Folterbilder und -narrationen: Verhältnisse zwischen Fiktion und Wirklichkeit 9783737000031, 9783847100034, 9783847000037


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German Pages [296] Year 2013

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Folterbilder und -narrationen: Verhältnisse zwischen Fiktion und Wirklichkeit
 9783737000031, 9783847100034, 9783847000037

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Julia Bee / Reinhold Görling / Johannes Kruse / Elke Mühlleitner (Hg.)

Folterbilder und -narrationen Verhältnisse zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Mit 36 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0003-4 ISBN 978-3-8470-0003-7 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der VolkswagenStiftung. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Gregor Schneider, Passageway No. 4, 2005 – 2007; aus der Reihe Weiße Folter ; die Ausstellung fand statt vom 17. 03. 2007 bis 15. 07. 2007 im K20/21 Kunstsammlung NRW. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Narrativierung traumatischer Erfahrung Elke Mühlleitner Repräsentationen, Definitionen und Narrationen. Eine medizinisch-psychologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Dori Laub Das Erzählbarwerden traumatischer Erfahrungen im Prozess des Zeugnisablegens: Strategien der Bewältigung von »Krisen der Zeugenschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rosmarie Barwinski Erinnerung und Traumabearbeitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Dima Zito Arbeit mit dem Unaussprechlichen. Therapie mit Überlebenden von Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Franziska Henningsen Psychisches Trauma-Narrativ. Psychoanalytische Wege zum Verstehen . .

69

Mechthild Wenk-Ansohn Sexualisierte Folter und ihre Folgen. Scham begünstigt chronische posttraumatische Beschwerden und behindert die Kommunikation

89

. . .

6

Inhalt

2. Inszenierungen des Phantasmas Reinhold Görling Szenen der Gewalt – Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Phantasie, Handlung und Aufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Linda Hentschel Gewaltbilder und Schlagephantasien oder : Die Rebellion der Betrachtermelancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Angela Koch Sexuelle Gewalt und traumatische Erzählung. Überlegungen zum Film Grbavica – Esmas Geheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Lisa Gotto Maskierungen. Zur Folterform des blackface . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Franziska Lamott Zeigen und Verbergen. Foltern vor der Kamera . . . . . . . . . . . . . . . 155 Michaela Wünsch Folter und die Zeitlichkeit des Traumas im serial drama . . . . . . . . . . 173 Julia Bee Szenen der Entmenschlichung. Zeitlichkeit, Folter und das Posthumane in True Blood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Petra Löffler Atemnot, Kälte, Schwindel. Sensory deprivation und der Terror des Films

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Volker Woltersdorff Folter als erotisches Faszinosum. Über sadomasochistische Inszenierungen von Folterphantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Jon McKenzie Abu Ghraib und die Gesellschaft des Spektakels der Martern . . . . . . . 251 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Abbildungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Vorwort

Die Folter, Menschen mit Foltererfahrung, Bilder und Narrationen über die Folter gehören in einem weit größeren als häufig vermuteten Ausmaß zu unserer Lebenswelt. In nahezu einhundert Ländern der Erde wird nach Angaben von Amnesty International zurzeit gefoltert. Wir gehen davon aus, dass mehr als 300.000 Menschen mit Foltererfahrung in Deutschland leben. Die Folter ist eine der schwerwiegendsten Formen der Gewalterfahrung. Diente sie früher überwiegend dem Erpressen von Informationen oder Geständnissen, so stehen bei der Folter heute häufig die Einschüchterung von Bevölkerungsgruppen sowie die Zerstörung der Persönlichkeit des Gefolterten im Zentrum. Zahlreiche Studien, klinische Berichte und autobiografische Schilderungen weisen darauf hin, dass Foltererfahrungen die Kohärenz des Selbst zerstören können. Die überflutende Emotion in der Foltersituation macht es den Betroffenen unmöglich, die Grenze zwischen Innen und Außen aufrechtzuerhalten, die erschreckendsten Phantasien werden zur Realität. Extrem traumatisierende Situationen werden im psychoanalytischen Verständnis abgespalten und dissoziiert. Neuropsychologische Erkenntnisse weisen darauf hin, dass das sprachliche Gedächtnis während des Traumas durch die extreme Ausschüttung des Stresshormons Cortisol inaktiviert ist und dieses in Form somatischer Sinneseindrücke und visueller Bilder gespeichert wird. Das Trauma kann so nicht in Sinnbezüge gefasst werden, die Mentalisierungsfähigkeit und die Symbolisierungsfähigkeit sind stark beeinträchtigt. Im Zentrum des traumatischen Erlebens der Folter steht somit auch die mangelnde Symbolisierbarkeit und fragmentierte Erinnerung an die traumatisierende Situation. Wir gehen heute davon aus, dass in dieser unzureichenden Repräsentation eine Ursache für die Entwicklung von Traumafolgeerkrankungen zu suchen ist. Die Beeinträchtigung des Narrativs über die Foltersituation und die damit einhergehende Fragmentierung der Persönlichkeit stellen somit die wesentlichen Folgen der Folter für die Folteropfer dar. Ein konsistentes Narrativ über die Foltersituation durch die Betroffenen kann ein wesentlicher Baustein in der Überwindung der Traumafolgen bedeuten.

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Vorwort

Folterbildern und -narrationen begegnen wir aber auch in ganz anderen Kontexten. Nahezu täglich werden in Fernsehproduktionen Folterszenen präsentiert. Im Kino der Gegenwart sind die Helden nicht selten selbst Gefolterte, die aus dieser Erfahrung eine Rechtfertigung für ihr Handeln ziehen wollen. Folter stellt in zahlreichen Filmen den dramaturgischen Höhepunkt der Handlung dar. Die abendländische Kultur fußt auf dem Bild von Christus als dem Gefolterten. Bilder und Narrationen über die Folter und Gefolterte durchziehen unsere Kulturen. Wie ist das Verhältnis zwischen den Narrationen, ihren Störungen bei Folteropfern und den gesellschaftlichen Phantasmen zur Folter? Der vorliegende Band soll erste Antworten auf diese Fragen geben. Im ersten Teil des vorliegenden Buches steht die Narrativierung der traumatischen Foltererfahrung durch die Folteropfer im Zentrum. Elke Mühlleitner berichtet über die unterschiedlichen Ebenen der Repräsentation der Folter, Foltererfahrungen und Folterfolgen im medizinisch-psychologischen Kontext. Diese Narrationen sind nicht nur Erzählungen der Opfer, sondern sie umfassen auch Berichte von Tätern und Täterinnen, denn Ärzte und Ärztinnen sowie Psychologen und Psychologinnen waren nicht nur kurativ tätig, sie haben wesentlich auch zur Weiterentwicklung von Foltermethoden beigetragen. Dori Laub berichtet über die Narration und Erinnerung von HolocaustÜberlebenden und die damit verbundenen intrapsychischen und interpersonellen Veränderungen. Er stellt dar, wie im Prozess des Zeugnisablegens traumatische Erfahrungen erzählbar werden, abhängig auch von der aktuellen Beziehung zwischen Erzählendem und Zuhörendem. Rosmarie Barwinski gibt in ihrem Beitrag »Erinnerung und Traumabearbeitung« die Problematik der symbolischen Repräsentation traumatischer Erfahrungen wieder. Sie weist aber auch auf die Bedeutung der Idealisierung und Spaltung in den Verarbeitungsprozessen hin. Sie verdeutlicht, dass Erinnerungen an traumatische Ereignisse sehr unterschiedlich im Gedächtnis verankert sind. Daraus leitet sie unterschiedliche Strategien für die Therapie von Folteropfern ab. Dima Zito berichtet über ihre Arbeit mit Überlebenden von Folter im psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge und Folteropfer in Düsseldorf. Sie berichtet, wie die Verarbeitung der Foltererfahrung überdeckt wird von den Migrations- und Flüchtlingsproblemen. Im Zentrum ihres Beitrags steht dabei die traumazentrierte Psychotherapie mit Flüchtlingen mit Foltererfahrungen. Franziska Henningsen berichtet über psychoanalytische Wege zum Verstehen des psychischen Traumas. Aus ihrer Arbeit als Gutachterin für traumatisierte Folteropfer und Flüchtlinge schildert sie die unterschiedlichen Formen der posttraumatischen Belastungsstörung als Folge von Foltererfahrung. An-

Vorwort

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hand von zwei Beispielen wird die besondere Belastung dieser Menschen verdeutlicht. Im Mittelpunkt des Beitrags von Mechthild Wenk-Ansohn stehen die sexualisierte Folter und ihre Folgen. Sie berichtet über die spezielle posttraumatische Symptomatik bei Frauen nach sexualisierter Folter und beleuchtet insbesondere die Bedeutung der Scham- und Schuldgefühle sowie der Selbstablehnung in diesem Prozess. Das Schweigen über die traumatisierenden Erlebnisse wird als eine Überlebensstrategie der betroffenen Frauen dargestellt. Im zweiten Teil des Bandes steht die Inszenierung des Folter-Phantasmas im Zentrum, also die mediale Darstellung der Folter und ihre Interaktion mit den Betrachtenden. In seinen einleitenden Ausführungen geht Reinhold Görling dem Verhältnis von Aufführung, Phantasie und Handlung nach. Zur Einwirkung auf die Subjektivität des Opfers bedienen sich die Täter/innen in der Folter fast immer inszenatorischer Elemente. Dabei entzieht diese performative Praxis dem Opfer gerade den Spielraum der Lösung von Handlungszwängen, welchen Theatralität eröffnen kann. Zugleich zielt die Ausstellung der Gewalt durch die Täter/innen auf eine Entsolidarisierung, eine Abwendung des Blicks, ja letztlich eine Verleugnung des Gesehenen. Analog dazu verhält sich die Phantasie, also die szenische, traumhafte Wahrnehmung, in der die Positionen der Akteure nicht fixiert sind: Sie kann ästhetische Erfahrung, aber auch Unterfütterung von Handlungen und Verleugnung von Verantwortung sein. Linda Hentschel setzt sich in ihrem Beitrag zu den Gewaltbildern und Schlagephantasien bzw. zur Bedeutung der Rebellion der Betrachtermelancholie mit der Frage auseinander, wie man es vermeiden kann, im Betrachten von Greuelbildern und Feindbildern die Gewalt, die dort dargestellt wird, unbewusst zu wiederholen. Sie plädiert dafür, im Bereich des Visuellen durch und mit der Verletzbarkeit Ungehorsam und Kritik zu üben. Der Film GRBAVICA – ESMAS GEHEIMNIS setzt sich mit der sexuellen Gewalt und ihren Folgen im ehemaligen Jugoslawien auseinander. Angela Koch analysiert in ihrem Beitrag diesen Film, der Zeugnis über sexuelle Traumatisierung in Ex-Jugoslawien ablegt. Der Film und die begleitende Öffentlichkeitskampagne schufen in der Föderation Bosnien und Herzegowina zumindest ein Bewusstsein für diese Gewalterfahrung. Einer sich in ihren Bedeutungen überlagernden Bildtradition geht Lisa Gotto in ihrem Beitrag über das blackface nach. Wenn jede Maske an der Schwelle zwischen Tod und Leben steht, so ist doch mit dem mit Bambuskohle geschwärzten Gesicht der minstrel shows eine besondere Praxis der Gewalt zeitlich und visuell verknüpft: die der Folterungen und Lynchmorde an Afroamerikanern in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Beachtet man, dass diese Verbrechen in Fotografien festgehalten und als Postkarten verbreitet

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Vorwort

wurden, erscheint es durchaus denkbar, in der Maske der Mickey Mouse einen Widerhall dieser Bilder zu sehen. Das Verhältnis von Zeigen und Verbergen analysiert Franziska Lamott anhand der Berichte und Fotos aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis, die aufzeigten, wie US-amerikanische Armeeangehörige Gefangene quälten und folterten. Sie analysiert die Macht und die Funktion dieser Bilder, die ein pornografisches Format erfüllen und eingebettet sind in eine spezifische mediale Kriegstechnik einer globalisierten Welt. Michaela Wünsch setzt sich mit der Folter und der Zeitlichkeit des Traumas im serial drama auseinander. Sie untersucht, ob sich in der Wiederholungsstruktur der Fernsehserie eine Verbindung zum Trauma herstellen lässt, insbesondere anhand der US-Serien Lost und 24. Insbesondere Lost nimmt die traumatische Erfahrung in ihrer episodischen, sich wiederholenden Struktur auf, während 24 bekanntlich den US-amerikanischen Soldaten und Soldatinnen im Irak als eine Art Skript während der Folterungen diente. In ihrem Beitrag beschreibt Julia Bee Repräsentationen von Folter in der aktuellen amerikanischen TV-Serie True Blood. Folterszenen befinden sich hier in einem Spannungsfeld zwischen dem Un-/Menschlich-Werden des Menschen in der Folter und aktuellen sich mit dem Folterdiskurs überlagernden biotechnologischen Innovationen, die den Begriff des Menschen prekär werden lassen. Das Humane wird zu einer Verhandlungssache zwischen Sub- und Suprahumanem in aktuellen science fiction Produktionen, in welchen Ängste und Hoffnungen gegenüber dem »Ende des Menschen« in Folterszenarien reflektiert werden. Zentral dafür sind sich zeitlich überlagernde Machtregime sowie eng mit dem Begriff des Menschlichen verflochtene Geschlechterordnungen. Petra Löffler fragt in ihrem Beitrag »Atemnot, Kälte, Schwindel. Sensory deprivation und der Terror des Films«, worin eben dieser Terror des Films besteht. Sie untersucht, wie Medien sich traumatisierend auf den Körper des Betrachtenden auswirken und der Film selbst als Medium der Folter begriffen werden kann, ohne dass Folter direkt repräsentiert wird. Die »Folter als erotisches Faszinosum« steht im Zentrum des Beitrags von Volker Woltersdorff, in dem er über sadomasochistische Inszenierung von Folterphantasien berichtet. Er arbeitet in seinem Beitrag den Unterschied und die Gemeinsamkeiten zwischen sadomasochistischen Folterphantasien und ihrer Realisierung sowie realen Foltersituationen heraus. Er bezieht sich neben literarischen und filmischen Beispielen auf empirisches Material, welches er in Form von Gruppendiskussionen in der SM- bzw. bondage-Szene erhoben hat. Abschließend greift Jon McKenzie den Skandal um die Folterbilder und -videos aus Abu Ghraib auf. Er analysiert die mediale Darstellung, das Theater der Folter, als ein zeitgenössisches »Spektakel der Martern« und stellt eine außerordentliche gewalttätige Form der politischen Theatralität dar. Anhand der

Vorwort

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Metadaten der Fotografien und Videos wird belegbar, wie Folter als ein wochenund sogar monatelanger Prozess der Erniedrigung und Traumatisierung organisiert wird. Dieser Band enthält überwiegend die Beiträge eines interdisziplinären Dialogs, der anlässlich der Tagung »Folterbilder und -narrationen. Verhältnisse zwischen Fiktion und Wirklichkeit« vom 11.–12. November 2010 in Düsseldorf geführt wurde. Ärzte und Ärztinnen sowie Psychologen und Psychologinnen, die mit Folteropfern arbeiten, kamen ins Gespräch mit Medienwissenschaftlern und Medienwissenschaftlerinnen, die die Inszenierung und Wirkung der Folter in den Medien untersuchen. Die Beiträge dokumentieren, dass reale Foltererfahrungen und die Narrationen der Gefolterten einerseits sowie andererseits die mediale Inszenierung der Folter zwei unterschiedliche Gegenstandsbereiche darstellen. Aber auch die Wechselwirkungen und Übergänge zwischen diesen Bereichen werden präsent. Die reale Folter ist eine Inszenierung der Macht, reale Folterungen werden zunehmend medial dargestellt und entfalten eine Wirkung im Krieg der Bilder. Und umgekehrt beeinflussen Fernsehserien die Folterpraktiken u. a. von Soldaten und Soldatinnen. Die mediale Inszenierung der Folter hat somit Auswirkungen auf reales Foltergeschehen. Diese Übergänge und Wechselwirkungen aber auch die sich entwickelnden Widersprüche, die sich aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bezugssystemen und Sprachen ergeben, verdeutlicht dieser Band. Die Tagung und die Herstellung dieses Bandes erfolgten im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts »Die Wiederkehr der Folter? Interdisziplinäre Studie über eine extreme Form der Gewalt, ihre mediale Darstellung und ihre Ächtung«. Dieses Projekt wurde im Rahmen der Förderlinie »Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften« von der VolkswagenStiftung gefördert. Wir danken der VolkswagenStiftung herzlich, dass sie durch diese Förderung die interdisziplinäre Zusammenarbeit in dieser Form erst ermöglicht hat. Besonders möchten wir Frau Dr. Vera Szöllösi-Brenig für ihre sehr couragierte und stets unterstützende Betreuung der Projektgruppe danken. Danken möchten wir aber auch allen Autorinnen und Autoren und Diskutanten der Veranstaltung, die sich der Mühe des interdisziplinären Dialogs unterzogen. Interdisziplinäres Arbeiten bedarf einer Fähigkeit des Perspektivenwechsels. Dieser stellt eigene Positionen in Frage, ermöglicht aber eine Weiterentwicklung über die Perspektive des eigenen Fachgebietes hinaus. Einer initialen Verunsicherung, die im Dialog auszuhalten ist, kann schließlich eine Erweiterung des eigenen Horizonts und des wissenschaftlichen Fachgebietes folgen. Wir wünschen dem und der Lesenden diese Geduld und Toleranz und

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Vorwort

hoffen, dass er und sie aus den unterschiedlichen Perspektiven Anregungen für seine und ihre Arbeit zieht. Düsseldorf und Gießen, im Oktober 2012

Julia Bee Reinhold Görling Johannes Kruse Elke Mühlleitner

1. Narrativierung traumatischer Erfahrung

Elke Mühlleitner

Repräsentationen, Definitionen und Narrationen. Eine medizinisch-psychologische Perspektive

1.

Repräsentationen

»Folterbilder und -narrationen. Verhältnisse zwischen Fiktion und Wirklichkeit« mag für Medizinerinnen und Psychologen im Vergleich zu Kultur- und Medienwissenschaftlern als Titel zunächst merkwürdig klingen. Geht es um philosophisch-geisteswissenschaftliche Fragen oder gibt es doch einen Bezug zur naturwissenschaftlichen Forschung? Zwar ist es genau die Erzählung, der Bericht des Patienten, die die Mediziner und Psychotherapeutinnen in erster Linie zu interessieren haben, doch möchten sich Naturwissenschaftler meist ungern auf einen Diskurs einlassen, der das Unklare, das Fiktionale beinhaltet. Sie beschäftigen sich mit Symptomen, Krankheiten, Dysfunktionen, deren Heilung im Mittelpunkt zu stehen hat. Wenn wir über die Folter sprechen, dann reden wir über die Wahrheit der Folter einerseits, denn in mehr als 100 Ländern der Welt wird nachweislich gefoltert, und dies, obwohl die einschlägigen Resolutionen der Vereinten Nationen global gültig und anerkannt sind. Wir sprechen aber auch gleichzeitig über die Unmöglichkeit, diese Wahrheit der Folter im Kern zu erfassen. Wir nähern uns einer Wirklichkeit der Folter über die Repräsentationen in Erzählungen und Bildern. Wo und wie erfolgt die Repräsentation, die Darstellung der Folter im medizinisch-psychologischen Kontext, welche Bilder und Narrationen werden bereitgestellt und verarbeitet? Und worauf treffen diese? Aus medizinisch-therapeutischer Sicht interessieren uns einerseits die Folter und ihre Folgen an sich, andererseits der wissenschaftliche Kontext, der ein System von Wissen, von Klassifizierung und Systematisierung, von Definitionen und Transformationen zur Verfügung stellt. Das Thema Folter ist in der Medizin auf unterschiedliche Weise repräsentiert. Wir können aktuelle Forschungsergebnisse über das Trauma und die Folgen behandeln, Debatten über Diagnostizierung und Behandlung führen, wir können uns aber auch in einer historisch-ethischen Diskussion auseinandersetzen,

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Elke Mühlleitner

wie und in welchem Ausmaß Ärztinnen und Ärzte an der Entwicklung von Foltermethoden und der Folter indirekt und direkt beteiligt waren und sind. Im Rahmen des Forschungsprojekts »Wiederkehr der Folter?« versuchen wir zwischen den Fachgebieten zu übersetzen bzw. die Multidisziplinarität der Folter im Rahmen von Hören-Sprechen-Aufzeichnen-Darstellen-Sehen zu analysieren.1 Man kann auch von einer Narrationsspirale und ihren Repräsentationen in »Dokumenten« verschiedenster Art sprechen. Damit tragen wir der Multimedialität der Folternarrative, der mündlichen Weitergabe und dem Zuhören im face-to-face, der schriftlichen Aufzeichnung und Verarbeitung und der sekundären Medialisierung Rechnung. Wir gehen bei unserem Thema »Folterbilder und -narrationen« davon aus, dass Folterakte in verschiedenen Varianten erzählt und dargestellt werden, die als Varianten des Ursprungsdramas zirkulieren und eine Gesamterzählung des Falles ergeben. Zwischen den Narrativen ergeben sich Differenzen je nach Zeitpunkt und Adressat. Die Folter wird als Szene oder Akt über einen Zeitraum t1- tn durchgeführt. Anwesend sind das Folteropfer, der Täter, direkte Zeuginnen bzw. Personal der Einrichtung. Sie erfahren den Folterakt direkt oder indirekt vor ihrem Auge und/ oder Ohr, sie deuten ihn nach Szenarien ihrer eigenen Sozialisation, respektive Funktion und Imagination als solchen. Die nächste Ebene betrifft die Ebene der primären Repräsentation, der Erinnerung an den Folterakt, somit die Ebene des Erzählens oder Nicht-Erzählens, die erste Übersetzung der Fakten in eine Narration durch Täter und Opfer. Folteropfer wie auch Täter zeigen die Folgen der Folter auf unterschiedliche Weise, sei es in körperlichen und seelischen Symptomen – wobei es sich bei den Opfern um eine extreme Bandbreite von offensichtlichen Verstümmelungen und Wunden bis zum kompletten Rückzug in die Depression und das Schweigen handeln kann – und/oder in der (meist fragmentierten) Narration. Als dritte Ebene erfolgt die Ebene des Festhaltens, des Dokumentierens, des Speicherns. Dabei handelt es sich um die Speicherung der Narrationen und Repräsentationen – falls diese überhaupt erfolgen – der durch die Traumatisierung transformierten Erzählungen des Opfers (oder Täters), die wiederum in ein bestimmtes Speicher-System aufgenommen werden. Speicher-System deshalb, weil ich hier nicht nur die mündlichen und schriftlichen Ausführungen der Betroffenen dazu zähle, sondern auch den Behälter (oder Container), den der Zuhörer in seinem ganz bestimmten Kontext und in einer bestimmten Rolle für die Dokumentation und Zeugenschaft anbietet (etwa als Familienangehöriger, als Arzt, als Therapeutin, das Gesundheitssystem, als Rechtsanwalt, Staat …). 1 »Wiederkehr der Folter? Eine interdisziplinäre Studie über eine extreme Form von Gewalt, ihre mediale Darstellung und ihre Ächtung«, gefördert von der VolkswagenStiftung im Rahmen des Förderprogramms »Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften«.

Repräsentationen, Definitionen und Narrationen

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Die vermeintlich objektivierende Röntgenaufnahme des lädierten Körpers oder das Bild des Gehirns aus der Magnetresonanztomographie (fMRT) und anderer bildgebender Verfahren, die Krankenakte des Arztes oder das Verhör-Protokoll der Richterin stellen einen Rahmen für die Narration zur Verfügung. Krankengeschichten, Gutachten, Asylanträge, Akten aller Art folgen einer zu einer bestimmten Zeit und für einen bestimmten Zweck festgelegten Moral und Norm. Eine weitere Ebene erreichen wir in unserer Narrationsspirale, die sich auf das Ursprungsdrama aufsetzt: Nach der Sammlung der Fakten und Narrationen folgen die Synthesen der Wissenschaften, sei es in der Diagnostizierung nach einem bestimmten Diagnoseschema und Wissenschaftsverständnis, ganz allgemein in der Theoriebildung oder in den politischen Instanzen etwa bei Gerichtsverhandlungen, wo es um Entschädigung oder die Bewilligung von Asyl geht. Als sekundäre Repräsentationen des Folterakts werden die literarischen und filmischen Verarbeitungen in Form von Aufzeichnungen und Visualisierungen verstanden, etwa im Roman, in der Ausstellung, im Film. In der dargelegten Narrationskette sind sowohl die zeitliche Dynamik als auch die sachlichen und fachlichen Filter wichtig. Ein Folterakt wird in den Sprachen der Medizin, des Rechts und des Films ganz unterschiedlich repräsentiert bzw. stilisiert, stets findet ein Transfer der Bilder und Narrationen statt. Und man könnte das bekannte Diktum Niklas Luhmanns dahingehend verändern, dass wir sagen: Fast alles, was wir über die Folter wissen, wissen wir über die Medien.

2.

Definitionen und Diagnosen

In ihrem umfassenden Buch The Mental Consequences of Torture haben Ellen Gerrity und ihre Kollegen festgestellt: »Torture is one of the most extreme forms of human violence, and the consequences of torture represent a critically understudied area of scientific research« (2001, S. 5). Warum ist das so und auf welchen Ebenen begegnen wir dem Thema im medizinischen Kontext? Hauptsächlich wird die Folter im Fach Psychotraumatologie, das sich als relativ junger wissenschaftlicher Forschungszweig erst in den letzten 30 Jahren etabliert hat, behandelt. Folter ist der grausame und degradierende Missbrauch eines menschlichen Individuums, oftmals in Gefangenschaft, mit dem Potential für schwerwiegendes lebenslanges Leiden für das Opfer und sein familiäres Umfeld, aber auch für ganze Populationen. Folter, wie sie die World Medical Association (Weltärztebund) von 1975 definierte, ist »die vorsätzliche, systematische oder mutwillige Zufügung von physischen oder psychischen Leiden durch eine oder mehrere

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Elke Mühlleitner

Personen, die entweder eigenmächtig oder auf Anordnung handeln, um eine andere Person zur Preisgabe von Informationen, zur Ablegung eines Geständnisses oder zu irgend etwas anderem zu zwingen«.2 Diese Definition wird von der medical community weitestgehend akzeptiert. Im Gegensatz zur Definition der UN, die das Hauptaugenmerk auf politische und juristische Verantwortung der Regierungen legt, ist die Definition der Mediziner/innen weiter gefasst: Der Täter wird nicht notwendigerweise einem politischen System unterstellt bzw. handelt er nicht explizit mit staatlicher Zustimmung. Es ist häufig betont worden, dass nur das Lebewesen Mensch fähig ist, zu foltern. Und für die Humanmedizin, wo Menschen Menschen behandeln, ist dies kein unwesentlicher Fakt für das Verständnis der Symptome und insbesondere für die Therapie, die das Vertrauen zur Grundlage der Behandlung zählt. Woher kommt diese Fähigkeit zu foltern? Wir alle können Folterbilder abrufen, ohne selbst bei einem Folterakt anwesend gewesen zu sein. Der ans Kreuz geschlagene Christus ist nahezu allen Menschen – auch nicht christlicher Herkunft – von Kindheit an vertraut. Wir wissen – bewusst oder unbewusst – genau, wie Folter funktioniert. Irgendwann im Laufe der menschlichen Entwicklung haben wir erfahren, dass wir anderen Lebewesen Schmerzen zufügen können, weil wir es einerseits selbst getan und erlebt haben oder andererseits beobachten konnten oder mussten. Es ist betont worden, wie wichtig es ist, seine eigene Traumageschichte zu kennen, die im Umgang mit Traumatisierten zum Tragen kommt, die aber auch im Vorfeld erklärt, warum wir als Helfer/in oder Täter/in mit dem Thema zu tun haben. Folter wird in der Psychotraumatologie als eine extreme Form interpersoneller Gewalt, als so genanntes »man-made-disaster« beschrieben. Die Folgen dieser Extremtraumatisierung zeigen sich neben den körperlichen Symptomen auf neurobiologischer und endokrinologischer Ebene, auf kognitiver und psychologischer Ebene. Als Bewältigungsmechanismen bleiben den Opfern während des Folteraktes lediglich Mechanismen, die die Erzählbarkeit nachhaltig stören: Derealisierung, Depersonalisierung und dissoziative Reaktionen. Gedächtnisleistungen und die Erinnerungsfähigkeit werden durch das extreme Trauma nachhaltig gestört, so unterliegt die Tat selbst auf Grund der genannten Bewältigungsversuche oftmals einer Amnesie. Die Erinnerung an das Trauma ist zwar gespeichert, doch sie kann zunächst nicht in Worte gefasst werden. Schwer Traumatisierte können erst allmählich, und manchmal erst nach

2 Deklaration von Tokio. Richtlinien für Ärzte bei Folterungen, Grausamkeiten und anderen unmenschlichen oder die Menschenwürde verletzenden Handlungen oder Misshandlungen in Verbindung mit Haft und Gefangenschaft. Oktober 1975. In: Weltärztebund (Hrsg.): Handbuch der Deklarationen, Erklärungen und Entschließungen. 2008, S. 158 f. Vgl. www. bundesaerztekammer.de/downloads/handbuchwma.pdf, zuletzt eingesehen am 1.8.12.

Repräsentationen, Definitionen und Narrationen

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Jahren, eine verbale Erzählung aus ihren sensorisch-affektiven Erinnerungsbruchstücken konstruieren. Medizinerinnen und Psychotherapeuten schließen von den Narrationen der Kranken und ihren eigenen, in einem bestimmten wissenschaftlichen Kontext erworbenen Beobachtungsfähigkeiten, vermittelt durch das vorgegebene Gesundheits- und Klassifizierungssystem, auf eine bestimmte Diagnose, die sich im Laufe der Geschichte – gerade in Bezug auf das Verständnis von Trauma – verändert hat und weiterhin verändert. Erst 1980 ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) in das internationale Klassifizierungssystem DSM III aufgenommen worden. Zwar sind Psychiater und Psychotherapeutinnen speziell während des Ersten und gerade nach dem Zweiten Weltkrieg mit traumatisierten Patienten konfrontiert gewesen, doch erst nach dem Vietnam-Krieg setzte sich die zunehmende Forschungsaktivität im Bereich der psychischen Traumen durch. In der deutschsprachigen Fachliteratur wird die PTBS zeitverzögert erst ab Mitte der 1990er Jahre umfassend beschrieben (vgl. Kloocke et al., 2005). Die Übersetzung des Leidens in die wissenschaftlichen Schemen und Klassifizierungssysteme, die Transformation in eine Dysfunktion, etwa in der Kategorie »Persönlichkeitswandel nach Extrembelastung«, »Erlebnisreaktive Entwicklung« oder »DESNOS – Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified« hat häufig mit der Wirklichkeit und den Bedürfnissen der Patienten und Patientinnen nicht viel zu tun. Dennoch kann die Diagnose im Hinblick auf Anerkennung, Behandlung und Entschädigung von Nutzen sein. Doch immer haben die Diagnosen eine gesellschaftlich-politische Dimension vernachlässigt. Nicht der/die Gefolterte ist gestört, sondern das System, das die Folter zulässt. Im Zusammenhang mit der Folter sind die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und komplexe PTBS häufig gestellte Diagnosen. Als wesentliche Merkmale der PTBS gelten einerseits eindringende Erinnerungen von Traumaanteilen in verschiedensten Formen, z. B. als Albträume und flashbacks. Außerdem vermeiden die Kranken (unbewußt) bestimmte Personen, Orte und Situationen, die sie an das Trauma erinnern könnten und es findet sich eine massive Anhebung des vegetativen Erregungsniveaus, das sich vor allem in Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Unruhe und dergleichen äußert. Neben der PTBS sind jedoch eine Reihe weiterer Diagnosen für extrem Traumatisierte relevant: Schmerzsyndrome, Angst- und Panikstörungen, Depressionen und Persönlichkeitsstörungen zählen zu den häufig diagnostizierten Folgeerkrankungen.

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3.

Elke Mühlleitner

Narrationen

»Schon die Form der Darstellung selbst wird als Moment des Heilungsprozesses verstanden, insofern die Darstellung Zeugnis vom Leiden ablegt« (2009, S. 103), so der Philosoph und Psychoanalytiker Daniel Strassberg. Menschen haben die Möglichkeit zu entscheiden, sie können sich fragen, inwieweit sie sich durch die »Tätigkeit als Wissenschaftler auf die Seite der Opfer oder auf die Seite der Täter« schlagen und: »ob das Opfer eines traumatischen Ereignisses durch die wissenschaftliche Darstellung nicht noch einmal geschädigt wird« (ebd.). Freuds Krankengeschichten lasen manche Zeitgenossen »wie Novellen«, heute finden wir oft nur kurze schematische Zusammenfassungen in den Lehrbüchern der Psychologen und Mediziner und die Geschichte des Kranken schrumpft auf die Darstellung von Symptomen. Ein anderer Themenkomplex, im Rahmen dessen die Folter in der Medizin und Psychologie repräsentiert ist, betrifft die Tatsache, dass Ärztinnen und Psychologen auch effektive Foltermethoden mit entwickelt haben (vgl. Rejali, 2007). Bekannt geworden ist nicht nur das Experiment zur sensorischen Deprivation, wonach sich die Identität des Probanden nach etwa 48 Stunden aufzulösen beginnt, sondern auch zahlreiche Versuche mit Psychopharmaka. Ärzte und Therapeutinnen haben dabei mitgewirkt, das Opfer für den Täter am Leben zu erhalten, und sie haben traumatisierte Soldaten nach Anwendung drastischer Therapiemethoden an die Front zurück geschickt. Ärzte handeln damit immer wieder flagrant gegen den hippokratischen Eid. Robert Jay Lifton und andere haben nicht nur auf die Nazi-Ärzte, sondern auch auf die Rolle der amerikanischen Ärzte in Guantanamo, Abu Ghraib und anderen US-Gefängnissen von heute hingewiesen. Hier arbeiten Mediziner/innen an der militärischen Befehlsstruktur mit, die Folter zulässt, fördert oder sogar praktiziert, auch wenn die Folter heute oft unter dem verschleiernden Mantel der »fortgeschrittenen Vernehmungstechnik« (enhanced interrogation technique) stattfindet. Das Fehlverhalten von Ärzten und Psychologinnen wird wenig thematisiert, Krieg und Folter sind keine Themen in der medizinischen und psychologischen Ausbildung. Lange Zeit wurden psychische Traumen im Konflikt mit den Interessen eines Gemeinwohls gesehen. Immer spielten ökonomische Überlegungen, d. h. die Frage der Kausalität, der Verantwortlichkeit und der Entschädigungspflicht eine zentrale Rolle in der Diskussion um psychische Traumatisierung. Immer wieder zeigt sich hierbei, dass sich die medizinische Fachdiskussion weg von den individuellen Patienten hin zu einer Perspektive auf die kollektive nationale Gesundheit bzw. politische oder volkswirtschaftliche Belange bewegte. Abschließend möchte ich noch einmal auf die Repräsentationspraktiken und die uns interessierenden Fragen zurückkommen:

Repräsentationen, Definitionen und Narrationen

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»Die Rede vom Trauma nimmt in der Regel Bezug auf eine Form der Zensur, auf ein normatives Hindernis, welches die Repräsentation eines belastenden Ereignisses sowie die adäquate Reaktion auf diese Repräsentation verhindert« (2009, S. 118) schreibt Barbara Zielke über das Trauma als Repräsentationsproblem. Wozu brauchen wir überhaupt eine Erzählung über die Folter und wie entsteht das Narrativ zwischen Fiktion und Wirklichkeit? Welche Ansprüche der Therapeutinnen, Gutachterinnen, Asylbehörden stehen den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Folteropfer, den Patienten gegenüber? Die fragmentierte Erzählung eines Traumatisierten stößt auf die Trauma-Geschichte der Rezipientin, die möglicherweise einer Co-Traumatisierung ausgesetzt ist. Wer erzählt, wer übersetzt und vermittelt, wer fragt, wer hört zu? Wo wird ein Interview geführt, und wie tritt der oder die Fragende der oder dem Befragten gegenüber? Und können wir überhaupt nachvollziehen, was genau zwischen dem Akt des Sprechens und dem Akt des Aufzeichnens passiert? Jede Erzählung konstruiert die Wirklichkeit neu, das Narrativ verändert sich in der Konfrontation, Befragung und Begutachtung und im Laufe der therapeutischen Begegnungen. Die Folterrealität steht immer einer fiktiven Verarbeitung gegenüber. Wir können versuchen, einem Gefolterten zuzuhören, seine Geschichte aufzeichnen, Zeuginnen werden, ihm Hilfe anbieten und die Folter-Folgen behandeln, Spannungen abbauen, das Leiden lindern, Lebenswillen stärken. Aber wir werden nie herausfinden können, welche Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod die Gefolterte wirklich gemacht hat – und ob es tatsächlich so war, wie er/sie es schildert. Und doch beginnen wir uns – auch auf Grund der genaueren Forschungsergebnisse im Bereich der Psychotraumatologie – von den Praktiken zu entfernen, die vor wenigen Jahren noch üblich waren, als Ärztinnen und Richter traumatisierte Menschen als Simulanten und Phantasten abgetan, der Unwahrheit bezichtigt haben, weil ihre Erzählungen weder Kohärenz noch Sinn ergeben haben mögen.

Literatur Gerrity, Ellen; Keane, Terence M. und Farris Tuma: Introduction. In: Diess. (Hrsgg.): The Mental Health Consequences of Torture. New York/Boston/Dordrecht/London/ Moscow 2001, S. 3 – 12. Kloocke, Ruth; Schmiedebach, Heinz-Peter und Stefan Priebe: Psychisches Trauma in deutschsprachigen Lehrbüchern der Nachkriegszeit – die psychiatrische »Lehrmeinung« zwischen 1945 und 2002. In: Psychiatrische Praxis, 32, 2005, S. 327 – 333. Lifton, Robert J.: Ärzte und Folter – das Beispiel USA. In: Furtmayr, Holger ; Kr‚sa, Kerstin und Andreas Frewer (Hrsgg.): Folter und ärztliche Verantwortung. Göttingen 2009, S. 139 – 142. Rejali, Darius: Torture and Democracy. Princeton 2007.

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Elke Mühlleitner

Strassberg, Daniel: Moral oder Objektivität? Oder : Wie richtig über das Trauma sprechen? In: Karger, Andr¦ (Hrsg.): Trauma und Wissenschaft. Psychoanalytische Blätter, 29, 2009, S. 92 – 116. Weltärztebund (Hrsg.): Handbuch der Deklarationen, Erklärungen und Entschließungen. Köln 2008. www.bundesaerztekammer.de/downloads/handbuchwma.pdf (01. 08. 2012). Zielke, Barbara: Bahnung oder Bedeutung? Überlegungen zum Einzug der Neurobiologie in die Psychotraumatologie. In: Karger, Andr¦ (Hrsg.): Trauma und Wissenschaft. Psychoanalytische Blätter, 29, 2009, S. 117 – 138.

Dori Laub

Das Erzählbarwerden traumatischer Erfahrungen im Prozess des Zeugnisablegens: Strategien der Bewältigung von »Krisen der Zeugenschaft«

Wenn ich Zeugnissen traumatischer Erfahrungen zuhöre, geht es mir nicht darum, historische Tatsachen zu erhärten. Es geht mir vielmehr darum, der menschlichen Erfahrung zu erlauben sich herauszubilden, sich zu entwickeln und Ausdruck anzunehmen. Es ist gerade die Verpflichtung des Historikers zur Sorgfalt im Umgang mit historischen Fakten, die mir die Freiheit gibt, diesen persönlichen Erfahrungen nachzugehen, Erfahrungen, welche sogar von den bestehenden historischen Fakten abweichen können. Wenn dies der Fall ist, muss ich der Frage nachgehen, warum es eine solche Abweichung gibt. Als Psychoanalytiker glaube ich, dass das, was das gegenwärtige Leben beeinflusst und die Zukunft formt, nicht nur die Realität historischer traumatischer Ereignisse ist, sondern auch die Art und Weise, in der diese Realitäten erinnert und übermittelt werden. Im Zentrum meiner Überlegungen steht also auch dann die Integrität des Gedächtnisses, wenn diese Erinnerungen dissoziiert, verdrängt oder niemals vollständig zu einer bewussten Vergegenwärtigung gelangt sind. Um den Strängen solcher Erinnerungen zu folgen, müssen wir erst die traumatische Erinnerung selbst untersuchen.

1.

Die Natur der traumatischen Erfahrung

Philosophen, Psychoanalytiker, Psychiater, Neurowissenschaftler und Schriftsteller haben versucht, das Wesen der Erfahrung massiver psychischer Traumata zu beschreiben. Der Psychoanalytikerin Boulanger zufolge lässt »Trauma« die Grenze zwischen äußerer Welt und innerer Erfahrung »einstürzen«: »Wenn die äußere Welt ein direktes Spiegelbild unserer schlimmsten Gedanken, Gefühle, Phantasien und Albträume wird, ist Realitätsprüfung irrelevant geworden« (2005, S. 22). Kognitive Funktionen, wie das reflektierende Erfassen äußerer Ereignisse und die Beobachtung eigener Reaktionen auf sie, hören unter Bedingungen schwerwiegender Traumatisierung auf zu funktionieren. Tarantelli vergleicht psychische Traumata katastrophischen Ausmaßes mit

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»einer Explosion, die zerstört, was immer in ihrem Epizentrum ist. Es kann nicht wahrgenommen oder erfahren werden, weil es nichts mehr gibt, das wahrnehmen, erfahren oder denken leisten könnte. Eine andere Art und Weise, dies auszudrücken, ist, dass es eine vollkommene Abwesenheit, einen vollkommenen Bruch im Dasein gibt, einen Moment, in dem nichts existiert« (2003, S. 916).

Beide Autoren geben an, dass es die Abwesenheit mentaler Erfahrung ist, welche massive psychische Traumata auszeichnet, denn die Psyche ist weder kognitiv noch emotional in der Lage, das traumatische Ereignis wahrzunehmen. Schon 1959 schreibt Bion im Zusammenhang seiner Reflexion über traumatische Erfahrungen über Angriffe auf Kopplungen, auf die Verbindungen zwischen Gedanken, welche Bedeutung ermöglichen (vgl. Bion, 1959/1995)1. Terrence Des Pres schreibt über den Konkretismus des Lebens im Extremzustand: »Im Extremen werden die Geisteszustände objektiv, Metaphern nehmen Wirklichkeit an und das Wort wird Fleisch« (1977, S. 205/2008, S. 197). Cathy Caruth schreibt mit Bezug auf Freuds Jenseits des Lustprinzips, dass es in der traumatischen Erfahrung weniger um die körperliche Bedrohung selbst, als darum gehe, dass »die buchstäbliche Bedrohung des körperlichen Daseins als solche vom Bewusstsein einen Moment zu spät wahrgenommen wird« (1996, S. 62). Es ist im Wesentlichen eine verpasste Erfahrung, »und es ist dieser Mangel der direkten Erfahrung, der paradoxerweise die Basis der Wiederholung des Albtraums wird« (ebd.). Jean Am¦ry, selbst ein Überlebender der Gestapo Folterkammern und von Ausschwitz, schreibt: »Aber nur in der Folter wird die Transformation einer Person in Fleisch vollkommen, die gefolterte Person ist nur ein Körper und nichts darüber hinaus […] der Schmerz war der, der er war, darüber hinaus ist nichts zu sagen […] Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar, sie markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens« (1980, S. 33/2008, S. 63, Hervorhebung D.L.).

Alle diese Autorinnen und Autoren scheinen zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass das Selbst, sobald es der Einwirkung massiver psychischer Traumatisierung ausgesetzt wurde, nicht mehr länger als Interpret der Erfahrung und Schöpfer von Bedeutung funktionieren kann. Um Tarantelli zu zitieren: »Die unbegrenzte Emotion zerstört die Dualität von Innen und Außen, auf welche die Existenz des Ich gegründet ist. Dies bedeutet, dass das äußere Ereignis und das innere Ereignis simultan werden, synchron, oder die gleiche Sache, oder dass es nicht länger ein Außen gibt, von wo es kommt oder ein Innen, welches es verarbeiten kann« (2003, S. 919). 1 Wenn vorhanden, wird die deutsche Übersetzung als zweite in der Klammer zitiert, ansonsten bezieht sich die Zitation auf die vom Autor angegebene englische Fassung.

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Ein zweiter Ansatz, welcher eine deutliche Differenz in der kognitiven Bildung und Speicherung traumatischer Erinnerungen postuliert, wird von Boulanger erläutert: »Neuere neuropsychologische Forschung, Metastudien von van der Kolk, McFarlane, and Weisaeth (1996) und van der Kolk (2002) zufolge, weist nach, dass das Gehirn unter extremem Stress versagt, Gedanken effizient zu formulieren. In traumatischen Situationen unterbricht die erhöhte Ausschüttung von Noradrenalin die Funktion des Hippocampus, welcher für die normale Speicherung des Gedächtnisses notwendig ist. Statt durch die Mediation des Hippocampus und des präfrontalen Cortex integriert zu werden, werden traumatische Erinnerungen buchstäblich kurzgeschlossen und in der Amygdala als somatische Sinneseindrücke und visuelle Bilder gespeichert. Das sprachliche Gedächtnis, welches auf den höheren kortikalen Funktionen beruht, wird häufig während des Traumas inaktiviert; daher scheinen sensorische, affektive und motorische Erinnerungen oft keine Bedeutung zu haben« (2005, S. 22).

Die beiden Ansätze, die ich bislang beschrieben habe, um Erfahrung und Erinnerung massiver psychischer Traumata zu formulieren, sind der traditionell psychoanalytische, in welchem das Brechen des Reizschutzes durch das äußere traumatische Ereignis zur Desintegration des Selbst und des wahrnehmenden psychischen Apparats führt, und der neurophysiologische, welcher postuliert, dass das Noradrenalin, welches während der Erfahrung des traumatischen Ereignisses ausgeschüttet wird, auf die Hippocampusfunktionen einwirkt und so die Integration der Erfahrung in symbolische Gedanken, die assoziiert, assimiliert, integriert und erinnert werden können, beeinträchtigt. Ich würde nun gerne eine dritte, ergänzende Formulierung vorschlagen, die aus dem hervorgegangen ist, was in der Psychoanalyse Objektbeziehungstheorie genannt wird. Das Holocaust-Trauma – und gleichermaßen das Genozid-Trauma – lässt sich nicht begreifen, weil in seinem innersten Kern das völlige Versagen zwischenmenschlicher Empathie liegt. Der Henker erhört die Appelle des Opfers um sein Leben nicht. Stattdessen fährt er unbarmherzig mit der Exekution fort. Empathie, die Bereitschaft zu antworten, hörte in den Lagern auf zu existieren. Ein antwortendes »Du« auf die grundlegenden Bedürfnisse des anderen gab es nicht mehr. Der Glaube an die Möglichkeit von Kommunikation starb; es gab keine innerpsychische Matrix von zwei Menschen, eines Selbst und eines antwortenden Gegenüber, mehr. Die Opfer fühlten, dass da nicht länger jemand war ; »dass sie auf niemand zählen könnten« (Wiesel 1968/70, S. 229/ 1989, S. 176). Das natürliche Resultat dieser Verlassenheit ist eine akute Vereinsamung, die man in seinem Innern spürt, oder, wie es so treffend von Jean Am¦ry gefasst wurde: »Das Erlebnis der Verfolgung war im letzten Grund das einer äußersten Einsamkeit« (2008, S. 114/1980, S. 70, Hervorhebung des Autors D. L.). Wie Primo Levi schrieb: »Denn […] im Lager […] ist jeder verzweifelt und grausam allein« (1958/1978, S. 80/1979, S. 92). Diese Verzweiflung über die

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Unmöglichkeit, mit anderen kommunizieren zu können, hat die Fähigkeit der Opfer vermindert, in Beziehung und Einklang mit sich selbst zu sein, fähig zu sein, die eigenen Erfahrungen wahrzunehmen oder zu reflektieren. Geht man vom tiefgreifenden Zustand innerer Vereinsamung aus, welchen der Überlebende extremer Traumatisierung erleiden musste, so ist es notwendig, die Beziehung zu erforschen, die zwischen dem traumatischen Zustand der Einsamkeit und Objektlosigkeit und dem Fehlen mitteilbarer Gedanken besteht. Damit die traumatische Empfindung als Gedanke erfahren werden kann, muss diese den Prozess der Symbolisierung durchlaufen. Melanie Klein zufolge ist es »nicht nur [dass] Symbolik zur Grundlage von Fantasie und Sublimierung [wird], sondern darüber hinaus ist sie die Basis der Beziehung des Subjekts zur äußeren Welt und zur Realität allgemein« (1975 (1930), S. 221/1995, S. 353). Daher muss der Prozess der Symbolisierung vorhanden sein, um die Realität wahrzunehmen, zu erkennen und in ihr zu partizipieren. »Symbolbildung bestimmt« Hanna Segal zufolge »die Fähigkeit zu kommunizieren, da jede Kommunikation durch die Bedeutungen von Symbolen gebildet wird« (1991, S. 395/ 1995, S. 213). Sie fährt fort: »Symbole werden nicht nur für die Kommunikation mit der äußeren Welt benötigt, sondern auch für die innere Kommunikation«, das heißt, mit einem selbst. »Ich glaube, die Fähigkeit mit sich selbst durch die Verwendung von Symbolen zu kommunizieren, ist die Grundlage verbalen Denkens, also der Fähigkeit, mit sich selbst durch die Bedeutung von Worten zu kommunizieren« (ebd., S. 396/S. 214). Wenn der einfühlende andere in der äußeren Welt der Todeslager gänzlich versagt, erlischt auch das innere, einfühlende »Du«, welches die Grundlage des inneren Dialogs bildet. In diesem Sinne fand für Überlebende des Holocaust keine Symbolisierung statt und folglich war auch kein inneres Wissen um die traumatischen Erfahrungen möglich. Die beiden aufeinander folgenden Konsequenzen, erstens die Zerstörung des inneren Objekts des »anderen«, zweitens der Zusammenbruch des Symbolisierungsprozesses, führt zu einer Abwesenheit bewusster Erfahrung und auch zur Abwesenheit verdrängter Erinnerung. Es ist, als ob Erinnerung in ihrem umfassenden Sinne nicht mehr vorhanden wäre, ein Zustand, welcher sehr gut zu van der Kolks Beschreibung traumatischer Erinnerung passt, als die Rückkehr von »emotionalen und sensorischen Zuständen, in denen nur wenig verbale Repräsentationsfähigkeit besteht« (1996, S. 296/2000, S. 239). Die oben beschriebenen Prozesse, die den Zusammenbruch des Prozesses mentaler Verarbeitung und den Wegfall des Dialogs mit dem inneren »Du« (und, letztendlich, der Symbolisierung und des Denkens) bedingen, führen zu einer gewissen Abwesenheit, oder besser, Auslöschung des Gedächtnisses. Primo Levi hat diesen Zustand in seiner Schilderung des Zustands des Muselmannes in den Todeslagern treffend beschrieben. Die Abwesenheit jeder »›Spur eines Gedankens‹ (Levi, 96, 1979) […] deutete auf eine Zerstörung jeglicher geistiger Akti-

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vität hin, welche einer vollständigen Individualität, Subjektivität oder Person eigen wäre« (Levi zitiert nach Tarantelli, 2005, S. 917). Daher wurde der Bericht über diesen Zustand aus seinem Inneren heraus unmöglich. Vielleicht aufgrund ihrer einzigartigen Qualität, ihres Eigenlebens, ist die Macht, die traumatische Erinnerungen das ganze Leben über ausüben, unermesslich. Van der Kolk erklärt: »(t)errifying events may be remembered with extreme vividness or may totally resist integration […] trauma can lead to extremes of retention and forgetting« (1996, S. 282).2 In jedem Fall bleiben diese Erinnerungen intensiv, fast eingefroren, unwandelbar und vom Lauf der Zeit unverändert. Sie entziehen sich einer Anpassung oder evolutionären Veränderung durch Integration in das assoziative Netzwerk. Sie bleiben abgesondert, bewahren ihre Sogkraft in ihrer widersprüchlichen, detaillierten und andauernden Deutlichkeit ebenso wie in der gleichzeitig dichten, gar absorbierenden Undurchdringlichkeit, in die sie gehüllt sind. Sie haben eine andere Qualität als normale Erinnerungen, weil sie viele Jahre nach dem originären traumatischen Ereignis anhaltend Einfluss auf unbewusste kognitive Prozesse haben können. Ein extremer Fall der Folgen traumatischer Erinnerungen kann bei Überlebenden gefunden werden, die als an einer »traumatischen Psychose« leidend beschrieben werden.

2.

Der verstummte Zeuge des Traumas: Chronisch hospitalisierte Holocaust-Überlebende in psychiatrischen Institutionen in Israel

Die Anzahl von Holocaust-Überlebenden der auf Dauer hospitalisierten Psychiatriepatienten und -patientinnen in Israel wurde in wiederholten Befragungen in den 1990er Jahren als unverhältnismäßig hoch herausgestellt. Die Dauer ihrer Aufenthalte war, im Vergleich zu anderen Patienten der Psychiatrie, länger ; sie hatten Jahrzehnte in den Kliniken verbracht und durchliefen viele Behandlungen ohne Wirkung. Hauptsächlich wurden sie als schizophren diagnostiziert und nur wenige von ihnen hatten in ihren Krankenakten Verweise auf ihre Holocaust Erfahrungen. 26 von ihnen erklärten sich bereit, in einer von Yale finanzierten Studie ein Zeugnis abzulegen, welches auf Video aufgezeichnet wurde. Diese Zeugenaussagen dauerten zwischen einer und zwei Stunden ohne Unterbrechung. Die »Abwesenheit« oder Auslöschung ihrer traumatischen Erfahrung wird deutlich in Aussagen dieser hospitalisierten Überlebenden, in 2 »Furchterregende Erlebnisse können äußerst intensiv erinnert werden oder sich der Integration vollkommen entziehen. In vielen Fällen zeigen traumatisierte Individuen eine Kombination aus beidem« (van der Kolk, 2000, S. 224).

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denen beispielsweise behauptet wird, dass sie den Holocaust gar nicht erlebt hätten, dass sie absolut keine Erinnerung daran hätten, und dass sie sich tausende Meilen weit weg vor den Schauplätzen der Greuel in Sicherheit gebracht hätten (während ihre Berichte über diese Greueltaten darauf hindeuteten, dass sie sie als Augenzeuge erlebt haben). Beispiele des Versuchs diese Erfahrung zu normalisieren oder unvollständige Versuche, die Erfahrung zu integrieren, zeigten sich wie folgt: als Unklarheit in der Art und Weise, wie die Erfahrungen verbunden werden, (sich unsicher sein, wie es wirklich passierte), in Aussagen, dass die Erfahrungen, die sie durchlebt haben (morgens im nächsten Etagenbett neben dem toten Vater aufwachen), ganz normal waren, weil »Menschen im Krieg sterben«, oder sie beharren darauf, totale emotionale Ausgeglichenheit oder Balance erreicht zu haben, nach allem, was sie erlebt hätten. Sie erzählten in Fragmenten, die ihre Interviewer zusammensetzten, um sie zu einem Ganzen zu formen. Ihre Erzählungen waren wie erstarrt, mit wenig psychischer Regung oder Verbindung zu dem, was sie sagten. Es gab keine Bewegung, keinen Fluss in ihnen, und fast gar keine Beteiligung. Insbesondere vermieden sie das Pronomen »Ich«. Selbst wenn sie extrem engagiert waren und sich entschlossen hatten, Zeugnis abzulegen, war es deutlich, dass sie Angst vor ihren Erinnerungen hatten und andauernd damit kämpften, diese einzugrenzen. Bei den hospitalisierten Überlebenden ist das Zeugnisablegen ein Kampf, nicht nur, weil er dem schierem Horror der wiederkehrenden Erinnerungen geschuldet ist, sondern auch, weil der oder die Überlebende die Erinnerungen nicht als ihm oder ihr zugehörig annehmen konnte. Der Interviewer wird mit hineingezogen und muss von Anfang an teilnehmen. Er muss aktiv werden und den Weg vorzeigen, indem er sich selbst als authentisches, neues Objekt anbietet, welches bereit ist sowohl absolut präsent als auch vollständig beteiligt zu sein in der Aufgabe des Erfahrens. Der Interviewer muss also schon vor dem Patienten in der traumatischen Erfahrung sein, um ihn dort geduldig zu erwarten. Während des Prozesses des Zeugnisablegens schien es, wenn die Überlebenden ihren Blick nach innen auf bestimmte Erfahrungen richteten, als würden sie sich entsetzt davon abwenden, in einem plötzlichem Rückzug vor dem, was sie gesehen hatten. Sie würden sich dann erneut umwenden, um sie wieder zu betrachten, aber dieses Mal würden sie scheinbar nichts sehen. Eine unpersönliche generelle Aussage würde folgen. Sogar metaphorisch klingende Aussagen, wie »wir waren zu abnormal, um Gefühle zu haben« kehrten die seelische Lähmung nicht um und führten nicht in tiefere Schichten von Assoziationen und Reflektionen. Sie blieben hohle, stereotype Äußerungen, Worte, die von jeder tieferen emotionalen oder kognitiven Schicht von Bedeutung abgeschnitten waren und die keine Verbindung zu narrativer Einbindung boten. Trotz des Mangels an verbalem Denken waren Überlebende in der Lage, intensive, über-

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wältigende Affekte, Schrecken, Schmerz und extreme Trauer auszudrücken. In diesen Phasen musste man dem unmittelbaren Schrecken und der Aufregung des Überlebenden mit Beschwichtigung begegnen. Manchmal musste eine Frage viele Male und in verschiedenen Formen gestellt werden, um eine bis dahin »vergessene« Antwort auftauchen zu lassen. Die Art, in welcher sich Zeugnisse psychotischer Überlebender von solchen, die nicht hospitalisiert sind, unterscheiden, kann weitestgehend von der Erscheinungsform des Zeugnisses selbst her erfasst werden. Zeugnisse von nichtpsychotischen, »normalen« Überlebenden beginnen, wenn angemessene Umstände des Zuhörens geschaffen werden, ein Eigenleben zu entwickeln. Die Überlebende beginnt ihre Erfahrungen zu erinnern und Erinnerungen, zugleich kognitiv und affektiv, nehmen exponentiell zu. Sie kennt nicht das ganze Ausmaß dessen, was sie über das Trauma weiß. Es ist nur im Prozess des Zeugnisablegens, dass sich dieses Wissen herausbildet und ausgesprochen wird. Es fühlt sich an, als ob es einige unbestimmte Überbleibsel oder Reste gegeben hätte, die erst vor unseren Augen und viele Jahrzehnte später aufgekeimt sind. Die Möglichkeit zur emotionalen Heilung sowie die emotionale Kraft, die im Prozess des Zeugnisablegens gewonnen wird, sind bei dem Anteil der nicht an einer Psychose Leidenden eindeutig zu erkennen. Für die chronisch hospitalisierten Patientinnen und Patienten existiert jedoch eine unüberbrückbare Kluft in ihrer Fähigkeit zu narrativieren und jedwede traumatische Erfahrung symbolisch zu bearbeiten. So wird Primo Levis oben erwähnte Beschreibung der Muselmänner zu einem guten Modell, um die chronisch hospitalisierten (psychotischen) Patientinnen und Patienten in Israel zu betrachten; auch sie wurden in einem bestimmten Sinne Muselmänner, von ihrer Realität und ihren Sinneswahrnehmungen völlig abgeschnitten. Sie sind zu lebenden Leichen geworden, haben den extremsten Punkt menschlicher Erfahrung erreicht. Nicht nur ihr inneres »Du« ist zerstört worden, auch ihr »Ich«: Das unmittelbare Selbst wurde gleichzeitig ausgelöscht. Bezogen auf die Überlebenden, die aufgrund psychiatrischer Krankheit chronisch hospitalisiert worden sind, findet der Prozess des Zeugnisablegens nicht statt; in den meisten Fällen wurde er nicht lebendig. Der Interviewprozess fühlt sich ähnlich der Arbeit an, etwas einem Stein zu entreißen. Die Erinnerungen bleiben größtenteils verborgen, fast willentlich, soweit die Bildung einer verbalen Narration betroffen ist. Es wäre jedoch nicht richtig, anzunehmen, dass diese Patienten, die als schizophren diagnostiziert worden sind, keine Motivation hätten. Überlebende sind mehr als willens zu sprechen, und die Interviews dauerten oft mehr als ein oder zwei Stunden ohne Unterbrechung an. Obwohl ich unverändert eine starke positive Übertragung gefühlt habe, ein entschlossenes Arbeitsbündnis, war das Ergebnis letztendlich, und frustrierenderweise,

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das Gleiche. Es war fast unmöglich, die zutiefst gestörten Schemata dieser Patienten und Patientinnen zu entfernen oder zu reintegrieren. Nichtsdestotrotz: Als vier Monate nach den Aufnahmen der Video-Zeugnisse erneut umfangreiche psychologische Tests gemacht wurden, gab es eine 30prozentige Reduktion der auf das Trauma bezogenen Symptome (vor allem im Rückzugsverhalten) im Vergleich zu ihren Werten vor dem Zeugnisablegen. Anscheinend stellte das Zeugnisablegen bis zu einem gewissen Grad ein antwortendes »Du« wieder her, sowohl innerlich, als auch gegenüber den Pflegerinnen und Pflegern. Dies erlaubte den Überlebenden, eine Ebene der Resonanz gegenüber ihren durcheinandergebrachten und überwältigenden Gefühlen zu finden, sie als annehmbarer zu erleben, auch wenn noch keine kohärente Narration gebildet werden konnte.

3.

Die Bildung mentaler Räume (psychic container): Die Überbringer von Nachrichten und das parallele Leben

Während die psychiatrisch hospitalisierten Überlebenden ein Extrem verbaler Stummheit darstellen, ging die überwiegende Mehrheit der Überlebenden auf andere Weise mit ihren Erinnerungen um. Bald nach dem Krieg verstanden sich die Überlebenden als Überbringer/innen von Nachrichten, die unmittelbar mitgeteilt werden mussten: Es gab eine Atmosphäre der Dringlichkeit und Eile, ein Bedürfnis nicht nur mitzuteilen, sondern auch zu warnen. Bereits im Frühling und Sommer 1946 führte der amerikanische Psychologe David Boder 80 Interviews mit Überlebenden in den Vertriebenenlagern verschiedener europäischer Länder durch, die er auf Tonband aufnahm. Hört man diesen Zeugnissen zu, ist man beeindruckt von der Unmittelbarkeit der Erfahrung und der Rohheit der Brutalitäten, die nacherzählt wurden, während man zur gleichen Zeit einen Grad der Unsicherheit in dem Überlebenden bemerkt, darüber, ob diese Ereignisse wirklich passiert sind. Sind die beiden Töchter einer Frau, die nach Auschwitz deportiert wurden, wirklich gestorben? Oder werden sie noch wiederkommen? Überlebende scheinen sich selbst als die Überbringer von Nachrichten wahrzunehmen, welche der Welt mitgeteilt werden müssen, um Hilfe herbeizurufen. Sie müssen die Dinge, die passiert sind, erzählen, weil, wie sie richtig erkannt hatten, diese Dinge anderen bisher nicht bekannt waren. Ich frage mich, inwieweit die Funktion als Überbringer von Nachrichten ihnen als Schutz vor den Folgen der Erfahrungen selbst diente. Die Welle dieser frühen Zeugnisse, meist geschriebene, und von der Anzahl her etwa 7.000 (manche glauben es waren mehr als 20.000), verebbte, als kein größeres Echo als Reaktion zurückkam. Die Überlebenden konzentrierten ihre Bemühungen darauf, ein

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neues Zuhause zu finden, neue Familien zu gründen und neue Karrieren zu erarbeiten. Ihre neuen Leben wurden zum Mittelpunkt, und ihre traumatischen Erfahrungen wurden zunehmend verlagert und auf einen Teil des Selbst beschränkt, der als jemand anderem zugehörig erlebt werden konnte. Diese Erinnerungen manifestierten sich direkt in wiederkehrenden Albträumen, und indirekt in schwer nachvollziehbaren Verhaltensweisen, etwa dann, wenn sie sich erschreckten und verängstigt handelten, wenn sie eine uniformierte Person sahen, Essen und andere Dinge horteten, überbeschützend gegenüber den eigenen Kindern waren – sie nicht ihre Eigenständigkeit entwickeln ließen. Als die Jahre vergingen, wurden die Holocaust-Erinnerungen zunehmend aus dem »neuen Leben« der Überlebenden verbannt und in einen separaten Teil des Selbst verlagert, wodurch sie die bereits erwähnten psychischen Spaltungen hervorriefen. Weite Teile der Überlebendenzeugnisse, wie die, die beim Eichmann Prozess gemacht wurden, oder die frühen Interviews im Fortunoff Video Archiv 1979 und in den frühen 1980er Jahren, enthalten diese Formen derealisierten und depersonalisierten Wiedererlebens von Erinnerungen. Sehr bemerkenswert ist der Fall von Leon S., der, in dem Moment wenn die Kamera anging, entrückt und wie ferngesteuert wirkte, mit sich selbst sprach und nicht wirklich mit dem Interviewer. Es war zu surreal für ihn, es wieder zu erleben. Er beschrieb das Grauen, das er aushalten musste, teilnahmslos, wie folgende Episode, die wörtlich aus seinem Zeugnis stammt, zeigt: »Wir kamen nachts an und wurden von einer Gruppe von Menschen mit gelben Gesichtern umringt, die um Brotreste bettelten, von Decken umhüllt – typische Muselmänner. Wie wir am nächsten Tag herausfanden, stellte die Arbeitsgruppe C Chemikalien her, hauptsächlich Pikrinsäure, um Granaten zu befüllen […] Wenn man mit dieser Chemikalie arbeitet, verkürzt sich die Lebensspanne auf nur drei Monate. Deine Haut wird gelb; du vertrocknest. Und das waren die ›Pikrinianer‹, die uns umringt haben […] der Anblick dieser Menschen, gelbe Gesichter, ausfallende Haare, eingefallen, verschrumpelt […]«.

Das Eintauchen in diese surreale Welt wurde von ihm mit der Darstellung des Films Apocalypse Now (Francis Ford Coppola, USA 1979) verglichen. Überlebende wie Leon S. hatten durchaus ein Bewusstsein dieser zweiten, inneren Welt, die in ihnen existierte, jedoch drückten sie auch ihr Unbehagen aus, Brücken zwischen diesen zwei Welten zu bauen. Sie wollten die Welten aus mindestens zwei Gründen trennen: Als Erstes wollten sie die »andere Welt, Planet Auschwitz« nicht entschärfen, nicht abmildern, durch den Kontakt zum normalen Leben. Sie wollten sie in ihrer Ganzheit erhalten, in »ihrer Authentizität«. Der zweite Grund war, dass sie wahrscheinlich Angst hatten, dass, wenn sie dieser Welt Einlass gewährten, ihr gegenwärtiges Leben unmöglich würde. Es

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würde dann unwiederbringlich kontaminiert durch diese vormals abgespaltenen Erinnerungen. Ich denke, dass, als sie alterten, sie zunehmend weniger in der Lage waren, die beiden Welten getrennt zu halten, und anfälliger waren für Erinnerungen und für das Wiedererleben traumatischer Erfahrungen. Ich habe mindestens einen Überlebenden behandelt, der buchstäblich an seinen Erinnerungen, von den deutschen Soldaten verfolgt worden zu sein, gestorben ist. Er hat halluziniert, war aufgewühlt und verweigerte die Nahrung bis seine Organe aufhörten zu funktionieren. Keine Medikation konnte sein Leiden reduzieren. Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses doppelte Leben kann man in dem Film Der Pfandleiher (The Pawnbroker Sidney Lumet, USA 1964) finden, in welchem Erinnerungen an die Vernichtungslager Seite an Seite mit dem normalen, alltäglichen Leben wiedererfahren werden. Der Protagonist, ein Auschwitz-Überlebender, ist nicht vollständig bereit, sein Leben zu leben. Er ist nicht fähig, aufzuwachen und seinen Schmerz wahrzunehmen, bis sein Puerto-Ricanischer Gehilfe, ein junger Mann, der ihn bewundert und liebt, sein Leben opfert, um ihn zu beschützen. Die Reinszenierungen der Vergangenheit, welche ich zuvor erwähnt habe, sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie vergangene Ereignisse anhaltend die Gegenwart beeinflussen und eine prägende Rolle sogar für zukünftige Generationen spielen. Das Buch History Beyond Trauma von FranÅoise Davoine und Jean-Max GaudiliÀre (2004) enthält viele Beispiele psychotischen Wiedererlebens der Vergangenheit von traumatischen Erfahrungen vergangener Generationen, Erfahrungen, zu denen der Patient und die Patientin keinen bewussten Zugang hat. Wenn diese vergangenen Erfahrungen einmal rekonstruiert werden, verschwindet die Psychose, die gegen jegliche psychotrope Medikation resistent war. Es ist der Prozess des Zeugnisablegens, der dazu führt, dass dieser abgespaltene Teil des Selbst schrittweise mehr ins normale Leben integriert werden kann.

4.

Das kreative Selbst des Überlebens

Einige der Überlebenden berichten von Fällen, in denen sie sich der Ereignisse, die sie durchgemacht haben, plötzlich vollkommen bewusst waren und an die Strategien denken konnten, mit denen sie die Gefahr, in der sie waren, bewältigen konnten. Das ist wie ein Erwachen des beobachtenden und reflektierenden »Ich«, das Handlungsmacht findet und Ressourcen reaktiviert, um den Kampf fortzusetzen. Helen K. wurde als Teenager zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter nach Majdanek deportiert. Ihr Bruder war gerade 13 Jahre alt und sie hielt ihn in

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dem überfüllten Viehwaggon in den Armen. Sie bemerkte plötzlich, wie ihr Bruder erstickte und starb. In diesem Moment realisierte sie, worum es ging: ihre eigene Vernichtung. Sie bezeugte: »Ich sagte zu mir selbst, ich werde leben. Ich fasste den Entschluss, dass ich Widerstand gegen Hitler leisten würde. Ich werde nicht nachgeben, weil er will, dass ich sterbe, also werde ich leben«. Indem sie diesen Schwur sich selbst gegenüber leistete, war sie in der Lage, die innere destruktive Leere abzuwehren, die durch solche intensiven Traumata verursacht wird. Helen brachte, indem sie ihren Entschluss zu überleben fasste, für sich eine Bedeutung hervor, die es ihr ermöglichte, der psychologischen Taktik der Nazis standzuhalten: dass sie nur eine Nummer sei und dass sie ihr Schicksal verdiene. Ihr erwachtes »Ich« stellte das notwendige Gegengift zur vernichtenden Realität, die sie umgab, und ermöglichte ihr letztlich die Fähigkeit, sie zu überleben. Leon S., dessen Zusammentreffen mit den Pikrinianern im Lager ich schon beschrieben habe, führte zwei Episoden mit Verständnis und Klarheit gegenüber dem, was passierte an: »Wir lebten in diesem Dorf bis 1942, als ein Dekret erlassen wurde, dass alle Juden mit 25 Pfund persönlicher Habe zum Marktplatz kommen mussten. Zu dieser Zeit lebte meine Großmutter bei uns. Sie war in ihren frühen 60ern, aber sie hatte sich einige Jahre zuvor das Bein gebrochen, und es ist nie richtig verheilt, weswegen sie humpelte. Als wir in die Waggons mussten, um zu einem Sammelplatz transportiert zu werden, fragte sie meinen Cousin auf Polnisch, ihr auf den Waggon zu helfen. Einer der deutschen Soldaten, der offenbar Polnisch verstand, sagte: ›Ja, ich werde dir helfen‹ und er zog eine Waffe aus seinem Halfter und erschoss sie. Ich sah es«.

An diesem Punkt unterbrach der Interviewer Leon, der zu schluchzen begonnen hatte: »Kannst du uns sagen, was genau dich an dieser Erinnerung bewegt?« Er antwortete: »Die Unmenschlichkeit dessen, dass jemand nach Hilfe fragt, und von einer tödlichen Handlung getroffen wird«. Wie Am¦ry erklärt, »In nahezu allen Situationen, in denen es körperliche Verwundung gibt, gibt es auch die Erwartung von Hilfe; das Erstere wird von Letzterem kompensiert. Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust aber, gegen den es keine Wehr geben kann und den keine helfende Hand parieren wird, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken« (1980, S. 37/2008, S. 57).

Leon S. führte noch eine andere bezeichnende und aufschlussreiche Episode an. Er erinnerte eine Gruppe frommer, älterer Juden, die stoisch ihr Todesurteil entgegennahmen: »[…] schließlich, am Tag bevor sie anfingen, die Transporte zu beladen, verschleppten sie eine Gruppe älterer Juden und luden sie auf einen von Pferden gezogenen Waggon. Sie fuhren bergauf, um vor ein Erschießungskommando gestellt zu werden. Ich hatte dieses Bild vor mir, von diesen älteren Leuten, die ihre Tallits, ihre Gebetsschale trugen, und die sterben würden. Dies ist für mich das Bild eines Kiddusch Haschem […]«.

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Schließlich erinnerte Leon S. sich an die Ankunft seines Transports in Buchenwald im Juli 1944. Die begleitenden jüdischen Kapos, die grausame Kollaborateure der Deutschen waren, stolzierten voran, salutierten und machten den Gefangenen, die das Lager verwalteten, auf Deutsch Meldung, in der Hoffnung, ihre privilegierte Behandlung beibehalten zu können. Leon S. erinnerte den Akt der Gerechtigkeit, der in ihm den Willen zu überleben wiedererweckte: Die jüdischen Kapos wurden, anstelle einer weiteren bevorzugten Behandlung, still und heimlich weggebracht (angeblich, um im Krankenhaus untersucht zu werden) und wurden nie wieder gesehen. Zu dieser Kategorie der selbstreflexiven Erinnerungen sollten wir die frühzeitigen Erinnerungen von Kindern hinzufügen, die in manchen Momenten mehr verstehen, als man es in ihrem Alter erwarten würde. Suzanne Kaplan (2008, S. 107/2010, S. 100 f.) beschreibt dieses Phänomen ausführlich in ihrer Arbeit mit Kindern, die den Holocaust überlebten und nennt es Altersverzerrung/Verantwortungsübernahme/Frühreife (age-distorting/taking responsibility/precocity). Kinder wussten und verstanden viel mehr als man annahm, zeitweise überwachten sie ihre Eltern, sahen die Gefahren, in denen sich diese befanden. Sie übernahmen die Verantwortung, oder es wurde ihnen sogar übertragen, die Pflegerinnen und Pfleger ihrer Eltern zu sein. Die kleine Marianne stellte das Gas ab, das ihr Vater angestellt hatte, um die Familie nachts, als alle schliefen, Selbstmord begehen zu lassen (Suzanne Kaplan in Felman/ Laub, 1992). Eine anschauliche Geschichte kommt von einem kleinen Jungen im Alter von fünf Jahren. Er erzählte, dass er einen neu geschneiderten Anzug trug und dass er in einem Fotostudio fotografiert werden sollte. Er erinnert sich, dass er die Bedeutung der Schwere dieses Moments erkannte, dass es das letzte Foto einer Ära war, dass die Dinge sich verändern würden, und niemals mehr dieselben sein würden; dass seine Kindheit irgendwie zu Ende war. Er erinnerte sich keiner besonderen Traurigkeit, nur einer gewissen Entschlossenheit und sogar einer Aufregung gegenüber dem, was kommen würde, in Verbindung mit einem frühreifen, besonderen Sinn einer ängstlichen Vorahnung. Es ist diese Fähigkeit, erwachsene Reflektionen anzustellen, ohne erwachsen zu sein, die ich in der Diskussion traumatischer Erinnerungen hervorheben möchte. Schließlich zeigt eine Szene, von der Marion Pritchard, eine Psychoanalytikerin in Vermont, berichtet, auf ähnliche Weise diese außergewöhnlichen Fähigkeiten von Kindern, die extreme Traumata erleben (Pritchard, o. J.). Während eine jüdische Familie sich bei ihr zu Hause versteckt hatte, spielte eines der Kinder draußen. Ein uniformierter Deutscher näherte sich dem Kind und begann, es auszufragen. Marion konnte das Gespräch mit anhören. »Wo ist dein Vater?« fragte der Deutsche. Das Kind unterbrach sein Spiel, schaute ihn empört an und antwortete: »Wie können Sie es wagen, mir eine solche Frage zu stellen?

Das Erzählbarwerden traumatischer Erfahrungen im Prozess des Zeugnisablegens

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Vor einem Monat kamen Leute mit Uniformen wie Sie in unser Haus und nahmen ihn mit. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört«. Nach dieser Antwort nahm das Kind, es war etwa vier Jahre alt, sein Spiel wieder auf. Der deutsche Soldat verschwand. Niemand hatte dem Kind erklärt, wie gefährlich die Situation war oder hatte es auf ein solches Ereignis vorbereitet. Irgendwie hatte es das auf eine frühreife Weise erfasst, und vorausahnend gewusst, wie es damit umgehen musste, indem es den Deutschen auf eine falsche Fährte führte: Es hatte eine Geschichte über einen Vater erfunden, der von der Gestapo verschleppt worden war, um den Deutschen davon abzuhalten, mehr Fragen zu stellen und sogar das Haus zu betreten. Es spielte davor und setzte sein Spiel nach diesem Wortwechsel fort. Es kehrte zu seinem Kindsein zurück, nachdem es in einer sehr erwachsenen Art und Weise in einer Situation extremer Gefahr reagiert hatte. Ich habe anderswo geschrieben, wie Kunst als Behälter (container) für traumatische Erfahrung dienen kann (Laub/Podell, 1998), und würde hier gerne kurz ein Beispiel erwähnen. Miklûs Radnûtti, ein ungarisch-jüdischer Dichter, hinterließ sein Vermächtnis des emotionalen Überlebenskampfes in Form eines Notizbuches, das sein letztes Gedicht enthielt (sein letzter Eintrag in dem Notizbuch war auf den 31. Oktober 1944 datiert), geschrieben auf Zigarettenpapier. Radnûtti beschrieb die Szene einer Exekution, das Gedicht ist mehrdeutig: Möglicherweise ist es seine eigene Exekution. Das Gedicht, in seiner Vollständigkeit, lautet: »I fell beside him; his body turned over, already taut as a string about to snap. Shot in the back of the neck. That’s how you too will end. I whispered to myself; just lie quietly. Patience now flowers into death. Der springt noch auf a voice said above me. On my ear, blood dried, mixed with filth« (1944, S. 374/Forch¦, 1993, S. 372).3

Wie verschieden dieser Bericht von dem Bericht des Gerichtsmediziners über das im Wesentlichen gleiche Ereignis ist – eine Exekution: »Eine Visitenkarte, auf die der Name Dr. Miklûs Radnûtti gedruckt ist […] geboren in Budapest, am 5. Mai 1909. Todesursache: Schuss in das (Genick). In der hinteren Hosentasche wurde ein kleines Notizbuch (enthält Radnûttis Gedicht) gefunden, durchnässt von den Körperflüssigkeiten und geschwärzt von der nassen Erde. Es wurde gereinigt und in der Sonne getrocknet« (Forch¦, 1993, S. 32/Laub/Podell, 1998, S. 86 f.). 3 Eine deutsche Übersetzung des Gedichts von Radnûtti aus dem Englischen findet sich bei Laub/Podell (1998, S. 86).

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Dori Laub

Radnûttis Gedicht, ob es seine eigene Exekution beschreibt oder nicht, wurde unter dem unmittelbar bevorstehenden Schatten des Todes geschrieben. Es führt uns weit über die faktische Schilderung der Exekution hinaus, vielleicht bis zu den realen Grenzen der Darstellbarkeit des Traumas: Zu der Unmöglichkeit, die der Darstellbarkeit des eigenen Todes innewohnt. Er schreibt aus seiner eigenen Perspektive als Opfer. Er kann seiner eigenen Exekution nicht unmittelbar aus seinem Inneren heraus beiwohnen, dennoch ist er in der Lage zu reflektieren: er hat eine Perspektive auf sie, als ob er sie von außen betrachtet, zur gleichen Zeit aber ist er mit seiner eigenen inneren Erfahrung der Vorgänge in Übereinstimmung. Der innere Dialog des Mannes ist es, der der Entfaltung des Gedichts seine Kraft verleiht. Die Anwesenheit, verkörpert durch den Ausdruck »so wirst auch du enden/flüsterte ich bei mir selbst«, die aus der Abwesenheit auftaucht (hervorgerufen durch die kalte Formulierung, »in den Nacken geschossen«) ermöglicht es ihm, sich sein eigenes Denkmal zu setzen und auch seine Geistesgegenwärtigkeit aufrechtzuerhalten, um seine Erinnerung festzuhalten und, teilweise aus der Perspektive von innen und teilweise von außerhalb, zu bezeugen. Radnûtti war durch seine Poesie in der Lage, seinen inneren Dialog bis zu seinem Tod zu bewahren (vgl. Laub/Podell, 1998, S. 87).

5.

Die Entwicklung der Zeugnisse: Erneute Interviews nach 25 Jahren

Kürzlich hatte ich im Rahmen eines internationalen Zeugnis-Projekts über Zwangs- und Sklavenarbeit während des Nationalsozialismus (finanziert von der deutschen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«) die Möglichkeit, erneut acht Überlebende zu interviewen, die ich erstmalig 1979 und 1980 für das Fortunoff Archive interviewt hatte. Was mich erstaunte, war, dass ich mich nur an vier der Geschichten erinnern konnte, drei blockiert hatte und sogar völlig vergessen hatte, dass ich der Interviewer des Achten war. Erst, als ich zufällig in den Katalog des Yale Fortunoff Video Archives4 schaute, erkannte ich, dass ich ihn schon zuvor getroffen hatte. Ich hatte mich auf diese erneuten Interview-Begegnungen sehr gefreut, sind sie doch wesentlicher Bestandteil des lebenslang andauernden Prozesses des Zeugnisablegens selbst (vgl. Laub/ Bodenstab, 2007). Die Prozesse des Bezeugens, des Nachdenkens und der Selbst-Reflektion gewinnen zunehmend mehr Bedeutung und nehmen ein Eigenleben an. Die Wiederbegegnung mit den Zeugen scheint diese Prozesse nicht nur zu verstär4 Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies (Hrsg.): Guide to the Yale University Library Holocaust Video Testimonies (Second Edition). New Haven, Connecticut, 1994.

Das Erzählbarwerden traumatischer Erfahrungen im Prozess des Zeugnisablegens

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ken, es scheint auch ein Moment der Bestandsaufnahme der bisher geleisteten Arbeit zu sein. Als ich die Überlebenden traf, fand ich meine Vorahnung bestätigt, dass unsere Beziehung in latenter Weise über die Jahre fortbestanden hatte. Es gab eine gewisse Vertrautheit, ein unmittelbares Wiederanknüpfen. Ich hatte das Gefühl, als ob wir erst gestern auseinander gegangen wären. Nur konnten wir dieses Mal ihre Geschichten weiter- und tiefergehend behandeln. Auch wenn wir nicht den Eindruck hatten, etwas abzuschließen oder fertig zu stellen, wussten wir, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach das letzte Treffen dieser Art in unser beider Leben sein würde. Mein Vergessen war eine Abwehrstrategie, ein Selbstschutz vor dem, was für mich emotional überwältigend, unfassbar und verstörend an den Lebensgeschichten der Überlebenden war. Das Vergessen war meine eigene Strategie, die mein Selbst vor einer Aufspaltung schützte. Als ich zu diesen frühen Zeugnissen zurückkehrte und sie im Hinblick auf die und mit der Erfahrung der neueren Interviews anhörte, war ich überrascht, dass die Erfahrungen, von denen die Zeuginnen und Zeugen berichteten, viel unvermittelter wirkten. Die Grenzen zwischen ihren Erinnerungen und ihren augenblicklichen Leben zum Zeitpunkt der damaligen Aufnahmen schienen viel unsicherer gezogen und so durchlässig zu sein. Es schien, als ob sich die Überlebenden im Verlauf des früheren Interviews mit nicht vollständig kontextualisierten und machtvollen Erinnerungsfragmenten bombardiert fühlten, von denen sie kein vollständiges Bewusstsein entwickeln konnten. Affekte kamen viel unerwarteter, waren zerrüttender und desorganisierend; sie blieben von der Erzählung abgekoppelt und trugen nichts zu ihrer Entwicklung oder der Ausgestaltung bei. Der Eindruck ihrer Verwundbarkeit ist tief und durchdringt ihre Erzählung. Ihre Zeugnisse legen sie unter enormem Druck ab, als würden sie vor der Bombardierung fliehen. Sie scheinen keine Zeit zu haben. Sie eilen durch ihre Erinnerungen hindurch, als ob sie Kontakt und Gefühle minimieren und Reflektion vermeiden wollten. Es scheint, als ob anzuhalten, sich umzusehen und zu fragen die tödliche Blutung erneut auslöst. Es würde ein ganzes Leben dauern, ihre Geschichten zu erzählen. Eine Zeit, die sie nicht haben.5 Im Rückblick erkenne ich, unter welchem Druck ich in diesen frühen Interviews stand. Ich frage keine Fragen, die helfen würden, das Tempo der Erzählung zu drosseln oder die Erzählung zu erweitern oder zu vertiefen. Ich bin nicht in der Lage, zu intervenieren, ich bin nicht präsent und schaffe keinen sicheren Ort für das Zeugnis. Es gibt nur wenige Momente der Stille, nur wenige Ausflüge ins innere Selbst, wenige Enklaven der Selbstreflexion. Entgegen meiner Intention als Interviewer, verbünde ich mich mit der Verwundung und Verletzbarkeit. Wir 5 Anmerkung d. Übers.: Vgl. vor allem zu der Entwicklung des Interviewprozesses: Laub/ Bodenstab (2007).

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Dori Laub

beide scheinen von den Erinnerungen dermaßen eingeschüchtert, dass keiner von uns in der Lage ist, mit ihnen lange in Verbindung zu bleiben. Die beiden Zeugnisse von Leon W., die 1979 und 2005 aufgezeichnet wurden, zeigen paradigmatisch die Entwicklung eines Zeugnisses. Als ich sein erstes Zeugnis aufnahm, welches als das zweite Videointerview, das jemals mit einem Holocaust-Überlebenden gemacht wurde, katalogisiert ist, dauerte es über eine Stunde und währenddessen berührten wir kaum die Punkte, um die es ging; wir umgingen seine Erfahrung der vier Jahre im Ghetto Lodz. Leon W.’s neueres Zeugnis dauerte zweieinhalb Stunden. Er war aufgrund seiner Gebrechlichkeit und seiner Angst, dass sein Gedächtnis ihn im Stich lassen könnte, sehr zögerlich, das Interview zu machen. In seinem Interview 2005 hatte sich ein Rahmen zu seiner Erzählung verfestigt, der nicht brach, selbst wenn der Ausschlag seines Gefühlspendels viel weiter und dramatischer wurde. Die schwierigste Erfahrung für Leon war seine Rückkehr in seine Heimatstadt Lodz nach dem Krieg, wo er hoffte, seine Familie zu finden. Er wartete fünf Monate auf ihre Heimkehr. Niemand kam zurück. Während er in seinem ersten Interview die überwältigende Enttäuschung erwähnte und berichtete, wie er durch verschiedene DP-Lager (camps for displaced persons) driftete, ohne einen Plan oder eine Orientierung, brach er im zweiten Interview zusammen: Für einen Moment ergriff ihn das Entsetzen angesichts der leeren Wohnung seiner Familie. Er wird überwältigt von seinen Gefühlen und bricht in Tränen aus. Ich setzte das Interview trotz seines Protestes fort, dass er genug habe und sein Körper signalisierte, dass er gehen wollte. Ich wusste jedoch, dass er auch bleiben und seine Selbstkontrolle wiedererlangen wollte. Würde er jetzt gehen, wären wir beide in unserem Vorhaben besiegt worden. Wir würden uns beide völlig zerrissen, verlassen und ratlos fühlen. Er brauchte ein paar Minuten, fand dann aber seine Fassung wieder und setzte seine Erzählung für eine Weile fort. Leon W. wich seinen Erfahrungen nicht aus, er wich seinen Gefühlen nicht aus. Obwohl viele der feineren Details in den Hintergrund gewichen sind und ungenau geworden sind, trat die Kontur seines Zeugnisses viel deutlicher hervor. Die Botschaft, die er ausdrücken wollte, war klar : Er weiß, was Schmerz ist.

6.

Schlussfolgerung

Zeugnisablegen entsteht als dialogische Form in einem interpersonalen Prozess – die Erzählung des Überlebenden kann sich nur in Gegenwart eines Zuhörenden herausbilden. In den Zeugnissen, die zu verschiedenen Zeiten (in Bezug auf Geschichte und Lebenszeit) abgelegt wurden, scheint die Dynamik des Gedächtnisses eine unterschiedliche Gestalt (im Original deutsch) anzunehmen.

Das Erzählbarwerden traumatischer Erfahrungen im Prozess des Zeugnisablegens

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Während die ersten Zeugnisse – und dies trifft noch eher für die Boder Interviews zu, als für die frühen Interviews des Yale Archivs – eine gewisse Brisanz und Kargheit für sie haben und ihre Intensität aus einem Fokus auf etwas ziehen, das isoliert und abgesondert von dem Rest des Lebens des Interviewten bleibt, entfalten sich die neueren Interviews detailreicher und enthalten eine viel weitere Bandbreite an Affekten und Emotionen. Es scheint, als hätte sich die Kapazität für das containment erheblich erweitert und ermöglicht nun eine nuanciertere und reichere Ebene an Komplexität, innerem Konflikt und Widersprüchlichkeiten, angesichts des sich dem Ende zuneigenden Lebens. Wichtige Figuren im Leben des/der Interviewten – Eltern, Freunde, ein geliebter Geschwisterteil – werden dreidimensional und haben ausgeprägtere Persönlichkeiten. Erfahrung ist kohärenter und differenzierter. Die Position, von welcher aus Beobachtung und Selbstreflektion erfolgt, ist viel konstanter und gefestigter. Was in den frühen Interviews als eine Unsicherheit auf beiden Seiten begann – von Interviewendem und Interviewtem – im Bezug auf die Erwartungen an einen selbst und vom anderen, wurde zu einem Gegenstand der Sicherheit und des Glaubens in die Macht des Prozesses des Zeugnisablegens, wenn er erst einmal in Gang gesetzt wird. Diese Gestalt, die eine elaboriertere Form, verschiedene Schichten und eine innere Kohärenz entwickelte, berührt den Interviewer zutiefst. Neben dem Unterschied, der durch die unterschiedlichen Lebensabschnitte der Interviewten in Bezug auf ihre Zeugnisse bedingt ist, muss auch der sich verändernde historische Kontext beachtet werden, in welchem sich das jeweilige Interview ereignete. Zu der Zeit der Boder-Interviews war noch keine MetaErzählung des Holocaust entstanden. Heute ist durch die Arbeit von Historikerinnen und Historikern und anderen Forscherinnen und Forschern viel mehr Wissen hervorgebracht worden und im Vergleich zu den späten 1940er, 1970er und 1980er Jahren gibt es eine erhöhte öffentliche Wahrnehmung des Holocaust. Über die vergangenen 25 Jahre ist »der Holocaust« als historisches Ereignis konzeptualisiert worden. Im Kontext dieser Erzählung wurde es den Interviewten zunehmend möglich, sich selbst als Überlebende zu verstehen und sich als Überlebenden zuzuhören. Die frühen und neueren Video-Interviews dokumentieren diese Entwicklung: Eine Entwicklung, die durch den Prozess des Interviewens und des Bezeugens unterstützt wurde. Jede dieser Gruppen von Interviews (die frühen und die späten) rahmen einen Prozess, der als die Evolution des Zeugnisses beschrieben werden kann. Schließlich ist es wichtig, herauszustellen, dass wir neben diesen Veränderungen und Unterschieden eine beeindruckende narrative Konsistenz in den Interviews auffanden. Es sind keine eklatanten Widersprüche aufgetaucht und es gab praktisch kein Zeichen des Verblassens der Erinnerungen über die Zeit

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hinweg. Eher waren es zwei Geschichten mit einer großen Überschneidung, die sich mit mehr als 25 Jahren Abstand zueinander gegenseitig ergänzen und die sich zu einer sogar vollständigeren Beschreibung der Erfahrung addieren. Es scheint, als dass 25 Jahre der Introspektion, des sich selbst und anderen Zuhörens, sowie des Lebens, ihre unauslöschbaren Spuren an den HolocaustÜberlebenden hinterlassen haben, welche sozusagen in einen Bund der Zeugenschaft eingetreten sind, obwohl es sie nicht ans Ende der Bewältigung ihrer Erfahrung gebracht haben dürfte. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Julia Bee unter Mitarbeit von Elke Mühlleitner

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Rosmarie Barwinski

Erinnerung und Traumabearbeitung

1.

