten gebracht, lehnen sich die vom Risiko der unkontrollierten Bewegung Befreiten zurück und brauchen nicht mehr so genau darauf zu achten, was noch alles passiert oder wo Abwege sie aufnehmen, da die Strömungen auf das nun bekannte Ziel ausgerichtet wurden und die Strecke dorthin transparent erscheint.

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Gerahmt wird das künstlerische Forschen von dem Begriff »Projekt«, der sich mittlerweile selbst auf das Malen eines Bildes reduzieren lässt. Das Wort, das fast alle Möglichkeiten ersetzt zu haben scheint, verbreitete sich zuerst durch die Verwaltung. Wer Geld von ihr will, um weiterzufahren, muss sein Begehren als Projekt verpacken. Inzwischen wird der Begriff den eigenen Wünschen schon im vorauseilenden Gehorsam übergestülpt, um dem eigenen Tun eine Relevanz anzuziehen, in der es sich als gesellschaftlich anerkannter Wert darstellen kann. Durch die Verwendung des harmlos erscheinenden Wortes »Projekt«, das gerne progressiv auftritt, ohne es zu sein, deutet sich künstlerische Handlung um und verliert ihr offenes Ende, da jetzt haushaltend auf ein Ziel zugegangen wird. Die durch das Projekt in den Prozess eintretende Ökonomie hat ihren Ursprung im griechischen »oikos«: Haus. Dessen Bewohner sparen etwa am Holz, damit es reicht, um den Wohnraum über den Winter warm zu halten. Die haushaltende Sorge um das gesteckte Ziel soll die Lust schmälern, schon im Herbst ein großes Feuer zu entfachen, da später nicht mehr genug Brennmaterial vorhanden sein könnte. Bei praktischen Angelegenheiten mag das fraglos angebracht sein. In Verbindung mit dem künstlerischen Vorgehen führt das ökonomische Handeln hingegen schnell ins Öde, da die Möglichkeiten des Bewegten gar nicht erst hinter dem Ofen hervorkommen. Das Unvorhersehbare entfaltet sich gar nicht erst, da es für die Erwirtschaftung eines gesteckten Mehrwerts verplant ist. Zeichen werden gesetzt, statt ihr Eigenleben auszuloten. Werkzeuge erledigen, was ihnen aufgetragen wird, statt selbst zu sprechen. Das im Material Atmende wird allein als Mittel zum Zweck betrachtet. Die Benennung der eigenen Bewegung als Projekt blockiert die im Prozess schwellenden Potenziale, weil man dem Geplanten gerecht werden will. Wird das angepeilte Ziel erreicht, bleiben die Füße auf dem Boden. Warum sollten die Ankommenden auch vor Freude in die Luft springen, haben sie doch gerade einmal das bekannte Soll erfüllt, statt euphorisch und verwirrt im Unbekannten zu schwimmen? Der Duden definiert das Projekt als Plan, Unternehmung, Entwurf, Vorhaben. Es unterscheidet sich sprachlich von der kontinuierlichen Progression, deren Bewegung sich ins Unbekannte ausweiten kann. Nah am Projekt ist die Projektion. Projizieren heißt nach vorne werfen und meint zuerst das Entwerfen geometrischer Gebilde auf einer Fläche. Später wirft der Projektor im Kino die Bilder auf die Leinwand. Beim Projekt handelt es sich um das gleiche Wort im Partizip Perfekt, also das nach vorne Ge-