Folter

Laut Amnesty International wird heute in 91 Ländern der Welt gefoltert, das heißt in 50 % der Länder der Welt. Zwar haben viele Folterstaaten die AntiFolter-Konvention der UNO unterzeichnet, dies hat aber häufig nur zu Versuchen geführt, Folter wirksamer zu tarnen. Während in früheren Zeiten das Ziel der Folter vor allem im Erpressen von Geständnissen und geheimen Informationen bestand, wird sie heute zunehmend zur Bestrafung politisch kritischer Meinungen, zur Zerstörung der Persönlichkeit und zur Einschüchterung ganzer Bevölkerungsgruppen verwendet. Bei physischer Folter »gibt es keine Gemeinheit und Barbarei, die die Folterer unterlassen würden. Von Verbrennungen weiter Teile des Körpers bis zu Folter mit Elektroschock, Eintauchen in Kot bis zur Erstickung, tagelanges Aufhängen, Einsperren in zu enge und überhitzte Räume, qualvolle körperliche Verletzungen wird kein Verfahren außer Acht gelassen« (Fischer/Riedesser, 1998, S. 239 f.). Bei psychischer Folter wird u. a. sexuelle Folter eingesetzt, Vergewaltigung von Frauen, Männern und Kindern. Sexualisierte Gewalt richtet sich gegen die Identität des Betroffenen, es geht vor allem um Demütigung und Unterwerfung, letztlich um die Zerstörung der seelischen Widerstandskraft. Im Rahmen einer tiefenpsychologischen Untersuchung von schwer traumatisierten Opfern menschlicher Gewalt (in Gefängnissen, Kriegen u. ä.) fiel auf, dass ca. 45 % der Frauen, aber auch ca. 25 % der Männer Opfer sexualisierter Gewalt waren (vgl. Soeder, 2011). Bei pharmakologischer Folter werden entweder Medikamente eingesetzt, die unerträgliche Schmerzen verursachen, oder es werden Substanzen verwendet, um die physische und psychische Widerstandskraft zusammenbrechen zu lassen. Die Ausbildung zum Folterer gleicht oft strukturell denjenigen Foltermethoden, die später den Opfern angetan werden. Gruppendruck wird ausgenutzt,

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Rosmarie Barwinski

um die natürlichen Hemmungen des Folterers schrittweise abzubauen. »Zumeist wird der Neuling gezwungen, eine öffentliche Folterung oder Ermordung durchzuführen. Danach ist er mit einem Blutband auf Gedeih und Verderb an die Gruppe gebunden und kann beliebig zur Folter eingesetzt werden« (Fischer/ Riedesser, 1998, S. 240). Die Einübung in Foltern bedient sich oft lerntheoretischer Methoden, die, wie die systematische Desensibilisierung, Ängste und Hemmungen vor dem Brechen erlernter Normen und Wertvorstellungen allmählich abbauen.

2.

Realität und Fiktion

Die traumatische Situation der Folter lässt wirksame Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen nicht zu. Die Opfer zweifeln im Verlauf der Traumabearbeitung daran, ob das, was sie erlebt haben, wirklich geschah. Die traumatische Situation erscheint wie ein Film – nicht nur im Rückblick, sondern auch in der Situation selbst. Über dissoziative Prozesse erleben die Betroffenen häufig Körper und Seele getrennt. Gerade bei Folter scheint dieser seelische Rettungsversuch zentral zu sein. Der eigene Körper wird dem Folterer überlassen, während das Opfer wie neben sich stehend das Geschehen verfolgt. Bei unverarbeiteten, nicht psychisch integrierten traumatischen Erfahrungen haben Betroffene Bilder des Schrecklichen, so genannte flashbacks. Sie wissen um ihre schrecklichen Erfahrungen, aber können das Erlebte in dessen subjektiver Bedeutung und als Teil der eigenen Geschichte nicht wirklich erfassen. Als Nicht-Betroffene unterliegen wir ähnlichen Mechanismen. Wir können nicht glauben, dass – wie bei Folter – Menschen solche Taten zugefügt werden und Menschen zu solcher Grausamkeit fähig sind. Bilder von Folter werden als Fiktion abgewehrt, um ein illusorisches Sicherheitsgefühl aufrechtzuerhalten und das eigene Selbst- und Weltverständnis nicht in Frage stellen zu müssen.

3.

Abwehr der Wahrnehmung der traumatischen Realität

Das Nicht-Erfassen-Können des Schrecklichen wird aus psychoanalytischer Sicht auf psychische Abwehrmechanismen zurückgeführt. Im Gegensatz zur neurotischen Konfliktverarbeitung, in der die Abwehr gegen Wünsche gerichtet ist, richtet sich bei traumatischen Erfahrungen die Abwehr gegen die wahrgenommene, bedrohliche Wirklichkeit, wie sie sich in der traumatischen Situation darstellt, und die damit einhergehenden, überwältigenden Gefühle. Um nicht erneut von Gefühlen überflutet zu werden, wird die traumatische Erfahrung psychisch nicht zur Kenntnis genommen. Mechanismen, die der Wahrneh-

Erinnerung und Traumabearbeitung

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mungsabwehr (Barwinski Fäh, 2005) der traumatischen Realität zugrunde liegen, sind aus psychoanalytischer Sicht Spaltungen im Ich, die mit dissoziativen Prozessen einhergehen. Dissoziation wird als eine spezifische Form des Bewusstseins bezeichnet, bei der Erinnerungen an traumatische Ereignisse nur in bestimmten Persönlichkeitszuständen möglich sind. Kennzeichnend für diese Form der Erinnerung ist, dass sie nicht explizit abgerufen werden kann und Erinnerung nur auf einer bildhaften oder sensomotorischen Ebene möglich ist. Das Traumatisierende ist nicht in symbolischer Form repräsentiert und damit nicht in Worten beschreibbar. Diese nicht symbolische Form der Erinnerung ist mit einem bestimmten psychischen Zustand verbunden – dem trauma-state –, der mit der Reaktivierung traumatischer Erfahrungen einhergeht. Bei Folter werden in der Situation psychisch überlebenswichtige Bewältigungsmechanismen wie Derealisierung, Depersonalisierung und dissoziative Reaktionen auch im Nachhinein aufrechterhalten. Es kommt zu einer Abkapselung und Abspaltung des gesamten, durch die Folter bedingten Erlebniskomplexes. Ein Teil der Persönlichkeit weiß um das traumatische Geschehen, der andere Teil lebt weiter, als sei nichts geschehen. Diese Ich-Spaltung und die damit einhergehende Wahrnehmungs- und Bedeutungsverleugnung der traumatischen Ereignisse macht es möglich, dass ein Teil der Persönlichkeit weiter funktionsfähig bleibt. Sie hat aber den Nachteil, dass keine weitere psychische Bearbeitung der als traumatisierend erlebten Realität erfolgt, so dass das Traumatisierende permanente, aber nicht psychisch repräsentierte Aktualität besitzt. Auch wenn Aktivitäten, Situationen oder Personen vermieden werden, die an die traumatische Situation erinnern könnten, schaffen sich die Erinnerungen, auch wenn sie nicht bewusst sind, via Inszenierungen, Albträumen und Gefühlen, die mit dem Trauma verknüpft sind, noch Jahrzehnte nach deren Geschehen Zugang zur Aktualität. Erinnerungsbilder des traumatischen Geschehens können im späteren Leben immer wieder auftauchen, wenn Traumaopfer unter erhöhtem Stress stehen, d. h. Situationen erleben, die Regression fördern oder durch so genannte trigger (Eindrücke visueller, olfaktorischer oder auditiver Art) an traumatische Situationen erinnert werden. Reize mit geringem Ähnlichkeitsgrad zur traumatischen Situation können den vollen Panikzustand wieder auslösen und versetzen das Opfer auch Jahre nach dem Ereignis in eine Erwartungshaltung, als könne sich das Trauma jederzeit wiederholen. Die Opfer gleiten in den trauma-state, das Zeitgefühl ist verloren gegangen; der Schrecken ist Aktualität geworden. Bei der Beratung von Folteropfern sollte diesem Sachverhalt Rechnung getragen werden, indem nach Möglichkeit jede Ähnlichkeit zur Foltersituation vermieden wird, zum Beispiel tragen von weißen Kitteln, die Verwendung von

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Rosmarie Barwinski

undurchschaubaren technischen Geräten, Uniformierung oder eine bürokratische Atmosphäre usw. Eine Verarbeitung traumatischer Erfahrungen wird erst möglich, wenn die traumatische Situation psychisch wahrgenommen werden kann, das heißt, das Traumatisierende in Worten beschreibbar wird und die Gefühle nicht mehr abgespalten werden. Denn erst mit dem Gewahrwerden des traumatisierenden Realitätsaspekts kann ein intrapsychischer Verarbeitungsprozess beginnen, der eine psychische Integration der traumatischen Erfahrung ermöglicht. Deshalb ist es so wichtig, dass traumatisierte Menschen Worte für ihre Erfahrungen finden oder aus gedächtnispsychologischer Sicht ausgedrückt: dass ihre traumatischen Erlebnisse in symbolischer Form repräsentiert werden können (vgl. Barwinski, 2010). Um verständlich zu machen, was mit symbolischer Repräsentation gemeint ist, soll ein kurzer Exkurs in die Gedächtnispsychologie eingefügt werden.

4.

Exkurs in die Gedächtnisforschung

Aufgrund von Untersuchungsbefunden aus der Gedächtnisforschung geht man davon aus, dass es unterschiedliche Formen der Erinnerung gibt. Verkürzt werden zwei Gedächtnisarten unterschieden: Das implizite, prozedurale und das explizite, autobiographische Gedächtnis. Der wesentliche Unterschied zwischen implizitem und explizitem Gedächtnis besteht darin, dass ersteres unbewusst ist. Das implizite Gedächtnis impliziert ein frühes, somatopsychisches, sensorisches und emotionales Einprägen. Zu den Inhalten des impliziten Gedächtnisses gehören nicht nur Sinneswahrnehmungen, sondern ebenfalls Bewegungs- und Verhaltensmuster zusammen mit den gleichzeitig erlebten Gefühlen, Gewohnheiten, emotionalen Antworten sowie reflexive und klassisch konditionierte Handlungen. Auch im späteren Leben gehen einmal erlernte Fähigkeiten, wie Radfahren oder Klavierspielen, sobald sie automatisiert sind, ins implizit-prozedurale Gedächtnis ein. Die explizite Erinnerung ist dagegen bewusst. Das explizite Gedächtnis verarbeitet semantische Informationen, unterliegt expliziter Kontrolle und kann nach dem Spracherwerb in Worten mitgeteilt werden. Gewöhnliche Ereignisse werden anders codiert als traumatische Geschehnisse. Sie zeigen sich in somato-sensorischer Form oder als emotionale flashback-Erlebnisse, unabhängig vom Alter, in dem das Trauma auftrat. Häufig findet sich keine sprachliche Codierung der Erinnerungen an das Trauma, unabhängig davon, ob zeitweise eine Amnesie für das Ereignis bestand. Die traumatische Erfahrung scheint weitgehend im impliziten Gedächtnis gespeichert und kann nicht als Narrativ ins explizite Gedächtnis überführt werden.

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Bei dissoziativen Prozessen sind Erinnerungen nur auf einer bildhaften oder sensomotorischen Ebene möglich und in symbolischer Form dem Bewusstsein nicht zugänglich, da diese Form der Erinnerungscodierung aufgrund der starken Gefühle nicht geleistet werden kann. Ziel einer Traumabearbeitung ist dementsprechend, dass die abgespaltenen, im impliziten Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen ins explizite oder autobiographische Gedächtnis übergeführt werden können.

5.

Formen und Umgang mit Erinnerung an traumatische Erfahrungen

Erinnerungen an traumatische Ereignisse sind unterschiedlich, entsprechend der Codierung im Gedächtnis. Die Form der Erinnerung erlaubt damit Aussagen über den Verarbeitungsgrad der traumatischen Geschehnisse (vgl. Barwinski, 2009).

5.1

Formen der Erinnerung an unintegrierte, traumatische Erfahrungen

Wie erwähnt, zeigen sich Erinnerungen bei psychisch unintegrierten, nicht verarbeiteten traumatischen Erfahrungen in Form von intrusiven Phänomenen wie Albträumen und intrusiven Erinnerungsbildern. Diese intrusiven Phänomene entsprechen weitgehend dem intrusiven Symptombereich des posttraumatischen Belastungssyndroms, das sich durch die Symptomtrias von unfreiwilligen Erinnerungsbildern, Vermeidung und Erregung (hyperarousal) auszeichnet. Zeigen Traumaopfer diese Symptomatik, geht es vor allem darum, dass die Opfer Kontrolle über ihre heftigen Gefühlszustände erhalten, dass es ihnen gelingt, sich möglichst schnell aus dem trauma-state heraus zu »holen« oder ein Abgleiten in den trauma-state zu verhindern. Auf der emotionalen Ebene geht es also darum, dass Abstand zu den überwältigenden Gefühlen möglich wird. Auf der inhaltlichen Ebene sollte bei Folteropfern bei diesen präsymbolischen Formen der Erinnerung versucht werden, den Zusammenhang zwischen Symptomen und den Foltermethoden herzustellen. Der Bericht von der Folter ist in dieser Phase meist unvollständig, beinhaltet einzelne Bilder oder Sequenzen und ist frei von persönlichen Aspekten des Betroffenen.

48 5.2

Rosmarie Barwinski

Formen der Erinnerung an emotional nicht integrierte traumatische Erfahrungen

Erinnerungen an traumatische Erfahrungen, die soweit psychisch verarbeitet wurden, dass sie nicht mehr in Form von flashbacks oder überwältigenden Gefühlszuständen in Erscheinung treten, aber emotional nicht wirklich bewältigt werden konnten, zeichnen sich durch folgende Merkmale aus (vgl. Barwinski, 2010): a) die mit den traumatischen Erfahrungen verknüpften Gefühle können fehlen, b) Erinnerungslücken bezüglich des traumatischen Geschehens bleiben bestehen oder c) erste Bewältigungsversuche, auch wenn sie für die Aktualität nicht mehr zweckmäßig sind, werden aufrechterhalten. Fischer und Riedesser (1998) fassen diese ersten Bewältigungsversuche mit dem Begriff des »traumakompensatorischen Schemas« (TKS) zusammen. Das TKS umfasst Antworten auf drei Fragen, die alle traumatisierten Menschen beschäftigen: Warum ist das gerade mir passiert? Was kann ich tun, dass ich niemals mehr so etwas Schreckliches erlebe? Und was kann ich tun, damit ich nicht mehr am Erlebten leiden muss? Diese subjektiven Erklärungsversuche sind handlungsleitend und können das Leben nach einer traumatischen Erfahrung wesentlich prägen. Zum Beispiel kann die mit Folter häufig in Zusammenhang gebrauchte Viktimisierungsstörung in diesem Sinne verstanden werden. Depression, Resignation, Misstrauen, Schuldgefühle und eine oft magische Selbstverurteilung, durch die das Opfer die Schuld an seinem Leiden sich zuschreibt, sind kennzeichnend für dieses Störungsbild. Müdigkeit, Erschöpfung, Apathie und Konzentrationsstörungen, Verbitterung und suizidale Wünsche bzw. Suizidversuche kommen häufig hinzu. Die sozialen Beziehungen der Opfer sind gekennzeichnet durch Kommunikationsstörungen, Aggressivität und intensive Wut. Nach den vorangegangenen Überlegungen würde dieses Störungsbild aber bereits eine zweite Stufe der Verarbeitung deutlich werden lassen, in der die traumatischen Erfahrungen psychisch wahrgenommen werden konnten, aber die Täter nicht als Täter erkannt werden können. Die Schuld am Schrecklichen wird dem eigenen Selbst zugeschoben, die Wut gegen die eigene Person gerichtet. Die erste Phase im Verarbeitungsprozess traumatischer Erfahrungen ist gekennzeichnet durch die Wahrnehmungsabwehr der traumatischen Realität. In der zweiten Phase wird die Tat erinnert, aber der Täter wird nicht als Täter erkannt. Zum Beispiel werfen Folteropfer sich vor, dass sie eventuell durch andere Reaktionen die sadistischen Handlungen des Folterers hätten beeinflussen

Erinnerung und Traumabearbeitung

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können. Sie quälen sich mit Selbstvorwürfen, was sie im Vorfeld hätten unterlassen oder tun können, um die Misshandlungen zu vermeiden. Wie anhand der Viktimisierungsstörung deutlich wird, ist es wichtig, dass diese irrationalen Begründungen korrigiert werden, damit Traumaopfer aufgrund falscher Selbstvorwürfe keine depressive Symptomatik entwickeln. Diese Korrektur falscher Selbstvorwürfe ist jedoch ein langer Prozess, den viele Betroffene nicht leisten können, da damit die Angst verknüpft zu sein scheint, jeglichen inneren Halt zu verlieren. Bereits Freud schreibt über das traumatisch überwältigte Ich, das sich in einer übergroßen Gefahr befindet, die es aus eigenen Kräften nicht bewältigen kann: »Es sieht sich von allen schützenden Mächten verlassen und lässt sich sterben« (1923, S. 288). Bohleber (1997) greift diesen Gedanken auf und führt dazu weiter aus: »Das Trauma ist die plötzliche, unkontrollierbare Unterbrechung aller affektiven Bindungen und damit der Verlust einer tragenden inneren Objektbeziehung. Der Zusammenbruch der inneren Repräsentanz eines bedeutenden Anderen zerstört die innere Kommunikation« (S. 966). Ulmann und Brothers (1988) machen Aussagen über die Art der inneren Beziehung, die durch traumatische Erfahrungen erschüttert wird. Sie postulieren, dass die unbewusste Bedeutung realer Ereignisse Traumatisierungen verursachen kann, indem zentrale narzisstische Phantasien zerstört werden.

5.2.1 Zerstörung narzisstischer Phantasien Dem Grundgefühl, sich auf seine Umwelt abstützen zu können und sich auf die eigenen Fähigkeiten verlassen zu können, liegen Vorstellungen zugrunde, die Kohut (1971) als zwei Typen narzisstischer – das Selbstwertgefühl stützende – Phantasien beschreibt: Größenselbstvorstellungen, wie z. B. die Phantasie, einzigartige Attribute oder magische Kräfte zu besitzen – sowie idealisierte Elternimagines (zum Beispiel das Gefühl, eins mit einer machtvollen Person zu sein oder einen mit einzigartigen Kräften ausgestatteten Beschützer zu haben). Diese beiden Formen narzisstischer Phantasien bilden sich im Laufe der ersten Lebensjahre und müssen im Laufe der Entwicklung modifiziert und altersentsprechend in die Persönlichkeit integriert werden. Krystal (2001) spricht in diesem Zusammenhang von »gesunder« frühkindlicher Allmacht, die das Individuum mit einer innerpsychischen Widerstandsfähigkeit ausstattet, »die es in sich verwahrt, an andere weiterzugeben vermag und so die traumatische Situation überlebt« (S. 840; vgl. hierzu auch Antonovsky, 1987). Die Infragestellung oder Zerstörung narzisstischer Phantasien hat zur Folge, dass – wie Freud es ausdrückt – Traumaopfer sich von allen schützenden Mächten verlassen fühlen und seelisch sterben. Um diesen inneren Objektverlust

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Rosmarie Barwinski

zu verhindern, werden unterschiedliche Mechanismen benutzt, die für NichtBetroffene emotional nicht nachvollziehbar erscheinen. Hierzu ein Beispiel: Die Spaltung in »nur gut« und »nur böse« ist ein Abwehrmechanismus, der in der Verarbeitung von Beziehungstraumata zentral ist. Ist der Täter eine zentrale Bezugsfigur, zum Beispiel ein Vater, der sein Kind sexuell missbraucht, verfolgt die Abwehr das Ziel, aus dem Tätervater einen »guten Vater« zu machen. Mit dem Mechanismus der Spaltung wird versucht das Bild des guten Vaters aufrecht zu erhalten. Der Täter wird idealisiert, er ist im Erleben »nur gut«, das Opfer fühlt sich ihm nahe und erlebt nicht das Gefühl unerträglicher Verlassenheit, aber dafür fühlt es sich schlecht und böse. Es ist das böse Kind, dass den Vater zu Missbrauch getrieben hat. Bekannt ist, dass zur psychischen Folter auch der systematische Einsatz von Doublebind-Methoden gehört, wie zum Beispiel das so genannte »good guy, bad guy-Verfahren«. Ein Komplize des Folterers tritt hierbei als Schutzperson des Gefangenen auf, um diesen in Sicherheit zu wiegen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, in dem er seine Geheimnisse verrät. Den Zustand absoluter innerer Leere und Verlassenheit versuchen die Opfer zu bewältigen, indem sie dem Komplizen des Folterers vertrauen – auch wenn sie kognitiv die Situation durchschauen. Die Erfahrung des Verrats des scheinbar Guten, dem das Opfer in seiner Verzweiflung und Todesangst sein Vertrauen geschenkt hat, führt zur Erschütterung oder Zerstörung des Selbst- und Weltverständnisses – des Vertrauens in sich und andere, letztlich zum seelischen Tod des Opfers. Krystal (2001) untersuchte, wie sich der emotionale Ausdruck und die zwischenmenschliche Kommunikation bei Extremtraumatisierung verändern. Er beschreibt ein Bild einer vollkommenen Persönlichkeitsveränderung, das er im disaster syndrom zusammenfasst. Hervorstechendes Symptom ist die Alexithymie oder Unfähigkeit, emotionale Reaktionen in ihrer Bedeutung zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Ergebnis des Verlusts des Zugangs zu den eigenen Emotionen ist eine roboterartige Existenz, oft begleitet von chronischen physischen Krankheiten, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit. Erinnert wird an emotional nicht integrierte traumatische Erfahrungen oft nur selektiv, aber Erinnerungen sind nicht mehr nur in Form von flashbacks vorhanden. In dieser Verarbeitungsphase ist es die Angst vor dem inneren Objektverlust, die verhindert, dass das Opfer realisiert, dass in der traumatischen Situation der Folter niemand beschützend da war. Abgewehrt werden das Gefühl und die Erfahrung der objektlosen Verlassenheit und schutzlosen Hilflosigkeit. Aus gedächtnispsychologischer Sicht betrachtet, sind in dieser Phase der Traumaverarbeitung die traumatischen Erlebnisse zwar im expliziten Gedächtnis gespeichert – das heißt psychisch in symbolischer Form repräsen-

Erinnerung und Traumabearbeitung

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tiert –, aber sie wurden aufgrund von Konflikten verdrängt. Wie kann man sich diesen Prozess vorstellen? Die psychische Integration traumatischer Erfahrung verläuft über die Verknüpfung mit der eigenen Lebensgeschichte – dazu gehören auch ungelöste vorangehende Konflikte. Zum Beispiel kann die Erfahrung, immer dann Demütigung zu erfahren, wenn man sich selbstbewusst wehrte, dazu führen, ein unterwürfiges Verhalten zu entwickeln. Aggression wird abgewehrt, um nicht erneut beschämt zu werden. Eine solche Vorgeschichte kann zur Folge haben, dass die Schuld an Misshandlungen dem eigenen Selbst zugeschrieben wird und der Täter idealisiert bleibt. Schuld an Misshandlung ist aus der Sicht des Opfers die eigene Aggression, die in der Folge verdrängt werden muss. Auch Verdrängung verhindert das Bewusstwerden der mit dem Trauma verbundenen Erinnerungen und Gefühle, weil Erinnerungen an die traumatische Erfahrung durch die dem Ich zur Verfügung stehenden Abwehrmechanismen aus dem Bewusstsein ferngehalten werden. Resultat der Verdrängung ist eine eingeschränkte oder selektive Erinnerung an traumatische Geschehnisse aufgrund des Abschiebens ins Vor- oder Unbewusste. Damit unterliegt die verdrängte Erinnerung jedoch einem anderen Verarbeitungsmodus. Das heißt, Verdrängung verfälscht Erinnerungen durch Mechanismen, wie sie für konflikthafte Erfahrungen typisch zu sein scheinen. Der überlebenswichtige Wunsch, einen beschützenden Menschen zur Seite zu haben, hat zum Beispiel zur Folge, dass Erinnerungen verdrängt werden, die die Idealisierung des Täters in Frage stellen könnten.

5.2.2 Intersubjektivität und zur Wahrheit lebensgeschichtlicher Erkenntnis Wie ausgeführt, unterscheidet sich vor allem zu Beginn des Verarbeitungsprozesses traumatischer Erfahrungen die Rekonstruktion traumatischer Erfahrungen in vielfacher Hinsicht von der Bearbeitung unbewusster Phantasien: Die Affektintensität ist bei dissoziiertem traumatischem Material für die Betroffenen überwältigend und Erinnerungen an traumatische Erfahrungen zeigen sich auf einer bildhaften, sensomotorischen und affektiven Ebene. Erinnerungen an vergangene traumatische Ereignisse sind in der Regel exakte Wiederholungen der Vergangenheit: Flashbacks und Inszenierungen sind Abbilder der traumatischen Situation. Erst mit der Milderung der mit traumatischen Erinnerungen einhergehenden Gefühle werden Erinnerungen zu Narrativen, die von Abwehrvorgängen überarbeitet werden und dementsprechend nicht mehr in allen Aspekten der traumatischen Situation entsprechen müssen. Als Beispiel wurde genannt, dass die Notwendigkeit der Idealisierung des Täters dazu führen kann, dass nur selektiv

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Rosmarie Barwinski

erinnert wird. Zuwendung wird erinnert, aber Misshandlung und Verrat scheinen vergessen. Ab dieser Phase im Traumaverarbeitungsprozess prägen Phantasien die Traumaverarbeitung und damit auch die Erinnerung an die traumatische Vergangenheit in dem Sinne, dass sie Erinnerung selektionieren. Um zentrale Phantasien aufrecht zu erhalten (zum Beispiel die Vorstellung, dass der Täter es letztlich gut mit dem Opfer meinte), werden nur bestimmte Erfahrungen erinnert, andere scheinen vergessen. Diese Erinnerungen weisen jedoch eine andere affektive Qualität, Präzision und Lebendigkeit auf als die ersten präsymbolischen Erinnerungen, die gewissermaßen ins Bewusstsein einbrechen. In der zweiten Phase der Traumabearbeitung stehen nicht mehr dissoziative Prozesse im Vordergrund, wo Erinnerungen zeitweise nicht vorhanden oder nur in präsymbolischer Form möglich sind. Die Erinnerung ist lediglich verdrängt, wurde aber kognitiv und emotional wahrgenommen, das heißt psychisch in symbolischer Form repräsentiert. Für die therapeutische Arbeit mit den Opfern ist dies ein wesentlicher Unterschied. Hier geht es nicht mehr vor allem darum, die Abwehr zu stärken, um nicht von Gefühlen überflutet zu werden, sondern um die Deutung der Idealisierung des Täters und die Umkehrung der Täter- und Opferrolle – bei Folter um die Korrektur der Selbstvorwürfe und die Wiedererlangung des Vertrauens in sich und andere, denn die Angst vor dem inneren Objektverlust liegt irrationalen Selbstvorwürfen zugrunde.

5.3

Erinnerungen an psychisch weitgehend integrierte traumatische Erfahrungen

Erinnerungen bei psychisch weitgehend integrierten traumatischen Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass die traumatische Erfahrung Teil der eigenen Lebensgeschichte geworden ist. Das Erlebnis der Folter kann als Vergangenes wahrgenommen werden, das zwar nicht ausgelöscht ist, aber nicht mehr aktuell das Empfinden bestimmt. Betroffene versuchen sich jetzt in die gegenwärtige soziale Situation zu integrieren. Dabei ist therapeutisch besonders auf den sozialpolitischen Kontext und die Exilsituation des Opfers zu achten. Überlebende von Folter sind häufig gezwungen, Asyl im Ausland zu suchen, soweit sie nicht nach ihrer Freilassung zwangsweise exiliert worden sind. Zu den psychischen Anforderungen, die die Bewältigung der erlebten Extremtraumatisierung erfordert, kommen noch zusätzliche Belastungen hinzu: die Migrationserfahrung – Flucht, Trennung oder Verlust von Bezugspersonen –, die Postmigrationserfahrung – Sprachprobleme, Kulturschock, finanzielle Sorgen –, Akkulturationsstress – unterschiedliche Normen gegenüber dem Heimatland,

Erinnerung und Traumabearbeitung

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aber auch Belastungen in der eigenen Familie, die durch die neuen Lebensbedingungen entstehen. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Betrachten wir Erinnerungen an traumatische Erfahrungen, fällt auf, dass vor allem zu Beginn des Verarbeitungsprozesses die Rekonstruktion traumatischer Erfahrungen sich von der Bearbeitung unbewusster Phantasien unterscheidet: Die Affektintensität ist überwältigend, Erinnerungen an traumatische Erfahrungen zeigen sich in bildhafter, sensomotorischer und affektiver Form. Flashbacks und Inszenierungen sind Abbilder der traumatischen Situation. Diese stellen die Wirklichkeit dar – sie sind keine Fiktionen. Erst mit der Milderung der mit traumatischen Erinnerungen einhergehenden Gefühle werden Erinnerungen aufgrund von Abwehrvorgängen überarbeitet. Um zentrale Phantasien aufrecht zu erhalten, wird selektiv erinnert. Erinnerungen entsprechen nicht mehr in allen Aspekten der Wirklichkeit und dem Erleben in der traumatischen Situation. Abschließend bleibt zu bemerken, dass bei Folter die Grenzen der Verarbeitungsfähigkeit überschritten sind. Auch als Beobachtende stoßen wir bei der Wahrnehmung von solch unsäglicher Gewalt an unsere Grenzen: Das ist doch nicht menschenmöglich, ein Albtraum, ein Film. Wie die Opfer verleugnen wir die Realität solcher Grausamkeit und versuchen unser Selbst- und Weltverständnis aufrecht zu erhalten, indem wir Realität zur Fiktion werden lassen.

Literatur Antonovsky, Aaron: Unraveling the Mystery of Health. San Francisco 1987. Barwinski Fäh, Rosmarie: Traumabearbeitung in psychoanalytischen Langzeitbehandlungen. Kröning 2005. Barwinski, Rosmarie: Die erinnerte Wirklichkeit. Zur Bedeutung von Erinnerungen im Prozess der Traumaverarbeitung. Kröning 2009. Bohleber, Werner : Trauma, Identifizierung und historischer Kontext. In: Psyche, 51, 1997, S. 958 – 995. Fischer, Gottfried und Peter Riedesser : Lehrbuch der Psychotraumatologie. München 1998. Kohut, Heinz: The Analysis of the Self. New York 1971. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. In: Ders.: Gesammelte Werke Band XIII. Frankfurt am Main 1999/1923, S. 237 – 289. Krystal, Harvey : Psychische Widerstandsfähigkeit: Anpassung und Restitution bei Holocaust-Überlebenden. In: Psyche, 54, 2001, S. 840 – 860. Soeder, Thomas: Männer als Objekt sexualisierter Gewalt. In: Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft und Psychologische Medizin, 13, 2011, S. 47 – 60. Ulmann, Richard B. und Doris Brothers: The Shattered Self. A Psychoanalytic Study of Trauma. London 1988.

Dima Zito

Arbeit mit dem Unaussprechlichen. Therapie mit Überlebenden von Folter

Überlebende von Folter, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, leben lange in einer Situation, die psychische Belastungen verschärft und chronifiziert. Psychosoziale Arbeit kann dazu beitragen, Bedingungen zu schaffen, in denen das Überlebte erzählbar wird und verarbeitet werden kann. Dieser Beitrag ist aus der Beratungspraxis im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge entstanden und beschäftigt sich mit den Fragen: Welche Folgen hat Folter? Auf welche Bedingungen treffen Überlebende hier? Wie kann psychosoziale Arbeit und Therapie angesichts dieser Bedingungen aussehen?1

1.

Folgen der Folter – traumatypische Reaktionen

Ein Trauma bedeutet nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation »einem belastenden Ereignis oder einer Situation mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß ausgesetzt sein, die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde« (ICD 10: F 43.1). Dabei haben nicht alle Traumatisierungen die gleichen Folgen. Folter ist ein »man-made-disaster«, also eine willentlich von Menschen herbeigeführte Traumatisierung, durch die das Vertrauen in die Welt und andere Menschen grundlegend erschüttert und die Fähigkeit zur Interaktion und Narration beeinträchtigt wird. »Aufgrund dieser Folter konnte ich in den ersten anderthalb Jahren im Gefängnis überhaupt nicht sprechen. Jetzt stottere ich, das kommt von der Folter. Sie haben mich so gefoltert, dass ich Angst hatte, überhaupt zu sprechen und auch kein Vertrauen. Als ich ins Gefängnis gebracht wurde, wollte ich auch mit meinen Freunden, die ich kannte, nicht sprechen, weil ich Angst hatte, dass sie auch Agenten sind und sie versuchen Informationen aus mir herauszulocken um sie weiter zu geben. Deshalb hat es so große Wirkung 1 Die Zitate im Text stammen aus Interviews, welche die Verfasserin im Rahmen ihrer Dissertationsarbeit mit Überlebenden von Folter geführt hat. Die Namen der Interviewpartner wurden verändert.

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Dima Zito

auf mich gehabt, vor Angst, Schock und dieses Misstrauen« (Deniz T., Kurde aus der Türkei).

Wie entwickeln sich diese traumatypischen Reaktionen bei Überlebenden von Folter, welche Wechselwirkungen ergeben sich im Asylverfahren und wie kann in der Therapie damit umgegangen werden?

1.1

Posttraumatische Belastungsstörung als Folge von Folter

Die häufigste Traumafolgestörung ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit einer typischen Symptomatik von Wiedererleben, Vermeidung und erhöhter angstbedingter Erregung. Wiedererleben: Traumatische Ereignisse können aufgrund verschiedener hirnorganischer Mechanismen nicht als normale Erinnerungen gespeichert werden. Das Erlebte bleibt unverarbeitet, zersplittert, drängt sich immer wieder in intensiven Erinnerungsbildern oder Alpträumen ins Bewusstsein. Das Wiedererleben kann durch visuelle, akustische oder olfaktorische Reize ausgelöst werden, die an die traumatische Situation erinnern, und geht einher mit einer intensiven psychischen Belastung, häufig auch körperlichen Reaktionen wie Zittern, Herzrasen oder Atemnot. Die Erinnerungen können in Form von flashbacks eine solche Intensität annehmen, dass die Betroffenen das Gefühl haben, sie seien in diesem Moment wieder der traumatischen Situation ausgesetzt. »Wenn ich auf der Straße gehe, manchmal sehe ich Menschen, die so aussehen wie diese Menschen, die mich im Gefängnis gefoltert haben. Sofort bekomme ich Angst. Oder erinnere ich mich an diese Zeiten. Es gab bei der Folter eine Art von Parfüm. Und es gibt dieses Parfüm auch hier. Manchmal, wenn ich auf der Straße bin und ich rieche dieses Parfüm, dann sofort bin ich zurück in diesen Zeiten. Und ich bekomme Angst, ich zittere« (Deniz T.).

Vermeidung: Um sich diesen belastenden Gefühlen nicht auszusetzen, vermeiden traumatisierte Menschen bewusst und unbewusst Reize, die an das Erlebte erinnern – beispielsweise Filme mit Gewaltszenen oder die Begegnung mit Uniformierten. Viele vermeiden es, zur Ruhe zu kommen, damit sie nicht anfangen, über das Erlebte nachzudenken. Sie vermeiden das Gespräch über ihre Erlebnisse. Diese Vermeidung kann auch im Asylverfahren oder in der Therapie wirksam sein – mit gravierenden Folgen für den Aufenthalt oder die Möglichkeit der Verarbeitung. Vermeidung findet auch unbewusst statt. Überlebende extremer Gewalt haben teilweise Amnesien für das traumatische Erlebnis selbst, oder auch für die Zeit davor und danach. Die Vermeidung kann sich in Symptomen wie extremer Vergesslichkeit und Orientierungsschwierigkeiten zeigen

Arbeit mit dem Unaussprechlichen

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und sich ausweiten zu einem generellen Gefühl der Gefühllosigkeit und der Entfremdung von der Welt. Erhöhte angstbedingte Erregung: Die Betroffenen befinden sich in einem Zustand extremer Wachsamkeit und permanenter Anspannung, die unter anderem zu Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten, starken Schreckreaktionen oder Reizbarkeit führen kann. Insgesamt reaktiviert die PTBS-Symptomatik die Vergangenheit, und so immer wieder die Erfahrung des Ausgeliefertseins in der Folter, wodurch die Verarbeitung des Erlebten hin zum Narrativ erschwert wird. »Das ist schwer zu vergessen. Manchmal in diesen Alpträumen stehe ich auf, ich muss fünf, sechs Minuten, zehn Minuten oder noch länger denken: Bin ich zuhause? Bin ich im Gefängnis? Bin ich in Deutschland? Also, ich brauche auch viel Zeit, wenn ich aus dem Bett raus komme, mir zu überlegen, wo eigentlich bin ich« (Deniz T.).

1.2

Entwicklung von Traumafolgestörungen im Kontext belastender Lebensbedingungen

Ob ein Mensch nach einem traumatischen Erlebnis psychische Folgestörungen wie die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt oder nicht, hängt von einem Zusammenwirken von Ereignis-, Schutz- und Risikofaktoren ab. Überlebende von Folter sind besonders gefährdet. Die Ereignisfaktoren bei Folter stellen in Qualität (Intensität, Brutalität) und Quantität (Häufung, Dauer) eine maximale Belastung dar (Drees, 1997; Maier, 2007). Der wichtigste Schutzfaktor in oder nach traumatischen Situationen ist soziale Unterstützung. Diese ist bei der Folter jedoch unterbunden, das Opfer ist meist alleine und gänzlich ausgeliefert. Risikofaktoren können einerseits Belastungen sein, die bereits vor der traumatisierenden Situation bestanden haben – z. B. frühere belastende Erfahrungen oder psychische Erkrankungen – aber auch in der Lebenssituation nach der traumatischen Erfahrung liegen. Die Bedingungen, unter denen Überlebende von Folter als Flüchtlinge in Deutschland leben, sind mit zahlreichen Risikofaktoren verbunden. Das Leben in Aufnahmelagern und Flüchlings-Sammelunterkünften, oft in Mehrbettzimmern, verbunden mit häufiger Unruhe, Konflikten, teilweise Polizei-Razzien oder Abschiebungen, ist für Überlebende von Folter ein extremer Stress- und somit Risikofaktor. Dazu kommen gravierende Einschränkungen des eigenen Handlungsspielraums, welche Gefühle des Ausgeliefert- und Ohnmächtigseins verstärken, beispielsweise durch ein Arbeitsverbot, die extreme Armut aufgrund der Vorgaben des Asylbewerberleistungsgesetzes und der damit einhergehenden beschränkten gesellschaftlichen Teilhabe. Eine Reihe internationaler Studien belegt den Zusammenhang zwischen

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Dima Zito

belastenden Nach-Flucht-Lebensbedingungen, ungesicherten Zukunftsperspektiven und psychischen Erkrankungen bei Flüchtlingen (Silove et al., 1997/ 1998). Eine dänische Studie (Hallas et al., 2007) belegt anhand der Unterlagen von 4.516 Flüchtlingen, dass psychische Erkrankungen mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Aufnahmezentren für Asylbewerber/innen deutlich ansteigen. Eine vergleichende Studie zur psychischen Verfassung iranischer und afghanischer Flüchtlinge mit befristetem (n = 49) und unbefristetem (n = 67) Aufenthaltsstatus (Momartin et al., 2006) kommt zu dem Ergebnis, dass beide Gruppen ähnlich belastende Gewalt- und Verfolgungserfahrungen vor der Flucht gemacht haben, dass jedoch die Flüchtlinge mit befristetem Aufenthaltsstatus relevant höhere Ausprägungen sämtlicher psychiatrischer Symptome sowie Einschränkungen in der Funktionalität zeigten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bedingungen des Aufenthalts im Exil in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung (Verbesserung oder Verschärfung) psychischer Erkrankungen stehen.

1.3

Weitere Traumafolgestörungen infolge von Folter

Die Belastungssymptome, die Überlebende extremer Traumatisierungen wie Folter erleben, gehen häufig weit über die typische Symptomatik der PTBS hinaus. So leidet die Mehrheit der Traumatisierten unter depressiven Symptomen (Huber, 2003; Maier, 2007). Über den Versuch der Selbstbehandlung mit Alkohol, Drogen oder Medikamenten können Betroffene Suchterkrankungen entwickeln. Zu den häufigsten Trauma-Folge-Symptomen gehören Dissoziationen. Wenn Erlebnisse so überwältigend sind, dass ein Mensch sie in der Situation nicht verarbeiten kann, setzt oft als eine Art Selbstschutz-Mechanismus der Psyche die sogenannte »peritraumatische Dissoziation« ein – die Situation wird als irreal (Derealisation) erlebt, oder es tritt das Gefühl ein, außerhalb des eigenen Körpers zu sein (Depersonalisation), Zeiterleben oder Schmerzempfinden können sich verzerren. Diese Dissoziation trägt dazu bei, dass die traumatische Situation auch im Nachhinein schwer verarbeitet werden kann. Dissoziationen sind Teil der Vermeidungssymptomatik, sie führen dazu, dass der Schmerz des Erlebten nicht gespürt wird. Aufgrund von Traumatisierungen können sich »dissoziative oder Konversionsstörungen« entwickeln, die zu einem »teilweisen oder völligen Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen« (ICD-10: F44) führen können. Gerade Überlebende von Folter leiden häufig an körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Lähmungen, Bewegungsstörungen, Krämpfen oder Sensibilitäts-

Arbeit mit dem Unaussprechlichen

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und Empfindungsstörungen. Häufig können für diese Symptome keine somatischen oder neurologischen Ursachen gefunden werden, sie sind vielmehr im Körper gespeicherte Erinnerungen an die erlittene Gewalt. Eine weitere Form von Dissoziationen sind Amnesien, denen traumatische Ereignisse teilweise oder ganz unterworfen sind, in der Steigerung auch damit verbundene Erlebnisse davor oder danach bis hin zu, in seltenen Fällen, vollständigen Amnesien. Überlebende von Folter sind häufig von einer Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (engl. DESNOS: Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified) betroffen (Herman, 1992). Diese Diagnose ist noch nicht in die Internationalen Diagnosesysteme aufgenommen und bezeichnet weit über die Symptomatik der PTBS hinausgehende schwere Beeinträchtigungen, u. a. in der Affektregulation, im Bewusstsein, in der Selbst- und Körperwahrnehmung und in Beziehungen. Folter und ähnlich gravierende Erfahrungen wie die Gefangenschaft in Konzentrationslagern und langandauernde, unmittelbare Todesgefahr, können zu einer dauerhaften Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD 10: F 62.0) führen. »Eine andauernde, wenigstens über zwei Jahre bestehende Persönlichkeitsänderung kann einer Belastung katastrophalen Ausmaßes folgen. Die Belastung muss extrem sein, dass die Vulnerabilität der betreffenden Person als Erklärung für die tief greifende Auswirkung auf die Persönlichkeit nicht in Erwägung gezogen werden muss. Die Störung ist durch eine feindliche oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt, durch sozialen Rückzug, Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit, ein chronisches Gefühl der Anspannung wie bei ständigem Bedrohtsein und Entfremdungsgefühl gekennzeichnet« (ICD 10: F 62.0).

Das folgende Zitat illustriert das chronische Gefühl der Anspannung, von Angst, Misstrauen und Bedrohung. »Ich mache zehn Schritte nach vorne und dann muss ich immer nach hinten gucken, bis heute, das ist der Einfluss von damals. Die Polizei, wenn ich die Polizei sehe, habe ich sofort Angst, obwohl ich weiß, dass ich jetzt in Deutschland bin. Ich sehe diese Waffen, die Pistole. […] Waffen haben mit Menschentötung zu tun, da habe ich immer Angst. Auch hier in Deutschland, durch Stimmen hier, davon, Polizei zu sehen. Kein Vertrauen, immer nach vorne zu gucken und nicht nach hinten. Abends zum Beispiel kann ich nicht raus gehen, habe ich Angst, dass jemand vielleicht eine Falle für mich geplant hat um mich zu töten« (Deniz T.).

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2.

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Überlebende von Folter als Flüchtlinge

Im Asylverfahren beantragen Menschen den Schutz vor Abschiebung in einen Staat, in dem ihnen Verfolgung oder Folter droht. In der Regel können Menschen auf der Flucht keine Beweismittel vorlegen, die ihren Schutzbedarf belegen. Sachbearbeiter/innen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entscheiden nach der Anhörung der Betroffenen, also auf Grundlage ihrer Narration, ob die angeführte Verfolgung ›Wirklichkeit‹ oder ›Fiktion‹ ist, ob ihnen Schutz gewährt wird oder nicht. Bei der Anhörung im Asylverfahren wird eine schlüssige Narration erwartet, die Betroffenen müssen ihre Fluchtgründe umfassend, detailliert, nachvollziehbar und widerspruchsfrei schildern. Von dieser Anforderung sind gerade Überlebende von Folter oft überfordert. Einerseits erschweren traumatypische Symptome wie Vermeidung und Amnesien eine solche Narration. Dazu kommt die Scham, über Erniedrigungen bei der Folter oder Vergewaltigungen zu sprechen. Die bürokratische Atmosphäre, in der die Anhörung durchgeführt wird, kann Erinnerungen an Verhöre und somit Angst hervorrufen. Das Misstrauen, unter dem viele Überlebende von Folter leiden, kann zu der Befürchtung führen, Informationen könnten an Behörden des Heimatlandes weiter gegeben werden. Auch wenn keine akute Verfolgung mehr droht, kann die Rückkehr in das Herkunftsland unmöglich sein, beispielsweise, wenn dort die Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung nicht gewährleistet ist. Bei Menschen, die aufgrund extremer Gewalt schwer traumatisiert sind, besteht bei einer Abschiebung die Gefahr von Retraumatisierungen und der psychischen Dekompensation. Ihnen kann Abschiebeschutz aus humanitären Gründen zugesprochen werden.2 Eine Studie der Psychologischen Forschungs- und Modellambulanz für Flüchtlinge der Universität Konstanz kam zu dem Ergebnis, dass ca. 40 % der Asylantragsteller/innen unter einer PTBS leiden (Gäbel et al., 2006). Auch geschulte Mitarbeiter/innen des Bundesamtes erkennen die Belastung oft nicht. Die Situation des schwebenden Asylverfahrens bedeutet eine oft jahrelange Unsicherheit für die Betroffenen. Aktuell beträgt die Verfahrensdauer durchschnittlich 15 Monate (BAMF, 2010, S. 55), oft schließt sich ein Klageverfahren gegen die Ablehnung an. Die Lebensbedingungen im Asylverfahren sind von 2 Nachdem 1993 das Grundrecht auf Asyl drastisch eingeschränkt wurde, wurde nur noch wenigen Flüchtlingen im Asylverfahren Schutz zugesprochen. Dies gipfelte 2006 darin, dass nur 0,8 % der Antragsteller als Asylberechtigte nach § 16a GG anerkannt wurden und weitere 5,6 % Abschiebeschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder aus humanitären Gründen erhielten. Die extrem restriktive Entscheidungspraxis des BAMF hat sich in den letzten Jahren leicht verbessert. 2010 wurde insgesamt 21.6 % der Asylbewerberinnen und Asylbewerber Schutz zugesprochen (BAMF, 2011).

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Einschränkungen und Marginalisierung geprägt. Insbesondere für Menschen, die durch Folter oder andere traumatische Erlebnisse psychisch belastet sind, ist diese Situation extrem ungünstig. In den ersten drei Monaten des Aufenthalts in Deutschland müssen Flüchtlinge sich in einem Erstaufnahmelager aufhalten, bevor sie auf Kommunen verteilt werden. Die Lagersituation kann bei Menschen, die inhaftiert oder gefoltert worden sind, belastende Erinnerungen an Haft und Ausgeliefertsein triggern. »Wir alle müssen uns in einer Reihe anstellen, wie eine Reihe Gefangener, wissen Sie? Wieder anstellen und auf das Essen warten, wissen Sie? Das war einfach wie in dem Gefängnis, wo du gewesen bist, wo ich herkam, aufs Essen warten. […] Kein Unterschied. Wo bin ich? Und unter strikter Kontrolle, strenge Sicherheitsmaßnahmen, alles, wissen Sie? (atmet aus) […] Eine Erfahrung wie: ›Wofür ist das? Wird es so mein Leben lang sein?‹ In einem Lager sein, eingezäunt, du kannst nicht raus, sie sagen dir, was du tun musst, sie bestimmen, was du isst« (David K. aus Sierra Leone).

Nach der Verteilung auf die Kommunen sind Flüchtlinge verpflichtet, in Asylbewerberunterkünften zu leben. Häufig handelt es sich dabei um Container oder ehemalige Kasernen. Die langen Flure, Mehrbettzimmer, Gemeinschaftsduschen, Razzien und Abschiebungen können traumatische Erinnerungen an Gefängnisaufenthalte triggern. »Als ich im Gefängnis war, war ich – ich erinnere mich, ich wurde verhaftet zusammen mit einem Jungen, der hieß Joshua, wir waren im gleichen Wohnheim, und dann später, einige Monate später, als wir im Gefängnis waren, starb er, und ich blieb fast das ganze Wochenende lang zusammen mit seiner Leiche und einigen anderen Leichen in der Zelle. […] Der erste Platz, an dem ich wohnte [das Flüchtlingswohnheim in Deutschland, D.Z.], es war nicht so schön, es war wie – die Art, wie es gebaut war, ich meine, es war so kompliziert. Es hatte einen langen Korridor, einen sehr langen Korridor, und in dem Raum, in dem ich wohnte, habe ich zusammen mit einigen anderen Leuten geschlafen. Einige haben auf dem Boden geschlafen, und es war wirklich nicht so leicht für mich, es brachte mir Erinnerungen zurück. Jemanden zu sehen, der einfach auf dem Boden schläft, hat mich immer meinen Freund sehen lassen, wenn ich geschlafen habe, zwischen den beiden« (Salomon D. aus Uganda).

3.

Therapie mit Überlebenden von Folter »Die Angst geht nicht weg. Therapie ist gut, es hilft, aber meiner Meinung nach, es wird nicht alles – also, diese alten Zeiten auslöschen« (Deniz T.).

Ein Grundstein spezifischer Ansätze zur Behandlung von Folterüberlebenden ist die Narration. Vorreiter ist die Testimony-Therapy, die noch während der Pinochet-Diktatur in Chile entwickelt wurde (Cienfuegos/Monelli, 1983). Dabei berichten Betroffene detailliert, was ihnen widerfahren ist, legen »Zeugnis« ab

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im Gespräch mit den Therapeuten und Therapeutinnen, welche die geschilderten Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Die im Therapieverlauf entstandenen Zeugnisse sollten auch für die Verfolgung der Täter/innen genutzt werden können. Die narrative Expositionstherapie (NET, Schauer et al., 2004) entwickelt dieses Modell weiter. Die Klientin oder der Klient schildert im Verlauf mehrerer Therapiesitzungen detailliert und in chronologischer Reihenfolge die gesamte Lebensgeschichte, verwandelt sie so in eine Narration, die von der Therapeutin oder dem Therapeuten aufgezeichnet wird. Unterstützt wird das Verfahren durch Symbolisierungen: Mit einem Seil wird eine Lebenslinie dargestellt, anhand von Blumen und Steinen werden darauf positive und negative Lebensereignisse verortet. Somit werden auch die traumatischen Erlebnisse in Raum und Zeit verortet und können in die Biografie integriert und letztlich verarbeitet werden. Sowohl die Testimony-Therapy als auch die narrative Expositionstherapie setzen voraus, dass Klienten und Klientinnen bereits im Vorfeld über eine gewisse Stabilität verfügen, dass sie in der Lage zur Narration und zur Konfrontation mit den traumatischen Erfahrungen sind. Dies ist bei traumatisierten Flüchtlingen, insbesondere Überlebenden von Folter, häufig nicht der Fall. Eine zu frühe Konfrontation mit traumatischen Erlebnissen kann die Betroffenen durch eine Überflutung mit sehr belastenden und bedrohlichen Erinnerungen und Gefühlen extrem destabilisieren bis hin zum Zusammenbruch (Dekompensation). Die meisten traumatherapeutischen Verfahren3 unterscheiden drei Phasen der Behandlung: die Stabilisierungsphase, die Phase der Traumabearbeitung und die Integrationsphase.4 In der Arbeit mit schwer traumatisierten Menschen wie Überlebenden von Folter nimmt die Stabilisierung in der Regel den größten Raum ein. Am Anfang der Stabilisierungsphase steht der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung. Dies ist eine besondere Herausforderung für Klienten und Klientinnen, die durch menschliche Gewalt traumatisiert wurden. Für sie ist es oft schwer, wieder Vertrauen in andere Menschen zu fassen. Ebenso kann es für Flüchtlinge, die Ablehnung durch Repräsentanten und Repräsentantinnen deutscher Institutionen erfahren haben, eine Hürde sein, sich einem deutschen Therapeuten oder einer Therapeutin anzuvertrauen. Von Seiten des

3 Zur Behandlung von Traumafolgestörungen sind in den letzten Jahren eine Reihe von Therapieverfahren entwickelt und weiter entwickelt worden, u. a. Fischer/Riedesser (1999); Flatten et al. (2001); Huber (2003); Reddemann (2001); Shapiro (1998); van Der Hart/Nijenhuis/Steele (2006); van der Kolk (2000). 4 Das Phasenmodell ist idealtypisch zu verstehen, in der Praxis können die Phasen nicht immer Schritt für Schritt nacheinander abgearbeitet werden.

Arbeit mit dem Unaussprechlichen

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Therapeuten besteht die Herausforderung in der Bereitschaft, das Misstrauen auszuhalten, sich testen zu lassen. »Die Therapeutin ist für mich eine große Hilfe. Sie hat mit ihrer Therapie mir so ein Vertrauen- also, ich hab Vertrauen gewonnen und ich habe auch zu ihr viel Vertrauen. Ich weiß auch ganz genau, wenn es mir nicht gut geht, dass sie mir hilft. Auch wenn ich Probleme habe, dann hilft sie mir und das ist die erste Voraussetzung, dass ich Fortschritte gemacht habe« (Deniz T.).

Zur Stabilisierungsphase gehört es auch, äußere Sicherheit zu schaffen. Ohne soziale Stabilisierung ist langfristig keine psychische Stabilisierung möglich. Dazu ist ein ganzheitliches Vorgehen, die Kooperation mit anderen Fachkräften (Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, Rechtsanwälten …) notwendig. Wichtige Schritte sind die Absicherung des Aufenthalts, die Verbesserung der Unterbringungssituation, die Schaffung einer Tagesstruktur (z. B. Ausbildung, Arbeitserlaubnis) sowie die Behandlung eventueller körperlicher Erkrankungen, Infektionen oder Verletzungen. Damit aus der erlebten, überwältigenden Wirklichkeit der Folter eine Narration werden kann, muss Kommunikation ermöglicht werden. Dazu ist einerseits ganz basale Verständigung notwendig – wenn Therapeut und Klientin keine gemeinsame Sprache sprechen, sollten Sprach- und Kulturmittler/innen hinzugezogen werden.5 Andererseits geht es darum, einen Raum zu schaffen, in dem das Sprechen wie das Schweigen (aus-)gehalten wird, das Erlebte darf, aber muss nicht ausgesprochen werden. Häufig ist die Rolle der Therapeutin die der stellvertretenden Zeugin des erlittenen Unrechts, ebenso stellvertretend findet durch sie eine Anerkennung durch die Aufnahmegesellschaft und eine Würdigung des Erlittenen statt. Ebenso wichtig ist die Würdigung des Bedürfnisses sowohl nach Autonomie als auch nach Orientierung: Überlebende von Folter tragen die Erfahrung in sich, ausgeliefert und ohnmächtig zu sein. Das Gefühl des Ausgeliefert- und Ohnmächtigseins wird in ihrer Position als Flüchtling in Deutschland immer wieder reaktiviert, sie erleben, dass über sie hinweg entschieden und verfügt wird. Die Therapie kann ein Raum sein, in dem Autonomie gewürdigt wird, ihre Haltungen und Entscheidungen ernst genommen und respektiert werden. Ebenso gibt es das Bedürfnis nach Orientierung, gerade angesichts der überwältigenden Symptomatik. Informationen über typische Traumareaktionen, durch die das eigene Erleben eingeordnet werden kann, Verhaltens-Ratschläge und konkrete Übungen werden oft als entlastend empfunden. In der Therapie werden Selbsthilfemöglichkeiten trainiert, die den Betroffe5 Informationen zum Einsatz von Sprach- und Kulturmittler/innen in der psychosozialen Arbeit unter Amadou (2011); Ghaderi (2008); Rauch (2011); van Keuk (2011).

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nen dabei helfen, besser mit den traumatypischen Belastungen und Symptomen umzugehen und Sicherheit zu gewinnen. Gerade die Arbeit mit inneren Bildern kann sehr hilfreich sein. So können Überlebende von Folter mittels konkreter Übungen (z. B. mit der »Tresor-Übung«, Huber, 2003) lernen, sich von intrusiven Erinnerungsbildern zu distanzieren. Sie können trainieren, Dissoziationen mit Reorientierungsübungen zu stoppen und ihre Selbstwahrnehmung mit Achtsamkeitsübungen verbessern. Wenn die Lebensbedingungen des ungesicherten Aufenthalts und der Unterbringungssituation kein Gefühl realer Sicherheit im Alltag zulassen, kann das erlebte Gefühl von Sicherheit und Aufgehobensein im therapeutischen Kontakt, im Therapiezimmer eine wichtige Erfahrung sein, an welches die Klienten und Klientinnen anknüpfen können. Insgesamt ist es in der Stabilisierungsphase wichtig, die Ressourcen der Klient/ innen zu stärken, sie dabei zu ermutigen und unterstützen, wohltuende Aktivitäten (wieder) aufzunehmen und auszubauen – das kann Sport sein, spazieren gehen, kochen, Musik hören usw. Bei ausreichender Stabilisierung, z. B. wenn weitgehende soziale Sicherheit geschaffen wurde und die traumaspezifische Symptomatik abgenommen hat und die Klientin oder der Klient mithilfe der erlernten Techniken gelernt hat, damit umzugehen, kann die traumatische Erfahrung selbst mit spezifischen Verfahren bearbeitet werden. Dieser Schritt kann sehr wichtig sein, da unverarbeitete Traumatisierungen über die Konfrontation mit ähnlichen Reizen (Bilder, Gerüche…) immer wieder ausgelöst werden können, d. h. belastende Erinnerungen gekoppelt mit den entsprechenden Gefühlen ausgelöst werden können (s. o.). Bei der Traumabearbeitung geht es darum, eben nicht unkontrolliert von bedrohlichen Erinnerungsbildern und Gefühlen überschwemmt zu werden, sondern die traumatische Situation kontrolliert zu durchleben. Dabei können die isoliert voneinander gespeicherten Elemente (Erinnerungsbilder, Gefühle, Körperempfindungen und Gedanken) wieder zusammengefügt, die traumatischen Erfahrungen weiter verarbeitet und als Vergangenheit gespeichert werden. Die Betroffenen machen dabei die Erfahrung, dass sie sich dem Erlebten stellen können und die befürchtete Katastrophe ausbleibt. Sie bewältigen die Vermeidung und Angst vor dem traumatischen Erlebnis und gewinnen weitere Kontrolle über ihr Leben. Ein bewährtes Verfahren der Traumabearbeitung ist beispielsweise die Bildschirmtechnik. Unter therapeutischer Anleitung imaginiert die Klientin oder der Klient einen Bildschirm, auf dem das traumatische Erlebnis von einem vorher klar definierten Anfang und bis zu einem definierten Endpunkt als Film visualisiert wird. Die Klientin oder der Klient kann den Ablauf des Films, Farben, Lautstärke, Bildgröße etc. mit einer imaginierten Fernbedienung kontrollieren und somit Kontrolle über die belastenden Bilder und Gefühle gewinnen (Huber, 2003). Gerade bei schwer belasteten Menschen wie Folterüberlebenden ist eine ex-

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plizite Traumabearbeitung nicht immer möglich und/oder von den Betroffenen erwünscht. Die notwendige Stabilität kann nicht immer erlangt werden, entweder weil die psychischen Verletzungen zu gravierend sind, oder aber auch weil sich das Gefühl aktueller Sicherheit nicht herstellen lässt, weil im Äußeren, in den Lebensbedingungen keine Sicherheit gewonnen werden kann. Viele Betroffene wollen explizit nicht an die traumatischen Ereignisse erinnert werden und lehnen eine Traumakonfrontation ab. Für sie besteht das Therapieziel in der Symptomreduktion, dem verbesserten eigenen Umgang mit traumatypischen Symptomen. In diesen Fällen ist die Stabilisierung ein ausreichendes Therapieziel (Hanswille/Kissenbeck, 2008). Die erfolgreiche Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen besteht letztlich in der Integration der traumatischen Erfahrungen in die Lebensgeschichte, so dass sie als örtlich und zeitlich begrenzte schreckliche Vorfälle in der Vergangenheit eingeordnet werden können. Auch Überlebende von Folter können sich so wieder einem positiveren Selbst- und Weltbild annähern, in dem Sicherheit und Kontrolle möglich sind, und ihre Energien darauf richten, Zukunftsperspektiven aufzubauen. »Mit der Therapeutin kann ich mich bezeichnen als ein Kind, das neu leben gelernt hat, neu angefangen hat, Leben zu lernen. […] Die Situation hat sich sehr verbessert, man kann es auch nicht vergleichen. Früher konnte ich überhaupt nicht sprechen, oder nur schwer sprechen. Jetzt kann ich sprechen, ich bin auch der Meinung, wenn es weiter geht, wird meine Situation noch besser. […] Ich versuche, den langen und schwierigen Weg zu finden, dass ich selber etwas tue. […] Ich will mein Leben neu und selber gestalten« (Deniz T.).

Literatur Amadou, Abdoulaye: Fallstricke aus der Sicht eines Sprach- und Kulturmittlers. In: van Keuk, Eva; Ghaderi, Cinur; Joksimovic, Ljiljana und Dagmar M. David (Hrsgg.): Diversity – Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern. Stuttgart 2011, S. 268 f. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl. Ausgabe März 2011. Im Internet einsehbar unter : http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.pdf ?__blob= publicationFile (28. 04. 2011). Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2010): Asyl in Zahlen 2009. Im Internet einsehbar unter : http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/broschuere-asyl-in-zahlen-2009.pdf ?__blob=publicationFile (28. 04. 2011). Cienfuegos, Ana Julia und Cristina Monelli: The Testimony of Political Repression as a Therapeutic Instrument. In: American Journal of Orthopsychiatry, 53, 1983, S. 43 – 51. Drees, Alfred: Folter : Opfer, Täter, Therapeuten. Gießen 1997.

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thologie und Behandlung im Kontext von Flüchtlingen und Opfern organisierter Gewalt. Frankfurt am Main 1995. Rauch, Sabine: Soziale Arbeit mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Sprachen. In: van Keuk, Eva et al. (Hrsgg.): Diversity – Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern. Stuttgart 2011, S. 261 – 265. Reddemann, Luise: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit Ressourcenorientierten Verfahren. München 2001. – Psychodynamisch-imaginative Traumatherapie PITT – Das Manual. Stuttgart 2004. Schauer, Margarete; Neuner, Frank und Thomas Elbert: The Victim’s Voice: Manual of Narrative Exposure Therapy for the Treatment of Victims of War and Torture. Göttingen 2004. Shapiro, Francine: EMDR – Grundlagen und Praxis. Handbuch zur Behandlung traumatisierter Menschen. Paderborn 1998. Silove, Derrick M.; Steel, Zachary ; McGorry, Patrick und Paul Mohan: Trauma Exposure, Postmigration Stressors, and Symptoms of Anxiety, Depression and Post-Traumatic Stress in Tamil Asylum-Seekers: Comparison with Refugees and Immigrants. In: Acta Psychiatrica Scandinavica, 97 (3), 1998, S. 175 – 181. Silove, Derrick; Sinnerbrink, Ingrid; Field, Annette; Manicavasagar, Vijaya und Zachary Steel: Anxiety, Depression and PTSD in Asylum Seekers: Associations with Pre-Migration Trauma and Post-Migration Stressors. In: The British Journal of Psychiatry, 170, 1997, S. 351 – 357. van der Kolk, Bessel A.; McFarlane, Alexander C. und Lars Weisaeth (Hrsgg.): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Paderborn 2000. van Keuk, Eva und Cinur Ghaderi: Leitfaden zum Einsatz von Dolmetschern bzw. Sprachund Kulturmittlern. In: van Keuk, Eva et al. (Hrsgg.): Diversity – Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern. Stuttgart 2011, S. 266 – 267. van Keuk, Eva; Ghaderi, Cinur; Joksimovic, Ljiljana und Dagmar M. David (Hrsgg.): Diversity – Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern. Stuttgart 2011. Weltgesundheitsorganisation (WHO)/Dilling, Horst; Mombour, Werner ; Schmidt, Martin H. und Elisabeth Schulte-Markwort (Hrsgg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) – Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. Bern 2006. Zito, Dima: Alleine konnte ich das nicht schaffen. Psychische Belastung und Therapie bei jungen Flüchtlingen. In: Dieckhoff, Petra (Hrsg.): Kinderflüchtlinge – theoretische Grundlagen und berufliches Handeln. Wiesbaden 2010, S. 113 – 140.

Franziska Henningsen

Psychisches Trauma-Narrativ. Psychoanalytische Wege zum Verstehen

In meiner Arbeit als Gutachterin für traumatisierte Folteropfer und Kriegsflüchtlinge verwende ich gerne ein Zitat von Dori Laub, das betont, wie hilfreich es sein kann, ein Zeugnis über die Traumatisierung zu erstellen, damit das Trauma als ein Teil der seelischen Realität anerkannt werden kann (vgl. Henningsen, 1990): »Für die Etablierung und Wahrheit des Traumas, das vorher selbst von den Beteiligten nicht zu assimilieren und unfassbar war, ist die Zeugenrolle wichtig, weil sie das Ergebnis, wenn auch verspätet, zu einer Erfahrung macht, die als reales, persönliches historisches Geschehen stattgefunden hat und mitgeteilt werden kann. […] Die Herstellung eines Dokuments, das greifbar ist und betrachtet werden kann, wirkt Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Spaltung und Verdrängung entgegen. Schon allein die Tatsache, dass ein solches Dokument hergestellt wurde, dass es existiert, macht es den Opfern leichter, das Ereignis als real und mitteilbar zu erkennen« (Laub/Weine, 1994, S. 1118).

Grundsätzlich können ein Gerichtssaal, Medien, Psychotherapien und auch biografische Forschungen eine den Symbolisierungsprozess fördernde Funktion haben. Dies ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft und steht in krassem Gegensatz zu einer Sensationen heischenden und an der Auflagensteigerung interessierten Presse, die das Opfer erneut beschämt und retraumatisiert. Die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung hat eigens für die Klärung des Verhaltens der Psychoanalytiker im öffentlichen Diskurs eine lesenswerte Stellungnahme erarbeitet (Allert, 2010), die die verschiedenen Dimensionen des Opfer- und Täterschutzes verdeutlicht. Den bei mir vorstellig werdenden Kriegsflüchtlingen rate ich stets, dass sie sich mein Gutachten von ihrem Anwalt aushändigen lassen sollen und als Dokument aufbewahren. Sie können damit später unter Umständen ihren Kindern und Kindeskindern besser erklären, was geschehen ist. Im Folgenden soll die seelische Situation des Traumaopfers verdeutlicht und gezeigt werden, wie eine hilfreiche Begleitung aussehen kann, damit das Opfer

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Franziska Henningsen

verstanden wird und seine Erfahrungen zu einem Narrativ werden können, das ihm in der von Laub und Weine beschriebenen Weise hilft.

1.

Unbewusste Dynamiken – unbewusste Phantasien

Dem analytisch ungeschulten Traumatherapeuten oder Traumadiagnostiker kann mit den gängigen, an Symptomen orientierten Kategorisierungen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach ICD 10 und DSM-IV eine wesentliche Dimension des Traumatisierten entgehen, weshalb ich es für notwendig erachte, eine Transformation der PTBS in einen psychodynamischen Denkansatz unter Einbeziehung der Übertragungsprozesse zu erarbeiten. 1) akute Belastungsreaktion

2) posttraumatische Belastungsreaktion

DSM-IV 309.8 ICD-10 F 43.0

DSM-IV 309.81 ICD-10 F 43.1

Symptome ICD-10: anfangs emotionale Betäubung, dann Wechsel von Depression, Ärger, Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug.

flashbacks

Misstrauen

Vermeidungsverhalten, Amnesie, eingeschränkte Affekte, Hoffnungslosigkeit

sozialer Rückzug

erhöhte EmpfindlichDSM-IV dissoziative keit, Übererregung, Schlaf-, KonzentratiReaktionen ons-, Denkstörungen, übertriebene Schreckhaftigkeit

Zeit

3) andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ICD-10 F 62.0

ICD-10 einige Minu- Länger als ein Monat ten bis max. 3 Tage nach dem Ereignis Auftreten nach Latenz von Wochen, Monaten, DSM: 2 Tage bis Jahren möglich max. 1 Monat

Gefühle der Leere und Hoffnungslosigkeit chronische Nervosität bei ständigem Bedrohtsein Entfremdung, keine zuvor bestehende Persönlichkeitsstörung, keine hirnorganische Störung Mindestens 2 Jahre bestehende Symptomatik

Tabelle 1: reaktive Traumafolgen nach ICD-10 und DSM-IV

Zur Erinnerung sei eine kleine Übersicht der wichtigsten Merkmale einer PTBS vorangestellt (ähnlich bei Schubbe, 2004, S. 15): An der äußeren linken Spalte ist zu erkennen, wie sehr die Objektivierbarkeit der Erkrankung im Vordergrund steht: Es werden bestimmte Merkmale aufgezählt und der Zeitfaktor wird erfasst: das heißt Beginn und Dauer der Erkrankung. Auf ein traumatisierendes

Psychisches Trauma-Narrativ. Psychoanalytische Wege zum Verstehen

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Ereignis mit einer gewissen Dekompensation zu reagieren ist relativ normal und in der Regel auch angemessen. Manchen Menschen gelingt es relativ schnell wieder, ein seelisches Gleichgewicht herzustellen, einige unter ihnen reagieren heftiger als andere. Je nach Ausmaß des Traumas tragen jedoch 10 bis 30 Prozent der Menschen bleibende seelische Schäden davon. Tendenziell ist die Wahrscheinlichkeit der Traumatisierung im Sinne der PTBS am höchsten durch aggressive Angriffe des Menschen auf den Menschen (Missbrauch, Folter, Krieg), es folgen dann schwere Erkrankung und Naturkatastrophen. Diese Patienten werden in den Spalten zur PTBS und/oder der über die andauernde Änderung der Persönlichkeit erfasst. Ich halte diese Unterscheidung für sehr wichtig. Denn sie wirft ein Licht auf die Frage, wann Traumatherapeuten im eigentlichen Sinne gefragt sind und wann nicht. In dem ersten Stadium (Spalte 1) erscheint es mir indiziert, die natürlichen Kräfte einer möglichen Spontanremission zu stützen. So sind z. B. bei Naturkatastrophen zuerst einmal eine warme Decke, Essen, das Wiederfinden der Angehörigen etc. gefragt. Es muss also in erster Linie darum gehen, Lebensbedingungen zu schaffen, die Sicherheit und Vertrauen in die Welt wieder herstellen. Kollektive Traumatherapien, wie sie z. B. nach dem 11. September 2001 durchgeführt wurden, erscheinen mir höchst fragwürdig und auch illegitim. Es hat sich gezeigt, dass viele Menschen erst durch die »TraumaExposition« oder das »Debriefing« krank wurden (vgl. Ehlers, 1999; Fischer, 2000; Sachsse, 2004). Auf die Bedeutung der Resilienzfaktoren, der prätraumatischen Persönlichkeit für Diagnostik und Therapie werde ich eingehen. Allgemein gilt: Der Mensch reagiert auf ein traumatisierendes Ereignis höchst individuell, die Stärke des Traumas, die Persönlichkeitsstruktur des Opfers, seine Lebensbedingungen und sein Entwicklungsstand spielen dabei eine wesentliche Rolle. Mein Beitrag gilt in erster Linie den in den beiden rechten Spalten dargestellten Erkrankungen und dann eben auch als differentia spezifica den Psychoneurosen, bei denen z. B. frühkindliche Traumata eine Rolle spielen.

2.

Zwei Manifestationsformen der chronischen PTBS

2.1 die in der Latenz gehaltene, vermeidende Form der PTBS 2.2 die intrusive, manifeste Form der PTBS Diese zwei Manifestationsformen der chronischen PTBS sind als die Endpunkte eines Kontinuums zu denken. Die Zustände können bei einzelnen Traumatisierten schwanken, sogar während einer Sitzung. Die durch die jeweilige Manifestationsform bedingte Art der Beziehungsgestaltung ist in allen sozialen Situationen zu beobachten. Der analytisch orientierte Therapeut ist allerdings darin geschult, diese Gestaltungsprozesse zu erkennen und für seine Tätigkeit zu

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Franziska Henningsen

nutzen. Hierbei erscheint es mir notwendig, zwischen dem Gefühl und der Reaktion zu unterscheiden, die der Untersucher bzw. der Therapeut entwickelt. Ich habe in zwei Tabellen mögliche Gegenübertragungsgefühle und die daraus resultierenden Gegenübertragungsreaktionen zusammengestellt (vgl. Tab. 2 und 3).

2.1.

Die vermeidende Manifestationsform der PTBS

Ein Patient, der akut unter PTBS leidet, unterscheidet sich deutlich von einem traumatisierten Patienten, dessen Traumaerfahrung bereits zurückliegt und dem es gelungen ist, sein Trauma einzukapseln oder in der Latenz zu halten. Letzterer ist der Patient, der oft in die Analyse kommt, er leidet unter den verschiedensten Symptomen, meist ist auch eine begrenzte Symbolisierungsstörung festzustellen, funktioniert aber eher auf neurotischem Niveau. Im Zuge der Analyse wird dann sein Trauma virulent und wenn es gelingt, die dann sehr schwierige Übertragungsbeziehung zu meistern, wird der Patient sein Trauma in einer zufriedenstellenden Weise integrieren und symbolisieren können. Die Konfrontation mit dem traumatisierten Patienten, der unter einer manifesten intrusiven Form der PTBS leidet, bietet dem Therapeuten die Gelegenheit, das in statu nascendi kennen zu lernen, was der andere Patient in mühevoller Weise abwehrt. Wie bereits erwähnt, lassen sich die beiden Zustände der intrusiven versus in der Latenz gehaltenen oder gar eingekapselten, vermeidenden Manifestationsform einer chronischen PTBS als die Endpunkte eines Kontinuums denken. Die Realität des einzelnen Patienten spielt sich in der Regel zwischen beiden Polen ab und kann schwanken: So kann z. B. bereits der erste Besuch beim Therapeuten oder in einer Beratungsstelle als initiales Übertragungsangebot für den Flüchtling die Wiederholung eines Polizeiverhörs oder einer erlebten Verfolgung bedeuten und das entsprechende paranoide Misstrauen mit intrusiven Symptomen hervorrufen. Bei anderen kann während der Therapie der Tod eines Angehörigen zu erneuten Intrusionen mit dem Vollbild einer PTBS und damit zur Dekompensation führen (Reaktualisierung). Bei Flüchtlingsfamilien ist folgende Struktur häufig anzutreffen: Ein Familienmitglied – meist ein Elternteil – leidet unter dem Vollbild einer PTBS, die anderen Mitglieder sind rund um die Uhr damit befasst, den Traumatisierten zu betreuen. Dabei können diese Familienmitglieder auf dem Wege der projektiven Identifizierung ihr eigenes Leid in den schwer Kranken projizieren. Vermittels der Pflege des Patienten wehren sie ihre eigenen Ängste ab. Der akut PTBSKranke übernimmt in so einem Fall die Rolle des Symptomträgers für die gesamte Familie. Aus diesem Grunde ist es wichtig, familiendynamische Überlegungen in die Diagnostik und Therapie dieser Patienten mit einzubeziehen.

Psychisches Trauma-Narrativ. Psychoanalytische Wege zum Verstehen

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das Trauma in der Latenz (Symptome) Somatisierungen

Gegenübertragungsgefühl Gegenübertragungsreaktion »(pseudo-)normales Gefühl«

Empathiestörung, Distanzierung

hohe Anpassungsleistungen Partielle Denkstörungen

Leere, Bewunderung

Verleugnung von Krankheit

Verunsicherung

Verleugnung

Partielle Dissoziationen

Verunsicherung

Affektarmut

Depression, Leere

Substitution oder Verleugnung Überidentifikation, Distanzierung

Symbolisierungsstörungen Leere Vermeidungsverhalten

Angst (rührt ggf. an ein eigenes Trauma)

Allgemeine Lebenseinschränkung neurotisches Funktionsniveau außerhalb des Traumabereichs

Druck wie bei anderen Patienten

leichte Denkstörung, Mitagieren Vermeidungsverhalten Bevormundung, Vernachlässigung wie bei anderen Patienten

Tabelle 2: Mögliche Übertragungen und Gegenübertragungen bei PTBS mit vorwiegend in der Latenz gehaltenen Intrusionen

Der Prozess der Spaltung oder Einkapselung ist oft bei den Kindern der Flüchtlinge zu beobachten: Sie haben in der Regel dasselbe erlebt wie die Eltern, spüren die Panik und Hilflosigkeit der Situationen aber nicht nur direkt, sondern auch über die Eltern, mit denen sie sich identifizieren. Über die gemeinsamen traumatischen Erfahrungen kann gewöhnlich nicht gesprochen werden. Die Bindung an die Eltern mobilisiert in ihnen viele Abwehr- und Anpassungsleistungen, die dazu beitragen, das aktuelle Leben in Deutschland zu bewältigen. Die Kinder sprechen häufig fehlerfreies Deutsch, bringen es zu hervorragenden Leistungen in der Schule, sie fungieren als Hilfs-Ich für die Eltern, wenn sie bei diversen Behördengängen und Arztbesuchen für die Eltern als Übersetzer tätig sind. Diese Kinder funktionieren der Beurteilung mancher Lehrer zufolge sehr gut, stören auch nicht den Unterricht, sie sind aber in Wahrheit völlig überfordert, denn ihr eigenes Trauma wird in der Latenz gehalten. Hier sind Entwicklungsprozesse zu beobachten, deren Resultate wir aus den Schilderungen der Leiden der zweiten und dritten Generation nach extremen Traumatisierungen kennen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die prominente Rolle der Holocaustforschung und die Prozesse der transgenerationellen Identifizierung verweisen (vgl. Bohleber, 2000; Gampel, 1994; Henningsen, 1990, 2000, 2003 a, b, c; Kogan, 1990, 1995, 2010). Andere Kinder entwickeln eine solche Trauma-Abwehr nicht, sie bleiben den aggressiven

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Franziska Henningsen

Durchbrüchen der Eltern ausgeliefert und sind mit den entsprechenden Intrusionen belastet. Antisoziale Tendenzen, Schulversagen, Depression, Essstörungen sind die häufigsten Folgen. Nach meinem Eindruck sind es eher die Mädchen, die via Spaltung die hohen Anpassungsleistungen vollbringen, und eher die Jungen, die das nicht schaffen.

2.2.

Die intrusive Manifestationsform der PTBS

Der Mensch, der unter der intrusiven Form der PTBS leidet, ist den Intrusionen ausgeliefert und verfügt über keinen ausreichenden Reizschutz. Dies wirkt besonders belastend auf das Gegenüber : Die nicht zu bewältigenden Gefühle des Traumaopfers werden direkt, ohne eine schützende Membran und ohne eine kognitive Verarbeitung intrusiv im Gesprächspartner manifest. Es kommt in der Gesprächssituation – manchmal nur in kurzen Momenten – zu Fusionen, die massive Gegenübertragungsreaktionen auslösen können. Das Burnout-Syndrom vieler Traumatherapeuten dürfte hierin eine wesentliche Ursache haben. Die abgespaltenen Gefühle des Traumatisierten wirken wie psychotisch anmutende Mikroimpulse direkt auf die Gefühle des Gegenübers ein und rufen Reaktionen des Ausstoßens hervor. Ferner greifen die Spaltungsphänomene die Wahrnehmungsfunktion in der Gesprächssituation besonders an, und es ist dabei sehr wichtig, innerlich bereit zu sein, vorerst einzelne Teile einer Person erkennen zu wollen. Um hier die Gegenübertragung zu erfassen, sollte zwischen dem introjizierten oder empathisch wahrgenommenen Gefühl des Traumatisierten und der darauf folgenden Reaktion (der emotionalen und mentalen Verarbeitung) des Analytikers unterschieden werden. Diese Nahtstellen sind in Supervisionen oft rekonstruierbar : Im Text befindet sich ein Gedankensprung, gefragt nach den Gegenübertragungsgefühlen erinnert sich der Supervisand an eine Palette von überwältigenden Gefühlen, vor denen er sich in der realen Situation durch Vermeidung zu schützen versuchte. Am Anfang der Beziehung kann der Traumatisierte die Möglichkeit der sukzessiven Wahrnehmung kaum nutzen. Der Analytiker spürt dann deutlich das Abreißen des Kontaktes, den Rückzug des Patienten in Hoffnungslosigkeit und Starre. Aber mit der Zeit, wenn ein wenig Hoffnung auf Verstandenwerden gewachsen ist, kann der Traumatisierte diesen Raum zeitweise für sich gewinnen. Er sieht im Gesicht des Analytikers, wie dieser die Dinge in seinem Inneren zusammensetzt und dann einen Kommentar, eine supportive Intervention, eine weitere Frage oder eine Deutung formuliert. Auf dem Wege der Identifizierung werden – wenn auch nur phasenweise und sicherlich auch nur vorübergehend – integrative Prozesse möglich. Entsprechend kann der Analytiker hier sehr viel über dissoziierende Prozesse in Erfahrung bringen und sich selbst darin schu-

Psychisches Trauma-Narrativ. Psychoanalytische Wege zum Verstehen

intrusiver Zustand (Symptome) Dissoziationen

Gegenübertragungsgefühl Gegenübertragungsreaktion Chaos

Denkstörungen

Panik, Intrusionen Stupor, Starre

Reizüberflutung Wut, Gefühlseinschränkung

Empathiestörung Lähmung, Überreaktion

paranoides Misstrau- paranoides Misstrauen en Angst Angst motorische Unruhe

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verfolgende Gesprächstechnik Vermeidungsverhalten, Flucht

Ohnmacht, Infantilität

Aggressionen, Hilflosigkeit Scham, Schuld, Ungeduld, Wut

Mitagieren, somatische Reaktionen Überidentifikation, Bevormundung, Helfersyndrom

Borderline-Niveau/ Psychose

Berührung des eigenen Traumas? mangelnde Objektbezogenheit

Distanzverlust, Abwehr depressiver Gefühle Bevormundung des Patienten

Tabelle 3: Mögliche Übertragungen und Gegenübertragungen bei intrusiver Manifestationsform einer PTBS

len, sie nicht zu übergehen, sondern anzuerkennen (Gerzi, 2002). Er lernt, sich zu bescheiden, lediglich die abgespaltenen Gefühle zu benennen. Er lernt, dass er in einer Stunde kein geschlossenes Bild der Persönlichkeit des Traumatisierten erhalten kann, er lernt, mit Bruchstücken zu leben und dem Patienten zu zeigen, dass er um diese Bruchstückhaftigkeit weiß. Er lernt, die Dinge nicht vorschnell zu einem Ganzen zu machen, um sich zu beruhigen, denn dann würde er den Patienten in seinem Leid verlassen. Der mit traumatisierten Menschen befasste Therapeut oder Diagnostiker sollte seine eigene trauma-history bearbeitet haben (Fischer/Riedesser, 1998). Traumatisierte Flüchtlinge sprechen uns z. B. in besonderer Weise an, denn die Berichte der durch den Krieg traumatisierten Menschen rufen in uns je nach Generation Bilder und Erinnerungen hervor, die wir selbst erlebt haben oder durch unsere Eltern auf dem Wege der transgenerationalen Identifizierung (Gampel, 1994; Kogan, 1990, 1995), je nach Familiengeschichte, latent in uns tragen. Das sind Bilder, über die vielleicht nie gesprochen wurde oder über die erhebliche Sprach- und Symbolisierungsschwierigkeiten bestehen. Bosnische Männer, die ihr Kriegselend darstellen, lassen uns an Väter und Großväter denken. Die Bilder der Wehrmachtsausstellung werden in uns lebendig. Vertriebene, Inhaftierte, Opfer ethnischer Säuberungen lassen uns an nationalsozialistisches Vorgehen gegen jüdische Mitbürger denken. Schuldgefühle werden in uns wach. Andere Berichte verbinden sich in unserem Vor- oder Unbewussten mit der Flucht oder Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Die

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manifeste Gewalttätigkeit bedingt psychotische Zustände, sowohl im Täter als auch im Opfer. So ist es durchaus naheliegend, dass gerade diejenigen, die ihr eigenes Trauma oder das der Familie nicht befriedigend bearbeitet haben, sich mit Verve auf das Schicksal traumatisierter Kriegsflüchtlinge stürzen, um ihr eigenes Trauma via projektiver Identifizierung abzuwehren. Diese Vorgänge finden sowohl bei den Journalisten als auch bei den Konsumenten der Medien täglich statt. An anderer Stelle habe ich in Bezug auf die Begutachtung traumatisierter Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien auf die berufspezifischen Übertragungen außerhalb der Psychotraumatologie hingewiesen und gezeigt, wie Juristen, Verwaltungsbeamte und Behörden dazu neigen, sich durch bürokratische Regelungen vor den überwältigenden Gefühlen zu schützen. Sie werden den traumatisierten Menschen nicht gerecht und höhlen den Sinn der Erlasse der Innenminister aus (Henningsen, 2003). Strukturell scheint sich in Deutschland in der Asylpolitik ein bürokratisches Hickhack zu wiederholen, das bereits bei der Umsetzung des Bundesentschädigungsgesetzes zur Verleugnung bekannter Tatsachen führte und eine menschenwürdige Behandlung der Opfer verhinderte (Krystal, 1968; Niederland, 1968; Wangh, 1965; Pross, 1988). Es taucht die Frage auf, ob hier auf gesellschaftlicher Ebene ein abgespaltenes, unbewältigtes Trauma oder ein eingekapseltes psychotisches Introjekt berührt wird, das nicht in den bewusstseinsfähigen Raum darf und deshalb ausgestoßen werden muss, ob also die juristischen und polizeidienstlichen Praktiken teilweise dieser Abwehr dienen (Henningsen, 1990, 2003; Laub/Weine, 1994). Traumatherapeuten, die sich mit politischen Flüchtlingen befassen, haben die Gelegenheit, mit unbewältigten Traumata, die sich im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft abgelagert haben, in Berührung zu kommen und vielleicht ein wenig Integrationsarbeit zu leisten. Diese beträfe zum einen uns selbst, zum anderen aber auch die gesellschaftlichen Abwehrformationen und Wiederholungszwänge, denen wir immer wieder begegnen (Henningsen, 2003).

3.

Strukturierung von Psychotherapie und probatorischen Sitzungen

Die Darstellung der Interaktionsprozesse zwischen dem PTBS Kranken und dem Therapeuten oder Diagnostiker hat bereits gezeigt, dass wir diesen Patienten anders zuhören müssen als einem psychoneurotisch Kranken. Der Grad der Strukturierung entfaltet sich im Einzelfall, der Gutachter bzw. Therapeut beobachtet seine Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen und richtet die explorierenden Fragen danach aus. Die möglichen massiven Dissoziationen

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erfordern ein spezielles containment, das einerseits den Patienten vor weiterer Dekompensation schützen soll und andererseits die Sicherheit der Rahmenbedingungen wahren muss. Die Schwere der Störung wie auch der Auftrag, ob z. B. Gutachten, eine Dokumentation oder Therapie gewünscht wird, erfordern eine Strukturierung des Gesprächs in folgenden Ablauf: Einleitungsphase: Symptomatik, gegenwärtige Lebenssituation (Anerkennung der Dissoziationen) Biographische Erhebung: prätraumatische Entwicklung Spezielle Trauma-Anamnese Schlussphase: Erläuterung der Diagnose und Beratung Um eine gute Beziehung zu fördern, erscheint es sinnvoll, nach Darstellung der gegenwärtigen Lebenssituation mit dem Klienten über seine Lebensgeschichte vor der Traumatisierung zu sprechen. Wenn er zeigen kann, dass er vor dem Trauma ein anderes Leben geführt hat, so kann er dem Therapeuten und dieser ihm vermitteln, dass es in seinem Lebensentwurf noch etwas anderes gibt, er kann zeigen, dass das, was ihm widerfahren ist, einen Einbruch darstellt und nicht zu seinem Lebensentwurf gehört. Unter Umständen kann er erkennen, welche Entwicklungen in ihm abgerissen sind, welche Identität er verloren hat. Und der Analytiker kann sich ein Bild über seine prätraumatische Persönlichkeitsstruktur machen. Dies ist einerseits für die Differentialdiagnostik nötig, andererseits können die Interventionen bei der später notwendigen Bearbeitung der Traumatisierungen besser auf den Klienten abgestimmt werden, wenn bekannt ist, wie der Patient frühere Krisen bewältigt hat und in welcher Lebenssituation er von dem Trauma ergriffen wurde. Der Patient gewinnt auf diese Weise ein wenig Vertrauen in die Situation, spürt, dass der Analytiker sich für ihn als ganze Person interessiert. Es wird eine Art von Arbeitsbündnis hergestellt, die es später leichter möglich macht, behandlungskritische Situationen durchzustehen. Der Rekurs auf liebende Erfahrungen, gute innere Objekte, gelungene eigene Selbstbehauptungen im analytisch orientierten Vorgehen ist sicherlich vergleichbar mit dem von Luise Reddemann propagierten Aufsuchen des sicheren inneren Ortes (vgl. Reddemann, 2001, 2004). Sowohl während der diagnostischen Phase als auch später in der Psychotherapie im engeren Sinne können traumaspezifische Interventionen notwendig sein, wie z. B. eine Anrufung, um einen Patienten aus einem dissoziativen Zustand herauszuholen, verschiedene Stabilisierungstechniken, die in der Literatur ausführlich beschrieben werden (Sachsse, 2004). Wobei ich hier allgemein rate, der Devise zu folgen: so wenig wie möglich und so viel wie nötig, damit der eigentliche Prozess der Integration nicht gestört wird und in einem Tempo

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geschieht, das dem Patienten angemessen erscheint, damit er Zeit zum Wachsen und für die Trauer über sein Schicksal hat. Wenn sich hier die therapeutische Beziehung auf eine solide Weise eingestellt hat, der Patient sein Gegenüber als verlässlich, Halt gebend und zugewandt erlebt, schreitet die Annäherung an das Trauma allmählich voran. Eine vom Therapeuten inszenierte oder geplante »Trauma-Exposition« ist diesem Prozess eher abträglich. Sie geschieht quasi durch den Prozess der analytischen oder tiefenpsychologisch fundierten Vorgehensweise von selbst und ist dann nach meiner Überzeugung organischer und für die Gesundung des Patienten auch hilfreicher. Eine nach einem mehr oder minder festgelegten Regelwerk veranstaltete »Trauma-Exposition« führt den Therapeuten stets als omnipotentes Objekt ein, der Patient gerät erneut in die Rolle des Unterworfenen und Ausgelieferten, was der notwendigen Entwicklung von Autonomie und Ich-Stärke abträglich ist.

4.

Fallbeispiele

Herr D.1 Erste Stunde: Anerkennung der Dissoziationen Herr D. suchte mich wegen eines vom Verwaltungsgericht in Auftrag gegebenen Gutachtens zur Frage seines Aufenthaltsrechts auf. Ich sollte feststellen, ob er unter einer PTBS litt. Er war in seiner Heimat Kranführer gewesen, kam zu mir zur ersten Stunde mit verächtlich-schnippischer Geste, trug – wie ein Pubertierender – eine Baseballmütze mit dem Schirm nach hinten. Er war Anfang dreißig, sehr massig, und rief in meiner Gegenübertragung Ablehnung und Misstrauen hervor. Mit der umgekehrt aufgesetzten Baseballmütze wirkte er zynisch und höhnisch, eine pubertäre Geste, die überhaupt nicht zu seiner Erscheinung passte. Er wog 115 kg, wirkte auf mich mit seinen Körpermassen brutal, als ob er ein gefährlicher Krimineller sein könnte. Ich fragte mich auch für einen kurzen Augenblick, ob dieser Mann vielleicht jemand sei, der mir etwas vormachen wird, um sich eine Aufenthaltsbefugnis zu Unrecht zu besorgen. Dieses Misstrauen meinerseits verschwand aber sehr schnell. Ich spürte bald, wie in der Eingangszene das fragmentierte Selbst des Mannes unverbunden und widersprüchlich auf mich einwirkten. Seine Spannungszustände ließen ihn nicht ruhig auf dem Stuhl 1 Bei diesem Ausschnitt wird der Ablauf einer Untersuchung dargestellt, wobei besondere Beachtung auf die Gesprächstechnik und die Wirkung meiner Interventionen und Gegenübertragungsgefühle gelenkt werden sollte. Ein Hauptaugenmerk wurde auf die möglichen Entgleisungen gelegt, die durch meine Gegenübertragung beinahe geschehen wären.

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sitzen, er zitterte immer wieder, musste gelegentlich weinen, manchmal ballte er auch seine Fäuste zusammen, um eine Erregung abzuführen. Seine Sprache war knapp, abgehackt und sein Blick zurückweisend. Die zeitlichen Abläufe konnten nicht kontinuierlich geschildert werden, alles war zerstückelt. Ich versuchte mir einen Überblick über die gegenwärtige Situation des Klienten zu verschaffen: wie er in Berlin lebte, seine Symptome, seine Erfahrungen mit den Behörden. Er gehörte zu denjenigen Flüchtlingen, die zwischenzeitlich für einige Monate hatten arbeiten dürfen, war jetzt aber seit längerem – nach der Verschärfung der Verwaltungspraxis – gänzlich ohne Arbeit. Er dachte deshalb daran, sich um eine Ausreise nach Amerika zu bemühen. Er litt unter den bekannten schweren Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung: Ängste, Schlafstörungen, flashbacks, Depressionen. Seit seiner Ankunft in Deutschland (1993) hatte sich sein Gewicht (von 68 kg) fast verdoppelt. Vergeblich hatte er versucht, seine Spannungszustände, die ihn Tag und Nacht heimsuchten, mit Fressattacken zu bewältigen. Brutalität, Angst, pubertärer Spott, Kriminalität, zeitliches Durcheinander und Hilflosigkeit waren die wesentlichen Dimensionen, die ich in mir spürte. Der Sprechstil war immer wieder unterbrochen. Ich versuchte, die Selbstanteile, die ich erfuhr, zu benennen. Manchmal gelang es, sie mit den Gefühlen zu verbinden, die ich wahrnahm. Ich bot mich als Spiegel an und versuchte mir ein Bild über seine gegenwärtige Situation zu machen, die ich ja teilweise aus den Akten schon kannte. Wichtig erscheint mir, dass man im Erstkontakt keine übertriebenen Ansprüche an sich selbst und die Situation stellt. Die Gesprächssituation ist immer wieder durch Brüche gekennzeichnet, in der Dissoziationen wirksam sind. Ein vorschnelles Verstehen fördert eine meines Erachtens unangemessene omnipotente Gegenübertragungssituation und treibt den Flüchtling nur weiter in die Position des hoffnungslos Ohnmächtigen. Die erste Sitzung mit Herrn D. schloss ich folgendermaßen ab: »Sie haben sehr viel Schreckliches erlebt, Dinge, für die man keine Sprache haben kann. Sie möchten alles vergessen, aber das gelingt nicht, immer wieder geraten Sie in Spannungszustände und versuchen dann, sich mit Essen zu beruhigen. Ich will versuchen, mit Ihnen zu verstehen, was Sie alles erlebt haben. Dafür brauchen wir Zeit, und um zu erkennen, welchen Stellenwert die Kriegsereignisse für Sie haben, muss ich auch etwas über Ihre Lebensgeschichte vor dem Krieg wissen. Ich denke, wir sollten in der nächsten Stunde erst einmal über Ihre frühere Entwicklung sprechen«.

Zweite Stunde: Prätraumatische Geschichte – Prätraumatische Persönlichkeit Herr D. kam in die nächste Sitzung ohne seine Baseballmütze, offenbar wollte er mir seine Bereitschaft zu ernsthafter Mitarbeit signalisieren. Mein Vorschlag,

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zuerst über seine frühere Kindheit zu sprechen, gab ihm Entlastung und vielleicht auch die Vorahnung, dass ich mich für ihn als ganze Person interessierte, ohne dass er es hätte formulieren können. Herr D. kommt aus einer sehr einfachen Familie. Er war auch vor dem Krieg nicht gewohnt, über Gefühle zu sprechen. Es wurde aber durchaus emotional gehandelt. Sein Erzählstil war in dieser Stunde kohärenter als in der ersten Sitzung, auch wenn er nicht alles in geordneter Abfolge schildern konnte und viele supportive Interventionen meinerseits notwendig waren. Herr D. wurde 1969 als erster von zweieiigen gleichgeschlechtlichen Zwillingen geboren. Der Vater arbeitete in einer Fabrik, die Mutter in einem Textilkombinat. Die Eltern waren auf die beiden Söhne sehr stolz, sie wurden oft gegenüber den beiden älteren Schwestern (+2; +4) verwöhnt. Sie trugen stets die gleiche Kleidung, gingen in dieselbe Klasse und spielten viel miteinander. Während der Bruder eher dem Vater ähnelte, so glich Herr D. eher der Mutter. Er war immer der Lebhaftere, sein Bruder war der Stillere, der auch viel kränkelte. Während die Eltern berufstätig waren, wurden die Kinder von der Großmutter versorgt, man lebte in der Nähe in einem Verband, der einer Großfamilie ähnlich ist. Er sprach idealisierend über seine Eltern: sie waren gütig, hilfsbereit und im Dorf anerkannt. Nach zwölfjähriger Schulzeit absolvierte er eine einjährige Ausbildung zum Baumaschinenführer. Zwei traumatische Ereignisse haben seine Entwicklung besonders geprägt. Im Alter von sechs Jahren hat er beim Cowboyspielen einen Stein gegen einen Glasteller geschossen und dabei sein Auge verletzt. Trotz Operation konnte das Augenlicht nicht gerettet werden. Während des dreimonatigen Krankenhausaufenthaltes sei seine Mutter immer bei ihm gewesen. Im Alter von 16 Jahren ist sein Bruder an einem Verkehrsunfall gestorben. Auf dem Heimweg nach einer Hochzeitsfeier war seine Familie auf zwei Autos verteilt worden. Sein Bruder und ein Cousin von ihm verunglückten tödlich. Ich konnte Herrn D. deuten, wie sehr er bis heute unter unbewussten Schuldgefühlen leidet, war es doch reiner Zufall, dass der schon immer schwächere Bruder und nicht er in dem verunglückten Auto gesessen hatte. Er weinte und betonte, mit der Zerstörung seines Auges könne er leben, der Verlust des Bruders würde aber schwerer wiegen. Herr D. spürte eine sichtliche Entlastung durch meine Deutung und begann von seinem Bruder zu erzählen. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, dass seine Wildheit im Vergleich zu seinem Bruder ihm Schuldgefühle bereiten könnte, dass er sich schuldig fühlt, im anderen Auto gesessen zu haben. Auch kann er nun kritisch darüber sprechen, wie seine Mutter ihn als Erstgeborenen narzisstisch besetzt hat. Der weitere Gesprächsverlauf zeigte, wie hilfreich es war, dass diese Dimension seiner Lebensgeschichte vor der Beschreibung der Kriegsereignisse ausgesprochen werden konnte.

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Dritte Stunde: Traumatische Entwicklung während des Krieges Zur dritten Stunde kam Herr D. gefasst, seine Sprechweise war während der Schilderungen der traumatischen Ereignisse oft von Zittern und Spannungszuständen begleitet: er ballte wieder die Faust, stieß ein Bein vor oder wackelte mit dem Knie. Diese körperlichen Impulse waren motorische Reaktionen seiner introjizierten Gewalterfahrungen, die in ihrer emotionalen Wucht nicht auf sprachlichem Wege kommuniziert werden konnten. Sie liefen parallel und abgespalten ab, er sprach monoton, ohne emotionale Modulation in der Stimme, abgehackt, in unvollständigen Sätzen, ohne mit mir den Blickkontakt zu halten. Anhaltspunkte, die ich den Akten entnehmen konnte, halfen mir, die Dinge in eine chronologische Reihenfolge zu bringen und entsprechend nachzufragen. Herr D. bemühte sich, mir einen Bericht zu geben, ohne etwas zu fühlen. Ich ging stützend auf ihn ein, damit er weiter sprechen konnte. Er sollte mit meiner Hilfe Zeugnis ablegen können, dokumentieren, was geschehen ist. Die Rekonstruktion der historischen Realität ist eine wichtige Voraussetzung für die spätere Ermöglichung von Integrationsprozessen (vgl. Laub/Weine, 1994). 1987 leistete Herr D. seinen Wehrdienst ab, nahm 1990 an einer Reserveübung im Kosovo teil und kam dabei in Kontakt mit Albanern, die um ihre Autonomie kämpften. Diesen Menschen wollte er helfen und wurde politisch aktiv. Im Dezember 1990 – das heißt zur Zeit der Parteigründungen und vor dem Krieg – wurde Herr D. zum ersten Mal verhaftet. Er schloss sich der SDA (Partei der demokratischen Aktion) an, er klebte Plakate für die Partei und fuhr in andere Orte, um Mitglieder zu werben. Der Vater hatte ihm diese Aktivitäten strengstens verboten, weil er sie für zu gefährlich hielt, die Mutter und Schwester ließen sich erweichen und steckten ihm heimlich das Geld für die Fahrkarte zu. Während der Schilderung wurde mir schlagartig klar, weshalb Herr D. zur ersten Sitzung mit der Baseballmütze kam: auf unbewusster Ebene hatte er mir in der Eingangsszene etwas von seinem früheren Leben gezeigt: Das Leben war für ihn stehen geblieben, als er noch ein Junge war, der sich ödipal gegen den Vater erhob. Mutter und Schwester hatten ihm das Geld zugesteckt, um ihn in seiner Jungenhaftigkeit zu unterstützen. Er gehörte zu einer Clique und fühlte sich stark. Das Ausmaß der Gefahr, in die er sich begeben hatte, hatte er nicht erkannt. Mir wollte er wohl etwas von dieser ödipalen Seite zeigen. Zugleich war in der Gegenwart unübersehbar, dass Herr D. völlig zerstört und depotenziert war, mit der Baseballmütze klang nur ein Zitat aus vergangener Zeit an. Als Herr D. nicht weiter sprechen konnte, sagte ich ihm: »Ich glaube, Sie sind immer ein sehr aktiver Junge und später ein tatkräftiger junger Mann gewesen. Als Kind haben Sie einmal beim Cowboy-Spielen die Gefahren nicht richtig erkannt und das mit der Erkrankung Ihres Auges bezahlt, das ist schon schlimm, aber ver-

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gleichsweise harmlos zu dem, was sie jetzt erleiden«. Herr D. berichtet weiter, ohne mich anzuschauen, ich fasse zusammen: Am 30. Dezember 1990 wurde Herr D. zum ersten Mal verhaftet, er wurde 15 Tage lang verhört, geschlagen und schließlich zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Er musste schwere Arbeit leisten und wurde auch dort mit den anderen Gefangenen oft an die Wand gestellt, geohrfeigt und mit Füßen in die Seite getreten. Nach der Entlassung arbeitete er weiter in der SDA. Die Polizei hatte eine Liste aller Mitglieder und führte Razzien durch, um Waffen zu finden. Herr D. hat aber nie eine Waffe besessen. 1992 verweigerte Herr D. seine Einberufung als Reservist der serbischen Armee, weil er als Muslim nicht nach Bosnien geschickt werden wollte, um andere Muslime erschießen zu müssen. Bald darauf kam es zur zweiten Verhaftung. Ein serbischer Nachbar besuchte die Familie am Abend, Herr D. hatte sich versteckt, der Vater stand in der Tür und sollte umgebracht werden. Der Sohn wurde gefunden, beide wurden abgeführt und zwei Tage lang von der Polizei verhört und geschlagen. Herr D. wurde dabei mit einer Eisenstange am Kopf verletzt, der Vater habe geschrien: »Lasst ihn, nehmt mich!« Dann kamen sie in die Halle einer Kaserne und wurden weiter gequält. Nach sieben Tagen kam Herr D. in ein »Haus der Gesundheit«, damit seine Kopfverletzung genäht werden konnte. Seinen Vater hat er danach nie wieder gesehen. Alle vermuten, dass er ermordet worden ist. Herr D. wurde täglich ausgesondert, sollte die Namen derjenigen SDA-Mitglieder nennen, die Waffen besäßen und Führungspositionen in der SDA inne hätten. »Ich wusste das nicht und habe auch keine Listen zusammengestellt«. Er wurde täglich geschlagen, von seinen 50 Mitgefangenen waren am Ende nur noch 23 übrig. Es gab einmal am Tag Essen und für fünf Personen 1 Liter Wasser. Nachdem er in einem Lkw nach Priboj gebracht wurde, konnte er über Mazedonien nach Berlin fliehen. Vierte Stunde: Abschließendes Beratungsgespräch Herr D. kam deutlich entlastet in die letzte Stunde. Er war erleichtert, alles erzählt zu haben. Er hatte sich entschlossen, einen Antrag auf Ausreise nach Amerika zu stellen, Verwandte seiner Lebenspartnerin lebten bereits in den USA, bei ihnen wollte er ein neues Leben beginnen. Am liebsten würde er alles vergessen und hinter sich lassen, er weiß aber, dass das nicht geht. Ich wies ihn auf Möglichkeiten einer Psychotherapie hin und erklärte ihm meine Diagnose auf allgemein verständliche Weise: Er habe Dinge erlebt, die ein Mensch normalerweise nicht fassen kann, auch habe er wahrscheinlich sehr viel Wut gefühlt, als er den Tchetniks ausgeliefert war. Weil man diese Gefühle aber

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gar nicht wahrnehmen kann, machen sie sich oft körperlich bemerkbar, in Unruhe, Schlafstörungen, Spannungszuständen. Mit seinen Fressanfällen würde er sich zu beruhigen versuchen. Ich sagte ihm, dass er sich als junger Mensch für Demokratie und Gerechtigkeit eingesetzt hat und sich jetzt so fühlt, als hätte er ein großes Unrecht begangen. Er brauche meines Erachtens psychotherapeutische Hilfe, um über den Verlust seines Vaters und der Heimat hinwegzukommen. Er berichtet dann, weder seine Mutter noch seine Schwester könnten bis heute mit ihm über seinen Entschluss sprechen, sich politisch zu betätigen. Die Folgen haben nicht nur ihn, sondern die gesamte Familie bis heute sprachlos werden lassen. Herr D. bedankte sich am Ende bei mir, ich hätte mir so viel Mühe mit ihm gegeben und meinte: »Diese Albträume müssen doch mal aus dem Menschen herausgehen. Aber ich weiß selber nicht wie. Wenn ich darüber rede, bin ich tot und kalt. Aber wenn ich wirklich so tot wäre, dann müsste ich ja einen Stein anstelle eines Herzen haben«. Diese geradezu poetische Wendung ließ erkennen, dass ihm die Dissoziationen offenbar ein wenig bewusst geworden waren.

Frau A.: Überspringen des Traumas (Gutachten) Die Dissoziationen werden häufig darin manifest, dass der Traumatisierte sein Zeitgefühl verloren hat. Er kann die Ereignisse nicht mehr in zeitlicher Abfolge schildern und springt in der Darstellung hin und her. Oft wird durch das Überspringen gerade das nicht genannt, was die Schwere des Traumas ausmacht. Gerade für den nicht geschulten Untersucher besteht die Gefahr, diese Abwehrbewegung mitzumachen. Die Traumatisierung wird dann angezweifelt, wie es durch das Landeseinwohneramt bei Frau A. geschah. Frau A. wies alle Symptome von PTBS auf, in den Akten wurde auf verschiedene traumatisierende Erfahrungen hingewiesen, auch hatte sie viele Verwandte verloren. Trotzdem wurde das Gutachterverfahren eingeleitet. Mündlich war mir noch beiläufig mitgeteilt worden: »Sie ist aber nicht vergewaltigt worden«. Frau A. war während der Gespräche kooperativ und offen. Auf meine Bitte in der dritten Sitzung, über die Kriegszeit zu sprechen, reagierte Frau A. mit knappen Worten und sagte: »Ja, dann brach der Krieg aus, und ich bin nach Berlin gegangen«. Mimisch teilte sie mir mit, dass sie mit ihrem Bericht fertig war, bevor sie begonnen hatte. Für einen kurzen Moment spürte ich eine Erleichterung und zögerte. Ich atmete dann aber tief durch, um sie zu ermuntern, ihre Erlebnisse mitzuteilen. In meinem Inneren hatte sich ein Widerstand gemeldet, ein Gefühl, das mir in vielen Untersuchungssituationen mit traumatisierten Flüchtlingen begegnet. Was war geschehen? In der Gegenübertragung hatte ich mich der Versuchung ausgesetzt gefühlt, das Gespräch auf sich beruhen

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zu lassen, schließlich war sie in Berlin angekommen, wir könnten unsere Arbeit beenden. Was hatte sich unbewusst zwischen uns abgespielt? Frau A. litt neben den Depressionen über den Verlust der Verwandten und ihrer Heimat unter massiven Scham- und Schuldgefühlen. In ihrem Heimatdorf waren alle bosnischen Häuser zerstört worden, die Frauen lebten mit den älteren Menschen und den Kindern in den noch zugänglichen Kellern. Regelmäßig drangen die Serben in die Keller ein und vergewaltigten die Frauen, »nur mich nicht« – »Wissen Sie, warum Sie davor verschont geblieben sind?« – »Der Anführer der Truppe ist in meine Schule gegangen. Wir sind zehn Jahre lang in derselben Klasse gewesen«. In meinem Unbewussten war ich einer komplexen Übertragungsbeziehung ausgesetzt gewesen, die ich anfangs nicht annehmen wollte. Die Patientin, die Übersetzerin und ich standen in einer helfenden, solidarischen Beziehung zueinander, wir befanden uns quasi im Keller der zerstörten Häuser und hielten zusammen. Unbewusst hat sich Frau A. als Verräterin gefühlt, wenn sie die Schonung durch den früheren Freund annahm. Dieser Verrat wurde abgespalten und in mich projiziert. Außerdem war für sie die ursprünglich positive Bindung an einen Klassenkameraden zu einer perversen Beziehung geworden, die sie vor der Vergewaltigung bewahrte, als sei sie einen Pakt mit dem Teufel eingegangen. Diese destruktiven Introjektionen wurden abgespalten und in den psychosomatischen Symptomen und der Depression manifest. In dem Moment, als Frau A. ihr Leben verteidigen musste, für sich sprechen musste, um eine Aufenthaltsbefugnis in Berlin zu erhalten, wiederholte sich auch dieser Aspekt der Situation: Ich hätte sie beinahe mit möglicherweise retraumatisierenden Fragen verschont, zugleich wäre sie aber in ihrem Leid nicht erkannt, sondern durch Abschiebung bestraft worden. In der Übertragung bestand die Gefahr, dass ich die projizierte Destruktion nicht wahrnahm, mich unbewusst mit dem doppelten Verrat identifizierte und im Sinne einer projektiven Gegenübertragungsreaktion (Grinberg, 1991) handelte. Es ist durchaus denkbar, dass die Behörden mit dem Zweifel an ihrer Traumatisierung und der Bemerkung »Sie ist aber nicht vergewaltigt worden« dieser projektiven Identifizierung erlegen waren.

Frau C.: Hilfreiches containment (Gutachten) Ein wesentlicher therapeutischer Effekt besteht in der Haltung, die während des Prozesses der Dokumentation eingenommen wird. Der Flüchtling erfährt, wie sich der Gutachter in ihn einfühlt, um mit ihm die realen Erfahrungen niederzuschreiben. Der Gutachter wird Zeuge der zerrissenen Innenwelt des Patienten,

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das notwendige containment kann dabei hilfreich sein, wie es sich bei Frau C. herausstellte. Frau C. – eine sehr einfache, übergewichtige Frau – wies das Vollbild einer PTBS auf. Frau C. entgegnete meine Begrüßung zu Beginn mit Wut und schroffer Abwehr : »Mir kann niemand helfen. Da gibt es gar nichts«. Der starke Nikotingeruch, den sie verbreitete, zeigte, dass sie ihre enormen Spannungen durch Rauchen zu reduzieren versuchte. Weil sie bei mir nicht rauchen konnte, zerbröselte sie während der ersten Sitzung mehrere Tempotaschentücher, zu den folgenden Stunden hatte sie sich mit einer Leinentasche versorgt, die sie zwischen den Händen knetete. Sie war während der Flucht mit ihren Kindern psychotisch geworden. Sie hatte sich und ihre Kinder mehrfach in Gefahr gebracht, war ein- und wieder ausgereist, hatte Papiere vernichtet und sich in viele Widersprüche verstrickt, die dem Landeseinwohneramt Anlass zu Misstrauen gaben. Es waren neun Sitzungen nötig, um die verschiedenen Stationen ihres Fluchtweges aufzuklären und ihre prätraumatische Persönlichkeitsentwicklung zu erfassen. In der siebten Stunde sagte sie zu mir : »Ich kenne alle Höllen«, nach einer Pause fügte sie hinzu »Wir haben früher in der Schule einmal etwas gelesen, wo ein Mensch ganz viele Höllen durchwandert, ich kenne die alle«. In mir tauchten sofort Botticellis Bilder (2000) zu Dantes Göttlicher Komödie (1921) auf, gleichzeitig dachte ich an Primo Levi (1958), der in seiner Autobiographie schildert, wie er sich durch die Erinnerung an die auswendig gelernten Verse von Dantes Inferno am Leben erhielt. Ich fragte Frau C.: »Sprechen Sie von Dantes Inferno?« – »Ich weiß nicht mehr, wie das heißt. Ich kann mich aber an den Text erinnern«. Die Dolmetscherin – sie ist Muttersprachlerin – gab zu verstehen, dass Dantes Inferno zum Schulkanon gehört hatte. Ich war sehr bewegt und sagte Frau C.: »Es stimmt, Sie sind durch viele Höllen gegangen, jetzt aber sind Sie bei mir, wir versuchen alles noch einmal anzuschauen, und das ist sehr quälend. Aber Dante ging nicht allein durch diese Höllen, er wurde begleitet von Vergil, und hier bin ich bei Ihnen. Sie sind jetzt nicht allein. Ich glaube, Sie schaffen sich mit dieser Erinnerung ein Bild, das Ihnen helfen kann. In Begleitung eines Menschen kann man eher die Höllen betrachten, bei Dante gibt es auch eine Erlösung, die es so vielleicht nicht für Sie gibt, aber Erleichterung, wenn Sie z. B. eine Psychotherapie machen könnten«.

Im Anschluss daran erkundigte sich Frau C. nach einer Therapiemöglichkeit für sich.

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Mechthild Wenk-Ansohn

Sexualisierte Folter und ihre Folgen. Scham begünstigt chronische posttraumatische Beschwerden und behindert die Kommunikation

Von den über 500 Patientinnen und Patienten aus ca. 50 Ländern, die jährlich nach staatlicher Folter oder Kriegserlebnissen wegen psychisch reaktiver Traumafolgen im Behandlungszentrum für Folteropfer Behandlung finden, sind mindestens zwei Drittel auch von sexualisierter Gewalt betroffen. Frauen und Männer erleben u. a. auch sexualisierte Gewalt im Rahmen von Folter oder Gewalt in Kriegen und Bürgerkriegen. Sexualisierte Folter stellt eine vielgestaltige Methode der Folter dar, sie liegt zwischen primär körperlicher und psychosozialer Schmerzverursachung und Entwurzelung. Der Begriff sexualisierte Folter ist nicht einheitlich definiert (vgl. Graessner/Wenk-Ansohn, 2000). Als sexualisierte Folter bezeichnen wir hier all jene Formen der Folter, die eine Schädigung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale und der geschlechtlichen Identität von Männern und Frauen zum Ziel haben. Der Begriff ist für unterschiedliche Kulturen in differenzierter Form anzunehmen: So bedeutet beispielsweise in der kurdischen Kultur allein der Zwang, sich nackt ausziehen zu müssen, eine große sexuelle Demütigung und den Bruch eines strengen Tabus. Neben dem Angriff auf die geschlechtsspezifische körperliche Integrität beinhaltet sexuelle Folter zugleich einen Angriff auf die geschlechtliche und persönliche Identität mit allen seelischen und sozialen Folgen, die ein solcher Tabubruch hat. Die persönliche Ehre, menschliche Würde und damit das Selbstwertgefühl werden zentral getroffen. Die psychischen und sozialen Folgen sind oftmals die eigentliche Intention der sexualisierten Folter. Sie wird zudem dort praktiziert, wo Folterer eine Vertreibung nach der Freilassung erreichen wollen und durch die Scham- und Ehrverletzung oftmals auch erreichen. Vergewaltigung und andere Formen sexualisierter Gewalt sind in Vergangenheit und Gegenwart sowohl allgemein als auch insbesondere gegenüber Frauen ein weit verbreiteter Bestandteil systematischer Gewalt durch staatliche Organe, staatlich gebilligte, oder durch nichtstaatliche Akteure, in Kriegen oder Bürgerkriegslagen, bei ethnischen Säuberungsaktionen oder bei Razzien und Hausdurchsuchungen sowie bei Folter im Rahmen von Untersuchungshaft und kurz- oder

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längerfristigen Haftperioden. Die Systematik und Ausbildungsriten für zukünftige Täter sprechen dagegen, dass es sich um die Übergriffe von Einzelnen handelt, sog. Amtswalterexzesse, die es natürlich auch gibt. In Kriegszeiten sind es die Frauen, die Familie und Gemeinschaft zusammenhalten und das Überleben gewährleisten. Frauen sind daher in spezifischer Weise für die Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft einer Gemeinschaft bedeutsam: »Ihre physische und psychische Zerstörung zielt auf die Zerstörung der sozialen und kulturellen Stabilität« (Seifert, 1993). Frauen sichern die Reproduktion der Gemeinschaft und ermöglichen die soziokulturelle Tradierung der Gemeinschaft (Wobbe, 1993). Die Vernichtung und psychische Zerstörung von Frauen durch sexualisierte Gewalt hat demnach Auswirkungen auf den gesamten kulturellen Zusammenhalt und das Überleben der Gemeinschaft. Insofern werden sexuelle Gewalthandlungen an Frauen systematisch eingesetzt und praktiziert als Teil der Kriegsführung gegenüber der Zivilbevölkerung. Im Rahmen der politisch motivierten Verfolgung werden Frauen und Mädchen bei Verhören im ersten Schritt zumeist verbal erniedrigt und bedroht, und häufig werden sie dann geschlagen und im unbegleiteten Zustand, teilweise mit verbundenen Augen, befragt. Z.B. aus Syrien, der Türkei, dem Iran kennen wir zahlreiche Schilderungen solcher Verhöre. Im weiteren Verlauf des Verhörs kommt es dann zu Misshandlungen an den geschlechtsspezifischen Körperregionen und/oder Vergewaltigungen durch die Verhörer. Zumeist sind mehrere Männer anwesend und tätig, geschlechtlich oder mit Gegenständen. Elektrofolter trifft die Brustwarzen, Frauen werden an den Brüsten gezogen bis sie umfallen, sie werden in erniedrigende Positionen gebracht. Bei Männern besteht sexualisierte Folter vor allem in passiven Folterungen der Geschlechtsorgane und erzwungenen sexuellen Misshandlungen von anderen Gefangenen. In den letzten Jahren haben wir diesbezüglich z. B. auch aus Abu Ghraib Berichte gehört und in der Presse gelesen. Die Scham- und Schuldgefühle in Bezug auf die passiven und in einigen Fällen erzwungenen aktiven Anteile bewirken zugleich, dass eine Darstellung des Geschehens vor Landsleuten oder auch Therapeuten oft ausbleibt. Die Dunkelziffer bezogen auf Folter, insbesondere aber auch sexualisierte Folter, ist hoch. Die meisten körperlichen Verletzungsfolgen sind schon nach Wochen oft nicht mehr nachweisbar. Ganz überwiegend hat die Erfahrung sexualisierter Gewalt psychische und psychosomatische sowie psychosoziale Folgewirkungen. In der Therapie erleben wir immer wieder, wie schwer es für die Betroffenen ist, über ihre erlebten sexuellen Misshandlungen zu sprechen. Die Schamgefühle der Betroffenen erleben wir als tiefgehenden Affekt. Schamgefühle sind sehr belastend und prägen die Persönlichkeit sowie soziale Interaktion nach dem Trauma. Scham- und Schuldgefühle verstärken bzw. verursachen depressive Tendenzen und verhindern es, eine angemessene Wut auf die Peiniger zu ent-

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wickeln (vgl. Wenk-Ansohn, 2002). Sie bewirken im Gegenteil, dass die Betroffenen die Wut oftmals gegen sich selber richten, nicht selten mit der Folge von selbstschädigendem Verhalten. Neben der posttraumatischen Belastungsstörung beobachten wir im Zusammenhang mit sexualisierter Folter besonders häufig dissoziative Störungen und schwere anhaltende Depressionen sowie Suizide. Auch findet man infolge sexualisierter Foltererlebnisse ein nachhaltig verändertes Kontakt- und Sexualverhalten, verminderte Libido, Vermeiden von Körperkontakt, Störungen der Sexualfunktion. Das Schweigen über die Ursachen der Störung belastet die Beziehung zum Partner. Auch ein großer Teil psychosomatischer Störungen ist bei Folterüberlebenden auf sexuelle Gewalt zurückzuführen. Besonders gravierend wirkt sich sexualisierte Gewalt bei Frauen und Männern aus traditionellen und muslimisch geprägten Gesellschaften aus. Im bzfo haben wir viele Erfahrungen mit betroffenen Patientinnen und Patienten gemacht. In ihrer Tradition und Gesellschaftsordnung besteht eine zentrale Bezogenheit auf die soziale Gruppe und ihre Normen. In ihrem Fühlen und Handeln sind sie wesentlich von dem in der Herkunftsgesellschaft vorherrschenden gesellschaftlichen Ehrkonzept geprägt. Folter, insbesondere sexualisierte Folter, verletzt in massiver Weise den zentralen Wert der Ehre. Innerhalb der Gemeinschaftsorientierung der traditionellen z. B. kurdischen Gesellschaft hat das Konzept von Ehre und Scham eine spezielle Bedeutung. Jedem Mann weist das Ehrkonzept einen Bereich persönlicher Integrität und Würde zu, der die eigene körperliche Unversehrtheit wie die der Familienangehörigen umfasst (Schiffauer, 1983). Die spezifisch weibliche Ehre ist im wesentlichen gleichbedeutend mit Unberührtheit, Reinheit, Sittsamkeit, schamvoller Zurückhaltung und Treue. So liegt die Ehre einer Familie zugleich auch in der Hand der Frauen, weil die Ehre durch deren unsittliches Verhalten – und dies gilt traditionell ebenso für eine erzwungene Verletzung ihrer Reinheit durch Dritte! – verlorengehen würde, denn die Ehre des Mannes definiert sich auch über das regelmäßige Verhalten und die Unversehrtheit der Frauen, die in seinem Haushalt leben: der Mutter, der Schwestern, der Töchter und der Ehefrau (en). Die Frauen sind die eigentlichen Trägerinnen der Ehre, des Rufes und der Stellung einer Familie; ihr Verhalten ist gänzlich durch die Ehre bestimmt, von klein auf haben sie dieses internalisiert. Da der Mann mit seiner Stärke dafür zu sorgen hat, dass die Frauen seines Hauses rein bleiben und anderenfalls seine soziale Position ruiniert wäre, sind männliche und weibliche Ehre aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Angriffe auf die sexuelle Integrität eines Menschen bedeuten eine der schwersten Formen der Verletzung der Ehre (Namus) und erfordern nach dem kurdischen Sittenkontext die Bestrafung des Angreifers (Kizilhan, 1995). Indem man die Frauen einer Familie sexualisierter Folter aussetzt, wird gleichzeitig

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demonstriert, dass deren Männer oder Väter nicht in der Lage sind, diese zu schützen. So wird das weibliche Ehrkonzept, das auf der Reinheit der Frauen gründet, ebenso angegriffen wie das männliche Ehrkonzept, das auf Stärke basiert. Es liegt auf der Hand, wie sehr sexualisierte Folter, abgesehen von der Verletzung, Misshandlung und Zerstörung der Einzelperson, auch an dem zentralen Kern der kulturellen Werte ansetzt. Die Vernichtung und psychische Zerstörung von Frauen durch sexualisierte Gewalt hat demnach Auswirkungen auf den gesamten kulturellen Zusammenhalt und das Überleben der Gemeinschaft (Abb. 1, Scham, Bild gemalt von einer jungen kurdischen Patientin). Kommt es zu einem Ehrverlust, ist gesellschaftliche Ächtung und Scham die Folge. Die Zeugenschaft der anderen der Gemeinschaft, ihre Reaktion, die Beschämung durch die Gemeinschaftsöffentlichkeit ist das Gefürchtete (vgl. Stahlmann, 1998). Da das Selbstwertgefühl von der Stellung innerhalb der Gruppe abhängt, ist das Gefühl, für die Gruppe wertlos und eine Ursache von Schande zu sein, vernichtend. Die traditionelle Reaktion auf das Erleiden sexualisierter Gewalt führt(e) wegen der damit verbundenen Beschmutzung der Familienehre zur Ausstoßung der betroffenen Frau und damit zur Vernichtung ihrer sozialen und materiellen Existenzgrundlage. Schon vorhandene Kinder wurden bis vor Kurzem auch noch in der Türkei bei der Scheidung den Männern zugesprochen. Obwohl der dortige politische Diskurs inzwischen diese Praxis der Verstoßung ablehnt und solidarisches Verhalten fordert, geschieht es auch heute noch, dass eine »entehrte Frau« von ihrem Ehemann oder dessen Familie verstoßen wird. Noch immer kommt es z. B. in der Türkei, dem Irak oder Tschetschenien vor, dass Familien aus Anstand ihre eigenen Töchter töten. Junge, noch unverheiratete Frauen haben, abgesehen von dem Einfluss des Traumas auf ihre psychische Entwicklung, in besonderem Maße an den sozialen Folgen der Folter zu leiden. Die Mädchen werden oftmals nach ihrer ersten Einbeziehung in die Verfolgung der Familie ohne ihre Zustimmung verheiratet oder/und, wenn die finanzielle Möglichkeit besteht, auf die Flucht geschickt, um die Familienehre zu retten. So wird einerseits den jungen Frauen nach einer Mitnahme zum Verhör und evtl. Vergewaltigung ein Weiterleben außerhalb der Dorfgemeinschaft ermöglicht, andererseits wirken sich diese erneuten Zwangssituationen retraumatisierend aus. Wir kennen die Härte des Verstoßenwerdens auch von Bosnierinnen oder Kosovarinnen, Frauen kamen in unsere Behandlung, die auch nach mehr als zehn Jahren nach den geschlechtsspezifischen Kriegstraumata noch erheblich mit den psychosozialen Konsequenzen der Gewalterlebnisse zu kämpfen haben. Wir kennen den Druck auf die Ehemänner, der von deren Familie ausgeübt wird, entehrte Frauen zu verlassen. Besonders schwerwiegend sind die Folgen für Mutter und Kind, wenn nach der Vergewaltigung ein Kind entsteht. Wir kennen Fälle, wo solche Kinder dann getötet werden sollten, Flucht war die einzige Alternative.

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Das Selbstbild der von sexualisierter Folter Betroffenen ist zumeist geprägt von Gedanken des Entehrtseins und dessen Bedeutung, ihre Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld. Schamgefühle sind nicht nur eine Reaktion auf vermutete Normen des Gegenübers, sondern sind mit internalisierten Normen verbunden, mit dem Gefühl der Person zu sich selbst, ihrem Autonomiegefühl, ihren Idealen und identitätsstiftenden Orientierungspunkten, ihrem Gefühl von Wert in dieser Welt. Suizide nach sexualisierter Folter sind häufig. Selbstablehnung, Scham- und Schuldgefühle verursachen bzw. verstärken depressive Tendenzen und tragen zur Chronifizierung von posttraumatischen Störungen bei (vgl. Wenk-Ansohn, 2002).

Spezielle posttraumatische Symptomatik bei Frauen nach sexualisierter Folter PTSD und Complex PTSD mit Akzentuierung im Bereich: – anhaltende Trauerreaktion, Depressionen, sozialer Rückzug, Suizidalität – Dissoziative Störungen, Fragmentierungsgefühle, psychogene Anfälle – Gefühle von Scham, Schuld; reduziertes Selbstwertgefühl – Somatoforme Störungen, Körperschmerzen – Verlust von Sexualität, Störungen der Sexualfunktion (u. a. flashbacks) – Zerstörung von Partner- und Familienbeziehungen – Entwurzelung und Entfremdung – Ängste um die Kinder, enge Bindung >>sekundäre Traumatisierung, Parentifizierung >>Auswirkungen in die Folgegeneration(en)

Die Befindlichkeit und das Verhalten der Betroffenen im sozialen Kontakt wird durch die verinnerlichte traditionelle Bewertung der Entehrung bestimmt. Sie fühlen sich vor der Gemeinschaft als Schändliche, Schmutzige, Beschämte, ziehen sich zurück, isolieren sich. Auch ohne entsprechende Reaktionen der Umwelt antizipieren die Betroffenen das Verstoßensein, stoßen sich selbst aus, wenden die Aggressionen gegen sich selbst. Die Scham signalisiert einerseits, dass es zu Störungen in den psychischen Besetzungen gekommen ist, andererseits, dass die Verbindungen zur sozialen Gemeinschaft abgerissen sind (vgl. Tisseron, 2000), was im Fall der Patientinnen aus traditionellen gemeinschaftsorientierten Gesellschaften mit der Bezogenheit auf die soziale Gruppe besonders bedrohlich ist.

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Schweigen als Überlebensstrategie Das Schweigen über die traumatisierenden Erlebnisse ist eine verbreitete Überlebensstrategie Traumatisierter, sie ist ein Teil der Vermeidungssymptomatik nach einem Trauma, nach sexualisierter Folter ist das Schweigen jedoch besonders verbreitet und nachhaltig vertieft. Nicht wenige Patientinnen sagen: »Ich habe mir geschworen, ›das‹ niemandem zu erzählen, ›das‹ nehme ich mit ins Grab«. Aber auch: »Es ist schwer das alleine zu tragen, ich bewundere die Frauen, die darüber sogar öffentlich gesprochen haben, das könnte ich nie. Vielleicht, späterhin wird es mir möglich sein zumindest Ihnen zu sagen, was ich erlebt habe…« Schamangst blockiert die Möglichkeit, die Schamquelle, d. h. die erniedrigenden traumatischen Situationen im Gegenüber, zu benennen. Das Schweigen ist eine Form der Vermeidung, die in zweifache Richtung wirkt: nach innen, wo eine innerpsychische Barriere eingehalten werden muss, und nach außen, wo eine zwischenmenschliche Barriere aufgebaut wird, wo das Schweigen vor der Reaktion der anderen schützen soll (vgl. Wenk-Ansohn, 2002). Vor dem Hintergrund des Sittenkodex der Ehre (Namus), nach dem über Sexualität und insbesondere über sexuelle Misshandlungen und Demütigungen in der Öffentlichkeit nicht gesprochen werden darf, schützt das Schweigen die Frau und ihre Familie. Obwohl in vielen Fällen die Umwelt, z. B. die Mutter oder der Ehemann annimmt, dass es zu sexuellen Übergriffen gekommen ist, wenn eine Frau zum Verhör mitgenommen wurde, wird darüber geschwiegen. Für die Diagnostik und Therapie ist zudem hinderlich, dass vor dem Hintergrund des Namus auch allein das Sprechen über sexuelle Gewalt nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch gegenüber deren Ehemann und der gesamten Familie als eine neuerliche Entehrung erlebt wird und somit Schuldgefühle auslösen kann. Auch ihre Symptomatik versuchen viele Frauen zu verbergen, aus Angst, dadurch könnte erkannt werden, was ihnen geschehen ist. Das einzige Symptom, das sie nach außen zeigen können und womit sie auch Schonung und Unterstützung in ihrem Leid einfordern, scheint der körperliche Schmerz zu sein, ein Symptom, das gesellschaftlich verbreitet und akzeptiert ist und dessen Ursache in der Regel nicht erfragt wird. Auch das Gefühl der Scham selbst muss verborgen werden, maskiert werden (vgl. Wurmser, 1990). Um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen, sind die Opfer von Vergewaltigung gezwungen, ihre verbalen Äußerungen und emotionalen Reaktionen zu kontrollieren. Dies ist einer der Faktoren, der die Psychodynamik des posttraumatischen Prozesses beeinflußt: Bei den Opfern, die sich kontrollieren, überwiegen Gefühlsverleugnung, Vermeidungsreaktionen und Einschränkung der emotionalen Schwingungsfähigkeit und Dissoziationstendenzen. Der aufgebaute Schutzwall blockiert die Teilhabe am Leben (Abb. 2, Schweigen als Überlebensstrategie).

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Das Schweigen führt zu einem komplexen Gewebe von Vermutungen und Reaktionen innerhalb der sozialen Interaktion und belastet in extremer Weise die ehelichen Beziehungen. Die Anwesenheit des verschwiegenen Traumakomplexes ist spürbar, bleibt aber namenlos, auch für die Kinder, die ihn unbewußt aufnehmen. So wird der Schutzwall des Schweigens zu einer Mauer zwischen den Menschen und Generationen. Die Überlebenden schweigen über das Erlebte, um sich und ihre Familie zu schützen und bleiben mit der Last des Geschehens allein, ohne sich über den Weg des Mitteilens entlasten zu können. Grundvoraussetzung für das Gelingen der diagnostischen und therapeutischen Arbeit mit Männern und Frauen, deren Schamgrenzen durch sexualisierte Folter zutiefst verletzt worden sind, ist der achtsame Umgang mit Scham. Scham anzugehen und zu überwinden bedarf auf Seiten der Therapeutin verstehendes, einfühlendes Zuhören, Respekt und Sicherheit im Umgang mit schwer traumatisierten Menschen und dissoziativen Reaktionen. Die Scham zeigen zu können und damit die Scham vor der Scham abzulegen, ist bereits ein entscheidender Schritt, aus dem Teufelskreis von Scham, Ohnmacht und Einsamkeit herauszufinden. Der Schamerfüllte braucht einen Zeugen, der ihm hilft, seinen Platz in der Gemeinschaft wiederzufinden. Der therapeutische Raum ist oftmals der einzige Ort, an dem das Trauma seinen Platz bekommen kann, sozusagen ein Behälter dessen, was in der Außenwelt nicht kommuniziert werden kann. Der therapeutische Raum kann dann aber auch die Möglichkeit eröffnen, sich vom traditionellen Ehrkonzept ein Stück weit zu befreien und damit wieder mehr Selbstbewußtsein aufzubauen und autonomer zu werden. Das Schweigen über die sexualisierte Folter schützt fataler Weise auch die Täter. Nur wenige Frauen und Männer haben es bis jetzt geschafft, in Strafgerichtsprozessen auszusagen und die Folterer anzuklagen. Wir haben positive Erfahrungen gemacht mit Frauen, die es geschafft haben, in der Türkei Anklage zu erheben (vgl. Projektbüro, 1999) und dann schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof Recht auf Entschädigung zugesprochen bekamen oder Frauen, die vor dem Jugoslawientribunal ausgesagt haben. Auszusagen war unglaublich anstrengend für sie, ein geschützter Rahmen für die Aussage und psychologische Betreuung vor und nach der Zeugenaussage war nötig. Aber danach fühlten sie sich letztlich gestärkt (vgl. Mischkowski, 2009). Auch wenn bislang nur wenige Frauen und Männer es geschafft haben, über die sexualisierten Gewalterlebnisse im Rahmen von Folter und Kriegshandlungen öffentlich zu sprechen, so war dieses öffentliche Sprechen dennoch äußerst wichtig für alle anderen Betroffenen. Die Frauen haben gesehen, dass sie nicht alleine sind und dass das, was ihnen widerfahren ist, als Unrecht anerkannt wird. Auch der Diskurs zum Ehrkonzept, der sich innerhalb der politischen Gruppierungen, aber auch insgesamt in einem Teil der Gesellschaften verändert, macht ganz langsam einen

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Weg frei für Betroffene, eine neue Position einzunehmen. Das ist jedoch nicht leicht, denn die traditionellen Werte sind von Kindheit an internalisiert. Selbst wenn der oder die Betroffene auf der rationalen Ebene schon andere Konzepte integriert hat, ist es immer noch schwierig, mit den zugehörigen Emotionen umzugehen und auf die eigenen Verletzungen und die eigene Person in anderer Weise zu schauen. Es ist ein langsamer Prozess, innere Überzeugungen zu verändern – bis die Betroffenen tatsächlich spüren, dass sie trotz allem, was passiert, ihre menschliche Würde behalten haben, dass diese Würde unantastbar ist.

Literatur Graessner, Sepp und Mechthild Wenk-Ansohn: Die Spuren von Folter. Behandlungszentrum für Folteropfer, Berlin 2000. Kizilhan, Ilhan: Der Sturz nach oben: Kurden in Deutschland. Eine psychologische Studie. Medico International, Frankfurt am Main 1995. Stahlmann, Ines: Traumatisierung und Kultur. Zum Kontext von Folter und ihren Folgen bei kurdischen Patientinnen des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer. Unveröffentliches Manuskript (bzfo), Berlin 1998. Mischkowski, Gabriela: »…damit es niemandem in der Welt widerfährt«. Das Problem mit Vergewaltigungsprozessen – Ansichten von Zeuginnen, Anklägerinnen und Richterinnen über die Strafverfolgung sexualisierter Gewalt während des Krieges im früheren Jugoslawien. Köln 2009. Schiffauer, Werner : Die Gewalt der Ehre: Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt. Frankfurt am Main 1983. Seifert, Ruth: Die zweite Front: zur Logik sexueller Gewalt in Kriegen. In: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, 11, 1993, S. 66 – 71. Tisseron, Serge: Phänomen Scham. Psychoanalyse eines sozialen Affekts. München 2000. Wenk-Ansohn, Mechthild: Folgen sexualisierter Folter – Therapeutische Arbeit mit kurdischen Patientinnen. In: Birck, Angelika; Pross, Christian und Johan Lansen (Hrsgg.): Das Unsagbare. Die Arbeit mit Traumatisierten im Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin. Berlin 2002, S. 57 – 77. Wobbe, Theresa: Die Grenzen des Geschlechts: Konstruktionen von Gemeinschaft und Rassismus. In: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung, 2, Frankfurt am Main 1993, S. 98 – 108. Wurmser, L¦on: Die Maske der Scham. Berlin/Heidelberg/New York 1990. Projektbüro: Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell mißhandelt wurden. Texte zum internationalen Seminar in Istanbul im Mai 1998: Staatlich verübte sexuelle Gewalt an Frauen. Istanbul 1999.

2. Inszenierungen des Phantasmas

Reinhold Görling

Szenen der Gewalt – Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Phantasie, Handlung und Aufführung

1.

Aufführungspraktiken

Im August 1944, nur zwei Monate, nachdem das Vorrücken der US-amerikanischen Armee die Deutsche Wehrmacht zur Aufgabe von Rom gezwungen hatte, begannen Giuseppe Amato, Federico Fellini und Roberto Rossellini die Arbeit am Drehbuch für Roma, città aperta (Roberto Rossellini, Italien 1945). Ein gutes Jahr später wurde Rossellinis wohl berühmteste Regiearbeit uraufgeführt. In ihrem Zentrum steht eine Folterszene, die mit ihren etwa 20 Minuten die bis dahin wohl längste in einem Filmdrama war. Die Folterkammer ist ein Raum, der mit dem Büro des Gestapochefs Sturmbandführer Bergmann direkt durch eine Tür verbunden ist. »Bringen Sie den Mann heraus«, befiehlt Bergmann in dem im Original zweisprachigen Film seinen Untergebenen, damit sie seinen Gefangenen in die fensterlose Kammer führen. Er verdächtigt Giorgio Manfredi, einer der Organisatoren des kommunistischen Widerstandes zu sein, und möchte ihn noch vor Ablauf der Sperrstunde dazu bringen, seine Kontakte preiszugeben. Den mit Manfredi verhafteten Priester Don Pietro zwingt er, der Folter durch die offen stehende Türe zuzusehen. Mit seinen Aussagen, so Bergmann zu Don Pietro, könne er seinem Freund Leiden ersparen, die er sich nicht vorstellen könne. Eine zweite Türe des Büros führt vermeintlich in das Treppenhaus, durch sie sind die beiden Gefangenen aus dem Kellerverlies hier hineingebracht worden. Eine dritte, als Doppeltüre ausgelegte Verbindung führt in einen Salon, in dem deutsche Offiziere trinken und, begleitet von einem Mann am Klavier, Karten spielen. Aus diesem Salon heraus kommen im Laufe der Folterung weitere Personen in das Büro und werden Zeuge des grausamen und mit Manfredis Tod endenden Geschehens. In Rossellinis Film ist die Folterkammer eine Bühne, ihr Inventar wird zum Teil einer Inszenierung, der Körper Manfredis zu einem Bild der Verwundung und des Leidens, seine Schreie zu einem akustischen Bild des Schmerzes und der Erschöpfung. Alle Anwesenden, ob Täter oder Zeuge, sind auf das Opfer bezogen und können ihren Blick vom geschundenen Körper des Getöteten kaum ab-

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wenden. Wie die vier Männer in Hieronymus Boschs »Christus verspottet« stehen sie in der Türschwelle und reagieren auf ihre Beteiligung und Betroffenheit in je eigener Weise. Bergmann versucht sie mit Arroganz zu überspielen. Ingrid, welche ihm die zur Verhaftung Manfredis nötige Information beschafft hat, betrachtet Folterung und Ermordung mit einem kalten Interesse, das einen Genuss aus seiner eigenen Distanzfähigkeit zu gewinnen scheint. Der Priester wendet den Blick nicht ab, schaut nur bisweilen auf Bergmann und Ingrid und spricht in seiner Trauer mit geballten Fäusten einen Fluch über die Täter aus. Und Marina, die Manfredi verraten hatte, liegt am Ende ohnmächtig vis — vis des Leichnams. Die Wechsel der Einstellung und Kameraperspektive zwischen dem Blick auf das Opfer und dem auf die Blickenden lenkt den Blick unvermeidlich auch auf den Betrachter der filmischen Szene, den Kinozuschauer. Welcher Art ist sein Umgang mit der Betroffenheit? Die Ikonografie der Bilder des geschundenen, für die grausamsten Misshandlungen an die Wand des Raumes wie an ein Kreuz gebundenen Körpers, wie auch die Ikonografie der Gruppe der Betrachter, knüpft dabei vielfach an die christliche Tradition der Darstellung des Schmerzensmannes an. Als der Film nach jahrelangem Aufführungsverbot 1960 in öffentlichen Kinovorstellungen in Deutschland gezeigt werden durfte, hatte man übrigens nicht nur die Dialoge verfälscht und entpolitisiert, sondern gerade diese Bilder herausgeschnitten. Sie fehlen auch heute noch in der aktuell in Deutschland von Arthaus vertriebenen DVD.1 Die Bühne der Folter, die Rossellini hier entwirft, enthält also, fast wie eine russische Puppe, weitere Bühnen. Diese Kaskade der Rahmungen geht nicht nur nach außen, zum Zuschauer und zur Rezeption des Films hin, sie geht auch nach innen. Die Folterer misshandeln Manfredi, um performativ auf ihn einzuwirken, um »ihm etwas zu zeigen«, um sein Ich über die Zufügung von Schmerz zu destabilisieren. Sein Körper wird zur Bühne, auf der dem Opfer eine Wahrnehmung aufgezwungen wird.2 Und selbstverständlich ist auch das, wozu der Priester gezwungen wird, eine Form der Folter. In diesem Sinne gibt es auch gar kein Außen und kein Innen der Bühne der Folter. Sie schließt die Rolle des Zuschauers immer ein. Es gibt Intensitäten der Betroffenheit, es gibt aber keine Rahmung, hinter der diese Betroffenheit nicht mehr wirken würde. Es dürfte kaum ein Zweifel darüber möglich sein, dass Rossellini genau an dieser Aussage sehr viel gelegen war. Ich möchte im Folgenden diese Aufführungspraktiken in mehreren Schritten näher befragen. Dabei geht es mir zunächst um die Bedeutung des Spielraums 1 Rom, offene Stadt (Italien 1945 Arthaus 1999, 93 Minuten). Ich beziehe mich auf die Ausgabe: Rome ville ouverte (Films sans frontiÀres 1999, 97 Minuten). 2 Das würde übrigens auch für psychologische und sogenannte weiße Formen der Folter, zu denen sensorische Deprivation oder Überreizung zählen, zutreffen.

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der Aufführung für das Subjekt. Daran schließen sich Überlegungen zur Performanz von Unsichtbarkeit an. Sie führen auf mein zentrales Argument hin: den szenischen Charakter der Phantasie. Er ermöglicht nicht nur einen Tausch zwischen aktiven und passiven Positionen, er macht es auch möglich, einerseits komplex und einfühlsam zu agieren, andrerseits wie der Spieler Bergmann vom Leid seines Opfers scheinbar unberührt zu sein. Über die Diskussion dieses Mechanismus der Verleugnung von Verantwortung, der möglicherweise für das Verständnis von Gewalt und ihrer Theatralität bedeutsam ist, enden meine Überlegungen in einem Versuch, die Differenzen, aber auch die möglichen Überkreuzungen von Denk-, Darstellungs- und Handlungsverboten zu analysieren.

2.

Spielräume der Subjektivität

In den meisten Situationen können die, die sich in Inszenierungen eines anderen wiederfinden, mit Gegeninszenierungen antworten, sie können Bedeutungen verschieben, neue Dinge ins Spiel bringen, Verzögerungen durchsetzen, Positionen tauschen. Man spielt sich gegenseitig etwas vor. Dieses Spiel gehört zur Subjektivität, sie entfaltet sich in diesem Spielraum des Aushandelns von Bedeutungen und Beziehungen, im Miteinander ebenso wie im Gegeneinander, in der Gemeinschaft ebenso wie im Kampf um Herrschaft. Auch in Situationen der Abhängigkeit ist dieses Spiel noch möglich, solange jedenfalls, als es noch ein Mit der Intersubjektivität gibt. In Situationen der Bemächtigung aber reduziert sich der Spielraum drastisch. Die Folter ist wohl diejenige Situation, in der sich jemand eines anderen so sehr bemächtigt hat, dass er dem Opfer diesen Spielraum der Subjektivität immer vollständiger nehmen kann. Durch die Zufügung von Schmerz und Leid über das gewaltsame Einwirken auf den Körper, die Sinne, die Affekte des anderen wird versucht, dem Opfer jeden Spielraum für eine Gegeninszenierung zu rauben. Das Opfer soll bloßes Objekt, der Täter einziges Subjekt mit Handlungsmacht werden. Der Spielraum des Subjekts ist ebenso seine Bedingung wie sein Ausdruck. Folter wirkt deshalb auch immer auf beides ein, ist massive Manipulation seines Ausdrucks und nachhaltige Beeinträchtigung oder gar Zerstörung der Bedingungen von Subjektivität. FranÅoise Sironi spricht deshalb von einer intendierten Traumatisierung und Dekulturalisierung (Sironi, 2007). Es ist Sironis Erfahrung aus ihrer langjährigen Arbeit in einem Pariser Zentrum zur Unterstützung von Folteropfern aus vielen verschiedenen Ländern und Kulturen, dass die psychischen Nöte der Opfer keine kulturelle Prägung mehr haben. Dabei hat der Spielraum der Subjektivität kulturell und historisch sehr verschiedene Formen. Das gilt auch für die Formen seiner Förderung und seiner Begrenzung.

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Sie können so verschieden sein, dass Erwachsene einer Kultur sie in einer anderen Kultur kaum noch wahrnehmen. Ein Teil des Leides, der oft mit Migration verbunden ist, hat hier einen Grund. Wenn auch Folter selbst dekulturalisiert, so ist sie in ihrer spezifischen Ausprägung doch auch immer in die kulturellen Konstellationen eingebunden. Sie stellt in jeweils spezifischer Weise absolute Geltungsansprüche und darin Bemächtigungsverhältnisse gegenüber dem Einzelnen her. Das kann im Kontext religiöser Konzepte, im Kontext politischer Ideologien, aber auch im Kontext sozialer Herrschaft geschehen. Ein monotheistischer Gott kennt nur eine Wahrheit, eine nationale Volksgemeinschaft kann vom Einzelnen eine vollständige Eingliederung einfordern, das kommunistische Kollektiv kann sich als einziges gültiges Subjekt der Geschichte sehen, der Kolonialismus als einzige Zivilisation. Allerdings ist wohl nicht schon jede Einwirkung auf den Spielraum des Subjekts als Folter zu bezeichnen, auch nicht in Situationen der Bemächtigung. Eine solche Situation ist zum Beispiel regelmäßig in Eltern-Kind-Beziehungen gegeben, oder auch in rechtsstaatlich legitimierten Bestrafungen von Delinquenz. Selbst Ungehorsamkeitsstrafen von Gefangenen gehören nicht in jedem Fall dazu. Sie richten sich auf den Spielraum des Handelns, aber nicht unbedingt auf die Auslöschung des Spielraums des Denkens und der Phantasie. Doch gibt es in solchen Strafhandlungen regelmäßig eine Intensität der Grausamkeit und der Negation der Subjektivität des anderen, welche den Spielraum des Denkens und der Affekte sehr vollständig und nachhaltig besetzt. Solche intendierte Traumatisierung findet sich mit besonderer Häufigkeit in Situationen der kolonialen Herrschaft. In den Kolonien und der Geschichte der Sklaverei bestanden dann auch die Praktiken der Folterung ungebrochen fort, nachdem sie im europäischen Rechtssystem Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend abgeschafft waren. Seit der Aufklärung haben sich einige epistemologische Prozeduren durchgesetzt, mit denen in der europäischen Tradition des Denkens Fiktion und Wirklichkeit unterschieden werden sollen. Wirklichkeit soll ein nicht nur gespieltes und vor allem nicht ohne weiteres suspendierbares Geschehen sein, das zudem intersubjektiv nachprüfbar ist, etwa durch Experimente oder durch die Bestätigung von anderen, die der Beschreibung eines Phänomens, die jemand gibt, zustimmen. Wirklichkeit ist also eher pragmatisch bestimmt, wohingegen der Begriff der Wahrheit nach wie vor einen metaphysischen Kontext aufruft. In vielen Bereichen des sozialen und politischen Lebens, aber auch der Wissenschaft, hat die pragmatische Idee der Wirklichkeit die metaphysische der Wahrheit weitgehend ersetzt. Das gilt unter anderem für den Bereich des Juridischen. So müssen im modernen Recht Anschuldigungen durch intersubjektiv als Wahrheit anerkannte Beweise belegbar sein: durch eine rationale Erklärung der Umstände und des Verlaufs eines Geschehens etwa, oder durch die Aussage

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von Zeugen. Diese müssen ohne Zwang sprechen können. Aussagen, die unter Folter erpresst worden sind, widersprechen diesem Kriterium der freien Aussage autonomer Individuen, ihr Status als Aussage über die Wirklichkeit ist nicht belastbar. Michel de Montaigne legte dies schon in seinem 1580 erstmals publizierten »Essai« mit dem Titel »Über die Menschenfresser und ob unsere Foltern nicht barbarischer sind« dar. Dass es noch etwa 200 Jahre brauchte, bis sich dieser Gedanke im europäischen Rechtsdenken einigermaßen durchgesetzt hatte, lag unter anderem am Beharrungsvermögen einer spezifischen europäischen Vorstellung von Wahrheit. In der griechischen Antike und der europäischen Frühen Neuzeit war Wahrheit nichts, das im Modus des Austausches von Erfahrungen und auch der Konkurrenz von Argumenten im Gespräch zwischen den Subjekten zu entwickeln oder auszuhandeln wäre. Wahrheit war durch die Götter oder den einen Gott gegeben, etwas, das vorlag und nicht erst hergestellt werden musste. Nach diesen Vorstellungen kann der einzelne Mensch nur versuchen, die Wahrheit zu verbergen. Breche man aber seinen Willen, käme die Wahrheit zutage. Von daher gibt es eine lange Tradition der Vorstellung, dass man den Willen des Menschen testen und gegebenenfalls brechen müsse, um zur Wahrheit zu gelangen, um sie aus dem Innern des Körpers wie ein fertiges Kind aus dem Bauch der Mutter hervorzuholen. In der Antike, aber auch in der weltlichen und kirchlichen Gerichtsbarkeit der Frühen europäischen Neuzeit war diese Vorstellung prägend (duBois, 1991). Der Geltungsgewinn eines relativen Wahrheitsbegriffes seit der Aufklärung bedeutet nicht, dass solche Vorstellungen einer verborgenen feststehenden Wahrheit nicht noch in fragmentierter Form weiter wirken und immer wieder auch Handlungen bestimmen. Die Alltagssprache ist bis heute damit durchsetzt. Wenn wir etwa davon sprechen, die Wahrheit ans Licht zerren zu wollen, vermengen wir die Lichtmetapher der Aufklärung mit der älteren Idee der Verborgenheit einer feststehenden Wahrheit.

3.

Wissende Blindheit

Wird gemeinhin davon ausgegangen, dass die Gegenwart der Gewalt in einer Gesellschaft die Einschüchterung und oft sogar die Traumatisierung von Bevölkerungsgruppen nach sich zieht und meist auch bezweckt, so ist zumindest auch daran zu denken, dass damit seitens der Täter und Zuschauer ein Mechanismus der Verleugnung der Bedrohung einhergehen kann. Man sieht die Gewalt und derealisiert ihre Gegenwart. Die Deportation der jüdischen Bevölkerung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus geschah unter den Augen der Nachbarn und auf offener Straße. Und Folterzentren sind in vielen Situa-

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tionen der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts keine geografisch abgelegenen Orte, oft sind sie in unmittelbarer Nachbarschaft von Wohnhäusern gelegen. Das galt schon für viele Konzentrationslager in Deutschland, sogar für einzelne Vernichtungslager. Ein anderes, jüngeres Beispiel sind die Folterzentren in Argentinien in der Zeit nach dem Militärputsch von 1976. Etwa 30 000 Menschen wurden in den folgenden fünf Jahren verschleppt, gefoltert, ermordet, ihre Körper nur betäubt ins Meer geworfen, ihre Leichen verbrannt oder verscharrt. In Buenos Aires und in anderen Städten waren die Orte der Misshandlung oft mitten in belebten Vierteln. Diese räumliche Nähe, dieses Ineinander von Normalität und intendierter Misshandlung und Zerstörung war für mich bei einem Besuch einiger dieser Erinnerungsorte eine sehr verstörende Einsicht. So benutzte eines der größten Folterzentren das ehemalige Offizierskasino der Escuela de Mecanica de la Armada (ESMA) in Buenos Aires. Das Gebäude ist von der großen Avenida del Librador direkt einsehbar und praktisch in Hörweite. Heute befinden sich auf dem Gelände des ESMA eine Gedächtnisstätte und ein Kulturzentrum. Das Geschehen ist nicht rückgängig zu machen, nur der Verleugnung, die es sowohl möglich machte als auch von ihm provoziert wurde, kann entgegengearbeitet werden. Andere Orte der Misshandlung sind längst von Straßen und neuen Gebäuden überbaut. So auch die Garagenhallen eines Folterzentrums, über das Marco Bechis den Spielfilm Garage Olimpo (Argentinien 1999) gemacht hat. Der Film gibt eine Vorstellung davon, wie zwei Welten auf Tuchfühlung und doch scheinbar berührungslos in einer großen Stadt nebeneinander existierten. Die verstörendste Szene ist dabei wohl, wie ein Folterer mit einem von ihm sexuell missbrauchten Opfer unbehelligt durch die Straßen der Stadt geht. In einer 2006 erschienenen Reportage zitiert Tom‚s Eloy Mart†nez die Aussage eines Busfahrers über die tatsächliche Garage Olimpo, in der von August 1978 bis Januar 1979 etwa 700 Menschen gefoltert wurden, von denen nur etwa 50 überlebten: »Yo pasaba por ac‚ todos los d†as a las cuatro, a las cinco de la maÇana. Nunca vi ni o† nada. Nunca nada. Lo que dicen que pasû es verso para m†« (Eloy Mart†nez, 2006). Die amerikanische Theaterwissenschaftlerin Diana Taylor spricht in ihren Analysen der Folter und der Politik des Verschwindenmachens in Argentinien von percepticide, also von Wahrnehmungstötung (Taylor, 1997). Die Derealisierung dessen, was man sieht und hört, bedient sich Strategien der Umdefinition des Modus der Realität. »Lo que dicen que pasû es verso para m†«: Etwas ist Dichtung, Übertreibung, Lüge. »Not knowing is not passive, it is an active refusal«, schrieben Dori Laub und Susanna Lee in einem kurz nach dem 11. September 2001 verfassten Text, in dem sie davor warnen, dass die traumatisierende Gewalt der Terroranschläge dazu führen werde, dass die amerikanische Gesellschaft in der Reaktion darauf solche Derealisierungen insze-

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nieren könnte (Laub/Lee, 2003, S. 449). Sie sollten in einem zweifachen Sinne recht behalten. Die USA starteten im Oktober 2001 einen Feldzug in Afghanistan, im März 2003 begann mit Luftangriffen auf Bagdad der Irakkrieg. Parallel dazu baute der amerikanische Geheimdienst ein weiterhin existierendes weltumspannendes Netz von Gefangenen- und Verhörzentren weiter aus, die wie die Lager im afghanischen Bagram oder der kubanischen Guant‚namo Bay teilweise von der amerikanischen Armee direkt betrieben wurden und werden, und versuchte die amerikanische Regierung eine Legalisierung der Folter. Derealisierung ist ein Vorgang, der einen Bruch der Kontinuität der Objektrepräsentanz einschließt. Es reicht nicht, nur den Blick abzuwenden, es muss ja die Beschränkung des Blickes auch aufrechterhalten werden. Ein Mechanismus, der dies leisten kann, ist die Fetischisierung. Ein Statthalter tritt an die Stelle des eigentlichen Objekts und übernimmt zugleich die Funktion, das Objekt zu verleugnen, wie auch, an seiner Stelle in einer szenischen Konstellation zu wirken. Die szenische Konstellation aber erlaubt, wie noch näher zu erläutern sein wird, auch eine Vertauschung der aktiven und passiven Positionen. Zunächst ist es mir wichtig hervorzuheben, dass der Fetisch diese Funktion umso besser erfüllen kann, als er ein leeres Objekt ist, eigentlich ein Nicht-Objekt, ein Platzhalter in einer szenischen Konstellation. Jeder Eigensinn des Objekts würde stören. Wenn die szenische Konstellation allerdings die Frage der Aktivität oder der Handlungsmacht stellt, wenn eine erlittene Ohnmacht in ihr zum Ausdruck von Macht verkehrt werden soll, verstärkt der Eigensinn des Objekts den Druck, die Handlungsposition mit Gewalt herzustellen. Die Repräsentationen, die man sich von der Wirklichkeit macht, sind keine statischen Bilder, sie sind immer praktische, in Handlung und Verkörperung eingewobene, sich stets verändernde Konzepte. Sie werden im Vollzug unentwegt angepasst, was allerdings voraussetzt, dass der Wirklichkeit und dass den Objekten überhaupt eine Eigenständigkeit zugemessen wird. Es muss also die Möglichkeit bestehen, dass die szenische Konstellation und ihre Repräsentation sowohl getrennt als auch aufeinander bezogen werden können. Sigmund Freud hat in der immer wieder diskutierten Beschreibung des Spulespieles seines Enkelkindes einen Referenztext zur Analyse dieser Situation geschaffen. Er zeigt, wie die szenische Konstellation des, wie Freud annimmt, grundsätzlich leidvoll erfahrenen Wechsels von An- und Abwesenheit der Mutter in einem Spiel ausgedrückt wird. Die Spule, die das Kind an einem Bindfaden über den Bettrand wirft, ist jedoch keine Symbolisierung der Mutter. Das Kind würde sie nicht mit ihr verwechseln. Sie ist aber Teil einer aufgeführten szenischen Konstellation, in der es um den Wechsel von An- und Abwesenheit und die Frage des Erleidens oder Einwirkens auf diese Konstellation geht. Wenn Freud dabei vermutet, dass seine Beobachtung, dass das Wegwerfen der Spule öfter geschieht als das Wiederholen, etwas damit zu tun habe, dass das Kind dadurch eine aktive

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Handlungsposition erhält, so lässt sich vielleicht ergänzend anmerken, dass auf der Ebene der szenischen Konstellation die Positionen zwischen Kind und Spule austauschbar werden (Freud, 1920g). Die Spule repräsentiert nichts, sie ist eine Art Placebo für ein szenisches Spiel, in dem es wohl um Aktivität und Passivität, vielleicht auch um Handlungsmacht geht, kaum aber um die Herstellung eines Objektes als stabiles Gegenüber. Das Spule-Spiel erscheint wie eine Form des Guckguck-Spieles, das ja vom kleinen Kind deshalb so genossen werden kann, weil ihm die Kontinuität des Objektes bzw. ihr im Spiel zum Ausdruck kommender Mangel weniger bedeutsam ist als die szenische Konstellation des spielerischen Wechsels von An- und Abwesenheit. Sie hat für sich eine eigene Spannung und affektive Dimension, die in der Affektabstimmung mit dem älteren Gegenüber begründet ist, oder, genauer noch, mit seiner Geste des Spiels, die ja auch dann noch präsent ist, wenn das Gegenüber nicht mehr sichtbar ist. An ein ebenso albernes wie bedrohliches Beispiel für den Eintritt des Guckguck-Spiel in die Weltpolitik erinnert der Ethnologe Michael Taussig. Während eines Dinners, das der damalige US-amerikanische Präsident George W. Bush für die US-amerikanische Radio- und Fernsehunion 2004 im Oval Office des Weißen Hauses veranstaltete, reagierte er auf die Frage, ob man denn mittlerweile die Massenvernichtungswaffen gefunden habe, deren angebliche Existenz dem Angriff auf den Irakkrieg die wichtigste Legitimation geliefert hatte, damit, dass er sich bückte und unter seinem Schreibtisch nach eben diesen Massenvernichtungswaffen zu suchen begann. Taussig schließt seine Erinnerung mit der vielleicht provokativ erscheinenden Frage: »We are living, in other words, in a new regime of truth in which a peekaboo pattern – now you see it, now you don’t – is intimately associated with torture itself. And isn’t torture itself a ritual of reversal?« (Taussig, 2008, S. 101). Auch das Umkehrungsritual ist eine szenische Konstellation. Es erlaubt die Vertauschung von aktiven und passiven Positionen. Es ist aber nicht objektbezogen. Das Opfer der Folter wird aus der Sicht der Täter nie ein Objekt mit Eigensinn sein können. Es ist vielmehr das Ziel der Folter, jeden Eigensinn des Subjekts zu zerstören. Aber die von Taussig angenommene enge Verknüpfung zwischen Folter und dem Guckguck-Spiel hat noch eine weitere Dimension. Was zugleich bejaht und verneint wird, an was zugleich appelliert und was zerstört wird, was zugleich unterstellt und abgestritten wird, ist eben die Subjektivität des Opfers, sein Spielraum und seine humane Präsenz.

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Phantasie und Handlung

Bisweilen vermengen wir die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit mit der Unterscheidung zwischen Phantasie und Handlung. Doch während die Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf das interpersonelle Aushandeln von Geltungsansprüchen verweist, geht es bei der Unterscheidung zwischen Phantasie und Handlung eher um eine Dimension der Ausdifferenzierung von Positionen in einem szenischen Zusammenhang. Fiktionen unterscheiden sich von der Wirklichkeit, indem ihnen ein besonderer Ort oder ein besonderer Modus des Handelns zugewiesen wird: das Spiel, das Theater, das Buch, auch das Kino. Phantasien dagegen sind eher parallele Schichtungen von Wirklichkeit, sie können Handlungen begleiten, ihre Stimmung färben, ohne dass sie selbst als gesonderte Vorstellung begriffen werden müssten. Phantasien sind szenisch, sie sind als ein intraaktiver Zusammenhang von Handlungen, Kräften, Relationen zu verstehen, d. h. es gibt keine voneinander abgrenzbaren Positionen oder Identitäten. Die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem anderen, dem Lebendigen und den Dingen ist der Szene nachträglich, auch wenn »mit Rücksicht auf die Darstellbarkeit«, wie Freud über die sekundäre Traumarbeit mehrfach formulierte, Figurationen auftauchen. Sie haben eher einen Charakter von Masken als von Porträts. Handlung setzt dagegen eine Perspektivierung voraus, eine Ausdifferenzierung von Positionen, auch wenn diese wiederum durch Projektions- und Introjektionsvorgänge in sich vielfach überlagert und durch eine sie begleitende szenische Phantasie bestimmt sein können. Es sind wir, die handeln, so selbsttrügerisch das vielleicht oft auch sein mag, es sind aber die Phantasien, die sich selbst in uns entfalten. Phantasien sind in diesem Sinne unpersönlich. Fast jeder kennt die Situation, schweißgebadet aus einem Angsttraum zu erwachen, dessen szenische Konstellation kaum noch vom Bewusstsein erfasst werden kann und von dem vielleicht nur noch ein Gefühl der Bedrohung zurückbleibt. Fast jeder kennt auch die Situation der Tagträume, der zärtlichen oder auch der gewaltvollen Gedanken, die uns vielleicht beschäftigen, während wir mit unserem Gegenüber über ganz andere Dinge sprechen. Diese doppelte Welt beunruhigt uns meist nicht ernsthaft, denn wir sind uns ziemlich sicher, dass wir sie nicht durcheinander bekommen. Worin begründet sich diese Sicherheit? Dasselbe gilt auch für das Eintauchen in fiktive Welten, sei es in der Literatur, im Bild, im Theater oder im Film. Die Medien haben dabei je eigene und sich historisch verändernde Konstellationen, in denen sie die Verhältnisse von Fiktion und Wirklichkeit und von Phantasie und Handlung konstruieren und entwickeln. Etwas skizzenhaft lässt sich sagen, dass Theater und Fernsehen in den vergangenen Jahren und wohl auch Jahrzehnten ihre aktive Dynamik vor

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allem an der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit entfaltet haben: performance art etwa hat im Ereignis der Aufführung die Rahmungen, die Theater von Wirklichkeit trennen, kontinuierlich verschoben (Görling, 1998) und darüber die Aktiv-Passiv-Differenzierung zwischen Schauspieler und Zuschauer nachhaltig diffundiert (Fischer-Lichte, 2004); Fernsehen hat im weiten Bereich des Reality-TV immer wieder neue Genres und Subgenres erfunden, die den Status der Bilder und Narrationen verunsichern. In der Literatur, aber vor allem im Kinofilm und im neu entstandenen Bereich der Videospiele ist eine Dynamik aktiv, welche die Differenzierung zwischen Phantasie und Handlung und den Status der Phantasie selbst betrifft. Der Kinofilm verzichtet immer radikaler darauf, Szenen mit Indikatoren zu versehen, die ihren Status als dargestellte Phantasie oder Handlung markierten. Selbstverständlich ist das spätestens seit Le chien andalou (Spanien 1929) von Luis BuÇuel und Salvador Dal† ein bekanntes filmisches Verfahren, es hat aber in den sogenannten mind-game films (Elsaesser, 2009) Zugang in das Mainstream Kino gefunden. Durchweg sind es dabei gerade die Szenen der Gewalt, Misshandlung oder Folter, die in einem ungewissen Status verbleiben. Der Film reinszeniert damit selbst seine eigene Qualität als durch seine körperliche und synästhetische Wahrnehmbarkeit und seine Montagetechnik immer schon szenisches und relationales Medium. Szenen der Gewalt lösen die gesicherten Positionen von Subjekt und Objekt, Handelndem, Opfer und Zuschauer weitgehend auf, weitergehender vielleicht noch als Szenen der Erotik. Es ist gut möglich, dass sich hier eine kulturelle Veränderung vollzieht oder schon vollzogen hat, deren Tragweite wir noch kaum begriffen haben. Diese Veränderung muss die Fähigkeit, zwischen Phantasie und Handlung zu unterscheiden, zunächst gar nicht beeinflussen. Die Rezeption eines Films verlangt ja in diesem Sinne auch gar keine subjektive Perspektivierung oder Situierung. Im Gegenteil, ein Aussetzen der Perspektivierung ist Voraussetzung des Filmgenusses. Das gilt auch für Computerspiele. Ein Ego-Shooter-Spiel etwa kann genussvoll nur gespielt werden, wenn die Perspektivierung so sehr automatisiert wird, dass der vom Selbst kontinuierlich hergestellte Selbstbezug suspendiert werden kann. Man taucht in die Szene ein. Neu ist auch die Intensität der Immersion, in der szenische Formen des Denkens und Fühlens zwischen innerpsychischen und medialen Phantasien zirkulieren. Diese Intensität macht letztlich die topografische Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Phantasien fragwürdig. Sicher waren schon seit den Anfängen des Kinos Traum und Hypnose immer wieder als Referenzen zur Erklärung der spezifischen Rezeptionssituation herangezogen worden (Bellour, 2009). Die Vergleiche haben jedoch ihre Grenzen. Der Träumende ist gegenüber dem Trauminhalt aktiver, der Hypnotisierte gegenüber seinen Handlungen passiver als der Filmzuschauer. Und das gilt sowohl für den Kinobesucher als auch für den Fernsehzuschauer

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oder den Videospieler. Im szenischen Geschehen des Films sind Denken und Fühlen, Geist und Körper eingeschlossen, ohne dass das Ich sich zum Geschehen kontinuierlich verhalten, ohne dass es die Szene perspektivieren müsste, aber auch ohne dass es sich ganz aufgeben müsste. Eher vermindert das Subjekt die Intensität der Immersion, schließt die Augen, greift zum Getränk – nicht selten durch filmische Techniken der Spannungsunterbrechung provoziert. Die Intensität der Immersion in mediale Zusammenhänge kann die Grenze zwischen dem Außen und Innen der Phantasie verschieben, die Differenz zwischen Realität und Fiktion braucht deshalb nicht berührt zu sein. Auch bedrohliche und schockförmige Inszenierungen in Film und Fernsehen führen selten zu Traumatisierungen, selbst dann nicht, wenn es sich um dokumentarische Berichte handelt. Die Bilder, die zum Beispiel von den Attentaten auf die Twin Towers des World Trade Centers am 11. September 2001 um die Welt gingen und tausendfach wiederholt wurden, haben ein tief bewegendes Erleben hervorgerufen, traumatisierend waren sie aber in der Regel nicht (Meek, 2010, S. 171 – 195). Für die Menschen vor Ort, die Handlungsnotwendigkeiten unterworfen waren, gilt das allerdings nicht. Die Differenz zwischen Phantasie und Realität liegt im psychischen Erleben nicht direkt in der Differenz zwischen Spiel und wirklichem Geschehen, sondern in der Frage, ob das Ich sich zu einer Perspektivierung der Szene genötigt sieht und ob sie bei und trotz aller Bedrohung auf der Basis der Komplexität seiner Relationalität gelingen kann. Wenn diese Perspektivierung scheitert, weil das Geschehen zu plötzlich ist, oder zu bedrohlich für das eigene Leben oder für das Ich, kann es zu Abspaltungen und damit möglicherweise auch zu Traumatisierungen kommen. In »Ein Kind wird geschlagen« hat Freud in exemplarischer Weise die vielschichtigen Überlagerungen, Überkreuzungen und Transpositionen von Subjektpositionen in Phantasien beschrieben (Freud, 1919e). Zentral ist auch hier für Freud der szenische Charakter der Phantasie. Er erlaubt es, das eigene Involviertsein nicht mit einer Position fixieren zu müssen. Die Konsequenzen, die Freud hier andeutet, sind vielschichtig und ambivalent. Zunächst bedeuten sie, dass es möglich ist, sich in der Phantasie einem lustvollen Geschehen psychisch hinzugeben, das vom Ich nicht zugelassen würde, wenn es selbst die Verantwortung übernehmen müsste. Das hat eine sehr kreative Seite. Szenen werden erfunden und können, etwa im Falle der Kunst und des Theaters, die eben keine unmittelbare Perspektivierung erfordern, weil sie nicht unmittelbar handlungsbezogen sind, auch aufgeführt werden. Auf diese Weise können Relationen und Komplexitäten bewusst werden, die dem Ich unbekannt waren. Da aber Phantasie eben Handeln auch begleitet, kann der Zusammenhang in die gegenseitige Richtung wirksam sein: Es ist möglich, in Handlungen Phantasien einzuspeisen, die das Ich eigentlich nicht verantworten kann. Die Phantasie kann also auch zu einer Abspaltung führen, in der sich das Bewusstsein die

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Betroffenheit des eigenen Ich verleugnet oder verneint. Das wiederum kann mit dem Effekt geschehen, dass das eigene abgespaltete Begehren vom Ich nicht verantwortet werden muss, wie der lateinamerikanische Analytiker Marcelo N. ViÇar vermutet (ViÇar, 1997). Solche Dissoziationen geschehen, wenn der innere oder auch äußere Druck auf ein Handeln, das nicht verantwortet werden kann, so stark ist, dass das Ich sich gezwungen sieht, sich von der Bedeutung des eigenen Handelns zu distanzieren und trotzdem in der Handlung selbst der Komplexität der Situation großenteils zu entsprechen. Diese Mechanismen könnten zum Beispiel verstehen helfen, wie es in Situationen der Gewaltausübung möglich ist, dass die Handlungen des Täters ein sehr komplexes psychisches Wissen über das Opfer zeigen, aber eben trotz dieser hoch sensiblen Einfühlung in den anderen ihr Handeln nicht auf sich beziehen und nicht verantworten. Die Empathie wird auf der Ebene des Szenischen erlebt, sie wird aber auf der Ebene des Handelns abgespalten. So werden vielleicht auch die verschiedenen Weisen der Wirksamkeit von Grenzen und Verboten auf den Ebenen der Phantasie, der Darstellung und der Handlung verständlicher. Während in der Phantasie oder im Traum das Ich keine Verantwortung übernehmen muss, weil es gar nicht genötigt ist, eine Position einzunehmen, und während es in Theater, Literatur, Film und Kunst einen vor allem topografisch bestimmten Ort hat, in dem es gleichsam institutionalisiert darauf verzichten kann, auch wenn es sich vielleicht als Schöpfer der Situation, des Bildes, der Szene verstehen kann, so gilt für die Handlung zunächst, dass der Selbst- und der Ichbezug gegeben sind. Es bedarf deshalb besonderer Mechanismen der Verleugnung, um in einer Handlung die eigene Betroffenheit abzuspalten. Auf der anderen Seite dürfte die autobiographische Narration diejenige Form sein, in der das Ich sich mit dem Szenischen am stärksten verbindet und es zugleich perspektiviert, in der es deshalb auch Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen gedrängt ist. Das gilt nicht nur im privaten Bereich. Öffentlichen Gerichtsverfahren kommt darüber ihre soziale und politische Bedeutung zu (Felman, 2002). Wenn also die Differenz zwischen Phantasie und Handlung darauf bezogen ist, inwieweit ein Involviertsein in eine szenische Konstellation perspektiviert wird oder werden muss, so hat die Differenz zwischen Fiktion und Wirklichkeit zur Voraussetzung, dass der Status der Objektrepräsentanz befragt werden kann. Aus der alleinigen Perspektive eines Einzelnen ist die Entwicklung einer solchen Differenz nur schwer möglich. Es muss ja so etwas wie die Erfahrung einer Eigenständigkeit des psychischen Erlebens vorausgesetzt werden, um die eigenen Bilder in dieser Weise befragen zu können. Die Erfahrung der Eigenständigkeit des psychischen Erlebens ist nur als das Ergebnis eines intersubjektiven Prozesses denkbar. Das psychische Erleben des kleinen Kindes kann als Phantasie beschrieben

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werden, das heißt, es wird in ihm kein Unterschied zwischen einem Außen und einem Innen, zwischen einer szenischen Konstellation und einem Ich vollzogen (Laplanche/Pontalis, 1992). In der Szene sind Affekt und Phantasie verwoben. Formen der Vitalität, wie es Daniel Stern nennt (Stern, 2007), Intensitäten, Rhythmen sind szenisch. Die Welt des kleinen Kindes ist dabei keineswegs Ichzentriert, sie ist als eine mit anderen geteilte Welt Wir-bezogen. Die Allmachtsphantasie des Kindes, von der Freud immer wieder spricht, erscheint der neueren psychoanalytischen Forschung als eine Wir-Bezogenheit, in der in der Erfahrung der Welt unbefragt davon ausgegangen wird, dass der andere diese Erfahrung teilt. Fonagy und Target nennen das den Äquivalenzmodus von Erfahrung (Fonagy/Target, 2007). Dass die Welt als etwas Eigenständiges, als unabhängige und zu befragende Realität, als Differenz erfahren werden kann, als eine Welt voller Objekte, die nicht dem Eigenen zugehören und auf die man sich gleichwohl beziehen kann, dazu muss wohl zunächst eine Differenz zwischen dem Wir und der Welt der Objekte erlebt werden. Peter Fonagy und Mary Target sehen das Medium, in dem die Erfahrung dieser Differenz entstehen kann, im erklärten Spiel zwischen Kind und Bezugsperson. Das Spiel, der Als-Ob-Modus der Interaktion, der pretend mode, erlaubt es dem Kind, diese interpersonelle Welt als etwas gegenüber der äußeren Welt Eigenständiges zu erfahren. Diese Erfahrung der Interpersonalität geht sowohl mit der Verinnerlichung eines inneren Du einher, als dass sie es auch möglich macht, die eigene Wahrnehmung der Welt zu überprüfen. Erst auf diesem Wege gewinnen wir eine äußere Welt, und mit ihr ein Selbst, eine Kontinuität des Selbsterlebens und damit auch eine Idee der eigenen psychischen Identität. Folgt man diesem Modell, entsteht also die Differenz zwischen Realität und Fiktion in einem komplexen Spiel, das zwischen Personen stattfindet und in dem zunächst eine Differenzierung zwischen einem gemeinsamen Raum interpersoneller Relation und einer von ihr unterschiedenen Realität entsteht. Es gibt von daher, nicht nur für das Kind, sondern unser ganzes Leben lang, eine ganz enge Verknüpfung zwischen der Möglichkeit, etwas als Realität wahrzunehmen, vor allem, wenn es sich um etwas Befremdliches oder Beunruhigendes handelt, und der Möglichkeit, diese Wahrnehmung in einen gemeinsamen Raum mit anderen einzubringen, sie mit anderen zu teilen. Die eine Voraussetzung dafür, dass diese Differenz zwischen der eigenen Erfahrung und der Welt erlernt werden kann, ist aber sicher, dass die intersubjektive Welt genügend Kohärenz, Halt und Raum bietet, um an eine Beschreibung von Donald W. Winnicott anzuknüpfen (Winnicott, 1989, S. 89). Die zweite Voraussetzung dürfte auch in einer gewissen Kontinuität der Objekte zu sehen sein. Es gibt kaum eine zweite Handlung, die so gezielt auf die Zerstörung dieser beiden Voraussetzungen gerichtet ist, wie die Folter. Dem Opfer sollen Raum,

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Halt und Kohärenz in der Willkür der Gewalt vollständig entzogen werden, zugleich wird es aller Objekte beraubt, die noch eine gewisse Verlässlichkeit bedeuten könnten (Trinkaus, 2011). Das Opfer wird gezielt in eine Situation gebracht, die einen Riss der räumlichen und zeitlichen Kontinuität seines Lebens bedeutet. Einer der eindringlichsten Texte, die über Folter im 20. Jahrhundert geschrieben wurden, jedenfalls in deutscher Sprache, sind die Passagen, in denen Jean Am¦ry über seine Erfahrung berichtet, von der SS und Angehörigen der deutschen Armee in der belgischen Festung Breendonk gefoltert worden zu sein. Der letzte Absatz dieses 22 Jahre danach geschriebenen Textes beginnt mit den Worten: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Dass der Mensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht« (Am¦ry, 2002, S. 85).

Traumatisierung geschieht als Rückbau der Annahme einer Interpersonalität, als Zerstörung des inneren Du, wie Dori Laub es im schon zitierten Artikel mit Susanna Lee und in anderen Arbeiten nennt. Und dieser Rückbau nimmt, vielleicht mit einer gewissen Notwendigkeit, den Weg des Aufbaus, nur in umgekehrter Richtung: in der Aufführung einer Szene, in der die Intersubjektivität verraten und jede Verlässlichkeit sozialer Beziehungen gebrochen wird.

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Linda Hentschel

Gewaltbilder und Schlagephantasien oder: Die Rebellion der Betrachtermelancholie

Würde ich gefragt, welche Fragen meine Überlegungen zu einer Ethik des Visuellen leiten, dann wären es diese: Wie kann ich es vermeiden, im Betrachten von Gräuelbildern und Feindbildern die Gewalt, die sie darstellen, ungewollt/ unbewusst zu wiederholen? Wodurch kann ich in der Zirkulation von Gewaltbildern Gewaltverhältnisse anhalten, blockieren, bestreiken? Mit Bezug auf Judith Butlers Gedanken zum Gefährdeten Leben (Butler, 2005) und zu einer grundsätzlichen Verletzbarkeit als Lebensbedingung aller Menschen möchte ich in diesem Text fragen, wann moralisches Entsetzen angesichts von Gewalt ein Zeichen fundamentaler Menschlichkeit ist oder wann es hingegen stärker einer Schuldabwehr und Verschiebung von Verletzbarkeit zu Gute kommt. Dafür schließe ich mich Butlers Plädoyer für eine prekäre Subjektidentifikation an, welche ihre eigene Verletzbarkeit in dem Maße anerkennt, wie sie für die Verletzbarkeit anderer Verantwortung übernimmt und übertrage diesen Gedanken, stärker als Butler dies tat, auf einige mediale Gewaltspektakel der vergangenen zehn Jahre. Ich werde demnach versuchen, auf dem Feld des Visuellen Ungehorsam und Kritik zu üben – nicht an Verletzbarkeit, sondern durch und mit Verletzbarkeit.1 Ein nächster Schritt konfrontiert diese prekären und prekarisierenden Sichtbarkeitsverhältnisse mit Gedanken von Sigmund Freud zu so genannten »Schlagephantasien«. Freuds Ideen in seinem Aufsatz Ein Kind wird geschlagen (Freud, 2000b (1919)) geben Aufschluss über die komplexen Verwicklungen des Subjekts zwischen Angst, Lust und Faszination beim Betrachten von Gewaltszenen. Diese Verwicklungen werde ich als »Betrachtermelancholie« bezeichnen. Ich hoffe, mit diesen Überlegungen dazu beizutragen, Rahmenbedingungen unserer westlichen visuellen Kultur selbst sichtbar zu machen und sich nicht dermaßen von ihnen regieren zu lassen.

1 Der erste Teil dieses Aufsatzes ist eine überarbeitete Version von Hentschel (2009).

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Linda Hentschel

Das gefährdete Sehen

In ihren Gedanken über ein gefährdetes Leben, über Krieg, Affekt und die Rolle der Fotografie begibt sich Judith Butler auf die Suche nach einer ethischen Verantwortung in Zeiten von Krieg und Terror nach dem 11. September 2001. Ihr Interesse ist, Fragen von politischer Macht und Anerkennung vor dem Hintergrund einer primären Bezüglichkeit und Verletzbarkeit des Subjekts, aller Subjekte zu reflektieren: »Verlust und Verletzbarkeit ergeben sich offenbar daraus, dass wir sozial verfasste Körper sind: an andere gebunden und gefährdet, diese Bindungen zu verlieren, ungeschützt gegenüber anderen und durch Gewalt gefährdet aufgrund dieser Ungeschütztheit« (Butler, 2005, S. 37).

Butler betont immer wieder den Aspekt der Interdependenz, nicht der Identität der Subjekte und verweist auf ihr Prekär-Sein, nicht auf ein Souverän-Sein: »Wenn wir über die menschliche Existenz in ihrer Verletzbarkeit nachdenken, dann denken wir über eine allgemeine und von allen geteilte Bedingung von Leben überhaupt nach, nicht über ein Problem oder den Zustand eines Individuums. In diesem Sinn wird die Ontologie des Individualismus durch den Aspekt der Verletzbarkeit in Frage gestellt« (Butler, 2009, S. 11, Herv. L.H.).

Nehmen wir also unsere Abhängigkeit voneinander ernst, kann Verantwortung nicht isoliert und losgelöst von anderen, sondern nur für andere übernommen werden.2 Damit ist aber keineswegs eine autoritäre, globale oder imperiale Bevormundung gemeint. Es geht vielmehr um eine ethische Ansprechbarkeit, in der ich meine Freiheit gerade nicht auf einer Politik des Zwangs und der Unterdrückung anderer aufbauen will. Angesichts aktueller globaler Gewaltkonflikte jedoch problematisiert Judith Butler eine gravierende Ungleichheit im Umgang mit der Gefährdetheit des Lebens: Wer gilt überhaupt als Mensch? Wessen Leben und damit Tod sind betrauernswert? Welche Techniken der Ent- und Vermenschlichung werden eingesetzt? Und wie können mediale Bilder an einer Ethik der Gewaltlosigkeit mitarbeiten? Viele Leser/innen werden sich an das Video der sterbenden iranischen Studentin Neda Agha-Soltan erinnern, die 2009 in Teheran erschossen wurde. Ein Jahr später titelte das Time Magazine: »What happens if we leave Afghanistan« und zeigte eine junge afghanische Frau, der Nase und Ohren von ihrem Ehemann abgeschnitten wurden, weil sie ihn verlassen wollte (Abb. 3, Time Magazine, 2 »Ich kann die Frage der Verantwortung nicht allein, isoliert vom Anderen, denken; wenn ich das tue, habe ich mich aus dem Beziehungsgefüge entfernt, welches das Problem der Verantwortung von Anfang an strukturiert« (Butler, 2005, S. 64).