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worfene. Der Wurf ist bereits abgeschlossen, wodurch die Bewegung, die beim Wurf entstanden ist, zu einer planbaren Größe wird, über welche die Steuerung des Vorhabens nun ihr magisches Dreieck aus Zeit, Kosten und Umfang zeichnen kann. Im Deutschen tauchte das Projekt erstmals im 17. Jahrhundert als Bauvorhaben auf. Das vorgestellte Gebäude wurde als Entwurf abgeschlossen, damit mit dem Bau begonnen werden konnte. In den USA der späten 1960er Jahre wanderte der Begriff mit den »Earth Projects« in das Kunstfeld: Da Landart-Künstler wie Robert Smithson oder Michael Heizer glaubten, sie müssten für die Verwirklichung ihrer Visionen in der Wüste viel Sand bewegen, begannen sie sich wie Firmen zu organisieren. Das Projekt ist alles andere als eine offene Form. Es definiert sich als einmaliges Vorhaben, bei dem gelenkte Tätigkeiten angenommenen Zwängen gerecht werden, um ein Ziel zu erreichen. Nach der Deutschen Industrie Norm DIN 69901 handelt es sich beim Projekt um ein Arbeitsvorhaben, bei dem ein Mangel an Zeit, Energie und Material den Verlauf bestimmt. Durch die Vorstellung des Mangels und den daraus folgenden Pragmatismus in der Planung schraubt sich das Prinzip der Wertschöpfung in den künstlerischen Prozess. Das diskontinuierliche Projekt unterwirft das unendliche Potenzial des Unabsehbaren der finalen Kontrolle des Planbaren. Um die Kontrolle zu gewährleisten, baut das Projekt auf Kompetenz. Durch die Aufwertung der menschlichen Fähigkeiten werden die Eigenkräfte von Sprache, Technik und Material zurückgedrängt. Es wird versucht, die Dinge in die Hand zu nehmen und auf einer geraden Linie zum Ziel zu tragen. Um anzukommen, meidet das Projekt leere Formen, in die Abweichendes und Unbekanntes eindringen könnten. Die bewegten Körper sind schon besetzt von der Vorstellung, was sie werden sollen. Intuitive Reaktionen und das Gefühl einer inneren Notwendigkeit werden von einem zielgerichteten Pragmatismus wegrationalisiert und auf die Rolle des Dekors reduziert. Man folgt den Stimmen der Vernunft, deren Ideen sich fraglos realisieren lassen, statt denen, die am geheimnisvollsten klingen und bei denen der Zugriff ins Schwimmen kommt. Gleichzeitig mit den das Projekt in die Kunst einführenden LandartKünstlern übertrug der New Yorker Galerist und Teppichhändler Seth Siegelaub den Begriff in den Kunsthandel, um mit ihm einen Rahmen für die Konzeptkunst zu erfinden, damit aus dieser eine Ware werden konnte. Siegelaub, der mit Teppichen handelte, um die Galerie zu finan-

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zieren, ging aufgrund seiner finanziellen Erfolglosigkeit als Kunsthändler besonders systematisch vor. Wenn es ihm schon nicht real gelang, wollte er zumindest ein Modell für den Handel hinterlassen. Wie bei den meisten Versuchen, die Interessen von Künstlern mit einer kapitalistischen Struktur zu versöhnen, ließ sich der Widerstreit zwischen der Logik des Tausches und der Verausgabung im künstlerischen Arbeitsprozess aber kaum auflösen. Begrenzt wird im Falle des Projekts zudem die Fluchtlinie aus einer Vorstellung von Kunst, in der die Künstler nur einen der Wirklichkeit erzeugenden Pole neben Material oder Werkzeug darstellen. Das Projekt, mit seinem steuernden Umgang mit diesen beiden Polen und der Ausrichtung auf das bereits Geworfene, führt zu einem Rückschritt in ein menschzentriertes Künstlerselbstverständnis. In Europa wurde das Projekt in den 1990er Jahren für die immaterieller werdenden Arbeitsformen wiederentdeckt, für deren Flüchtigkeit es einen sprachlichen Rahmen bieten sollte. Die potenzielle Erweiterung der Möglichkeiten, was Kunst alles sein könnte, geriet in Konflikt mit einer sozialdemokratischen Kritik, die Künstlern vorwarf, sie hätten mit ihrer Neigung zu viel zu tun und würden ihre Kraft unökonomisch verschwenden – damit war der Prototyp für die neoliberale »Selbstausbeutung« erfunden. Im fatalen Umkehrschluss dieser Kritik setzt es sich durch, dass die herrschende Ordnung des Mangels statt der eigenen Abweichung davon anerkannt wird. Dieser zerstörerische Denkfehler greift, wenn künstlerisches Suchen in der Logik der ökonomischen Bedingungen sprachlich als Projekt formalisiert und einer widerstrebenden Haushaltung untergeordnet wird. Im Windschatten der Etablierung des Genres »Künstlerische Forschung« wandert das Projekt im Verlauf der Nullerjahre von der Amts- in die Umgangssprache. Was sich als zeitgenössischer Wandel behauptet – ganz so, als hätten Künstler nicht schon immer geforscht, nur eben nach ihren Suchen eigenen Regeln –, ist bei genauerer Betrachtung kaum mehr als eine weichgespülte Bereitschaft, die herrschenden Wirklichkeitskonstruktionen anzuerkennen, die Abweichungen davon anzugleichen und den Menschen wieder als dominanten Diener des Mehrwerts ins Zentrum zu stellen. Dabei war man eigentlich schon viel weiter, hatte man in der Kunst doch gerade damit begonnen, die Zentrierung auf den Menschen hinter sich zu lassen. Der Maler Willi Baumeister schrieb bereits vor siebzig Jahren in »Das Unbekannte als zentraler Wert«: »Der Künstler kann nichts.« In dem von Baumeister entworfenen Modell der Formung bescheiden