Gewaltbilder und Schlagephantasien

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Titelbild Bibi Aisha). Die Süddeutsche Zeitung nannte das Foto »Das neue Gesicht Afghanistans«.3 Nicht gesagt wurde, dass Bibi Aishas Verstümmelungen aus dem Jahr 2009 stammen und sich demnach inmitten der US-Truppen-Aufstockungsphase ereigneten. Weltweit gab es Proteste gegen die Zurschaustellung dieser Gewalt. Natürlich sind diese Bilder problematisch, aber nicht, weil sie Verletzbarkeit darstellen, sondern weil sie Verletzbarkeit mit Weiblich-Sein und MuslimischSein verknüpfen und dabei ein westliches Wir konstruieren, das die Gefährdetheit vermeintlich verhindern kann, während – oder weil? – es sich diese Gräuelbilder anschaut (Range, 2011).4 2011 wurde die Fotografie zum World Press Photo gewählt. Die Idee von einem »zivilisierten« Westen und dem »schurkischen« Osten erkennt im anderen nicht das Leben, sondern die Lebensgefahr. Insbesondere den Anspruch auf das Recht, Demokratie mit Gewalt zu installieren, Modernität und Zivilisiertheit in die »archaische« Welt des islamischen Fundamentalismus zu bringen und damit für Freiheit zu sorgen, beschreibt Butler als Wiedereinführung anachronistischer Souveränitätsphantasmen – medial verbreitet als Gerechtigkeit und Humanität. In den USA bekam Bibi Aisha eine neue Nase. Der Westen produziert damit exakt das, was er vermeintlich abschaffen will: eine in seinen Augen weniger als menschliche, eine vor-menschliche islamistische Kultur. Diese Destruktivität des westlichen Zivilisierungsimperialismus basiert auf einer Überwindungsmanie der eigenen ontologischen Verletzbarkeit: Zehn Tage nach dem 11. September 2001 verkündete der damalige Präsident Bush, die Zeit der Trauer sei vorbei und die Zeit des entschlossenen Handelns nun angebrochen: Afghanistan wurde bombardiert, der Irak würde folgen. Um den verletzten Narzissmus nicht länger zu betrauern, sondern zu rächen, musste der »Feind« entmenschlicht und sein Bild als Siegestrophäe in die Medienöffentlichkeit gehalten werden. Die Repräsentationen gefolterter Gefangener, des sterbenden Saddam, seiner toten Söhne oder Exekutionsvideos sind Beispiele dafür. Die vielleicht offensichtlichste Inszenierung einer Bildertrophäe ist das goldfarben gerahmte Foto des toten Terroristen Abu Mussab al-Sarkawi (Abb. 4, Time Magazine). Er wurde im Juni 2006 vom US-Militär getötet. Das Bild ist so beschnitten, dass es einer Enthauptung in effigie gleicht. Al-Sarkawi selbst hatte mehrere westliche Zivilisten vor laufender Kamera enthauptet. Die mediale Inszenierung des Kopfes al-Sarkawis ist Teil seiner Ermordung. Sie ist eine sym3 Siehe »Das neue Gesicht Afghanistans« in sueddeutsche.de vom 6. 8. 2010 (Vorsamer, 2010, zuletzt eingesehen am 18. 7. 2011). Fotografin ist Jodi Bieber. 4 Eine Red Cell der CIA hatte einem im Frühjahr bei Wikileaks geleakten Geheimpapier zufolge empfohlen, mit Themen wie Frauen und Menschenrechten in westlichen Ländern Kriegsstimmung gegen Afghanistan zu schüren.

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bolische Tötung, die die reale besiegeln und der abstrakten Angst vor »Terrorismus« und »Islamismus« ein Gesicht geben soll. Doch ist diese Inbesitznahme des Gesichts eine Geste der Entmenschlichung. Gesichter der »Schurken« wurden in dieser westlichen Bilderpolitik meist dazu eingesetzt, ein Bedrohungsszenario aufzurufen, dieses dann als bewältigbar zu entwerfen und in ein Gefühl der Sicherheit zu verwandeln.5 Diese triumphalistischen Bilder der Verletzbarkeit anderer dienen somit der westlichen Selbstimmunisierung. Wenigstens das hatte Barack Obama verstanden, als er nach der Ermordung Osama Bin Ladens durch US-Spezialeinheiten beschloss, die Bilder des hingerichteten Terroristen nicht zu veröffentlichen. Damit möchte ich jedoch nicht ein Plädoyer für Zensur halten. Vielmehr steht Zensur in radikalem Widerspruch zu einer Kritik der visuellen Ethik, eine kritische Ethik schließt geradezu eine Unterwerfung unter Zensurbestrebungen aus. Der Kritik geht es nicht darum, was verboten, was erlaubt sein soll, sie will nicht urteilen und verurteilen, sondern sie fragt vielmehr nach den Voraussetzungsbedingungen und Rahmungen des visuellen Feldes: Wen schützt Zensur, wen verletzt sie? Zu welchen Subjekten werden wir durch bestimmte Sichtbarkeitsverbote und -gebote? Welcher Schauzwang regiert uns auf welche Weise und wie kategorisiert er uns nach Geschlecht, Sexualität, Klasse, Alter, Religion und ethnischer Zuordnung? Und es ist natürlich zu fragen, inwiefern künstlerische Arbeiten hegemoniale Sichtbarkeitsverhältnisse, die immer auch Machtverhältnisse sind, reproduzieren oder verschieben. Meines Erachtens sind Arbeiten wie der Abu-GhraibZyklus von Fernando Botero fragwürdig, weil sie die Exponiertheit des Leidens anderer wiederholen, nicht aber die Voraussetzungsbedingungen für die Zurschaustellung dieses Leidens selbst hinterfragen (Abb. 5, Fernando Botero, Abu Ghraib 56). Damit laufen sie leider Gefahr, im Strom jener Gräuelbilder mitzuschwimmen, die unter Verdacht stehen, Betrachtern und Betrachterinnen eine Abstumpfung gegenüber Gewalt einzubringen. Doch noch einmal zurück zu Judith Butler : Butlers Gedanken zur Verletzbarkeit auf die westliche visuelle Kultur übertragend, wäre es die Unreflektiertheit aller Bilder jenseits ihrer Einteilung in künstlerische oder dokumentarische Darstellungen, in Fiktion oder Wahrheit, die unsere Kritikfähigkeit solange blockiert, wie die Leugnung der eigenen Gefährdetheit den Rahmen des visuellen Regimes charakterisiert. Erst wenn die Anerkennung meiner Verletzbarkeit im Feld des Visuellen zur Darstellung kommen kann, löst sich die Abstumpfung angesichts anderer Tode. Nun ist das Interessante an Butlers Gedanken, dass es ihr um eine zweifache Anerkennung geht: Neben der Anerkennung der eigenen Verletzbarkeit erkennt 5 Diesen Gedanken habe ich ausgeführt in Hentschel (2008).

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sie auch den Wunsch an, das töten zu wollen, was mich in meiner Existenz bedroht. Menschlichkeit, so Butler, sei ein unauflösbarer innerer Konflikt zwischen dem Wissen um die eigene Exponiertheit und der Möglichkeit, das Leben des anderen zu gefährden. Gewaltlosigkeit hat demnach keinen harmonischen Ort im Subjekt und ist auch kein masochistisches Genießen am Leid, sondern ist das Ergebnis eines inneren unauflösbaren Konflikts. Verletzungswunsch und Trauer um den anderen muss eine Unentscheidbarkeit verbinden. Gerade weil Butler das prekäre und verletzliche Subjekt zum Ausgangspunkt ihrer politischen Ethik der Trauer nimmt und nicht das souveräne Subjekt, das sich zu immunisieren und zu rächen weiß, lässt sie Gewaltlosigkeit nicht einem friedlichen Ort entspringen, »sondern einer andauernden Spannung zwischen der Angst, Gewalt zu erleiden, und der Angst, Gewalt zuzufügen« (Butler, 2005, S. 163). »Geisel« dieser Spannung zu sein, ist Butlers Bild der Menschlichkeit des Menschen. Die Betonung dieses Antagonismus, dieses Dissens im Subjekt ist das Weiterführende an ihren Gedanken. Als Gegengewicht zu hegemonialen, entmenschlichenden, da narzisstischen, triumphalistischen und immunisierenden Sichtbarkeitsverhältnissen des Westens möchte ich demnach mit Butler für das Kritische am Bild plädieren, das mich an jene Gleichzeitigkeit von Verletzungswunsch und Gefährdungsangst erinnert und somit »einen Kampf in mir entfacht und diesen Kampf im Zentrum der [visuellen, L.H.] Ethik etabliert« (Butler, 2005, S. 161). Dabei ginge es weniger um ein allmächtiges Gegenbild, das den Trauerstau auflösen könnte. Sinnvoller erscheint mir, von Bilderfolgen und -kontexten auszugehen, deren einzelne Bestandteile nicht per se kritisch sind, wohl aber in ihrer Anordnung Momente der Kritik entwickeln können, indem sie die hegemoniale Narration unterbrechen. Eine Praxis des ungehorsamen Sehens wäre, unsichtbar gemachte Voraussetzungsbedingungen eines visuellen Regimes wieder bewusst zu machen, Bilderlücken aufzusuchen, aussortierte Kontrastbilder wieder einzustreuen und dadurch mediale Normativierungen zu problematisieren. Die Bilder der US-Reservistin Lynndie England würden dann z. B. nicht mehr das »Gesicht des Skandals« von Abu Ghraib zeigen, sondern die strategische Konzentration auf eine weibliche Täterin und somit die Gesichtsmachung der US-Folter im Irak untersuchen. Insofern halte ich künstlerische Arbeiten wie Democracy von der spanischen Künstlergruppe El Perro für problematisch, die die Ausstreichung von männlicher Täterschaft reinszenieren (Abb. 6, El Perro, Democracy). Eine kritische Ordnung des Visuellen würde sich nicht damit begnügen, Gewalt in Bildern darzustellen, sondern sie würde die strukturelle Gewalt aufzeigen, die das gouvernementale Repräsentationssystem mit seiner Bilderpolitik erzeugt. Wichtig ist daran zu erinnern, dass eine gewaltfreie und betrauernde Bilderpolitik selbst nie friedlich verlaufen kann, sondern im Subjekt einen ethischen Konflikt zwischen Verteidigungswunsch und Sorge um den anderen in

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Gang hält. Genau dieses Ringen, diese Knechtschaft, Geiselhaft auf dem Feld des Sehens kann ein Weg sein, in visueller Verantwortung jenseits einer naiven Schaulust oder eines autoritären Blickverbots durch Zensur zu handeln. Damit aber Verletzbarkeit als Kritik, auch als visuelle Kritik funktionieren kann, sollten wir eine hohe Empfindlichkeit dafür haben, dass Gefährdungswunsch und Verletzungsangst geschlechtlich und ethnisch unterschiedlich verteilte Positionen sind. Um auf meine Eingangsfrage zurückzukommen: Ist ein moralisches Entsetzen angesichts von Gewalt immer Zeichen einer fundamentalen Menschlichkeit? Judith Butler würde vermutlich sagen: Nur wenn dieses Entsetzen mich an meine eigene Verletzbarkeit insofern erinnert, als in der Ethik das Existenzrecht des anderen Vorrang hat vor meinem eigenen, weil mein Ich fundamental an ein Du gebunden ist und mich somit in eine Unentscheidbarkeit zwischen Verletzungswunsch und Gefährdungsangst verwickelt.6

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Die Rebellion der Betrachtermelancholie

Diese Ambivalenz prägt auch die »Schlagephantasien«, für die sich Freud 1919 am Ende des Ersten Weltkrieges interessierte, in einer Zeit also, als die visuelle Kultur massiv angereichert war mit Bildern von Gewalt, Gräuel und Verletzbarkeit. Mit Freud könnte man sagen, dass im Aufgeben einer sadistischen, Gewalt genießenden Betrachter/innenposition Gewalt aber nicht einfach abhanden kommt; ihr Genießen kann vielmehr in der auf das Selbst gerichteten Variante des Masochismus erhalten bleiben. Mit Freud möchte ich hier die Idee einer »Betrachtermelancholie« entwickeln, die, wie wir sehen werden, in der Identifikation mit dem Verletzten den Wunsch, den anderen zu verletzen, selbst leugnet. Und obwohl Butler sich an anderer Stelle ausführlich auf Freuds Konzept der Melancholie bezog, spielt es interessanterweise in ihren Gedanken um das »prekäre Leben« keine – ausgesprochene – Rolle.7 Meine These ist: Die Melancholie, die Betrachtermelancholie ist ein Schauplatz dieses Ringens, dieser Geiselhaft zwischen Verletzungswunsch und Gefährdungsangst. Und sie ist gleichzeitig die Leugnung dieser existentiellen Bezüglichkeit und Prekarität. Die Melancholie ist eine niedergeschlagene Rebellion gegen den Verlust des anderen, sie ist sein unbetrauerter Verlust, und in 6 An anderer Stelle schreibt sie: »Möglicherweise erscheint die Frage der Ethik genau an den Grenzen unserer Systeme der Verständlichkeit, dort, wo wir uns fragen, was es heißen könnte, einen Dialog fortzuführen, für den wir keine gemeinsame Grundlage annehmen können und wo wir uns gleichsam an den Grenzen unseres Wissens befinden und dennoch Anerkennung zu geben und zu empfangen haben« (Butler, 2003, S. 31). 7 Zum Konzept des melancholischen Geschlechts siehe Butler (2001, S. 125 – 184).

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der identifikatorischen Bewahrung des anderen tönt sie immer wieder : »Ich habe nichts verloren«. Vom Nutzen dieser Verschiebung und Abwehr schreibt Sigmund Freud in seinem Aufsatz Ein Kind wird geschlagen von 1919. Freud versuchte herauszufinden, ob sich in jenen Schlagephantasien eine sadistische oder masochistische Wunscherfüllung mitteilte: Wollte der/die Phantasierende schlagen oder geschlagen werden? In der Analyse erfuhr er, dass es weder nur um die eine noch nur um die andere Position ging, sondern die Phantasierenden die Rolle des Zuschauens wählten. Als Zuschauer/in und Voyeur/in wollten sie den Genuss an einer sadistischen Szene mit einer masochistischen Befriedigung verbinden.8 Wie aber kommt es zu dieser Gleichzeitigkeit scheinbar gegensätzlicher Lustrichtungen? Für Freud war Sadismus zunächst der primäre Trieb, Masochismus hingegen eine davon abgeleitete sekundäre Lust, gleichsam der Effekt eines verneinten Sadismus und somit eine Richtungsänderung des Aggressionsziels von einem externen Objekt auf das Selbst. Masochismus nach Freud ist Autosadismus.9 Den Grund für diese Rückwendung der Aggressionslust sah er in einer Abwehr von Gefühlen des Schuldbewusstseins und des Schämens für exakt jene primären sadistischen Wünsche. Insofern markiere und verdecke der Masochismus eine »narzisstische Narbe« (Freud, 2000b (1919), S. 244). In Freuds Auffassung geht die Phantasie, dass ein Kind geschlagen wird, auf ein ursprüngliches Werben um die Liebe des Vaters zurück. In dieser ersten, eher sadistischen Phase phantasiere das Kind, dass der Vater ein anderes Kind schlage, dass dieser somit der Eifersucht und Konkurrenzbefürchtung des phantasierenden Kindes entgegentrete und es seiner alleinigen Liebe versichere. In einer zweiten masochistischen Phase rücke sich das phantasierende Kind selbst in die Position des GeschlagenWerdens. Diese Phase erachtete Freud als die wesentliche, weil sich das Kind hier weiterhin der Vaterliebe versichern will, nun aber in einer abgewehrten, verleugneten und verschobenen Weise. Das Begehren, von der Figur des Vaters geliebt zu werden, wird aufgrund des Inzesttabus verdrängt und zeigt sich nunmehr verneint in der Phantasie, vom Vater geschlagen zu werden. Anders formuliert: Die Phantasie, geschlagen zu werden, ist gleichermaßen Selbstbestrafung und Schuldbewusstsein für den Wunsch, allein geliebt werden zu 8 »Allein nur die Form dieser Phantasie ist sadistisch, die Befriedigung, die aus ihr gewonnen wird, ist eine masochistische […]« (Freud, 2000b (1919), S. 242). 9 »Es scheint sich zunächst zu bestätigen, dass der Masochismus keine primäre Triebäußerung ist, sondern aus einer Rückwirkung des Sadismus gegen die eigene Person, also durch Regression vom Objekt aufs Ich entsteht« (Freud, 2000b (1919), S. 245). Diese Deutung hatte er bereits 1915 in Triebe und Triebschicksale formuliert: »Ein ursprünglicher Masochismus, der nicht auf die beschriebene Art [als Abwehr, L.H.] aus dem Sadismus entstanden wäre, scheint nicht vorzukommen« (Freud, 2000 (1915), S. 91).

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wollen.10 Diese masochistische Phase wird nach Freud aber aufgrund des Schuldbewusstseins nicht aktiv erinnert, sondern zeige sich nur entstellt in einer dritten Phase von Schlagephantasien.11 In dieser, nun wieder ins Sadistische gewendeten Phase ist der Schlagende durch eine andere Figur der väterlichen, autoritären, symbolischen Ordnung ersetzt und die geschlagene Person erneut eine fremde. Der/die Phantasierende hat sich nun aus der Szene zurückgezogen und imaginiert sich als Zuschauer/in einer sadistischen Szene, um gleichzeitig aber in der Bestrafung des anderen eine unbewusste, verdrängte masochistische Selbstbestrafung zu genießen. Während Freud jedoch die Verneinung der Liebe zum Vater und ihr Weiterleben in den Schlagephantasien als ödipalen Konflikt aufgrund des Inzesttabus betont, scheint mir eine strukturalistische Lesart dieses Komplexes für unseren Zusammenhang sinnvoller. Erkennen wir nun in der Liebe zum Vater ein Begehren nach dem (weißen, westlichen) Gesetz des Vaters sowie dessen phallischer Macht und symbolischer Unversehrtheit, so wären Schlagephantasien, also das (mediale) Zusehen beim Schlagen, keineswegs ein Verzicht auf diesen Phallus der Unverletzbarkeit, sondern eine weitere Spielart, ihn pervers – in seinen abgeleiteten Triebschicksalen – genießen zu wollen. Denn wenn die masochistische Phantasie, durch die weiße symbolische Ordnung verletzt zu werden, eine, wie Freud sagt, »Resterscheinung« der geleugneten sadistischen Konkurrenz um jene Machtposition ist, dann ist das masochistisch eingefärbte Zuschauen eine trickreiche Möglichkeit, konfliktfrei die Lust an tabuisierten (westlich, weißen) Herrschaftsverhältnissen beizubehalten. Das ist ganz deutlich bei den zahlreichen Aufnahmen der Opfer von 9/11; aber ist das vielleicht auch der Fall beim Betrachten der Folterbilder aus Abu Ghraib oder den Toten und Verletzten des Arabischen Frühlings? Opferidentifikationen und Phantasien, beim Geschlagen-Werden zuzuschauen, wären dann ein regressiver Ersatz für den verpönten Wunsch geliebt, anerkannt, unversehrt zu sein und eine Selbstbestrafung für das eigene, verbotene phallische Begehren.12 Somit verlässt die opferidentifizierte Betrachtung eines Spektakels weißer Herrschaft nicht zwangsläufig die Dominanzverhältnisse, sondern kann in der Umkehr zu ihnen zurückkehren. Der bemitleidende Blick auf die Verwundung anderer mag folglich die Schuldaner10 »So würde die Phantasie der zweiten Phase, selbst vom Vater geschlagen zu werden, zum direkten Ausdruck eines Schuldbewussteins, dem nun die Liebe zum Vater unterliegt. Sie ist also masochistisch geworden; meines Wissens ist es immer so, jedes Mal ist das Schuldbewusstsein das Moment, welches Sadismus zum Masochismus umwandelt« (Freud, 2000b (1919), S. 240). 11 »Diese zweite Phase ist die wichtigste und folgenschwerste von allen. Aber man kann in gewissem Sinne von ihr sagen, sie habe niemals eine reale Existenz gehabt. Sie wird in keinem Falle erinnert, sie hat es nie zum Bewusstwerden gebracht« (Freud, 2000b (1919), S. 237). 12 Zur Opferidentifikation als Entlastungsdiskurs siehe auch Jureit/Schneider (2010).

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kennung weißer westlicher Suprematie als Ausgangsimpuls haben – und kann dennoch in einer narzisstischen Schuldverschiebung erstarren. Ein ähnliches Leugnungsspektakel beschrieb Freud bereits einige Jahre zuvor in seiner Abhandlung über Trauer und Melancholie (Freud, 2000a (1915/17)). Während die Trauer den langsamen Ablösungsprozess des Subjekts von einem verlorenen Objekt darstelle, sei die Melancholie hingegen eine Inkorporationstechnik, die das verlorene Objekt zu bewahren versuche. Ein Mittel, das Objekt obgleich real, nicht aber psychisch aufgeben zu müssen, könne sein, es sich über regressive Identifikation einzuverleiben, es gleichsam – wie Saturn seine Söhne – aufzufressen. Ähnlich den Schlagephantasien, die sich mit Freud als ambivalente Rückwendung auf ein tabuisiertes Begehren nach dem (weißen) Phallus zu erkennen geben, ist die Melancholie eine Regression auf den unwiederbringlich verlorenen Anfang einer Beziehung, die noch alles vor sich hatte. Das melancholische Subjekt versucht, vor Verletzung, Kränkung, Zurückweisung oder Enttäuschung und der damit verbundenen Erschütterung dieser Objektbeziehung in dem Maße auszuweichen, in dem es sich mit dem Objekt, das es nicht (mehr) haben darf, identifiziert und somit zu einem Teil zu diesem Objekt wird: »Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich«, schreibt Freud, und weiter : »Die narzisstische Identifizierung mit dem Objekt wird dann zum Ersatz der Liebesbesetzung, was den Erfolg hat, dass die Liebesbeziehung trotz des Konfliktes mit der geliebten Person nicht aufgegeben werden muss« (Freud, 2000a (1915/17), S. 203).13 Die Verinnerlichung des Verlustes ist demnach Teil seiner Verweigerung und Unbetrauerbarkeit. Ein melancholisches Subjekt möchte von sich sagen: Ich habe nichts verloren! Und so wird es zu dem, was es nicht lieben durfte. Während nach Freud eine erfolgreiche Trauerarbeit eine Lösungsarbeit, gleichsam eine Entsagungsarbeit darstellt, rebelliert die Melancholie dagegen. Diese Rebellion bringt das Subjekt allerdings nicht an ein kathartisches Erlösungsziel, wie Freud es für die geglückte Trauer verspricht. Vielmehr erscheint in der Melancholie der Verlust unbetrauerbar zu sein, er wird kokoniert, bis er zum eigentlichen Subjektkern geworden sein wird. Das melancholische Ich erinnert eindrücklich an den Rimbaudschen Satz, dass das Ich ein anderer sei. Genau dieses Wissen um die eigenen Verlustverstrickungen und deren Ausweichmanöver könnte Teil einer anderen Auffassung von (visueller) Trauer werden, die entgegen des Freudschen Diktums nicht von einer erfolgreichen Trennbarkeit zwischen mir und dem anderen ausgeht, sondern vielmehr seine Spur in mir, diese existentielle, unaufkündbare Interdependenz erkennt und für eine Selbstreflektion im verlorenen anderen plädiert. Die Selbstklage ist dann ei13 »Die Liebe hat sich so durch ihre Flucht ins Ich der Aufhebung entzogen« (Freud, 2000a (1915/17), S. 210).

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gentlich eine inkorporierte Anklage, eine niedergeworfene Rebellion zwar, aber eine Rebellion. Eine Rebellion gegen das Phantasma der Souveränität, der Autonomie, der homologen Selbstidentifikation, der Kohärenz, der klaren Binaritäten, ihren asymmetrischen Machtverhältnissen und Betrachterpolitiken. Denn in dem Maße, in dem die Betrachtermelancholie behauptet, sie habe nichts verloren, wehrt sie sich dagegen, nichts zu verlieren zu haben. Somit möchte ich mit Georges Batailles Gedanken zu dem Bild der Folter, einer Fotografie der Chinesischen Folter, enden (Abb. 7, Chinesische Folter). Bataille sprach einen wichtigen, zunächst vielleicht paradox anmutenden Grund für das Betrachten von Gräueldarstellungen an: Er dachte die Schaulust für Bilder äußersten Leids zusammen mit einer Überwindungsphantasie der Angst vor der eigenen Versehrbarkeit: »Dieses Bild hat in meinem Leben eine ausschlaggebende Rolle gespielt: Dokument eines zugleich ekstatischen (?) und unerträglichen Schmerzes, ist es mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. […] Diese Gewalt – und ich kann mir noch heute keine irrsinnigere, grauenhaftere Gewalt vorstellen – erschütterte mich dermaßen, daß ich eine Ekstase erlebte. Mit diesem Beispiel möchte ich auf eine grundlegende Verbindung hinweisen: die Verbindung der religiösen Ekstase mit der Erotik, und im besonderen mit dem Sadismus – des Uneingestehbarsten mit dem Erhabensten. […] Was ich plötzlich sah und was mich mit Angst erfüllte – was mich jedoch zugleich von dieser Angst erlöste –, war die Identität dieser vollkommenen Gegensätze: der göttlichen Ekstase und des äußersten Grauens« (Bataille, 1981, S. 246 f.).

Der An/Blick des versehrten Anderen löst Angst aus und erlöst von der Angst. Knecht und Geisel dieser Ambivalenz zu sein, könnten Ausgangspunkt einer visuellen Ethik sein, die, will sie Gewalt nicht reproduzieren, selbst nie friedlich, oft aber melancholisch sein kann.

Literatur Bataille, Georges: Die Tränen des Eros. München 1981. Botero, Fernando: Abu Ghraib. München/Berlin 2006. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main 2001. – Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main 2003. – Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main 2005. – Folter und Ethik der Fotografie. In: Hentschel, Linda (Hrsg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Berlin 2008, S. 203 – 228. – Krieg und Affekt. Hrsg. und übersetzt von Judith Mohrmann u. a. Zürich 2009. – Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/New York 2009a. El Perro: Democracy, Installation. In: Tagesspiegel, 12. Februar 2005, S. 14. Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale. In: Ders.: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe Band III. Frankfurt am Main 1915/2000, S. 75 – 102.

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– Trauer und Melancholie. In: Ders.: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe Band III. Frankfurt am Main 1915/1917/2000a, S. 193 – 212. – Ein Kind wird geschlagen. In: Ders.: Zwang, Paranoia und Perversion. Studienausgabe Band VII. Frankfurt am Main 1919/2000b, S. 229 – 254. Hentschel, Linda: Haupt oder Gesicht? Visuelle Gouvernementalität seit 9/11. In: Dies. (Hrsg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Berlin 2008, S. 183 – 200. – Auf der Suche nach dem ungehorsamen Sehen. In: kritische berichte, Nicht-Künstlerische Bilder, Heft 4, Marburg 2009, S. 64 – 73. Jureit, Ulrike und Christian Schneider : Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart 2010. Range, Sebastian: Bibi Aisha – die Propaganda-Lüge von dem angeblichen Talibanverbrechen. In: http://www.hintergrund.de/201010141190/hintergrund/medien/bibiaisha-die-propaganda-luege-von-dem-angeblichen-talibanverbrechen.html (6. 5. 2011). Time Magazine: What Happens If We Leave Afghanistan, 9. August 2010. Vorsamer, Barbara: Das neue Gesicht Afghanistans. In: Sueddeutsche.de, 6. 8. 2010: http:// www.sueddeutsche.de/politik/umstrittenes-cover-des-time-magazines-das-neue-gesicht-afghanistans-1.984951 (18. 7. 2011).

Angela Koch

Sexuelle Gewalt und traumatische Erzählung. Überlegungen zum Film GRBAVICA – ESMAS GEHEIMNIS

Die seit dem Tod Titos in Jugoslawien schwelenden ethnisch-nationalen Konflikte führten zu Beginn der 1990er Jahre zu einer kriegerischen Eskalation, den sogenannten Jugoslawienkriegen. In diesen Kriegen erlangte der systematische Einsatz sexueller Gewalt als kriegerisches Mittel – teils wurden die Frauen und Mädchen in Internierungslager verschleppt, teils aber auch in Kasernen, Wohnungen oder Hotels – erstmals eine internationale Medienöffentlichkeit.1 Dies ist vor allem den (ex-) jugoslawischen Frauenorganisationen zu verdanken, die im Oktober 1992 in Zagreb einen Kongress veranstalteten und dabei vehement auf die sexuellen Gewalttaten aufmerksam machten, nachdem frühere Berichte etwa vom Roten Kreuz auch von offiziellen Stellen ignoriert worden waren (Renka, 1994; Seifert, 1993, S. 105).2 In der Folge führte die mediale Präsenz der Vergewaltigungen in den Jugoslawienkriegen zur Anerkennung von sexueller Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstoß gegen die Genfer Konventionen durch das Internationale Strafgericht sowie zur Verurteilung von sexueller Gewalt als Kriegsstrategie in der UN Resolution 1820 von 2008.3 Gleichwohl wurde die Darstellung der Vergewaltigungen in Ex-Jugoslawien durch die Medien von feministischer Seite scharf kritisiert. In Deutschland geriet besonders die zweite Entmündigung der Überlebenden durch die 1 Meist wurde von brutalen sexuellen Angriffen serbischer para/militärischer Einheiten gegen bosnische Frauen und Mädchen berichtet, das kroatische Militär ist allerdings in ähnlich systematischer Weise gegen die bosnische Bevölkerung vorgegangen, nur offenbar nicht in gleichem Ausmaß. 2 In Deutschland mag die Aufmerksamkeit gegenüber den Vergewaltigungen auch der Tatsache geschuldet sein, dass der Film Befreier und Befreite von Helke Sander, der im Jahr 1992 zumindest in der feministischen und Frauen-Szene breit diskutiert wurde, zu einer Sensibilisierung bezüglich sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen geführt hat. 3 Im Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. 7. 1998 ist unter Artikel 7 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) 1.g) Folgendes aufgeführt: »Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere« (http://www.admin.ch/ch/d/ sr/0_312_1/a7.html; zuletzt eingesehen am 24. 7. 2011).

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Medienexperten und -expertinnen in den Fokus der Kritik, da die betroffenen Frauen keine Möglichkeit erhielten, selbst ihre Erfahrungen sowie Interpretationen des Erlebten zu artikulieren. Den Medien (allen voran die Sendung Mona Lisa, ZDF, 15. 11. 1992; Alexandra Stiglmayers Artikel Vergewaltigung als Kriegswaffe im Stern vom 26. 11. 1992 und Ursula Otts Artikel Die Opfer in der Emma 3/4 1993) wurde zum Vorwurf gemacht, dass sie damit einer voyeuristischen Exotisierung der sexuellen Gewaltverbrechen Vorschub leisteten und übereifrig eine nationalistische Gewaltrhetorik aufgriffen, die letztlich zu einem breiten Konsens der völkerrechtlichen Anerkennung der neu gegründeten Balkanstaaten und des militärischen Eingreifens durch UNO- und NATO-Einheiten führte. Auch weite Teile der Frauenbewegung stimmten in die Verurteilung der serbischen para/militärischen Truppen ein und votierten für eine Delegierung der Lösung des Konflikts an internationale und nationale politische und militärische Entscheidungsträger ; dabei ignorierten sie, dass das Mittel der sexuellen Gewalt von allen Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien eingesetzt wurde, umgingen eine differenzierte Diskussion über den Zusammenhang von Nationalismus, Krieg und sexueller Gewalt und vermieden einen eigenen politischen Einsatz, beispielsweise für die Anerkennung von sexueller Gewalt als Asylgrund (Fischer, 1993; Kappeler, 1994; Kasˇic´, 1994). Während Hilfsorganisationen wie Medica Mondiale, Medica Zenica oder Amnesty International weiterhin mit und für die Überlebenden der sexuellen Gewaltverbrechen arbeiteten und arbeiten, waren die Vergewaltigungen der Jugoslawienkriege – bis auf kurze Berichterstattungen über die Verurteilung vereinzelter Täter – schnell aus der Medienöffentlichkeit verschwunden. Dies ist der Hintergrund, vor dem der Film Grbavica – Esmas Geheimnis (Jasmila Zˇbanic´, A/BIH/D/HR) im Jahr 2006 Premiere hatte.4 Grbavica ist bislang der einzige Spielfilm über die sexuelle Gewalt in den Jugoslawienkriegen und die damit zusammenhängenden Folgen für die überlebenden Frauen, der es in die Kinos geschafft hat. Die Regisseurin Jasmila Zˇbanic´ formulierte in einem Statement zum Film: »Grbavica ist zuerst eine Geschichte über die Liebe. Über eine Liebe, die unrein ist, weil sie mit Hass, Abscheu, Trauma und Verzweiflung vermengt ist. Es ist auch eine Geschichte über Opfer, die obwohl sie keine Verbrechen begangen haben, sich der nachkommenden Generation gegenüber schuldig fühlen« (Zˇbanic´ o. J.).

In einem Interview zu Esmas Geheimnis äußerte Zˇbanic´ die Hoffnung, dass der Film nicht nur in Bosnien, sondern auch international für mehr Aufmerksamkeit gegenüber der Situation der überlebenden Frauen sorge. Jasmila Zˇbanic´ hatte 4 Die Premiere von Grbavica war im Februar 2006 auf der Berlinale, wo er den Goldenen Bären, den Friedensfilmpreis und den Preis der Ökumenischen Jury erhielt.

Sexuelle Gewalt und traumatische Erzählung

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den Bosnienkrieg als junge Frau miterlebt. Wie viele der Überlebenden konnte sie ihre »Erfahrungen nicht in Worte fassen«, das Medium des Films dagegen eröffnete ihr die Möglichkeit, ihre Erinnerungen und Emotionen durch Bilder zu kommunizieren (Zˇbanic´, 2006).

1.

Inszenierung von sexueller Gewalt und Trauma

In Grbavica will Jasmila Zˇbanic´ die subjektive Seite der erlittenen Gewalt aus der Perspektive der Frauen, exemplarisch der Figuren Esma und deren Tochter Sara, zeigen: Esma ist eine Überlebende eines der Vergewaltigungslager in Sarajevo; ihre 12-jährige Tochter Sara wurde während der Vergewaltigungen gezeugt. Indem Grbavica die Alltagsbewältigung in der Nachkriegszeit aus der Perspektive der traumatisierten Esma erzählt, nimmt der Film eine radikale Gegenposition gegenüber den meisten anderen Spielfilmen ein, die sexuelle Gewalt zum Thema haben; denn das subjektive Erleben, die Erfahrungen der Frauen werden meist aus auktorialer oder Zeugenperspektive gezeigt.5 Die typischen rape-revenge-Filme inszenieren die sexuelle Gewalt als ein Spektakel, in dem die Sexualität der Protagonistin zwischen männlichem Besitzanspruch und Unterworfenheit sowie unstattlichem weiblichem Begehren und Rachelust changiert. Damit wird einmal mehr das Unheimliche, das Unfassbare und latent Gefährliche der weiblichen Sexualität vorgestellt. In rape-revenge-Filmen wie MS.45 (Abel Ferrara, USA 1981), Lipstick (Lamont Johnson, USA 1976), I spit on your grave (Meir Zarchi, USA 1978), A Gun for Jennifer (Todd Morris, USA 1995) oder Baise-moi (Virginie Despentes/Coralie Trinh, Frankreich 2001) werden Geschlechterdifferenzen nur deshalb überschritten, um sie letztlich wieder in die symbolische Ordnung einzufügen. Der sexuelle Gewaltakt bildet den Wendepunkt der Narration, er gerät dabei zu einem voyeuristischen Ereignis, dessen Heldin die Figur der Vergewaltigten und dessen Antihelden die Vergewaltiger sind. Ähnlich wie es Klaus Theweleit für Saló (Pier Paolo Pasolini, Italien/Frankreich 1975) beschrieben hat, werden die Zuschauenden durch ihren Blick auf die ästhetisierte Gewalt in rape-revenge-Filmen, etwa in Irréversible (Gaspar NoÚ, Frankreich 2002) oder I spit on your grave, zum Bestandteil einer »sadomasochistischen Konstruktion«, die sich aus dem genießenden Betrachten der Gewalttätigkeit und zugleich der Opfer ergibt (Theweleit, 2003, S. 241 ff.). 5 Sogar der Film The Accused (Jonathan Kaplan, USA 1988), der für sich in Anspruch nimmt, den sexuellen Angriff durch mehrere Täter – und auch die zweite Vergewaltigung vor Gericht – aus der subjektiven Perspektive der betroffenen Sarah zu erzählen, ersetzt letztlich, wenn es um die konkrete Repräsentation der sexuellen Gewalt geht, Sarahs Perspektive durch die Rückblende eines Zeugen.

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Der Film Grbavica spart dagegen sowohl die Perspektive der Vergewaltiger oder gar voyeuristischen Beobachter als auch die explizite Visualisierung des sexuellen Gewaltspektakels aus, obwohl innerhalb der Versuchsanordnung zwischen Mutter und Tochter Bilder gefunden werden müssen, welche die Ursache des mütterlichen Traumas veranschaulichen. Indem die Darstellung der sexuellen Gewalt metaphorisch gezeigt wird und der Film der subjektiven Perspektive Esmas folgt, entzieht die Regisseurin der sexuellen Gewalt den demonstrativen Charakter, der Teil ihrer Inszenierung im Krieg ist (Gruppenvergewaltigungen, öffentliche Vergewaltigungen) und die Erniedrigung der Gefangenen zur Macht der Folterer/Vergewaltiger geraten lässt (Scarry, 1992, S. 69, 81; Bourke, 2007, 357 ff.).6 Jasmila Zˇbanic´ steht jedoch aufgrund der Geschichte, die sie mit Grbavica erzählen will, vor einem grundlegenden Repräsentationsproblem: Die Darstellung von Gewaltakten aus der Perspektive der Täter ist, wie Deleuze in seiner Auseinandersetzung mit de Sade schreibt, eine Täuschung, denn sie ist absorbiert von der Idee der Legitimation der Gewalt: »Es geht um den Nachweis, daß die Ausübung von Gewalt und die logische Beweisführung identisch sind« (Deleuze, 1980, S. 175, vgl. auch S. 173 f.). Das heißt, die Macht des Gewalttäters liegt darin begründet, dass er die Rationalität auf seiner Seite hat, denn die Gewalt ist der logische Beweis ihrer Berechtigung. Zugleich ist aber erlittene schwere Gewalt, der Schmerz und die Erniedrigung, für die Betroffenen selbst zwar intensiv wahrnehmbar, anderen jedoch nicht mitteilbar, da es keine kodifizierte Sprache oder Visualisierungsmöglichkeit für schwere körperliche und psychische Verletzungen – insbesondere in ihrer Kombination bei sexueller Gewalt oder Folter – gibt. Beide sind zusätzlich durch das Moment der Selbstreferenz charakterisiert, das Elaine Scarry für den Schmerz treffend beschrieben hat: »[…] Schmerz ist nicht Schmerz von oder nach etwas; Schmerz ist nur er selbst. Diese Objektlosigkeit, das Fehlen jeglichen referentiellen Gehalts, macht es nahezu unmöglich, ihn in Worte zu fassen. Da der Schmerz objektlos ist, lässt er sich nur schwer […] in eine materielle oder sprachliche Form bringen. […] Jeder Zustand, der permanent ohne Objekt ist, führt zur Erfindung« (Scarry, 1992, S. 242).

6 Sexuelle Gewalt und Folter werden gerade in Bezug auf die traumatischen Folgen sehr oft miteinander verglichen, wobei zu berücksichtigen ist, dass Folter per definitionem immer von staatlicher Seite ausgeführt wird, während sexuelle Gewalt ein Alltagsverbrechen darstellt und gerade innerhalb weiterer oder näherer Beziehungs- bzw. Verwandtschaftsverhältnisse sehr häufig vorkommt (zum Vergleich von sexueller Gewalt und Folter siehe Am¦ry, 1977, S. 45 oder Brison 2002, 67 ff.). Gerade aber in der sexuellen Gewalt als Kriegsstrategie und in der sexualisierten Folter fallen die beiden Praktiken zusammen und klare Grenzen sind kaum mehr auszumachen (vgl. Götz von Olenhusen, 2000).

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Bemerkenswert ähnlich argumentiert Mieke Bal in einem Text über ihren methodischen Ansatz, Text- und Bildanalysen miteinander zu kombinieren, bei der Interpretation von Gemälden zur Vergewaltigung der Lukretia. Die Erfahrung der sexuellen Gewalt stelle, so Bal, eine innere Verletzung dar, mache die Betroffene unsichtbar und zerstöre sie als Person. Sexuelle Gewalt bleibe daher ein Moment der Imagination, der Erinnerung und sei nicht objektivierbar (Bal, 1990, S. 142). Bal hebt damit auf die Abspaltung der Gewalterfahrung ab, die sich im Moment des Geschehens nicht ins Bewusstsein integrieren lässt und zeitlich verschoben als Trauma von den Betroffenen Besitz ergreift. Scarry und Bal machen beide einerseits auf einen Mangel an faktischer Ausdrucksmöglichkeit bei schwerer Verletzung aufmerksam, weisen aber andererseits auf das Potenzial bzw. Verhängnis der fiktionalen Darstellung des Traumas hin. Gerade bei sexueller Gewalt wird die Erzählung der traumatischen Erinnerung im strafrechtlichen Kontext zum Verhängnis,7 denn sie ist nicht realitätsgerecht, entspricht nicht dem Faktischen einer Wirklichkeit und äußert sich kaum als kohärente Narration. Sie ist vielmehr eine Erzählung über den Verlust der Kontrolle, des Selbst, der Sprache, der Stimme, der Würde, über die Hilflosigkeit, über unwillentliche und/oder sich wiederholende Bilder, über Angst (vgl. z. B. Brison, 2002). In künstlerischen, medialen, literarischen oder therapeutischen Kontexten kann die Erzählung oder Darstellung der traumatischen Erinnerung jedoch zu einem Potenzial werden, zu einem performativen Akt der Wiederherstellung des Selbst oder der Aufführung für und mit anderen. Sie verliert dabei nicht an Authentizität, auch wenn ihr das Moment der Imagination oder Fiktion inhärent ist (ebd., S. 72). Gerade weil sich sexuelle Gewalt und Trauma einer realitätsnahen Repräsentation entziehen, bieten sich ästhetische Mittel jenseits des Mainstreams an, der traumatischen Erinnerung mit ihren Inkohärenzen, der Bildhaftigkeit, den Lücken und Verschiebungen sowie ihrer Flüchtigkeit Ausdruck zu verleihen. Jan Krawitz hat beispielsweise in dem Dokumentarfilm In Harm’s Way (Jan Krawitz, USA 1996) versucht, den Zusammenbruch ihrer Welt zu veranschaulichen, indem sie Kindheitserinnerungen mit den Bruchstücken der Erinnerung an ihre Vergewaltigung, ihre Vision des nahenden Todes und dem heilen Weltbild einer Mittelschichtsfamilie koppelt und mit Bildern von ihr selbst und texanischen Landschaften, Straßenszenen, Aufnahmen von Motels und Szenen aus einem Mädchenleben. Meist wird allerdings auf bestehende kulturelle Codes zurückgegriffen, um das auszudrücken, was eigentlich nicht mitteilbar ist. In der literarischen, künstlerischen und filmischen Bearbeitung von sexueller Gewalt hat sich ganz 7 Die traumatische Erinnerung an Folter ist im strafrechtlichen Kontext meist nicht relevant, da sie von Staatswegen vollzogen wird und damit kaum verfolgbar ist oder weil sie verboten ist und daher nicht vom Strafrecht berücksichtigt wird, wie das in Deutschland der Fall ist.

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abgesehen vom ästhetisierten Spektakel der sexuellen Gewalt gezeigt, dass die Darstellungen im 19. Jahrhundert tendenziell auf einen Verlust der (Geschlechts-)Ehre der Frau, im 20. Jahrhundert eher auf eine Beschränkung der individuellen sexuellen Freiheit der Frau abheben und damit überwiegend eine Verkehrung von Opfer und Täter vornehmen, bei der die Schuld vom Täter auf das Opfer übergeht. Der politische und gesellschaftliche Kontext aber, in dem sexuelle Gewaltakte ausgeführt werden, wird in den meisten Fällen ignoriert, der Machtfaktor negiert (vgl. z. B. Bal, 1990; Dane, 2005; Koch, 2004, 2007, 2008a, 2008b, 2009; Wolfthal, 1999). Zwar mögen die soziologischen Kategorisierungsversuche von Ruth Seifert, die »vergewaltigungsarme« von »vergewaltigungslastigen« Gesellschaften unterscheidet, oder von Theresa Wobbe und ihrer Konstruktionen von »Verletzungsoffenheit« und »Verletzungsmächtigkeit« innerhalb der Geschlechterverhältnisse etwas zu kurz greifen und stärker auf Differenzen denn auf Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten abheben. Beide gehen in ihren Erklärungsversuchen zum Auftreten von sexueller Gewalt jedoch von geschlechterhierarchischen gesellschaftlichen Verhältnissen aus, in denen Frauen kulturell und historisch als Repräsentantinnen des Kollektivs begriffen werden und in dieser Funktion gleichermaßen angreifbar (verletzungsoffen) wie angreifend (das Selbstverständnis der patriarchalen Ordnung in vergewaltigungslastigen Gesellschaften) sind (Wobbe, 1994; Seifert, 1993). Sexuelle Gewaltakte sind ein typisches Kennzeichen geschlechterhierarchischer Gesellschaften, sie entbehrten ihres Effekts, wenn es die unterworfene Position der »Frau« nicht gäbe – auch bei Vergewaltigungen von Männern oder Queers. Gerade in der Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt als Kriegsstrategie ist das politische Moment der Gemeinschaft – stets in Konkurrenz zu anderen Gemeinschaften – in der Verknüpfung mit der untergeordneten Position der Frau bedeutend. Ein Film, der die Traumatisierung einer Überlebenden der Vergewaltigungslager im ehemaligen Jugoslawien thematisiert, muss sich daher der Frage nach der politischen Einbettung in die historische Situation stellen. Der Film Grbavica von Jasmila Zˇbanic´ soll im Folgenden entlang der oben angerissenen Problemstellungen befragt werden. Dabei soll erstens diskutiert werden, wie Zˇbanic´ versucht, das Trauma der sexuellen Gewalt als etwas, das nicht mitteilbar und nicht zeigbar ist, visuell und narrativ zum Ausdruck zu bringen. Daran anschließend stellt sich zweitens die Frage, wie in Grbavica das Dilemma gelöst wird, einerseits innerhalb der europäischen Kulturgeschichte verortet und auf tradierte Bild- bzw. Erzählstrukturen angewiesen zu sein, die immer wieder eine Rückkoppelung der Täterschaft und der Schuld bzw. Schande an die betroffene Frau vornehmen, andererseits aber der Intention gerecht zu werden, die Perspektive der Betroffenen zu inszenieren und ihnen vermittels des Films eine Stimme zu geben. Schließlich bleibt drittens zu klären, ob die Ge-

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schichte in Grbavica in einen historischen Kontext gesetzt wird, die Position der »Frau« innerhalb einer bis heute geschlechterhierarchischen Gesellschaft thematisiert wird und ob politische bzw. kollektive Identitäten konstruiert oder vielmehr erschüttert werden. Gerade Letzteres ließe sich mit Bezug auf den Begriff des »historischen Traumas« von Allen Meek befragen (Meek, 2010, S. 38 ff.).

2.

GRBAVICA

Der Titel des Films, der Begriff Grbavica, hat zwei verschiedene Bedeutungen. Zum einen bezeichnet er einen Stadtteil von Sarajevo, der vor dem Krieg v. a. von bosnischer Bevölkerung bewohnt wurde. Während des Kriegs ist Grbavica von bosnisch-serbischen Truppen der jugoslawischen Bundesarmee besetzt und als Kriegslager benutzt worden. Dort wurden nicht nur bosnische Männer interniert und gefoltert, sondern auch bosnische Frauen in Vergewaltigungslagern gefangen gehalten. Zum anderen heißt Grbavica übersetzt »Frau mit Buckel« und verweist damit sowohl auf eine verkrümmte Körperhaltung, die in der Regel für alle sichtbar ist, als auch im übertragenen Sinne auf eine schwer zu tragende Last (Zˇbanic´ o. J.). Eine ganz andere Konnotation hat dagegen der deutsche Titelzusatz »Esmas Geheimnis«. Er lässt eine Ungewissheit und etwas Rätselhaftes in Esmas Leben anklingen, ein unbestimmbares Wissen Esmas. Während Grbavica ganz klar auf den Ort, die Kriegsgeschehnisse und schließlich die psychische und physische Belastung anspielt, mystifiziert der deutsche Titel die Figur Esma und entzieht dem Titel die politische Brisanz, die er im Bosnischen hat.8 In dem Film Grbavica geht es um die Alltagsbewältigung der traumatisierten Esma, die auch in der Nachkriegszeit noch in Grbavica wohnt. Als alleinerziehende Mutter steht sie vor den Problemen, wie sie genug Geld für den Lebensunterhalt verdienen und wie sie den Bedürfnissen ihrer Tochter Sara, die zunehmend eigenständig wird, gerecht werden kann. Die Beziehung zwischen Esma und Sara ist einerseits sehr liebevoll gestaltet, andererseits immer wieder durch emotionale Ausbrüche der Mutter geprägt, denen die pubertierende Sara mit Unverständnis begegnet. Zum Höhepunkt im Film kommt es aufgrund der Armut von Esma, die einen Klassenausflug der Tochter nicht finanzieren kann. Sara, die glaubt, ihr Vater sei ein Schechid – ein Märtyrer, der im Krieg für 8 Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (früher Serbokroatisch) ist eine Sprache mit dialektalen Varietäten. Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden allerdings nur Bosnisch für die Bezeichnung der Sprache verwenden.

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Vaterland und Familie gefallen ist9 – will die Mutter entlasten und besteht darauf, eine entsprechende amtliche Bescheinigung in der Schule abzugeben, um von den Kosten des Ausflugs befreit zu werden. Es kommt zu einer heftigen Konfrontation zwischen Tochter und Mutter, in deren Verlauf Esma Sara erzählt, dass sie vielfach vergewaltigt worden und Sara das Kind eines Vergewaltigers sei. Neben der Beziehung zu Sara handelt Grbavica von der beruflichen Tätigkeit Esmas als Kellnerin in einem Nachtclub. Dort freundet sie sich mit dem Bodyguard Pelda an. Zentral ist im Film die Mutter-Tochter-Beziehung, die verwoben wird mit Szenen von Esmas Arbeit und ihrem Kontakt zu Pelda und einer Freundin, Saras Mädchen- und Schulleben, wenigen Einstellungen auf Gruppentherapiesitzungen der überlebenden Frauen und ein paar Ereignissen in Peldas Leben. Grbavica spielt ca. 12 Jahre nach Esmas Internierung im Lager, d. h. die sexuellen Gewaltverbrechen im Krieg gehören längst der Vergangenheit an. Um sie jedoch in ursächlichen Zusammenhang mit dem Trauma zu stellen, werden verschiedene narrative und visuelle Strategien eingesetzt. Dabei werden erstens Bezeugungen der Gewaltszenen inszeniert und zweitens visuelle Evidenzen der Perpetuierung des Traumas in der folgenden Generation hergestellt. Auf einer dritten Ebene wird die sexuelle Gewalt mittels männlich dominierter Einrichtungen, wie dem Nachtclub oder dem Militär, in die Gegenwart geholt.

3.

Zeugnisse der sexuellen Gewalt

Zusätzlich zur Schwierigkeit der Darstellung von sexueller Gewalt können die Taten immer auch als »Ereignisse ohne Zeugen« bezeichnet werden, ähnlich wie Dori Laub es für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden beschrieb (Laub, 1992). Das gilt insbesondere für die sexuelle Gewalt als Kriegsstrategie, denn unabhängige Augenzeugen jenseits von Betroffenen und Tätern gibt es nicht – gäbe es sie, hätten sie sich immer mitschuldig gemacht. Bezeugungen von sexueller Gewalt durch die Betroffenen – von Täter/innen-Seite gibt es m. W. kaum Berichte – sind daher immer durch die subjektive Perspektive, die individuell verarbeitete Erinnerung und häufig durch ein traumatisches Narrativ geprägt. Gleichzeitig aber stellen Zeitzeugen seit den NS-Prozessen, vor allem aber seit ihrer medialen Inszenierung und insbesondere seit dem Film Shoa (Claude Lanzmann, Frankreich 1985), die Verkörperung einer histori9 Schechid hatte offenbar früher eine eher religiöse Bedeutung als Märtyrer des Islam und ist erst in der jüngeren Zeit im nationalen Kontext gebräuchlich (Dank an Inge Poljak für sämtliche Hintergrundinformationen zum ehemaligen Jugoslawien und seinen neu entstandenen Staaten).

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schen Wahrheit dar, wie die Sammlungen und die aktuelle Aufnahme von Zeitzeugeninterviews bzw. -archiven in die Konzeption vieler Erinnerungsorte und Gedenkstätten zeigt. Die Verkörperung der historischen Wahrheit bezieht sich hier allerdings weniger auf eine juristische Beweiskraft, sondern vielmehr auf eine Beglaubigung, die Empathie, eine damit zusammenhängende Identifikation und schließlich die Repräsentation einer traumatischen Vergangenheit ermöglicht (vgl. Meek, 2010, 134 ff.; Keilbach, 2003). In Grbavica werden performative, visuelle Evidenz schaffende und narrative Beglaubigungsverfahren miteinander kombiniert, um Esmas Erfahrung der sexuellen Gewalt zu bezeugen. Um das Trauma performativ zu veranschaulichen, lässt Zˇbanic´ beispielsweise intime und liebevolle Mutter-Tochter-Szenen in impulsive Ausbrüche von Esma kippen. So endet eine Balgereiszene damit, dass Esma, die unter Sara zu liegen kommt, ihre Tochter gewaltvoll zur Seite schiebt, oder ein Fischessen, das Esma speziell für Sara bereitet hat, eskaliert in einer heftigen Auseinandersetzung über Saras dreckige Fingernägel, und der Fisch bleibt unberührt. Auch in einer Szene, in der Sara zum wiederholten Mal Interesse an ihrem Vater äußert und nach Ähnlichkeiten zwischen sich und ihrem Vater fragt, reagiert Esma abweisend und verneint abrupt, um dann aber die Ähnlichkeit der Haarfarbe zuzugestehen. Die Heftigkeit von Esmas Reaktionen ist überraschend und anfangs für die Zuschauenden unverständlich, erst später wird klar, dass Esmas Verhalten ursächlich mit ihren Gewalterfahrungen zusammenhängt. In der Dramaturgie der Beziehung zwischen Mutter und Tochter bekommen Esmas Reaktionen etwas Abnormes und Pathologisches. Das pathologische Moment wird verstärkt, indem den Zuschauenden noch im ersten Teil des Films zwei quer über Esmas Rücken verlaufende Narben gezeigt werden (Abb. 8, Esmas Narben). Diese Narben sind keine typischen Inszenierungen von sexueller Gewalt im Film. Meist orientieren sich Darstellungen von Verletzungen an forensischen Fotografien, darüber hinaus aber werden immer auch Wunden an Mund oder Hals gezeigt, die metaphorisch für die Vagina stehen, an und in der weder in der forensischen Fotografie noch im Film Verletzungen sichtbar gemacht werden können. Die Narben auf Esmas Rücken verbildlichen eher ihren psychischen Zustand, der als »gebrochenes Rückgrat«, als Destruktion ihrer Persönlichkeit gelesen werden kann, und verschaffen Esmas Trauma ein körperliches und sichtbares Pendant und damit visuelle Evidenz.10 Im letzten Drittel des Films kommt es schließlich zur Eskalation, die als 10 Die Narben auf dem Rücken werden in einen filmischen Zusammenhang gebracht mit einem Gespräch zwischen Esma und ihrem Kollegen Pelda über die Exhumierungen der Toten in den Massengräbern und könnten daher zusätzlich für die Aufdeckung der »Wunden« des Jugoslawienkriegs stehen.

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unwillkürliches reenactment der sexuellen Gewalt inszeniert wird. In der Konfrontationsszene zwischen Esma und Sara unterstellt Sara ihrer Mutter, sie wisse noch nicht einmal, »wer sie gefickt hat«, und will erfahren, an welcher Front der Vater gefallen sei. Dabei bedroht sie Esma mit einer Pistole. Esma reagiert unkontrolliert, wirft sich auf Sara, schlägt sie und schreit, dass sie vergewaltigt worden und Sara die Tochter eines »dreckigen Tschetniks« sei. Sara bricht zusammen und sträubt sich gegen die Wahrheit über ihren Vater. In diesem paradoxen reenactment gerät Esma, in dem filmischen Versuch der sexuellen Gewalt ein Bild zu geben, selbst zur verzweifelten Täterin, indem sie die Position des Vergewaltigers einnimmt, Sara schlägt und beschuldigt, ein »Bastard« zu sein (Abb. 9, reenactment der sexuellen Gewalt). Hier findet ein Bruch in der Repräsentation statt, der einmal mehr veranschaulicht, dass die sexuelle Gewalt aus der Perspektive der Betroffenen nicht darstellbar ist. Das Inszenesetzen der Gewalt und des damit verbundenen Schmerzes geschieht mangels anderer Ausdrucksmöglichkeiten vermittels des Exekutors, der Ausführende gerät zur Metapher für den Schmerz und entzieht der Betroffenen die Sprache (vgl. Scarry, 1992, S. 28 ff.). Dies vollzieht sich hier in einer doppelten Bewegung: Esma kann ihre Gewalterfahrung nur in der Sprache des Täters ausdrücken und nimmt gleichzeitig ihrer Tochter Sara die Sprache. Dieser Bruch aber ermöglicht es Zˇbanic´, die Protagonistin von der Festlegung auf eine Opferrolle zu suspendieren. Esma wird nicht als passives Opfer, sondern als wehrhafte Frau konstruiert, die aufgrund ihres Traumas zwar unkontrolliert handelt, jedoch nicht schicksalsergeben ist. Indem Esma Sara als »Bastard« beschimpft, distanziert sie sich als Mutter von ihr. Esma wird hier zur Repräsentantin des bosnischen Kollektivs, das durch die sexuellen Gewaltakte erniedrigt und zerstört werden sollte. In dieser Wendung zitiert der Film nicht nur die Rede der Herrschenden, sondern viel allgemeiner die Vorstellung einer patrilinearen Ordnung, die Frauen in der Genealogie negiert. Gerade dieser ideologische Hintergrund der sexuellen Gewalt als Kriegstaktik ist von feministischer Seite immer wieder kritisiert worden, da er einerseits einen eigenständigen Status der Frauen leugnet, und andererseits in der Anerkennung dieser Strategie die patriarchale Geschlechterordnung affirmiert wird. Ein kritischer Hinweis darauf, dass gerade auch die in den Vergewaltigungen gezeugten Kinder Leidtragende dieser Denkweise sind, könnte die Darstellung Saras als wehrloses und geschlagenes Opfer in der reenactmentSzene sein. Mit der nachfolgenden und gegenläufigen Inszenierung der Therapiesitzung bezieht Grbavica allerdings eine deutliche Gegenposition. Esma, die bislang nur zur Frauentherapiesitzung gekommen ist, um die kleine Kriegsrente in Empfang zu nehmen, erzählt erstmals, welche Qual die Schwangerschaft im Vergewaltigungslager für sie war. Erst das Schreien Saras nach der Geburt habe

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ihr zu Bewusstsein gebracht, dass es auf der Welt auch noch Schönes gebe. Esmas erinnernde Erzählung in der Therapiesitzung lässt den vorhergehenden eruptiven Ausbruch als kathartisch erscheinen, denn nun kann Esma im geschützten Rahmen der Frauengruppe den Schmerz zulassen, die zwiespältigen Gefühle gegenüber der Tochter zum Ausdruck bringen und sie nun als ihr Kind – als etwas »Schönes« – anerkennen. Susan Brison weist mit Bezug auf Caruth und van der Kolk/van der Hart auf das häufig mit Theorien traumatischer Erinnerung einhergehende Dilemma hin, dass die Fiktionalität der traumatischen Erinnerung der betroffenen Person entweder den Status einer glaubwürdigen, jedoch kranken Opfer-Zeugin zuspreche oder aber den einer unglaubwürdigen Überlebenden, die das Trauma verarbeitet hat und fähig ist, eine kohärente und stringente Narration zu entwickeln (Brison, 2002). Der dramaturgische Höhepunkt in Grbavica hat ganz in dieser Logik zumindest für Esma eine kathartische Wirkung, sie befreit sich gewissermaßen von dem traumatischen Druck, indem sie das Geheimnis lüftet. Danach ist sie erst fähig zur Artikulation ihrer Gewalterfahrungen in der Therapiegruppe und kann, da sie sich schon auf dem Weg der Verarbeitung befindet, eine konsistente Narration herstellen. Brison plädiert für die Möglichkeit der Entwicklung einer solchen narrativen Erinnerung, die zu einer Wieder- bzw. Wieder-Neu-Herstellung des Selbst befähigen kann, auch wenn damit die Glaubwürdigkeit des Geschehens infrage gestellt werden könnte. In Grbavica allerdings wird Esma die Glaubwürdigkeit trotz ihrer schlüssigen erinnernden Erzählung in der Therapiesitzung nicht entzogen: Zum Einen findet sie im geschützten Rahmen der Frauengruppe statt und nicht etwa im Gerichtssaal; zum Anderen ist es nun die Tochter, die anstelle der Mutter das Leid trägt – visuell als Glatze inszeniert –, aber immerhin einer Zukunft entgegengehend; des Weiteren ermöglicht der Fokus allein auf Esma und ihre Beziehungsgeflechte, häufig in Nah- oder Großaufnahmen, den Zuschauenden keinen Blick von außen, keine andere Perspektive als Esmas eigene; und schließlich erzählt Esma nicht von der sexuellen Gewalterfahrung, sondern v. a. von der Erfahrung der Geburt, die ihr kaum geleugnet werden kann. Dieses narrative Beglaubigungsverfahren wird als eine authentische Erzählung inszeniert, das der sprechenden Esma einen Status als Zeitzeugin gibt. Erst ab dieser Episode wird es den Zuschauenden ermöglicht, Empathie für Esma zu entwickeln und sich mit ihr zu identifizieren, denn nun werden die impulsiven Ausbrüche in einen Kausalzusammenhang gesetzt und die Erzählung wird kohärent. Während Esma sich im Zulassen des Schmerzes und in der Trauer – auch visuell als Großaufnahme gezeigt – als Person zurückgewinnt, erhalten die Zuschauenden ein Identifikationsangebot und die Möglichkeit, mitzutrauern. Da dieses Beglaubigungsverfahren nicht in eine Heroisierung der überlebenden Frauen und Esmas im Speziellen abgleitet und somit einer Trivialisierung Vor-

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schub leistet, kann es als ein Angebot betrachtet werden, das historische Trauma der sexuellen Gewalterfahrung aus der Perspektive von Esma wahrzunehmen und zu bearbeiten.

4.

Die Perpetuierung des Traumas

Parallel zu den Szenen von Esmas Repersonalisierung wechselt die Figur der Sara von der Position des unbedarften Kindes erst zur Position einer Täterin, die Esma vermutlich ähnlich wie die serbischen Soldaten mit einer Waffe bedroht, und schließlich zur Position des »Bastards«, visualisiert als wehrloses Opfer. Indem sich Sara eine Glatze rasiert, wird nun sie zum Referenten des zuvor nicht mitteilbaren Schmerzes (Abb. 10, Sara rasiert sich ihren Kopf). Das Stigma der Gewalt geht visuell auf Sara über, erhält aber die Konnotationen von Schande und Scham, v. a. wenn man sich die Zurichtung und öffentliche Zurschaustellung von vermeintlichen Kollaborateurinnen ins Gedächtnis ruft. Christine Künzel hat in einem Text zur Bedeutung der aufgelösten Frisur in Darstellungen von sexueller Gewalt darauf verwiesen, dass der Zustand des Haars als Schnittstelle von Körper und Repräsentation v. a. in der mittelalterlichen Rechtsprechung eine mimetische Bedeutung für die Veranschaulichung der sexuellen Gewalttat hatte, die anders kaum zu belegen war. So galt das geraufte oder wirre Haar vor Gericht als ein performativer Akt, der sowohl die Tat als auch den Widerstand dagegen in Form des wirren Haares und das nachfolgende Trauma in Form des gerauften Haares sichtbar machen sollte (Künzel, 2004). In Darstellungen von sexueller Gewalt im Film wird diese Haarperformance häufig aufgegriffen, um Verletzung und Destruktion zu zeigen.11 Eine veränderte Haartracht zeigt in vielen rape-revenge-Filmen jedoch auch die Rekonstruktion einer veränderten Persönlichkeit an.12 Saras Kopfrasur kann insofern als überdeterminiert betrachtet werden, da in dem Bild der Glatze verschiedene Erzählstränge des Films zusammenlaufen. An erster Stelle lässt sich mit dem rasierten Kopf die Internierung im Lager und die damit zusammenhängende Reduktion auf das »nackte Leben« assoziieren. Der Frauenkörper wird zum sexuellen Objekt, seiner Subjektivität beraubt. Sara stellt über diese Glatze eine Verbindung zum Trauma ihrer Mutter her und überträgt die Wunde auf sich selbst. Gleichzeitig verweist die Glatze darauf, dass die moralische Überlegenheit, die Sara noch in der Konfliktszene gegenüber 11 Eindrücklich z. B. in dem Film I spit on your grave als Jennifer nach den ersten Vergewaltigungen im Wald zu einer rein auf den Körper reduzierten »Wilden« mit extrem zerzaustem Haar wird. 12 Z.B. MS.45, I spit on your grave oder The Accused.

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Esma zur Schau getragen hat, in sich zusammengefallen ist. Mit der Glatze zeigt Sara die Transformation von der Tochter des Schechiden zum Signifikanten der Schande der Mutter. Zugleich kappt Sara durch den Akt des Haareschneidens ihre genealogische Verbindung zum Vater, dessen Haarfarbe sie ja geerbt haben soll, und deutet damit die Schuld des Vaters an. Schließlich wird die Verunsicherung ob des eigenen Status als Kind, das aus einer Vergewaltigung hervorgegangen ist, inszeniert. Mit der Kopfrasur übernimmt Sara die Bürde des historischen Traumas der sexuellen Gewalt und seiner zahlreichen Konnexe. Da Sara bei ihrer Rasur jedoch zum ersten Mal geschminkt ist und parallel geschnitten zum Zeugnis der Mutter in der Frauengruppe ihren Schulfreund küsst, wird ihr in Grbavica ein Beziehungs- und erotisches Leben potenziell ermöglicht, ein Leben, das Esma nicht führen kann. Am Ende des Films taucht Sara schließlich mit ihrer Glatze in die Gemeinschaft der Klasse ein und verlässt die Szenerie in eine unbestimmte Zukunft. Das Kollektiv hat sie aufgenommen, das historische Trauma ist im Kollektiv angekommen.

5.

Männerwelten

Parallel zum Fokus auf das individuelle Kriegstrauma führt Grbavica eine weitere Ebene ein, in der die Allgegenwart aggressiven männlichen Verhaltens sicht- und hörbar gemacht wird. Esmas Alltagsleben und die Arbeit im Nachtclub sind geprägt von männlichem Dominanzverhalten, das Esma retraumatisierend erlebt und dem sie sich immer nur kurzzeitig entziehen kann – beispielsweise indem sie aus der (männer-)körperlichen Enge eines Busses flieht oder während der Arbeit Beruhigungstabletten schluckt (Abb. 11, Esma im Bus). Die Unerträglichkeit der Situationen wird unterstrichen durch eine verstärkte turbo-folk-Musik, die ursprünglich aus Serbien kommend inzwischen in der ganzen Region gehört wird. Die Koppelung der Omnipräsenz männlich-aggressiven Verhaltens mit der eher serbischen Musik erhält hier einen etwas allzu starken Verweis auf Serbien, der möglicherweise den Hauptkriegsverbrecher auf diese Weise indirekt benennen will, damit jedoch die Herkunft männlicher Gewalt in der Tendenz nationalisiert. Nichtsdestotrotz aber stellt diese zweite Ebene des Films eine schlüssige Beziehung zwischen Krieg und sexueller Eroberung her. Eingebettet in den Rahmen des Nachtclubs werden Männlichkeit und male bonding, sexuell aggressives Verhalten, sexuelle Ausbeutung der Frauen und Militär aufeinander bezogen. Institutionen, wie das Militär und der Nachtclub, werden hier ursächlich mit männlicher Aggression verbunden, die ihren Ausdruck findet in der von allen tolerierten Übertretung, beispielsweise wenn ein deutscher NATO-Soldat und ein Bar-Besucher drastisch die Körpergrenzen einer Animierdame überschreiten und sie wie ihr Eigentum behandeln

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(Abb. 12, Barszene). Klaus Theweleit macht in seinem Text über »Männliche Geburtsweisen« auf die Verschmelzung des Männerkörpers mit gesellschaftlichen Institutionen aufmerksam, die den Mann nach innen (mit Gewalt) zur Anpassung zwingt und gleichzeitig die gewalttätige Übertretung im Außen nicht nur toleriert, sondern explizit erlaubt und honoriert: »Jeder Männerkörper, der hier heranwächst, weiß etwas davon, […] ist Teil dieser Gewalt, hat Anteil an dieser gewalttätigen Alchemie der ›Selbstverlebendigung durch Lebennehmen‹ und Vergrößerung der eigenen Macht durch Zusammenschluss mit dem Körper der Institution […]« (Theweleit, 1995, S. 55).

Gerade das Militär stellt eine der männlichen Institutionen dar, in denen Solidarität nach innen durch Aggressivität gegen Andere, Schwächere, Homosexuelle oder Frauen gestärkt wird. Insbesondere die organisierte oder Gruppenvergewaltigung ist für Kriegszeiten nach Joanna Bourke, die eine detaillierte Untersuchung von sexueller Gewalt und Täterschaft vorgelegt hat, symptomatisch, weil dadurch eine Öffentlichkeit hergestellt wird, die Erniedrigung, Verletzung und Mord in Macht transformiert (Bourke, 2007, S. 357 ff.). Die Dominanz der Männerinstitutionen und die Ausgeschlossenheit und Ohnmacht der Frauen wird in Grbavica mit dem potenziell auf Gewalt beruhenden männlichen Beziehungsgeflecht des Nachtclubs demonstriert. Esma, die wegen einer Nichtigkeit in Konflikt mit dem Barbesitzer gerät, wird vor dessen Gewaltausbruch nur durch das gewaltvolle und letztlich tödliche Eingreifen anderer Männer bewahrt. Bemerkenswert an dieser parallel zur Darstellung von Esmas Traumatisierung laufenden Genealogie und Legitimation der sexuellen Gewalt ist, dass sie in den meisten Besprechungen des Films nicht berücksichtigt wird. Esmas Reflex der Flucht aus diesen Situationen wird höchstens als traumatische und damit realitätsferne Überreaktion interpretiert.13 Realitätsfern allerdings ist die enge Verbindung von Militarisierung und Überschreitung keineswegs, wie die Ereignisse in und Diskussionen um Guant‚namo oder Abu Ghraib gezeigt haben oder auch die exzessiven Ausmaße von Frauenhandel und Zwangsprostitution (eine Form der institutionalisierten Vergewaltigung) nicht nur um militärische Schutzzonen oder Stützpunkte belegen.14 Esma kann solchen Männlichkeitsvorstellungen und Verhaltensmustern nicht entgehen, denn sie ist in der Arbeit und auf der Straße ganz alltäglich mit ihnen konfrontiert. Selbst ihr Bekannter Pelda ist in diese Strukturen derart eingebunden, dass er ihnen nur durch Emigration zu entkommen vermeint.15 Zˇbanic´ setzt in Grbavica für die Dar13 Vgl. z. B. Nord (2006), Twele/Zobl (2006) oder Meisterhafter Film aus Bosnien (2006). 14 Eindrucksvoll dargestellt in den Dokumentationen Remote Sensing (Ursula Biemann, CH 2001) und Die Helfer und die Frauen (Karin Jurschick, BRD 2003). 15 Der Bodyguard Pelda stellt insofern ein Gegenbild zum Machismo dar, indem er sich

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stellung des Traumas der sexuellen Gewalt in Bosnien zwei unterschiedliche Repräsentationsstrategien ein: die Individualisierung des Traumas der sexuellen Gewalt und der verallgemeinerte Nexus von Männlichkeit und Gewalt. Die Darstellungsweisen für sich genommen sind nicht unproblematisch. Gerade bei der Individualisierung besteht die Gefahr der Überhöhung des Einzelschicksals und der Zuordnung zur Protagonistin. Den individuellen Schmerz der Frauen ernst zu nehmen, wird zwar den feministischen Forderungen gerecht, die Betonung des Einzelschicksals aber lässt Differenzen außer Acht und leistet der Verallgemeinerung für eine ganze Gruppe Vorschub. Als Esma ihrem Schmerz in der Therapiesitzung Ausdruck zu verleihen sucht, deuten zwar Großaufnahmen der Gesichter der anderen Frauen an, dass Esma mit ihren Erfahrungen keineswegs allein ist, die Geschichten und Erinnerungen der anderen Frauen aber bleiben unausgesprochen. Zwar gelingt der Figur Esma, die durch den Konflikt mit ihrer Tochter gezwungen ist, sich mit ihren traumatischen Erfahrungen auseinanderzusetzen, der erste Schritt der Bearbeitung, viele Frauen aber sind bis heute schwersttraumatisiert und haben weder Möglichkeiten noch Mittel, ihr Trauma zu verarbeiten, oft sind sie zudem Ausgrenzungen und Schmähungen ausgesetzt. Auch bei dem mit der Individualisierung verbundenen Moment der Einfühlung in die Figur besteht immer das Risiko, dass es Teil der »sadomasochistischen Konstruktion« und Schaulust bleibt, in der die Zuschauenden zwischen Voyeurismus und Empathie changieren. Damit aber gerät die Einfühlung, wie Walter Benjamin in Über den Begriff der Geschichte schrieb, zu einer Identifikation mit den Herrschenden: Auf die Frage, »in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt«, antwortet Benjamin, »unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut« (Benjamin, 1991, S. 696). Die Empathie mit den Unterworfenen kann sich also in eine Identifikation mit den Herrschenden transformieren (Meek, 2010, S. 150), wenn die Rahmung durch ein kritisches Bewusstsein fehlt. Diese Rahmung könnte durch die verallgemeinerte Kritik an gesellschaftlich anerkannten Männerinstitutionen gegeben sein. Eine undifferenzierte Verallgemeinerung kann jedoch zu etwas allzu Bekanntem geraten, die eine kritische Auseinandersetzung geradezu verhindert. Dadurch aber, dass in Grbavica fast durchgängig die subjektive Perspektive Esmas dominiert, wird die Verbindung von Männlichkeit und sexueller Überschreitung ein Teil von Esmas Sichtweise und stellt trotzdem einen weiteren Rahmen der Kritik der Geschlechterverhältnisse zur Verfügung. Die Perspektive der Gewalttäter wird in Grbavica konsequent vermieden, so dass eine Empathie mit anderen als der liebevoll um seine pflegebedürftige Mutter kümmert und diese Verbindung zur Mutter mit Theweleit der Geburt als Mann in der männlichen Institution widerspricht.

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traumatisierten Esma nicht ermöglicht wird. Allein die Szene des reenactment der sexuellen Gewalt stellt einen Bruch dar, der die Täterseite aufblitzen lässt, jedoch nicht ausgestaltet und ausformuliert wird. Ein ästhetisiertes Spektakel der sexuellen Gewalt zum Genuss der Zuschauenden und ihrer Identifikation mit den Siegern wird nicht geboten. Ebensowenig aber werden alternative Narrations- und Bildformen entwickelt, um der traumatischen Erzählung als solcher, ihrer Inkohärenzen, Auslassungen, Überdeterminierungen etc., Ausdruck zu verleihen. Der Film folgt konventionellen, ästhetischen Formen und der Handlungsablauf ist chronologisch aufgebaut. Grbavica ist vielmehr darauf angelegt, dass die Tatsache des historischen Traumas durch sexuelle Gewalt nicht nur in Bosnien anerkannt wird. Allen Meek definiert das historische Trauma als eine Gruppenidentität, die aus einer historischen Erschütterung oder Schreckenserfahrung entstanden ist. Die Identifizierung mit der historischen Situation geht dabei über die Gruppe der direkt Beteiligten hinaus und kann zu einem konstituierenden Moment des Kollektivs werden (Meek, 2010, S. 32, 38 ff.). Die Figur der Sara gerät zur Allegorie des historischen Traumas, sie wird zum Referenten des Schmerzes und der Zukunft. Während sie sich am Ende des Films im Bus von der Vergangenheit entfernt und auf die Zukunft zubewegt, dreht sie sich, wie der Engel der Geschichte, noch einmal um. Als von den Schülerinnen und Schülern auf Klassenfahrt schließlich das Sarajevo-Lied angestimmt wird und dieses Lied in den zeitgenössischen Pop-Sound übergeht, scheint nicht nur die Versöhnung zwischen Mutter und Tochter, sondern auch die Versöhnung mit der Stadt, in der dies alles geschehen ist, und zwischen Vergangenheit und Gegenwart vollzogen. Aber ist nicht die Überführung der Versöhnung zwischen Mutter und Tochter in eine Versöhnung mit Sarajevo, der bis heute geteilten Stadt zwischen der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republik Srpska, implizit auch eine Versöhnung mit den Tätern? Ob es Zˇbanic´ mit ihrem Film gelungen ist, dem historischen Trauma der sexuellen Gewalt Anerkennung zu verschaffen, vermag ich nicht zu beurteilen; allerdings hatte Grbavica nicht nur in Bosnien, sondern auch in Serbien großen Erfolg (Schulz-Ojala, 2006). Durch den Film und die ihn begleitenden Öffentlichkeitskampagnen konnte für die von den Vergewaltigungen betroffenen Frauen in der Föderation Bosnien und Herzegowina immerhin ein Rechtsstatus erwirkt werden, der ihnen jetzt finanzielle Unterstützung in Form einer Invalidenrente ermöglicht.16 In der Republik Srpska allerdings steht der Film auf dem Index.

16 Vgl. http://www.esmasgeheimnis.de/page/palinks.htm, zuletzt eingesehen am 27. 7. 2011.

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Lisa Gotto

Maskierungen. Zur Folterform des blackface

1.

Bilder

Bilder der Folter operieren mit Maskierungen. Häufig geht es dabei um die Entindividualisierung des Opfers, um eine gewaltförmige Anonymisierung, die dazu dient, den Unterworfenen nicht länger als Person wahrzunehmen. Der Prozess der Maskierung wird so als eine eigene Form der Disziplinierung erkennbar, die die Gewalt weniger repräsentiert als überhaupt erst produziert. Die Unterhaltungsform des blackface kann vor diesem Hintergrund als eine Tradition betrachtet werden, deren visuelle Struktur eine besondere Nähe zu einer anderen Art des rassenstrukturierten Massenspektakels aufweist, nämlich der Praxis des lynching. Beide Darbietungsweisen erlebten zum Ende des 19. Jahrhunderts konjunkturelle Aufschwünge – und beide bedienten sich dabei bestimmter Technologien, die zur Verbreitung und Verankerung von visueller Gewalt im öffentlichen Bewusstsein beitrugen. Das Interesse dieses Beitrags richtet sich daher nicht allein auf die Folter als eine Form der Gewalt, sondern vielmehr auf die Sichtbarmachung der Folter als eine Form der visuellen Gewalt. Dabei geht es um einen besonderen Zusammenhang, nämlich um die Visualisierung und Medialisierung von rassenspezifischen Disziplinierungsmechanismen, die im Zusammentreffen von blackface und lynching sichtbar werden. Der Beitrag fokussiert diesen Konnex, um nach den medialen Mechanismen von Folterbildern als Massenunterhaltung zu fragen.

2.

Lynching

Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, etwas genauer von etwa 1890 bis 1940, wurden in den USA rund 4500 Lynchmorde erfasst – dazu kommt eine sehr hohe Dunkelziffer (Martschukat, 2010, S. 210). Beim lynching handelt es sich um eine Form der illegalen Gewaltanwendung von Weißen gegenüber Schwarzen, häufig verbunden mit extremer Grausamkeit und der brutalen Folterung der

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Opfer. Ungefähr 85 % der registrierten lynchings fanden im amerikanischen Süden statt, von denen wiederum ein Zehntel als »public torture lynchings« dokumentiert wurde. Jürgen Martschukat bemerkt dazu: »Es ist wichtig zu bedenken, dass diese Lynchings keine vereinzelten, seltenen Grenzüberschreitungen darstellten. Sie waren erstens Teil eines sehr dichten rassistischen Dispositivs, und sie fanden, zweitens, von den 80er Jahren des 19. bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein überaus regelmäßig statt. Drittens wurden die ›Wahrheiten‹, die sie hervorbrachten, verstetigt, indem sie, erstens, wieder und wieder in Form neuerlicher Lynchings vorgeführt, und, zweitens, medial (re)produziert wurden« (Martschukat, 2010, S. 211).

Martschukat spricht von Verstetigung durch Wiederholung und erwähnt dabei mediale Reproduktionen. Tatsächlich erscheinen die lynchings vor diesem Hintergrund weniger als barbarische oder anachronistische Strafrituale eines rückständigen Südens, sondern vielmehr als Teil einer spezifisch modernen Konsumkultur. Hinweise darauf finden sich in zahlreichen Fotografien und Postkarten, von denen einige hier exemplarisch vorgestellt seien. Das erste Beispiel zeigt die verkohlte Leiche von Jesse Washington, einem 17jährigen Schwarzen, der am 16. Mai 1916 Opfer eines Lynchmobs wurde (siehe Abb. 13, lynching (1916)). Die Postkarte ist auf der Rückseite beschriftet mit dem Text: »This is the barbecue we had last night. My picture is to the left with a cross over it. Your son Joe«. Deutlich wird hier nicht nur die Exponierung eines gequälten Körpers und einer gewaltvollen Tat, sondern auch die Präsentation eines zuschauenden und teilhabenden Publikums. Dieses Publikum zeigt sich selbst mittels eines direkten Blicks in die Kamera – und es schreibt sich zusätzlich in das Bild ein, wenn es das Gezeigte kommentiert, wie hier mittels eines Postkarten-Grußes. Es gibt weitere Beispiele, die eine ganz ähnliche Blick-Anordnung zeigen, wie zwei Fotografien aus den Jahren 1920 und 1930 verdeutlichen (Abb. 14, lynching (1920) und Abb. 15, lynching (1930)). In beiden Fällen ist ein Publikum zu sehen, das frontal in die Kamera schaut: Der Blick wird nicht abgewendet, sondern aufgerichtet. Und auch hier gibt es Kommentare, etwa die Geste des ausgestreckten Arms, der auf die Leiche zeigt. Um 1900 etablierten sich neue Sehgewohnheiten, die zahlreiche Segmente der US-amerikanischen Kultur durchdrangen und deren Verbreitung mit der beschleunigten Medialisierung weiter Teile der USA einherging. Auch wer nie unmittelbarer Zeuge eines lynchings gewesen war, wusste um die Präsenz rassistischer Gewalttaten. Dieses Wissen war ein kollektives Wissen: Es wurde generiert, produziert und distribuiert durch Bilder und Berichte, es wurde geteilt und verbreitet durch massenhaft gedruckte Postkarten und zirkulierende Fotographien. Dabei ist auffällig, dass die Täter sich nicht verstecken, sondern sich selbst ausstellen: Ihre Gesichter

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sind deutlich zu sehen, während die Opfer nicht länger als Individuen erkennbar sind. Wie der gemarterte Körper sein Gesicht verliert, dafür gibt es ein weiteres Beispiel, das die Frage der Maske noch dringlicher zu stellen scheint. Es ist das Beispiel von Emmet Till (Abb. 16, Emmett Till (1954) und Abb. 17, Emmett Till (1955)). Im Sommer des Jahres 1955 wurde der 14-jährige Emmett Till ermordet. Tills Verhalten – er hatte, so wurde kolportiert, einer weißen Verkäuferin hinterher gepfiffen – wurde von einer Gruppe weißer Männer grausam bestraft. Die Täter hatten Till in der Nacht aus dem Bett gezerrt, ihn verschleppt und anschließend brutal gefoltert. Die Rekonstruktion des Vorfalls wurde durch die Leiche des Kindes, die man drei Tage später fand, ermöglicht. Emmet Tills Körper war schrecklich entstellt; die Männer hatten dem Kind bis auf zwei alle Zähne ausgeschlagen, ein Augapfel hing aus der Augenhöhle heraus, der Kehlkopf war eingedrückt, die Ohren waren versengt, Nase und Mund wurden komplett zertrümmert. Um den Hals hatten die Täter dem Jungen mittels Stacheldraht den dreißig Kilo schweren Wolf einer Baumwollentkörnungsmaschine gebunden, sämtliche Glieder waren zerschlagen oder verstümmelt. Der bis zur Unkenntlichkeit zerstörte Körper konnte erst durch einen Siegelring als der Leichnam Emmet Tills identifiziert werden. Gegen die Widerstände der Polizei bestand Emmet Tills Mutter darauf, einen letzten Blick auf ihren Sohn zu werfen. Und gegen behördliche Anweisung fasste sie einen Beschluss: nämlich den Anblick der geschundenen Kreatur öffentlich zu machen. Das Foto der grässlich verzerrten Totenmaske Emmett Tills erschien zunächst in der Illustrierten Jet und wurde bald darauf überall in der schwarzen Presse nachgedruckt. Erneut also das Bild eines Lynchopfers, diesmal jedoch mit einer anderen Blickrichtung. Denn anders als in den vorangegangenen Beispielen ist uns das Gesicht des Opfers zugewandt – allerdings als ein Gesicht, das keins mehr ist. Im Gegensatz zu der kulturellen Tradition der ästhetisierten Totenmaske, die das Antlitz des Toten würdevoll und edel erscheinen lässt, geht es hier nicht um das Bild eines friedlich Entschlafenen. Jenseits einer Nobilitierung, die die Schönheit des ruhenden Moments in die Darstellung des Todes miteinbezieht, richtet sich der Blick des Betrachters auf eine Maske des Schreckens, in der Gewalt und Terror vorherrschen. Es handelt sich um die abstoßende Wirkung eines Bildes, das aus der Praxis des Folterns durchaus bekannt ist. Denn auch hier findet der Mechanismus der Maske eine funktionelle Verwendung, die sich sowohl auf den Disziplinierenden (den maskierten Folterknecht) als auch auf den Disziplinierten (das maskierte Opfer) übertragen lässt. Reinhard Olschanski erläutert:

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»Die Anonymisierung, die der Täter durch die Maskierung an sich vornimmt, trägt wie die maskenhafte Entindividualisierung, die er seinem Opfer aufnötigt, dazu bei, moralische Grenzen zu überschreiten: den Unterworfenen nicht als Person wahrnehmen und selbst nicht als moralisch rechenschaftspflichtige Person wahrgenommen werden – die Transzendenzfunktion der Maske ist in beiden Fällen die eines Überstiegs zum Terror« (Olschanski, 2001, S. 80).

Betont werden muss in diesem Zusammenhang, dass die Maskierung des Täters im Kontext der rassischen Disziplinierung neben der von Olschanski erwähnten auch weitere Funktionen übernehmen kann. Zu nennen wäre etwa die Maske des Ku-Klux-Klan, die neben der Anonymisierung des Täters stets auch der furchteinflößenden Exponierung einer sich als rechtmäßig gerierenden Exekutive dient: Das vorsichtige Verbergen des Individuums sowie das stolze Ausstellen der rächenden Instanz erfahren in dieser Form der Maske eine gleichberechtigte Koexistenz. Wichtiger als die Thematisierung des Täters ist hier jedoch die figurative Form des Opfers bzw. die spezifische Ausprägung der Maske, mit der es dem Publikum dargeboten wird. Der Effekt ist laut Olschanski der folgende: »Die maskenhafte Entindividualisierung hat entsprechend auch eine externe und ausgrenzende Funktion. Sie bezeichnet die Opfer, wobei sie nicht zuletzt darauf abzielt, dass diese den Vorgang der Bezeichnung noch einmal in selbstzerstörerischer Weise gegen sich selbst richten. Die Entindividualisierung zielt auch auf die Zerstörung eines Selbstbilds, das es dem Einzelnen erst ermöglicht, seine Ansprüche auf Respekt und Anerkennung zu artikulieren« (Olschanski, 2001, S. 78).

Die Maskierung des Opfers impliziert durch die Vereinheitlichung des Individuums eine besondere Form der Degradierung. Sie evoziert einen Überstieg gängiger Identifikationsschemata und negiert damit die Einzigartigkeit des Subjekts. Nicht die besondere Situation des Einzelwesens steht hier im Vordergrund, sondern eine verallgemeinernde Verachtung, die in der dadurch entstehenden Abwertung ein nachhaltig wirkendes Bild entwirft. Dieses Maskenbild gilt es nun in Bezug auf eine andere Form des rassenstrukturierten Spektakels zu erläutern – nämlich in Bezug auf das blackface.

3.

Blackface

Das blackface als Kostüm und Maske wurde zunächst auf der Theaterbühne vorgeführt, und zwar im Rahmen der sogenannten minstrel shows. Die minstrel shows gehörten seit dem 19. Jahrhundert zu den populärsten Unterhaltungsformen der USA. Dabei maskierten sich Weiße als Schwarze und führten komische Nummern auf. Die zentrale Figur war in der Regel ein Clown (der

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»Coon«) mit schwarz gefärbtem Gesicht, wollenem Haar und einem Banjo. In der Folge wurden weitere Rollentypen ausgebildet. Zu ihnen gehörten etwa der »Buck« oder die »Mammy«, gleichbleibende Charaktermasken mit hohem Wiedererkennungswert. Nun ist bemerkenswert, dass es neben den weißen minstrel-Betrieben auch viele schwarze Künstler gab, die im blackface auftraten. Damit ist ein Charakteristikum der Maske angezeigt, das die Karikatur des blackface als Typen- und Prägeform kennzeichnet: Ihre Form bleibt immer gleich – und was oder wer dahinter steckt, ist unerheblich. Der afroamerikanische Autor Ralph Ellison bemerkt dazu: »This mask, this willful stylization and modification of the natural face, was imperative for the evocation of that atmosphere in which the fascination of blackness could be enjoyed, the comic catharsis achieved. The racial identity of the performer was unimportant; the mask was the thing« (Ellison, 1995, S. 49).

Hier scheint eine ähnliche Form der Entindividualisierung zu greifen wie die, von der Reinhard Olschanski spricht. Der Verlust von Achtung und Anerkennung, die Aufgabe des Menschlichen hinter der Starrheit der Maske wird jedenfalls auch von Ralph Ellison angesprochen. Er erklärt: »Its [the mask’s] function was to veil the humanity of Negroes thus reduced to a sign, and to repress the white audience’s awareness of its moral identification with its own acts and with the human ambiguities pushed behind the mask« (Ellison, 1995, S. 49). Diese Verbindung, dieser Konnex von Maskierung und Entmenschlichung, präsentiert eine fundamentale Ambivalenz. Dabei erscheint die Starrheit der Maske als ein Zustand der Bewegungslosigkeit, die mit der Lebendigkeit des Trägers konfrontiert wird. Als Transzendenzphänomen steht die Maske somit für das Übergangsterrain zwischen Leben und Tod, für einen Bezug, der umso deutlicher wird, wenn man ihn im Kontext der Totenmaske erläutert. Reinhard Olschanski konstatiert: »Der Tod ist einer der Zustände, der die Wahrnehmung von Masken mitbestimmt, indem er dem Gesicht maskenhaft starre Züge verleiht. Die Reglosigkeit des toten Gesichts kehrt in der Starre der Maske wieder und versetzt das Maskenwesen in ein Spannungsfeld zwischen Leben und Tod. Umgekehrt hat auch der Anblick des Toten etwas von der Eindringlichkeit, die für die Erscheinung des maskentragenden Menschen charakteristisch ist« (Olschanski, 2001, S. 80).

Die Totenmaske steht für eine signifikante Stillstellung: Die Gesichtszüge des Toten werden in ihrem maskenhaften Charakter ausgestellt und gleichzeitig als Maske abgenommen. In der Exponierung des Todes zeigt sich somit eine Ambivalenz von Abwesenheit (des Lebens) und Anwesenheit (des toten Körpers), die die Maske in ihrer grundsätzlichen Gleichzeitigkeit von Präsenz (ein Gesicht) und Absenz (kein Gesicht) bestätigend wiederholt. Weiterhin wird das Ambivalenzfeld durch die Materialität der Totenmaske verdeutlicht:

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»Die in der Herstellung gegebene Nähe zum Tod wird zudem in einer besonderen Weise vom Material angezeigt. Die Maske repräsentiert gerade in ihrer Materialität die verstörende Verwandlung des belebten menschlichen Körpers in unbelebte Materie. […] Sie hält den Umschlag fest, der eingetreten ist und in der Wahrnehmung immer wieder eintritt : die Reduktion des menschlichen Körpers zum ›Ding‹, zu toter Materie« (Olschanski, 2001, S. 82).

Der von Olschanski beschriebene Umschlag scheint sich in der Stofflichkeit der blackface-Maske besonders deutlich zu artikulieren. Denn durch den Ruß, der seinen Bezug zum Tod sowohl durch die Form des Materials als auch durch die Farbsemantik visuell exemplifiziert, wird das Bild einer Sterblichkeit, die sich als Unsterbliches inszeniert, nachdrücklich festgehalten. In den frühen minstrel-Darbietungen wurde die Schwärze des blackface durch das Verbrennen von Kork gewonnen. Ein Rest dieses Verbrennungsrituals scheint im Prozess der Maskierung selbst noch einmal aufzuscheinen. Wie qualvoll dieser Akt sich im Bild ausbreitet und was er mit medialen Formen des Auslöschens und Auferstehens zu tun hat, das sollen abschließend einige aktuelle Beispiele aus dem Bereich der Populärkultur verdeutlichen.

4.