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sich Künstler mit der Rolle der Anstoßenden. »Ein bestimmter Typ spekulativer Mensch« projiziert das Vision-Objekt als Bewegung, lässt das in Gang Gebrachte auf der Spur zum »Scheinziel« aber los und beobachtet, wie es die Startbahn verlässt. »Das vorangestellte Ziel fungierte nur als Reiz«, um anschließend in eine losgelöste Bewegung zu verschwimmen und in die toten Winkel des Gewussten einzudringen. Im Loslassen, in der Aufgabe der Kontrolle, können die zuvor unbekannten Wirklichkeiten betreten werden. Um nicht in der Sphäre des Bekannten Kreise zu ziehen, scheint es notwendig, sich von dessen Sprache und Ordnung zu entfernen. Dabei stellt sich die Frage, ob man das Potenzial des Künstlerischen vielleicht schon blockiert, wenn man den Weg dorthin, die Fluchtlinie, »Arbeit« nennt, weil dessen Konzept mittlerweile vom Projekt-Denken kontaminiert scheint. Man kann die buchstäbliche Betrachtung spitzfindig finden, unterschätzt dabei aber, glaube ich, wie Wertsysteme über die Sprache das Verhalten infiltrieren. Die für das Weitergehen notwendige Verausgabung seines Selbst an das Unbekannte findet nicht mehr statt, weil die damit verbundene Auflösung zu viel Zeit kostet. Haushaltend wird am Bekannten geklebt, damit die Sache schnell erledigt ist. Ein Fluchtweg aus diesem Kreisverkehr scheint eine Kontinuität ohne Anfang und Ende. In der täglichen Gewohnheit findet sich das Nadelöhr, durch welches die beengenden Anforderungen der SinnProduktion umschifft werden können. Es fällt nicht mehr schwer, anzufangen, weil man nie aufhört. Auch entziehe ich dem äußeren Anlass die Autorität, etwas zu tun. Ein Zustand der Verunsicherung, der sich durch die Ungreif barkeit von Bedeutung einstellen kann, wird durch die alltägliche Gewöhnung abgefedert. Irgendwann kenne ich es ja gar nicht mehr anders. Eine solche Gewohnheit erlaubt es mir, der Frage, was ich am Ende dafür bekomme, aus dem Weg zu gehen oder ihr im Falle der Relevanz meines Tuns mit ihren Ködern aus Eitelkeit und Sicherheit auszuweichen. Um in ihr zu überleben, wäre es vielleicht auch schlauer, die falsche Umgebung nicht mittels Kritik zu bestätigen. Kritik droht die Projektkultur nicht nur durch den Hinweis auf ihre blinden Flecken zu optimieren, sondern ihr auch eine Bedeutung zu geben. Das Pferd lässt sich vielleicht von hinten besser aufzäumen: Als je bedeutungsloser ich das behandele, was ich tue, desto weniger muss ich mich gegenüber den falschen Fragen rechtfertigen. Was ich tue, scheint zu klein, um nach seiner Rele-

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vanz zu fragen. Als bedeutungsloser Zwerg schlüpfe ich einfach unter der Autorität einer Sprache hindurch, die nach meinem Wert fragt. In den Wirklichkeiten unterhalb der steuernden Maßstäbe einer fehlgeleiteten Anmaßung kann man sich auch leichter wortlos verschwören und vermeidet es so, durch Kommunikation steuerbar zu werden. Die scheinbare Schwächung seiner selbst erlaubt es, einer von vielen und von vielem zu werden und zu wachsen.