Maske/Medium

Im Zentrum von Spike Lees Bamboozled (USA 2000) steht die Wiederbelebung der lange tot geglaubten Unterhaltungspraxis des blackface. Der Film erzählt die Geschichte des schwarzen Fernsehautors Pierre Delacroix, der angesichts sinkender Einschaltquoten damit beauftragt wird, eine spektakuläre neue Unterhaltungsshow zu entwickeln. Er nennt sein Konzept »The New Millenium Minstrel Show« – und lässt eine ganze Truppe von rassistischen Karikaturen auftanzen, um sein Publikum zu amüsieren (Abb. 18, Bamboozled Spike Lee USA 2000). Der Versuch, den produzierenden Fernsehsender durch die offen diffamierende Darstellung schwarzer Stereotypen zum Nachdenken zu bewegen, misslingt: Das Format geht in Serie und wird zum Überraschungserfolg, zu einer der beliebtesten Shows des Landes. Die Ausbreitung und Verbreitung einer rassistischen Unterhaltungspraxis erscheint in Spike Lees Films nicht kontextlos, sondern wird in ein dichtes Netzwerk von Verweisen eingebunden. Besonders deutlich wird dies in der Schlussmontage, die die blackface-Maskierung als strukturierendes Element der amerikanischen Filmgeschichte vorführt. Spike Lee präsentiert hier eine komplexe Montage von Filmausschnitten, darunter z. B. Einstellungen aus The Birth of a Nation (David Wark Griffith, USA 1915), The Jazz Singer (Alan Crossland, USA 1927), Jezebel (William Wyler, USA 1938), Babes in Arms (Busby Berkeley, USA 1939), The Great Lie (Edmund

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Goulding, USA 1941), Holiday Inn (Mark Sandrich, USA 1942), Duel in the Sun (King Vidor, USA 1946) und Show Boat (George Sidney, USA 1951). Es handelt sich also um Filme, die einerseits weiße Filmstars zeigen, die mit geschwärztem Gesicht auftreten (z. B. Judy Garland, Bing Crosby und Al Jolson) und andererseits schwarze Darsteller, deren Gestenrepertoire deutlich an den aus der minstrel-show bekannten Typen orientiert ist (z. B. Mantan Moreland als augenrollender »Coon« oder Hattie McDaniel als schwerfällige »Mammy«). Dabei wird eine Bündelung von Karikaturen präsentiert, die die wiederkehrenden Leitmotive der minstrel-Tradition sichtbar werden lässt. Die in der Schlussmontage so deutlich herausgestellte Wiederholung des Immergleichen – die in den schwarzen Stereotypen hervortretende körperliche Rhythmik, die vokale Intensität, die verzerrten Gesichtszüge – wird inszeniert als Präsenz eines unheimlichen Wiedergängers, als Rückkehr des Toten in Gestalt des Untoten. Bemerkenswert ist dabei, dass die Ausschnitte nicht chronologisch oder nach Genres sortiert werden, sondern dass ihre Anordnung nach Bewegung erfolgt: So zeigt die Reihung von Versatzstücken aus Ton- und Stummfilmen, Fernsehshows und Zeichentrickserien eine Strukturierung, die eine eigenwillige Dynamik, ein unablässiges Fortlaufen erkennen lässt. Zusammengehalten werden die Bilder darüber hinaus durch den jeweils ähnlichen Motivinhalt: Auf zuckende Tanzbewegungen folgen verschlingende Münder, anschließend werden weit aufgerissene Augen gezeigt, danach das breite Grinsen und schließlich eine mehrfach wiederholte Unterwürfigkeitsgeste, die als ewig serviles »Yes, Sir« bzw. »Yes, Ma’am« artikuliert wird. Es scheint, als habe die Tradition des blackface ein eigenes qualvolles Bewegungsrepertoire entwickelt, dessen Unauslöschlichkeit mit einer besonderen Form der repräsentativen Gewalt zusammen hängt. Susan Gubar interpretiert jene Gewalt als einen Mechanismus der rassischen Disziplinierung, der eine signifikante Nähe zu einem weiteren brutalen Unterwerfungsritus impliziert: dem lynching. Die assoziative Verbindung der beiden Bestrafungsformen, der Konnex der physischen Gewalt des lynching und der mimetischen Gewalt des blackface, begründet sich durch die Analogie eines jeweils ähnlich strukturierten visuellen Spektakels. Dieser Zusammenhang wird durch Extreme des Bildarsenals, das die blackface-Tradition ausgebildet hat, besonders deutlich. Gubar erläutert: »Blackface performances can be considered as a symbolic rite of scapegoating, the flip side of lynching: burnt cork instead of charred flesh, the grin and the grimasse of pain, bulging eye balls, and twitching limbs or stiffness of body parts« (Gubar, 1997, S. 78).

Gubars Beobachtung, die in dem zuckenden Leib des minstrel-Darstellers die konvulsive Agonie des Gelynchten erkennt, die in den hervortretenden Augen des Komikers die verzerrten Gesichtszüge des Strangulierten und im Ruß das

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verbrannte Fleisch des Feueropfers reflektiert sieht, ist bestechend – zumal es sich in beiden Fällen um eine ur-amerikanische Form der rassenstrukturierten Massenunterhaltung handelt, um eine Form, die aufs engste mit den Strukturen und Effekten eines visuellen Spektakels verbunden ist. Dass sich diese Form des visuellen Spektakels im Medium der Kinematographie wieder findet, erscheint vor diesem Hintergrund weniger zufällig als zwingend. Die rhythmisierte Gewalt der Filmbilder ist demnach als ein Gestus zu verstehen, der das diskursive Gewalterlebnis aktualisiert. Der darin und dadurch in Erscheinung tretende Rassismus illustriert einen Prozess, der keineswegs als abgeschlossenes Historikum, sondern als überzeitliches Movens besteht. Zwei Momente sind dabei von Bedeutung: das Moment des Stillstellens und das Moment des Fortlaufs. Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Statik und Bewegung findet in der Struktur der Totenmaske ein Formbild, dessen mediales Prinzip auf die Bildform der Kinematographie übertragbar ist. Denn die Ambivalenz der Totenmaske konstituiert sich nicht allein durch die Ineinssetzung von Präsenz und Absenz, sie zeigt sich weiterhin als Bild der Starre in der Perspektive einer Verlebendigung. Damit offeriert die Maske eine Form, in der die Darstellung nicht als Fixum erscheint, sondern selbst Eingang und Dauer gefunden hat, sie präsentiert sich als ein Abbild, das den Tod in der Welt der Lebenden hält. Dieses Gefüge ist in der Medientheorie schon früh mit der Wirkungsweise des technischen Bildes in Zusammenhang gebracht worden. Siegfried Kracauer überträgt es im Jahr 1927 auf die Fotographie und erklärt, dass der abgebildete Mensch im Moment der fotografischen Aufnahme seine eigene Auslöschung erfahre: »Nicht der Mensch tritt in seiner Fotografie hinaus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet« (Kracauer, 1979, S. 108). Die Fotografie gibt den Menschen also dadurch, dass sie ihn aus dem Kontinuum der Zeit löst, dem Tod preis. Gleichzeitig eröffnet sie durch eben diese Zeit-Enthebung eine Perspektive des Ewigen, wie Andr¦ Bazin erklärt. Den 1945 veröffentlichten Aufsatz zur »Ontologie des fotografischen Bildes« lässt er mit folgender Grundannahme beginnen: »Eine Psychoanalyse der Künste müsste die Praxis des Einbalsamierens als wesentliche Ursache ihrer Genese mit berücksichtigen« (Bazin, 2004, S. 33). Bazins Formulierung deutet auf eine Form der Konservierung, die er in der Kunst der Fotografie verwirklicht sieht: Sie ist in der Lage, die Zeit einzubalsamieren und sie damit gleichsam vor ihrem eigenen Verfall zu bewahren. Das eigentümliche Stillstellen eines Bewegungszusammenhangs, den das fotografische Bild zunächst vornimmt, wird damit in einen neuen Lebenszusammenhang übertragen. Eine ähnliche Haltung nimmt Susan Sontag ein. So sei »eine der dauerhaftesten Errungenschaften der Fotographie denn auch ihre Strategie, lebendige Dinge in leblose Dinge zu verwandeln und leblose Dinge in lebendige Wesen« (Sontag, 1978, S. 93). Auch

Maskierungen. Zur Folterform des blackface

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Roland Barthes kommentiert in seiner Schrift Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie den Zusammenhang von Leben und Tod im Prozess der Medialisierung; er sieht in der Fotografie die »vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist« (Barthes, 1985, S. 47). Eine weitere Verknüpfung findet Andr¦ Bazin schließlich im Überstieg der Fotografie zum Film, und auch hier verwendet er eine Metapher, die das Bild des einbalsamierten Toten evoziert; hier jedoch das eines Toten, der durch die Bewegung des Bildes selbst in Bewegung gerät: »Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, eine sich bewegende Mumie« (Bazin, 2004, S. 39). Es ist genau jene Bewegung des Toten, die Spike Lee ins Bild setzt – und zwar in einer Perspektive, die in der Rhythmik der Kinematographie eine Anbindung an rassisch determinierte Formationen erkennbar werden lässt. Der Effekt ist eine Form von Polyrhythmus, der den Prozess der ethnischen Repräsentation als dynamischen Bewegungszusammenhang reflektiert – als ein Zucken zwischen Vergangenheit und Gegenwart, als ein rhythmisches Zittern zwischen Vergänglichkeit und Wiederauferstehung, zwischen Statik und Dynamik, zwischen Verdrängung und Aktualisierung. Der Effekt einer derartigen Identitätskonstruktion wird dabei nicht als befreiendes Transgressionsmoment präsentiert, sondern als eine wiederholende Bestätigung der Degradierung, die bestehende Grenzen verfestigt und erhärtet. Die Markierung jener Grenze durch visuelle Disziplinierungsmaßnahmen ist eine Form der Machtaneignung, die nur über Gewalt und Terror zu erreichen ist – und die den qualvollen Tod des Individuums zur Folge hat. Es gibt ein weiteres Beispiel für die Langlebigkeit eines scheinbar harmlosen Bildes, das sich dennoch auf degradierende Traditionen beruft – nämlich Mickey Mouse (Abb. 19, The Jazz Fool, Abb. 20, The Jazz Singer). Disney startete die Produktion der ersten Mickey Mouse Filme zeitgleich mit dem großen Erfolg des ersten Ton-Films The Jazz Singer (Alan Crossland, USA 1927). Die Popularität der Figur ist u. a. dadurch begründet, dass die Mickey Mouse Filme in den späten 1920er Jahren zu den ersten vertonten Zeichentrickfilmen gehörten. Die Analogie zur Jolson-Story zeigt sich also einerseits durch die Anbindung an die spektakulär neue Ton-Technologie, andererseits aber auch durch die zitierende Verwendung der blackface-Maske – einer Maske, die beide Entertainer zu großen Figuren der modernen Populärkultur machte. Bei Mickey Mouse wird dabei noch einmal eine Steigerung deutlich, ein besonderes Pop-Raffinement: Hier geht es um die ostentative Ausstellung der Oberfläche – und nichts ist dahinter. Tatsächlich wurde die Mickey-Maske ja zum Markenzeichen eines kompletten Pop-Universums, der abgetrennte Kopf ist bis heute ikonisch. Diese Maske, eine Zeichnung der geronnenen Schwärze, kennt kein Original, sondern nur eine endlose Kette von Ersetzungen. Hier geht es um Vervielfältigung. Denn hinter der Maske der Comic-Figur findet sich kein

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Gesicht, keine wahre Identität: Die Wiederholungen der Maske sind selbst die Identität. Mickey Mouse lässt sich nicht demaskieren, wohl aber remaskieren, wie ein aktuelles Beispiel des Pop-Betriebs zeigt (Abb. 21, Marilyn Manson). Marilyn Mansons Maskierung wurde für das Booklet des Albums The Golden Age of Grotesque (2003) aufgenommen. Sie zeigt eine Form des blackface, in der jede Andeutung von Harmlosigkeit dem Bezug zum Terror weichen muss. Hier geht es um Verzerrung und Entstellung – und wohl auch um einen Hinweis auf die degradierende Maskentradition, die der populären Figur Mickey Mouse zugrunde liegt. Damit scheint etwas auf, was bereits Spike Lees Film Bamboozled ins Bild zu setzen wusste: die Gleichzeitigkeit eines Zurück (als Hauch der Geschichte) und eines nach Vorn (als offen modernistische Deformation). Das vermittelnde Motiv, das sich über jene Bewegungsformen ausbreitet, ist das der Maske. Dieses Motiv ist keineswegs als statisches zu verstehen, sondern vielmehr als eine Form der Konjunktion, die die kontinuierlich-diskontinuierliche Bewegung des Maskenwesens begleitet. Reinhard Olschanski unterstreicht: »Das Maskenhafte erscheint weniger als Verweis auf ein Fixum, sondern mehr als Schnittpunkt von diskursiven Setzungen« (Olschanski, 2001, S. 148). Die evokative Kraft der Maske wirft somit gleichsam einen Blick auf ihre eigenen Figurationen und Rhythmisierungen – und sie präsentiert sich dabei als eine Dynamik, deren Wirkungsmacht in Bezug auf die Formation der visuellen Disziplinierung und Degradierung einen bleibenden Nachhall produziert.

Literatur Barthes, Roland: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 1985. Bazin, Andr¦: Was ist Film? Berlin 2004. Ellison, Ralph: Change the Joke and Slip the Yoke. In: Ders.: Shadow and Act. New York 1995, S. 45 – 59. Gubar, Susan: Race Changes: White Skin, Black Face in American Culture. New York 1997. Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie II. 1912 – 1945. München 1979. Kracauer, Siegfried: »Die Fotografie«. In: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie II. New York 1979, S. 101 – 112. Martschukat, Jürgen: Lynching und Todesstrafe in den USA im frühen 20. Jahrhundert. In: Weitin, Thomas (Hrsg): Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA. Bielefeld 2010, S. 209 – 222. Olschanski, Reinhard: Maske und Person: Zur Wirklichkeit des Darstellens und Verhüllens. Göttingen 2001. Sontag, Susan: Über Fotografie. München 1978.

Franziska Lamott

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1.

Überblendungen

Anfang 2004 gelangten Berichte und Fotos aus dem Irak in die Medien, die zeigten, wie US-amerikanische Mitarbeiter von Militär- und Geheimdiensten sowie von privaten Sicherheitsunternehmen Gefangene im Abu-Ghraib-Gefängnis quälten und folterten. Auf den Fotos sah man nackte Männer in demütigenden und entwürdigenden Haltungen neben lachenden, in Tarnhosen steckenden Männern und Frauen, die grüne Hygiene-Handschuhe trugen. An diesen Fotos aus dem Gefängnis von Abu Ghraib kommt man nicht vorbei. Sie sind abstoßend, befremdlich, erzeugen moralische und politische Empörung und ein Gefühl von Übelkeit, von Ekel. Gleichzeitig kommt man nicht von ihnen los, sie verwickeln, fesseln und halten einen fest, krallen sich ein wie Widerhaken, irritieren so nachhaltig, dass man sich nicht so ohne weiteres von ihnen lösen kann. Während der Konfrontation mit den skandalösen Folterbildern aus Abu Ghraib, auf denen unter anderem eine Frau zu sehen ist, die einen nackten Mann an der Hundeleine hinter sich herzieht, schoben sich ungewollt Bilder der Performance von Cindy Sherman, des Mysterientheaters von Otto Mühl und vor allem der Aktionen von Valie Export darüber, so aufdringlich war der performative Charakter der Fotos aus Abu Ghraib.1 Valie Export hatte 1968 in ihrer Aktion Aus der Mappe der Hundigkeit das Geschlechterverhältnis künstlerisch radikalisiert, indem sie die Beziehung zwischen Mann und Frau als eine zwischen Mensch und Tier in Szene setzte. In der Umkehrung herrschender Machtverhältnisse markierte sie durch den zum Gang auf allen Vieren animierten Mann die Unterdrückung und Objekthaftigkeit einer solcherart strukturierten Beziehung. Dabei wurde der Mann »in Umkehrung historischer Abhängigkeit nun seinerseits herabgesetzt, in die Be1 An anderer Stelle habe ich mich mit dem Verhältnis von Kunst und Verbrechen anhand der Bilder aus Abu Ghraib auseinandergesetzt (Lamott, 2010).

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herrschtenrolle gedrängt, als Hund an der Leine durch die Stadt geführt« (Romain, 1977, S. 54). Valie Export hatte das Zusammenspiel von Macht, Unterdrückung und Unterwerfung als Parabel einer Tier-Mensch-Beziehung inszeniert, eine Horrorvision, in der die Überschreitung der Artgrenzen, die Verwandlung eines menschlichen Subjekts in eine unterdrückte tierische Kreatur, ihr dazu geeignet erschien, die »tierischen Verhältnisse in der Gesellschaft«2 zu symbolisieren. Eine Frau zieht einen Mann an der Hundeleine hinter sich her. Bilder eines Kunstprojekts und Dokumente einer Folterung begannen – einem Vexierbild gleich – zu changieren. In diesem Spannungsfeld von Abstoßung und Anziehung, einem Gefühlsgemisch aus Empörung, Erregung, Ekel und Scham, sind die folgenden Überlegungen entstanden.

2.

Das Skandalon

Auf den Fotos von Abu Ghraib ist, ähnlich jenem Bild von Valie Export »Aus der Mappe der Hundigkeit«, eine Frau abgebildet, die einen Mann an der Hundeleine hält (Abb. 22). Während das eine Geschehen an einem durch humanic3 gezeichneten öffentlichen Ort stattfindet, ist die andere Szene in einem geschlossenen, korridorähnlichen Raum, einem space between situiert. Der einer Aufseherin ausgelieferte, nackte Mann wird wie ein Hund behandelt, wie eine »aus allen Ordnungen gefallene Kreatur« (Mladek, 2010, S. 249), in einem Ausnahmezustand, jenseits der Genfer Konvention, außerhalb des Schutzes von Menschenrechten (Abb. 23). Weitere demütigende Fotos tauchen auf: aufeinandergelegte nackte, gesichtslose Leiber, Körperskulpturen, die Köpfe mit seltsam anmutenden Mützen bedeckt, dehumanisiert. Daneben lachende, in Tarnhosen und Springerstiefeln steckende Männer und Frauen, sprungbereite, zähnefletschende Hunde an Leinen haltend, während sie schamlos in die Kamera grinsen. Offensichtlich haben sie Spaß an den Demütigungen und Quälereien der Gefangenen, wirken wie Jäger, die stolz ihre Beute, ihre Trophäen, zeigen. Neben den namenlosen Opfern bekommt die Frau auf dem Foto, mit dem nackten Gefangenen an der Leine, einen Namen. Es ist die Gefreite Lynndie England, die sich in sexuell aufgeladenen Posen zeigt (Harders, 2007). Die Empörung ist groß, weil der perverse Akt von einer Frau ausgeübt wird. Sie ruft 2 Valie Export in einem Interview, zitiert nach Prammer (1988, S.110). 3 In der Zentralsperspektive des Fotos befindet sich an einem Geschäft der Firmenname HUMANIC, der für ein Lederwaren und Schuhe produzierendes Unternehmen steht. Obwohl der Name die Wortschöpfung eines Werbetexters ist, weckt HUMANIC Assoziationen an das Menschsein, nur dieser Spezies ist es möglich, sich selbst als »tierisch« zu gerieren.

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Irritationen hervor, die sich offensichtlich der Umkehr dichotomer Geschlechterkonstruktionen verdanken, deren normatives Ideal darin besteht, dass die Gewalttätigkeit ausschließlich Männern und die Rolle des unschuldigen Opfers ausschließlich Frauen zugeschrieben wird. Nun präsentieren sich Frauen in den »aufgetauchten skandalösen pornografischen Schnappschüssen […] so selbstverständlich in der Pose des Voyeurs und Täters, dass man die offenbar bruchlose Aneignung von Praktiken sexueller Herabsetzung verblüfft zur Kenntnis nimmt«, schreibt Sonja Zekri im Mai 2004 in der Süddeutschen Zeitung. Eine folternde Frau, die augenscheinlich Spaß daran hat, sich in sexueller Gewaltausübung zu zeigen, weicht doppelt ab: Sie verletzt nicht nur die Menschenrechtskonventionen, sondern auch gängige Geschlechterklischees (Harders, 2007). Die Empörung richtet sich also gegen eine vom Weiblichkeitsstereotyp abweichende Frau und konzentriert sich auf ihren doppelten Regelverstoß. Der Fall Lynndie England hat einen besonderen Nachrichtenwert, der durch den sexuell konnotierten Gewaltexzess hervorgerufen wird. So vollzieht die Gefreite Lynndie England auf einem der Fotos zigarettenrauchend, mit einem auf die entblößten Genitalien eines Gefangenen zielenden, ausgestreckten Zeigefinger symbolisch die Kastration des Feindes. Indem sie ihn entwürdigt und beschämt, raubt sie ihm seine männliche Identität. Der Einsatz von (sogenannten) »emanzipierten weißen westlichen Frauen im Kampf gegen den arabisch-muslimischen Schurkenstaat« (Harders, 2007, S. 224) sollte die nationale Identität und das damit verbundene männliche Selbstverständnis der Gefangenen zutiefst treffen. »Gegenschüsse« tauchen auf, also jene Bilder, auf denen auch die Voyeure, die die Folterszene feixend beobachten, im Foto festgehalten sind. In den die Bilder begleitenden Narrativen der Printmedien setzen sich die sexuell aufgeladenen, pornografischen Szenen fort, indem berichtet wird, wie in der perversionsgetränkten Atmosphäre von Abu Ghraib auf dem Rücken der gequälten Gefangenen die Folterer neues Leben zeugen. Lynndie England ist in dem neun Monate später stattfindenden Prozess kurz vor der Entbindung. Diese pikanten Details, medienwirksam herauspräpariert, sind durchaus geeignet, die Systematik der Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghraib in den Hintergrund treten zu lassen. Denn durch die geschlechtliche Codierung der Gewaltdarstellungen, durch das Skandalon einer sexuell folternden Frau, wird von der Thematisierung staatlicher Gewalt und der Missachtung von Menschenrechten abgelenkt.4 4 Linda Hentschel verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass mit der Fokussierung einer weiblichen Täterschaft die Verantwortung der Armee auf eine Frau verschoben wird, um das männlich konnotierte Militär rein zu halten (Hentschel, 2008).

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3.

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Gesetzlosigkeit und Gewalt

Seit 2001 arbeitete das militärische Personal in Abu Ghraib ohne schriftliche Anweisungen und klare Regeln, ohne eindeutige Gesetze, aber ausgestattet mit einem deutlich formulierten Freibrief, herrschende Gesetze in diesem Krieg gegen den Terror zu missachten und den Widerstand der Gefangenen mit allen Mitteln zu brechen, um sie zum Sprechen zu bringen (z. B. Dick Cheney).5 Der außergewöhnliche Angriff gegen die USA verlangt – so die Bush-Regierung – außergewöhnliche Rechte für die Exekutive. Der ranghöchste Jurist der Bush-Regierung, John Yoo, autorisierte die Verhörspezialisten, sogenannte civilian contractors und das Wachpersonal der Spezialgefängnisse, der Genfer Konvention widersprechende Verhörtechniken – wie etwa den Einsatz von scharfen Hunden, euphemistisch als »phobieorientierte Techniken« bezeichnet – einzusetzen.6 Er, so seine Einlassung in einem Fernsehinterview7, wolle den Soldaten im »Dienst keine Fesseln anlegen«. »Mit neuen wissenschaftlichen Verhörtechniken sollten die Abwehrformen und angelernten Kulturtechniken des zivilisierten Menschen systematisch ausgehebelt werden, indem der Verhörte durch ›relatively small degrees of homeostatic derangement‹8 zur Regression gezwungen wird. Die heutigen Geheimdienste haben diese Psychotechniken für den War on Terror modernisiert und wegen der angeblichen arabischen Anfälligkeit für ›Scham und Demütigung‹ […] dem Kulturkreis des Feindes angepasst. Jetzt geht es nicht mehr um Schuldinduktion, sondern um alle erdenklichen Formen der Beschämung, welche die angestrebte Regression im detainee auslösen sollen« (Mladek, 2010, S. 250).

Der Phantasie der Verhörspezialisten sind keine Grenzen gesetzt. Destabilisiert in einer fremden Welt, umgeben von Gewalt und Todesangst (»Wir oder sie«), herrschen anomische Verhältnisse. Jonathan Shay (1998) schreibt in einer Studie über den Vietnamkrieg, dass der Verlust der Bedeutung von Gesetzen, von Ordnung und Stabilität, die Haltlosigkeit seitens der Vorgesetzten, die Allgegenwart des Todes Hauptauslöser für den Persönlichkeitsverlust, die moralische Entgrenzung und die zügellose Gewalt der Soldaten sind. In dem sich dann einstellenden Zustand der 5 Der Dokumentarfilm von Errol Morris Standard Operating Procedure (USA 2008) belegt, dass diese Folterpraktiken verbreitet und seitens des damals amtierenden US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld gefördert wurden. 6 Dori Laub (2003) weist darauf hin, wie die Täter die Realität verzerren, indem sie die Sprache missbrauchen. »Die Realität wird unter einer dichten Schicht von Euphemismen erstickt« (2003, S. 952). Wird diese Irrealität von den Opfern internalisiert, werden sie zweifeln, ob diese Gräuel wirklich passiert sind. 7 Folter – made in usa (Frankreich 2010), Dokumentarfilm von Marie-Monique Robin, ausgestrahlt auf ARTE am 21. 6. 2011. 8 Danner (2007, S. 17).

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inneren Leere, einer Emotions- und Furchtlosigkeit, beschreibt er die Verwandlung des Kriegers zum Berserker. Zur psychischen Extrembelastung kommt die Zerstörung dessen, »was Recht ist«, die Erfahrung, dass die obersten Dienstherren das Recht beugen, willkürlich Gewalt anwenden, dass kein Verlass auf einen gesetzlichen Rahmen ist. Im Zorn des Achill ist die Gewalt dann nicht mehr Instrument, sondern der Mensch selbst wird ihr Werkzeug. Dabei werden die Schändungen und Folterungen im Racheakt als Befriedigung, als Lust an der totalen Verfügung über den Körper des anderen, als Rausch der Allmacht über das Opfer, als Sieg des Lebens über den Tod empfunden (Shay, 1998). Die Regression löst archaische Ängste und Bedürfnisse aus. Sie erfasst in hohem Maße auch die ohnehin schon beschädigten Über-Ich- und Selbststrukturen der Täter. Gefühle der Leere und narzisstischer Wut kommen hoch. Gewalt wird so zur wichtigen Kompensation unerträglicher Angst und fungiert gewissermaßen als Plombe gegen die innere Leere und den Selbstverlust (Morgenthaler, 1984, S. 31). Gleichzeitig werden die regressiven Bedürfnisse intensiv gefürchtet und abgewehrt, kollidieren sie doch massiv mit dem männlichen Selbstbild. In diesem extremen emotionalen Spannungszustand kommt es in der Gruppe zu einer gegenseitigen Identifikation. Die Gruppenmitglieder entwickeln ein Größenselbst, das seine Aufblähung vor allem aus der triumphalen Zerstörung der gehassten Selbstanteile bezieht, die vorher durch Projektion auf die ihnen ausgelieferten Gefangenen verschoben und durch deren Zerstörung endgültig entsorgt wurden. Nicht selten glauben die Gewalttäter, im Dienste eines grandiosen Zieles zu stehen, wenn sie Gewalt gegen Schwächere ausüben – während sie damit in ihrem Inneren die projizierten Abbilder ihrer eigenen verachteten Existenz zerstören (Lamott/Schott, 2007). Was übrig bleibt, ist der Triumph. Daher scheinen die im Exzess entstandenen fotografischen Dokumente, psychodynamisch gesehen, Ausdruck einer ich-syntonen Haltung der Folterer zu sein, eine totale Übereinstimmung mit sich selbst und der herrschenden Gesetzlosigkeit darzustellen, zumal die obersten Dienstherren »die Definitionsmacht über die Stellung des Lebens in der symbolischen Ordnung« (Mladek, 2010, S. 259) haben.

Exkurs: Das Gesetz des Vaters und die symbolische Ordnung Pierre Legendre, Rechtshistoriker und Psychoanalytiker, entwickelte in Anlehnung an Lacan eine Perspektive der symbolischen Ordnung und deren Gefährdungen, in der er die Bedeutung des »Gesetzes des Vaters« für die Entwicklung des Subjekts, der Genealogie und des Kollektivs herausarbeitete (Legendre, 1998). Als wichtige strukturale Voraussetzung gelungener Subjektwerdung betont

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er, dass im Laufe der Entwicklung notwendige Trennungen (zwischen Mutter und Kind, zwischen den Generationen) vollzogen, die symbolische Ordnung und das Gesetz des Vaters verinnerlicht und Begrenzungen des nach Omnipotenz strebenden Narzissmus (die symbolische Kastration) angenommen werden. Diese Dimensionen sind zur Sicherung eigener Identität bedeutsam. Ein Vater kann jedoch seinem Sohn nur dann die symbolische Ordnung als sinnvoll und förderlich vermitteln, ihm also die Internalisierung eines Wertesystems ermöglichen, wenn er sich selbst an eine höhere Referenz gebunden fühlt und nicht als willkürlicher Gesetzgeber agiert.9 Im Prozess der Trennung fungiert er als triangulierende Instanz, als Figur des Dritten. Legendre weist nun darauf hin, dass mit dem Scheitern der Verinnerlichung des so verstandenen symbolischen Vaters auch die Fähigkeit zum Gelingen der inneren Ablösung und Trennung scheitert, da kein Drittes symbolisch etabliert werden kann, das in der Lage ist, das dualistische Prinzip des »entweder-oder« aufzuheben. Ohne Triangulierung kann die Dyade nicht aufgebrochen werden, und ohne das Dritte entkommt man nicht der Dyade, die nur das eine oder das andere, das Ich oder das Du kennt. Die Folge ist, dass Trennungsprozesse nicht im Symbolischen gehalten werden, sondern in das Register des Realen, in das »Ich oder Du« umkippen. Man könnte nun fortfahren, dass die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Symbolisierung und Mentalisierung dazu führt, dass kein innerer Raum ausgebildet werden kann, in dem ambivalente, schmerzhafte und negative Erfahrungen gehalten, symbolisch repräsentiert und entgiftet und damit metabolisiert und integriert werden können. Als eine Folge dieses Mangels an Repräsentation weisen die Autoren (Fonagy, 1998; Küchenhoff, 1998) auf den instrumentellen Gebrauch des Affekts hin, wobei über körperliches Handeln Gedanken und Gefühle ausgedrückt und organisiert werden, die sich gegen den eigenen wie auch den Körper des anderen richten können. Und entsprechend der mangelnden Symbolisierungsfähigkeit wird die Wahrnehmung von Konflikten und Ängsten durch Spaltung, Idealisierung, Entwertung oder omnipotente Kontrolle abgewehrt. Auch auf kollektiver Ebene – so Legendre – führt der Zusammenbruch der symbolischen Ordnung zu Spaltungsprozessen und dem Bedürfnis nach om9 Legendre (1998) nimmt zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen »Das Verbrechen des Gefreiten Lortie«, eines kanadischen Gefreiten, der 1984 die Nationalversammlung in Qu¦bec stürmte, um die Regierung zu töten. Der Sitzungssaal war zu dieser Zeit leer, da die Regierung nicht tagte. Lortie tötete bei seinem Amoklauf drei Menschen. Als er später während seiner Verhandlung nach den Gründen für seine Tat gefragt wurde, gab er zu Protokoll: »Die Regierung von Qu¦bec hatte das Gesicht meines Vaters« (S. 60), eines gewalttätigen, gleichgültigen und beziehungslosen Mannes. Lortie, der zur Tatzeit die eigene Vaterschaft antreten sollte, war – wie sich im Laufe des Prozesses herausstellte – überwältigt von der Angst, ähnlich wie sein Vater, dem eigenen Kind gegenüber ein gewalttätiger Vater zu sein.

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nipotenter Kontrolle. Viele Ereignisse nach 9/11 lassen sich, nicht nur in den USA, auf diese Weise verstehen. Die Spaltung der Welt in Freundes- und Schurkenstaaten hatte eine Reihe verheerender Folgen, wie das Außerkraftsetzen der Genfer Konventionen, Verstöße gegen internationales Recht, die Aufhebung der Bürgerrechte, die Einführung des sogenannten »Feindstrafrechts« oder die Etablierung von Antiterrorgesetzen. Auch hier in Europa zeigen sich Spuren dieser »zivilisatorischen Regression« (Dubiel, 2001), wenn eine Debatte über den Abschuss von Flugzeugen im Falle terroristischer Bedrohung geführt oder über die Legitimation der Folter diskutiert wird.

4.

Sexualisierung der Gewalt

Die Opfer von Abu Ghraib werden zu Trägern der Angst ihrer Peiniger, die selbst nichts mehr fürchten, als zu Memmen, das heißt ihrer Macht beraubt, also ohnmächtig zu werden. Um die entsprechenden eigenen Regungen abzuspalten, zu entwerten, sie aber auch zu genießen, werden die Gefangenen erniedrigt, sadistisch gequält und als Lustobjekte benutzt. Unter diesen regressiven Bedingungen scheinen die Opfer dem psychischen Überleben der Täter zu dienen. In dem sadistischen Gefüge sind die Täter gewissermaßen abhängig von ihren Opfern und deren Überleben, um sich immer wieder in ihrer Überlegenheit an ihnen psychisch aufzurichten. Die Folterbilder aus Abu Ghraib haben zweifelsohne ein pornografisches Format. Robert Stoller (1979) hat in seiner Arbeit zur Perversion, die er im Untertitel als »erotische Form von Hass« bezeichnete, herausgearbeitet, dass der Pornografie wie jeder Perversion ein phantasierter Racheakt zugrunde liegt, in dem immer Opfer und Zuschauer vorkommen: Das Strukturmuster aller pornografischer Formen besteht darin, dass sie Demütigung, Angst, Furcht und Versagung beschwören, die dann im Akt gewalttätiger Einvernahme überwunden werden. Mit anderen Worten: Pornografie enthält die Psychodynamik der Perversion, das heißt, sie zielt mit sexuell erregenden Stoffen auf Hass- und Rachephantasien (Stoller, 1979). Es liegt auf der Hand, dass es kontinuierliche Steigerungen der Ausformulierung des pornografischen Formats gibt; denn perverse Elemente spielen im Sexualleben eines jeden Menschen in unterschiedlichem Umfang eine Rolle. Sie sind als kollektive Phantasien im filmischen und literarischen Repertoire einer Kultur aufgehoben, werden dort mit Lust symbolisch gehalten, müssen also nicht zwangsläufig Handlungsvorläufer sein. Für den Täter allerdings hat die in Handlungen vollzogene sexuelle Gewalt häufig – psychodynamisch gesehen – eine ich-stabilisierende und vorübergehend wohl auch reparative Funktion, sie wirkt nicht selten einer drohenden

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Fragmentierung entgegen und dient der Aufrechterhaltung psychischer Homöostase (Morgenthaler, 1984; Glasser, 2010; Pfäfflin, 2010), denn je hilfloser und kopfloser die einen, desto gerissener und mächtiger fühlen sich die anderen. Als selbstinszeniertes Ritual kann die sexuelle Gewalt – wie Stoller es nennt – aus der Niederlage einen Triumph machen. Der sich als Opfer fremder Gewalt empfindende Täter wird nun zum Sieger, indem er heil und unversehrt die eigene Bedrohung übersteht.10 Beim Anblick der Fotos aus Abu Ghraib fühlt man sich an das de Sadesche Gesetzbuch der Hundertzwanzig Tage von Sodom erinnert, in dem es um die Pflicht zur Gesetzesübertretung, zum Verbrechen geht. Es handelt sich also auch um ein Verbrechen im Dienste der Erhaltung der Machtfülle dieses perversen »Gesetzgebers«. Das Opfer wird gequält und mit Gewalt am Leben erhalten, um das Genießen11 der Beteiligten sicherzustellen. Mit anderen Worten: Auch in Abu Ghraib handeln die Folterer nicht nur im Eigeninteresse, sondern verstehen sich als Bemächtigte einer höheren Gewalt. Im narzisstischen Rausch scheinen sich die Täter als Herrscher über Leben und Tod zu fühlen und sich an die Stelle des Gesetzes zu setzen, über das sie letztendlich triumphieren. In seiner Erzählung Die Schule der Gottlosigkeit lässt Aleksandar Tisˇma den Folterer nach dem Tod seines Opfers erleichtert herausstoßen: »Ich danke dir, Gott. Es gibt dich nicht, Gott! Nein, es gibt dich wirklich nicht. Ich danke dir!« (Tisˇma, 1999, S. 71). Für die Psychoanalytikerin Chasseguet-Smirgel (1986) setzt sich der Folterer an die Stelle Gottes und wird »durch einen Akt der Zerstörung zum Schöpfer einer neuen Art von Wirklichkeit«, in der die Akteure »die Welt zu Fäkalien […] machen, oder besser, die Welt der Unterschiede (die genitale Welt) […] vernichten und an ihre Stelle die anale Welt […] setzen, in der alle Bestandteile gleich und austauschbar sind« (1986, S. 11 ff.); ein »anus mundi«, wie Grunberger (1988) die nationalsozialistischen Konzentrationslager nannte.

10 Diese psychodynamischen Erkenntnisse sind aus vielen Studien über traumatisierte Soldaten bekannt, die nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg die mörderischen Erfahrungen im zivilen Alltag reinszeniert haben. 11 Der Begriff des Genießens wird hier im Sinne Lacans (jouissance) benutzt, der ihn in einen Gegensatz zur Lust und zum Begehren setzt. Die Lust ist auch für Freud mit einem Verbot (Inzesttabu, Kastrationsdrohung, Ödipuskomplex) verbunden, während das »Genießen« für eine unmittelbare hemmungslose Triebbefriedigung steht, die nach Lacan dem Bereich des Realen angehört. Das Genießen setzt sich also über das Verbot hinweg. Slavoj Zˇizˇek (2008) betont deshalb den »obszönen« Charakter des Genießens.

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5.

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Die pornografische Maskierung der Folter

Das pornografische Format der Bilder aus Abu Ghraib saugt die Blicke der Betrachter an und fixiert sie auf das Sexuelle. Es scheint, als würde damit der Versuch unternommen, von den Kriegsverbrechen abzulenken und die Empörung auf die Pornografie, den Lustgewinn beim Anblick menschlicher Erniedrigung zu richten. Mit dem Pornografievorwurf läge – so Judith Butler12 – ein »Kategorienfehler« vor: Nicht die Lust, sondern der Einsatz brutaler Zwangsmittel und sexueller Gewalt zur Beschämung und Erniedrigung eines Menschen sei verwerflich. In der Erregung und der manischen Verbreitung der Bilder herrsche sicher »eine Sexualisierung des Akts des Sehens und des Fotografierens, die zwar mit der Sexualisierung des Dargestellten gleichzeitig ist, von dieser jedoch unterschieden werden muss. Das Problem liegt hier auch nicht im erotisierten Betrachten, sondern in der moralischen Indifferenz der Fotos und der Fortschreibung und Wiederholung der Szene in Form eines visuellen Icons« (Butler, 2010, S. 89).

Dass die Bilder ohne Scham aufgenommen und ohne jeden moralischen Skrupel verbreitet wurden, zeigt, dass sich die Akteure weder eines Regelverstoßes noch eines Kriegsverbrechens bewusst waren. Die grausame Inszenierung vor der Kamera richtet sich an ein Publikum, »das die Taten als Sanktion der Gemeinschaft am Bösen gutheißen soll« (Mladek, 2010, S. 256). Die Folterer scheinen sich im Stolz auf ihre Leistung, eine gerechte Strafe vollzogen zu haben, zu brüsten. Sie lächeln die Fotografin an und genießen den im Bild festgehaltenen Sieg über den Feind.13 Sie bezeugen einen Triumph, der sich eines gemeinsam geteilten Rahmens bedient, der durch die sozialen und politischen Normen geprägt ist. Durch ihn entsteht die Beziehung zwischen Fotografin und Fotografierten. Dieser Rahmen bestimmt das Wahrnehmbare, rückt das Entscheidende ins Zentrum und schließt andere Teile des visuellen Feldes aus. Ausgespart bleibt das Leid der Opfer, die man nicht sehen kann, die im Gegensatz zu 12 Judith Butler (2010, S. 86 ff.) bezieht sich in ihrer Kritik auf einen Artikel von Joanna Bourke (2003), die sich im Guardian mit der »Folter als Pornografie« beschäftigt hat. 13 Fotografien von Hinrichtungen dienten schon während der letzen Weltkriege den Soldaten als Fetische zur Abwehr der Todesangst (Holzer, 2008; Hoffman-Curtius, 2000), indem sich die Handlanger des Todes selbst in »leiblicher Anwesenheit« (Holzer, 2008, S. 92) der von ihnen erniedrigten, gedemütigten und getöteten Menschen ablichten ließen. Die Fotos von Abu Ghraib könnten eine ähnliche Funktion für die Akteure haben. Sie dokumentieren den Triumph und suggerieren dem Besitzer Unverletzbarkeit. Als solche sind sie besonders geeignet, als Angst abwehrender, schützender Fetisch zu fungieren. Grunberger (1988) hat neben dem narzisstischen auch den analen Charakter des Fetisch herausgearbeitet und dabei betont, dass die Dimensionen Beherrschung, Leistung und Kontrolle als Abwehrmodus besonders bedeutsam sind.

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den Folterern kein Gesicht haben (Butler, 2010). Und die Fotografen von Abu Ghraib? Sie befinden sich innerhalb des Rahmens, sind mitagierende Akteure: »Schließlich war ihre Sicht auf den sogenannten Feind […] eine gemeinsame und so weitverbreitet, scheint es, dass kaum daran gedacht wurde, dass hier etwas nicht stimmen könnte. Können wir nicht sagen: Diese Fotografien wiederholten und bekräftigten nicht nur eine bestimmte Praxis der Schwächung der islamischen Kultur und der islamischen Normen, sondern sie handelten auch in Übereinstimmung mit den und in Artikulation der gemeinsamen gesellschaftlichen Normen des Krieges ?« (Butler, 2010, S. 82).

Reduziert man Foltern nicht auf eine individuelle Pathologie der Akteure, dann bezeugen die Bilder, dass die Normen des Krieges die moralisch signifikanten Bezüge zu Gewalt und Verletzlichkeit neutralisiert haben (Butler, 2010). Das zeigt sich nicht zuletzt in der Dramaturgie der Fotos, im gewählten Bildausschnitt. Alles deutet darauf hin, dass die Fotografen die Perspektive des Krieges einnehmen, sie sind Teil der Szene, werden nicht behindert, niemand verstellt ihnen den Blick, im Gegenteil. »Wir haben es eindeutig mit Folter zu tun, Folter vor laufender Kamera, ja für die Kamera. Es handelt sich um ein in der Bildmitte zentriertes Geschehen; die Folterer wenden sich regelmäßig der Kamera zu, um sicherzugehen, dass ihre eigenen Gesichter aufgenommen werden, während die Gesichter der Gefolterten überwiegend verhüllt sind. Die Kamera selbst arbeitet ohne Fessel, ohne Einschränkung, damit nimmt sie den geschützten Raum ein und verweist auf den geschützten Raum, in dem die Täter agieren können« (Butler, 2010, S. 83).

Die Fotos halten in den rituellen Handlungen der Erniedrigung und Herrschaft, in der Körpersprache der Beteiligten unzweifelhaft fest, wer der Besiegte und wer der Sieger ist. Der Kamera kommt dabei eine zentrale Rolle zu.14 Sie repräsentiert das unsichtbare Publikum, vor dem die Handelnden im Ausdruck der Überlegenheit agieren. Die Gesichter der Opfer sieht man nicht, sie haben ihr Gesicht verloren, wurden dehumanisiert, ihrer Individualität beraubt und verunstaltet. Valentin Groebner hat in seinem Buch Ungestalten (2003) über die visuelle Gewalt im Mittelalter darauf hingewiesen, dass diese Darstellung der Opfer von öffentlicher Gewalt auch vor 500 Jahren nicht anders war. Indem die 14 Die Kamera ist dabei nicht nur Werkzeug in der Hand des Fotografen, sondern das handelnde Subjekt verschmilzt mit seinem Gerät, inkorporiert es. Der Apparat wird gleichsam zu einem »verlängerten Auge« (Virilio, 1989). Das festgehaltene Bild wird zur Trophäe, zum Beweis des Erlebten, zum Mittel der Beglaubigung von Erfahrung, im Bild hält man die Realität fest, um sich an ihr immer wieder selbst zu vergewissern (Sontag, 1989). Darauf hat auch Roland Barthes in seinem Buch »Die helle Kammer« hingewiesen, in dem er pointiert formulierte, dass die Fotografie eine »Emanation des Referenten« sei (Barthes, 1989, S. 90), eine fixierte Erinnerung an das, was so gewesen ist. Das Leben wird gegen den Tod festgehalten.

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Opfer anonymisiert und ihres Gesichtes beraubt werden, überträgt sich die Bedrohung auf den Betrachter. Nur »das Beharren auf der Identifizierung der Dargestellten« – so Groebner – bannt »den wortlosen Horror der Ungestalt. Weil sie in das Bild hineinführt und die Bedingungen der Inszenierung zum Thema macht« (Groebner, 2003, S. 174).

6.

Aus dem Vorrat kollektiver Phantasien

Die Schnappschüsse15 aus Abu Ghraib erinnern in ihrer Theatralität an still pictures aus Filmen wie Blue Velvet (David Lynch, USA 1986)16, Das Schweigen der Lämmer (Jonathan Demme, USA 1991) oder Pulp Fiction (Quentin Tarantino, USA 1994). Die fotografisch festgehaltenen Gewaltszenen scheinen sich aus dem Vorrat kollektiver Phantasien der westlichen Welt zu bedienen. Beilenhoff spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Bilder aus Abu Ghraib »unerwartete normverletzende Interferenzen zwischen Imaginärem und Realem, zwischen Kino und Terror generieren« (Beilenhoff, 2007, S. 87). Freilich sind die im Bildmaterial aufgehobenen Anleihen ihres symbolischen Gehalts beraubt, sind Kopien, desymbolisiert und als »Klischees« in Dokumente kruder Handlungssprache übergegangen (Lorenzer, 1972). Lorenzer weist darauf hin, dass »Klischees« unbewusste Repräsentanzen sind, die im Vorgang der Verdrängung quasi »exkommuniziert« wurden. So bekommen wir in den Folterbildern neben dem Manifesten auch Bruchstücke des Unbewussten zu sehen.17 Die Bilder aus Abu Ghraib konfrontieren uns mit dem »unbekannten Bekannten« (Zˇizˇek, 2004), sie lassen sich mit Bildercodes westlicher Rituale der Unterwerfung, mit Initiationsriten des Militärs und amerikanischer High Schools in Verbindung bringen. Die Folterungen in Abu Ghraib machten aus den Gefangenen unfreiwillige Darsteller in entwürdigenden Ritualen, in denen Beschämung, Schmerz, bis hin zum Tod als Mittel radikaler Entsubjektivierung dienten. Die Pornografisierung war dabei das wichtigste Element der Verführung und gleichzeitigen Verschleierung, wobei durch die Sexualisierung der Gewalt die Mitwirkung von 15 Der Bildersprache des Fotografierens ist das kriegerische Vokabular eigen: Wir laden, zielen und schießen Bilder mit der Kamera. Paul Virilio (1989) bezieht die Fotografie und den Film auf die Entwicklung der modernen Kriegstechnologie; denn seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Waffen und Kameratechnik parallel. 16 Siehe dazu Lamott/Adamson (2010). 17 Oder, wie Zˇizˇek sagt, dass die Bilder uns mit dem »unbekannten Bekannten (konfrontieren), den geleugneten Überzeugungen und Annahmen und den obszönen Praktiken« (Zˇizˇek, 2004, S. 30), von denen wir angeblich nichts wissen, »obwohl sie als Popkultur den Hintergrund unserer öffentlich gepflegten Werte bilden« (Hüppauf, 2004, S. 53).

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Frauen als sogenannte »Kräftevervielfacher« erforderlich war, denn erst ihre Beteiligung potenzierte den Sadismus, der den Opfern der islamischen Welt den Stempel westlicher Modernität aufdrückte; eine perfide Instrumentalisierung der Erkenntnisse aus interkulturellem Training. Welche Dynamik der Einsatz von Frauen in diesem Folter-Universum freigesetzt hat, lässt sich aus Interviews mit ehemaligen Aufsehern aus Abu Ghraib erahnen. In einem Dokumentarfilm18 berichtet ein Gefängnisaufseher, dass sich die Frauen von den Gefangenen häufig nicht wahrgenommen fühlten,19 weil diese sie nicht anschauten.20 Nicht selten habe die Verweigerung des Blickkontaktes zu gewalttätigen, sadistischen Übergriffen seitens des weiblichen Personals auf die Gefangenen und zu demütigenden Handlungen, symbolischen Kastrationen, wie dem Zwang, weibliche Unterwäsche zu tragen, geführt. Während die Akteure für ihre Folterungen ein pornografisches Format wählten und dabei Anleihen am Vorrat kollektiver Phantasien machten, mag die beständige Präsenz von Digitalkameras und Videogeräten ihrer Distanzierung und Entfremdung Vorschub geleistet haben. Den Tätern mag ihr eigenes Handeln wie in einem Film vorgekommen sein, einem Film, in dem sie selbst mit Macht und Kontrolle ausgestattet die Regie übernommen haben. Theweleit spricht von der tendenziellen Auflösung »verschiedener Realitätsarten«. Diese mögen sich im Einzelnen zwar unterscheiden, aber existieren prinzipiell gleichberechtigt und unabhängig voneinander. Denn ihre Unterscheidung »in reale, virtuelle, mediale, geträumte, halluzinierte, konstruierte« usw. scheint rein willkürlich geworden zu sein (Theweleit, 2002, S. 75). So empfinden Jugendliche den von ihnen mit ihrem Handy aufgenommenen Film über ihre eigene Gewalttätigkeit lediglich als lustig,21 wenn sie ihn anschließend ins Netz stellen. Die von ihnen selbst gegen ein wehrloses Opfer ausgeübte Gewalt erleben sie als Teil eines »Dokumentarfilms«, in dem sie die Hauptrolle spielen, oder wie Sabrina Harman, die für viele der Fotos aus Abu Ghraib verantwortlich zeichnet, es einmal formulierte: »Alles erscheint mir wie im Fernsehen und nicht als wirklich 18 Folter – made in usa (Frankreich 2010), Dokumentarfilm von Marie-Monique Robin, ausgestrahlt auf ARTE am 21. 6. 2011. 19 Über die Psycho- und Gruppendynamik des Aufenthaltes einer weiblichen Minderheit in einem von Männern dominierten Universum der Gewalt gibt es nur wenige systematische Erkenntnisse. Gourevitch und Morris (2009) geben einige Hinweise aus Interviews mit Sabrina Harman, der Fotografin von Abu Ghraib. 20 Fremden Frauen in die Augen zu schauen ist für männliche Angehörige einer islamischen Kultur ein Tabu. 21 Ein jugendlicher Gewalttäter zu einem wehrlosen Jungen: »Du Opfer, kannst Dich bei uns bedanken, kommst groß raus. Wir machen einen Dokumentarfilm« (euphemistisch: happy slapping). http://www.focus.de/digital/videos/happy-slapping-gewalt-fuer-die-handykamera_vid_ 14285.html, zuletzt eingesehen am 1.08.12.

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selbst Erlebtes. Es ist einfach etwas, das man sieht, ohne dass es real wäre« (Gourevitch/Morris, 2009, S. 124). Ein Vorgang, den Freud als »Ich-Spaltung im Abwehrvorgang« (Freud, 1940/1938) bezeichnete.

7.

Das Zirkulieren der Bilder

Die massenmediale Verbreitung der Folterungen vor der Kamera ist ein Novum. Zwar gab es, seit es den Fotoapparat gibt, immer schon Kriegsfotografien von gedemütigten, erschossenen und hingerichteten Menschen, die mal in kritischer Absicht erstellt, mal von kämpfenden Soldaten als Erinnerungsträger, als Trophäen, benutzt wurden. Sie fungierten entweder als bildliches Antikriegsargument oder legitimierten das Eingreifen militärischer (»Friedens«-) Truppen.22 Die digitalen Bilder aus Abu Ghraib haben eine neue Qualität: Als moderne Bildermedien fungieren sie nicht nur als Verstärker der Ereignisse, sondern erst durch die massenmediale Hilfe realisieren sich die Taten, die nicht mehr nur unsere Weltwahrnehmung bestimmen, sondern die Weltereignisse strukturieren (Bleicher, 2002). Dabei bedient sich der Bilderkrieg bestimmter Inszenierungstechniken: So produzierte die »Ikonisierung« der Bilder des 11. September eine Dramatik, die die Zuschauer/innen zwang, einer symbolischen »Kastration« Amerikas beizuwohnen und neben dem Leid auch eine tiefe Wut über die öffentliche Beschämung durch die islamistische Welt zu empfinden. Das World Trade Center, Symbol unbegrenzter westlicher Macht, war in sich zusammengebrochen und mit ihm auch die Vorstellung vom unverletzlichen amerikanischen Staat. Die mediale Aufarbeitung bekam durch die ständige Wiederholung der Bilder eine zusätzliche Dramatisierung, die Anleihen bei Genrekonventionen des thrillers wie des Katastrophenfilms nahm. Auf Nine Eleven folgten als Signal an die islamische Welt der zur Abendbrotzeit live übertragene Angriff auf Bagdad und der triumphal dargestellte Krieg gegen die Paläste Saddam Husseins. Die angegriffene islamische Welt konterte mit Bildern von gefangenen, verletzten und gefallenen US-Soldaten, die dann wiederum mit jenen entwürdigenden, sexuell aufgeladenen Fotos von Gefangenen aus Abu Ghraib beantwortet wurden, die nur mehr von Enthauptungs-Videos islamistischer Kommandos übertrumpft werden konnten (Paul, 2005). 22 Spätestens seit dem Kosovo-Krieg orientieren sich die Rechtfertigungsfiguren für militärische Interventionsstrategien an dem »new humanitarianism«. Mit den Fotos von serbischen Massakern an der kosovarischen Bevölkerung begannen die NATO-Luftangriffe im Kosovo (Lamott, 2006).

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Franziska Lamott

Paul Virilio (2001) weist auf die spezifischen medialen Kriegstechniken einer globalisierten Welt, auf die Verquickung von Terrorismus und modernen Medien hin. Die Bilder werden zu Komplizen einer destruktiven Kriegspolitik, in der jedes Bild ein Gegenbild mit immer brutaleren Szenen, gewissermaßen eine »visuelle Rüstungsspirale« (Paul, 2005, S. 3) provoziert. So lassen sich die Bilder von Abu Ghraib auch als Antwort auf die größte Beschämung der amerikanischen Nation lesen, die nun ihrerseits mittels schamloser, sexueller Gewaltakte die Gefangenen, als Repräsentanten der islamischen Kultur, demütigen und beschämen. So gesehen folgen sie der Gewaltspirale des Talionsprinzips: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

8.

Ausblendungen

Die Folterbilder aus Abu Ghraib sind Zeugnisse der Schamlosigkeit. Sie zeigen den Stolz der »Gerechten«, die sich ganz in Einklang mit ihrem patriotischen Auftrag fühlen. Die performative Ausgestaltung der sadistischen Gewalt ist untrennbar mit der westlichen Kultur verknüpft. Sie ist in dieser Kultur durch Verdrängung oder Sublimierung im Film, in der Literatur wie im Kunstwerk gebunden oder unter pathologischen Bedingungen in Handlungsvollzügen entfesselt. Doch sie hat ihre Ursprünge in eben dieser Zivilisation und entspringt jener normativen Kultur, die sie gleichzeitig bedroht. Daher changieren diese unheimlichen23 Bilder zwischen Vertrautem und Fremden, zwischen Kunst und Tortur und lösen gleichzeitig widerstreitende Gefühle zwischen Angezogensein und Abscheu, zwischen Erregung und Ekel hervor. Warum das Nebeneinander von Angezogensein und Abscheu? Warum der Ekel? Geht man dem heftigen, ja körperlichen Affekt nach, dann stößt man auf ein besonderes Strukturmerkmal, das bedeutsam ist. Wovor ekeln wir uns? Wir ekeln uns vor unseren eigenen Sekreten und Ausscheidungen, sobald sie unseren Körper verlassen haben, als wären sie uns fremd geworden, in dem Moment, in dem sie die Grenze unseres Körpers überschritten haben; wie der Speichel, das Blut, das Ejakulat, der Auswurf, das Verdaute, die übelriechende Fäkalie. Das uns fremd gewordene Eigene erzeugt nach der Entäußerung offensichtlich unseren Ekel. Es gehört nicht mehr zu uns. Nahezu eine Analogie zu jenen Gewaltphantasien, die die innere Welt der Gedanken verlassen haben, um sich in der äußeren Realität zu verwirklichen. So repräsentiert das Ekelgefühl als somatisches Korrelat auch einen intrapsychischen Projektionsprozess, in dem die 23 Vgl. Freud über Das Unheimliche (1919).

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ungeliebten Anteile des Selbst, auf den fremden Anderen projiziert, wie ein Auswurf erlebt und behandelt werden. So könnten die auf den Fotos häufig zentral positionierten Hygiene-Handschuhe der Folterer von Abu Ghraib auf die Angst vor Ansteckung, vor dem Blut und den Exkrementen, die sie selbst aus den Körpern ihrer Opfer herausgeprügelt haben, hinweisen. Die pornografische Maske der Folter dient der Verführung und Verwicklung der Betrachter. Der Zuschauer – so Mladek (2010) – »ist beschämt, weil die Fotos ihn mit seinem eigenen unerträglichen Genießen konfrontieren« (Mladek, 2010, S. 257), oder, wie Susan Sontag ihre Scham beim Betrachten der Fotos formulierte, »the photographs are us«24. Doch hinter der bodenlosen Politik der Beschämung in Abu Ghraib, hinter der quälenden Nacktheit der Gefangenen, die ins Feld des Sexuellen und Pornografischen verschoben wird, verbirgt sich Fundamentaleres: Die Zerstörung des Gesetzes, der symbolischen Ordnung und die stillschweigende Auslöschung ethischer Haltungen, die den Anderen in seiner Existenz, mithin in seinen Menschenrechten anerkennt.

Literatur Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main 1989. Beilenhoff, Wolfgang: Bild-Ereignisse: Abu Ghraib. In: Schneider, Irmela und Christina Bartz (Hrsgg.): Formationen der Mediennutzung I. Medienereignisse. Bielefeld 2007, S. 79 – 97. Bleicher, Joan Kristin: Terror Made in Hollywood. In: Cover, 3/2002, S. 70. Bourke, Joanna: Torture as Pornography. In: The Guardian vom 7. 5. 2004. Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt am Main 2010. Chasseguet-Smirgel, Janine: Kreativität und Perversion. Frankfurt am Main 1986. Danner, Mark: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War On Terror. New York 2004. Dubiel, Helmut: Warum ist das Anrufen der Zivilgesellschaft so beliebt? Über die bewussten und unbewussten Unbestimmtheiten eines modernen Begriffs. In: Frankfurter Rundschau, 143, 2001, S. 7. Fonagy, Peter : Metakognition und Bindungsfähigkeit des Kindes. In: Psyche, 52, 1998, S. 349 – 368. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Ders.: Gesammelte Werke Band XII. Frankfurt am Main 1919/1947, S. 229 – 268. – Die Ichspaltung im Abwehrvorgang. In: Ders.: Gesammelte Werke Band XVII. Frankfurt am Main 1940, 1938/1951, S. 59 – 62. 24 Susan Sontag Regarding the Torture of Others, New York Times, 23. Mai 2004.

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Franziska Lamott

Glasser, Mervin: Die Rolle der Aggression in den Perversionen. In: Jahrbuch der Psychoanalyse, 60, 2010, S. 19 – 55. Gourevitch, Philip und Errol Morris: Standard Operating Procedure. New York 2008. Dt.: Die Geschichte von Abu Ghraib. München 2009. Groebner, Valentin: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter. München 2003. Grunberger, Bela: Narziss und Anubis. Die Psychoanalyse jenseits der Triebtheorie. Band I. München/Wien 1988. Harders, Cilja: Geschlecht und Gewalt in der Neuen Weltordnung. In: Künzel, Christine und Gaby Temme (Hrsgg.): Täterinnnen und/oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen. Hamburg 2007, S. 217 – 231. Hentschel, Linda (Hrsg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse. Berlin 2008. Hoffmann-Curtius, Kathrin: Trophäen und Amulette. Die Fotografien von Wehrmachtsund SS-Verbrechen in den Brieftaschen der Soldaten. In: Fotogeschichte, 20, 2000, S. 63 – 77. Holzer, Anton: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914 – 1918. Darmstadt 2008. Hüppauf, Bernd: Foltern mit der Kamera. In: Fotogeschichte, 24, 2004, S. 51 – 59. Küchenhoff, Joachim: Trauma, Konflikt, Repräsentation. In: Schlösser, Anne-Marie und Kurt Höhfeld (Hrsgg.): Trauma und Konflikt. Gießen 1998, S. 13 – 33. Lamott, Franziska: Migration und Trauma in Zeiten des Humanitarismus. Notizen zur reflexiven Flüchtlingsarbeit. In: Roloff, Gisbert und Barbara Zoeke (Hrsgg.): 10 x Gerechtigkeit. Unterwegs mit Sisyphos. Lengerich 2006, S. 83 – 93. – Kriminelle Szenen – Über einige Aspekte des Verhältnisses von Kunst und Verbrechen. In: Lamott, Franziska (Hrsg.): Sex/Crime/Art. Erkundungen in Grenzbereichen. Bonn 2010, S. 42 – 58. – und Martin Schott: Destruktive Gruppenprozesse. Zur Psycho- und Soziodynamik von Gewalt. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 43 (4), 2007, S. 294 – 308. – und William Adamson: Urszenen. Blue Velvet und David Lynch. In: Möller, Heidi und Stephan Doering (Hrsgg.): Batman und andere himmlische Kreaturen. Nochmal 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Heidelberg 2010, S. 335 – 348. Laub, Dori: Kann die Psychoanalyse dazu beitragen, den Völkermord historisch besser zu verstehen? In: Psyche, 57, 2003, S. 938 – 959. Legendre, Pierre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Freiburg 1998. Lorenzer, Alfred: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt am Main 1972. Mladek, Klaus: Folter und Scham. Anmerkungen zu Guant‚namo und Abu Ghraib. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA. Bielefeld 2010, S. 243 – 267. Morgenthaler, Fritz: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion. Frankfurt am Main/ Paris 1984. Paul, Gerhard: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Paderborn/München 2004. – Resümee. Die Macht und Ohnmacht der Bilder im asymmetrischen Krieg. In: Ders.: Der Bilderkrieg. Inszenierungen, Bilder und Perspektiven der »Operation Irakische Freiheit«. Göttingen 2005, S. 212 – 228. Prammer, Anita: VALIE EXPORT – eine multimediale Künstlerin. Wien 1998.

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Pfäfflin, Friedemann: Diverse Perversionskonstrukte. In: Jahrbuch der Psychoanalyse, 60, 2010, S. 81 – 101. Romain, Lothar : Emanzipation am Mann vorbei. Zur Ausstellung »Frauen machen Kunst« in der Galerie Magers, Bonn. In: Kunstforum international, 20 (2), 1977, S. 54. Sade, Marquis de: Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder die Schule der Ausschweifung. Dortmund 1987. Shay, Jonathan: Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Hamburg 1998. Sontag, Susan: Über Fotografie. Frankfurt am Main 1989. – Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main 2003. – Regarding the Torture of Others. In: New York Times vom 23. 5. 2004. Stoller, Robert J.: Perversion. Die erotische Form von Haß. Reinbek bei Hamburg 1979. Theweleit, Klaus: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell. Frankfurt am Main 2002. Tisˇma, Aleksandar : Die Schule der Gottlosigkeit. München 1999. Virilio, Paul: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt am Main 1989. – Vom Terror zur Apokalypse? Der erste Krieg der Globalisierung und der Krach der Netzstrategie. In: Lettre, 54 (3), 2001, S. 5 – 7. Zekri, Sonja: Die Illusion vom weiblichen Krieg. Frauen sind nicht die besseren Männer : Sexuelle Gewalt und die Ereignisse im Gefängnis von Abu Ghraib. In: Süddeutsche Zeitung vom 7. 5. 2004. Zˇizˇek, Slavoj: Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! In: Berliner Zeitung vom 23. 6. 2004. – Die Metastasen des Genießens. Sechs erotisch-politische Versuche. Wien 2008.

Michaela Wünsch

Folter und die Zeitlichkeit des Traumas im serial drama

»Ein Problem des Fernsehens besteht darin, dass es im Trauma existiert, oder vielmehr, dass Trauma das Fernsehen in Anspruch nimmt: Es ist immer im Fernsehen« (Ronell, 2000, S. 264).

Die konstitutive Verbindung des Fernsehens mit dem Trauma lässt sich durch zweierlei Umstände erklären: Zum einen durch den Anspruch des Fernsehens, zeitnah, also live von aktuellen Geschehnissen, Ereignissen und Katastrophen zu berichten. Das Fernsehen sendet unablässig Bilder von Kriegen, Katastrophen und anderen Einbrüchen von Gewalt, die vom Publikum oft nur beiläufig gesehen, dessen Bedeutungen jedoch vielfach gar nicht bewusst gemacht, also verarbeitet werden können.1 Diese Bilder von Ereignissen können zum anderen also selbst schockartig auf das Publikum einwirken und ein Trauma auslösen, denn zu den Kennzeichen des Traumas gehört, dass etwas nicht vom Bewusstsein verarbeitet wird, aber dennoch im Unbewussten insistiert.2 Thomas Elsaesser schreibt zu einem verallgemeinerndem Verständnis von Trauma und Medienwahrnehmung: 1 Vgl. dazu u. a. das Zitat von Michael Herr in Ronells Aufsatz in Bezug auf die Rezeption des Vietnamkriegs im Fernsehen: »Das Problem bestand darin, oft erst später […] zu wissen, was man sah. Vieles drang gar nicht ein und dauerte nur fort, in dem, was die Augen festgehalten hatten« (Ronell, 2000, S. 255). 2 Nicht jeder Schock muss eine traumatisierende Wirkung haben. Eine detaillierte Differenzierung zwischen Trauma und Schock würde an dieser Stelle zu weit führen. Es sei nur auf die wahrnehmungstheoretische Verbindung zwischen Schock, Moderne und technischen Medien hingewiesen, zum Beispiel bei Walter Benjamin, nach dem die Schockwirkung des Films den Menschen physisch »konditioniert«, er durch eine »gesteigerte Geistesgegenwart« den Reizschutz mobilisiert (Benjamin, 2006, S. 67). Sigmund Freud betont, dass seine (ökonomische) Theorie des Traumas als Durchbruch des Reizschutzes der Schocktheorie ähnlich, aber nicht mit ihr identisch sei (Freud, 1920, S. 241). Über die traumatische Wirkung von Film- und Fernsehbildern gibt es leider bislang nicht soviel Literatur wie zu der medialen Repräsentierbarkeit des Traumas. »That the viewer may recoil in distaste or terror out of fear of being haunted by unheralded painful images (as in trauma itself)« wird zum Beispiel von E. Ann Kaplan angesprochen (Kaplan, 2001, S. 201).

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Michaela Wünsch

»›Trauma‹ not only names the delay between an event and its […] return, but also a reversal of affect and meaning across time. The thrill of equivocation […] derives from a cognitive-emotive hesistancy, which can be phrased theoretically : does the recurrent, repetitive aspect of the media’s treatment of […] events relate to the time of (subjective) trauma-memory, or is obsessive repetition in fact the media’s […] most authentic temporality and time-regime? If the latter, then repetition becomes part of […] prosthetic trauma, deliberately or inadvertently setting a gap between the impact of an event or image and the (media’s) ability to make sense of it« (Elsaesser, 2001, S. 197).

Wenn jedoch nicht der Inhalt und die Bedeutung das Entscheidende ist, wie Subjekte das Fernsehen wahrnehmen, sondern die Temporalität, die ›immer schon‹ traumatische Effekte haben kann, wie wird dann die alltägliche Information und Unterhaltung überhaupt von traumatischen Ereignissen unterschieden? Wie auch Mary Ann Doane gezeigt hat, hängt die Konzeptionalisierung von Ereignissen durch das Fernsehen von der Zeitlichkeit ab, die die wichtigste Kategorie des Fernsehens ist (Doane, 2006). Die reguläre Information, die das Fernsehen vermittelt, besteht demnach aus einem kontinuierlichen linearen Strom, während die Krise eine Verdichtung der Zeit mit sich bringt, die ein Eingreifen erfordert, wie ein (drohender) Terroranschlag oder eine Geiselnahme. Mit dem Trauma bringt Doane die Katastrophe in Verbindung, die keine ausgedehnte Dauer hat, sondern in der »alles im selben Moment« (ebd., S. 103) geschieht, die momentan und punktuell ist. Ähnlich zu Freuds Definition des psychischen Traumas als Durchbruch des Reizschutzes des sich sonst selbst stabilisierenden »Energiebetriebs des Organismus« (Freud, 1920, S. 239) beschreibt Doane die Katastrophe als »unerwartete Diskontinuität in einem ansonsten stabilen System« (Doane, 2006, S. 110), die nicht in dieses integriert werden kann. Wie Freud benutzt auch Doane ein entropisches Modell der »Tendenz zur Stabilität« (Freud, 1920, S. 219), um den ›Normalzustand‹ der alltäglichen Information und Programmstruktur zu fassen, während der Schock der Katastrophe traumatisch wirkt, d. h. nur schwer in den Zustand eines homöostatischen Gleichgewichts zu integrieren ist. Das Fernsehen verarbeitet die Katastrophe durch Wiederholungsschleifen mit Bildern der Katastrophe (wenn eine Kamera anwesend war) oder kompensatorischen Bildern, die das reguläre Programm unterbrechen und stören. Dementsprechend postuliert auch Ronell, dass das Fernsehen die chronologische Zeit anhält (Ronell, 2000, S. 271) und »somit die bekannte Fremdartigkeit der traumatischen Wiederholung wiederund wiederholen lässt« (ebd.). Obwohl das Fernsehen unablässig vom Trauma berichtet, kann es dieses nicht festhalten oder fixieren (ebd., S. 266). Das Fernsehen ist noch auf eine andere Weise mit dem Trauma verknüpft: aufgrund seiner verdrängten Geschichte. Denn obwohl das Fernsehen bereits

Folter und die Zeitlichkeit des Traumas im serial drama

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während des Zweiten Weltkriegs technisch entwickelt wurde,3 erlebte es seine massenhafte Verbreitung erst nach dem Krieg. »Die massenhafte Invasion des Fernsehens ist also weniger der Anfang von etwas Neuem, als das Überbleibsel einer Geschichte, die nicht verarbeitet werden kann. Das Fernsehen hängt auf entscheidende Weise mit dem Rätsel des Überlebens zusammen« (Ronell, 2000, S. 258 f.).

Da das Fernsehen auf der nicht verarbeiteten, traumatischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs beruht, diese Herkunft als »Überbleibsel einer Geschichte« selbst nicht mitteilen kann, indem es sich generell weigert, etwas aufzuzeichnen, resultiert daraus nach Ronell eine Wiederholung der traumatischen Wiederholung, die »innere[n] Brüche, Unterbrechungen und Pausen« (ebd., S. 272 f.) des Fernsehens. Nach Freud ist ein Ereignis traumatisch, wenn es unerwartet in das psychische System einbricht, ohne dass dieses bewusst verarbeitet oder erinnert werden kann (Freud, 1920, S. 239 f.). »Das Trauma stellt die Konfrontation mit einem Ereignis dar, das aufgrund seiner Unvermitteltheit oder Grauenhaftigkeit nicht in die Schemata vorherigen Wissens eingepasst werden kann« (Caruth, 2000, S. 93). Als Folge wiederholt das Subjekt unbewusst mit dem Ereignis verbundene Handlungen oder Vorstellungen. Freud hat diese Wiederholungen mit dem Todestrieb in Verbindung gebracht, da es dem Lustprinzip widerspricht, etwas Unangenehmes und Schmerzvolles erneut herbeizuführen. Ronell nimmt auf diese Wiederholungen »jenseits des Lustprinzips« Bezug und führt die Serialität des Fernsehens auf den Wiederholungszwang zurück. Da jedoch weder Ronell noch Doane intensiver auf das Format der Fernsehserie eingehen, sondern sich in ihren Analysen in weiten Teilen auf das Nachrichtenfernsehen beschränken, soll im Folgenden untersucht werden, ob sich auch in der Wiederholungsstruktur der Fernsehserie eine Verbindung zum Trauma herstellen lässt bzw. welche spezifische Zeitlichkeit damit verbunden ist, denn auch für die Fernsehserien ist die Zeit konstitutiv (vgl. dazu u. a. Schabacher, 2010a).

1.

Urgency

Die US-Serie 24 (C: Robert Cochran/Joel Surnow, Fox, USA 2001 – 2010) entfachte Debatten hinsichtlich ihrer Verbindung zum Trauma um 9/11 und den dargestellten Folterszenen. So berichtete die Süddeutsche Zeitung, dass USamerikanische Soldaten im Irak die Foltermethoden aus der Serie kopieren würden (Häntzschel, 2007) und es kann von einer engen Zusammenarbeit 3 Vgl. dazu auch Kittler (2002).

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zwischen dem Weißen Haus unter George W. Bush und den Machern von 24 ausgegangen werden (vgl. Arnold, 2007). Die Serie, die erstmals kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgestrahlt wurde, deren Konzept also zu diesem Zeitpunkt bereits feststand, erzählt in einem vermeintlichen EchtzeitSzenario eines Tages (eine Episode stellt eine Stunde nach und eine Staffel besteht aus 24 Episoden) von dem Kampf der fiktiven CTU (Counter Terrorist Unit) und insbesondere des Agenten Jack Bauer (Kiefer Sutherland) gegen immer neue Terrorbedrohungsszenarien. In der 2. Staffel soll eine von vermeintlichen Muslimen aus dem ›Mittleren Osten‹ geplante Zündung einer Atombombe in Los Angeles verhindert werden. Nach der erfolgreichen Suche nach der Bombe und den Tätern konzentriert sich die Handlung darauf, einen Vergeltungsschlag der USA zu stoppen, indem der Beweis erbracht wird, dass keine fremde Regierung oder Terrororganisation aus dem Nahen Osten, sondern US-Amerikaner selbst die Bombe geplant haben, um einen Krieg zu provozieren. Diese Bedrohungen produzieren den Zustand einer permanenten Erwartungsangst und sind von der Zeitlichkeit des ticking bomb scenarios bestimmt.4 Diese zeitliche Verdichtung ist nach Doane weniger charakteristisch für die Katastrophe, sondern: »Die Krise […] bringt eine Verdichtung der Zeitlichkeit mit sich. Sie bezeichnet ein Ereignis von einer gewissen zeitlichen Ausdehnung, das aufschreckt und gerade deswegen folgenreich ist, weil es nach einer Lösung innerhalb eines begrenzten Zeitraums verlangt. […] Die Krise komprimiert die Zeit und macht ihre Begrenztheit eindringlich fühlbar« (Doane, 2006, S. 103).

In 24 ist diese zeitliche Begrenztheit der Lösungsfindung eindeutig definiert. Dadurch, dass immer vier Handlungsstränge zugleich verfolgt werden, die zum Teil über splitscreens gezeigt werden, sind die 24 Stunden übervoll an Ereignissen. Diese Verdichtung scheint im Zusammenspiel mit der Dringlichkeit der ablaufenden »tickenden Zeitbombe«5 Jack Bauer und andere zur Folter geradezu zu zwingen, um an die notwendigen Informationen über den geplanten Terroranschlag zu gelangen und diesen zu verhindern. Slavoj Zˇizˇek hat einen ähnlichen von dem Rechtsanwalt und Professor of Law Alan Dershowitz konstruierten Fall, in dem ein Folteropfer die Leben Vieler 4 Vgl. dazu Lars Koch in seinem Text zu 24: »Die ganze Staffel wirkt somit wie ein auf 24 Stunden gedehntes ticking bomb scenario (Alan Dershowitz), in dem der Protagonist von Einsatz zu Einsatz hetzt und dabei in Urteilsbildung und Entscheidungsfindung immer wieder dadurch determiniert wird, dass er keine Zeit hat. Zeit ist die zentrale Leitkategorie der gesamten Serie« (Koch, 2008, S. 108). Die beschleunigt erscheinende Echtzeit erfordert Handeln im Hinblick auf eine zukünftige Bedrohung, die Brian Massumi mit der zeitlichen Form der Zukünftigkeit charakterisiert (Massumi, 2006, S. 289 f.; zitiert nach Koch, 2008, S. 110). 5 Die Digitaluhr in 24 läuft zwar vorwärts, aber sie könnte genauso gut wie eine Zeitbombe rückwärts laufen, da der Endpunkt bereits feststeht.

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retten kann, kritisiert und 24 dafür, dass die Serie diesen Fall samt der Folter als mögliche Option im Kampf gegen den Terror durchspielt. Er betrachtet den sense of urgency in 24 ethisch. Unter dem zeitlichen Druck der Ereignisse würde die Aufhebung von moralischen Ansprüchen notwendig erscheinen und sowohl die Agenten als auch die Terroristen operierten in einem Raum jenseits des Gesetzes und tun, »was einfach getan werden muss«, indem sie das Leben und die körperliche Integrität von sich selbst und anderen opfern. Während einige Autoren und Autorinnen 24 als Ausnahmezustand im Sinne Giorgio Agambens analysieren, vergleicht Zˇizˇek Agenten und Terroristen mit dem Agambenschen homo sacer (Zˇizˇek, 2006). Auch nach Douglas Howard wird durch die Dringlichkeit (urgency) der Krise und den propagierten Utilitarismus des einen Opfers zugunsten vieler Leben die Folter in 24 akzeptabel, doch rechtfertigt er in ähnlich utilitaristischer Weise die Folterszenen, weil die »angstbasierte Wunscherfüllung nach einem Beschützer wie Jack Bauer« (Keveney, zitiert nach Howard, 2007, S. 143, Übersetzung der Autorin), der an »unserer Stelle« leidet und foltert, von der Serie erfüllt werde und so das »dunkle Drama«, das sich in unseren Straßen und Städten abspiele, erträglicher mache. Obwohl Howard sogar dem Publikum der Serie ein sadistisches Genießen oder zumindest eine Desensibilisierung für Folter unterstellt, bewertet er das gewonnene Sicherheitsgefühl des Publikums höher als die Desensibilisierung. Für Zˇizˇek besteht die Gefahr einer Suspension der ethischen und politischen Standards im Hinblick auf Folter jedoch genau aus dem Grund, dass Folter als Option in 24 überhaupt offen diskutiert wird. Denn, so sein Argument, dadurch kommt es zu einer Schließung der Kluft zwischen der Aussage und dem Akt des Aussagens. Dass die Tatsache der Folter öffentlich ausgesprochen, statt wie sonst verschwiegen wird, bewertet er auch in Bezug auf die reale US-amerikanische Politik als einen radikalen Wandel, vor allem hinsichtlich der ethischen Vertretbarkeit von Folter. Auch bei Ronell steht die Ethik im Mittelpunkt ihres Textes über das Fernsehen. Zum einen argumentiert sie, dass das Subjekt allein durch das »Sehen an sich, auch ohne begleitendes Erkennen oder Erinnern« (Ronell, 2000, S. 255) Verantwortung übernimmt. Als charakteristisch für das Fernsehen betrachtet sie aber nicht allein das Zeigen von Bildern, sondern die Lücke und die Störung. Der Wiederholungszwang des Fernsehens bestehe vor allem aus der Wiederholung der Lücke, die ethische Implikationen beinhaltet: »Das Fernsehen besteht auf wenige Dinge so massiv wie auf die Unterbrechung oder die Lücke, für die es spricht und an denen es teilhat. Es besteht auf einen ständigen Ausnahmezustand. Daraus resultiert die Notwendigkeit der Serie« (ebd., S. 260). Wie bereits erwähnt, ist 24 bereits häufig im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand interpretiert worden, allerdings wurde dabei auf den Anspruch

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der Serie, in Echtzeit alles zu zeigen, eingegangen und weniger auf die mit diesem Anspruch einhergehenden Unterbrechungen, denn in den Episoden wird die Zeit der Werbepausen übersprungen. Diese Unterbrechungen werden immer durch die eingeblendete Digitaluhr eingeführt, die von einem herztonähnlichen, pochenden Ton begleitet werden. Vor den Unterbrechungen spitzt sich die Handlung dramatisch zu, so dass es cliffhanger nicht nur am Ende, sondern auch innerhalb der Episoden gibt. Bei den Folterszenen wird dieser Spannungsaufbau so umgesetzt, dass der Beginn der Folter gezeigt wird, diese jedoch von den Werbepausen unterbrochen wird, und entweder wird diese Szene anschließend nicht fortgeführt, erst später aufgegriffen oder das Folteropfer ist in der Zwischenzeit gestorben. Obwohl Folter also explizit gezeigt wird, wird der Moment, in dem das Opfer am meisten leidet, ausgespart, so dass weder seine innere Reaktion sichtbar, noch eine Identifikation möglich wird. Ausnahmen sind die Szenen, in denen Jack Bauer gefoltert wird, die nahezu in voller Länge gezeigt werden (Abb. 28).6 Nach Ronell besteht die ethische Verpflichtung im Umgang mit den Lücken und Unterbrechungen des Fernsehens darin, aus den Spuren der Unterbrechung Verkettungen herzustellen (ebd., S. 261). Auf 24 übertragen kann eine Schlussfolgerung natürlich nicht darin bestehen, die Lücken mit Bildern vom ultimativen Leiden der Folteropfer zu füllen, sondern darauf hinzuweisen, dass auch in dieser Serie, die die Folter geradezu propagiert, auch die Notwendigkeit wegzusehen eingeschlossen ist. Die dargestellte Gewalt korrespondiert zum einen mit der Gewalt des (Film-) Schnitts und der Zerstückelung der Bilder in splitscreens sowie den Unterbrechungen der Handlungsabläufe. Neben dem demonstrativen Zeigen von Gewalt und Folter implizieren die Schnitte jedoch auch ein Verbergen und Verschweigen, eine Blindheit des Fernsehens, auf das Ronell ebenfalls eingeht. »Das Fernsehen führte uns in ein Reich des ewigen Tages, der Nachtsehfähigkeit und des 24stündigen operativen Einsatzes […]« (ebd., S. 267). Obwohl das Fernsehen »rund um die Uhr« (ebd., S. 271) alles zu zeigen versucht, bleibt das Trauma dem »fernsehenden Blick« (ebd., S. 270) verborgen und soll ihm auch verborgen bleiben. Stattdessen inszeniert das Fernsehen das Leiden der Täter. Dies trifft auf Jack Bauer, der aus reiner Notwendigkeit foltert und selbst als darunter leidend inszeniert wird zu, wie auch auf die Folterer aus Abu Ghraib, über deren Leben wir besser informiert sind als über das der anonym gebliebenen Folteropfer. 6 Vgl. hierzu auch die Abbildungen: Abb. 24 (Ein Unbekannter wird in Südkorea gefoltert. 24, Staffel 2, Episode 1; 00:01:10), Abb. 25 (Terroristen foltern einen Privatdetektiv. 24, Staffel 2, Episode 9; 00:25:38), Abb. 26 (Der Präsident lässt einen ehemaligen Mitarbeiter foltern. 24, Staffel 2, Episode 11; 00:34:53), Abb. 27 (Der Präsident schaut sich die Folter an seinem Mitarbeiter auf seinem Laptop im Büro an. 24, Staffel 2, Episode 11; 00:34:58), Abb. 28 (Jack Bauer wird gefoltert bis vorübergehend sein Tod eintritt. 24, Staffel 2, Episode 19; 00:29:36).

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2.

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Nachträglichkeit

Auch in der TV-Serie Lost (C: J.J. Abrams/Jeffrey Lieber/Damon Lindelof, ABC, USA 2004 – 2010) wird Folter thematisiert, allerdings weniger als gegenwärtige Handlung wie in 24, sondern vor allem über Rückblenden. Einer der Überlebenden eines Flugzeugsabsturzes, die auf einer Insel gestrandet sind, hat Erfahrungen als Folterer. Ausgerechnet der Iraker Sayid Jarrah (Naveen Andrews) soll gefoltert haben. Er folterte für die Republikanische Garde Rebellen und Kriegsgefangene. Allerdings wurde er zunächst während der Operation Desert Storm 1991 von US-amerikanischen Soldaten zur Folter an seinen Vorgesetzen gezwungen, nachdem ihre Einheit gefangen genommen worden war. Die Serie zeigt nachträgliche fiktionale Bilder von etwas, »was in verallgemeinerter Form nicht gezeigt worden war : die US-amerikanischen Polizeikräfte« im Einsatz im Irak (ebd., S. 265). Nach den Erfahrungen mit den Fernsehübertragungen vom Vietnamkrieg, die zu massiven Protesten und der Antikriegsbewegung in den USA geführt haben, galten während des Golfkriegs Übertragungsverbote, so dass oft leere Bildschirme oder kaum kenntliche Bilder von in der Nacht abgeworfenen Bomben im Fernsehen zu sehen waren, die kommentiert wurden. »In diesem Falle zeigte das Fernsehen sich selbst als nicht zeigend und wurde zum geschlossenen, verbundenen Auge der Blindheit« (ebd., S. 266 f.). Dieses Zeigen des Nichtzeigens führte vor, dass das Fernsehen, obwohl es unablässig vom Trauma berichtet, es nicht zeigen, nicht festhalten oder fixieren kann. »Falls Fern-Sehen irgend etwas gezeigt hat, dann ein Fernsehen ohne Bild, einen Ort des Traumas« (ebd., S. 267). Wie wird nun in Lost mit dieser konstitutiven Blindheit gegenüber dem Trauma, dem Krieg und Folter umgegangen? Sayids Lebensgeschichte wird wie die der anderen Hauptcharaktere in der Serie mittels flashbacks erzählt, die narrativ unmotiviert den kontinuierlichen Erzählstrang der gegenwärtigen Ereignisse auf der Insel unterbrechen. In Bezug auf real erlebte Traumen und Schocks lösen diese »technologisch mutierte[n] Mechanismen wie innere Flashbacks […] ungewollte plötzliche Wiederholungen von traumatischen Eindrücken oder Halluzinationen [aus]« (ebd., S. 270), weil die Erinnerung vom Bewusstsein abgespalten ist. Diese flashbacks halten die »chronologische Uhr« (ebd., S. 271) an. Maureen Turim hat die These aufgestellt, dass die zeitliche Struktur des Traumas als eine Serie von Ereignissen und die damit verbundenen flashbacks eng mit moderner Technologie verbunden sind, nicht nur durch ihre Serialität, sondern auch weil flashbacks oft abrupt, repetitiv und fragmentarisch sind (Turim, 2002, S. 207). Daher soll im Folgenden danach gefragt werden, ob (subjektive) Erinnerung im Kontext heutiger Medientechnologie (als »mediamemory«, Elsaesser, 2001, S. 198) somit immer quasi traumatischen Mustern

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folgt und wie dies im Zusammenhang mit der Nicht-Repräsentierbarkeit des Traumas und der Folter stehen könnte. Auch in Lost wird die chronologische Erzählzeit durch die flashbacks, die meist nicht innerdiegetisch motiviert sind, unterbrochen. Meist sind die flashbacks einer Episode jeweils einem Charakter zugeordnet, so dass über mehrere Episoden die Vergangenheit der wichtigsten Hauptcharaktere eingeführt wird. Die meisten Protagonisten sind von einem vergangenen Erlebnis traumatisiert, das jedoch erst nachträglich in kleinen Schritten rekonstruiert wird.7 So erfährt man über Sawyer (Josh Holloway), dass er tatsächlich James Ford heißt und den Namen des Mannes angenommen hat, der für den Tod seiner Eltern verantwortlich ist. Seine Mutter hatte eine Affäre mit einem Mann, der sie allerdings lediglich um Geld betrügen wollte. Als der Vater von dem Verhältnis erfährt, erschießt er im Beisein des achtjährigen James zuerst die Mutter und dann sich selbst. James versucht später seine Eltern zu rächen und den Mann zu finden, nimmt jedoch dessen Namen an und wird selbst zum Betrüger, der Frauen durch Liebschaften dazu bringt, ihm große Summen Geld zu geben. Seine Lebensgeschichte folgt also eigentlich einer nach Freud typischen Form der Wiederholung des Traumatischen, jedoch mit dem Unterschied, dass er von dem traumatischen Erlebnis weiß und es trotzdem wiederholt. Jedoch wird er dabei vom Opfer zum Täter, wechselt also von der Position des passiven Erleidens zur Aktivität, wie dies Freud auch anhand des Fort-Da-Spiels beschreibt, durch das ein Kind eine schmerzhafte Trennung symbolisiert und zu kontrollieren vermag (vgl. Freud, 1920, S. 224 ff.; Stern, 1988, S. 93 ff.). Kate (Evangeline Lilly) hat ihren Vater ermordet, weil dieser ihrer Mutter gegenüber gewalttätig war, das eigentlich Traumatisierende für sie ist jedoch, dass ihre Mutter sie der Polizei verraten hat, da sie diese Form von ›Unterstützung‹ gar nicht gewollt hat, weil sie den Mann liebte, obwohl er sie schlug. Auch Kate unterliegt einem Wiederholungszwang, denn auch in der narrativen Gegenwart kommt ihre Hilfe oft ungewollt. Sie wiederholt jedoch im Unterschied zu Sawyer unbewusst, auch wenn sie sich an ihren Fehlschlag erinnert, meint sie immer das Richtige (für andere) zu tun. Die Foltergeschichte von Sayid ist in der Serie also eine von diversen traumatischen Ereignissen, die in Rückblenden nachträglich erzählt werden. Allerdings ähneln diese nur oberflächlich traumatisch bedingten flashbacks, sondern dienen vor allem der sukzessiven Zusammensetzung der einzelnen Lebensgeschichten der Überlebenden. Umberto Eco begreift die Rückblende als eine Abwandlung der Serie, als eine Schleife, die dazu dient, »neue Möglichkeiten für neue Erzählungen« zu gewinnen (Eco, 1989, S. 305), die Serie am Leben zu 7 Zur Nachträglichkeit traumatischer Erinnerung vgl. auch das Kapitel »Temporality and Belatedness« in Elsaesser (2001, S. 197 ff.).

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erhalten und anstatt die Charaktere in neue Abenteuer zu verwickeln, sie »kontinuierlich ihre Vergangenheit neu« erleben zu lassen (ebd., S. 306). Zwar erleben die Charaktere in Lost auch in der diegetischen Gegenwart nicht wenige Abenteuer, dennoch funktioniert die Serie weitgehend über Wiederholungsschleifen. Dabei tragen die Rückblenden nur teilweise zur Komplexität der Serie bei,8 indem sie eine historische Tiefe erzeugen, »die der Flugzeugabsturz allein so nicht hätte bereitstellen können« (Schabacher, 2010, S. 212b) und auch dadurch, dass die flashbacks nicht innerdiegetisch motiviert sind und daher die Figuren nicht mehr die Funktion von Erinnerungssubjekten haben (vgl. Engell, 2011, S. 130). Die Rückblenden binden jedoch das Publikum ganz konventionell an die Charaktere und erzeugen eine Spannung durch konventionelle Cliffhanger, mit denen die flashbacks abgeschlossen bzw. unterbrochen werden. Wenn man jedoch Lorenz Engells These aufgreift, dass die Serie auch im psychischen Sinn das Erinnern und Vergessen reflektiert und das Gedächtnis über die Figuren verfügt und nicht sie über das Gedächtnis (wie es auch in der Verarbeitung von Traumata der Fall ist, wenn das Gedächtnis nicht für die Subjekte verfügbar ist), könnte sie auch etwas über die Funktionsweise traumatischer flashbacks aussagen. Meine These wäre, dass die flashbacks konventionell erzählt werden, wenn ein Trauma bereits bewusst ist. Sie werden narrativ unkonventionell dargestellt, wenn sie auf ein unbewusstes Trauma verweisen. In diesem Fall sind die flashbacks auch mit der Erinnerung der Figur verbunden. Als ein Beispiel möchte ich die Visionen und die Zeitloops von Desmond Hume (Henry Ian Cusick) insbesondere in der achten Episode der dritten Staffel (Flashes before your Eyes) herausgreifen, weil hier der flashback auch im psychischen Sinn eingeführt wird. Desmond ist auf der Insel, weil er mit seinem Boot während einer Regatta gestrandet ist. Er wird von einem Mann gefunden, der ihn damit beauftragt, abwechselnd mit ihm selbst in der sogenannten unterirdischen Schwanstation der Insel, die von einem nun verschwundenen Forscherteam dort eingerichtet wurde, alle 108 Minuten eine Zahlenkombination in einen Computer einzugeben, was verhindern soll, dass sich ein sehr starkes elektromagnetisches Feld aufbaut. Als die beiden wegen eines Streits, der für den anderen Mann tödlich endet, versäumen, die Kombination rechtzeitig 8 Jason Mittell demonstriert anhand einer Episode (Noël) der US-Serie The West Wing (C: Aaron Sorkin, NBC, USA 1999 – 2006), in der die Therapiesitzung des an posttraumatischen Störungen leidenden Josh erzählt wird, die narrative Komplexität neuerer Fernsehserien. Die flashbacks in der Episode sind nicht chronologisch wie in Lost und Bild und Sound werden inkohärent, so dass nach Mittell der Stil eher europäischem Kunstkino als amerikanischem Fernsehen entspricht. Diese narrative Komplexität durch temporale Konfusion erfordert nach Mittell höhere Fähigkeiten und Partizipation des Publikums, um diese Narration zu verstehen (Mittell, 2006, S. 37).

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einzugeben, führt die elektromagnetische Spannung dazu, dass das Flugzeug abstürzt. Die Überlebenden des Flugzeugabsturzes entdecken Desmond in der Station und nach einiger Zeit kommt es in einem Streit darüber, ob die Zahleneingabe notwendig ist oder ob es sich lediglich um ein psychologisches Experiment handelt, erneut dazu, dass die Zahlen nicht eingegeben werden. Desmond führt eine Entladung und eine Implosion der Station herbei, was bei ihm einen flashback auslöst, dieser mischt sich jedoch mit Visionen seiner jetzigen Gegenwart, was in der Vergangenheit zu d¦j—-vu Erlebnissen führt, also dem Gefühl des Wiedererlebens einer Situation. Wie beschrieben, dienen die übrigen flashbacks dazu, den Charakteren und der Erzählung historische Tiefe zu verleihen. Man geht von der Gegenwart aus in die Vergangenheit zurück, die erzählte Zeit bleibt jedoch linear und das RaumZeit-Gefüge im Wesentlichen erhalten. Der Vorfall, in der sich die Energie, die in der Schwanstation mühsam reguliert wird, gegen sich selbst wendet, leitet jedoch in Desmonds Psyche eine Rückwärtsbewegung ein: er wacht scheinbar in einer bereits vergangenen Situation auf, in der er sich jedoch sowohl an seine »Zukunft« in der Schwanstation erinnern kann, als auch daran, dieselbe vergangene Situation schon einmal erlebt zu haben, er hat also ein d¦j—-vu. Nach Freud ist ein Erlebnis dann traumatisch, wenn es den energetischen, homöostatischen Haushalt durcheinanderbringt, das Ereignis nicht in das psychische System integriert werden kann, also ähnlich wie in dem elektromagnetischen Feld der Station oder wie Doane die Katastrophe beschreibt, in der sich die Energien gegen sich selbst richten und den ›Fortschritt‹ und die lineare Zeit in Frage stellen. Diese traumatische Einwirkung von Kräften, gegen die kein Reizschutz ankommen könnte, versetzt Desmond in seine Vergangenheit, »sein Leben zieht noch einmal wie ein Film an ihm vorbei«, wie er später sagen wird und führt ihn zu seiner »backstory wound«, wie Ursula Ganz-Blättler im Anschluss an Michaela Krützen die »traumatischen Erlebnisse und Fehlschläge aus der Vergangenheit der Protagonisten« nennt (Ganz-Blättler, 2011, S. 79). Desmonds Trauma scheint in der Zurückweisung des Vaters seiner Freundin zu bestehen, die Desmond zwar bewusst wahrnimmt, aber nicht annehmen kann. Der oberflächliche narrative Konflikt, der darin besteht, dass Desmond nachträglich seine Fehler zu verhindern versucht, die ihn von seiner Verlobten trennen werden, erscheinen in dem flashback/d¦j—-vu als eine Art philosophischer Konflikt zwischen Vorherbestimmtheit und freier Wahl. Für Desmond wird dabei entscheidend zu wissen, ob er sich tatsächlich in einer Zeitreise befindet und damit womöglich sein Schicksal ändern könnte. Dies kann psychoanalytisch auch anders interpretiert werden. Nach Freud verweisen d¦j—-vus

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auf die Abwehr von bewusstseinsunfähigen Gedanken, Wünschen oder Traumen (Freud, 1914, S. 235). Wie erwähnt, erlebt Desmond die Zurückweisung des Schwiegervaters in spe zwar bewusst, er erkennt sie jedoch nicht an und versucht nun alles, um ein »großer Mann« zu werden und die Anerkennung des mächtigen Geschäftsmannes zu erlangen. Denn es sind diese Kränkung und der Wunsch nach Kompensation, die Desmond dazu treiben, seine Freundin nicht zu heiraten und stattdessen zum Militär zu gehen und an der Regatta teilzunehmen. Er tut dies zwar vermeintlich, um Penelopes Hand zu gewinnen oder besser übergeben zu bekommen: Tatsächlich gibt er sie aber zugunsten der Anerkennung durch den Vater auf. Insofern hat er keine freie Wahl, jedoch nicht, weil sein Schicksal vorherbestimmt ist, wie es die Narration der Serie nahe legt, sondern weil er zwanghaft etwas wiederholt: das Scheitern der Anerkennung durch Autorität, die sich in der Entlassung aus dem Militärdienst reaktualisiert. Auch gewinnt er die Regatta nicht und verursacht schließlich die Implosion der Station. Ein anderer Zusammenhang zum Trauma ergibt sich in Lost auch durch das anfängliche und die Handlung antreibende Ereignis der Serie, den Flugzeugabsturz. Obwohl es erzähltechnisch möglich gewesen wäre, den Moment des Absturzes in der Gegenwart zu zeigen, beginnt die Erzählung erst NACH dem Absturz. Die ersten Minuten der Pilotfolge werden aus der Perspektive von Jack (Matthew Fox) erzählt, ebenso wie der erste flashback, der die Minuten VOR dem Absturz zeigt. Wie in der live-Katastrophen-Berichterstattung findet man also sowohl die Augenzeugenschaft, denn die erste Szene beginnt mit dem sich öffnenden Auge von Jack, als auch den Aspekt der Nachträglichkeit, die die zeitliche Lücke bzw. das fehlende Wissen des Publikums durch Rückblenden füllen soll. Doane schreibt zur nachträglichen Verarbeitung des Fernsehens eines Flugzeugabsturzes: »Die Unfähigkeit des Fernsehens, den genauen Moment des Absturzes bildlich einzufangen, aktiviert einen kompensatorischen Diskurs von Augenzeugenberichten und […] nachgestellten Szenen des Unglücks – eine simulierte Vision« (Doane, 2006, S. 111). Diese Bilder werden, ob live aufgenommen oder simuliert, endlos wiederholt. Obwohl die Katastrophe in Lost rein fiktiv ist und der Moment des Absturzes hätte gezeigt werden können, verfährt die Erzählstruktur der Nachträglichkeit und Wiederholung ähnlich wie die des Nachrichtenfernsehens. Die flashbacks in Lost können als eine Form der Wiederholung als Reaktion auf die Katastrophe und das Trauma aufgefasst werden, ähnlich wie Nachrichtenbilder, die sich immer wiederholen, nur mit dem Unterschied der subjektiven Perspektive, die die Möglichkeiten des Genres reflektieren, aber auch auf die Undarstellbarkeit des traumatischen Ereignisses verweisen. Cathy Caruth weist auf die Paradoxie

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traumatisch bedingter flashbacks hin, die sowohl oft sehr präzise sind, aber nicht vermittelt werden können. »So ist also im Trauma die Fähigkeit, die Vergangenheit wiederzufinden, eng und auf paradoxe Weise damit verbunden, daß sich der Zugang zu ihr als unmöglich erweist. Was als Flashback zurückkehrt, ist nicht einfach ein überwältigendes, durch spätere Verdrängung […] verdecktes Erlebnis, sondern ein Ereignis, das zumindest teilweise durch seine fehlende Integration in das Bewusstsein gebildet wird. In der Tat scheint in der traumatischen Erfahrung die genaue Wahrnehmung eines Ereignisses – die Fähigkeit, es ständig in der Rückblende des Flashbacks detailliert wiederzugeben – damit verbunden zu sein, daß dieses Ereignis sich dem vollen Bewusstsein während seines Geschehens entzieht« (Caruth, 2000, S. 93).

Obwohl einige Traumatherapeutinnen und Traumatherapeuten vertreten, dass es für die Behandlung von Traumatisierten hilfreich wäre, wenn sie traumatisierende Ereignisse wie einen Film ablaufen ließen, warnt Caruth davor, das Trauma in Erzählstrukturen zu integrieren: »Doch solch eine Umwandlung des Traumas in narrative Erinnerung, welche die Verbalisierung, Wiedergabe und Integration der Geschichte in das individuelle und kollektive Wissen um die Vergangenheit ermöglichen würde, kann dazu führen, daß die der traumatischen Erinnerung wesentliche Genauigkeit und starke Wirkung verlorengehen. Zusätzlich zum Verlust der Präzision findet noch ein weiteres, tiefer gehendes Verschwinden statt: der Verlust der für das Ereignis so wesentlichen Unfaßbarkeit und somit des massiven Anschlags auf das Verstehen« (ebd., S. 94).

Auch wenn Lost in weiten Teilen konventionell erzählt, scheint die Serie in Teilen dieser Unmöglichkeit, ein traumatisches Ereignis nachzuerzählen, gerecht zu werden und zunehmend im Verlauf der letzten drei Staffeln auch der Nicht-Verstehbarkeit von Traumen. Die flashbacks und später auch flashforwards verweisen auf das Diskontinuierliche der Katastrophe und des Traumas, ihre Rückschrittlichkeit innerhalb einer linearen Entwicklungsgeschichte. Diese temporalen Erzählstrategien verweisen jedoch nicht auf reale Traumata, so dass sich die Frage der Repäsentierbarkeit nicht in der Weise stellt, ob ein Trauma angemessen oder authentisch in Fernsehserien dargestellt werden kann. Stattdessen scheint sich zu bestätigen, dass das Subjekt unter den medialen Bedingungen des Fernsehens »notwendigerweise ein traumatisches Verhältnis«9 (Elsaesser, 2001, S. 198) zu Geschichte und Erinnerung hat. Gerade die Unterbrechungen und Lücken, die für Ronell charakteristisch für das Fernsehen sind, erlauben fast keine vollständige Rekonstruktion von Geschichte und Erinnerung, fast unabhängig davon, ob es sich um tatsächliche oder fiktionale, traumatische oder nicht-traumatische Erinnerungen oder Ereignisse geht. Mit Ronell und Zˇizˇek ist es jedoch ethisch problematisch, die Lücke füllen zu wollen, 9 Übersetzung der Autorin ins Deutsche.

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es muss auf der Notwendigkeit bestanden werden, nicht alles zu sehen. Auch wenn Caruths Warnung nicht zu erfüllen ist, Trauma in Narrative zu überführen, da das Trauma seine eigenen narrativen Formen der Wiederholung und Unterbrechung hervorbringt, die den medialen Technologien seit der Moderne entsprechen. Für die hilfreichen Anregungen und Kommentare danke ich Andreas JahnSudmann sowie den Herausgeberinnen und Herausgebern des Bandes Julia Bee, Reinhold Görling und Elke Mühlleitner.

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Szenen der Entmenschlichung. Zeitlichkeit, Folter und das Posthumane in TRUE BLOOD

Einleitung Zuckende Bildwelten, montiert als Südstaatenimpressionen: Sümpfe, Tiere, Menschen, Zerfall, Gewalt, Erweckung. Tod und Leben, ineinander verschränkt in Bildern der Zersetzung und Entstehung von Leben und lebender Materie. Bilder sich zersetzender Kadaver, feuchter Sümpfe, ikonischer Ku-Klux-Klan Kapuzen und Sexualität werden quer zu allen Natur-Kultur-Dichotomien sowie Körperformen und deren Auflösung montiert. Der preisgekrönte Vorspann von True Blood (C: Alan Ball, HBO, USA 2008-;) entwickelt aus unterschiedlichen Bild- und Kameraformaten, Verschränkungen von Vergangenheit und Gegenwart, Amateuraufnahmen, found footage und mentalen Bildern ein schwülfeuchtes Bildmilieu, ohne dabei direkt Bilder aus der Serie aufzugreifen: Flackernd erscheint hier eine lebendige Montage, eine Einfaltung organischer und anorganischer Lebensformen und menschlicher Körper immer an der Grenze ihrer Entmenschlichung. Sie nimmt mimetisch die sich entgrenzenden Körper auf, ekstatisch betend, tanzend oder sich in Form eines Kokons entpuppend. Körper sind außer sich, sie entgrenzen sich, zu sehen sind offene blutige – oder doch nur mit Beerensaft verschmierte – Münder und Blutplasma, ebenfalls zitternd.1 Dieser Vorspann ist eine Form, Leben zu verhandeln: Leben als Bildform. Damit ist man schon im thematischen Herzen der Serie, ihrer Auseinandersetzung mit einer Verschränkung von Leben, Tod, Gewalt, Religiosität und Sexualität im Zeitalter der Bio-Macht (Foucault, 1983, S. 131 – 153). Zeit, so wird schon im Vorspann deutlich, wird nicht mehr nur aus menschlicher Perspektive gedacht (Cherry, 2012, S. 13). Die USA und die Welt sind im Ausnahmezustand: Grund dafür sind nicht der Terrorismus, keine Bombendrohungen, sondern eine biotechnologische Erfindung namens Tru Blood, künstliches Blut, welches Vampiren erlaubt, aus ihrem 1 Der Vorspann wurde von der Produktionsfirma Digital Kitchen produziert.

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Schattendasein zu treten und dem menschlichen Blut abzuschwören. Mit ihrem Auftreten bewahrheiten sich auch andere Mythenfiguren wie Werwölfe, Feen, Hexen etc. Nicht mehr nur werden die Menschen damit konfrontiert, dass ihre Nachbarn möglicherweise schon seit 250 Jahren keine Menschen mehr sind, sondern sie selbst entdecken über sich, dass auch sie nicht mehr oder nicht nur menschlich sind. Nach 9/11 und nach Wirbelsturm Katrina sind die Südstaaten der USA in True Blood Schauplatz eines threat environments ununterscheidbarer Bedrohungsmilieus aus Naturkatastrophen und sozialen Bedrohungszuständen.2 Mit den neuen Akteuren werden grundlegende Gesetze, Normen und Vorstellungen von Leben und Zeitlichkeit durcheinander gewirbelt. Die sogenannte vampirerevelation erfordert neue Gesetze: Heiraten, Strafen, Erben – nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens erfordern eine Neujustierung. Der Ausnahmezustand erstreckt sich auf diesen Zeitraum der Ausweitung der Gesetze zwischen biotechnischer Entgrenzung des Lebensbegriffes und neuen Bürgerund Strafrechten. Auch handeln die neuen Akteure und ihre Gemeinschaften nach anderen Rechtsmaßstäben – das Rechtssystem der Vampire ist im Wesentlichen auf extreme körperliche Strafen und Folter aufgebaut und auch Werwölfe leben in einer Gemeinschaft, die Folter als legitimes Mittel kennt.3 Was in Charlaine Harris’ Büchern, die als Vorlage für das southern gothic drama dienten, immer wieder als Angstphantasie gegenüber Vampiren zirkuliert,4 wird in der Serie visualisiert und steht im Zusammenhang dessen, was man als Szenen der Entmenschlichung, als Verhandlung des Unmenschlich-Werdens des Menschen selbst in einem sich überlagernden Spektrum biotechnologischer Interventionen und der offen geführten Folterdebatte bezeichnen kann. Die Entmenschlichung ist auch eine Szene, die die Grenzen des Menschlichen als Angst- und Begehrenskonstellation ausphantasiert. Szenen der Über- und Unterschreitung des Menschlichen korrespondieren mit der Darstellung von Folter in True Blood. Für den Bildwissenschaftler W.J.T. Mitchell haben sich in den Folterbildern aus Abu Ghraib Ängste und Hoffnungen gegenüber biotechnologischen Fortschritten mit dem visuellen Regime des Krieges gegen den Terror im kollektiven Imaginären und der Bildsprache der Medien überschnitten. Science fiction Figuren wie der menschliche Klon sind die andere Seite zirkulierender Folterbil2 Vgl. zum Begriff des threat environments nach 9/11: Massumi (2009). 3 Die Folter wird nicht nur von den Post- und Nonhumanen praktiziert: vgl. Staffel 1, Episode 11, 0:51 und Staffel 5, Episode 8 und 9. 4 In einigen Bänden der Buchvorlage The Southern Vampire Mysteries werden Folterszenen beschrieben oder erwähnt, vgl. z. B. Harris 2001, 2003, 2004 und 2009. In Harris (2009) wird Handlungsträgerin Sookie Stackhouse schließlich selbst Opfer der Folter.

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der, in denen das menschliche Leben in Grenzzuständen der Entindividualisierung, seinem Azephal-Werden erscheint (Mitchell, 2011, S. 69 – 111). True Blood scheint biotechnologischen Fortschritt und Folterinszenierungen ebenfalls zusammenzudenken und diesen historischen Punkt aufzusuchen, an welchem sich die Mythen und Bilder als Ängste verselbstständigen und das Menschliche heimsuchen, indem die Serie ständig zwischen der Ikonophilie und Ikonophobie der Vampire und Posthumanen5 schwankt. Das begehrte und gehasste Bild des Vampirs changiert zwischen sub- und suprahumanen Aspekten und es verbinden sich der nicht-menschliche, infrahumane Körper (Braidotti, 2010, S. 208) und der auf seinen Tötungswillen reduzierte, entmenschlichte oder gefolterte Körper. Im Folgenden sollen die Folterinszenierungen in True Blood vor allem unter fünf zusammenhängenden Aspekten betrachtet werden; Zeitlichkeit bildet den Rahmen des Textes. Zu Beginn wird (erstens) die Reinszenierung historischer Folterregime beschrieben, dabei überlagern sich in der mythischen Figur des Vampirs Zukunftsphantasien und historische Traumata. Diese Repräsentationen des Posthumanen werden (zweitens) in Bezug zu Gender, Begehren und kultureller Differenz betrachtet, was (drittens) in Relation zu einer transgressiven und körperlichen Ästhetik der Folter gesetzt wird. Die Repräsentationspolitik von Gender und Ethnizität sowie die Repräsentation von Zeitlichkeit der Folter in True Blood stellen (viertens) eine Linearität in Frage, durch die auch der Begriff des Menschlichen im Gegensatz zum Animalischen/Posthumanen ins Wanken gerät. Durch die sich überlagernde Zeitfolge aktualisieren sich auch

5 Der Begriff des Posthumanen wird zur Zeit verschiedentlich und durchaus ambivalent gebraucht: Einerseits relativiert er ein anthropozentrisches Weltbild und eine nur auf den Menschen begrenzte Handlungsmacht (Barad, 2003). Er wird z. B. als Möglichkeit gesehen, ein androzentrisches Weltbild zu überkommen. Posthuman bedeutet dann keine »höhere Entwicklungsstufe« des Menschen, in dieser Sicht einer sich kontinuierlich und immer schon in das posthumane transformierenden Menschheit (MacCormack, 2012, S. 1) ist das Menschliche immer zugleich sub-, inter-, infra-, intra-, pre- und antihuman (vgl. Halberstam/ Livingston, 1995, S. viii). Andererseits wird der Begriff des Posthumanismus aus feministischer Sicht gerade kritisiert, da er einer transhumanen Extension des Männlichen entgegenkommt (vgl. z. B. Colebrook, 2012). Um einer evolutionistischen bzw. teleologischen Lesart eines techno-euphorischen Posthumanismus zu entgehen, verwendet Donna Haraway nicht mehr den Begriff »posthuman«, sondern »companion species« (Haraway/Gane, 2006, S. 140). Mit dem Begriff des Posthumanen soll hier vor allem auf die Postvitalität der Vampire gegenüber den Menschen hingewiesen werden. Sie nehmen das Menschliche auf, kreuzen sich mit dessen Genealogien und verhalten sich diesem gegenüber parasitär. Die übersinnlichen Wesen verweisen in True Blood vor allem auf der motivischen Ebene auf eine Angst und zugleich ein Begehren nach dem Ende des Menschlichen und operieren damit auf der Ebene des Phantastischen. In ihnen verbinden sich ältere Mythen gegenüber Unsterblichkeit und Göttlichkeit mit ähnlichen Phantasien von medial zirkulierenden Figuren wie cyborgs, Robotern und autopoetischen Maschinen/Systemen.

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Regime der Bio-Macht und Souveränität im Register der Bild- und Medienpolitik der Folter, wie im Schlussteil (fünftens) argumentiert werden soll.

1.

Aspekte der Zeitlichkeit und historische Traumata

In True Blood wird die Frage nach dem Posthumanen in einen Zusammenhang mit der US-amerikanischen Ausschluss- und Gewaltgeschichte gestellt. Die Serie inszeniert die Angst vor und das Begehren nach dem anderen in einem posthumanen Zusammenhang weiter, reaktualisiert in dem Szenario jedoch vor allem historische Traumata. Folter spielt dabei eine zentrale Rolle, schreibt sie doch in die Gegenwart der Menschen deren historische Folterregime wieder ein, die die hunderte Jahre alten Vampire aus einer vergangenen Ordnung wie traumatische Elemente überliefert und durchgehend praktiziert haben. Das Medium der Serie macht durch seine inhärent extensiven Erzählmodi eine andere Entfaltung und Entwicklung des Motivs Folter über lange Erzählzeiträume möglich. So arbeitet die Serie selbst mit der Reaktualisierung von Traumata zwischen den einzelnen Staffeln im Modus der Serialität: Die Folter an dem schwarzen homosexuellen Lafayette führt über vier Staffeln hinweg zu einer verschobenen posttraumatischen Reaktion auf Vampire. In True Blood werden in jeder bisher ausgestrahlten Staffel Folterszenen gezeigt, vor allem aber in den ersten vier Staffeln gelangen Szenen zur Aufführung, die man als »anachronistisch« bezeichnen könnte.6 Die Folterszenen in True Blood orientieren sich an historischen Kontexten, in denen Folter ein zentrales Mittel zur Aufrechterhaltung von Herrschaft darstellte, beispielsweise Sklaverei, Inquisition oder Anspielungen auf Totalitarismus. Über die ersten fünf Staffeln hinweg vollzieht sich eine Art ›Modernisierung der Folter‹. Zunehmend mehr wird die Führungselite der Vampirverwaltung beleuchtet, in der sich eine kleine Gruppe abspaltet und die totalitäre religiös-fanatische Herrschaft im Namen der Vampirgöttin Lilith an sich reißt. Im Zuge dessen und in Anspielung auf George Orwells Dystopie 1984 wird die Folter in Bezug auf Vampire professionalisiert – UV-Licht-Bestrahlung und Silberinjektionen in hochtechnologisierten, ›privatisierten‹, eigens dafür konstruierten Räumen (Staffel 5, Episode 2 und 9) lösen das Standgericht der ersten Staffeln ab, welches noch auf einem verwaisten Autofriedhof zur Bestrafung vor einer jubelnden Menge aus schaulustigen Vampiren Fangzähne aus dem Kiefer bricht (Staffel 1, Episode 10; 00:25:15).7

6 Vgl. zum Anachronismus der Folter auch den Text von Jon McKenzie in diesem Band. 7 Auch die menschliche Justiz überschreitet einer eher konventionellen Inszenierungsstrategie

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Die ›anachronistischen‹ Folterszenen sind deshalb zentral, weil sie historische Folter in die aktuelle Situation eintragen, jedoch damit nicht unbedingt eine unveränderliche Kontinuität dieser behaupten, sondern eine grundlegende Nichtlinearität in der Entwicklung des Menschen herausstellen, in der die Folter als Spektakel nicht in ein zurückliegendes Zeitalter verschoben werden kann. Das Auftauchen der Vampire in True Blood hat den Begriff von Zeit und Geschichte der sterblichen Menschen verändert: Dies wird spielerisch aufgegriffen, indem sie zu historischen Vorträgen über den Bürgerkrieg eingeladen werden und selbst einmal Sklaven gehalten haben – was das Zusammenleben mit Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen in der Gegenwart konfliktreich gestaltet. Vampire haben durch ihre zeitalterübergreifende Existenz verschiedenste Formen der Herrschaft akkumuliert und verschiedenste Techniken der Folter und Sklaverei gehören zu ihrem sich über Jahrhunderte erhaltenden Machtapparat. Durch die posthumanen Lebensformen und die von ihnen in der Serie praktizierte Folter wird das Wiederaufleben historischer Gewaltformen durch den sich manifestierenden Diskurs und die öffentlich zirkulierenden Bilder von Folter in der nicht-seriellen Welt deutlich. Auch die Folterbilder aus Guantanamo und Abu Ghraib haben eine ethnisch motivierte Folter- und Gewaltgeschichte der USA des 19. und 20. Jahrhunderts revitalisiert, die sich über die offizielle Abschaffung der Sklaverei erhielt (vgl. Blackmon, 2009) und sich bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts als eine strukturelle Lynchpraxis manifestierte (Martschukat, 2011). In der fünften Staffel der Serie wird darauf angespielt, indem eine an den Ku-Klux-Klan ikonisch angelehnte hate group einen Vampir an einem Kreuz lyncht/verbrennt.8 Gewaltbilder verschiedener historischer Epochen reaktualisieren sich in der Serie übereinander. Die Gewalt der Folter lässt sich nicht mehr integrieren, sie folgt einer traumatischen Logik der Wiederkehr und wird phantastisch aufgefüllt, sie verweist weniger auf historische Repräsentationen, als auf zirkulierende (z. T. erotisierte) Phantasien. Die Ambivalenz gegenüber der biotechnologischen Auflösung binärer Oppositionen von Mann und Frau, Leben und Tod überschattet und überlagert die Phantasien über die Zukunft des Menschen mit Traumata aus der Gewalt- und Ausschlussgeschichte vor allem der USA, aber folgend die Grenzen legaler Befragung, wenn Sheriff Andy und sein Assistent Jason einen verdächtigen Entführer in seiner Zelle zusammenschlagen (Staffel 5, Episode 9). 8 In der zweiten Staffel ist es die stärker institutionalisierte und legale bürgerliche Organisation Fellowship of the Sun, die sich der Verfolgung von Vampiren und der Bewahrung des Menschlichen verschrieben hat. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Handlungsträgerin Sookie Stackhouse in der Buchvorlage Dead as a Doornail (Harris, 2005) die spontane Tötung eines sie (als weiße Frau) bedrohenden Vampirs mit dem im Süden bis in die 30er Jahre verbreiteten lynching schwarzer Männer vergleicht.

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auch z. B. der spanischen Inquisition (Staffel 4). Folter scheint also nicht nur wiederzukehren, die Repräsentation der Folter überlagert sich mit aktuellen und historischen Szenarien. Folter entfaltet dadurch eine eigene Dynamik, die die lineare Zeitlichkeit durchschlägt und in Form eines Traumas die Geschichte als »anachronistisches« Element wieder aufleben lässt. Wenn in der ersten Staffel der Serie der Vampir Eric den homosexuellen Afroamerikaner Lafayette in seinen Folterkeller sperrt, wo er vor dessen Augen Menschen grausam tötet, um ihn für den Handel mit Vampirblut zu bestrafen, dann findet sich hier die direkteste Lesart einer Unterwerfung, die in der Folter die historische Sklavenhaltergesellschaft der USA re-enactet. Diese Szene greift ein historisches Trauma der gezielten Zerstörung von Subjektivität in der Sklaverei auf sowie die im Rahmen der Sklaverei praktizierten Folterpraktiken, die nicht lediglich der Bestrafung, sondern der Entsolidarisierung, der Zerstörung der Sozialstruktur und der Repression dienten. Die Folterszene an dem Vampirblutdealer Lafayette konfrontiert die Zuschauenden mit einer abgründigen und grausamen Seite der bis dahin stark erotisierten und sexualisierten Vampire (Staffel 2, Episode 1; 09:59, 37:30, 55:04). Lafayette gerät in den Folterkeller und damit in ein anderes Rechtssystem, eine sich in der Folter überschneidende parallele Ordnung. Er wird in einen von »Sheriff« Eric Northman unterhaltenen Folterkeller unter dessen exotistischer Vampirbar gesperrt, wo er in fast vollkommener Dunkelheit und unter Entzug von Hygiene und ausreichend Nahrung auf ungewisse Zeit verharren und über einen Zeitraum von fast zwei Wochen an ein Rad gekettet die Misshandlung anderer Gefangener ansehen muss. Er wird dort mit einem zugleich vormodernen und zeitgenössischen System des Rechts konfrontiert. Die Szene reproduziert so ein Sklavenhalterszenario zwischen dem ehemaligen »Wikingerkönig« Eric und dem homosexuellen Afroamerikaner Lafayette. Durch die repetitive Drehung an dem Rad, an das dieser gekettet ist, wird der Zusammenhang zwischen der systematischen Entmenschlichung in der Sklaverei und in der Folter aufgespannt. Die Dehumanisierung ist hier die Bedingung des Ausschlusses aus dem Rahmen des Menschlichen9 (und, um historisch anzuknüpfen, der Unabhängigkeitserklärung10). Die Bedingung für die Sklaverei und den Ausschluss aus dem Kreis der freien Menschen wird hier umgedreht. Lafayette – der Name kann in diesem Zusammenhang nur ironisch gedeutet 9 Achille Mbembe spricht diesbezüglich von einem dritten Zustand zwischen Subjekt und Objekt (Mbembe, 2008, S. 161), einer »expulsion from humanity« (ebd.) oder einem Zustand des »death-in-life« (ebd.), in welchem Sklaven gehalten wurden. 10 Aus der Unabhängigkeitserklärung und daher aus einem zentralen Dokument der Demokratie und der Menschenrechte wurden die Sklaven als Nicht-Menschen ausgenommen. Die Einschränkung des Freiheitsbegriffs korreliert hier ebenfalls mit dem Begriff des Menschlichen, vgl. Morrison (1995, S. 65).

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werden – wird hier gerade gefoltert, weil er Mensch ist (und Vampirblut gedealt hat). So ist die Szene mehrfach codiert. Der (weiße) Täter ist hier der entmenschlichte (Vampir). Der Wikinger ist hier zugleich auch ein ›Barbar‹, an den historischen Grenzen der Menschheitsgeschichte. Die Folterszene spielt also mit zeitlichen Modi der Vor- und Rückschrittlichkeit. Sie inszeniert auch zugleich die Angst vor dem (entmenschlichten) anderen und seinen »archaischen, unzivilisierten« Praktiken. Eric ist einer der »Sheriffs« im Vampirstaat, auf dieser Organisationsebene werden durchaus Überschneidungen mit menschlichen, speziell amerikanischen Strukturen deutlich. Jedoch finden sich auf einer höheren Hierarchieebene monarchische oder feudale Strukturen, die sich wiederum mit dem Einsatz moderner Überwachungs- und Kontrollapparate sowie Mediendispositiven (wie Folter-Apps) überschneiden. Auch hier wird eine zeitliche Nicht-Linearität und Ineinanderschachtelung von Folterregimen manifest, die sich in der angeschnittenen Folterszene besonders deutlich zeigt. Während sich die Figur Eric einerseits als hegemonial weiß/männlich lesen lässt, ist der Folterkeller und sein Status gleichzeitig ein Zeichen für die Barbarei und Wildheit, die Phantasie der Verschleppung und der Barbarei derer, die Folter in dieser düsteren vormodernen Form betreiben. Die Frage, die hier virulent wird, ist auch die Frage nach der Gemeinschaft und dem Zusammenleben. Welche Konsequenzen kann es haben, mit einem völlig anderen Rechtssystem konfrontiert zu werden? Nicht (nur) Vampire haben die Foltersysteme entwickelt, sie übernehmen sie von den Menschen und konfrontieren sie in einer historisch veränderten Form heute damit. Die andere Phantasie ist die Begegnung mit dem anderen als dem Unmenschlichen und Grausamen, das foltert und tötet. Die Phantasie des Folterkellers unter der parallelen oberirdischen Welt ist jedoch nicht eindeutig auflösbar als barbarisch, modern, menschlich oder unmenschlich. Neben der Sklaverei wird auch die misogyne Praktik der Hexenfolter und Ermordung in True Blood reaktualisiert, indem in der vierten Staffel gefolterte Frauen nach Jahrhunderten auferstehen, um sich für ihre Folter und Hinrichtung zu rächen.11 Die Hexen wurden von Vampiren verfolgt, die sie im Namen der katholischen Kirche als Inquisitoren folterten und vergewaltigten. Hexenverfolgung von Menschen und Vampiren wird hier zu einer Art tödlichem Geschlechterkrieg, in welchem die Vampire – in der Repräsentationspolitik von True Blood – temporär zu Männern werden oder Männer signifizieren. Pams (Staffel 3, Episode 4; 39:29 und Episode 7; 0:37) und Antonias Folter (Staffel 4, Episode 6; 25:20) sind deutlich als misogyne Praktiken markiert. Antonia wird

11 Hexen in True Blood sind nicht nur Frauen, sondern auch homosexuelle Männer.

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vergewaltigt, mit Pam spielt der magister eine Art perverses Flirtspiel, in welchem er ihr mit ›Schmuck‹ die Augen piercen will.12

2.

Repräsentationen

Neben Anspielungen auf queerness13 lassen sich in Bezug auf das Bild des Vampirs auch andere Repräsentationsstrategien herausstellen. Die Fixiertheit der Vampire auf Blut und das Handeln mit dem Aphrodisiakum Vampirblut spielt auf die Stigmatisierung Drogenabhängiger in der US-amerikanischen Gesellschaft an, die Wiederauferstehung der Hexerei auf Misogynie und SalemParanoia.14 Trotz der scheinbar sehr klaren Anspielungen auf bestimmte Bevölkerungsgruppen und emanzipatorische Bewegungen verhindert eine Vielzahl an Inszenierungsweisen, dass sich Identitäten fixieren lassen. Der Kernkonflikt zwischen einem eher konservativen Lebensbegriff, vertreten durch fundamentalistische Christen, und schwul-lesbisch-ethnisch-magischen Identitäten fächert sich also zugunsten einer transgressiven Ästhetik und einer eigenartig nichtlinearen Geschichtsschreibung immer wieder in eine nicht-repräsentative Logik auf, welche auch nicht als Akkumulation von Differenzen nach dem Vorbild race, class und gender funktioniert, sondern in sich zum Teil widersprüchlich und nicht auflösbar ist. True Blood greift auf viele Lesarten des Vampirs seit seiner intensivierten Fiktionalisierung in der Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte er sich in der Form, wie er heute bekannt ist u. a. mit den Zügen eines blassen Aristokraten und einer ausgeprägten (devianten) Sexualität als »Verführer zum Tode« (Lauper, 2011, S. 8), wie er der späteren Darstellung des Grafen Dracula (um 1900) in der gothic- und Schauerliteratur entspricht (Wrann, 2011, S. 14 ff.). Auch die Idee der Allegorisierung gesellschaftlicher 12 Der Inquisitor magister ist immer noch im Dienst der Vampirautorität, ein durch die Zeiten aufbewahrtes Relikt der Inquisition, der Aussagen durch Folter erpresst und Strafen vollstreckt. 13 Vampire nennen die Bewegung des ›vegetarischen‹ Lebens mit Menschen mainstreaming, eine Anspielung auf das Gender-Mainstreaming, der viele weitere direkte und indirekte Referenzen auf die feministische bzw. queer-Bewegung folgen. So bringen die Menschen ihren Missmut über die wachsende Akzeptanz der Bevölkerung der Untoten mit dem Slogan »God hates Fangs«, Gott hasst Fangzähne, in Anspielung auf das Vampirgebiss, aber auch in Anspielung auf den gerade im Süden der USA nicht unbekannten christlich-fundamentalistischen Satz der Baptist Westboro Church »God hates Fags«, »Gott hasst Schwule« zum Ausdruck. 14 Der Begriff spielt auf die Hexenverfolgung 1692 – 1693 in Salem, Massachusetts an, welche zu einem Synonym für Hysterie und soziale Paranoia geworden ist.

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Randgruppen, des devianten und die Norm überschreitenden ist für das Horrorgenre nicht ungewöhnlich. So gibt es eine Tradition der Repräsentation des anderen bzw. des Außenseiters (Thonhauser, 2011, S. 46) als Monster im Horrorfilm sowie zahlreiche Lesarten des Vampirs als Unheimliches und als die Wiederkehr des Verdrängten.15 Der Vampir signifiziert vor allem Ängste vor dem Fremden und anderen und dies vor dem Übergang zu einer Popularisierung in medialen Diskursen nach 1755, einer Zeit, die die verbreitete mediale Aufarbeitung des Vampirs prägte, jedoch in wissenschaftlicher und sogar politischer Form (Lauper, 2011). Er bewohnte historisch und imaginär die Grenzgebiete Europas16 und als solche Grenzfigur ist der Vampir wie geschaffen, sich mit Bedeutung aufzuladen. Die verschiedenen historischen und fiktionalen Darstellungen des Vampirs zeichnen sich vor allem durch Offenheit aus: In der Mediengeschichte und der Repräsentation des anderen und Ausgeschlossenen nimmt der Vampir immer wechselnde Außenseiterpositionen ein.17 Die Darstellungstradition des Vampirs als Grenz- und Schwellenwesen sowie als Phänomen des Fremden und ausgeschlossenen anderen wird also in die Lesart des Afroamerikaners und Homosexuellen transferiert und hyperbolisiert. Gleichzeitig scheint dies die Logik der Repräsentation selbst zu unterlaufen, denn allein dadurch, dass es neben den verschiedenen Spezies immer noch ältere, ›konventionelle‹ Formen sexueller und kultureller Differenz gibt sowie 15 Als triebhaftes »Es« repräsentiert er in vielen Lesarten die Kräfte der Natur und die unterdrückten Triebe der Menschen und wie True Blood es ironisiert, häufig in der Vermischung von Eros und Thanatos (z. B. Meurer, 2001, S. 45). Eine Lesart, die den Vampir auf der Seite der Natur veranschlagt, ist jedoch in einem Zusammenhang mit True Blood eher unterkomplex. 16 So wird er zum öffentlichen und wissenschaftlichen Gegenstand durch den Ausnahmezustand, den er an der Ostgrenze des Habsburger Reiches verursacht, wo er Berichten zufolge als Mythologie und vermutlich als Feindes-Vision der Wehrbauern diese an der Siedlungsgrenze zum Kriegsgebiet mit den Türken in Aufruhr versetzte. Er entstammt dort einem Imaginären, welches angesichts einer unsicheren politischen Situation und einer instabilen Grenze von Angst durchtränkt ist (Lauper, 2011, S. 9 ff.). Der Vampir ist eine Figur der Grenze und ihrer Verstörung und hält »jenen Ort besetzt, der die Übergänge und Überschreitungen von Grenzen markiert« (ebd., S. 14). Zwischen 1730 und 1755, den Jahren, in denen die Berichte von Augenzeugen über Vampire sich derart häuften, sah sich die Kaiserin gezwungen, ihren Leibarzt zu entsenden und mit jenen Vorfällen an der Ostgrenze der »Zivilisation« zu befassen, die die politische und kulturelle Ordnung störten. Der historische Vampirismus flammt also »wie ein flächendeckender Wundbrand entlang der militärischen Grenze der Habsburgermonarchie zum osmanischen Reich auf« und dort »entsteht eine der singulären Mythen der Moderne da, wo Europa einst endete« (ebd., S. 181). 17 So schreibt Clemens Ruthner mit Bezug auf die Sündenbocktheorie Girards in seiner Studie über Vampirismus: »Als Signifikant mit vager Referenz hält er im kulturellen Gedächtnis eine Leerstelle des Anderen, des Ir(r)ationalen frei, das jenseits kulturell definierter Grenzen liegt – Leerstellen, die in verschiedenen Diskursen unterschiedlich besetzt werden« (Ruthner, 2002, S. 2).

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homosexuelle Vampire, wird es unmöglich, von einer Metaphorik kultureller Differenzen auf der Ebene des Posthumanen zu sprechen: eher werden die konventionellen Repräsentationsweisen von Differenz befragt. Es geht also weniger um queere Vampire, als um eine queere Form der Repräsentation. Die Serie hat ein Wissen darüber, dass der andere, Fremde monströs und gefährlich wird, wenn er nicht eingeordnet werden kann. Die Entmenschlichung des anderen hat demnach auch umgekehrt ein Monströs-Werden zur Folge. Dies geht mit einer Ästhetik der Grenzüberschreitung einher, mit dem Abjekten, wie weiter unten ausgeführt werden soll. Der Vampir queert nicht nur ethnische, sondern auch heteronormative Darstellungskontexte durch seine unklare Genderzuordnung. True Blood zielt damit auf die häufig in Literatur und Film verwendete Allegorisierung und Metaphorisierung von Vampirismus und Homosexualität (Dyer, 2002)18 : Neben dem schon im Vorspann aufflackernden Slogan »god hates fangs« sind die Vampire statt »out of the closet« »out of the coffin« gekommen, jemanden zum Vampir zu machen, heißt turnen. Darüber hinaus sind in der Serie nicht nur metaphorisch, sondern buchstäblich zahlreiche Vampire selbst nicht nur als queer, sondern als dekadent und homonormativ dargestellt (Elliott-Smith, 2012, S. 142), wodurch die Metapher übertrieben und verdoppelt wird. So polymorph wie die Begehrenskonstellationen in True Blood, so ambig sind auch die Lesarten gegenüber den Vampiren in ihrer Verkörperung sozialer und kultureller Ängste. Genau jene zum Teil interferierenden Deutungen des Vampirs, Homosexualität und ethnische Minderheiten zu repräsentieren, dreht die oben beschriebene Folterszene um: Gefoltert wird ein homosexueller Afroamerikaner durch den weißen Vampirsheriff (Staffel 2, Episode 1; 09:59, 37:30, 55:04). Der Vampir, dessen Darstellung zuvor anspielungsreich auf Afroamerikaner/Homosexuelle referierte, nimmt nun im Folterkeller die Rolle eines Sklavenhalters gegenüber seinem Opfer an. Damit dreht sich genau diese Zuschreibung um: Der Hinter-

18 Vampire wurden wie Homosexuelle oft als Außenseiter dargestellt: Sie leben ihre »perverse« Begierde in Heimlichkeit, dazu oft nachts und in Schlafzimmern aus, wo sie ihre Opfer beißen. Durch ihre äußerliche Ununterscheidbarkeit »passen« sie als weiß/heterosexuell. Durch die Vermischung der Blutkreisläufe und mögliche Infektionen sind sie vor allem in den 80er und 90er Jahren mit Tod durch HIV Infektionen assoziiert worden. Vampire sind darüber hinaus durch ihr »präsexuelles« orales Verlangen eine Bedrohung für binäre Genderrepräsentationen. Ihre Unterbrechung der heterosexuellen Zeugungskette wird als unnatürlich empfunden, weshalb sie zusätzlich mit Tod assoziiert werden. Der Exotismus des Homosexuellen ist auch in True Blood der des Vampirs: Die homosexuelle/vampirische Subkultur, die in der Vampirbar Fangtasia zu einem exotistischen Reiz kommerzialisiert wird. Vgl. zu der problematischen Repräsentation bzw. (Unter-)Repräsentation von queerem Sex in True Blood Loza (2011).

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grund aus rassistischer und homophober Diskriminierung wird in dem Moment manifest, in welchem die Rollen komplementär umgedreht werden. Es gibt ein zweites Beispiel für diese sich vor allem über extreme Macht- und Ohnmachtsverhältnisse vorübergehend stabilisierenden Ordnungen der Repräsentation: die im Gegensatz zu den Büchern von Charlaine Harris in der Serie erweiterte Geschichte der besten Freundin der weiblichen Heldin und Handlungsträgerin Sookie. Die schwarze, bisexuelle Tara wird von dem weißen, heterosexuellen Vampir Franklin als Geisel gehalten, sexuell missbraucht und gefoltert. Franklin ist hier tatsächlich ein weißer, heterosexueller Vampirmann und Tara eine schwarze, bisexuelle, menschliche Frau, die sich aus dessen gewalttätiger ›Sklavenhaltung‹ befreit (Staffel 3, Episode 4 – 7). Nicht einzelne Gruppen, Spezies oder Protagonistinnen, sondern Konstellationen entfalten temporär Sinn in Anordnungen vor dem Hintergrund einer ethnisch und heteronormativ aufgeladenen Gewalt- und Ausschlussgeschichte. Es ist vielmehr ein Spiel um Hegemonie, Ausschluss, Einschluss, Norm, Abweichung, Innen und Außen, das die Akteure und Akteurinnen in True Blood unterlaufen. Dies wird darin manifest, dass sich tatsächlich immer wieder Situationen der Folter und extremer Macht-Ohnmachtskonstellationen vor dem Hintergrund der aufgerufenen, historischen Gewalt umkehren: Während die Gruppe der Hexen anfangs Opfer der Vampire ist, müssen diese später selber auf Scheiterhaufen brennen (Staffel 4, Episode 12). Eine Folterszene wird sogar an Ort und Stelle umgedreht und der ehemalige Inquisitor, der eine Vampirfrau foltert, wird bei ihrer Rettung selbst im Bruchteil einer Sekunde an deren Stelle versetzt und erleidet die zuvor von ihm praktizierte Folter (Staffel 3, Episode 7; 37:00). Die Deutung der Identität der Figuren ist also eher im Sinne einer Verteilung und temporären Fixierung zu betrachten, als Konstellation oder Szene zwischen mehreren Protagonisten. Zur Aufführung geraten in diesem Zusammenhang immer wieder Relationen und Assemblagen sexueller, kultureller und ethnischer Differenz, sowie milieuspezifische Differenzierungen. Identifizierungen zirkulieren deshalb eher durch Konstellationen und Szenen, Gefüge von Differenzen und lassen sich nicht dauerhaft an einzelne Figuren binden. Sie finden nicht zufällig eine temporäre Fixierung in der Folter als extremer Darstellung von Macht und Ohnmacht bzw. Einschluss und Ausschluss. Die Logik und Politik der Repräsentation in True Blood ist weniger jene, in der die Wesen jemanden repräsentieren, vielmehr repräsentieren sie die Logik der Repräsentation selbst, das Spiel mit Bildern und Stereotypen des anderen und damit eine Aushandlung mit dem »Eigenleben der Bilder« (Mitchell, 2011, S. 70).19 19 Die Bildensemble der posthumanen Lebensformen werden selbst zu Lebensformen oder zu dem, was Mitchell »Biopictures« als »Metapictures« der Bildproduktion im Zeitalter der

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Sie verlangen dadurch keine dauerhafte Identifikation, sondern erlauben vielfältige, widersprüchliche und temporäre Identifizierungen, die sowohl subversiv als auch hegemonial zugleich sein können (vgl. Butler, 1995, S. 187 ff.). Sie erreichen dies durch extreme Verdichtungen von Polen der Festschreibung in Situationen von Macht und Ohnmacht, unter anderem der Folter.20

3.

Transgressionen und die Auflösung von Körpergrenzen

Indem die Serie immer wieder die Zusammenhänge von rassistischer und sexistischer Verfolgung sowie rassenstrukturierter Gewalt der Sklaverei anzitiert, um das Verhältnis zwischen Menschen und anderen zu beschreiben, wird die Frage nach der Zugehörigkeit zugleich mit dem Ziehen von Grenzen in Verbindung gebracht, auf dem dehumanisierende und desubjektivierende Praktiken der Entmenschlichung durch Folter und Sklaverei basieren. Nicht nur die Überlagerung, Alternierung, gegenseitige Mobilisierung und Interferenz von Differenzen wie race und Gender in der Repräsentation der Akteure und Akteurinnen verweist auf die Überschreitung und Erotisierung von ethnischen bzw. Spezies-Grenzen, vor allem in der Inszenierung von Gewalt und Sexualität, Erotik und Destruktion werden das materialisierte Zwischen und die Überschreitung zum dominanten ästhetischen Modus in True Blood. Begehren und ethnische Differenz überlagern sich auch aufgrund einer Begehrenskonstellation gegenüber dem anderen, einer Strategie der Repräsentation folgend, die auf eine Überlagerung von Begehren nach und Angst vor dem anderen verweist. True Blood folgt einer Ästhetik der Grenzüberschreitung, der Transgression. Nicht nur der ikonische Biss, der immer wieder Körpergrenzen überBiopolitik nennt (Mitchell, 2011, S. 71). Bild- und biopolitische Fragen über das Leben verschränken sich in der Frage nach der Lebendigkeit von Bildern. 20 Trotz der zahlreichen Referenzen auf stereotype Repräsentationen und Ausschlussmechanismen handelt es sich nicht um ein entkörperlichtes postmodernes Spiel oder Pastiche (vgl. Braidotti, 2010, S. 203), sondern um embodied meaning, um eine Ansprache des Körpers durch die ständige Überschreitung von Körpergrenzen. True Blood folgt einem Modus der exzessiven orgischen (Deleuze, 2007, S. 67 ff.) und grenzüberschreitenden Inszenierungsweise. Hier steht vor allem ein sehr körperlicher Modus der Ansprache des Körpers der Zuschauenden im Vordergrund. Die Inszenierung der Überschreitung von Körpergrenzen ist viszeral und »does not mediate between sign and sensation« (Rai, 2011, S. 315). Innen und Außen spielen nicht nur auf der (symbolischen, metaphorischen) Ebene durch die alternierende Verschiebung der Rollen von Außenseiter und Norm, Ausschluss und Einschluss, Souverän und homo sacer eine Rolle, sondern die verkörperte Bedeutung unter anderem der damit einhergehenden Momente von Macht und Ohnmacht steht im Vordergrund. Als gegenseitiges enrolment und Konstituierung von Materie und Bedeutung (Barad, 2007, S. 146 – 153), als symbolische, aber auch als verkörperte Dimension erhält Folter so ihre Bedeutung.

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schreitet, ist eine Vermengung von Sexualität und Gewalt, erotischen und gewalttätigen Momenten, auch die direkte Montage von Folter und Sexualität produziert szenenübergreifende Montagesequenzen der Transgression und Auflösung. Sexualität und Gewalt werden vermischt oder verbindend montiert: Die beschriebene Folterszene an Lafayette wird gegengeschnitten mit einer Szene, in der Vampir Bill Handlungsträgerin Sookie erotisiert in den Hals beißt (Staffel 2, Episode 1; 55:04). Die weiße (zu deflorierende) Haut21 Sookies kontrastiert mit der schwarzen Haut Lafayettes im Folterkeller. Diese ist Gegenstand der Folterszene, liest man sie als Reinszenierung von Sklaverei als/und Folter. Erotik und Gewalt werden über die Überschreitung der Körpergrenzen, die kulturell determinierte Haut und die als ethnisch motivierte Folter in einen Zusammenhang gerückt, der jedoch nicht in einem Bild/einer mise en scÀne klar zu fixieren ist, sondern als Verschiebung über mehrere Bildfolgen konstruiert wird.22 Zentrales Element der Überschreitung ist das zirkulierende Blut, welches zwischen Vampiren, Menschen und Werwölfen zu Ernährungs-, erotischen und stimulierenden Zwecken freiwillig und unfreiwillig ausgetauscht wird. Die symbolische Dimension des Bluts vor dem Hintergrund des Südstaatensettings sowie der Artüberschreitung verweist auf miscegenation und den Fetisch der intimisierten Verbindung mit dem anderen, bzw. der Reinhaltung durch das Verbot der »Rassenvermischung«.23 Miscegenation, das Verbot des intimen Verkehrs und der Heirat zwischen Angehörigen unterschiedlicher, ethnischer Gruppen wurde in vielen US-Staaten 21 Die auffällige Perforierung von Körpergrenzen in der Folter und beim Sex geht einher mit einer Befragung des Konzepts des Menschlichen, dessen Beständigkeit, Essenz oder seinem unveränderlichen Kern. Die Haut als perforiertes, gebranntes, durchstochenes, zerbissenes Organ steht immer wieder im Zentrum dieser Inszenierungen: Als Schwelle zwischen Innen und Außen, die auch in den Sexszenen durch Bisse und das hervortretende Blut immer wieder erotisiert und fetischisiert wird und damit auch die transgressiven Momente der Verbindung zwischen den unterschiedlichen Lebensformen. Die Fetischisierung der Hautoberflächen wird noch zusätzlich dramatisiert, indem sich Wunden in Zeitraffer schließen, Haut sich regeneriert, Brandblasen abschwellen. Besonders deutlich wird dies in der Folter an Vampirin Pam durch einen Gesandten der Vampirautorität. Pams Haut wird hier durch einen Silberstab perforiert (Staffel 3, Episode 4; 39:29). 22 Eine weitere zentrale, eher topographische Konstruktion des Zusammenhangs von Sexualität und Gewalt in True Blood ist die Bar Fangtasia, Ort der Begegnung zwischen Menschen und Vampiren. Sie ist eine Art sadomasochistisches Setting, wo Vampire sich selbst als Themenparty inszenieren. Bezeichnenderweise ist die Unterseite des exotisierten Settings kein nachgestellter, sondern ein sehr realer Folterkeller und wird gleichzeitig von Folterer und Vampirsheriff Eric als Erweiterung seines Schlafzimmers genutzt. 23 Blut ist religiös und symbolisch überdeterminiert. Es dient zur Trennung zwischen Gruppen und zur Konstitution von Gemeinschaften (vgl. von Braun/Wulf, S. 8). Initiation, Blutrache und Reinigung sind nur wenige Aspekte dieser zentralen Symbolik, in der sich Natur und Kultur in unauflösbarer Weise verbinden (ebd., S. 9).

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Mitte des 20. Jahrhunderts juristisch abgeschafft und trägt als deren Überschreitung in der Serie zu der Konzentration auf das Zwischen der Verbindung bei. Erotische und intime Begegnungen mit Vampiren, Begehren und Angst kulminieren in einer zweiten zentralen Inszenierungsstrategie, die sich als zwischen Folter, Erotik und Gewalt changierend beschreiben lässt.24 Blut ist jedoch vor allem der zentrale Modus des Zwischen und der körperlichen Affizierung in True Blood.25 Nicht nur die Körpergrenzen werden aufgelöst, True Blood denkt die Assemblagen der Differenzen vom Dazwischen, und von dieser Relation aus muss auch der Austausch von Blut begriffen werden. In der »Transfusionslogik« von True Blood wird nicht vom einzelnen Organismus aus gedacht, sondern vom Blutstrom aus (Maeder, 2013). Nicht mehr die einzelne Entität steht so im Vordergrund, sondern die Verbindung und die Relation. In True Blood gibt es zahlreiche abjekte Figuren, die die Grenze zwischen monströs und menschlich, Leben und Tod überschreiten (Boyer, 2011), ohne nur auf einer Seite zu sein und damit einen eindeutigen Ausschluss zu ermöglichen.26 24 Dies lässt sich mit einer anderen rassistisch-biologistischen Ideologie zusammen denken, der des ultramaskulinen Körpers des schwarzen Mannes, der gleichzeitig begehrt und gefürchtet wird. Als konstruiertes Angstbild des schwarzen Vergewaltigers diente es als Legitimation für (Lynch-)Gewalt und Unterdrückung. Analog dazu sind Vampire in True Blood vor allem mit Potenz assoziiert: Ihr Blut wird als eine Art Viagra gedealt. Vgl. zu der ethnopsychoanalytischen Dimension der Figur des schwarzen Vergewaltigers Fanon (1985, S. 48 – 62) sowie zur historischen Entstehung des Bildes des schwarzen Vergewaltigers nach Abschaffung der Sklaverei in den USA Dietze (2011). 25 Wenn Blut nicht Gegenstand des Konsums zwischen den Arten ist, dann werden Räume und Körper in bewusst übertrieben sich verstreuende Körperreste explodierender Vampirkörper eingehüllt. Nicht nur das Blut, welches zwischen den Menschen/Nichtmenschen zirkuliert, sorgt für eine permanente Betonung des Zwischen, sondern auch die explodierenden und zu klebrigen Zellhaufen sich zersetzenden Körper sterbender Vampire greifen auf andere Körper über. Hier ist Blut weniger erotisch, als in seiner abjekten Funktion visualisiert. Auditiv wird die Grenze zwischen Zuschauenden und Darstellung zusätzlich durch die akustische Dimension der explodierenden Körper überschritten, einem undifferenzierbaren, organischen Ekellaut. 26 Das Abjekt ist für Julia Kristeva etwas, was die sozialen und kulturellen Grenzen, Positionen und Ordnungen überschreitet, von dem Subjekte und Gemeinschaften abhängen (Kristeva, 1982, S.4). Der Ort des Abjekten ist der Ort, wo Bedeutung zusammenbricht, (noch) kein Ich erscheint, Subjekt und Objekt nicht differenziert sind, sondern sich durch die Expulsion des Abjekten eine kulturelle Ordnung erst konstituiert. Für die Filmwissenschaftlerin Barbara Creed übernimmt die rituelle Funktion der Abjektion und Rekonstitution heute am plakativsten der Horrorfilm und dort vor allem die Figur des Monströsen (Creed, 2004). Die Grenzen zwischen den Geschlechtern und dem, was monströs und unmenschlich ist, werden dort geöffnet und erneuert. Das Individuum bzw. die Gemeinschaft konfrontiert sich rituell mit dem Abjekten, um seine Grenzen und die der Zivilisation zu erneuern und sich zu subjektivieren. Faszination und zugleich Angst löst dort das Undifferenzierte, Amorphe, Fluide aus: Blut, Körperflüssigkeiten, geöffnete Körper, Grenzen zwischen den Geschlechtern, Menschen und Tieren, Leben und Tod, Leiche und lebendem Körper. Vor allem der

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Nicht nur Vampire, die jederzeit von ihrer faszinierenden zu ihrer monströsen Seite umschlagen, von Erotik zur Folter übergehen sind abjekt. Vor allem Figuren wie Sookie, die Hauptdarstellerin, Mensch und Telepathin, die als fangbangerin stigmatisiert wird, da sie mit Vampir Bill zusammen ist, sind hier zentral. Die Grenze der Ordnung, jene zwischen Reinheit und Unreinheit der Kleinstadt Bon Temps, verläuft durch sie hindurch. Wie bereits erwähnt, wird im Zuge ihrer sexuellen Verbindung mit dem Vampir der Vampirbiss an Sookie mit der Folterszene an Lafayette geschnitten. Es ist diese Form der Montage, die als Kopplung zweier paralleler Handlungsstränge fungiert und durch die Verschiebung das Außer-sich-Sein bzw. Unmenschlich-Werden illustriert. Hier ist es nicht eine Figur, sondern das Zwischen, welches die Bedeutung transportiert. Dies geschieht in der Überschreitung verschiedener Grenzen. Bill/Sookie bilden in ihrer mehrfachen Überquerung von Kategorien des Menschlichen sowie von Sexualität und Gewalt im Biss und der Folter eine Montage oder Assemblage verschiedener transgressiver Modi und Themen und verbinden so im Changieren von Erotik, Sexualität, Gewalt des Bisses und Folter das UnmenschlichWerden als Über- und Unterschreitung, als erotisierte Phantasie der Öffnung der Körper in einem Modus des Unmenschlich-/Übermenschlich-Werdens. Auch hier wird ein Intervall zentral, das szenenübergreifend und als Abfolge über ein Zwischen Bedeutung transportiert. Vor dem Hintergrund der Verhandlung von körperlichen und menschlichen Grenzen werden keine einzelnen Bilder, sondern sich verschiebende Bildfolgen einer Transgression beschreibbar. Dies kann man »Szenen der Unmenschlichkeit« nennen, in ihnen wird das Menschliche zugleich sub- und superhuman, über- und unterschritten. In der Montage/Collage von Folter und Sexualität werden Grenzen überschritten und gewalttätig neue Grenzen in die Körper der Gefolterten eingeschrieben. Zentral ist der Modus des Dazwischen, welcher die Verbindung/Trennung zugleich anzeigt und nicht-organische Verbindungen in einer Art Traumsprache kombiniert. Auch in einer weiteren Szene findet man eine vergleichbare Montage von Sexualität mit Folter. Zu Beginn der fünften Staffel wird im Anschluss an die Folter an dem Tier-Mann Sam eine Sexszene zwischen Vampiren geschnitten, die eine doppelte Überschreitung nicht nur der Grenze zwischen Tier und Mensch, sondern zwischen Leben und Tod bzw. biologischen/kulturellen Ordnungen verbindet (Staffel 5, Episode 1; 00:36:31). Die Sexszene, die direkt im

Vampir überschreitet Creed zufolge die Geschlechterordnung (Creed, 1993) und ist zugleich als »Körper ohne Seele« eine der Verkörperungen des Abjekten schlechthin (Creed, 2004, S. 32).

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Anschluss daran geschnitten wird, ist zusätzlich noch eine ›inzestuöse‹ Verbindung/Überschreitung zwischen Vampir Eric und seiner ›Schwester‹.27 Ähnlich wie der Vampir wurde auch der zentrale Protagonist dieser Szene, der Werwolf, durch seinen Ausschluss unheimlich. Durch seinen Status als Verbannter verkörpert er zugleich die Natur des Tieres, mit dem er in den Wäldern lebt, und des Menschlichen.28 Er ist zugleich Mitglied einer neuen Gemeinschaft der Verbannten und Ausgeschlossener aus derjenigen der Menschen, eine Funktion, die in True Blood vor allem über seinen Status als Mitglied des Rudels gekennzeichnet ist. Das Rudel ist der Kontakt zur Gattung, zur Kollektivität, zur überindividuellen Allgemeinheit, dem »Leben« (Agamben, 2003, S. 23 ff.). Phantasien der Entindividualisierung und Animalität, der Verhandlung zwischen Gattung und Individuum werden in der Folterszene an einem Tiermenschen aufgeführt. Auch hier findet eine Inszenierung der Auflösung und Überschreitung zum Unmenschlich-Werden statt: Jene zwischen Tier und Mensch. Die Folter beschreibt zugleich den Ort der Begegnung zwischen den verschiedenen Tiermenschen und zeigt den Körper des Gestaltwandlers als queeren. Der Werwolf ist nicht nur eine ultra-maskuline, sondern auch eine queere Figur (Bernhardt-House, 2011). Er verbindet soziale Gemeinschaft bzw. den Ausschluss daraus mit der Grenze zwischen Natur und Kultur sowie Mensch und Tier. Durch seinen freiwilligen oder durch Strafe verhängten Ausschluss lebt er zumeist in homosozialen Gruppen, was traditionell mit Wildheit und Unzivilisiertheit verbunden wurde, aber auch mit der Konstitution alternativer Gemeinschaften.29 Wenn Sam als Gestaltwandler von Werwölfen gefoltert wird, dann geschieht 27 Da Vampire keine biologischen Verwandtschaften haben, sondern als Geschwister von gleichen makern geturnt werden, ist dies also kein ›menschlicher‹ Inzest. 28 Der Werwolf ist ebenfalls abjekt durch seine metamorphotische Unfixiertheit zwischen dem Menschlichen und den tierischen Lebensformen. Er ist nicht einfach »Biest«, sondern kann in beiden Welten, denen des Tiers und des Menschen, existieren. Zugleich gehört er keiner Welt wirklich an. Für Agamben ist der Werwolf, der Wargus, (im altgermanischen Recht der Ausgeschlossene, Verbannte, abbandono) eine der historischen Figuren des homo sacer (Agamben, 2002, S. 114 f.). Er verkörpert die Ununterschiedenheit oder Schwelle, die zwischen dem Tierischen und dem Menschlichen verläuft (ebd., S. 115). Diese Schwelle zwischen Tier und Mensch verläuft durch den Menschen selbst und muss immer wieder neu gezogen werden, indem sich der Mensch, der sich nicht als Essenz hervorbringen kann vom Tier abgrenzen muss (Agamben, 2003, S. 26, 31). 29 Es gibt einen Zusammenhang von Kriegergruppen und anderen subsozialen Verbünden, die außerhalb der Gemeinschaft leben und dem Image als outlaw, der außerhalb des Gesetzes steht (ebd., S. 160). Ebenfalls aufgegriffen wird die Verwendung der Werwolfsmythologie von Kriegergruppen in der indogermanischen Mythologie. Die Nationalsozialisten und zuvor die faschistoiden Freikorpsverbünde der Weimarer Republik haben sich an Werwolfssymboliken bedient.

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dies in Menschengestalt. Doch hier wird weder Mensch noch Tier, sondern das Schwellenwesen und somit die Schwelle zwischen Tier und Mensch gefoltert. Durch seine Haltung, mit freiem Oberkörper an einen Pfahl gebunden und mit einem Stab angebohrt, wirkt das Opfer wie eine Allegorie auf den heiligen Sebastian, der als Ikone queerer Bewegungen und Ästhetiken diente. Die masochistische Anspielung, dass Sam anstelle eines Freundes die Folter erleidet, stützt diese Deutung: Der Gestaltwandel ist so mit Geschlechtswechsel assoziiert. In der Folter kann der Gestaltwandler Sam nicht entfliehen, er ist fixiert, kann sonst immer durch Gestaltwandel entkommen. Es gibt eine Art Fixierung durch die Folter, die sein ganzes Wesen miteinzuschließen scheint. Gleichzeitig passiv, wird er von einer (maskulinen) Frau gefoltert. Dass die Werwölfe einen Vertreter der ihnen nahe stehenden Gestaltwandler (shifter) foltern, ist wiederum eine Anspielung auf die rassistische Beziehung zwischen den Arten, die Abwehr, aber auch die eigentliche Begegnung zwischen ihnen beschreibt. Es ist zugleich ein Rausch der Gewalt und der Ermächtigung, die die Gruppe wie eine Blutsbande zusammenschweißt. In der Folter findet eine indirekte Erotisierung über die Ausstellung des männlichen, nackten Oberkörpers des gefolterten Tier-Mannes statt. Unterschied/Differenz wird gewalttätig zur Aufführung gebracht und dient der Bildung einer Gruppenidentität, dem sprichwörtlichen Wolfsrudel. Diese Rudelaffinität ist zugleich die Affinität zur Gattung; nicht das Individuum, sondern der Sozialkörper ist die Priorität der Werwölfe. Sie denken in animalischen Kategorien der Gattung, also absolut überindividuell. In der Folter wird das Entindividualisierte zu einem Paradoxon: Das Opfer, ein gefolterter Gestaltwandler, ist kein Werwolf, er kann weit mehr Gestalten annehmen und ist dadurch fluider. Indem er der Folter »standhalten« kann, wird seine Individualität betont. Was hier verkörpert wird, ist die Aushandlung der Grenzen zwischen Individuum und sozialer Gruppe. Die Werwölfe bezeichnen eine äußerste Grenze in der Existenz als Gruppe in Modi der Handlungsfähigkeit. Diese Ambivalenz wird aufgegriffen, und sie werden, die tatsächliche Verwendung der Werwolfssymbolik durch faschistoide und nationalsozialistische Männerbünde zitierend, in der zweiten Staffel auch als faschistoid gezeigt. Die shifter hingegen sind absolute Minorität und Vielheit, sie sind nicht organisiert, haben keine institutionalisierte Sozialstruktur und haben keine »gemeinsame andere Seite«. Sie erscheinen immer als etwas anderes und haben noch weniger eine »Identität« als Werwölfe. Auffällig ist, dass der shifter als Verkörperung der Individualität fungiert, sein Körper ist singulär. Indem er standhält, wird den Werwölfen der entscheidende Zugang zu ihrem Ritus, über den sie sich als Gruppe konstituieren, verwehrt. Sam verrät nicht, wo die Leiche des Anführers ist, ohne die rituelle Aufnahme des Leichnams in die Gruppe (durch Kannibalismus) kann kein neuer Rudel-

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führer bestimmt werden. Die Werwölfe konstituieren sich als Gruppe über die Folterung eines anderen, der die Gruppe über die Zeit der Folter in Auflösung gefangen hält. Als Gruppe jedoch foltern sie das Individuelle und bringen es durch den ausgestellten Körper hervor, anstatt es zu entindividualisieren. Sam wird durch seinen Widerstand individualisiert und gibt – zugleich ein die Folter verharmlosender Akt der Männlichkeit – die Information erst heraus, als ihm gedroht wird, Frau und Kind zu entführen. Auch bei ihm wird die Sozialität also letztlich zum wirkungsvollen Einsatz in der Folter. Nicht zufällig wird hier das Motiv der Folter für die Begegnung gewählt: Menschlichkeit bzw. deren Aushandlung wird an Handlungsmacht gebunden. Die Grenzen des Menschlichen als Bewegung der Ent-/Individualisierung sind hier deckungsgleich mit den Grenzen der Handlungsmacht. Die Folterszene funktioniert über die Demonstration oder Inszenierung einer extremen MachtOhnmachtssituation vor dem Hintergrund der Aushandlung von Individualität und der Auflösung dieser in der Gruppenidentität. Die biologisierte Ordnung der Hierarchie, in der die Werwölfe leben, wird so zugleich aufgelöst und konstituiert in der Folter. Die Folterszene ist als heterogene, paradoxe Bewegung verschiedener ineinandergreifender Machtensembles beschreibbar. Darauf soll später noch einmal in Termini der Bio-Macht Bezug genommen werden.

4.

Zeitlichkeiten, Genealogien und Folterszenen

Zeitlichkeit und Menschwerdung bzw. Entmenschlichung sind auch in den Bildpraktiken der Folter aus Abu Ghraib ineinander verwoben. Durch die öffentliche Zirkulation der Bilder sind grundlegend Kategorien der Entwicklung und der historischen Teleologie der Menschlichkeit in Frage gestellt worden. Judith Butler hat argumentiert, dass in den Aufnahmen aus Abu Ghraib eine Art vormoderne Rückschrittlichkeit produziert werden sollte, die einer Dehumanisierung als Ausschluss aus dem Bereich des Zivilisatorischen entgegenkommt (Butler, 2010). So geht es ihr zufolge darum, Fortschritt und Überlegenheit einer westlichen Lebensweise durch die erzwungene Aufführung von Szenarien der Scham und der Nichtemanzipiertheit in der Folter zu erreichen. Sexuelle Offenheit als »Emanzipation« sollen Fortschritt signifizieren (ebd., S. 102 ff.). Grundlegend für die Performanz der Entmenschlichung ist dabei ein Zeitmodell, welches eine Entwicklung hin zu einem westlichen Modell der Lebensweise proklamiert. Die Folter, so Butler, sollte dabei nicht nur Wissen über das »arabische Subjekt« performativ bewahrheiten, sondern brachte zugleich die eigene Homophobie des Militärs zum Ausdruck, indem sie sie am Körper des anderen aufführte (ebd., S. 121). Folter befindet sich in den Bildern aus Abu Ghraib in dem paradoxen Zustand einer »Modernisierungstechnik« (ebd., S. 123), die auf

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Ausschluss gegründet ist. In den Bildern sind jedoch grundlegende zeitliche Kategorien des Fortschritts zersetzt worden. An anderer Stelle plädiert Butler für eine grundlegende Auflösung der zeitlichen Teleologie in Bezug auf die machtanalytische Dimension der Folterbilder aus Guantanamo (Butler, 2005). Dort verweist sie auf die Koexistenz verschiedener Machtparadigmen der Souveränität und Biopolitik. Folter und der Ausschluss aus dem Geltungsbereich der Menschenrechte durch die unbegrenzte Haft in Guantanamo offenbaren auf dramatische und schmerzhafte Weise, dass das Menschliche durch Gewalt in Frage gestellt werden kann und keine essentielle Wesenheit ist. Die souveräne Macht und die regulatorische Praxis in Guantanamo habe ein Feld von »gespenstischen« »pseudo Menschen« geschaffen (ebd., S. 111), die in einem Zwischenzustand den Begriff des Menschlichen heimsuchen. Man könnte sie als untote Körper, Vampire bezeichnen. In den aktuellen Diskursen sowie in den Folterbildern aus Abu Ghraib wurde die Darstellung von Sexualität gegen ein »rückschrittliches« Modell muslimischer Geschlechtersegregation und Schamhaftigkeit ins Feld geführt, welches es erlaubt, ein »fortschrittliches sexuelles Subjekt« zu produzieren. Zeit wird als homogenes Element konstituiert, in welchem »wir« uns befinden und außerhalb dieser Zeit, die zunehmende Menschwerdung vor allem über Emanzipation und kapitalistisch-westliche Lebensweise konstruiert, befinden sich Wesen, die aufgrund ihrer »Mangelhaftigkeit« nicht nur vom Fortschritt, sondern eventuell auch von der Menschwerdung ausgeschlossen werden müssen. Dieser Zusammenhang wird in der Folter performativ produziert, so Butlers Analyse der Bilder aus Abu Ghraib. Moderne Sexualität und moderne, homogene, säkulare Zeit spielen bei dieser Konstruktion eine entscheidende Rolle. Die Praktiken aus Abu Ghraib sollten diesen im Projekt des Krieges gegen den Terror angelegten Zusammenhang verdichten. Zugleich ist mit dem Bekanntwerden der Bilder ein zeitlicher Zusammenhang aufgetaucht, der fast traumatisch eine Rückschrittlichkeit ins Herz der zeitgenössischen visuellen Kultur eingetragen hat. Dieser zeitliche Zusammenhang, der die Kollision von Zukunft, Vergangenheit und dem Ver-/Entmenschlichen umfasst, wird auf paradoxe Weise in True Blood reinszeniert, indem in der Folter diese zeitliche Unabgeschlossenheit und damit die Unabgeschlossenheit und Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit eines Begriffs vom Menschen und von Menschlichkeit verhandelt wird (Butler, 2005, S. 109). Eine Strategie der Durchbrechung linearer Zeit und ihrer Verknüpfung mit Menschlichkeit ist die Genealogie, welche in der Folter zentral wird. Sie ist eine race und Gender verbindende Form der Zeitlichkeit. Nicht nur historische Zeitlichkeiten und Repräsentationsstrategien, auch die Durchkreuzung genealogischer Zeitordnungen durch die Vampire machen also die Verknüpfung von Gender und race in den Folterszenen zentral. Mit den neuen posthumanen Akteuren sind auch neue Formen von Gender, Sexualität und

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Reproduktion aufgetaucht, die wiederum sehr direkt Begriffe von Fortpflanzung, Genealogie und Gemeinschaft affizieren. Die Folterszenen führen komplexe Genderverhältnisse auf, die race, species und Gender umfassen und unauflöslich miteinander vermischen. In den Blick geraten dadurch Kategorien der Schöpfung und Zeugung. Dies wird in True Blood inszeniert, da es um den Zusammenhang von Leben und Reproduktion geht: In umgekehrter Hinsicht hängen im Paradigma der Bio-Macht Sexualität und Lebenstechnologien sowie die Erzeugung von (Nicht-)Subjekten zusammen. Die Genealogie der Vampire verändert die Geschlechter- und Gemeinschaftsverhältnisse einhergehend mit einer zeitlichen Fragmentierung von Zukunft und Vergangenheit. Beide ineinander verschränkte Dimensionen – nichtlineare Reproduktion und Zeit – stellen Menschlichkeit in Frage. Vampire durchbrechen ödipale, patriarchale und lineare Familienmodelle (Haraway, 2004, S. 285) und die biographische »straight line« (Ahmed, 2006, S. 83) der Heteronormativität.30 Reproduktion und Geburt sind einhergehend mit der menschlichen Zeitlichkeit somit Begriffe, die zur Disposition stehen: Die Vampire erzeugen kein biologisches Leben mehr, indem sie durch Zeugung und Geburt eine Linearität in der Erbfolge reproduzieren, sondern erschaffen ›Kinder‹ durch ein komplexes Ritual, bestehend aus Blutzirkulation und Begraben. Dies ermöglicht eine totale Kontrolle von Geburten und produziert zugleich rhizomatische (Familien-) Beziehungen. Vampire hebeln mit dieser ›Reagenzglasversion‹ der Reproduktion die menschliche Genealogie aus. Sie brauchen weder Partner (Frauen und Männer können allein Kinder ›zeugen‹) noch können sie in moralische und biologische Inzestverhältnisse verwickelt werden. Sie haben keine biologischen Nachkommen und es ist ihnen daher auch erlaubt, mit ihren Kindern, Geschwistern bzw. makern (Erzeugern) Sex zu haben. In dieser veränderten Genealogie gibt es dennoch extrem hierarchische Verhältnisse zwischen ›Kindern‹ und makern, die veränderte Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse eingehen.31 Folter und Reproduktionsverhältnisse bzw. Elternschaft werden in verschiedenen Zusammenhängen verbunden, wie im Folgenden dargestellt und in Bezug auf Religiosität und Bio-Macht-Souveränitätsverhältnisse betrachtet werden soll. Bereits die erste Folterszene der Serie ist mit einem Akt der Zeugung verbunden. Vampir Bill muss zur Strafe ein junges Mädchen töten und als Vampir wiederauferstehen lassen. Die Strafe findet im Rahmen einer Gerichtsverhandlung anstelle der durch die juristische Praxis der Vampire vorgesehenen 30 Vgl. zum Begriff der Fortpflanzung des Vampirs durch Infektion auch Deleuze/Guattari (1997, S. 329). 31 Vgl. zur Transgression und Refamiliarisierung von Genealogien und Geschlechterrollen im science fiction auch Kappela und Könemann (2011).

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Folter statt. Der Akt des Tötens und damit zugleich der Zeugung wird in der Öffentlichkeit inszeniert, am selben Ort, auf einer arenaartigen Bühne, wo Minuten zuvor die Folter an einem anderen straffällig gewordenen Vampir praktiziert wurde (Staffel 1, Episode 10; 47:24). Anstatt also gefoltert zu werden, muss der Vampir Vater werden. Das Vollziehen dieses Aktes ähnelt strukturell der Folter und das Opfer, der Teenager, erscheint sichtlich als ein durch den Terror der Vampire dehumanisiertes Geschöpf. Auffällig ist hier die Verwendung inverser, dehumanisierender und aus rassistischen Diskursen bekannter Rhetoriken durch die Vampire: der Mensch sei nicht mehr als ein auf Stimuli reagierendes, degeneriertes Wesen, er sei nicht fähig, in einem Ausmaß Schmerz zu empfinden, wie die Vampire es könnten. Hier dreht sich die Entmenschlichung also um und konstruiert den Menschen ›nur‹ als Menschen. In der dritten Staffel werden die Zeitordnungen und Genealogien verbunden. Es wird eine Ineinanderschachtelung inszeniert, eine Assemblage aus Zeitlichkeiten der Folter, die sowohl historische Zeitlichkeiten als auch Genealogien und damit Szenarien der Zeugung und Entstehung umfasst. Folterszenen bilden hier selbst den zeitlichen Rahmen der Inszenierung: Während der Dauer einer Folterszene (Episode 4; 39:29 und 7; 37:00) finden weitere Folterszenen statt (Episode 6; 18:35 und 35:35). Jede dieser Szenen ist auf die Verhandlung biologischer und sozialer Ordnungen bezogen. Bei den sich überkreuzenden Folterszenen geht es um den Zusammenhang zeitlicher Ordnungen mit Genealogien; Eltern-Kind-Verhältnisse werden daher zum zentralen Sujet der Szenen: Vampirin Pam wird vom magister der Vampirregierung – ebenfalls ein zeitliches Relikt – solange gefoltert, bis ihr maker Eric einen Schuldigen gefunden hat. Zynisch kommentiert wird dies vom Inquisitor gegenüber dem angesichts der Folter seines ›Kindes‹ zur Handlung Gezwungenen: »The loss of one’s child is the deepest despair«. Während der Dauer dieser Folter, die in der erzählten Zeit der Serie mindestens zwei Tage dauert und als Erzählzeit drei Episoden umfasst (Staffel 03, Episode 4; 39:29 und Staffel 3, Episode 7; 37:00), wird auch Vampir Bill von seiner makerin Lorena gefoltert. In der den Rahmen vorgebenden Folterszene an der Vampirin Pam wird sogar eine neue Ordnung ausgerufen: Anschließend an die erste Folterszene in Staffel eins (Episode 10; 09:59, 37:30, 55:04), in der das Regime der Vampire eingeführt wurde und ihre auf Folter und Strafen basierenden Regierungspraktiken, wurde dies in der zweiten Staffel auf die Menschen ausgedehnt bzw. auf die Begegnung von Menschen und Vampiren; hier begegnete ein Mensch zuerst dem vampirischen Rechtssystem.32 Staffel drei führt dies nun fort, indem im Rahmen der 32 Im weiteren Verlauf der Serie wird sich herausstellen, dass der gefolterte Lafayette ein Hexer ist, was zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt ist. Insofern wird bis auf den Mitgefangenen Lafayettes in der ersten Episode der zweiten Staffel in den ersten vier Staffeln kein Mensch

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Folter an Pam vom neuen Souverän eine neue Ordnung ausgerufen wird: diejenige der Natur, des »survival of the fittest«, des Vampirs, der über den Menschen herrscht. Dieser neue rassistische Souverän rettet die Vampirin und zwingt den Folterer zugleich, indem er die Rollen tauscht und diesen foltert, eine arrangierte Hochzeit mit der Königin von Louisiana zu vollziehen, die seine neue Herrschaft einleitet, indem sie ihn zum König macht. Diese Folterszene geht also in ein anderes Ritual über, eine Hochzeitsszene. Diese Verhandlung von Ordnungen wird nicht zufällig in die Folterszene verlegt und mit Ritualen verknüpft. Auch in der zweiten, zeitlich darin gerahmten Szene zwischen makerin Lorena und ihrem ›Kind‹ und ehemaligen Liebhaber Bill wird Folter als Ritual anstelle eines Liebesrituals inszeniert, zugleich mischen sich hier Verhältnisse zwischen ›Mutter‹ und ›Kind‹, Liebhaberin und politischer Gewalt. Lorena foltert auf Geheiß des Königs in einer romantisch aufgeladenen Szenerie als nostalgische Reinszenierung der lange vergangenen Beziehung. Nicht nur die Anspielung auf die Mutter-Kind-Beziehung und die Liebesbeziehung ist in der Szene überdeterminiert.33 Lorena nimmt zeichenhaft ihre Zeugung zurück, indem sie den Akt dieser in der Folter allegorisiert. Sie öffnet mit einem Skalpell die Brust des Opfers und dringt mit dem Finger in die vertikale Wunde. In dieser Szene vermischen sich untrennbar private, intime, öffentliche und politische Dimensionen. Die Angst vor der Umkehrung der Schöpfung und der Monstrosität der weiblichen Prokreation wird hier aufgeführt. Gleichzeitig fallen ähnlich wie in der genannten ersten Folterszene Allegorien der Schöpfung und Vernichtung zusammen und damit das Faszinosum/Tremendum einer NichtOrdnung, in der sich im Auflösen binärer Geschlechterverhältnisse Leben und Tod, Kreation, Prokreation und Vernichtung verbinden – wie im Vampirbiss, der potentiell töten und zeugen kann. Die Monstrosität dieser Weiblichkeitsinszenierung beruht dabei darauf, dass sie nicht nur die Geburt unter Schmerzen zurücknimmt, sondern darin, dass sie die Zeit umdreht und das Leben des Opfers symbolisch und tatsächlich annihiliert. gefoltert. In der fünften Staffel wird dann ein Mitglied einer anti vampire hate group in seiner Zelle von Polizisten brutal zusammengeschlagen. True Blood bedient also nicht die Phantasie, dass Menschen folterfrei leben und die Vampire erst die Folter ›wieder‹ einführen. In der elften Episode der ersten Staffel droht der örtliche Sheriff dem verdächtigen Mörder waterboarding an (0:51). 33 Lorena foltert zwar auf einen Befehl des Königs hin, gleichzeitig inszeniert sie ein Setting, welches auch die Vorbereitung einer romantischen Zusammenkunft sein könnte, in welchem sie eine bettähnliche weiße Folterfläche arrangiert, auf die Bill auf den Boden gebunden wird und eine Reihe von Folterinstrumenten, die ›liebevoll‹ auf einem Tisch angeordnet sind, neben einem Grammophon, welches Jazz der 20er Jahre spielt, eine Reminiszenz an die Zeit der gemeinsamen Jagd der Vampire. Bills Strafe soll so einen dem Liebesspiel gleichenden Charakter annehmen.

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Ausgetragen wird in dieser Szene vor allem, dass Lorena Bill vorwirft, sich von seiner Natur abgewendet zu haben, während Bill die in seiner Situation verzweifelte Möglichkeit vertritt, dass Vampire sich ändern können und nicht essentiell böse (=folternde, mordende) Wesen sind. Ein Konflikt zwischen »Natur« und »Kultur«, Zivilisation und Wildheit, freiem Willen und wesenhaften Gegebenheiten begleitet so diskursiv die an Bill angewandten Folterpraktiken. In einer die religiöse Symbolik aufnehmenden Lesart erinnert der geläuterte Vampir, mit (nicht vollständig) gespreizten Armen und Seitenwunde darüber hinaus an eine nicht-humane Jesusfigur. Es gibt einen Zusammenhang der Imagination des umgedrehten Christus, des Anti-Christen und der Umkehrung der zentralen Mythologie der christlichen Gemeinschaft, in der das Blut Christi nicht für die Sünden vergossen wird, sondern von Vampiren getrunken wird (vgl. von Braun/Wulf, S. 10). In diesem Fall ist es Teil der Folter, Werwölfe in Menschengestalt aus der Seitenwunde trinken zu lassen. Der Vampir ist jedoch nicht nur der Verführer, der Anti-Christ, er ist zugleich als Jesus allegorisiert. Wie Jesus ist auch der Vampir aus seinem Grab zurückgekehrt – und Bills leeres Grab wird sogar von Sookie auf dem Friedhof zufällig entdeckt (Erickson, 2012, S. 81). Und wie Jesus verkehrt der Vampir mit seiner Wiederauferstehung den Zyklus von Leben und Sterben (ebd.), spätestens seit seinem outing, revelation genannt. Da Bill generell für das friedliche Zusammenleben von Menschen und Vampiren agiert, dem sogenannten vampire-mainstreaming, ist diese humanisierende Lesart über diese Szene hinweg verfolgbar. In der Figurenkonstellation der Folter zwischen der überzeugten mörderischen Vampirin und dem ›vegetarischen‹ mainstreamer werden grundsätzliche Fragen nach dem Charakter oder der Essenz des Menschlichen hinterfragt. Zugleich ent- und vermenschlicht die Konstellation oder Architektur der Szene das Folteropfer, einen der Hauptprotagonisten der Serie, und spielt mit den Grenzen zwischen Mensch und Nicht-Menschlichem, indem ähnliche Probleme zwischen Kontingenz und Essenz, Willensfreiheit und Determinismus, Natur und Kultur in extremer Art und Weise theatral dargestellt werden. Bill, der in seiner Vergangenheit Menschen gefoltert und getötet hat, nimmt seine eigene Strafe nun als eine Art büßenden Akt entgegen, was seine christologische Inszenierung noch unterstützt. Diese religiösen und ›blasphemischen‹34 Verweise inszeniert die Serie als Überspit34 Die Blasphemie ist jedoch nicht so stark wie es scheint: Gregory Erickson argumentiert, dass der Vampir in True Blood keine Negation des Christentums ist, sondern die Verkörperung der Widersprüche des Menschlichen – göttlich und als cyborg: »Like the intervention of Christ into history, True Blood forces us to shift how we think about the borders of the human and the divine, the categories of life and death and the desire for the presence of a god who continues to express only divine absence […] the vampire is not a negation of Christianity ; instead the vampire’s intervention in humanity reveals and participates in the contradictions and aporias that are part of christianity itself« (Erickson, 2012, S. 88). Religion wird vor allem

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zung von Debatten, die das Menschliche jedes Mal in Frage stellen, wenn dieses durch seine Möglichkeiten, weniger durch seine Wesenheiten definiert wird und die Grenze des Menschlichen überall dort ins Wanken gerät, wo nicht mehr klar definiert werden kann, was als gegeben und was als veränderlich betrachtet werden kann.35 Die Folter fungiert hier als intime Begegnung und zugleich körperliche Inszenierung der Fragen, in deren grundlegender Spannung sich der Begriff des Menschen auch außerhalb der Serie in biopolitischen Diskursen bewegt. Mit den Figuren des Vampirs, des Werwolfs und anderer Protagonisten wird in der Serie darauf verwiesen, dass sich das hegemoniale Subjekt immer durch Ausschließungen und niemals positiv aus sich heraus definieren konnte, gegenüber Ethnien, Homosexuellen, devianten Körpern etc. Natürlich nehmen die Figuren aus True Blood immer wieder Bezug auf diese Frage, aber sie historisieren sie in einem anderen Ausmaß: Die nonhumanen Akteure verweisen gleichzeitig nicht nur auf ethnische oder sexuelle Differenz, sondern auf die grundlegende Ausschließung, die einem Begriff des Menschlichen – zum Beispiel in der Form des universalisierten Männlichen – als hegemonialem Modell zugrunde liegt. In der gerade beschriebenen Szene befinden sich beide Protagonisten in einem unlösbaren Spannungsverhältnis, getragen von der Bildsprache, der körperlichen Affizierung durch die Folterpraktiken und dem Gespräch der ehemals Liebenden. Sie spielt nicht nur mit der Erotisierung sowie dem gleichermaßen rituellen Charakter von Liebesbeziehung und Folter als einer tödlichen Intimität (Schwab, 2011), sondern verortet darüber hinaus die Akteure und Akteurinnen in einem Netz aus De- und Rehumanisierung. Lorena, die liebt und trauert und zugleich ein sadistisches Monster ist, und Bill, der als vampirischer Jesus für die Sünden der Vampire büßt, sind extreme Pole dieser Inszenierungsfigur. Religiöse Diskurse der Überhöhung verbinden sich hier mit Praktiken der Entmenschlichung in der Folterinszenierung und produzieren ein ambivalentes Bild des Posthumanen. Sie sind eingebettet in heterogene Machtensembles, in denen sich Individualisierung und Subjektivierung sowie Desubjektivierung und Entmenschlichung überschneiden.

unter Führung einer Sekte, die an Gott als Vampir glaubt, zentrale Plotlinie. Bill wird dann tatsächlich eine Art neuer Vampirjesus, der vom Blut der Göttin Lilith getrunken hat. 35 Problematisch ist es, dass der Mann, Bill hier als die Kultur verkörpernden Willen der Überwindung des Weiblich-Naturhaften (Lorena) gezeigt wird.

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Folter, Souveränität und Bio-Macht

Hier sollen die Folterinszenierungen noch einmal zusammenfassend auf ihre Implikationen in Bezug auf Machtformationen betrachtet werden. True Blood ist eine serielle Form, diese Macht nicht lediglich zu illustrieren, sondern die auf den Körper bezogenen Spannungen und ihre heterogenen Anrufungen aktiv zu verhandeln. In den beschriebenen Szenen, vor allem der letzten, scheint es sowohl um Lebensbegriffe in Termini der Reproduktion als auch um Tod und Vernichtung zu gehen. Den Folterritualen oder den Verbindungen von Folter mit Ritualen des Flirtens (Pam und der magister), der Heirat (Ausrufung einer neuen Ordnung), der Zeugung (öffentliche Zeugung von Jessica in der »Folterarena«) und dem Liebes- und Todesritual zwischen Lorena und Bill scheint eine vernichtende Dimension eingeschrieben zu sein. Zeugung und Folter werden hier symbolisch miteinander verflochten. In diesen Inszenierungen wird eine sich verschiebende Grenze zwischen Leben und Tod verhandelt (Braidotti, 2010), die mit der Verflechtung von Machtformationen der Produktion als Lebensmacht (Bio-Macht) und der Repression als Todesmacht (Souveränitätsmacht) durch eine Diffraktion36 historischer Zeitlichkeiten der Folterregime zusammenfällt. Ein zentrales Charakteristikum der Ästhetik von True Blood ist die Verdichtung von Begehren, Zeugung und Genealogie in der Folter : Der Tod ist in True Blood durch den Vampirbiss nicht mehr der Erzeugung von Leben entgegen gesetzt und auch die Souveränitätsmacht der Vampirgesellschaft beschreibt sich in einer biopolitischen Dimension der totalen Kontrolle über das Leben als nahezu vollständig konstruierbar und damit beherrschbar. Dies gilt sowohl für den erotisch durchtränkten Moment der Gefahr, also eine eher atmosphärische Dimension der Serie und für die Montage von Folter- und Sexszenen, als auch für die Überlagerung oder Verschachtelung von symbolischen, sozialen und Geschlechterordnungen, die in Modi der Ritualität von Folterszenen aufgeführt werden. Diese werden ebenfalls zu einer eigenen Zeitlichkeit der Folter geschachtelt. Leben wird im Zeitalter der Bio-Macht vor allem über seine reproduktive Funktion bestimmt (Foucault, 1983, S. 80). Dies erscheint als einer der zentralen Gegenstände der betrachteten Folterszenen. Hier werden die Grenzen nicht nur des Menschlichen, sondern auch eines damit einhergehenden Lebensbegriffes 36 Vgl. zum Begriff der Diffraktion Barad (2007, S. 71 – 94). Gemeint ist hier, dass Macht nicht lediglich reflektiert und durch die serielle Anordnung von True Blood gespiegelt wird, sondern medial – vor allem in den Folterszenen – neue Anordnungen produziert werden und verschiedene Diffraktionen in Bezug auf Repräsentationsregime, Machtformen und Gendernormen verschaltet werden.