Autoren

Andreas Brenne, Professor für Kunst und ihre Didaktik/Kunstpädagogik an der Universität Osnabrück, davor Professor für »Ästhetische Bildung und Bewegungserziehung« an der Universität Kassel. Studierte Lehramt Primarstufe (Kunst, Mathematik, Deutsch und Sachunterricht) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie Freie Kunst an der Kunstakademie Münster; von 2000 bis 2007 Lehrer an Grundschulen in NRW. Vorstandsmitglied der Wissenschaftlichen Sozietät Kunst Medien Bildung. Seine Arbeitsschwerpunkte: Kunstpädagogik, Künstlerischästhetische Forschung, Grundschulpädagogik, Qualitativ-empirische Unterrichtsforschung und Kulturelle Bildung. Carl-Peter Buschkühle studierte Kunst, Philosophie und Erziehungswissenschaften in Paderborn, Wuppertal und Köln; von 1986 bis 2000 Lehrer für Kunst und Philosophie am Gymnasium der Benediktiner in Meschede. Seit 2000 Professor für Kunstpädagogik, bis 2007 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und seit 2007 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Wissenschaftliche Arbeit in den Schwerpunkten Künstlerische Bildung und Philosophische Ästhetik; 2006 Habilitation mit einer Arbeit zum Thema Postmoderne Kultur und Künstlerische Bildung an der Universität Koblenz-Landau. Eigene multimediale künstlerische Arbeit mit nationalen und internationalen Ausstellungen. Hans-Christian Dany lebt in Hamburg schon lange im Urlaub von dem, was er tun soll. Wie viele, die nicht wissen, wohin mit sich, schreibt er. Manchmal werden daraus Bücher. Zuletzt erschienen »Speed. Eine Gesellschaft auf Droge« (2008), »Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft« (2013) sowie im Herbst 2015 »Schneller als die Sonne. Aus dem rasenden Stillstand in eine unbekannte Zukunft«.

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Inga Eremjan ist derzeit als Lehrerin in Lübeck tätig; studierte Lehramt in den Fächern Mathematik und Kunst, war Stipendiatin der Hans-BöcklerStiftung und promovierte an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Dissertation »Transkulturelle Kunstvermittlung. Zum Bildungsgehalt ästhetisch-künstlerischer Praxen« erschien 2016. Stella Geppert studierte von 1993 bis 1999 Bildhauerei an der Universität der Künste Berlin. Zahlreiche Preise und Stipendien, wie zum Beispiel das Arbeitsstipendium der Berliner Senatsverwaltung (2004), Kunstfonds (2010), das Barkenhoff-Stipendium in Worpswede (2007) oder das Stipendium – Deutsches Studienzentrum in Venedig (2013) zeichneten ihre künstlerische Arbeit aus, die sie u.a. in Athen, Berlin, Amsterdam, Wien, Kopenhagen, Göteborg und Omihachiman/Japan ausstellte. Seit Oktober 2010 ist sie als Professorin für künstlerische Praxis im Studiengang Kunsterziehung/Kunstpädagogik an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle tätig. Zuvor lehrte sie u.a. an der Universität der Künste in Berlin und an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Hannah-Deborah Isabell Gramentz absolvierte den Master of Education (Lehramt Haupt- und Realschule) an der Leuphana Universität Lüneburg. Mitbegründerin der studentischen Kunstpädagogik-Tagung »VerhandelnVerbrechen-Verfahren« (Dezember 2016). Ausstellungsbeteiligungen in Pritzwalk und Lüneburg (»Film Experimente«, »Verloren und Gefunden«). Sie kuratierte und organisierte die Ausstellung »Einige Abschlussarbeiten von Kunststudent*innen« im Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg (2013). Kerstin Hallmann studierte Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaften und Kunstgeschichte in Lüneburg und Hamburg. Gründerin des Saxophon-Ensembles »vierklang«. Langjährige Tätigkeit als Kunstvermittlerin am Sprengel Museum Hannover, in der Kunstschule KunstWerk e.V. Hannover sowie beim Besucherdienst Documenta 11, Kassel. Seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg, zunächst am Institut für Integrative Studien und seit 2012 am Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung. Lehraufträge in Hamburg, Braunschweig und Leipzig. Ihre Dissertation »Synästhetische Strategien in der Kunstvermittlung« erschien 2016.