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als Problematisierung von Gender, Genealogie und Zeugung verhandelt. BioMacht, wie sie hier (im Anschluss an Foucault) verstanden wird, zielt auf die Steigerung und Optimierung von Leben, welches nicht zwangsläufig menschlich sein muss, sondern mit all seinen Ambiguitäten zum Posthumanen und Unmenschlich-Werden tendiert. Die Vampire verkörpern eine Form der Optimierung des Menschlichen, welche dessen Form zugleich aufnimmt und ihnen eine Dimension des Unmenschlichen einschreibt. Biotechnische Interventionen in das Leben zu dessen Expansion, welche das Posthumane produzieren, relativieren den Menschen als einzig handelnden Akteur. Durch die sich verschiebende Grenze wird Menschsein prekär. Diese Prekarität scheint besonders auf, wenn das Leben Gegenstand der Intervention und der Problematisierung wird, es wird dann als zu manipulierendes und potenzierbares (kapitalisierbares) Leben verstanden. Der Versuch, Menschlichkeit durch Ausschlüsse und Normen zu produzieren, weckt so zugleich auch Gespenster des Menschlichen. Gleichzeitig sind die biopolitischen Machtensembles in True Blood heterogen: Sie zielen sowohl auf Subjektivierung und die Produktion des Subjekts, als auch auf die Optimierung des Lebens (durch den Tod) und das darin implizierte potentielle Überwinden des Menschen. Diese Bewegungen sind durchaus paradox und betten den Körper, wie in den Folterszenen deutlich wurde, in heterogene und sogar widersprüchliche Kräfteverhältnisse ein: In der Folterszene an dem Tiermenschen Sam wird eine ähnliche Spannung zwischen einer Individualisierung und Entmenschlichung, Produktion und Vernichtung deutlich, wie in der Folterszene an dem Vampir Bill durch seine makerin. Während es in der zweiten Szene zusätzlich um eine religiöse Symbolik geht, die sich in Form von Genderdiskursen artikuliert, beschreibt die erste Szene eher die Spannung zwischen der Gruppe oder Bevölkerung und den damit zusammenhängenden, aber davon unterschiedenen, Subjektivierungs- und Disziplinartechniken, die auf die Produktion des Individuums zielen. Beide Szenen sind in Begehrenskonstellationen eingebettet, die sich symbolisch, diskursiv und affektiv mit der Folter verbinden oder mit ihr montiert werden. Die Mischung aus Folter und Sexualität in True Blood kann man im Sinne Foucaults als Wissensdispositiv bezeichnen oder in einer Erweiterung des Begriffs als Sexualitäts-Folter-Dispositiv. In den Folterszenen True Bloods geht es auch weniger um die direkte Erpressung einer Information, als um ein Wissensdispositiv, welches die phantasierten und erotisierten Grenzen des Menschlichen auslotet. Foucault hatte an der Schwelle zur Moderne die Sexualität als privilegierten Gegenstand des Wissens für die Bio-Macht konzeptualisiert. Sie verbindet die Regulation der Bevölkerung und jene der Selbstüberwachung und -normierung, die das Subjekt mit Blick auf sich selbst vollzieht. Ähnlich wie die Sexualität alle Bereiche des modernen Lebens durchdringt, verästeln sich auch die Mikropo-

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litiken der Macht in den Körpern und Verhaltensweisen der Subjekte, die ihre Sexualität in einem ständigen Prozess der Selbstbefragung im Dialog mit Medizin und Psychiatrie evaluieren. In einer globaleren Sicht ist die Regulation und Vermessung der Sexualität zentraler Zugang zur Regulation einer Bevölkerung, die so als Gegenstand überhaupt erst am Ende des 18. Jahrhunderts auftritt. Während es der Souveränitätsmacht noch darum ging, Leben zu nehmen, also mit dem Tod zu herrschen, ist es Gegenstand und Funktionsweise der BioMacht, Leben zu erweitern, zu potenzieren. Leben ist Gegenstand, Anstrengung und funktionales Prinzip der Bio-Macht (Muhle, 2008, S. 11 und S. 61 ff.). Die Bio-Macht ist eine produktive Macht, die sich in die feinsten Verästelungen der Empfindungen, Lüste, physiologischen Prozesse und das Begehren erstreckt (Foucault, 1983, S. 146): Sexualität und Macht werden so untrennbar ineinander verschränkt. Die Souveränitätsmacht hingegen ist die Macht der Martern (supplice). Für Foucault nimmt Folter in Überwachen und Strafen eher den Charakter des Spektakels der Einschreibung von Macht in den Körper ein und wird noch nicht ausschließlich als Gegenstand des Wissens konzeptualisiert.37 Die »Poetik der Marter« (Foucault, 1977, S. 60), das öffentliche Schreckenstheater steht gerade stellvertretend für das souveräne Zeitalter. Das öffentliche Spektakel allegorisiert in der Strafe die Übertretung des Rechts, um sie in ihrer Vernichtung auf den Körper des Delinquenten zurückzuwenden: »Die Form symbolischer Martern verweist auf die Natur des Verbrechens« (ebd.). Ihr ist eine ritualisierte und komponierte Form der Schmerzzufügung als Wiederherstellung der verletzten Souveränität zu eigen, die Methoden und Praktiken der Schmerzzufügung hat »zeichenhafte Bedeutung« (ebd., S. 62). »Das kann soweit gehen, daß die Hinrichtung des Schuldigen zu einer theatralischen Wiedergabe des Verbrechens wird: dieselben Instrumente, dieselben Gesten. In den Martern wiederholt die Justiz vor den Augen aller das Verbrechen, das sie damit in seiner Wahrheit kundtut und gleichzeitig im Tod des Schuldigen vernichtet« (ebd., S. 60).

Die spektakelhafte, öffentliche Bestrafung des Vampirgerichts der ersten Staffel, das Ziehen der Zähne in der Öffentlichkeit, scheint genau dieser souveränen Macht des Spektakels zu entsprechen: Die Strafe entspricht der Übertretung, der Vampir hat unerlaubt einen Menschen ausgesaugt, deshalb muss er nun hungern. Gleichzeitig wird hier am Ort der Folter noch neues Leben produziert – Bill muss zur Strafe für einen Mord einen neuen Vampir erzeugen. Es handelt sich hier also auch gleichzeitig um eine Dimension der Bevölkerungskontrolle, die 37 Vgl. zur Überschneidung von Wahrheits- und Strafritual, als performatives Ritual der Ermittlung sowie Manifestation der Wahrheit, Foucaults Begriff der torture (Foucault, 1977, S. 54 – 59).

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der Bio-Macht eigen ist. Die Lebensmacht hat die Todesmacht nicht mehr nur als funktionales Prinzip untergeordnet, jede Bio-Macht kann auch potentiell zur Thanatopolitik werden.38 Darüber hinaus ist die Strafe ebenfalls eine Technik der medialen, öffentlichen Wahrheitsproduktion am Körper der Verurteilten. Der Übergang zum Sexualitätsdispositiv und dem Zeitalter der Bio-Macht bestimmt das veränderte Verhältnis von Macht und Tod, welches in True Blood nicht mehr als Abfolge gedacht wird. »Das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen« (Foucault, 1983, S. 134) schreibt Foucault, um den Übergang von Souveränitätsmacht zur Bio-Macht zu beschreiben: »Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. Die Installierung dieser großen doppelgesichtigen – anatomischen und biologischen, individualisierenden und spezifizierenden, auf Körperleistungen und Lebensprozesse bezogenen – Technologien charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist« (ebd., 135).

In True Blood verbinden sich die beiden Machtregime, produktive und repressive Macht, zu einer zeitlichen Logik der Unmenschlichkeit, in der sich im Ineinanderschieben der Machtformationen eine Verhandlung des Lebensbegriffes herausbildet. Wenn es in dieser Art von Inszenierung ein Kontinuum zwischen Kreation und Destruktion gibt (Debrix/Barder, 2012, S. 14), wie in True Blood, dann funktioniert die historische Abfolge als Trennung der Machtformationen nicht mehr. Die Todesmacht, die funktional und analytisch von Foucault der Lebensmacht untergeordnet wurde, ist hier ein »gespenstischer Wiedergänger« (Butler, 2005, S. 81). Damit kann man die Foucaultsche Konzeption der Bio-Macht mit und gegen sich selbst bzw. in Termini der Todesmacht erweitern. Im Sinne Mitchells kann man hier von einer Bildpolitik der Körper sprechen, einem Ikonoklasmus (Mitchell, 2011, S. 98). In der Bildpolitik, die er im Anschluss an Foucault als Biopolitik oder Produktion von Bio-Pictures bezeichnet hat, verbinden sich in True Blood beide Machtregime. Produktive und vernichtende Dimensionen sowie die Lebendigkeit des Bildes und der Ikonoklasmus, der aus 38 Rassismus bildet hier den Übergang zwischen den Paradigmen und Funktionsweisen der Macht. Er sichere damit »die Funktion des Todes in der Ökonomie der Bio-Macht gemäß dem Prinzip, dass der Tod der Anderen die biologische Selbststärkung bedeutet, insofern man Element einer einheitlichen und lebendigen Pluralität ist« (Foucault, 1999, S. 305). Rassismus verbindet insofern Lebens- und Todesmacht, als dass die permanente Reinigung der Gesellschaft von einigen das Leben insgesamt gesünder machen wird. Er ist insofern logisch mit der Verknüpfung der beiden Machtformationen verbunden. Der Rassismus führt eine Zäsur in das Kontinuum des Lebens ein, zwischen dem, was leben darf und dem, was sterben muss (ebd., S. 301). Die Fragmentierung des biologischen Kontinuums erfordert jedoch zuerst seine Herstellung. Getötet wird also, um zu leben, sozusagen im Namen des Lebens, und das Töten sichert die Ausweitung des Lebens der Bevölkerung.

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Körpern Bilder macht und aus Bildern Körper.39 Man kann Foucaults Machtbegriff dahingehend auf eine Bild- oder Medienpolitik der Folter hin lesen, dass nicht nur die Übergänge zwischen den Machtregimen heterogene Machtensembles produzieren, auch innerhalb der einzelnen Machtregime finden sich Spannungen, die in den Folterinszenierungen in True Blood verhandelt werden. Zentral sind immer wieder die Blutkreisläufe, an denen Menschen und Vampire in gegenseitigem Austausch partizipieren, um beide Dimensionen der Macht zu montieren. Sie sind Medium des Rassismus sowie Gegenstand des Begehrens in True Blood. Für Foucault signifiziert das Blut das Zeitalter der Souveränität, während das biopolitische Zeitalter jenes der Sexualität und deren vollständiger Durchdringung aller Lebensbereiche ist: »Es ist leicht zu sehen, dass das Blut auf der Seite des Gesetzes, des Todes, der Überschreitung, des Symbolischen, und der Souveränität steht; die Sexualität hingegen gehört zur Norm, zum Wissen, zum Leben, zum Sinn, zu den Disziplinen und Regulierungen« (ebd., S. 143). Während das Blut für Foucault die Realität der Martern des souveränen Zeitalters bedeutet (ebd., S. 142), leben wir heute in einer »Gesellschaft des Sexes« (ebd)., in der »die Mechanismen der Macht auf den Körper, auf das Leben und seine Expansion, auf die Erhaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung oder Nutzbarmachung der ganzen Art ab[zielen]« (ebd.).40 Auch hier verbindet True Blood scheinbar Gegensätzliches: Ähnlich wie sich die Machtparadigmen verbinden, verbinden sich auch im Tru Blood untrennbar künstliche und biologische Aspekte. Das synthetische Blut umspannt sowohl die körperliche Ansprache als auch die Symbolik der Aufhebung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit des Lebens. Zusammenfassend kann man das Mediendispositiv der Folter in True Blood 39 Vgl. zum Bild als Körper und der Zerstörung des Körpers zu dessen Bildwerdung im »Krieg gegen den Terror« auch Bredekamp (2010, S. 228 – 229). 40 Die Schriften de Sades verbinden für Foucault zeitlich und konzeptionell Blut und Lust: »Blut der Marter und der absoluten Macht, Blut des Standes, das man in sich achtet und doch in den Zeremonien des Vatermordes und der Blutschande feierlich fließen lässt, Blut des Volkes, das man nach Lust und Laune vergießt, weil in seinen Adern fließt, nicht einmal den Namen verdient (…) Wenn sich diese Macht die Ordnung sorgfältig disziplinierter Fortsetzungen gemäß einer Abfolge der Tage auferlegt, so ist diese Übung nur der Gipfel einer einzigen und nackten Souveränität: schrankenloses Recht der allmächtigen Monstrosität. Das Blut hat den Sex wieder aufgesaugt« (ebd., S. 143). Was für Foucault ein Übergangsmoment in den Machtformationen bezeichnet, die de Sade zu einer Ästhetik des Ausnahmezustands und zu einer absoluten Souveränität der sexualisierten Folter erhoben hat (vgl. z. B. »Die 120 Tage von Sodom«), ist entscheidend auch für True Blood. Das »Denken der Ordnung des Sexuellen« in den Begriffen Gesetz, Tod, Blut und Souveränität, wie man sie bei de Sade oder Bataille findet, sind für Foucault nur nostalgische Rückwendungen in die Geschichte (ebd, S. 145). Die »Überlappungen«, »Wechselwirkungen« und »Echos« zwischen den beiden Regimen sind die Begründung des biologischen Rassismus, der in True Blood als Zitat in Bezug auf die nichthumanen Lebensformen die zentrale Rolle spielt. Die Phantasmen der Reinheit des Blutes schließlich sind wichtigste Akteure in den Eugeniken und Rassismen der Moderne.

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als zugleich produktive und vernichtende Praktik beschreiben. Machtkonzeptionen gehen nicht einfach auf, sie werden transferiert, gebrochen und neu gekoppelt. Folter dient dabei als aktives, produktives Element der Neu-Differenzierung von Machtformen, Menschlichem und Nicht-Menschlichem und funktioniert daher selbst als Schwelle. Sie vereint souveräne, »anachronistische« Elemente des Spektakels, der Aufführung und der symbolischen Einschreibung von Macht und gleichzeitig regulierende Dimensionen. Sie ist als Wissensdispositiv dort angesiedelt, wo es um eine Ausforschung der Grenzen des Menschlichen geht. Diese Erforschungen sind gleichzeitig in einen (Blut-)Kreislauf, in affektive Assemblagen von Lust, Macht und Wissen integriert, welche den Körper der Zuschauenden sowohl materiell und affektiv als auch symbolisch, als Einschreibung neuer veränderter Machtbeziehungen ansprechen.

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Petra Löffler

Atemnot, Kälte, Schwindel. Sensory deprivation und der Terror des Films

1.

Traumasymptome

Die Symptome von Traumata, so schmerzhaft real sie auch erscheinen, sind nicht fixierbar, sondern verwandeln sich beständig. Darauf hat bereits Sigmund Freud 1920 in Jenseits des Lustprinzips am Beispiel traumatischer Neurosen hingewiesen. Als deren Auslöser macht er vor allem das Erschrecken vor überraschenden Gefahren verantwortlich, die den Reizschutz des menschlichen Organismus durchbrechen: »Schreck aber benennt einen Zustand, in den man gerät, wenn man in Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu sein« (Freud, 1999, S. 9). Traumatisierende Vorkommnisse rufen demnach eine »großartige Störung im Energiebetrieb des Organismus« (McLuhan, 1995, S. 77) hervor, die nur durch ihre zwanghafte Wiederholung, ihre Wiederaufführung im Traum bewältigt werden kann. Traumasymptome ergeben daher gerade keine stabilen Bilder oder stringenten Erzählungen. Aus diesem Grund werden sich die folgenden Überlegungen dem Problem der Darstellbarkeit von Folter gewissermaßen von der Seite her nähern – zunächst durch einen Blick auf Medientheorien, die sich mehr oder weniger explizit mit der Frage auseinandersetzen, wie Medien und menschliche Sinne interagieren und genauer : wie Medien (traumatisierend) auf Körper wirken. Dabei geht es weniger darum, welche Folterbilder oder -erzählungen Filme entwerfen oder im Gegenteil sabotieren, sondern vielmehr darum, inwiefern der Film selbst als Medium der Folter begriffen werden kann. Dennoch bleiben die filmischen Bilder und Erzählungen in den folgenden Überlegungen latent, und genau diese Latenz macht ihre traumatische Signatur aus. Welche Symptome von Traumata sind es nun aber, die ins Bild oder in die Erzählung geraten und diesen zugleich den Boden entziehen? Worin besteht der Terror des Films? Geht man wie der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan in seinem 1964 erschienenen Buch Understanding Media davon aus, dass zwischen »dem Schema eines psychischen und eines physischen Traumas oder Schocks […] eine deutliche Parallelität der Reaktionen« besteht (McLuhan, 1995, S. 77),

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dann lassen sich Körperreaktionen als Traumasymptome verstehen, die ein die Sinne und die Psyche überwältigendes Schockerlebnis begleiten und dessen traumatische Struktur offenbaren. Traumatisch sind diese Erlebnisse für McLuhan in deutlicher Anlehnung an Freud, weil die Sinne die auf sie einstürzenden Reize nicht bewältigen können und daher eine körperliche Reaktion zunächst ausbleibt. Diese Anästhetisierung der Sinne hebt McLuhan an gleicher Stelle hervor: »Der Mensch, der plötzlich fällt, erlebt, daß er gegen Schmerz und Sinnesreize gefeit ist, weil das Zentralnervensystem vor jeder starken Reizflut geschützt werden muß. Nur nach und nach stellt sich die normale Empfindlichkeit gegenüber Gesichts- und Gehöreindrücken wieder ein, und dann beginnt er vielleicht zu zittern und zu schwitzen […]« (ebd., S. 78).

Zittern und Schwitzen machen in dieser Passage als verzögerte Körperreaktionen die traumatische Erfahrung des Fallens überhaupt erst kenntlich. Aus dieser nachträglichen Reaktion des Körpers auf den plötzlichen Schreck des Fallens leitet McLuhan sein Konzept des Narzissmus als Narkose ab, in dem Medien, angefangen vom Rad bis zu Radio, Film und Fernsehen, einerseits Erweiterungen der menschlichen Sinne darstellen und andererseits diese Sinne zugleich bis zu ihrem vollständigen Ausfall narkotisieren. Seine Medientheorie stellt die körperlichen Reaktionen von Mediennutzern in einen Zusammenhang zur Freudschen Traumatheorie. Die Anästhetisierung der Sinne fungiert hierbei als Reizschutz, die jedoch mit einer Traumatisierung einhergeht. Medial erfahrene Schockerlebnisse und ihre Symptome bilden deshalb den Ausgangs- und Fluchtpunkt der folgenden Überlegungen, die sich mit körperlichen Empfindungen von Zuschauern, also den Auswirkungen von Filmen im Realen beschäftigen werden. In der Einleitung zu seinem 1986 veröffentlichten Buch Grammophon – Film – Typewriter kommt Friedrich Kittler auf genau solche Körperreaktionen zu sprechen: »Denn im Realen beginnt alles mit Atemnot, Kälte und Schwindel« (Kittler, 1986, S. 28). Für Kittler, der Lacans triadische Unterscheidung von Realem, Imaginärem und Symbolischem auf die technischen Medien Grammophon, Film und Schreibmaschine überträgt, schließt der filmische Illusionismus das Reale von Atemnot, Kälte und Schwindel gerade aus. Er beruft sich dabei auf Lacans berühmtes Modell des Spiegelstadiums, wonach bereits das Kleinkind dem ganz und gar physischen Realen eines erstickenden, frierenden und taumelnden Körpers durch phantasmatische Spiegelbilder ins Imaginäre zu entfliehen sucht, das wiederum Kittler zufolge »genau die optischen Illusionen [implementiert], deren Erforschung auch an der Wiege des Kinos stand« (Kittler, 1986, S. 28). Kittler schließt das Imaginäre und das Kino kurz und auf diese Weise das Reale aus. Bewirkt wird dieser Kurzschluss durch die phantasmatische Wirkmacht optischer Illusionen. Kittler

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souffliert wiederum Lacan, wenn er dem realen Körper »die illusionäre Kontinuität von Spiegel- und Filmbewegungen« (Kittler, 1986, S. 28; Lacan, 1991) gegenüberstellt. Für ihn ist das Kino also nichts anderes als ein mobiler Spiegel. Mehr sei, meint er weiter, aus dem Realen der Körper (mit Lacan) nicht herauszuholen: Das Reale bilde vielmehr jenen weder vom Imaginären noch vom Symbolischen einfangbaren Rest oder Abfall – »physiologischer Zufall, stochastische Unordnung von Körpern« (ebd.). Genau diesen inkommensurablen Rest oder Abfall, die Zufälle und die Unordnung von Körpern, des vom Kino wie vom Imaginären gleichfalls ausgeschlossenen Realen also, gilt es im Folgenden jenseits des Symbolischen und des Imaginären aufzuspüren. McLuhans Parallelisierung von Schock und Narkotisierung bezieht im Unterschied zu Kittler das Erleben von Nutzern in seine Überlegungen zur Wirkungsweise von Medien ein. Denn das physische Reale von Atemnot, Kälte und Schwindel lässt sich zwar nicht repräsentieren, es ereignet sich aber als Affekt und Trieb stets von neuem, es passiert, ohne (Spiegel-) Bild zu werden.1 Als Ort seines Ereignens soll im Folgenden das Kino, in dem der Austausch zwischen Film und Publikum stattfindet, in den Blick genommen werden. Kittlers Ausschluss des Realen beruht demnach auf einer zweifelhaften Prämisse: seiner Auffassung des Kinos als Illusion. Das Kino aber war und ist nicht ausschließlich illusionistisch. Es ist nicht einfach ein beweglicher Spiegel, sondern adressiert die Sinne und Zuschauerkörper auf unterschiedlichen Ebenen und Weisen, initiiert Sinneseindrücke sowie körperliche Reaktionen und provoziert so das Reale auf mitunter penetrante Weise. Nicht dass dem Kino die Spiegelbilder und Illusionen ausgegangen wären. Davon kann nicht die Rede sein. Doch es bedrängt gleichfalls die Körper, dringt buchstäblich unter die Haut.2 Es bemächtigt sich der Sinne in jenem physiologischen Sinn, den Kittler dem Realen gegeben hat: als Atemnot, Kälte, Schwindel. Wie ereignet sich also dieses physische Reale im Kino, dem Reich der Illusionen, jenseits der Phantome und Spiegelbilder? Kann es Atemnot, Kälte und Schwindel als Zuschauerempfindungen real werden lassen? Genau das wäre der Terror des Films, verstanden als Übergriffigkeit, der sich die Filmzuschauer nicht entziehen können. Atemnot, Kälte und Schwindel treten häufig als Symptome in Stresssituationen auf, die der menschliche Körper nicht verarbeiten kann. In diesem Sinn hat etwa Tom Gunning mit Bezug auf das Frühe Kino von einem cinema of attractions gesprochen, in dem die Filmbilder zum Beispiel eines phantom ride 1 Kritiker der Lacanschen Psychoanalyse haben die Nichtrepräsentierbarkeit des Realen positiv besetzt. So betonen etwa Gilles Deleuze und F¦lix Guattari, »daß das Tierwerden real ist, daß es der Affekt und der Trieb in Person ist und nichts repräsentiert« (diess., 1980, S. 353). 2 Vgl. zur körperlichen Dimension der Filmrezeption die Arbeiten von Marks (2000, 2002).

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die Zuschauer geradezu physisch attackieren: »Through a variety of formal means, the images of the cinema of attractions rush forward to meet their viewers« (Gunning, 1995, S. 121). Kennzeichen dieses Kinos ist eine Ästhetik der Überraschung, die durch eine Serie kalkulierter Schocks, einer Mischung aus Vergnügen und Angst, Sensationen und Thrills die Zuschauersinne stimuliert und in Taumel versetzt (vgl. ebd., S. 123). Im Attraktionskino werden die Sinne der Zuschauer erregt und durch visuelle, akustische sowie taktile Schocks überwältigt. Sie können dabei wie bei einem Trauma körperliche Reaktionen auslösen. Im Avantgardefilm ebenso wie im Actionkino hat das Attraktionskino über das Frühe Kino hinaus eine zweite Heimstatt gefunden.3 Die Wirkungsweise taktiler Schocks hat schon früh in die Film- und Medientheorie Eingang gefunden. Walter Benjamin etwa vergleicht in seinem Kunstwerkaufsatz die wechselnden visuellen Eindrücke des Films mit Projektilen, die auf die Filmzuschauer treffen – die Schockwirkung wird zum non plus ultra seiner Ästhetik, die zugleich auf eine Veränderung des politischen Bewusstseins des Kinopublikums aus ist: »Aber nichts verrät deutlicher die gewaltigen Spannungen unserer Zeit als daß diese taktile Dominante in der Optik selber sich geltend macht. Und das eben geschieht im Film durch die Chockwirkung seiner Bilderfolge. So erweist sich auch von dieser Seite der Film als der derzeitig wichtigste Gegenstand jener Lehre von der Wahrnehmung, die bei den Griechen Ästhetik hieß« (Benjamin, 1991, S. 466).

Die Wiederkehr des Realen im Kino ist demnach an die traumatische Signatur einer Ästhetik des Schocks und der sinnlichen Überwältigung geknüpft. Die klassischen body genres Horror- und Pornofilm, die in dieser Hinsicht zumeist ins Feld geführt werden, stellen dabei nur eine Möglichkeit dieser Wiederkehr dar. Deshalb lohnt es sich zu fragen, woher die anhaltende Konjunktur dieser Ästhetik der Überwältigung rührt. Paul Virilio gibt einen wichtigen mediengeschichtlichen Hinweis. In seinem 1988 erschienenen Buch La machine de vision schreibt er vom »Durst des Publikums nach einem Kino des Realen« (Virilio, 1989, S. 125), der besonders durch die Verwendung von dokumentarischem Filmmaterial in Spielfilmen ausgelöst worden sei. Virilio bezieht sich dabei auf die Geschichte des Nachrichtenfilms und das Kino des Neorealismus. Er betont, dass die Filmzuschauer durch die Verwendung von »authentischen Dokumenten« (ebd., S. 118) zu Zeugen der dargestellten Ereignisse werden. Nicht von ungefähr erwähnt Virilio Roberto Rossellinis Film ROMA, CITTõ APERTA (Italien 1945), der mit dem Zweiten Weltkrieg das prägende traumatische Ereignis seiner Zeit wieder aufleben lässt. Dem Filmhistoriker Georges 3 Vgl. zur Aktualität des Attraktionskinos Strauven (2006).

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Sadoul sei dieser Film deshalb wie »eine rekonstruierte Wochenschau« vorgekommen (ebd., S. 120). Fingierte Zeugenschaft firmiert bei Virilio als hervorstechendes Merkmal eines Kinos des Realen. Durch die Fiktion der Zeugenschaft wird der Filmzuschauer in das filmische Geschehen hineingezogen, seine Wahrnehmung gelenkt und seine Sinne nicht selten überfordert. Sie bildet die Voraussetzung dafür, dass sich der Schock als Ästhetik der Überwältigung mit der psychischen Struktur des Traumas verbindet. Diesen Zusammenhang stellt auch Siegfried Kracauer in seiner 1960 veröffentlichten Theory of Film her, die bekanntlich die Errettung der äußeren Wirklichkeit unternimmt. Auch Kracauer geht davon aus, dass Filmbilder zunächst »vorwiegend die Sinne des Zuschauers affizieren« (Kracauer, 2005, S. 254). Deshalb beschäftigt er sich auch mit »Phänomenen, die das Bewußtsein überwältigen«, zu denen er Naturkatastrophen, Gewalttaten und Terrorakte ebenso zählt wie Triebhandlungen und den Tod selbst (ebd., S. 108). Da diese Ereignisse in den »Bereich physischer Wirklichkeit« fielen, gehörten sie »um so mehr zu den spezifisch filmischen Gegenständen«, die gemäß seines Realismusverständnisses nur die Kamera unverzerrt wiedergeben könne (ebd., S. 109). Unter den Filmbeispielen, die Kracauer an dieser Stelle erwähnt, ist auch die Folterszene aus Rosselinis ROMA, CITTõ APERTA. Die filmische Darstellung physischer Gewalt überwältigt für ihn ebenso wie die Darstellung von Naturkatastrophen oder Triebhandlungen die Sinne und wirkt daher traumatisierend auf das Publikum. Gleichzeitig unterstellt Kracauer dem filmischen Schockerlebnis eine kathartische Wirkung, die einer Aufarbeitung des erlittenen Traumas gleichkommt: »Das Kino zielt also drauf ab, den innerlich aufgewühlten Zeugen in einen bewußten Beobachter umzuwandeln. Nichts könnte legitimer sein als der Mangel an Hemmungen bei der Darstellung von Vorgängen, die uns außer Fassung bringen« (ebd., S. 110). Kracauer rechtfertigt an dieser Stelle seiner Theory of Film Darstellungen von Katastrophen, Gewalt, Terror und Tod durch die Katharsis, die sie beim Publikum auslösen sollen. Die Überwältigung des Bewusstseins in einem Kino des Realen soll einen bereinigenden Bewusstseinsakt auslösen und das traumatische Schockerlebnis im Kinosaal dadurch überwunden werden. Dieses Kino verbindet, wie Kracauer im Epilog seiner Theory of Film bekräftigt, Traumatisierung mit Traumabewältigung: »Indem das Kino uns die Welt erschließt, in der wir leben, fördert es Phänomene zutag, deren Erscheinen im Zeugenstand folgenschwer ist. Es bringt uns Auge in Auge mit Dingen, die wir fürchten. Und es nötigt uns oft, die realen Ereignisse, die es zeigt, mit den Ideen zu konfrontieren, die wir uns von ihnen gemacht haben« (ebd., S. 467). An gleicher Stelle kommt er auf Schreckensbilder der Massenvernichtung in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und ihre kathartische Wirkung

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auf die Filmzuschauer zu sprechen: »die Haufen gemarterter menschlicher Körper« anzusehen bedeute, sie zu erfahren; und durch diese Erfahrung »erlösen wir das Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie« (ebd. S. 469). Diese Erlösung des Grauens zur Sichtbarkeit bewirkt für Kracauer zugleich eine befreiende Erfahrung. Philippe Despoix schlussfolgert aus dieser Passage: »Dafür erlaubt es der Anblick des Grauens, zugleich die Furcht, die dessen fotografische Wiedergabe hervorruft, unwillkürlich zu überwinden« (Despoix, 1998, S. 230). Den Schock, der zum Aussetzen von Wahrnehmung und Handlung führt, hat Gilles Deleuze 1985 in einem Interview, bezogen auf einen anderen Film Rossellinis, Europa ’51 (Italien 1952), als »große Erfindung des Neorealismus« gerühmt: »Man glaubt nicht mehr so recht an die Möglichkeit, auf Situationen einzuwirken oder zu reagieren, und trotzdem ist man überhaupt nicht passiv, man erfaßt oder entdeckt irgendetwas Unerträgliches, etwas, das nicht auszuhalten ist, selbst im alltäglichsten Leben« (Deleuze, 1993, S. 77). Das Unerträgliche eines sinnlichen Schockerlebnisses, das diesseits und jenseits der Leinwand insistiert, erweist sich auch für Deleuze als Katalysator der traumatisierenden Wirkung des Films. Kracauers Vermächtnis einer ›Errettung der äußeren Wirklichkeit‹ durch die materiale Ästhetik des Films hat seit den 1960er Jahren einiges an geschichtsphilosophischer Sprengkraft eingebüßt. Auch der in der ästhetischen Negativität begründete Glaube an eine kathartische Wirkung des Films, die erst die schockierende Darstellung von Natur- und Menschengewalt rechtfertigt, hat seine Geltungsmacht an ein Kino des Körpers abgetreten, das aus »Empfindungen, Intensitäten oder Passionen« (Deleuze, 1997, S. 263) besteht. Zum Kino des Körpers zählt Deleuze u. a. die Filme von Godard und Cassavetes (ebd., S. 264). In dessen Namen erkundet Gilles Deleuze die Möglichkeiten, das Inkommensurable von Zufällen und Unfällen, von Körpern und Gesten, ja das Ungedachte selbst zu denken und erfahrbar zu machen. Die physischen und psychischen Wirkungen des Films sieht er in erster Linie durch seine Automatisierung von Bewegung begründet. Dessen Macht besteht darin, »einen Schock im Denken entstehen zu lassen, Vibrationen auf die Gehirnrinde zu übertragen, unmittelbar das Gehirn und das Nervensystem zu beeinflussen« (ebd., S. 205). Es sind für Deleuze genau diese Schocks und Vibrationen, die auf Körper ebenso wirken wie das Denken beeinflussen und Körper wie Gehirn gleichermaßen durchlaufen: »Es gibt im Körper ebensoviel Denken wie im Gehirn Schock und Gewalt. Und es gibt ebensoviel Empfindung im Körper wie im Gehirn« (ebd., S. 265). Für ihn entsteht dieses Kino des Körpers, des Gehirns mit der Krise des Bewegungs-

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Bildes, die vor allem durch das Nachkriegskino des italienischen Neorealismus offensichtlich werde.4 Das Kino des Realen behauptet sich zugleich als ein Kino der Überwältigung der Sinne im Action- wie im Horror- oder pornografischen Film, insistiert dort durch das Auslösen von körperlichen Reaktionen wie Atemnot, Kälte und Schwindel. Von daher bleibt die Frage virulent, durch welche spezifisch filmischen Mittel und Verfahren solche traumatisierenden Körperreaktionen im Kino immer wieder neu provoziert werden. Nicht umsonst hat die Filmwissenschaft Deleuze’ Denkanstöße aufgegriffen und Instrumentarien entwickelt, die Übergriffe des Kinos auf die Zuschauerkörper, den über die Sinne hergestellten Kontakt und das Repertoire der durch filmische Sensationen ausgelösten körperlichen Reaktionen zu entschlüsseln.5 Mit Bezug auf Überlegungen Benjamins, Vertovs und Bressons begreift etwa Steven Shaviro die Kinomatographie als eine materialistische Praxis im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, »a new form of direct contact with the real« (Shaviro, 1993, S. 39). Deshalb seien die filmischen Verfahren der mise-en-scÀne und der Montage nie frei von Zufällen und produzierten zwangsläufig Instabilitäten. Daraus schlussfolgert Shaviro: »In a world of mechanical reproduction, fragmentation and construction are not modes of representation, but processes of the real itself« (ebd., S. 40).

2.

Sensory deprivation

An einer anderen Stelle seiner bereits angeführten Abhandlung La machine de vision erklärt Virilio das Kino zum Erben eines wesentlichen Entzugs der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Die zunehmende Beleuchtung der europäischen Metropolen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert habe besonders bei den zahlreichen Obdachlosen, die nachts in den Großstädten umherirrten, ohne sich irgendwo niederlassen zu dürfen, zu einer »psychotropen Zerrüttung« der Sinne oder Insomnia und zugleich zu einer Regulierung des urbanen Raums geführt, die Virilio dezidiert als »Folter« bezeichnet (Virilio, 1989, S. 33). Für ihn stellt das Kino »eine öffentliche Beleuchtung« (ebd., S. 57) dar, die dem »totalitären Streben des Abendlandes« (S. 83) nach Omnivision durch die Formierung einer vollständigen, das Unsichtbare ausschließenden Sichtbarkeit nachkam. Virilio zieht durch den Rekurs auf die Schreckensherrschaft während der 4 Zur Paradoxie des von Deleuze behaupteten historischen Bruchs zwischen dem BewegungsBild und dem Zeit-Bild im Gefolge des Zweiten Weltkriegs vgl. RanciÀre (2006). 5 Im Anschluss an Deleuze haben Steven Shaviro (1993), David N. Rodowick (1997), Barbara Kennedy (2000) und Anna Powell (2005) Modelle der Filmanalyse entwickelt.

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Französischen Revolution und deren »unausgesprochene und totalitäre Begierde nach Erhellung«, die sich »im terrorisierenden und terrorisierten Wissen« des 20. Jahrhunderts fortgesetzt habe, eine Parallele zwischen Terror und Beleuchtung, Terror und Kino (S. 85). Durch seine Tendenz, alles sichtbar machen zu wollen, beerbe das Kino demnach die terreur der Französischen Revolution. Neben der Omnivision zählt Virilio auch das »akzidentelle Sehen« (S. 41), das durch intensive Beleuchtung einen bestimmten Ausschnitt im Bereich des Sichtbaren hervorhebt, zum Terror einer deprivierten Wahrnehmung – einer Wahrnehmung, in der die übermäßige Reizung des Sehsinns zum Trauma des Sehens, zur Blindheit und zum Rückzug der anderen Sinne führt. Das Kino als Sehmaschine totalisiert die Sichtbarkeit sowohl als Omnivision als auch als »phatisches Bild«, das aus einer »immer intensiveren Beleuchtung« resultiert – »der Intensität der Bildauflösung, durch die nur bestimmte Bereiche hervorgehoben werden, während der Kontext die meiste Zeit verschwommen bleibt« (S. 43). Das phatische Bild intensiviert das Sehen, indem es den Blick lenkt, und steigert dadurch das Begehren, alles sehen zu wollen. Wie ein Scheinwerfer zieht es als »das anvisierte Bild« den Blick auf sich und fesselt die Aufmerksamkeit (ebd.). Der Terror der Omnivision besteht für Virilio in dieser doppelten Ausrichtung der Sehmaschinen auf das Ganze und das Detail, auf Übersicht und Einblick. Ebenso wie die übermäßige Beleuchtung stellt auch ihr Entzug ein Instrument dieses Terrors dar. Die als Deprivation namhaft gemachte Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit kann bis zum vollständigen Ausschluss eines oder mehrerer Sinne etwa durch völlige Dunkelheit oder absolute Stille führen. Umgekehrt können durch die übermäßige Reizung eines Sinns etwa durch grelles Licht oder extremen Lärm die anderen Sinne in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit empfindlich gestört und die gereizten Sinne sogar dauerhaft geschädigt werden. Die Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit stellt also nicht nur einen temporären Schutz des Organismus vor übermäßigen Reizen dar, der sich im Nachhinein als traumatisierend herausstellt; der Mangel an äußeren Sinnesreizen kann auch selbst Angst oder Halluzinationen und sogar psychische Krankheiten auslösen. Die physischen und psychischen Auswirkungen von sensory deprivation wurden seit den 1950er Jahren vielfältig untersucht und vor allem experimentell erprobt. Die Forschung etabliert sich in den 1950er Jahren parallel zum Kalten Krieg.6 Selbst das amerikanische Fern6 Vgl. Zubek (1969). Einschlägig ist auch ein von der Harvard School of Medicine veranstaltetes Symposion, dessen Beiträge von Philip Solomon, Philip E. Kubzansky, P. Herbert Leiderman, Jack H. Mendelson, Richard Trumball und Donald Wexler 1961 bei Harvard Univ. Press herausgegeben wurden. Einen Überblick über Forschungsergebnisse liefert Riesen (1975).

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sehpublikum wurde 1958 in der von Dr. Frank Baxter präsentierten Sendereihe Gateways to the Mind über Funktionsweise und Auswirkungen von sensory deprivation aufgeklärt. Darüber hinaus wird der Entzug sinnlicher Reize ebenso wie die übermäßige Reizung eines Sinns als psychisches Folterinstrument eingesetzt.7 Zu den Instrumenten dieser so genannten ›weißen‹ Folter gehören Isolationshaft, Dunkelhaft und Camera silens.8 Wie werden der Entzug sinnlicher Reize bzw. im Gegenteil die übermäßige Reizung eines Sinns nun aber zum Terror des Films, der auf die Zuschauerkörper zielt? Gemessen am terroristischen Imperativ der Omnivision könnte der Entzug der Sichtbarkeit als Möglichkeit begriffen werden, sich deren Zudringlichkeiten zu entziehen und gleichzeitig auf deren impliziten Terror aufmerksam zu machen. Das Kino, das für Virilio als »öffentliche Beleuchtung« die terroristischen Tendenzen der Omnivision beerbt hat und nun die Körper regiert, operiert mit beiden Aspekten von sensory deprivation: zum einen, indem es etwa durch Kadrierung und Fokalisierung die Hegemonie der Omnivision aufrechterhält, zum anderen, indem es sich zum Beispiel durch Kaschierungen und Schwarzblenden blind stellt und damit der Sichtbarkeit entzieht oder durch schnelle Kamerabewegungen und Flickereffekte auf physiologischer Ebene das Sehen empfindlich stört und beim Publikum Schwindel und Übelkeit auslöst. Welche körperlichen Reaktionen eine bewegte Kamera auslösen kann, wurde schon in den Anfangsjahren des Kinos getestet und theoretisch verhandelt. So hat etwa Hugo Münsterberg bereits 1916 in seiner psychologischen Studie The Photoplay tricktechnische Drehbewegungen beschrieben, die Schwindel auslösen können (Münsterberg, 1916, S. 130). Auch B¦la Bal‚zs versichert in seiner 1924 erschienen Schrift Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, dass Schwindel »als optisches Erlebnis durch den Film geweckt werden kann«: Demnach wird die »größte Katastrophe, die in dem von unserem Raume geschiedenen Raume des Bildes sich abzuspielen scheint, […] nie so wirken, wie das Bild eines Abgrundes, der sich v o r u n s e re n Augen öffnet, als wenn wir selber über ihm stehen würden« (Bal‚zs, 1924, S. 121). Für Bal‚zs nimmt die Kamera dabei die subjektive Sicht des Filmzuschauers ein, verschmelzen Kamera- und menschlicher Blick. 7 Ebenfalls in den 1950er Jahren fertigten CIA-Mitarbeiter Dossiers über die Auswirkungen von Isolation, Angst, Schlafentzug und Hunger auf Gefangene an. Wie Arnim Stauth und Jörg Armbruster in ihrer Fernsehdokumentation Folter im Namen der Freiheit (BRD 2004) berichten, betrieb sie systematisch Folterforschung, die 1963 in ein Handbuch, das Kubark Counter Intelligence Interrogation Manual, einfloss und verbündeten Machthabern in der Dritten Welt zur Verfügung gestellt wurde. 8 Klaus Theweleit verhandelt im zweiten Band seiner Männerphantasien soldatische Formen des ›weißen Terrors‹, die darauf abzielen, den Ausschluss des Weiblichen durch bestimmte Wahrnehmungssituationen herbeizuführen: den »entleerten Platz«, den »blutigen Brei« und den »black out« (vgl. ders., 1980, bes. S. 268 ff.).

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Das Reale von Atemnot, Kälte und Schwindel gelangt jedoch nicht ausschließlich durch Zonen instabiler Bildlichkeit oder den Entzug von Sichtbarkeit ins Kino, sondern vielmehr durch die oft gleichzeitige Reizung der anderen Sinne, besonders des Gehörs – nicht umsonst unterhält die Stimme eine besondere Beziehung zum Trauma.9 Vor allem Geräusche und Stimmen ohne sichtbare Quelle im Filmbild, Töne von nirgendwo her durchdringen nicht nur die filmische Imagination, sondern dringen in die Zuschauerkörper ein. Solche Stimmen hat Michel Chion als akusmatisch bezeichnet (Chion, 1999). Die Separation und der Ausschluss einzelner Sinne, der Wechsel von Licht und Dunkelheit, von Hitze und Kälte, Stille und Lärm bewirken sensory deprivation und machen aus dem Kino ein psychisches Experimentallabor. Atemnot, Kälte und Schwindel als reale Körpererfahrungen und Traumasymptome lassen sich demnach provozieren durch den gezielten Einsatz von sensory deprivation. Das lässt sich an einem Filmbeispiel demonstrieren. Blair Witch Project (USA 1999) von Daniel Myrick und Eduardo S‚nchez ist kein klassischer Horrorfilm. In diesem 1999 in die Kinos gekommenen Film, der immer noch gemessen an seinem geringen Budget als kommerziell erfolgreichster Horrorfilm weltweit gilt, gibt es keine Geister, Zombies oder Monster zu sehen. Blair Witch Project spielt nicht auf der Klaviatur des Sichtbaren, zieht nicht die Register der Repräsentation. Der unglaubliche Erfolg des Films basiert vielmehr einerseits auf der Fiktion der Zeugenschaft, die ihn im Vorspann als found footage eines nie beendeten Dokumentarfilmprojekts ausweist.10 Auch stilistisch nimmt er Anleihen am Dokumentarfilm etwa in der Gestaltung der Titel, in der Kameraführung und der Tongestaltung. Blair Witch Project kann also mühelos dem Kino des Realen in Virilios Sinn zugeschlagen werden.11 Andererseits adressiert der Film wie jeder Horrorfilm die Sinne seiner Zuschauer auf eine sehr körperliche Weise, indem er die traumatische Erfahrung seiner Protagonisten weniger durch Empathie oder Identifikation mimetisch nachvollziehbar macht, sondern vielmehr indem er das Trauma für den Zuschauer körperlich real werden lässt. Er wird dadurch zum Testfall für die psychophysischen Mechanismen des Austausches zwischen Film und Publikum. 9 Für Birgit R. Erdle bezeugt die Stimme »zugleich die Wahrheit der traumatischen Erfahrung wie die Unverfügbarkeit dieser Wahrheit« (dies., 2002, S. 120). 10 Dort heißt es: »In October of 1994, three student filmmakers disappeared in the woods near Burkittsville, Maryland while shooting a documentary. / Ayear later their footage was found« (DVD-Fassung: AVU 2000, 00:12). 11 Daniel Myrick und Eduardo S‚nchez betonen im Interview, dass sie von Dokumentarfilmen der 1970er Jahre inspiriert wurden und gegenüber der Zeichenhaftigkeit klassischer Horrorfilme wie The Shining (Stanley Kubrick, GB 1980) eine Neuausrichtung des Genres angestrebt haben, um einen Film zu machen, der »wirklich« Angst macht (vgl. DVD-Fassung: AVU 2000).

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Das lateinische Verb horrere bezeichnet nicht umsonst jene körperlichen Reaktionen, die auch für Traumaerlebnisse geltend gemacht werden. Das durch visuelle, akustische oder taktile Schocks ausgelöste Erstarren, das anschließende Zittern und Schwitzen verbindet Horror und Trauma. Den Austausch mit dem Publikum etabliert Blair Witch Project durch zwei Blickinstanzen, eine 16mm-Filmkamera, mit der die drei Studenten Heather (Heather Donahue), Joshua (Joshua Leonard) und Michael (Michael C. Williams) eine Dokumentation über die legendäre Hexe von Blair drehen wollen, und eine Super 8-Videokamera, mit der sie wiederum ihre Expedition in die Wälder Marylands dokumentieren.12 Wenn am Anfang des Films Heather und Joshua sich gegenseitig beim Filmen filmen, sich also die beiden Kameraobjektive gegenseitig »anblicken«, dann demonstrieren sie zugleich auf spielerische Weise den Terror dieser Blickinstanzen, vor denen es kein Entkommen zu geben scheint. Während die Einstellungen der Filmkamera für den zu drehenden Dokumentarfilm zunächst sorgfältig gewählt erscheinen, wird die Videokamera von Anfang an für private Momentaufnahmen der Beteiligten verwendet. Die Filmaufnahmen werden im Unterschied zu den Farbaufnahmen der Videokamera in Schwarzweiß gedreht, so dass sich beide Blickinstanzen für die Filmzuschauer leicht unterscheiden lassen. Der häufige Wechsel zwischen den beiden Kameras bleibt dadurch immer nachvollziehbar. Im Verlauf des Films tritt ihr unterschiedlicher Gebrauch immer deutlicher hervor. Anfangs nimmt die Filmkamera überblicksartige Einstellungen von den Schauplätzen der unheimlichen Vorfälle und Verbrechen in den Wäldern rund um die ehemalige Siedlung Blair auf, die jeweils von Heather beschrieben und kommentiert werden. Als sich die Filmemacher jedoch im Wald verirrt haben und zunehmend desorientiert sind, dominieren unpersönliche und austauschbare Bilder der Umgebung, die jeden konkreten Bezug zur geplanten Dokumentation verloren haben: Vor allem der wiederholte Kamerablick in den Himmel, der von Baumkronen teilweise verdeckt wird, kann keiner subjektiven Sicht zugeordnet werden. Der Raum, den diese Aufnahmen zu sehen geben, wird vielmehr zum beliebigen Raum der verteilten Intensität des Lichts, zu einem subjektlosen Affektbild der Orientierungslosigkeit (vgl. Abb. 29 – 31). Die Videokamera wird dagegen für die subjektive Sicht der Beteiligten auf einander und auf das, was ihnen widerfährt, reserviert. Von den im Verlauf des Films zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen ihnen erfahren wir vorzugsweise durch sie. Ihre ständige Präsenz wird dabei immer mehr zum Pro12 Bei der Filmkamera handelt es sich nach Aussage Joshuas um eine CP-16 der Cinema Products Corporation mit Sitz in Hollywood. Mit dieser portablen Kamera wurden laut Wikipedia vor der Einführung von Videoausrüstungen vor allem Nachrichten für das Fernsehen und Dokumentationen gefilmt. Heute ist sie noch bei kleinen Filmproduktionen und in Filmschulen in Gebrauch.

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blem: Unbarmherzig nimmt die Videokamera jede verbale Entgleisung und affektive Entladung, Tränen und Schreie genauso wie Erschöpfung und Apathie auf. Heathers Passion, alles dokumentieren zu wollen, stößt jedoch bei ihrem Team immer mehr auf Widerstand. Ständig einem Kameraauge, dem Terror der Omnivision, ausgesetzt zu sein, löst unter ihnen, je hoffnungsloser ihre Lage wird, fast unweigerlich Aggressionen aus. Die Kamera wird dabei zu einem Herrschaftsinstrument, das den Terror des Films ausführt. Das muss auch Heather selbst erfahren, als Joshua ihr in einem Moment der Schwäche mit der Kamera auf den Leib rückt. In solchen Momenten dominieren Nahaufnahmen des Gesichts. In der letzten, gemeinsam mit Michael im Zelt verbrachten Nacht filmt sich Heather selbst: ihr von Tränen überströmtes Gesicht, ihre vom Weinen verquollenen Augen, während sie ihren nächtlichen Abschiedsmonolog spricht, der das unvermeidlich erscheinende Ende vorwegnimmt, in extremer Großaufnahme als intensives Affektbild (vgl. Abb. 32 und 33). Am Ende des Films fallen beide Kameras im Inneren eines verfallenen Hauses, das Michael und Heather betreten, weil aus ihm Schmerzschreie von Joshua zu dringen scheinen, kurz hintereinander zu Boden: Die letzten Bilder, die die zuletzt gefallene Filmkamera aufzeichnet, sind äußerst verwackelt und geben nur für einen kurzen Moment Michael zu sehen, dessen Gesicht der Kellerwand zugekehrt ist, während Heather, die die Filmkamera bis dahin geführt hat, durch einen Schlag und mit ihr auch die Kamera zu Fall kommt. Trotzdem läuft sie noch einen Moment weiter, unscharfe Bilder des Kellerbodens produzierend – genau jenen Moment, den es braucht, damit sich der Schock im Zuschauer ausbreiten kann, bevor endlich der Abspann des Films einsetzt. Die Deregulierung der Sichtbarkeit setzt jedoch bereits lange vor diesem finalen Ausfall ein und steigert sich im Verlauf des Films immer mehr. Begründet wird sie durch die zunehmende Angst der Protagonisten vor einer bis zum Schluss unsichtbar bleibenden und ihnen damit immer unheimlicher werdenden Macht. Einen dramaturgischen Höhepunkt stellen in dieser Hinsicht die mehrfachen nächtlichen Überfälle auf ihr Zeltlager und die anschließende panikartige Flucht in den Wald dar : Nachdem sie von merkwürdigen, an das Schreien eines Babys erinnernden Geräuschen und Schlägen gegen das Zelt geweckt wurden, bringen Joshua und Michael in großer Hektik die beiden Kameras zum Laufen, die zugleich mit ihren Lichtkegeln die umgebende Dunkelheit im Innern des Zeltes zumindest punktuell durchdringen. So gerüstet wagen sie sich nun laut rufend in den nächtlichen Wald. Das Verschwinden Joshuas leitet schließlich den Countdown des Films ein. Dabei dienen die mitgeführten Kameras als portable Suchscheinwerfer. Sie erzeugen, von den unruhigen Laufbewegungen ihrer Träger hin und her geschüttelt, durchweg verwackelte Bilder. Die Nacht, die das Sehen entzieht und damit die Omnivision unmöglich macht, wird so teilweise durch das Licht der

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Kameras erhellt, die durchweg phatische Bilder einer punktuellen Sichtbarkeit liefern. Sie fungieren in dieser Szene ebenso wie die unverzichtbaren Taschenlampen explizit als Erweiterungen der deprivierten menschlichen Sinne und machen zugleich die Ohnmacht der Protagonisten deutlich, indem sie deren permanent schwankende subjektive Perspektive übernehmen (Abb. 34 – 36). Die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt wird damit zugleich hinfällig: Nicht nur verändern sich die Zonen der Sichtbarkeit durch die hektischen Bewegungen der beiden Kameraträger ständig, auch geben die Kameras nichts anderes als herumirrende diffuse Lichtinseln zu sehen. Diese visuelle Ohnmacht überträgt sich auf die Filmzuschauer, deren Sicht auf das Geschehen genauso beschränkt bleibt wie die der zunehmend verzweifelten und desorientierten Protagonisten. Auch ihr hektisches Atmen und unkontrolliertes Schreien sind deutlich vernehmbare körperliche Angstreaktionen, die das Unerträgliche der Situation als körperlose Stimmen, als puren Affekt äußern und ebenfalls ansteckend auf die Zuschauerkörper wirken.13 Die Atemgeräusche und Schreie der Protagonisten lösen bei ihnen Vibrationen aus, die sie als psychische Wirkungen zu spüren bekommen. Ihre Angst wird zur Angst schlechthin, zu einem unpersönlichen Affekt, der sich jenseits der Leinwand ausbreitet. Die sich zur Panik steigernde Angst der Protagonisten wird einerseits durch ihre zunehmende räumliche Desorientierung in einem scheinbar unbewohnten, von Menschen geradezu gemiedenen Waldgebiet, die mit dem Verlust der Landkarte offensichtlich wird, und andererseits durch unverständliche Handlungen und Zeichen innerhalb dieses Raums ausgelöst, die auf kein Subjekt zurück geführt werden können und daher rätselhaft bleiben. Alles, was sie nicht entziffern und in Handlungen umsetzen können, löst Verunsicherung und Angst aus und fasziniert zugleich. Die der Angst eigentümliche Faszination, das Schwanken zwischen Anziehung und Abstoßung, treibt nicht nur Heather, Joshua und Michael immer weiter in den Wald (und das Reale ihrer Affekte und Triebe) hinein statt hinaus, sondern mobilisiert auch die Filmzuschauer, deren Neugier durch die Verweigerung von Erklärungen immer weiter angestachelt wird. Im Wald von Blair geraten die symbolische Ordnung der Zeichen und die imaginären Spiegelbilder durcheinander und entziehen den Protagonisten genauso wie dem Kinopublikum jene (Selbst-)Sicherheit, die sie erst für diffuse Ängste sowie überfallartige Schockerlebnisse empfänglich macht. Genau diese Wirkungsmacht zeichnet für Anna Powell den Horrorfilm aus – und macht 13 Dies betont auch Anna Powell in ihrer Studie Deleuze and Horror Film (2005), S. 111: »The loud bangs, piercing screams or slight creaks of horror amplify the listener’s sensations of shock or nervous agitation across the decibel range. The qualitative properties of these sounds also affects us in distinctive ways«. Powell kommt in ihrer Studie wiederholt auf Blair Witch Project zu sprechen.

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zugleich seine Affinität zum Kino des Körpers aus, das auch ein Kino des Realen ist: »Horror’s frequent undermining of normative perspective by fragmented images and blurred focus operates in tandem with the erosion of the subjective coherence and egoboundaries of its characters. It also affects the spectator’s sense of cognitive control over the subject matter as our optic nerves and auditory membrances struggle to process confusing data« (Powell, 2005, S. 5.).

Agenten dieser Verunsicherung sind die beiden Kameras, die doch besonders im Fall der Filmkamera eigentlich im Dienst der Dokumentation stehen und insofern für gewöhnlich einen gewissen Abstand zum Geschehen herstellen. Dieser Abstand bricht jedoch im Verlauf des Films immer mehr zusammen. Daran ändert sich auch nichts, als Joshua Heather daran erinnert, dass die Kamera nicht die Realität wiedergibt. Die beiden Kameras verschmelzen immer mehr mit den Körpern ihrer menschlichen Träger zu einem Ensemble, das intensive unpersönliche Affekte freisetzt. Die verwackelten Bilder, die sie zunehmend erzeugen, legen ihrerseits Zeugnis ab von der wachsenden Destabilisierung der menschlichen Akteure diesseits und jenseits der Leinwand, deren Erweiterung sie in McLuhans Sinn eigentlich darstellen.

3.

Virtuelle Bilder

In La machine de vision hat Virilio auch einen Zusammenhang zwischen der Krise der Repräsentation und dem Vormarsch von blicklosen Sehmaschinen hergestellt, die zur Deprivation der menschlichen Sinne beitragen. Dieser Krise entspreche ein regressiver Wahrnehmungszustand, »bei dem das Substrat der Sinne nur noch als ein konfuses Ganzes existiert, aus dem zufällig irgendwelche Formen, Gerüche oder Töne hervorgehen, die nicht mehr deutlich wahrgenommen werden« (Virilio, 1989, S. 28). Auch für Deleuze zeichnen sich elektronische Bilder durch »die Multiplikation der Parameter« aus, die zum »Aufbau divergenter Serien« und damit zu einer Zerstreuung des Sichtbaren führt (Deleuze, 1993, S. 80). Die von elektronischen Sehmaschinen wie hochauflösenden Film- und Videokameras »instrumental erzeugten virtuellen Bilder, die einer direkten oder indirekten Beobachtung nicht mehr zugänglich sind« (Virilio, 1989, S. 137), stellen für Virilio zugleich synthetische mentale Bilder dar, die keiner Blickinstanz mehr zugeordnet und daher nicht entziffert werden können. Sie entsprechen in dieser Hinsicht den unpersönlichen Affektbildern in Deleuze’ Kinotheorie. Mit solchen synthetischen mentalen Bildern haben wir es auch in Blair Witch Project zu tun. Es sind diffuse deprivierte Bilder einer Sehmaschine, die den Zustand der Todesangst nicht nur mental auf die Zuschauer

Atemnot, Kälte, Schwindel

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übertragen, sondern sie auch körperlich derart desorientieren, dass sie Schockreaktionen provozieren. So ist davon berichtet worden, dass die teilweise unkoordiniert und hektisch wirkenden Bewegungen der beiden Kameras bei manchen Filmzuschauern Schwindel und Übelkeit ausgelöst haben.14 Besonders Handkameras machen jede Bewegung ihres Trägers mit. Sie verbinden sich mit dem rennenden, keuchenden und zitternden Körper und überschreiten die Subjekt-Objekt-Differenz. Und sie übertragen die inkommensurablen Zu- und Unfälle des Realen in unsinnige Bewegungen, in Sprünge und Schwenks, die die körperliche Wahrnehmung der Filmzuschauer überfordern bis zum ganz realen Erbrechen. Die Fiktion, vor sich dokumentarisches Material zu haben, macht die Filmzuschauer also zu (naiven) Zeugen, die ihre zunehmende Verstrickung in die gefilmten Ereignisse durch die ansteckende Konfrontation mit Atemnot, Kälte und Schwindel quittieren. Gegen Paul Virilios Befürchtung, wir befänden uns angesichts der zunehmenden Verbreitung von Sehmaschinen in einem regressiven Wahrnehmungszustand, behauptet sich ein Kino des Realen als »Labor des Lebens« (Godard, 1981, S. 127), das die Grenzen der Belastbarkeit der menschlichen Sinne stets aufs Neue auslotet. »Im Kino«, schreibt Ute Holl, »in dem unser Inneres mit einem äußeren Apparat verschaltet wird, kommt auch unser eigenes Zittern und Zucken, je nach Versuchsaufbau, je nach Filmgenre, ans Licht« (Holl, 2002, S. 22). Dabei traumatisiert das Kino des Realen den Zuschauerkörper durch kalkulierte Schockmomente, die zugleich die Distanz des Als-ob, der fiktiven Zeugenschaft aufheben und einer permanenten Verunsicherung von Subjekt-Objektgrenzen preisgeben. Kino betreibt Traumatisierung und Traumabewältigung in einem.

Literatur Bal‚zs, B¦la: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films. Wien/Leipzig 1924. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Band I/2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 431 – 469. Blair Witch Project: In: IMDb: http://www.imdb.com/title/tt0185937/trivia (6. 6. 2011). Chion, Michel: The Voice in Cinema. New York 1999. 14 Vgl. folgenden Interneteintrag in IMDb sowie zahlreiche Nutzerkommentare auf derselben Seite: »Some theatergoers experienced nausea from the handheld camera movements and actually had to leave to vomit. In some Toronto theatres, ushers asked patrons who where prone to motion sickness to sit in the aisle seat and to try not to ›throw up on other people‹« (http://www.imdb.com/title/tt0185937/trivia; zuletzt eingesehen am 6. 6. 2011).

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Petra Löffler

Deleuze, Gilles und Felix Guattari: Tausend Plateaus. Berlin 1980. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972 – 1990. Frankfurt am Main 1993. – Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main 1997. Despoix, Philippe: Ethiken der Entzauberung. Zum Verhältnis von ästhetischer, ethischer und politischer Sphäre am Anfang des 20. Jahrhunderts. Bodenheim 1998. Erdle, Birgit R.: Stimme, Zeugenschaft, Wissen: Zur (Theorie)Politik mit dem Trauma in den Kulturwissenschaften. In: Hahn, Marcus; Klöpping, Susanne und Holger Kube Ventura (Hrsgg.): Theorie – Politik. Selbstreflexion und Politisierung kulturwissenschaftlicher Theorien. Tübingen 2002, S. 119 – 131. Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. XIII. Frankfurt am Main 1999, S. 3 – 69. Gunning, Tom: An Aesthetic of Astonishment: Early Film and the (In)Credulous Spectator. In: Williams, Linda (Hrsg.): Viewing Positions. Ways of Seeing Film. New Brunswick 1995, S. 114 – 133. Godard, Jean-Luc: Liebe Arbeit Kino. Rette sich wer kann (das Leben). Berlin 1981. Holl, Ute: Kino, Trance & Kybernetik. Berlin 2002. Kennedy, Barbara: Deleuze and Cinema: The Aesthetics of Sensation. Edinburgh 2000. Kittler, Friedrich: Grammophon – Film – Typewriter. Berlin 1986. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (= Werke, Bd. 3), hrsg. von Inka Mülder-Bach, unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Frankfurt am Main 2005. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Ders.: Schriften, Bd. 1. Weinheim/Berlin 1991, S. 61 – 70. Marks, Laura U.: The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment, and the Senses. Durham/London 2000. – Touch. Sensuous Theory and Multisensory Media. Minneapolis 2002. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel 1995. Münsterberg, Hugo: The Photoplay. A Psychological Study. New York/London 1916. Powell, Anna: Deleuze and Horror Film. Edinburgh 2005. RanciÀre, Jacques: Film Fables. New York 2006. Riesen, Austin H. (Hrsg.): The Developmental Neuropsychology of Sensory Deprivation. New York/San Francisco/London 1975. Rodowick, David N.: Gilles Deleuze’s Time Machine. Durham/London 1997. Shaviro, Steven: The Cinematic Body. Minneapolis/London 1993. Strauven, Wanda (Hrsg.): The Cinema of Attractions Reloaded. Amsterdam 2006. Theweleit, Klaus: Männerphantasien. 2. Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Reinbek bei Hamburg 1980. Virilio, Paul: Die Sehmaschine. Berlin 1989. Zubek, John P. (Hrsg.): Sensory Deprivation: Fifteen Years of Research. New York/Appleton 1969.

Volker Woltersdorff

Folter als erotisches Faszinosum. Über sadomasochistische Inszenierungen von Folterphantasien

1.

Folter als öffentliche Phantasie

»Wer das Kunstspiel mit Peitsche und Folter treibt, hat zur Wirklichkeit der Tortur zu schweigen« (Am¦ry, 1994, S. 70). So urteilte Jean Am¦ry, der selbst von der SS gefoltert worden war, 1971 in einer Kritik der Filme Alain RobbeGrillets. Aus genau diesem Grunde möchte ich mich im Folgenden geflissentlich bemühen, nicht von der Folter, sondern von Folterphantasien, genauer noch: von sadomasochistischen Folterphantasien und deren Ausagieren zu reden. Es wird sich jedoch herausstellen, dass die Fiktion von Folter und die Folter der Fiktion doch nicht so einfach voneinander zu trennen sind. Ebenso wenig sind Folterphantasien von historischen und gegenwärtigen Folterpraktiken losgelöst. Sie lasten als unmittelbare oder mittelbare Traumatisierung im kollektiven Unbewussten. Denn als Menschenrechtsverletzung beschädigt die Folter nicht nur die Gefolterten, sondern die ganze Gesellschaft und sie bewahrt ihre Latenz in der verschwiegenen oder vergessenen Geschichte. Folter richtet sich nicht nur gegen ein einzelnes Individuum, sondern auch immer zugleich gegen eine größere Gruppe von Menschen, für die anhand dieses Individuums ein Exempel statuiert werden soll. Beängstigende Folterphantasien sind daher das erwünschte Produkt einer auch in westlichen Gesellschaften latenten Androhung von Folter. Als eine solche Drohung schien sie ebenfalls in den Köpfen von Ausbildern der Bundeswehr herumzuspuken, die ihre Rekruten in Coesfeld auf mutmaßliche Foltersituationen durch Kriegsgegner vorbereiten wollten. Jan Philipp Reemtsma (1991, S. 34 f.) behauptet deshalb, dass die Folter als angedrohter Ausnahmezustand sogar den Rechtsstaat begleite.

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2.

Volker Woltersdorff

Folter und Sexualität

Die mediale Streuung und leichte Zugänglichkeit von Folterbildern und Folternarrationen, seien sie real oder fiktiv, hat spätestens mit dem Internet explosionsartig zugenommen und schürt diese Phantasien beständig an. Bereits Anfang der 1990er Jahre urteilte ein soziologisches Forschungsteam unter der Leitung von Thomas Wetzstein vor diesem Hintergrund zum Verhältnis von Medien, Sexualität und Gewalt: »[…] unsere Gesellschaft [steht] vor dem Widerspruch, daß Gewalt einerseits immer stärker ›moralisch‹ tabuisiert, ihre Darstellung aber durch die Medien immer umfassender ›visuell‹ enttabuisiert wird (weil diese die Aufmerksamkeitsprämie nutzen, die gerade skandalisierte Gewalt für die Berichterstattung liefert). Gerade was moralisch geächtet wird, wird auf dem Bildschirm zum Objekt der Schaulust« (Wetzstein et al., 1993, S. 297).

Diese Anordnung stellt ein pornografisches Dispositiv her, das Gewalt und Schaulust, aber auch Schauzwang verknüpft (vgl. Hentschel, 2001). Wir müssten lügen, wenn wir sagten, dass uns diese Bilder und Berichte kalt ließen, und wir müssten lügen, wenn wir sagten, dass wir nicht auch mit unserer Sexualität darauf reagieren. Der Widerspruch aus moralischer Verurteilung und medialer Schau- und Zeigelust produziert dabei einen schizophrenen double bind. Dem tremendum der Folter bleibt das fascinans der Folter beigeordnet. Diese Dialektik der Affekte ließe sich als die offizielle und die obszöne Seite der herrschenden Machtverhältnisse bezeichnen (zum »obszönen Supplement der Macht« vgl. Zˇizˇek, 1999). Albrecht Koschorke hat darauf hingewiesen, wie sehr aktuelle Kriegsberichterstattung die pornografische Produktion unterfüttert: »Im Internet pflanzen sie [die Bilder] sich durch Weblinks quer über die Schwelle zwischen Information und Entertainment, kriegskritischen Weblogs und Kommerz fort und verlieren sich bald in einem rhizomatischen Dickicht von pornographischen Gewaltphantasien. Es sind nur ein paar Mausklicks von der Gefangenenpyramide [in Abu Ghraib] zu Websites wie sexinwar.com oder rape_iraq_pictures, wo im Angebot angeblich authentischer ›rape videos‹ auch die Vergewaltigung von Irakerinnen durch US-Soldaten gelistet ist, wohinter sich allerdings für den voyeuristischen Surfer kostenpflichtige Schulmädchenpornos und dergleichen verbergen« (Koschorke, 2007, S. 187 f.).

Dass Folterbilder- und Narrationen sexualisiert werden, liegt aber nicht zuletzt daran, dass Folterungen selbst immer schon sexualisiert sind. Zum einen sind die Folternden oft sexuell erregt, zum anderen setzen sie Sexualität als Waffe gegen ihre Opfer ein. Die erzwungene Intimität und regressive Ohnmacht der Foltersituation entfacht beim Opfer schließlich einen paradoxen Wunsch nach körperlicher Zuwendung durch den Aggressor, der zugleich ein Wunsch nach

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Unterwerfung und Selbstaufgabe ist.1 So resümiert Klaus Mladek den Zusammenhang von Folter und Scham: »Der Verhörende wird zum Über-Ich, einer väterlichen Figur, die Übertragungen – ambivalente Regungen von Liebe und Hass – im Verhörten auslöst, ihn bestraft oder belohnt und dabei die Logik des Schamgefühls nutzt, um den Verdächtigen geständig zu machen« (Mladek, 2010, S. 253).

Es wäre deshalb meiner Meinung nach falsch zu behaupten, dass die Politisierung und Sexualisierung von Folter einander ausschließen, wie dies etwa Sven Kramer (2010) tut, der deshalb fordert, das Lusterleben auszublenden. Vielmehr möchte ich im Folgenden die Sexualisierung von Folterphantasien politisch diskutieren.

3.

Sadomasochismus und Folter

In seiner vielbeachteten filmischen Interpretation von de Sades Die 120 Tage von Sodom hat Pier Paolo Pasolini eine Beziehung von sadomasochistischer Sexualität, Faschismus und Folter hergestellt, indem er die Sade’sche Erzählung zur Zeit von Mussolinis faschistischer Repubblica Sociale di Salý ansiedelte (Salò o le 120 giornate di Sodoma I/F 1975). Er beteiligte sich damit an einem in den Siebzigerjahren einflussreichen Diskurs, der im Faschismus die politische Entsprechung sadomasochistischer Sexualität vermutete (vgl. Stiglegger, 1999). Dieser Diskurs hat die Diskussion um das Verhältnis von Sadomasochismus und Folter bis heute stark geprägt.2 Doch was ist hier mit Sadomasochismus genau gemeint? Die Begriffsverwendung ist meistens sehr diffus und kann unterschiedlichste Phänomene vom Lustmord bis zum moralischen Rigorismus umfassen. Im Folgenden möchte ich mir deshalb einzig und allein die heutigen sadomasochistischen Subkulturen westlicher Gesellschaften ansehen und überprüfen, ob und wie die dort im privaten und halböffentlichen Rahmen einvernehmlich praktizierten sexuellen Handlungsstile auf Folter Bezug nehmen. Ich spreche deshalb auch vorzugsweise von SM und BDSM und verwende damit die von Szene-Angehörigen zur Selbstbeschreibung herangezogenen Begriffe.3 Um mehr über die Innenperspektive der Akteure und Ak1 So analysiert Jan Philipp Reemtsma: »Bei dem Wunsch nach körperlicher Berührung aber ist die Grenze zur Unterwerfung überschritten. Das Machtverhältnis ist eindeutig – keine Machtverteilung, sondern ein krasses Nebeneinander von Allmacht und Ohnmacht, und der Ohnmächtige, der ›Übermächtigte‹, wünscht die körperliche Zuwendung des Machthabers« (Reemtsma, 1997, S. 178). 2 So hat Susan Sontag in ihrer Beschäftigung mit dem Folterskandal von Abu Ghraib noch 2004 auf Pasolinis Salý verwiesen. 3 BDSM ist wie SM ein Akronym und steht für die englischen Begriffe bondage & discipline,

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teurinnen zu erfahren, habe ich empirisches Material erhoben und neben teilnehmenden Beobachtungen zwanzig Gruppendiskussionen (nach Loos/ Schäffer, 2001) mit selbstidentifizierten SM-Praktizierenden in Deutschland, Österreich und Frankreich geführt.4 Solange Einvernehmlichkeit herrscht, handelt es sich mit Sicherheit nicht um Folter. Sie gilt als Voraussetzung für die Teilnahme an der SM-Szene. Diese Verhaltensnorm ist unter den Schlagworten »safe, sane, consensual« kodifiziert.5 Wo auf der einen Seite Zwang und Ohnmacht herrschen, gelten auf der anderen Seite also Freiwilligkeit und Kontrolle. Vor diesem Hintergrund kann, wenn man Elaine Scarrys Definition für Folter aus The Body in Pain (1985) anlegt, SM ebenso wenig als Folter gelten wie die Zufügung von »therapeutischen Schmerzen«, die Scarry ausdrücklich heranzieht, um diese von der Folter abzugrenzen (vgl. Weiss, 2009, S. 182). Wie auf den therapeutischen Schmerz treffen auf den Lustschmerz nämlich die Kriterien von zeitlicher Überschaubarkeit, Kontrollierbarkeit und Zweckhaftigkeit im Unterschied zur Unbegrenztheit, Ohnmacht und brutalen Sinnlosigkeit der Folter zu. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht verwunderlich, dass, wenn in den Diskussionen das Thema Folter auftaucht, diese in den meisten Fällen einen Gegensatz zu SMSexualität markiert, wie etwa das folgende Zitat aus einer Gruppendiskussion belegt: »Ich bin, wenn man es so kategorisieren will, eher der Straftyp als der Typ, der mal mit Schmerz experimentieren will. […] Also ich finde, solche Szenen, wo man [die Schläge] z. B. laut abzählen muss oder wo das dann sehr genossen wird und relativ gleichmäßig und abzählbar, das find ich gut. Also das hat vielleicht auch viel mit Kontrolle zu tun. So genau zu wissen: Das ist das Maß und so viel erwartet einen, und es gibt Pausen, wo man schön zählt in Ruhe und mal durchatmen kann. Während einfach so, ich sag mal, so’n unerwartetes Prasseln auch von harmlosen Sachen, das ist für mich auch so’n bisschen, klingt vielleicht jetzt blöd, aber so’ne Abgrenzung von Folter und Strafe. Also wenn ich zum Beispiel jetzt solchen Prasselschmerzen ausgesetzt würde, das ist für dominance & submission sowie sado-masochism und verdankt sich vor allem dem Bemühen, die sehr unterschiedlichen Spielarten der Szene, die sich vermischen können, aber nicht müssen, relativ breit abzubilden. 4 Die von mir gestellte Eingangsfrage der Gruppendiskussion lautete jedes Mal: »Was heißt für euch SM machen?« Danach unterhielt sich die Gruppe zwischen einer und zwei Stunden relativ frei ohne weitere nennenswerte Interventionen meinerseits. 5 Dieser Slogan wurde 1983 durch den Aktivisten david stein geprägt, um die Grundprinzipien der SM-Subkultur zu umreißen (vgl. www.nla-okc.com/Files/SSC.pdf, zuletzt eingesehen am 1. 9. 2011). SSC wurde später von Gary Switch in RACK (»risk-aware consensual kink«) modifiziert, um den umstrittenen und schwer zu definierenden Gesundheitsbegriff sowie die trügerische Vorstellung absoluter Sicherheit durch ein Konzept verantworteter Risikobereitschaft zu ersetzen. (vgl. http://www.leathernroses.com/generalbdsm/garyswitchrack.htm, zuletzt eingesehen am 1. 9. 2011). SSC ist dadurch allerdings nicht ersetzt worden und behält für viele Szene-Mitglieder Gültigkeit.

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mich so Folter, das hat so kein Ende, es ist nicht schlimm, aber es zermürbt. Und diese 20 mit der Peitsche, wo ich weiß, nach 20, dann hört der auch wirklich auf, das war die vereinbarte Strafe oder die verdiente Strafe, wie auch immer, und dann ist gut.«

Obwohl Folter also eher als Negativfolie fungiert, wird sie dennoch durch SMSexualität als Phantasie fortwährend aufgerufen und produziert ein paradoxes Nebeneinander aus Hoffnungen und Ängsten, wie in dem folgenden Diskussionsverlauf deutlich wird: Franz: »Der ist wirklich mit den ärgsten Hoffnungen hingekommen, aber es ist überhaupt nichts passiert […]. Er hat gesagt: ›Zweimal war ich jetzt schon da, aber außer lieben Leuten ist überhaupt nichts geschehen!‹ (lacht) ›Mit allen kann man reden, und….‹« Elke: »Und der [Peter], der Wahnsinnsängste gehabt hat, dass er dort gefoltert wird, wenn er in [das SM-Clublokal] geht.«

4.

SM-Inszenierungen von Folterphantasien

Und dennoch spielen in vielen, wenn auch bei Weitem nicht in allen SM-Inszenierungen Vorstellungen von Folter auch als erotisches Stimulans eine wichtige Rolle. Begleitet werden diese Inszenierungen durch ausführliche Vorverhandlungen über die Rahmenbedingungen und Grenzen der zu inszenierenden Folterszene. Darüber hinaus gehören dazu Kommunikationstechniken, die es erlauben, über das Erlebte zu kommunizieren, ohne die angenommenen Rollen verlassen zu müssen. Dies soll sicherstellen, dass der Genuss aller Beteiligten zu jedem Zeitpunkt gewährleistet ist. Selbstverständlich gehört dazu außerdem ein sogenanntes Codewort, mit dem alle Handlungen abgebrochen und die Rollen verlassen werden können. All diese Techniken können in durch die Community eigens angebotenen Workshops erlernt werden. Es gibt außerdem eine umfangreiche Ratgeberliteratur zu diesem Thema (z. B. Wiseman, 1996; Davolt, 2003; Passig/Strübel, 2004). Verhöre, Entführungen und »peinliche Befragungen« sind in diesen Rahmen häufig inszenierte Spielszenen. Eine beliebte Projektionsfolie ist die mittelalterliche Inquisition. Da der SM-Regelkodex eine nachhaltige Schädigung der körperlichen und seelischen Integrität verbietet, wird häufig auf die Inszenierung von Praktiken zurückgegriffen, die gerade in Zeiten der Genfer Konvention und der Erklärung der Menschenrechte als schwer nachweisbare und angeblich harmlosere Formen von Gewalt entwickelt wurden, um diese Verbote zu umgehen. Margot Weiss (2009) hat im Rahmen ihrer ethnografischen Untersuchung der SM-Szene in der Gegend um San Francisco herausgefunden, dass Handbücher der US-amerikanischen Armee und des CIA für militärische und geheimdienstliche Verhöre als Skripte für die eigenen Inszenierungen heran-

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gezogen werden, wie das seit 1996 nicht mehr verwendete und nun öffentlich zugängliche »KUBARK«-Handbuch.6 Eine deutsche SM-Gruppe erzählte mir, sie habe sich zum gleichen Zweck mit Handbüchern der DDR-Staatssicherheit beschäftigt. Welche Analogien werden hier strategisch ausgereizt, und welche Unterschiede werden gemacht? Entgegen der ersten Annahme spielt auch in der realen Folter die Einfühlung des Folterers in sein Opfer eine große Rolle. Während jedoch der sadomasochistische Komplize sich mit der Lust seines Gegenübers verbündet, verwendet der Folterer sein Wissen über den anderen oder die andere, um diese zu zerstören. Untersuchungen haben gezeigt, welche genauen Kenntnisse der kulturell und individuell sehr spezifischen Sensibilitäten ausgebeutet wurden, um einen maximalen Effekt der Beschädigung von körperlicher und seelischer Integrität zu erzielen (Puar, 2005; Mirzoeff, 2006; Mladek, 2010). Daneben muss der Folterer zugleich bestimmte andere Techniken anwenden, um Einfühlung wiederum gerade nicht zuzulassen, sondern sich selbst gegen Empathie zu immunisieren. Eine weitere relative Analogie zwischen sadomasochistischer Aufführung und realer Folter besteht darin, dass beide mit Mitteln von Theatralität arbeiten und sich die Bedeutung der Einbildungskraft für das körperliche und seelische Erleben zunutze machen. Beide setzen Fiktionen strategisch ein. Doch das Fingieren hat jeweils sehr unterschiedliche Effekte. Während die Folter ein »totales Theater« produziert, erlaubt das SM-Spiel eine Distanznahme und einen ästhetisch-erotischen Genuss. Diese Brechung wird zum Beispiel in der französisch- und deutschsprachigen SM-Szene durch die verfremdende englische Bezeichnung als »torture« angezeigt, um sich von der realen Folter abzugrenzen. Oft wird der Begriff dann austauschbar mit play verwendet, z. B. als genital torture oder genital play, womit die Erregung der Genitalen durch das Zufügen von Schmerz gemeint ist. Worin besteht genau der Unterschied zwischen Folter und torture? Handelt es sich hier um eine ärgerliche Verharmlosung oder um den Versuch, sich Folterphantasien anzunähern und sich an ihnen abzuarbeiten?

5.

Folter, Phantasie und Fiktion

Das Verhältnis von Folter und Fiktion ist also komplex. Einerseits bedient sich die Folter der Fiktion, andererseits markiert sie jedoch zugleich eine Grenze des Fingierbaren. Elaine Scarry zufolge ist die Macht des Folterers nie mehr als eine 6 Vgl. http://www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB122/index.htm#kubark, zuletzt eingesehen am 1. 9. 2011.

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Fiktion (Scarry, 1985, S. 27 – 59). Es sei gerade die Strategie der Folter, die Empfindung von Schmerz in die Fiktion von Macht zu transformieren. Wenn auch das Zufügen von Schmerz, das Verängstigen, Verunsichern und Demütigen sehr reale Ausdrucksformen von Macht sind, so bleibt diese Macht dennoch stets prekär. Dies wird auch daran deutlich, dass gerade solche Regime foltern, deren gesamtgesellschaftliche Durchsetzungsmacht infrage steht (ebd., S. 309). Wenn Scarry die Macht des Folterers deshalb als bloße Fiktion interpretiert, so verstehe ich dies als einen performativen Akt der Verweigerung, dessen Macht anzuerkennen. Trotzdem habe ich angesichts von Scarrys Deutung der Macht der Täter/ innen als fiktiv immer ein gewisses Unbehagen gespürt, vermutlich weil ich zwischen Macht und Herrschaft unterscheiden würde (Woltersdorff, 2011).7 Durch Analyse der Gruppendiskussionen von SM-Praktizierenden habe ich allerdings auch neue Einsichten gewonnen, die das komplexe Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit von Macht betreffen, wie aus der folgenden Passage hervorgeht, in der die Diskutantinnen den Realitätscharakter ihrer Erfahrungen erörtern: Linda: »Nee, das ist schon wirklich, aber ich weiß natürlich schon, dass das eine selbstgemachte Wirklichkeit ist. Wirklich wäre für mich, um es jetzt mal ganz deutlich zu sagen: Ich werde von irgendeinem Typen vergewaltigt. Das hat für mich dann nichts mehr mit Lust zu tun […]. Das meinte ich mit Realität, das hat für mich dann auch gar nichts mehr mit Lust zu tun, oder der Gedanke daran. Das ist nicht das, was ich suche. Deswegen weiß ich natürlich, dass das alles im SM-Rahmen oder auf einer Playparty eine stilisierte Wirklichkeit ist, wo dann aber das, was zwischen den beiden Menschen passiert absolut echt ist. Aber der Rahmen ist ja…« Karin: »Da ist eine abgesicherte Realität.« Linda: »Abgesichert, ja, nicht stilisiert, abgesichert!« Karin: »Es ist ja wirklich.« Linda: »Das ist total wirklich!« Karin: »Es ist eine Ebene, wie du das gerade noch mal sagtest… diese Trennung wichtig zu machen… Es ist ja echt, es ist ja Realität.« Linda: »Ja, aber ich weiß zum Beispiel, dass du mir nicht wirklich etwas tun würdest!«

Zum einen bedeutet Schmerz sowohl im SM als auch in der Folter eine »incontestable reality« (Scarry, 1985, S. 27), zum anderen soll diese Evidenz als Beweis von Macht gelten. Während im SM die von Scarry betonte Fiktionalität von Macht allen bewusst und die Grundlage gemeinsamen Handelns ist, soll in

7 So unterscheidet Max Weber zwischen auf Gewalt beruhender Macht und auf Legitimität und Gehorsam beruhender Herrschaft (Weber, 1972, S. 28 f.). Die Folter selbst kann damit niemals eine Form der Herrschaft sein, da sie nie aus freiwilliger Unterwerfung herrührt, sehr wohl aber eine Form der Macht.

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der Folter diese Fiktion gerade vergessen werden. Die SM-Fiktion der Folter markiert somit eine klare Grenze zum totalen Theater der Folter der Fiktion.

6.

Zirkulierende Phantasien

Was geschieht aber, wenn reale Kriegsfolter sich die Techniken von Konsensherstellung und Selbstgenuss der SM-Szene aneignet und für ihre Zwecke als ein Instrument der Folter einsetzt, wie es bei den Fotografien von Abu Ghraib der Fall war? Zum einen setzten die Täter/innen Zwangsmasturbation ein, zum anderen wurde den Gefangenen unterstellt, sich freiwillig und lustvoll dem Willen der Wärter/innen zu unterwerfen (vgl. Koschorke, 2007). So wurde seitens der Täter/innen wiederholt eine konsensuelle erotische Komplizenschaft zwischen Folternden und Gefolterten fingiert und damit auf sadomasochistische Praktiken Bezug genommen (Hersh, 2004). Wie auch in anderen Foltersituationen wurde dadurch eine Mittäterschaft der Opfer suggeriert, die als zusätzliche Demütigung fungierte. In diesem Zusammenhang sollte allerdings unbedingt erwähnt werden, dass nur ein kleiner Teil der Folterungen in Abu Ghraib solche Analogien zeigte. Dies belegt der ausführliche Bericht der Untersuchungskommission. Mit der Kamera aufgenommen wurden aber vor allem solche Folterungen, bei denen die Beschämung des anderen im Mittelpunkt stand und die Kamera als ein weiteres Instrument der Beschämung genutzt werden konnte (Butler, 2009, S. 81 – 92). Diese Bilder stießen im weiteren Verlauf des Skandals auf eine stärkere Resonanz als die schriftlichen Berichte über teilweise sehr viel brutalere und tödliche Folterungen.8 Genauso wenig wurden die Bilder der gefolterten Frauen veröffentlicht, die sich ebenfalls in Abu Ghraib befanden (Harding, 2004; zit. nach: Puar, 2005, S. 26). Zweifellos haben jedoch die Sexualisierung einiger Folterungen im Bagdader Gefängnis Abu Ghraib und ihre Anähnelung an Praktiken der sadomasochistischen Szene ins öffentliche Bewusstsein gerufen, wie sehr sexuelle Folterphantasien und -narrationen im kollektiven Imaginären des Westens zirkulieren oder auch Teil westlicher Initiationsriten sind (vgl. Zˇizˇek, 2004). Zugleich wurde daran der unterschiedliche Gebrauch dieser Phantasien deutlich. Die meisten Kommentatoren und Kommentatorinnen haben allerdings diese Unterschiedlichkeit nicht gesehen und stattdessen auf die Parallelen verwiesen (vgl. Weiss, 2009, S. 181). Ein häufig in den Medien zu hörendes Urteil besagte daher auch, dass die Folterungen einer sadistischen Lust entsprangen, die an den Praktiken der 8 Vgl. http://www.aclu.org/accountability/released.html, zuletzt eingesehen am 30. 8. 2011.

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BDSM-Szene geschult war. So wurde Lynndie England wiederholt als »Domina« bezeichnet. Die elaborierteste und prominenteste Vertreterin dieser Position war Susan Sontag, die in ihrem Artikel Regarding the Torture of Others in der New York Times vom 23. 5. 2004 behauptete: »But most of the pictures seem part of a larger confluence of torture and pornography : a young woman leading a naked man around on a leash is classic dominatrix imagery. And you wonder how much of the sexual tortures inflicted on the inmates of Abu Ghraib was inspired by the vast repertory of pornographic imagery available on the Internet – and which ordinary people, by sending out Webcasts of themselves, try to emulate« (Sontag, 2004).

Auch wenn einiges daran zutreffen mag, unterschlägt dieses Urteil dennoch den völlig anderen Kontext, in dem sich diese Handlungen abspielen. Darüber hinaus tendiert dieses Urteil dazu, die Taten einigen wenigen schlechten Individuen zuzuschieben, die unter dem Einfluss marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen stehen, und entlastet damit die gesellschaftliche Mitte. Eine ähnliche Position bezog konsequenterweise auch das US-amerikanische Militär, um von der institutionellen Verankerung und Billigung von Folter abzulenken. Die Praktiken waren aber nicht nur die Folge eines pornografisch vorgeprägten kolonialen westlichen Blicks, sondern ebenso sehr das Ergebnis von Handbüchern und Direktiven der psychologischen Kriegsführung und der sogenannten »weißen Folter«. Margot Weiss erkennt deshalb in ihrem Vergleich zwischen SM-Inszenierungen von Folter und den Folterungen von Abu Ghraib eine Dialektik aus Politisierung durch spielerische Sexualisierung einerseits und Entpolitisierung durch Pathologisierung andererseits: »SM can push through ›just play‹/fantasy to make an intervention into the social world, while the Abu Ghraib photographs close off a social or political response to torture by instead adhering attention to a surface spectacle of individual pathology« (Weiss, 2009, S. 181).

7.

Folterfiktionen und Verhandlungen mit der Wirklichkeit

Ein Blick auf das sadomasochistische Ausagieren und Bearbeiten von Folterphantasien gibt daher meines Erachtens nicht nur darüber Aufschluss, welche kollektiven Ängste und Wünsche in Bezug auf Folter im gesellschaftlichen Imaginären verankert sind, sondern eröffnet außerdem Möglichkeiten des Umgangs, diese Phantasien kritisch durchzuarbeiten. Ich möchte dies im Folgenden im Hinblick auf die Phantasie der Selbstzerstörung diskutieren. Alle Gruppen artikulieren ein sehr vorsichtiges Verhältnis

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dazu und sind sich der ethischen Dimension dieser Phantasie bewusst. Praktizierende sprechen in Bezug auf Vergewaltigungs- und Tötungsphantasien auch von ihren »Dämonen« (Woltersdorff, 2008, S. 102) oder ihren »monsters« (Bauer, 2008, S. 245), um ihr ambivalentes Verhältnis dazu abzubilden.9 So erzählt eine Diskussionsteilnehmerin: »Und ein Themenabend, der vorgeschlagen worden ist, der mich sehr abgeschreckt hat am Anfang – ich meine, er ist dann eh sehr gut geworden und so – war die Lust am Töten, die Lust am Sich-Opfern. Also das war irgendwie ein Thema, […] wo ich mir auch gedacht habe, das ist irgendwie zu heftig. […] also irgendwie habe ich mir gedacht: Wer weiß, wer da kommt? Im Endeffekt war es eh total nett, eine interessante Diskussion und so spannend.«

Die folgende längere Passage einer Gruppendiskussion reflektiert die eigene Affizierung und Affizierbarkeit durch Folternarrationen und verdeutlicht, wie Gewaltherrschaft, Medialität, Sexualität und Subjektivität zusammenspielen. Anhand eines anderen, vielen sicherlich bekannten Folterskandals innerhalb der Wehrdienststrukturen des russischen Militärs, in dessen Verlauf dem Opfer beide Beine und der Penis amputiert werden mussten, diskutiert die Gruppe mögliche subjektive Reaktionen. Rudolf: »Zum Krüppel gefoltert…« Peter : »Das war, das wird eher tabuisiert, dass es diese Initiationsriten gibt, in der Armee. Und das war so’n heftiger Fall, dass der an die Öffentlichkeit geraten ist. Das wollten sie zuerst vertuschen, aber das ließ sich dann doch nicht machen. Ja, und trotzdem hat das ja auch was Faszinierendes, wenn man so was liest, oder?« Rudolf: »Nee.« Jochen: »Ja, es ist was, was einem durch und durch geht, ja. Das löst mich völlig auf.« Rudolf: »Aber nicht im positiven Sinne faszinierend. Das heißt jetzt für mich, das kann ich nicht erotisieren im Kopf.« Peter : »[…] Das ist schon… Erstens lese ich solche Nachrichten. Es gibt ja viele im vermischten Teil. Und ich lese sie mit einer bestimmten Lüsternheit. Ich weiß das schon. Das hat auch was Irritierendes und das hat auch was Auflösendes, und vielleicht such ich ja gerade das darin.«

Die Lust an Folterphantasien wird also als eine Lust an der Selbstauflösung beschrieben, die sowohl bedrohlich als auch faszinierend ist. Ich möchte vorschlagen, diese Lust auch als eine Lust an der Verunsicherung des imperialen Projektes des weißen Subjekts zu verstehen, dessen sexuelle Dimension Ann 9 Es gibt ein eigenes pornografisches genre der Folter- und Tötungsfiktionen, sogenannten snuff. Literarisch gewendet tauchen sie beispielsweise in den Erzählungen von Dennis Cooper (1994), Christoph Geiser (1992) und Brane Mozeticˇ (2004) auf. Alle diese Texte thematisieren wiederholt den Status literarischer Fiktion, so dass die Phantasien als Phantasien erkennbar bleiben.

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McClintock (1995) in ihrem Buch Imperial Leather herausgearbeitet hat.10 Die Lust an der Phantasie der Selbstauslöschung stellt dann eine Gegenintervention dazu dar, die sich mit dieser sexuellen Anrufung disidentifiziert. Doch letzten Endes artikuliert SM ein paradoxes Verhältnis zur liberalen und imperialen Vorstellung des konsensfähigen autonomen Subjekts, indem es diese einerseits bekräftigt und andererseits untergräbt.11 Das folgende Zitat artikuliert nämlich die genau entgegengesetzte Phantasie einer Selbstermächtigung und homöopathischen Selbstimmunisierung gegen polizeiliche Übergriffe. Dem Sprecher gelingt dies, indem er sich Letztere als spielerische sexuelle Phantasie aneignet: »Am Tag, als ich verstanden habe, dass ich das Recht dazu hatte und es supergeil finden konnte, eine Phantasie zu haben, mich als Anarchisten von einer Horde riot cops nacheinander vergewaltigen und mir die Fresse polieren zu lassen, das auf einmal sexualisieren zu können, […] machte mich viel stärker als die Polizei. Die Macht besteht zwar nur in der Phantasie, aber allein das Recht zu haben, sich seinen Phantasien von Vergewaltigung, Gefängnis oder von etwas, wogegen ich im Alltag eher ankämpfen würde, hinzugeben – die Tatsache, dass ich das spielen konnte, hat mir eine gewisse Macht und politische Distanziertheit gegeben, die mich unbesiegbar machte, unbesiegbar in einem symbolischen Sinn zwar, aber immerhin«.

Ich möchte daher die abschließende These aufstellen, dass sadomasochistische Inszenierungen von Folterphantasien eine gemeinschaftliche, kritisch-praktische Erforschung der intimen Bindekräfte sind, die über Gewalt und Herrschaft gestiftet werden. Zugleich suchen diese Inszenierungen nach Auswegen, mit diesen Phantasien verantwortlich umzugehen, ohne sie kategorisch abzuwehren, und entwickeln widerständige Praxen, sich diesen Bindekräften zu entziehen oder sie umzuarbeiten. Der Schriftsteller Hubert Fichte befasste sich in seinem Werk ausführlich mit diesem Zusammenhang, und er soll mir hier als Gewährsmann zur Veranschaulichung dieser These dienen (vgl. Woltersdorff, 2007). Fichte verstand sich in der Tradition der besonders in Frankreich ausgeprägten sogenannten »schwarzen Aufklärung«. Als deren prominentester Vertreter gilt der Marquis de Sade, dem Fichte einen eigenen Band seines Romanzyklus Geschichte der 10 Jasbir Puar vertritt die Ansicht, dass auch die Folterungen in Abu Ghraib im Zusammenhang mit jenem imperialen Pojekt einer zivilisierenden Mission stehen: »That is to say, this scandal, rather than being cast as exceptional, needs to be contextualized within a range of practices and discourses, perhaps ones less obvious than the Iraqi prisoner abuse, that pivotally links sexuality to the deployment and expansion of U.S. nationalism, patriotism, and, increasingly, empire« (Puar, 2005, S. 34; vgl. auch Butler, 2009, S. 125 – 130). 11 »SM both reveals and rejects the autonomous subject that grounds liberal claims to consent. In part, this is because SM is simultaneously obedient to, by drawing on, and subversive of, by exaggerating and performing, conventions of power« (Weiss, 2009, S. 194).

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Volker Woltersdorff

Empfindlichkeit widmen wollte.12 In seinen Reportagen und Romanen über die schwule SM-Szene der 1970er, aber auch in einem Interview mit dem Schriftsteller Jean Genet stellte er immer wieder die bohrende Frage: »Würdest du foltern?«13 »Wie erklären Sie es sich«, fragte er Jean Genet, »daß wir so gerne von Morden, Foltern lesen und schreiben und daß wir im alltäglichen Leben so große Hemmungen haben, den Körper, die Integrität eines anderen zu verletzen?« (Fichte, 1981, S. 59).14 Nach Ansicht Fichtes kommt dem sadomasochistischen »Theater der Grausamkeit« hier eine kathartische Funktion zu.15 In seinem Roman Hotel Garni spitzte Fichte diese Überlegung auf die Theorie einer Dialektik von individueller Lasterhaftigkeit einerseits und staatlicher Züchtigkeit andererseits zu. Er gab ihr jedoch eine pessimistische Wendung: »Ich meinte, die Gesellschaft könne nur funktionieren, wenn jeder seinen Himmler im Schlafzimmer spielen dürfe, seinen Sade, seinen Genet, Blut und Boden, Schweineopfer, Gegenaufklärung – der Staat aber, Grundgesetz, Gandhi, reiner Lessing. Ich weiß, praktisch geht es umgekehrt« (Fichte, 1987, S. 61).

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12 Die Stichworte für den geplanten Band Victoria Square/Der blutige Mann lauteten: »Einweihung, Löwenmann, Bibel, Sadismus (Geschichte der Grausamkeit), Propheten des Untergangs, TV, Comics, Strafe, Folter, Christentum, Dionysos, Urin« (aus dem Nachlass zit. nach Schoeller, 2005, S. 213). 13 Anthropologisch formuliert, lautet diese Frage an anderer Stelle: »Warum quält ein Mensch einen anderen?« (im Interview mit Zimmer, 1985, S. 121). 14 Im von Fichte selbst transkribierten französischen Original heißt es: »Avez-vous une id¦e, comment cela se fait-il que nous adorions lire des choses cruelles, des assassinats, des tortures, que nous adorions d¦crire des assassinats, des tortures, et que, dans la vie quotidienne, nous ayons une h¦sitation extrÞme envers autrui, envers le corps d’autrui, l’int¦grit¦ d’autrui ?« (Fichte, 1981, S. 58). 15 In seinem Gespräch mit dem Schriftsteller und Sadomasochisten Hans Eppendorfer spricht Fichte daher auch von einer »theatralischen Therapie« (Eppendorfer/Fichte, 1980, S. 199).

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Volker Woltersdorff

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Jon McKenzie

Abu Ghraib und die Gesellschaft des Spektakels der Martern1

1.

Zwei Anachronismen der Performance-Gesellschaft

Der Skandal, der als »Abu Ghraib« bekannt ist, verdeutlicht zwei politische Anachronismen, mit denen sich vielleicht sehr gut das bestimmen lassen kann, was ich die Performance-Gesellschaft (performance stratum) nenne: eine globale Formation von Macht/Wissen, die zur Zeit die von Foucault analysierte Disziplinargesellschaft zu ersetzen versucht (McKenzie, 2001).2 Der eine Anachronismus, das Wiederauftauchen souveräner Macht, umfasst die Zweckdienlichkeit diskursiver Akte, egal ob sie gesprochen oder geschrieben sind. Der zweite Anachronismus, das Wiederauftauchen des Spektakels der Martern, umfasst die Wirksamkeit des Spektakels, der Theatralität und allgemeiner, der verkörperten Performanz. Ich werde kurz den ersten Anachronismus mit Bezug auf eine berüchtigte Serie der Folter-Memos (torture memos), der Memoranden der US-amerikanischen Regierung zur Anwendung von Folter, umreißen, um mich dann dem Hauptthema dieses Textes zu widmen, der Analyse des Theaters der Folter, aufgeführt im Gefängnis von Abu Ghraib. Eben dieses Schauspiel kann als ein zeitgenössisches Spektakel der Martern3 verstanden werden. Der erste, eher diskursive Anachronismus beinhaltet das Wiedererscheinen souveräner Macht, womit ich die Macht der souveränen Entscheidung über Leben und Tod meine, kurz gesagt, die Macht zu töten. Im Gegensatz zur universellen, 1 Der Text erschien zuerst unter dem Titel: Abu Ghraib and the Society of the Spectacle of the Scaffold. In: Anderson, Patrick und Jisha Menon (Hrsgg.): Violence Performed, Local Roots and Global Routes of Conflict. New Hampshire, 2008, S. 338 – 356. 2 Vgl. McKenzie, Jon: Perform or Else, vor allem Teil 2. 3 In der deutschen Übersetzung von Michel Foucaults Surveiller et punir. Naissance de la prison (1975) wird Spectacle of the Scaffold/ L’¦clat des supplices mit Fest der Martern (2008, Kapitel 2, S. 44 ff.) wiedergegeben. Im Folgenden wird »spectacle of the scaffold« jedoch mit »Spektakel der Martern« bzw. »society of the spectacle of the scaffold« mit »Gesellschaft des Spektakels der Martern« übersetzt, da der Autor explizit auf Guy Debord, Society of the Spectacle sowie Michel Foucault, Discipline and Punish (1977), verweist. Scaffold wird mit dem ›anachronistischen‹ Ausdruck Marter übersetzt, torture mit Folter.

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Jon McKenzie

allumfassenden, unsichtbaren und fortlaufenden Wirkung der Disziplin beschrieb Foucault die souveräne Macht als etwas, das um einen einzigen souveränen Körper herum organisiert ist und sich durch hoch individualisierte, sichtbare und periodische Techniken ausdrückt. Ihre anachronistische Wiederkehr heute hingegen, lenkt diese Souveränität von Königen und ihren Ministern weg und überschreibt sie direkt dem Exekutivmanagement hoch effizienter Unternehmen. Im Unterschied zu der schwerfälligen Entscheidungsfindung in rational arbeitenden Bürokratien tauchen neue »kleine Souveräne« mit uneingeschränkter Macht und der Befugnis auf, Entscheidungen auf der Basis ihrer Zweckdienlichkeit zu treffen – hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit, ihrer Situationsbezogenheit, ihrer Praktikabilität, ja sogar ihrer »Rechtmäßigkeit«. In diesem Sinne erklärte die oberste Bush-Administration in einer Reihe kurzer Memoranden, die zwischen dem 25. Januar und dem 2. Februar 2002 verfasst wurden, dass die Kämpfer der Taliban und der al-Qaida nicht unter die Genfer Konventionen fielen. Im darauf folgenden August bot sie dann eine bisher beispiellose rechtliche Definition von Folter an, die so eng gefasst war, dass abgesehen vom Tod und dem Verlust körperlicher Organe fast jede Form von Schmerz und Leid im Namen des »Globalen Kriegs gegen den Terror« gerechtfertigt werden konnte.4 Solche offiziellen Mitteilungen schafften die (quasi-)legalen Rahmenbedingungen der Methoden und Prozeduren, die während der Haft, in Verhören und bei der Folterung von Gefangenen auf US-Militäranlagen in Bagram, Afghanistan; Guant‚namo, Kuba und schließlich Abu Ghraib; Irak (um nur die bekanntesten zu nennen) angewendet wurden. Diese Folter-Memos müssen jedoch in einem weiter gefassten politischen Rahmen platziert werden, den Rechtswissenschaftler/innen und Regierungsbeamte Unitary Executive nennen, eine kontroverse Verfassungstheorie, die die exekutive Macht (des Präsidenten der Vereinigten Staaten) erheblich ausweitet und die Möglichkeiten von Kontrolle und Gegengewicht durch andere Regierungszweige reduziert. Unitary Executive steht genau hierfür: Die exekutive Macht ist vereinheitlicht und kann von außen nicht geteilt oder eingeschränkt werden. Über offizielle Mitteilungen hinaus beinhaltet die Ausübung unitärer exekutiver Macht öffentliche und geheime Executive Order, Geheimstudien und Untersuchungsergebnisse, interpretative Erklärungsanhänge zur Gesetzgebung und sogar scheinbar alltägliche behördliche Verordnungen. Macht im Sinne der Theorie der Unitary Executive kann wie bei Agamben als »Ausnahmezustand« verstanden werden, in 4 Vgl. besonders die Notizen von Alberto Gonzales an Präsident Bush (Entscheidung Re: Anwendung der Genfer Konventionen an Kriegsgefangenen im Konflikt mit al-Qaida und der Taliban, 25. Januar 2000); George W. Bush (Über die humanitäre Hilfe für al-Qaida und die Taliban Häftlinge, 7. Februar 2002) und Jay S. Bybee an Alberto Gonzales (Verfahrensstandards für Verhöre gemäß 18 U.S.C. §§ 2340 – 2340a, 1. August 2002). Diese und andere Notizen können in Mark Danners Torture and Truth: America, Abu Ghraib, and the War on Terror. New York, 2004, einer Sammlung von Aufsätzen, Dokumenten und Fotos, eingesehen werden.

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dem souveräne Entscheidungen die Herrschaft des Gesetzes außer Kraft setzen, sogar und insbesondere bis zu dem Punkt, an dem die Ausnahme zur Regel wird. Judith Butler theoretisiert ausdrücklich die Souveränitätsmacht der Bush Regierung hinsichtlich diskursiver Performative: »Die Zukunft wird zu einer gesetzlosen Zukunft, aber dies keineswegs anarchisch. Vielmehr wird sie den Ermessensspielräumen einer Anzahl ernannter Souveräne anheimgestellt […] die außer der performativen Macht ihrer eigenen Entscheidungen nichts und niemandem verpflichtet sind« (2004, S. 65/2005, S. 84).

Ferner argumentiert sie, dass die Souveränitätsmacht anachronistisch sei und über eine große Reichweite innerhalb der Bürokratie verfüge, wodurch Souveräne auf unterster Ebene erschaffen werden: »Es sind kleine Souveräne, die in einem gewissem Maße unwissend sind, was für eine Arbeit sie tun, die aber ihre Handlungen im Alleingang und mit enormer Konsequenz durchführen« (2004, S. 65/2005, S. 84). Ich würde argumentieren, dass man außerdem kleine, nichtstaatliche Entscheidungsträger berücksichtigen sollte, wie die Führungskräfte von Titan und CACI, zwei private militärische Auftragsnehmer, die derzeit von ehemaligen AbuGhraib-Häftlingen verklagt werden. Deshalb bevorzuge ich den Begriff »exekutive Performativität«5 gegenüber »souveräner Performativität«. In gewissem Sinne ist »exekutive Performativität« eine Erweiterung dessen, was ich an anderer Stelle als »hohe Führungseffizienz« (high performance management) analysiert habe, aber eine, die lang bestehende Traditionen geplanter, hochgradig rationalisierter bürokratischer Entscheidungsfindung aufhebt, sowie Gesetze, Verträge und fachgerechte Durchführungsvorschriften, ob staatlich oder nichtstaatlich, verletzt oder außer Kraft setzt. Exekutive Performativität stellt zeitgleich eine Dezentralisierung souveräner Macht sowie ihr Wiedererwachen in zeitgenössischen Organisationen dar. Nochmals, mein Schwerpunkt in diesem Text ist ein zweiter, eng damit verbundener Anachronismus, eine eher viszerale gesetzliche Verfügung, die Abu Ghraib verkörpert, aber keineswegs erschöpft. Neben den grauenvollen Szenen von Daniel Pearls Enthauptung und dem Erhängen Saddam Husseins, neben den weltweit ausgestrahlten Bombardierungen Bagdads, Balis, Beiruts, Londons, Manhattans, Tel Avivs und vieler anderer Städte, neben den unzähligen Internetseiten, die den Bildern von Kriegsmassakern, Hinrichtungen und anderen Formen politischer Gewalt gewidmet sind – beleben die Szenen aus Abu Ghraib die außerordentlich gewalttätige und drastische Form politischer Theatralität, die Foucault vor-disziplinären Gesellschaften zugeschrieben hat und die er »das Fest der Martern« (spectacle of the scaffold) genannt hat« (Foucault, 1977, S. 44 ff.). Si5 Anmerkung der Übersetz.: Der Begriff to perform umfasst im Amerikanischen ein viel weiteres Spektrum an Bedeutungen, das nur schwer durch die deutsche Übersetzung wiederzugeben ist, wie ausüben, leisten und ausführen.

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cherlich ist Panoptismus, die visuelle Herrschaft der aufgeklärten Humanwissenschaften, genau das, was die visuelle Herrschaft des Spektakels ersetzt, die mit der souveränen Macht verknüpft ist. Die Gefängniszelle ersetzt die Marter auf dem öffentlichen Platz als paradigmatischen Ort, an dem Macht und Körper aufeinandertreffen. Heute jedoch kann die Marter in Zellen stattfinden, auf Stadtstraßen, in einsamen Landschaften, nahezu überall: es ist das Spektakel, das sich gewandelt hat, sich von einem stark eingegrenzten Raum zeitlicher Kopräsenz zu global vermittelten Räumen und Zeiten verschoben hat – oder vielmehr werden alle verorteten Räume zeitlicher Kopräsenz zu potentiellen Knotenpunkten der Übertragung und des Empfangs in einem weltweiten elektronischen Netzwerk aus Kameras, Bildschirmen, Datenbanken, Rechnern und editing boards. Kurz gefasst, genauso wie sich die Souveränitätsmacht entwickelt hat und zu den mittleren und kleineren Funktionären durchgesickert ist, wurde das Spektakel der Marter (spectacle of the scaffold) vernetzt und verbildlicht: Satelliten, Fernsehtechnik, Überwachungskameras, Gesichts- und Gestenerkennungssoftware, Mobiltelefone, Blackberrys, iPods, YouTube, Google Maps, The Memory Hole – alle werden zu Mitteln, das Spektakel zu erfassen oder von dem Spektakel erfasst zu werden. Wenn man Foucault und Debord, zwei ungewöhnliche Verbündete, kombiniert, könnte man sagen, dass auf die Performance-Gesellschaft (performance-stratum), diesen zweiten Anachronismus, eine globale Gesellschaft des Spektakels der Martern hinweist – oder globale Gesellschaften des Spektakels der Martern, da man voraussehen kann, dass solche Spektakel nicht nur von Neo-Liberalen, Neo-Konservativen und Fundamentalisten eingesetzt werden, sondern sogar von denen, die diesen sozialen Gruppierungen gegenüberstehen. Man kann einwenden, dass Folter und Gewalt – und Bilder von Folter und Gewalt – bereits lange vorher existiert haben. Die Abu-Ghraib-Bilder wurden tatsächlich selbst im Sinne der amerikanischen Lynchfotos aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, der Drucke von Francisco de Goyas »Schrecken des Krieges« (1810 – 1820) und sogar antiker griechischer Skulpturen beschrieben (Eisenmann, 2007). Zwar finden sich historische Vorläufer und Analogien zu Abu Ghraib (z. B. Rassismus, Stümperhaftigkeit und Indexikalität der Lynchfotos, der Kontext des Krieges und des sozialen Umbruchs, der die Goya Drucke umgibt und die posierenden, fast schon skulptural arrangierten Figuren), was das zeitgenössische Spektakel der Martern jedoch von diesen unterscheidet, ist seine ausgedehnte soziotechnische Infrastruktur. Die technische Infrastruktur des Fernsehens und des Internets ist beides: einerseits global und häufig in Echtzeit und andererseits fast lokal und sogar intim. Die Bilder des Kapuzenmannes (hooded man) suchen die Flure von Abu Ghraib heim, aber auch das Zuhause von Menschen auf der ganzen Welt. Dieselben Mobiltelefone und Laptops, auf denen Wörter und Bilder geliebter Menschen gespeichert sind, übertragen auch schmerzgeplagte Hilfeschreie und Bilder von Bombardierungen und Massakern. Und nicht nur ein

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oder zwei Bilder oder vielleicht zehn oder zwanzig, sondern das Hundertfache, wenn nicht sogar das Tausendfache an Bildern. Letztendlich markiert diese globale technische Infrastruktur keinen glatten, absoluten Bruch zu einzelnen und allen historischen Vorläufern und Analogien; diese historischen Vorläufer und Analogien selbst werden durch Multimedia-Datenbanken und Hypertext Markup Sprache (html) tiefgreifend in die Gesellschaft des Spektakels der Martern eingebunden. Tatsächlich trägt diese Einbindung zu ihrer Anachronizität bei.

2.

Abu Ghraib und das totale Theater der Folter

Zusätzlich zu der allgemeinen, wenn nicht sogar universellen Infrastruktur der Fernsehtechnik und des Internets, die diese unterstützt, zeichnen sich die Handlungen und Bilder von Abu Ghraib durch eine noch weitaus spezifischere soziotechnische Infrastruktur aus. Über die neokonservativen Anhänger der Bush Regierung hinaus, die die oben diskutierten Folter-Memos angefertigt haben, war noch ein weiteres, länger bestehendes soziales Paradigma im Spiel, ein Paradigma, gleichermaßen kaltblütig theoretisch entwickelt wie rücksichtslos »angewendet«. Ich beziehe mich hier auf das Paradigma der psychologischen Folter, das während des Kalten Krieges von der CIA entwickelt wurde und von den USA und/oder Stellvertretern in Vietnam, Argentinien, auf den Philippinen und in anderen Ländern angewendet wurde. Hierbei handelt es sich um Foltertechniken, die entwickelt und international im Namen der Demokratie eingesetzt wurden – um die amerikanische Demokratie zu schützen, um Demokratien andernorts aufzubauen und/oder zu unterstützen und die Demokratie weltweit zu »sichern«. Bezeichnenderweise stellt der Historiker Alfred McCoy in seinem neuesten Buch über das psychologische Folterprogramm der CIA und dessen allumfassende Anwendung dieses als eine Form des Theaters dar: »In diesem Sinn stellt die psychische Folter eine Art umfassender Inszenierung [total theatre, Anmerkung d. Übersetz.] dar, eine konstruierte Unwirklichkeit aus Lügen und Verdrehungen nach einem Plot, der fast unweigerlich auf den Selbstverrat und die Zerstörung des Opfers hinausläuft. Um ihr Artefakt aus falschen Beschuldigungen, erfundenen Informationen und Scheinexekutionen überzeugend zu gestalten, werden die Verhörenden häufig zu begnadeten Schauspielern. Allein schon die Folterkammer zeichnet sich aus durch die Theatralik eines Bühnenbildes: mit besonderer Beleuchtung, Geräuscheffekten, Requisiten und Kulissen, die eine perverse Aura der Angst erzeugen« (McCoy, 2006, S. 10/2005, S. 16 f.).6 6 Hervorhebungen des Autors, Jon McKenzie. McCoy beschreibt die Entwicklung der CIA Methoden der psychologischen Folter in Kapitel 2 »Mind Control«: McCoy (2006). Anm. d. Übers.: Das Zitat ist der deutschen Übersetzung entnommen, die folgenden von McCoy sind übersetzte Zitate.

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McCoy benutzt Theatralität nicht als Metapher, sondern als stabiles analytisches Modell. Er ist nicht der erste, der so ein Modell einsetzt, um Folter und Gewalt zu analysieren. Diana Taylor argumentiert, dass die Ausführung von Folter in Argentinien den Körpern, die von der nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, brutal eine nationalistische Erzählung einschreibt. Erst vor kurzem hat der Soziologe Mark Juergensmeyer religiösen Terrorismus im Sinne des »Theaters des Terrors« und der Gewaltperformance analysiert. In diesen Analysen ist eine bestimmte Theatralität am Werke und auch ich werde dieses Konzept verwenden, um Phänomene zu theoretisieren, die weit entfernt sind vom eigentlichen Theater. Das Militär selbst nennt ihr Einsatzgebiet bezeichnenderweise »Theater«, eine Verwendung des Begriffs, der auf das 17. Jahrhundert zurückgeht (Jankovljevic, 1999, S. 5 – 13). Heutzutage, seit dem globalen Krieg gegen den Terror, ist die Welt eine verdammte und blutige (bloody) Bühne. Innerhalb dieses globalen Theaters gibt es das irakische Theater und innerhalb dessen findet die theatralische Performativität von Abu Ghraib statt. Sogar die eigene Einheit des Militärs zur Erforschung der Kriminalität (Criminal Investigation Division, CID) hat wiederholt den Begriff »inszeniertes Ereignis« verwendet, um auf die Geschehnisse von Abu Ghraib zu verweisen, auf denen Soldaten posierten oder Häftlinge gruppierten, um sie zur Schau zu stellen und/ oder zu fotografieren. Demzufolge ist es kein Zufall, dass Berichterstatter/innen die berüchtigten Abu Ghraib Fotos als »theatralisch« beschrieben haben: die Posen von Lynndie England; die Pyramide aus nackten Häftlingen, die maskierte Figur, die die elektrischen Kabel hält – diese ikonischen Bilder stellen Tableaus der Macht und der Erniedrigung dar. Die Performances erscheinen wie aus dem Drehbuch, einer Regie folgend und für ein Publikum aufgeführt – und tatsächlich waren sie es auch. Von wem und für wen? Man muss sich nur die Darsteller ansehen: spezifische Körper – Araber, Muslime und hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, männlich – missbraucht durch Amerikaner, sowohl männlich als auch weiblich, hauptsächlich weiße europäisch-amerikanische, aber auch afro-, latein- und arabisch-amerikanische, die die Befehle von Kommandanten und Offizieren ausführten. Und wir müssen auch fragen: Mit welchen Mitteln und Zielen wurden diese Körper gefoltert? Ich schlage vor, Theatralität als Methode zu benutzen, um die Praktiken der amerikanischen Foltermaschinerie zu analysieren. Berichterstatter/innen haben viele Deutungsansätze vorgeschlagen, um die Ereignisse und Bilder von Abu Ghraib zu verstehen: Trophäenfotos, die von Verbindungsstudenten geschossen wurden, Touristenschnappschüsse, die von hässlichen Amerikanern und Amerikanerinnen gemacht wurden, Pornobilder, die von sexbesessenen Wächtern und Wächterinnen aufgenommen wurden. Bedachter verortet Sontag diese Bilder teilweise im Sinne der Lynchfotos

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(Sontag, 2004, S. 24 – 42), während Zˇizˇek argumentiert, dass sie die Initiation von Irakern am untersten Ende der amerikanischen Kultur dokumentieren (Zˇizˇek, 2004, S. 19). Der Kunsthistoriker Stephen F. Eisenmann vertritt die Auffassung, dass die Fotos eine »Pathosformel« enthüllen, die häufig in klassischer westlicher Kunst wiederzufinden ist, in der gefolterte Individuen ihre eigene Misshandlung zu rechtfertigen scheinen (Eisenmann, 2007, S. 16). Während hier zweifellos mannigfaltige Rahmungen zutreffen, denke ich, dass das Wichtigste viel buchstäblicher zu sehen ist: Es sind die Arrest- und Verhörmaßnahmen, die auf Geheiß von Oberhauptmann Geoffrey Miller in Abu Ghraib eingerichtet wurden. Diese Maßnahmen sind genau das, was McCoy »totales Theater« nennt. Oberhauptmann Miller, zu der Zeit Kommandant in Guant‚namo, besichtigte Abu Ghraib im September 2003. Nach einem Sommer, in dem sich die Attacken von Rebellen stark zugespitzt hatten, strebte das Militär danach, den Aufständen mit besseren Geheimdienstinformationen entgegenzutreten. Miller traf in Abu Ghraib mit den Worten ein, »er werde den Internierungseinsatz guantanamoisieren (gitmoize)«.7 Nach seiner Besichtigung reichte der Oberhauptmann einen detaillierten Bericht ein, der genaue Empfehlungen enthielt. Diese beinhalteten den Einsatz eines behavioral science consultation team8, das sich aus Psychologinnen und Psychologen sowie Psychiaterinnen und Psychiatern zusammensetzte sowie die Angliederung von Informationstechnologien, insbesondere von Datenbanken. Die Ernennung und der Einsatz eines behavioral science consultation team – oder BSCT (biscuit ausgesprochen) – ist der am besten geeignete Punkt, sich der theatralen Performativität von Abu Ghraib zuzuwenden, da dies die Bühne bereitstellte, sowohl für die Szenerie und die Bilder als auch für die zeitliche Entfaltung von Ereignissen. Während die Szenen und die Bilder sowohl weitreichende gesellschaftliche als auch akademische Aufmerksamkeit erhalten haben, blieb ihr zeitliches und prozesshaftes Ausmaß weitestgehend unbemerkt. Unter der Oberfläche des Abu-Ghraib-Spektakels wurden eine Handlung, dramatische Entfaltung und sogar Persönlichkeiten entwickelt – oder vielmehr der Zerfall von Persönlichkeiten und Identitäten. Miller entwickelte und verbesserte BSCT Verhöre in Guant‚namo, gestützt auf jahrzehntelange Erforschung psychologischer Verhörmethoden der CIA und des Militärs. McCoy zeigt, dass diese Forschung ein radikal neues Folterparadigma hervorgebracht hat, eines, das sich auf perverse Weise auf die Institutionalisierung von Menschenrechten nach dem Krieg bezieht. Es ist eine Folter »ohne 7 Hervorhebung d. Autors, Brigardier General Janis L. Karpinski, zitiert in Wilson/Chan (2004). 8 Anm. d. Übers.: ein Beratungsteam von Verhaltenswissenschaftlerinnen und Verhaltenswissenschaftlern.

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Berührung«, eine Folter, die wenige sichtbare Verletzungen auf dem Körper hinterlässt, eben weil sie auf die Psyche abzielt – oder vielmehr, weil sie durch körperliche Empfindungen (Sinneseindrücke) auf die Psyche und Stressentwicklung abzielt, anstatt hauptsächlich den Körper durch Berührung, Verdrehen oder Einstiche zu attackieren. Irrtümlicherweise wird sie »leichte Folter« (torture light) genannt, obwohl ihre Auswirkungen viel zerstörerischer und langanhaltender sein können als die der körperlichen Folter. Es gibt eine starke Befangenheit gegenüber der Anerkennung von psychologischer Folter als Folter, nicht nur bei Leuten wie Rush Limbaugh, der über Muslime Scherze macht, die im »Club Gitmo« Urlaub machen, sondern auch bei vergangenen parlamentarischen Untersuchungen zu amerikanischen Folterprogrammen. Auch bei der Ratifizierung des Abkommens gegen Folter durch die Vereinigten Staaten wurden die im Folgenden von mir beschriebenen Methoden ausgespart. Deshalb ist es so wichtig, Abu Ghraib als psychologische Folter zu verstehen, und ich glaube, dass Theatralität einen entscheidenden Blickwinkel eröffnet, um zu analysieren, wie dieses Modell tatsächlich funktioniert, sowohl zeitlich als auch räumlich. Bis vor kurzem hat das Foltermodell der CIA aus zwei Hauptmethoden bestanden: sensorische Desorientierung, erreicht durch sensorische Deprivation und Überlastung sowie selbstzugefügte Schmerzen, durch Stresspositionen und psychologische Manipulation. McCoy liest eines der ikonischen Abu-GhraibBilder genau vor diesem Hintergrund: »Das berüchtigte Foto von einem vermummten Iraker auf einem Kasten, mit ausgestreckten Armen und Kabeln an den Händen, entblößt diese verborgene Methode. Die Kapuze dient der sensorischen Deprivation und die Arme sind ausgestreckt, um selbstzugefügten Schmerz zu erzeugen« (McCoy, 2006, S. 8).

Die Foltermodelle der CIA zielen auf die unmittelbare Selbstwahrnehmung und die Identität ab. Sensorische Desorientierungstechniken, einschließlich lange Stille- und Dunkelheitsperioden oder alternativ laute Musik und Stroboskoplicht, verfolgen die Absicht, Angst zu erzeugen sowie den Verlust von räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung als auch emotionale Krisen und Zusammenbrüche hervorzurufen. Techniken selbstzugefügter Schmerzen schließen lange Stehund Hockperioden ein sowie das Fesseln von Armen und Beinen in schmerzhaften Positionen und die Information, dass der Gefangene das Verhör beenden könne – indem er einfach die Wahrheit sage. Das Ziel ist hierbei, den Gefangenen dazu zu bringen, sich selbst die Schuld für sein Leiden zu geben. Ein Grund, warum für McCoy psychologische Folter das totale Theater darstellt, ist, dass sie auf alle Sinne abzielt: Kapuzen, geschwärzte Schutzbrillen und Stroboskoplicht zielen auf das Sehen ab, Ohrenschützer und laute Musik auf das Hören, Handschuhe und Fäustlinge auf den Tastsinn, Ernährungsumstellungen

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auf den Geschmack und Atemschutzmasken auf den Geruch. Auf einem 2002 veröffentlichten Foto aus Guant—namo können wir uns ein Bild von der Einsatzpraxis der sensorischen Desorientierung machen. Es zeigt eine Gruppe orange gekleideter Häftlinge, die in einem eingezäunten Gefängnis knien; sie tragen geschwärzte Schutzbrillen, Ohrenschützer, Wollhandschuhe und blaue Atemschutzmasken. Außerdem sehen wir selbstzugefügten Schmerz: Diese Häftlinge beten nicht, sie befinden sich in einer knienden Stressposition. Die Knöchel gekreuzt, den Rücken gebeugt, tragen sie Strickmützen in der karibischen Hitze, möglicherweise wurden sie gezwungen, jeweils für mehrere Stunden zu knien. Oberhauptmann Millers Foltertheater hat tatsächlich das psychologische Paradigma der CIA »perfektioniert«, indem zwei Methoden hinzugefügt wurden: der »Kulturschock« und die Ausnutzung individueller Verletzbarkeiten (Goodman/McCoy, 2006). Erstens der »Kulturschock«, der auf kulturelle Werte und Empfindlichkeiten abzielt. McCoy nennt dafür folgendes Beispiel: »Guant‚namos Führung begann, muslimische kulturelle und sexuelle Empfindlichkeiten durch den Einsatz von weiblichem Verhörpersonal auszutesten, um männliche Araber zu demütigen. […] Dem Unteroffizier zufolge, der unter Oberhauptmann Miller gedient hat, haben weibliche Vernehmungsbeamte regelmäßig ihre [eigenen] Oberteile ausgezogen und eine andere [beschmierte] das Gesicht eines Häftlings mit den Worten mit roter Tinte, sie menstruiere und ließ den Häftling ›wie ein heulendes Baby zurück‹« (McCoy, 2006, S. 129 f.).

Andere Techniken des Kulturschocks beinhalten die Rasur von Kopf und Bart und den Einsatz von Hunden zur Einschüchterung und Demütigung. Solche Methoden wurden nach Abu Ghraib importiert und angewendet, wie das weitverbreitete Bild zeigt, das im Oktober 2003 von Lynndie England aufgenommen wurde, auf dem sie einen Gefangenen mit dem Spitznamen »Gus« an der Leine führt. In der unbearbeiteten Version dieses Fotos schaut eine weitere Soldatin, Megan Ambuhl, dabei zu. Vergleichen wir diese Szene mit einem Verhörprotokoll aus Guant‚namo vom Dezember 2002 fast ein Jahr früher : »Haben angefangen den Gefangen Lektionen zu erteilen, wie bleib, komm her und bell, um ihren sozialen Status auf die Ebene eines Hundes emporzuheben« (McCoy, 2006, S. 127 f.). Der Guant‚namo-Insasse Mohammed al-Kahtani wurde ebenfalls angeleint und gezwungen in Gegenwart weiblicher Soldaten nackt zu sein. In Abu Ghraib nutzte das Militär den Kulturschock systematisch. Im Folgenden finden sich einige Auszüge aus einem Flugblatt, das im Herbst 2003 an Marines verteilt wurde, um sie auf kulturelle Empfindlichkeiten der Iraker aufmerksam zu machen (Danner, 2004, S. 19):

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- Beschämen oder demütigen Sie einen Mann nicht in der Öffentlichkeit. Beschämung eines Mannes wird ihn und seine Familie unkooperativ machen. - Der größte Auslöser jeglicher Beschämung ist, wenn eine dritte Person der Tat beiwohnt. Wenn Sie gezwungen sind etwas zu tun, was möglicherweise Beschämung hervorrufen könnte, bringen Sie die Person außer Sichtweite anderer Personen. - Scham entsteht, wenn Kapuzen über den Kopf von Häftlingen gezogen werden. Meiden Sie diese Vorgehensweise. - Den Häftling auf den Boden zu legen oder den Fuß auf ihn zu stellen, impliziert, dass Sie Gott sind. Dies ist eines der schlimmsten Dinge, die wir tun können. Die folgenden Dinge werden von Arabern als unsauber betrachtet: - Füße oder Fußsohlen. - In Gegenwart anderer die Toilette zu benutzen. Anders als Marines, die an Freiluft-Toiletten gewöhnt sind, werden arabische Männer nicht gemeinsam duschen oder die Toilette benutzen. - Körperflüssigkeiten (deshalb lieben sie Papiertücher)9. Wie Mark Danner darlegt, haben die Vernehmungsbeamten und Wächter/innen in Abu Ghraib dieses kulturelle Sensibilisierungstraining umgekehrt und es entgegengesetzt entwickelt (reverse-engineered), um Scham zu maximieren, anstatt zu minimieren. Die andere Methode, die in Guant‚namo entwickelt wurde, war die Ausbeutung individueller, psychischer und physischer Verletzbarkeit. Deren Erschließung und Ausnutzung ermöglicht den Vernehmungsbeamten die Subjektivität auf eine sehr wirkungsvolle Art und Weise anzugreifen, um sie dann noch effektiver erodieren und brechen zu können, so dass der Häftling sein Vertrauen auf seine Folterer überträgt. Dem Medizinethiker und Arzt Steven Miles zufolge identifizieren Psychiater/innen sowie Psychologinnen und Psychologen des BSCT, ebenso wie Ärztinnen und Ärzte, Medizinerinnen und Mediziner sowie Krankenschwestern, verwundbare Persönlichkeitseigenschaften (Miles, 2006). Solche Informationen werden dann an Vernehmungsbeamte weitergeleitet und sickern von dort zum Wachpersonal durch – oder werden sogar von den Wachen, die lange Zeit mit der Beobachtung von Häftlingen verbracht haben und Umgang mit ihnen hatten, nach oben weitergegeben. 9 USMC Devision Schools: Semper Sensitive: The Marine’s Guide to Arab Culture. Neu gedruckt in Harper’s, Juni, 2004, S. 25 – 26.

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Wir können solche Angriffe auf Verletzlichkeiten an den Spitznamen sehen, die den Häftlingen in Abu Ghraib gegeben werden – Spitznamen wie »die Klaue« (the claw) verliehen an Ali Shalal Qaissi aufgrund seiner deformierten linken Hand. »Shitboy« war der Name, der einem Häftling gegeben wurde, auf den in Berichten mit M- verwiesen wurde. Das Militär erklärt, dass er »geistig verwirrt« war und sich häufig mit Fäkalien beschmierte. Das Militärpersonal hat außerdem den Namen »Gilligan« an Abdou Hussain Saad Faleh vergeben, den Häftling auf der Fotografie »The Hooded Man« (Kapuzenmann), wahrscheinlich in Anlehnung an die einfältige TV Figur. Aber wie wurden individuelle Verletzlichkeiten tatsächlich ausgenutzt? »The Claw«, »Shitboy« und »Gilligan« waren ohne Zweifel Namen, die an Ort und Stelle von ›kreativen‹ Vernehmungsbeamten oder Wachen improvisiert und in darauffolgenden Missbräuchen ausgenutzt wurden. McCoy schreibt: »Ganz Schauspieler, nehmen die Folterer die Rolle des allmächtigen Inquisitors ein und verwenden die Theatralität der Folterkammer, um den Schmerz und die Desorientierung des Opfers zu verstärken. Innerhalb dieses Skripts gibt es reichlich Platz für Improvisation. Jeder Vernehmungsbeamte scheint spontan um ein Leitbild herum zu handeln, das in die Erinnerung des Opfers an das Ereignis eingebettet wird« (McCoy, 2006, S. 83 f.).

Ich glaube, dass die Spitznamen als Leitbilder für die Performance psychologischer Folter fungiert haben. Wir können anhand der Analyse einer Serie von Bildern sehen, wie solch ein Leitbild angewendet wurde. So drastisch sie auch sind, vermitteln einzelne Fotos nur einen statischen Eindruck des Foltertheaters. Um die Entwicklung des Prozesses zu verstehen, müssen wir uns eine Materialsequenz anschauen.

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Gewaltperformances: »Shitboy«

Durch die Analyse einer Serie digitaler Bilder von M-, dem Gefangenen, der »Shitboy« genannt wurde, können wir die prozesshafte Dimension des Theaters der Folter besser verstehen. Militärpolizisten und Militärpolizistinnen nahmen diese Bilder über den Zeitraum eines Monats auf, vom 4. November bis 2. Dezember 2003. Nochmals, das Militär betont, dass M- »geistig verwirrt« war, aber in Anbetracht dessen, dass das CIA Paradigma der Folter psychische Zusammenbrüche produziert, könnte M- genauso gut »verwirrt« worden sein durch diese Behandlung. Zumindest können wir sehen, wie die Wachen in ihrer Folterperformance durch Aufführung und Ausarbeitung des Leitbildes von »Shitboy« seine Verletzbarkeiten ausgenutzt haben. Die Bilder von M- sind besonders drastisch, weil sie gleichermaßen Gewalt repräsentieren und die Gewalt der

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Repräsentation selbst verkörpern. Angesichts dessen, dass die Ereignisse als schikanierende Streiche oder Taten einiger schwarzer Schafe missinterpretiert wurden – und dass das Paradigma psychologischer Folter weitgehend ignoriert wurde – denke ich, dass wir die Verantwortung haben, beides zu untersuchen, das Theater der Folter und die Maschinerie, in der es operiert. Die hier analysierten Bilder können auf Salon.com unter »Abu Ghraib File« (www.salon.com/ news/abu_ghraib) aufgerufen werden, einem Archiv, das Anmerkungen der Army’s Criminal Investigation Division (CID) (Abteilung für Verbrechensermittlung der Armee) sowie beigefügte Essays enthält. An dieser Stelle sollte ich auch anmerken, dass es möglicherweise andere, nicht dokumentierte Szenen von M-’s Folter gibt, die sich vor, während oder nach den beschriebenen Szenen ereignet haben. Die ersten bekannten Bilder von M- wurden um 1:42 Uhr und 1:43 Uhr am 4. November 2003 aufgenommen. Zwei Fotos zeigen ihn, wie er anscheinend in einer Stressposition nackt und kopfüber von seinem Zellenbett hängt. Seine Waden sind über das obere Bett gestreckt, Oberschenkel, Oberkörper und Kopf hängen herunter, gestützt auf seine Hände auf dem Boden, auf etwas, das wie ein gefaltetes schwarzes Tuch aussieht. Seine Hände sind in einer Gebetsgeste zusammengelegt. Fotos von anderen Insassen enthüllen, dass sie oft in Stresspositionen mit Handschellen an die Betten gefesselt wurden; Handschellen waren auf den Bildern von M- jedoch nicht zu sehen. Laut des CID Vermerks: »(…) weisen alle Ermittlungen darauf hin, dass er dies aus freiem Willen tat, es handelte sich hierbei nicht um ein inszeniertes Ereignis«. Hier sollte man bereits fragen, was es bedeutet, jemandem einen freien Willen zuzuschreiben, der (a) einem Regime psychologischer Folter unterworfen ist und (b) angeblich »geistig verwirrt« ist? Sogar wenn wir einräumen, dass M- sich selbst von seinem Etagenbett gehängt hat, stellen diese Bilder dennoch ein inszeniertes Ereignis dar, nicht von den Militärpolizisten oder Vernehmungsbeamten inszeniert, sondern von M- selbst. Wie spätere Bilder zeigen, ist er sich der Anwesenheit der Kamera durchaus bewusst und könnte die Szene ebenso für sie aufgeführt haben. Da diese erste Szene in M-’s Zelle stattgefunden hat, konnten ihn nur wenige andere Insassen sehen. Eine Woche später jedoch ereignete sich eine weitaus öffentlichere Performance im Mittelgang des Zellentrakts, die durch mehrere Bilder dokumentiert wurde, von denen zwei eine breite Öffentlichkeit erreichten. Auf diesen beiden Fotos, die am späten Abend des 12. November aufgenommen wurden, sieht man M- erneut nackt, jedoch läuft er nun mit seitlich vollständig ausgestreckten Armen und zurückgebogenem Kopf, offensichtlich in einer Stressposition. Das Verstörendste an diesen Bildern ist jedoch, dass M-’s ganzer Körper mit Fäkalien bedeckt ist – Kopf, Arme, Beine und Oberkörper, Vorder- und Rückseite. Auf einem Foto sehen wir M- von hinten, auf Sergeant Ivan Frederick zulaufend, der dort einen Gummiknüppel umklammernd steht.

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Ein zweites Foto, einen Moment später aufgenommen, zeigt M- von vorne, auf die gleiche Weise laufend. Bezeichnenderweise fangen die beiden Fotos die öffentliche Natur der Szenerie ein, denn wir sehen Arme und Köpfe anderer Insassen, die von ihren Zellen aus zuschauen. M- wird vor seinen irakischen Landsleuten und der Kamera zur Schau gestellt. Wie lange dieser Zwischenfall dauerte, ist unklar, allerdings wurden noch zwei weitere Bilder zehn Minuten früher von der Übergangsbrücke im zweiten Stock des Zellentrakts aus aufgenommen. Diese zeigen M- bereits bedeckt mit Fäkalien, aber anstatt zu laufen, kniet er vor Graner mit den Händen auf seinem Kopf. An seiner Seite steht der zivile Übersetzer Adel Nakhla der Titan Corporation, der zweifellos Fredericks Befehle übersetzt. Hier können wir Anzeichen psychologischer Folter sehen, die selbstverursachten Schmerz (Stressposition), kulturelle Beschämung und Demütigung (öffentliche Zurschaustellung von Nacktheit und Exkrementen) und die Ausnutzung individueller Verletzbarkeit (Abzielen auf eine bereits vorhandene psychische Erkrankung) miteinander verbinden. M- musste vor dem schlagstockschwingenden Graner knien und wurde dann deutlich sichtbar seinen irakischen Landsleuten vorgeführt (und wurde ohne Zweifel gezwungen, über einen langen Zeitraum zu stehen) – während er die ganze Zeit vollkommen mit Fäkalien bedeckt war. In der Tat stellen die Bilder sehr gut die anfängliche Herausbildung des »Shitboy«-Images dar, auf deren Grundlage die Militärpolizisten und -polizistinnen und Vernehmungsbeamten die folgenden Missbräuche inszenieren. Man sollte anmerken, dass Militärpolizisten später konstatierten, dass M- sich wiederholt mit Fäkalien beschmiert hat, ein Akt, der als Symptom seiner psychischen Krankheit interpretiert wurde. Neun Fotografien, die in der nächsten Nacht aufgenommen wurden, demonstrieren, wie lang diese Sessions dauern konnten. Um 22:04 Uhr am 13. November fotografierte Sergeant Ivan Frederick M-, wie er mit Sandsäcken an seine Arme gebunden steht, entweder war dies sensorische Deprivation oder er wurde dort so aufgestellt, um ihn vor sich selbst zu schützen. M- steht im Korridor an einem Ende des Zellentrakts, sein schwarzer Gefängnisoverall ist geöffnet und heruntergezogen, wodurch sein Oberkörper entblößt wird. Dreieinhalb Stunden später, um 1:39 Uhr (am Morgen) des 14. Novembers, wird Merneut fotografiert, immer noch stehend, aber nun ist nur an dem rechten seiner nach vorn ausgestreckten Arme ein Sandsack befestigt. Zwei Minuten später fotografiert Specialist Charles Graner M- mit einer anderen Kamera von oben von der Übergangsbrücke des zweiten Stocks aus. M- steht jetzt umgedreht mit den Armen zu beiden Seiten ausgestreckt, den Kopf nach hinten geneigt. Zwei weitere Fotos, die einen Moment später von Graner aufgenommen worden sind, zeigen Frederick und einen zweiten Militärpolizisten, Sergeant Javal Davis, welcher in die Kamera lächelt. Bezeichnenderweise enthüllen diese drei Fotos

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unzählige Flecken auf dem Boden unter M-’s nackten Füßen, die darauf hinweisen, dass er dort nicht nur für einige Stunden gestanden und sich gedreht hat, sondern dass er außerdem gezwungen war dort zu urinieren. (Graner sagte später in Anbetracht seiner Missbräuche zu Joseph Darby, dem Militärpolizisten, der diese berüchtigten Fotos an seine Vorgesetzten aushändigen wird: »Der Christ in mir weiß, dass es falsch ist, aber der Vollzugbeamte in mir kann nicht anders, als es zu lieben, einen erwachsenen Mann dazu zu bringen, sich selbst anzupissen« (Finkel/Davenport, 2004).) Andere Fotos, die mit Fredericks Kamera aufgenommen wurden, stellen weitere Missbräuche dar. Eines zeigt Mposierend mit beiden Armen ausgestreckt, auf jeder Seite in einer an einen Schwanenhals erinnernden Pose gewunden. Ein anderes Bild, ein Portraitfoto von M- im Profil, enthüllt etwas, das in den anderen Fotos nicht lesbar ist: Sein Kopf wurde kahl rasiert, abgesehen von einem Haarstreifen, der von einem Ohr zum anderen verläuft, wodurch eine Art querlaufender Irokesenschnitt entsteht. Schließlich wurden zwei weitere Fotos um 1:52 und 1:53 Uhr aufgenommen, die M- nochmals mit zwei Sandsäcken zeigen, nur dass seine Arme jetzt mit einem Seil fest zusammengebunden wurden und mit einer durch ein Vorhängeschloss gesicherten Kette versehen wurden. Im letzten Bild steht Graner hinter M-, ihn bei den Schultern haltend und grinst direkt in die Kamera, offensichtlich, um mit seinem Werk anzugeben. Noch einmal, die zeitliche Dimension des Foltertheaters von Abu Ghraib ist ausschlaggebend, um zu verstehen, wie das CIA Regime des Verhörs funktioniert. Wie die zuvor beschriebene Szene zeigt, wurden Insassen dazu gezwungen, stundenlang in Stressposition auszuharren, eine Tatsache, die nicht von den berüchtigteren Einzelaufnahmen erfasst wurde. Die Intensität physischen und psychischen Schmerzes tritt nicht aufgrund ausgeteilter Schläge eines anderen auf, sondern durch bloße Erschöpfung und ausgedehnte Phasen der Bewegungslosigkeit. Das Ziel ist es, dass sich der/die Gefangene selbst für seine Schmerzen verantwortlich macht. Häufiges Resultat ist Inkontinenz, die zu Abscheu vor sich selbst führt, und in den Fällen, in denen Urinieren und Darmentleerung in offen einsehbaren Räumen vorkommt, zu öffentlicher Demütigung. Sowohl persönliches als auch kulturelles Identitätsgefühl erodieren in einem hochgradig kalkulierten, aber sukzessiven Prozess. Als Nächstes werden wir sehen, wie sich dieser Prozess am 19. November, zwei ganze Wochen nachdem die ersten bekannten Bilder gemacht wurden, entfaltet – und ferner beobachten, wie sich das »Shitboy«-Leitbild vollends herausbildet. Zwei Nahaufnahmen, die um 14:10 Uhr gemacht wurden, zeigen M- nackt auf der rechten Seite auf einer rosa Schaumstoffmatratze liegend, sein Oberkörper ist mit einer dunklen, gestreiften Decke bedeckt. Seine Fußknöchel sind mit weißen Plastikbändern zusammengebunden und in einem Bild scheinen seine Handgelenke hinter seinem Rücken mit Metallhandschellen gefesselt

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zu sein. Beide Bilder zeigen M-, wie er ein gelbes Objekt hält; der Vermerk des CID lautet: »Insasse führt sich selbst eine Banane in sein Rektum ein«. Ein drittes Bild, das um 14:11 Uhr gemacht wurde, zeigt, dass diese Bilder von der Übergangsbrücke der zweiten Etage aus aufgenommen worden sind. Mit der Sony Kamera wurde herangezoomt und man kann sehen, dass M- im Hauptkorridor liegt. Es scheint, als ob seine Fußfesseln an die Gitter seiner Zellentür gekettet sind und eine weiße Unterhose auf dem Boden daneben liegt. Wir finden hier eine Umkehrung des »Shitboy«-Images vor: Anstatt dass Fäkalien aus seinem Rektum kommen, wurde es M- erlaubt, ein Objekt einzuführen – oder er wurde gezwungen, dies zu tun: Die Vertrauenswürdigkeit der CID Vermerke ist fragwürdig, da sie wahrscheinlich auf Aussagen eben jener Militärpolizisten basieren, die M- gefesselt und im Korridor platziert, ihn mit einer Banane ausgerüstet und ihn dann fotografiert haben. Auch das Vorhandensein des Bettzeugs ist bedeutsam. Es ist wahrscheinlich gemeinsam mit Maus seiner Zelle herausgeschleppt worden. Schaumstoffmatratzen werden auch in der folgenden Missbrauchsszene verwendet. Auf diese Weise können wir den Ursprung seiner Einarbeitung (der Schaumstoffmatratze) in das »Shitboy«Image miterleben. Diese nächste Folterszene beginnt zehn Tage später am Abend des 28. November und sie verkörpert das »Shitboy«-Image und arbeitet es auf außergewöhnliche Art und Weise aus. Die erste Aufnahme von 20:06 Uhr zeigt M- von der Leiste aufwärts, wie er nackt im Duschbereich der »Hard Site« steht. M- steht vor einer Backsteinmauer, rechts von ihm ist die Duscharmatur zu sehen. Sein Körper ist von braunen Flecken übersät. Der CID Vermerk dazu lautet: »Der Insasse ist mit etwas bedeckt, das wie menschliche Fäkalien aussieht«. Fäkalien wurden auf die Brust, den Bauch, den Hals und ins Haar geschmiert. Obwohl M-’s Gesicht digital unkenntlich gemacht wurde, scheint es, als ob sein Kinn, seine Ohren und die linke Seite seines Gesichts ebenfalls besudelt sind, was nahelegt, dass sein komplettes Gesicht mit Exkrementen bedeckt ist. Die nächsten beiden Bilder, ebenfalls beide mit der Zeitangabe 20:06 Uhr versehen, zeigen M- wieder stehend, dieses Mal von den Knöcheln aufwärts. Fäkalien bedecken seine Genitalien und die inneren Schenkelpartien. M- trägt weiße Operationshandschuhe, deren Finger mit Exkrementen bedeckt sind. Ein Foto bildet ihn mit beiden Armen an seiner Seite ab; auf dem anderen erscheint es (wieder ist das Gesicht digital verfremdet), als hätte er seine rechte Hand in den Mund gesteckt. Die groteske Ironie daran ist, dass M- hygienische Handschuhe benutzt, um Fäkalien zu essen. Ebenso wie die Bilder vom 12. November zeigen diese Fotos, die zwei Wochen später aufgenommen wurden, das charakteristische Image des »Shitboy«-Leitmotivs: M-’s Körper beschmiert mit Exkrementen. Man kann nur darüber spekulieren, wie oft dieses Tableau nachts inszeniert wurde, ohne dass Digital-

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kameras es festhielten, entweder in abgeschiedenen Räumen wie seiner Zelle und den Duschen, oder in offenen Räumen wie den Korridoren des Zellentrakts. In dieser Nacht, nach erneuter Etablierung des »Shitboy«-Leitmotivs, werden die Wachen ihre Performance in einem offenen Korridor improvisieren, indem sie Gegenstände benutzen, die bereits in vorangegangenen Nächten als Requisiten eingesetzt wurden. Die nächste Bildsequenz, die etwas mehr als eine Stunde nach den Duschbildern aufgenommen wurde, beginnt mit einem Bild, das einen gesäuberten M- zeigt, der in einer allzu bekannten Pose mit zur Seite vollkommen ausgestreckten Armen steht. Jetzt trägt er jedoch ein seltsames Tunikaähnliches Kostüm: Bei näherer Betrachtung kann man sehen, dass es sich um eine gelbe Schaumstoffmatratze handelt, die über seinen Schultern gefaltet wurde, um seinen Körper vorne und hinten von den Knien aufwärts zu bedecken. Es wurde ein Schlitz in die Mitte der Bettauflage geschnitten, durch den M-’s Kopf herausragt. Um seine Hüfte wurde von Graner eine Kette gebunden. Graner trägt schwarze Handschuhe, eine gepanzerte Weste über einem grünen T-Shirt und einen Tarnanzug. An seinem Gürtel befestigt baumelt Verschiedenstes: Werkzeuge, Kabel und Ähnliches. Das nächste Bild, das um 21:13 Uhr aufgenommen wurde, zeigt Graner neben M- posierend, mit beiden Händen an dessen Schulter gelehnt und direkt in die Kamera lächelnd, als wolle er mit seinem improvisierten Werk angeben. Graners Arbeit hat jedoch gerade erst begonnen. Das nächste Foto, aufgenommen um 21:16 Uhr, zeigt Graner auf einem Knie kniend, seine rechte Hand auf M-’s Rücken, der jetzt bäuchlings auf einer Bahre liegt, einer Stofftrage, deren Haltestangen zwei Füße haben, die die Bahre einige Zentimeter über dem Boden halten. Das Foto hat alle Merkmale eines Trophäenfotos: Graner lächelt neben seiner »Beute« breit in die Kamera. M-, der immer noch die SchaumstoffTunika trägt, hebt seinen Kopf in Richtung der Kamera; sein Gesicht wurde digital verfremdet, aber der Winkel seines Kopfs lässt vermuten, dass auch er direkt in die Kamera blickt. Es handelt sich hierbei um ein Bild abjekter Erniedrigung und beinahe totaler Unterwerfung, ein Punkt, dem ich mich gleich zuwenden werde. Vorher möchte ich jedoch anmerken, dass der Hintergrund dieses Fotos zwei beachtenswerte Dinge erkennen lässt. Erstens steht weit im Hintergrund auf der linken Seite ein zweiter Inhaftierter ; mit dem verhüllten Kopf Richtung Gefängnismauer gebeugt, trägt er einen verschmutzten weißen Kittel und seine Hände scheinen hinter seinem Rücken zusammengebunden zu sein. M- könnte also nicht die einzige Person gewesen sein, die in dieser Nacht gefoltert wurde. Noch aussagekräftiger ist es, dass ebenfalls links im Bild, allerdings im mittleren Hintergrund, eine Person steht, die eine zweite Bahre hoch hält. Anders als Graner, Frederick und der zivile Übersetzer Nadal, die auf den vorherigen Fotos zu sehen waren, trägt dieses Individuum Zivilkleidung: eine schwarze Hose, grüne Schultertasche und

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strahlend weiße Turnschuhe. Derartige nichtmilitärische Kleidung weist stark darauf hin, dass diese zweite Person entweder ein CIA- oder ein privat beauftragter Vernehmungsbeamter war. Kurz, weit entfernt davon bloße Vorarbeit für das nachfolgende Verhör zu sein, könnte die ganze Szene Teil der eigentlichen Befragung gewesen sein, wenn nicht von M-, dann von dem vermummten Insassen oder einer anderen Person, die in diesen Aufnahmen nicht zu sehen ist. Zwar gibt es in Abu Ghraib spezielle Vernehmungszimmer, Tara McKelvey berichtet jedoch, dass Befragungen ebenso gut in einer Zelle, einer Duschkabine, im Treppenhaus oder Vorratsraum stattfinden konnten. Von anderen Fotos, die in Abu Ghraib gemacht wurden, gibt es Beschreibungen, die »OGA« (»andere Regierungsbehörden«, ein Euphemismus für die CIA) Personal zeigen, wie es Insassen in den offenen Korridoren des Gefängnisblocks 1A verhört hat (McKelvey, 2007, S. 14). Was auch immer die Identität der zweiten Person war, er oder sie spielte eine aktive Rolle in dem sich entwickelnden Theater der Folter, denn im nächsten Bild wurde die Trage auf M- platziert – um das herzustellen, was die Wachen »Bahren-Sandwich« nannten. Mit dem Gesicht nach unten, eingepfercht zwischen zwei Bahren, bekleidet mit einer Schaumstoffauflage, einem Kettengürtel und Armhaltegurten, erreichte M-’s Unterwerfung wortwörtlich seinen Tiefpunkt. Der ›Gnadenstoß‹ folgt im letzten Bild dieser Szene, einem weiteren Trophäenfoto, das eine zweite Wache, Ivan Frederick, auf M- sitzend abbildet, der nun seinen Kopf in Richtung Kamera hebt. Die Unterwerfung ist damit abgeschlossen, die Überlegenheit von Wache über Gefangenen, Amerikaner über Iraker, hell- über dunkelhäutig, Militärbefehl über aufständische Kräfte, gut über böse – all diese Gegenüberstellungen werden allegorisiert und buchstäblich (literalized). In einem neuen Begriff ausgedrückt, sie alle werden »litteralized« im »Litter-Sandwich«. Solch ein Wortspiel ist hier keineswegs unangemessen, denn es könnte dazu beitragen, weitere Elemente und Momente der improvisierten Entwicklung von M-’s Folter über das Leitbild von »Shitboy« aufzudecken. Zunächst kann litter im Sinne von Bahre mit einem Bett und Bettwäsche assoziiert werden, besonders im Zusammenhang mit der Schaumstoffauflage, die man hier und in der Szene mit der Banane sehen konnte. Wie oben bereits angemerkt, scheint es, als ob das Bettzeug in das »Shitboy«-Leitmotiv eingearbeitet wurde und man kann sich vorstellen, wie die Wachen darüber Witze machen: »Shitboy hat sein Bett gemacht und muss jetzt darin liegen«. (Erinnern Sie sich auch daran, dass die ersten Bilder M- von seinem Etagenbett hängend zeigten.) Aber litter kann auch auf Müll verweisen, besonders auf Abfälle, die auf öffentlichen Plätzen weggeworfen und liegen gelassen wurden. Hier wurde M- »weggeworfen« und auf dem Boden des öffentlichen Korridors des Gefängisses liegen gelassen. Bezeichnenderweise wird litter auch mit Fäkalien assoziiert, denn der Begriff kann auf ein

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absorbierendes Material verweisen, wie das trockene Granulat, das sich in Katzenstreu befindet. An dieser Stelle absorbiert der Abfall »Shitboy« in etwas, was man »Scheißesandwich« (shit sandwich) nennen könnte. Darüber hinaus kann litter auf die obere Schicht eines Waldbodens referieren, die aus verrottenden Materialien wie Zweigen, Blättern und Tieren besteht. Diese verrottenden Materialien können offensichtlich mit Exkrementen in Verbindung gebracht werden. Aber noch eindrucksvoller ist, dass der konkrete Begriff »litter sandwich« in der Biologie verwendet wird, wo er einen gerahmten Kabelapparat bezeichnet, mit dem man die Zersetzung organischer Substanzen in Erdschichten erforschen kann. Zusammenfassend lässt sich anhand der Fotos aller analysierten Szenen deutlich zeigen, dass M-’s Identität zu dem Image »Shitboy« zersetzt wird. Noch einmal, solch ein Zerfall oder Zusammenbruch der Subjektivität ist genau das Ziel psychologischer Folter, ein Prozess, den die eben beschriebene, über Monate aufgenommene Bildserie mit der methodischen Grausamkeit eines allzu ernsten und ausgedehnten kranken Scherzes dokumentiert, in welchem sadistischer Humor zu einem »intelligenten« Ende wird, dem Ende militärischer und nationaler Geheimdienste (military and national security intelligences). Als einer der militärischen Informanten erinnert sich Sergeant Sam Provance an Folgendes über die Wachen von Abu Ghraib: »Sie redeten über ihre Erfahrungen, während die Gefangenen erniedrigt und missbraucht wurden. Es war immer eine witzige Geschichte. Es war wie: ›Ha, ha. Es war wahnsinnig komisch. Du hättest dabei sein müssen‹« (Provance zitiert nach McKelvey, 2007, S. 17). Ein letztes Dokument, eine Reihe Videoclips, aufgenommen in der Nacht des 1. Dezember, bietet markerschütternde Evidenz für die Effektivität psychologischer Folter. M- selbst führt den letzten Akt dieses besonderen Theaters der Folter auf, obwohl es präziser wäre zu sagen, dass M- durch dieses Theater »vorgeführt wird«, denn die ausführende Kraft seiner Handlungen beinhaltet nun die Armee, die CIA und Titan Cooperation – oder die Foltermaschine selbst. Die Performance wurde mit Graners Videokamera aufgenommen, wahrscheinlich von Graner selbst. Das Archiv des Online Magazins Salon.com enthält zehn separate 15-sekündige Videoclips und einen 8-sekündigen Clip von M-, insgesamt 2 Minuten und 38 Sekunden. Die CID Aufzeichnungen legen jedoch nah, dass das Video zwischen 21:29 und 21:45 Uhr aufgenommen wurde, also entfalteten sich die aufgenommenen Ereignisse über eine halbe Stunde hinweg, ferner weisen zusätzliche Fotos des gleichen Vorkommnisses mit Zeitangaben des frühen Morgen des 2. Dezember zwischen 0:33 und 2:00 Uhr darauf hin, dass die Folter mindestens viereinhalb Stunden andauerte. Dieses Material, wie zwei andere Reihen von Videoclips von anderen Insassen – eines von der berüchtigten Pyramide und den Gruppenmasturbationsszenen – blieben in den Vereinigten Staaten weitgehend unbekannt, wo sie meines Wissens niemals öf-

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fentlich ausgestrahlt wurden (Teile wurden in Australien ausgestrahlt). Die Clips auf Salon.com sind QuickTime-Filme in niedriger Auflösung und bezeichnenderweise wurde die Tonspur entfernt. Es existieren zweifelsohne vollständige Video- und Audioversionen, diese sind jedoch nie an die Öffentlichkeit durchgesickert. Ich werde die Videoclips in der Reihenfolge beschreiben, in der sie auf Salon.com hochgeladen wurden, an dieser Stelle möchte ich jedoch anmerken, dass die Dateinamen darauf hinweisen, dass noch weitere Clips existieren. Die ersten fünf Videoclips von M- wurden von der oberen Etage aus, auf den unteren Flur herabblickend, gefilmt. In den ersten beiden Clips sieht man M- von seiner linken Seite im Profil, wie er von der Taille an vornübergebeugt mit dem Kopf gegen eine massive Zellentür gelehnt steht. Er ist mit einer Art Decke bekleidet. Auf den ersten Blick scheint es, als würde M- beten, da er auch seinen Körper leicht vor und zurück wiegt, bei näherer Betrachtung sehen wir allerdings, dass seine Handgelenke an die Tür vor ihm gekettet sind. Die nächsten drei Clips offenbaren das Schreckliche der Performance von M-: Aufrecht stehend aus der gebeugten Position, lehnt er sich zurück, während er noch immer seinen Körper leicht vor und zurück wiegt. Dann dreht er den Kopf in Richtung der Kamera und scheint direkt in die Linse zu schauen. Seinen Kopf zurückdrehend, breitet Mdie Arme aus und verlagert sein Körpergewicht nach hinten, dabei biegt er seinen Körper leicht in der Taille. Scheinbar zielend, zieht er plötzlich heftig an den Handschellen und schlägt seine Schädeldecke gegen die massive Zellentür. Die Decke rutscht herunter, seine Schultern werden freigelegt als seine Knie nachgeben. Im nächsten Clip wirkt M- benommen und erschüttert, sein Körper zittert, während er seinen Kopf hoch und runter beugt. Im fünften Videoclip bereitet sich M- auf einen weiteren Aufprall vor, stehend und sich wiegend dreht er den Kopf zur Kamera, lehnt sich zurück und schlägt erneut seinen Kopf gegen die Tür. Die Aufzeichnungen des CID besagen abermals, dass die »selbstverursachten« Handlungen auf dem Video eine halbe Stunde andauerten. Die letzten sechs Clips zeigen erneut M-’s ritualistisches Schlagen mit dem Kopf gegen die Metalltür, nur dass dieses Mal die Kameraperson in den Flur des Zellentrakts herunter gekommen ist. Im ersten dieser Clips sehen wir M- in voller Größe im Profil stehend, aus einer halbnahen Kameraperspektive, von der rechten Seite aus aufgenommen. Er trägt Sandalen und man kann sehen, dass auf seiner Decke ein großes blaues Blumenmuster abgebildet ist. Aus diesem Winkel und dieser Distanz können wir besser nachempfinden, mit welcher Kraft sein Kopf auf die Tür trifft, zweimal in einer Spanne von 15 Sekunden: Der Rhythmus des Aufpralls hat sich erhöht; noch einmal dreht er kurz seinen Kopf Richtung Kamera. Der nächste achtsekündige Ausschnitt beginnt in der gleichen Perspektive, aber M- hockt jetzt auf seinen Füßen, zusammengekauert und taumelt zweifelsohne

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nach einem weiteren Aufprall des Kopfes. Dann bewegt sich die Kamera schnell in Richtung und hinter M-, die Linse ist auf den Betonboden, die Gitterstäbe einiger anderer Zellentüren und die laufenden Füße der Kameraperson gerichtet. Die nächsten zwei Clips, beide 15 Sekunden lang, zeigen M- aus der Nähe von der linken Seite von der Taille bis zum Kopf in einer dreiviertel Ansicht. In einem Clip sehen wir, wie M- vor der Tür steht, deren grüne Oberfläche, wie wir jetzt sehen können, mit zwei hell-glänzenden Blutflecken markiert ist, einer dort, wo sein Kopf gegen die Tür geschlagen ist, der andere, wo er seinen Kopf an der Tür abgestützt hat, als er vornübergebeugt war, angebunden an der Hüfte. Der zweite dieser Videoclips zeigt, wie M- wieder seinen Kopf gegen die Tür schlägt. Im zehnten und letzten Videoclip überragt die Kamera M-, der darunter hockt. Die überbelichtete Linse gibt dem flimmernden Bild einen dunkelroten Farbton, dann einen hellgrünen, als M- sich hinhockt und sich wiegt, seinen Kopf nach hinten neigt und dann wieder aufsteht. Er schaut wieder in die Kamera und wir sehen, dass die rechte Seite seiner Stirn blutig und wund ist. M- verzerrt das Gesicht und scheint zu weinen und/oder zu schreien. Zusammengefasst zeigen diese Materialien, dass die theatrale Performativität Abu Ghraibs nicht auf Posen und Bilder, Kulisse und Requisiten eingeschränkt werden kann. Das totale Theater der Folter operiert auch über eine zeitliche, prozessuale Dimension, die weitgehend von Berichterstatterinnen und Berichterstattern ignoriert worden ist; diese Dimension ist jedoch entscheidend, um das zugrundeliegende Regime psychologischer Folter und der Verhöre zu verstehen, die in Abu Ghraib und anderswo stattfinden. M- war über einen Monat lang schmerzvollem und demütigendem Missbrauch ausgesetzt, dessen Einheiten manchmal mehrere Stunden dauerten. Die Fotos und Videos zeigen deutlich, dass das Militärpersonal (und möglicherweise CIA Personal und/oder private militärische Vertragspartner) diese vier Hauptkomponenten ihres Regimes auf die Insassen angewendet haben: sensorische Deprivation, selbstverursachten Schmerz, kulturellen Schock und den Angriff auf individuelle Verletzbarkeiten. In Bezug auf Letzteres habe ich versucht zu zeigen, dass »Shitboy«, über die Funktion eines Spitznamens für M- hinaus außerdem als ein Topos diente, auf dem seine Fänger eine höchst individualisierte und dennoch im höchstem Maße öffentliche Performance improvisierten und entwickelten, die darauf angelegt war, seine Subjektivität zu zerstören. Körperliche Organe und Gesten, sowie spezifische Objekte wurden in der prozessualen Entwicklung des »Shitboy« Topos eingesetzt, um wirksam einen Keil zwischen M-’s körperliches und psychosoziales Selbstgefühl zu treiben. Selbst wenn er bereits vor seiner Gefangennahme psychisch labil war, verbrachten Wachen und Vernehmungsbeamte Wochen mit der Ausbeutung seiner Schwachstellen, in Isolation und noch häufiger in der Öffentlichkeit. Am Ende ist die Frage, ob die Schmerzen selbst zugefügt waren oder nicht, nicht auflösbar und auch nicht relevant: Seine

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Performance wurde von den Wachen und Vernehmungsbeamten innerhalb eines kodifizierten Theaters der Folter sowohl als Drehbuch vorgegeben als auch improvisiert und war darauf ausgelegt, selbstverursachten Schmerz als ein Mittel zur Brechung seiner Persönlichkeit hervorzubringen.

4.

Coda: Medienschock und Gegenperformativität

Der CID Bericht über Abu Ghraib besagt auch, dass M- kein Insasse »hohen Wertes« war, dies bedeutet, dass man nicht vermutete, er besäße wertvolle Informationen, weshalb die Wachen den fortlaufenden Missbrauch, live als auch die aufgenommenen Performances, zur Einschüchterung anderer Häftlinge benutzten. In Anbetracht der weit verbreiteten Nutzung von Medien, nicht nur in Abu Ghraib, sondern Berichten zufolge auch in Bagram und Guant‚namo, glaube ich, dass die Medien ein fünftes Element psychologischer Folter des CIAParadigmas darstellen, das man »Medienschock« nennen könnte. Spektakelhafte Missbrauchsfälle, die in isolierten Zellen oder Räumen verübt wurden, zielen auf die Psyche des jeweiligen Inhaftierten ab. Aber Inhaftierte berichten auch, dass sie wiederholt fotografiert wurden und man ihnen sagte, dass die erniedrigenden Bilder ihrer Familie sowie ihren Freundinnen und Freunden gezeigt würden, wenn sie nicht kooperierten. An dieser Stelle rufe man sich noch einmal die Kommentare der Marine Corps Informationschrift über die Beschämung von Irakern vor den Augen anderer in Erinnerung. Und tatsächlich fanden die meisten der fotografierten Missbräuche im zentralen Korridor vor den Augen anderer Gefangener statt, die ihrerseits beschämt und eingeschüchtert wurden, indem sie gezwungen wurden, dies mitzuerleben – und zusehen mussten, wie amerikanische Männer und Frauen Fotografien und Videos von den Missbräuchen machen. Darüber hinaus verwendeten die Wachen, Berichten zufolge, solche Fotos als Bildschirmschoner und hängten sie öffentlich an Gefängniswände, wo die Häftlinge sie sehen konnten, gewissermaßen, um ihnen zu sagen »das kann auch dir passieren«. Kurz gesagt, die Gewalt der theatralen Performativität in Abu Ghraib, den Medienschock eingeschlossen, traf in erster Linie die Insassen, gleichermaßen als Objekt und Zuschauer/in der Folter. Der öffentliche Skandal übertrug dann diese Gewalt weltweit. Das Fest der Martern (spectacle of the scaffold) kehrt dadurch gleichermaßen in die Zellen und Korridore Abu Ghraibs und anderer Gefängnisse zurück und durch Fernsehen, Computer und andere mediale Netzwerke erreicht es ein weltweites Publikum. Aber zwischen dem lokalen und dem globalen Publikum hat sich die performative Gewalt des Spektakels radikal transformiert. Dieser transformative Prozess begann am 13. Januar 2004, als Graner Specialist Joseph M. Darby zwei CDs übergab, die hunderte von Bildern enthielten.

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Beunruhigt über das, was er auf diesen CDs zu sehen bekam, übergab Darby die Bilder der CID, wo sie bald zentral für die »Ermittlung 15 – 6 der 800sten Militär Polizei Brigade« wurden, auch bekannt als »Taguba Bericht«, welcher Ende Januar veranlasst wurde. Bis April war eine Auswahl von Bildern an CBS und den Berichterstatter Seymour Hersh durchgesickert und wurde danach von 60 Minutes II und The New Yorker veröffentlicht, wodurch die performative Kraft der Bilder weltweit entfesselt wurde. Aber etwas Merkwürdiges und doch Hoffnungsvolles geschah in dieser Globalisierung, etwas, das mit der Reaktion des Informanten Darby begann: Die performative Gewalt des Spektakels wurde umgekehrt und richtete sich gegen sich selbst. Neu gerahmt und von CBS und Hersh veröffentlicht, verkehrten sich sozusagen die Pole von gut und böse und die gedemütigten Personen waren England, Frederick und Graner, und darüber hinaus das US-Militär und sogar die Vereinigten Staaten selbst. Diese tiefgreifende Umkehrung wurde in einem politischen Cartoon festgehalten, der kurz nachdem der Skandal ausbrach, erschien. Entworfen von Tim Menee von The Pittsburgh Post-Gazette, stellt der Cartoon Uncle Sam auf einer Pappkiste stehend dar, an seinen Fingern sind Kabel befestigt, und er trägt eine schwarze Kapuze und ein schwarzes Gewand; neben ihm sind die Worte »UTTER HUMILIATION« (»VÖLLIGE ERNIEDRIGUNG«) gekritzelt. Weitere Cartoons – die in den Vereinigten Staaten und im Ausland veröffentlicht wurden – drückten durch die Verwendung von Uncle Sam oder anderen Figuren, die mit den Vereinigten Staaten assoziiert werden, wie die Freiheitsstatue oder Justitia, eine ähnliche Stimmung aus. Diese Umkehrbarkeit performativer Gewalt kann nach Butler im Sinne von »queering«, »Resignifikation« (resignification) und Brecht folgend als »Umfunktionierung« (refunctioning) verstanden werden. In vergleichbarer Weise hat Donald MacKenzie, ein renommierter Wissenschafts- und Techniksoziologe, herausgefunden, dass bestimmte ökonomische Modelle nach einem ersten performativen Erfolg bei ihrer Einführung die Realität an sich angeglichen haben, sie entsprachen dann jedoch nicht nur nicht mehr dem theoretischen Modell, sondern störten die ökonomischen Prozesse soweit, dass sie zu einer Wirtschaftskrise führten. MacKenzie nennt diese Möglichkeit »Gegenperformativität« (counterperformativity) (MacKenzie, 2006, S. 19)10 und während er sich auf ökonomische Modelle bezieht, könnte man dieses Konzept wahrscheinlich auf jedes Modell oder jede Theorie ausweiten (vgl. McCoy, 2006, 10 MacKenzies vordergründige Fallstudie ist die Hedge-Fonds-Krise von 1988, die mit long term capital management in Verbindung gebracht wird, einer Firma, die ein Wirtschaftsmodell, auch bekannt als »black-scholes«, angewendet hat. Erst, um Milliarden von Dollar zu gewinnen und dann, um sie zu verlieren. MacKenzie entwickelt ein ausgeklügeltes Performativitätsmodell, bei dem counterperformativity (Gegenperformativität) eine Komponente darstellt.

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Kapitel 2). In der Tat besagt McCoys Studie über das CIA Modell psychologischer Folter, dass seine Anwendung seitens des philippinischen Militärs an mutmaßlichen kommunistischen Rebellen in den 1970er und 1980er Jahren zu der Bildung einer Gruppe egomanischer Offiziere führte, die später selbst versuchten, eben die Regierung (Ferdinand Marcos) umzustürzen, in dessen Namen sie ursprünglich Menschen folterten. Im Fall des irakischen Theaters des Krieges beinhaltet die Gegenperformativität der Foltermethoden der CIA die Entstehung von mehr anstatt weniger Aufständen, die Produktion von nutzloser anstatt nützlicher Informationen sowie die Erzeugung psychischer Gewalt nicht nur gegen die Folteropfer, sondern auch gegen die Folternden selbst. Angesichts dessen könnten die Folterbilder von Abu Ghraib sogar geholfen haben, gegenperformativ das in der amerikanischen Öffentlichkeit hervorzurufen, was Eisenmann den Abu Ghraib Effekt nennt: »eine Art moralischer Blindheit […], die ihnen erlaubt, wie auch immer teilweise oder provisorisch die Tatsache der Erniedrigung und der Brutalität, die sich in diesen Bildern manifestiert, zu ignorieren oder sogar zu rechtfertigen« (Eisenmann, 2007, S. 9). In anderen Worten: Im Namen der Moral sind (einige) Amerikaner/innen selbst blind vor der Moral geworden. Hier verbirgt sich eine Lektion über aufgeführte Gewalt (violence performed), analysierte und zitierte (cited) Gewalt sowie Gewalt, zu der angestiftet (incited) wurde. Man könnte einwenden, dass die oben versuchte Analyse – eine detaillierte Performanceanalyse der Bilder von M-’s Folter – selbst einen Beitrag zu der systematischen Gewalt beisteuern könnte, die sie kritisiert, den Schock durch die Medien eher fortführt, als zu bekämpfen und eher der »Gesellschaft des Spektakels der Martern« entspricht, als ihr warnend entgegenzutreten. Ebenso könnte man einwenden, dass politische und/oder künstlerische Proteste gegen Abu Ghraib, Guant‚namo und Bagram (zum Beispiel Demonstrationen in schwarzen Kapuzen und orangen Overalls, Verhör-Performances von Coco Fusco oder Fassih Kelso, bestimmte Graffiti- und Installationsarbeiten von Banksy, der Film The Road to Guantanamo von Michael Winterbottom und Mat Whitecross (Großbritannien 2006) – alle können als Gegenperformative (counter-performatives) zum CIA-Folterparadigma gelesen werden) selbst weitere Folter anstiften könnten. Solch ein Risiko ist unvermeidbar, wenn man voraussetzt, dass die Iterabilität jeder einzelnen und aller Performances und Performative sowohl ihr mögliches Misslingen als auch ihr mögliches Gelingen absichert, eben jene Performativität und Gegenperformativität. Keine interpretative Rahmung oder historische Kontextualisierung kann Zitathaftigkeit abwehren, da Rahmung und Kontextualisierung selbst in Netzwerke von Zitaten eingebettet sind. Andernfalls könnte man sich einfach entziehen und sich weigern, die Gewalt zu zitieren, egal ob in Worten oder in Bildern – aber das ist genau der Schritt, den die Bush Regierung getan und unterstützt hat, sie hat die

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Veröffentlichung von Bildern bekämpft, ebenso wie weitere Nachforschungen, die die Befehlskette nachverfolgt hätten und möglicherweise Folterbilder mit Folter-Memos, theatrale Performativität mit exekutiver Performativität in Verbindung gebracht hätten. In einem Zeitalter globaler Performativitäten, performativer Mächte, die sowohl in lokalen als auch in globalen Dimensionen operieren, braucht man mehr an Vernetzen, Zitieren und Kritisieren performativer Gewalt, nicht weniger. Und um dem Spektakel der Martern und dem Theater der Folter entgegenzuwirken, könnte man auf das gegenperformative (counter-performative) Spektakel und Theater angewiesen sein. Das Risiko, sie zu produzieren ist groß, aber das Risiko, es nicht zu tun, ist immer noch größer. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Julia Bee und Lena Sauer

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Autorinnen und Autoren

Rosmarie Barwinski PD Dr. phil., Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin SPV/FSP; zertifiziert als Fachpsychotherapeutin für Psychotraumatologie am Deutschen Institut für Psychotraumatologie (DIPT); Privatdozentin an der Universität zu Köln; Dozentin und Supervisorin am Psychoanalytischen Seminar Zürich sowie am Institut für psychotherapeutische Forschung, Methodenentwicklung und Weiterbildung (IPFMW) an der Universität zu Köln; Leiterin des Schweizer Instituts für Psychotraumatologie (SIPT), Winterthur. Neue Veröffentlichungen: Die erinnerte Wirklichkeit. Zur Bedeutung von Erinnerungen im Prozess der Traumaverarbeitung (2009); Erinnerung und traumatischer Prozess im Alter, in: Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, psychologische Medizin (2010). Julia Bee M.A., Medienkulturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Wiederkehr der Folter?«. Forschungsschwerpunkte: Gender und Medien, populäre Medienkultur und Audience-Forschung, Medialität und Gewalt. Letzte Veröffentlichungen: Folter und die Grenzen des Humanen. Zu einigen historischen und aktuellen Konfigurationen von Folter und Film, in: Altenhain et al. (Hrsgg.), Wiederkehr der Folter?, Folter und Narration im Film (2012), in: Görling, Reinhold (Hrsg.): Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte (2011). Reinhold Görling Reinhold Görling ist Professor für Medienwissenschaft an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf und zusammen mit Karsten Altenhain und Johannes Kruse Antragsteller des Forschungsprojektes »Wiederkehr der Folter?«. Promotion 1985 mit einer Arbeit über Literatur, Fotografie und Film im Spanischen Bürgerkrieg, Habilitation 1995 in Komparatistik mit einer Untersuchung über die ästhetische Dimension von Interkulturalität. Neuere Veröffentlichungen

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Autorinnen und Autoren

u. a.: Kulturelle Topografien (Hrsg., 2004), Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz (Hrsg., 2008), Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte (Hrsg., 2011). Lisa Gotto Dr. phil., ist Professorin für Filmgeschichte und Filmanalyse an der ifs Internationale Filmschule Köln. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Films, Film und Gewalt, Medien- und Kulturtheorie, Bildästhetik, Digitale Medienkultur. Letzte Publikationen u. a.: Traum und Trauma in Schwarz-Weiß. Ethnische Grenzgänge im amerikanischen Film (2006); Eisenstein-Reader. Die wichtigsten Schriften zum Film (Hrsg., 2011); Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur (Mithrsg., 2013). Franziska Henningsen Dr. phil., Dipl. psych., Psychoanalytikerin, Lehranalytikerin am Berliner Psychoanalytischen Institut (Karl-Abraham-Institut), Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV); ihr Forschungsschwerpunkt ist das psychische Trauma; Mitbegründerin der Arbeitsgruppe SBPM, die Standards zur Begutachtung traumatisierter Flüchtlinge formuliert und ein Fortbildungscurriculum entwickelt hat. Linda Hentschel Dr. phil., ist aktuell Vertretungsprofessorin für Kulturwissenschaften an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 2010 – 2012 Professur für Kulturwissenschaften und Gender Studies an der Universität der Künste Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der optischen Medien und der visuellen Wahrnehmung, Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Foto- und Filmtheorie, Medien und Gewalt, Raumwissenschaften, Geschichte der Pornografie, Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung. Aktuelles Buchprojekt: Bilder als Regierungstechnologien. Krieg, Gewalt und visuelle Kultur. Letzte Publikationen u. a.: Fragmente einer Kunst des Lebens. Zum Verhältnis von Biografie, Kunst und Medien (Mithrsg., 2008), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse (Hrsg., 2008); Sicherheitslos. Prekarisierung, die Künste und ihre Geschlechterverhältnisse, (Mithrsg., 2012). Angela Koch Dr. phil., Kultur- und Medienwissenschaftlerin, ist seit 2010 als Ass. Prof. in der Abteilung Medientheorien/Institut für Medien der Kunstuniverstität Linz beschäftigt und lehrt im Masterstudium Medienkultur- und Kunsttheorien. Zuvor war sie wiss. Mitarbeiterin und Leiterin des Forschungsprojekts »Ir/reversible Bilder. Visualisierung und Medialisierung von sexueller Gewalt« am Institut für

Autorinnen und Autoren

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Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. 2005 hat sie die Ausstellung »XENOPOLIS – Von der Faszination und Ausgrenzung des Fremden« in München kuratiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender- und Medientheorien, sexuelle Gewalt und Erinnerungskultur. Zuletzt sind u. a. erschienen: Die Spur der sexuellen Gewalt. In: Fotogeschichte 124, (2012); Gefährdete Ordnung im Rape-Revenge-Film, in: Deuber-Mankowsky, Astrid et al. (Hrsgg.): Lebenswissen, Medialisierung, Geschlecht (2009). Johannes Kruse Prof. Dr. med., Inhaber des Lehrstuhls und Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie an der Philipps-Universität Marburg. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Bis zum Jahre 2009 war er leitender Oberarzt der Klinik für Psychotherapeutische Medizin der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Seit dem Jahr 2012 ist er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie (DGPM). Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Psychotraumatologie, Psychodiabetologie sowie die somatoforme Störung. Franziska Lamott Prof. Dr. rer. soc., Studium der Soziologie und Psychologie (venia legendi für Sozialpsychologie), Gruppenanalytikerin und Supervisorin; mehrjährige Tätigkeit am Institut für Strafrecht & Kriminologie der Universität München; Gastprofessur Gender-Studies an der Universität Basel; von 1999 – 2012 an der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm, Mitherausgeberin der Zeitschrift »Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik«; Forschungsprojekte und Publikationen in den Bereichen Kriminologie, Psychotherapie- und Genderforschung, Gruppen- und Filmanalyse . Dori Laub M.D., M.A., Psychoanalytiker, Clinical Professor of Psychiatry an der Yale University School of Medicine; Mitbegründer des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies; von 2000 – 03 Direktor des Genocide Study Program (GSP) an der Yale University und seit 2001 stellvertretender Direktor der Trauma Studies ebendort; arbeitet hauptsächlich mit Opfern schwerer Traumatisierung und deren Kindern; zahlreiche Publikationen u. a. Testimony : Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History (1992), zusammen mit Shoshana Felman.

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Petra Löffler Dr. phil. habil., vertritt seit Oktober 2011 die Professur für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie war 2000 – 2005 am Interuniversitären Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an der Universität Köln, sowie 2005 – 2008 am Institut für Medien-, Informations- und Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg tätig. 2008 – 2011 hat sie als Universitätsassistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien gelehrt. Letzte Publikationen u. a.: Medientheorien 1888 – 1933. Texte und Kommentare (Mithrsg., 2002); Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik (2004); Gesichter des Films (mit Joanna Barck, 2005); Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung (2013). Jon McKenzie ist Professor für Englisch an der University of Wisconsin-Madison. Er forscht in den Bereichen Neue Medien, Performance Theorie und zur Rolle von Kunst und Technologie in kulturellen Forschungsprozessen, zeitgenössischen Prozessen der Globalisierung sowie Formen des sozialen Aktivismus. Letzte Publikationen unter anderem: Performance Inc. Global Performativity and Mediated Resistance (im Erscheinen); Contesting Performance in an Age of Globalization (zusammen mit Heike Roms und C.J.W. Wee). In: McKenzie et al. (Hrsgg.): Contesting Performance. Global Sites of Research (2009); Perform or Else: From Discipline to Performance (2001). Elke Mühlleitner Dr. phil., MSSc, Psychologin und Sozialwissenschaftlerin, Psychologische Psychotherapeutin; Forschung, Publikationen und Lehre in der Historiographie der Psychoanalyse und Psychotherapie, u. a. Ich-Fenichel. Das Leben eines Psychoanalytikers im 20. Jahrhundert (2008), Die akademische Hintertreppe. Kleines Lexikon des wissenschaftlichen Kommunizierens (2007); Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Wiederkehr der Folter?« an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Lena Sauer M.A., ist Anglistin und hat Englische Philologie an der Universität Wien und an der Universität zu Köln studiert. Sie arbeitet als Übersetzerin und Texterin in Köln. Mechthild Wenk-Ansohn Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin – Psychotherapie (tiefenpsychologisch fundiert), Spezielle Traumatherapie (DeGPT), Supervisorin (DGSv), seit 1994 im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin (bzfo) tätig; Leitung der

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ambulanten Abteilungen für Erwachsene, Kinder und Jugendliche; zahlreiche Publikationen. Volker Woltersdorff Dr. phil., alias Lore Logorrhöe, Kulturwissenschaftler, ist Fellow am Institute for Cultural Inquiry ICI Berlin. Von 1999 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin und Mitglied des Sonderforschungsbereiches »Kulturen des Performativen«. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von queer theory, subkulturellen Ästhetiken sowie der Verbindung der Analyse von Heteronormativität und Kapitalismus. Aktuelle Publikationen zum Thema: Masochistic Self-Shattering between Destructiveness and Productiveness, in: Lagaay, Alice et al. (Hrsgg).: Modes of Destruction in the Performative (2012); ›Let’s Play Master and Servant!‹ Spielformen des paradoxen Selbst in sadomasochistischen Subkulturen, in: Strätling, Regine (Hrsg.): Spielformen des Selbst. Subjektivität und Spiel zwischen Ethik und Ästhetik (2012). Michaela Wünsch Dr. phil, ist derzeit Marie-Curie-Fellow mit einem Forschungsprojekt zu Wiederholung und Serialität im Fernsehen an der Universität Potsdam, Institut für Künste und Medien und an der University of California Riverside, Department of Media and Cultural Studies. Letzte Publikationen: Die Angst. Lektüren zu Jacques Lacans Seminar X (Hrsg., 2011); Im inneren Außen. Der Serienkiller als Medium des Unbewussten (2010); Mediale Techniken des Unheimlichen und der Angst, in: Camiletti, Doll et al. (Hrsgg.): Phantasmata. Techniken des Unheimlichen (2011); Serialität und Wiederholung in filmischen Medien, in: Christine Blättler (Hrsg.): Kunst der Serie; Die Serie in den Künsten, in: Trajekte (2010). Dima Zito Dipl.-Sozialpädagogin, Systemische Therapeutin (DGSF) und Traumatherapeutin, ist seit 2003 im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf sowie in eigener Praxis tätig. Sie promoviert am FB Erziehungswissenschaften der Universität Wuppertal zum Thema »KindersoldatInnen als Flüchtlinge in Deutschland«. Letzte Publikationen (Auswahl): Diversity in der Flüchtlings- und Migrationssozialarbeit – das Düsseldorfer Konzept, mit: Ghaderi, Cinur et al., in: Effinger, Herbert et al. (Hrsgg.): Diversität und Soziale Ungleichheit – Analytische Zugänge und professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit (2012); Kindersoldaten, Kindheitsbilder und Kinderrechte – Betrachtungen eines Spannungsverhältnisses, in: Promotionskolleg Kinder und Kindheiten im Spannungsfeld gesellschaftlicher Modernisierung (Hrsg.): Kindheitskonzepte

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und Akteure generationaler Arrangements (2011); Alleine konnte ich das nicht schaffen. Psychische Belastung und Therapie bei jungen Flüchtlingen, in: Dieckhoff, Petra (Hrsg.): Kinderflüchtlinge – theoretische Grundlagen und berufliches Handeln (2010).

Abbildungen

Abb. 1: Scham, Bild gemalt von einer jungen kurdischen Patientin (Beitrag Wenk-Ansohn)

Abb. 2: Schweigen als Überlebensstrategie (Beitrag Wenk-Ansohn)

Abb. 3: Time Magazine, Titelseite Bibi Aisha, 9. 8. 2010 (Beitrag Hentschel)

Abb. 4: Time Magazine, Abu Mussab al-Sarkawi, 19. 7. 2006 (Beitrag Hentschel)

Abb. 5: Fernando Botero, Abu Ghraib 56, Öl auf Leinwand 177 x 146 cm, 2005 (Beitrag Hentschel)

Abb. 6: El Perro, Democracy, Installation, 2005 (Beitrag Hentschel)

Abb. 7: Chinesische Folter, China 1905 (Beitrag Hentschel)

Abb. 8: Esmas Narben (Beitrag Koch)

Abb. 9: reenactment der sexuellen Gewalt (Beitrag Koch)

Abb. 10: Sara rasiert sich ihren Kopf (Beitrag Koch)

Abb. 11: Esma im Bus (Beitrag Koch)

Abb. 12: Barszene (Beitrag Koch)

Abb. 13: lynching (1916) (Beitrag Gotto)

Abb. 14: lynching (1920) (Beitrag Gotto)

Abb. 15: lynching (1930) (Beitrag Gotto)

Abb. 16: Emmett Till (1954) (Beitrag Gotto)

Abb. 17: Emmett Till (1955) (Beitrag Gotto)

Abb. 18: Bamboozled (Spike Lee, USA 2000) (Beitrag Gotto)

Abb. 19: The Jazz Fool (Beitrag Gotto)

Abb. 20: The Jazz Singer (Beitrag Gotto)

Abb. 21: Marilyn Manson (Beitrag Gotto)

Abb. 22: Valie Export »Aus der Mappe der Hundigkeit« Abb. 23: Abu Ghraib (Beitrag Lamott)

Abb. 24: Ein Unbekannter wird in Südkorea gefoltert (Beitrag Wünsch)

Abb. 25: Terroristen foltern einen Privatdetektiv (Beitrag Wünsch)

Abb. 26: Der Präsident lässt einen ehemaligen Mitarbeiter foltern. (Beitrag Wünsch)

Abb. 27: Der Präsident schaut sich die Folter an seinem Mitarbeiter auf seinem Laptop im Büro an. (Beitrag Wünsch)

Abb. 28: Jack Bauer wird gefoltert bis vorübergehend sein Tod eintritt. (Beitrag Wünsch)

Abb. 29 – 31: Blair Witch Projekt (Beitrag Löffler)

Abb. 32, 33: Blair Witch Projekt (Beitrag Löffler)

Abb. 34 – 36: Blair Witch Projekt (Beitrag Löffler)