Autoren

Christina Inthoff studierte Erziehungswissenschaft, Kunstpädagogik und Germanistik an der Universität Bremen. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Creative Unit »Fachbezogene Bildungsprozesse in Transformation« (FaBiT) und Lektorin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik, Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Das künstlerisch-experimentelle Prozessportfolio (KEPP), Ästhetische Bildung, Fachdidaktik Kunst und Darstellendes Spiel. Almut Linde studierte an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, dort Meisterschülerin (bei Franz Erhard Walther und Bernhard Johannes Blume). 2008 HAP-Grieshaber-Preis der Stiftung Kunstfonds Bonn. Einzelausstellungen u.a. 2015 Kunstverein Ruhr, Essen, 2014 Kunstpalais Erlangen, 2013 Chapter Cardiff, Wales; DA2, Domus Artium 2002, Salamanca. Gruppenausstellungen u.a. 2015 »When There is Hope«, Hamburger Kunsthalle, »Psychogeographic Junction LAB«, Kunsthalle Bratislava, »Land in Sicht«, Weserburg Museum für Moderne Kunst Bremen, 2014 »Visionen«, Marta Herford. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung der Leuphana Universität Lüneburg. Pierangelo Maset studierte Kunst/Visuelle Kommunikation, Philosophie, Anglistik und Soziologie in Kassel, Göttingen, London, Berlin und Hamburg. Veröffentlichung von Tonträgern (Dr. Misch, Exkurs, Modern Entertain­ ment, Kings of Crisis), Mitbegründer des meta-performativen Kunstrudels HYDE-Kartell in Berlin. Seit 2001 Professor für Kunst und ihre Vermittlung an der Universität Lüneburg. Lehraufträge in Weimar, Linz, Canterbury, Hamburg und Kassel. Zahlreiche Publikationen in den Gebieten Kunst, Ästhetik, Kunstvermittlung, Kunstpädagogik: 2007 Roman »Laura oder die Tücken der Kunst«, 2010 Essay »Geistessterben«, »Ästhetische Bildung der Differenz – Wiederholung 2012«, »Wörterbuch des technokratischen Unmenschen« sowie Roman »BEAUTY POLICE« (2013). Seit 2006 Chefredakteur der Kulturzeitschrift DAS PLATEAU. Maria Peters studierte Kunst, Kunstpädagogik und Erziehungswissenschaft in Hamburg (Universität und Hf bK). Seit 1998 Professorin für Kunstpädagogik/Ästhetische Bildung an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Sprechen und Schreiben in Auseinandersetzung mit Kunst/Kultur; Kompetenzorientierung im Kunstunterricht; Radiokunst;

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forschendes Studieren im BA/MA Kunstpädagogik. Aktuelle Forschung u.a. seit 2014: Creative Unit Universität Bremen, »Fachbezogene Bildungsprozesse in Transformation (FaBiT): Reflexive Prozessvisualisierungen/ Artistic Research« (www.uni-bremen.de/de/cu-fabit.html). Von 2009 bis 2014 wissenschaftliche Begleitung für das Fach Kunst im Schulversuch alleskönner, in Kooperation mit komdif/Leibniz-Institut IPN-Kiel sowie der Schulbehörde Hamburg. Rahel Puffert ist derzeit Vertretungsprofessorin am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2013 gehört sie zur künstlerischen Leitung des »Werkhaus Münzviertel. Modellprojekt zur Verschränkung von Pädagogik, Kunst & Quartiersarbeit« in Hamburg. Sie war Prozessbegleiterin von zahlreichen Kunstprojekten in Schulen und kuratierte eine Ausstellung zur Abschlusstagung der Kulturagenten. Vorzugsweise arbeitet sie in Kollektiven wie den Künstlergruppen »target: autonopop«, Archiv »Kultur & Soziale Bewegung«, FRONTBILDUNG und war Mitbegründerin und Redakteurin von THE THING Hamburg. Plattform für Kunst & Kritik 2006-09. Ihre Schrift »Die Kunst und ihre Folgen. Zur Genealogie der Kunstvermittlung« erschien 2013. Hagen Steffel unterrichtete bis 2014 die Fächer Kunst und Philosophie am Immanuel-Kant-Gymnasium in Hamburg. Ehemals Tätigkeiten als freier Journalist, Galeriemitarbeiter, DJ (Eric Dirt) und Mitbegründer der Disfu-Lesegruppe. Mitherausgeber des Bandes »Corporate Difference – Formate der Kunstvermittlung« (2006). Seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung an der Leuphana Universität Lüneburg. Mitgründer des Internet-Channels »und. channel« (2016). Maximilian Wittwer lebt in Hamburg, ist derzeit Doktorand im Fach Kunst an der Universität in Lüneburg und interessierte sich davor eben dort im Studium für Kunst und Literatur. Er ist an wechselnden Schulen mit künstlerisch-politischer Bildung beschäftigt und macht hier und da eigene Ausstellungen. Manuel Zahn studierte Sonderpädagogik, Erziehungswissenschaft, Philosophie und Psychologie an der Universität Hamburg und promovierte über »Ästhetische Film-Bildung«. Seit dem Wintersemester 2016 Vertretungs-

Autoren

professor für Ästhetische Bildung am Institut für Kunst & Kunsttheorie der Universität zu Köln. Zuvor Vertretungsprofessor für Kunstpädagogik an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Oldenburg und Hamburg. Arbeitsgebiete: Erziehungs- und Bildungsphilosophie; Medienbildung, insbesondere Filmbildung; Kunstpädagogik und Ästhetische Bildung in der digitalen Medienkultur.

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Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.) Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2274-4

Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.) Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3272-9 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-3272-3

Michael Bockemühl Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) Oktober 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3656-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, 218 S., kart., 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3452-5 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9

Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen September 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3598-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4

Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3331-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3331-7

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