Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation [1 ed.] 9783666402845, 9783525402849


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German Pages [397] Year 2017

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Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation [1 ed.]
 9783666402845, 9783525402849

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Marianne Leuzinger-Bohleber / Ulrich Bahrke /  Tamara Fischmann / Simon Arnold / Stephan Hau (Hg.)

Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation

V

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Band 22 Marianne Leuzinger-Bohleber / Ulrich Bahrke / Tamara Fischmann / Simon Arnold / Stephan Hau (Hg.) Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation

Marianne Leuzinger-Bohleber / Ulrich Bahrke / Tamara Fischmann / Simon Arnold / Stephan Hau (Hg.)

Flucht, Migration und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 10 Abbildungen und 6 Tabellen Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40284-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Lumamarin/photocase.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Marianne Leuzinger-Bohleber Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Stephan Hau Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I Transgenerative Weitergabe von Traumatisierungen in Familien der Überlebenden der Shoah Werner Bohleber Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse 

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Suzanne Kaplan Child Survivors von Genoziden: Traumabezogene Affekte und Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Ilany Kogan Mein Vater und ich. Die Weitergabe eines Traumas von einer Generation an die nächste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Kurt Grünberg und Friedrich Markert Todesmarsch und Grabeswanderung – Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

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Inhalt

II Migration, Flucht und Trauma: Psychoanalytische Überlegungen Sverre Varvin Psychoanalytische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen 

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Vladimir Jović Kriegstrauma, Migration und ihre Konsequenzen . . . . . . . . . . 175 Marianne Leuzinger-Bohleber Embodied memories – Enactments – szenisches Verstehen. Annäherungen an transgenerative Mechanismen bei der Weitergabe schwerer Traumatisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Tamara Fischmann Migration, Flucht und Trauma – Erkenntnisse aus psychoanalytischen Frühpräventionsprojekten . . . . . . . . . . . . 235 Rose Ahlheim und Claudia Burkhardt-Mußmann Psychoanalytisches Arbeiten mit Migrantenfamilien . . . . . . . 259 III Psychoanalytisch inspirierte und interdisziplinäre Studien zur transgenerativen Weitergabe von Traumatisierungen, Intervention und Prävention Alexa Negele, Johannes Kaufhold, Ulrich Bahrke, Lisa Kallenbach, Mareike Ernst und Marianne Leuzinger-Bohleber Chronische Depression und multiple Beziehungs­traumatisierung in der Kindheit. Ergebnisse der LAC-Depressionsstudie aus Sicht von Patienten und Psychoanalytikern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Patrick Meurs Das FIRST STEPS-Programm – Arbeiten mit Migrantenfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Inhalt

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Korinna Fritzemeyer, Constanze Rickmeyer, Judith Lebiger-Vogel, Munise Agca, Lea Lochmann, Claudia Burkhardt-Mußmann und Marianne Leuzinger-Bohleber Frühpräventionsprojekte für geflüchtete Familien mit Kleinkindern – Praxis und Forschung am SigmundFreud-Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Marianne Leuzinger-Bohleber, Nora Hettich, Mariam Tahiri und Tamara Fischmann STEP-BY-STEP. Ein Pilotprojekt zur Unterstützung von ­Geflüchteten in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung ­Michaelisdorf in Darmstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Ilka Lennertz Intergenerationales Trauma und Wege der Erfahrungs­ verarbeitung bei Flüchtlingskindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Vorbemerkungen

Als wir 2015 das Thema für die internationale Forschungskonferenz 2016 festlegten, die das Sigmund-Freud-Institut zusammen mit dem IDeA-Zentrum jeweils am ersten Märzwochenende in Frankfurt am Main organisiert, konnten wir nicht erahnen, wie aktuell diese Problematik durch die Flüchtlingskrise werden wird. In unserem Antrag an die DFG zur Unterstützung der Tagung haben wir vor allem die Interdisziplinarität betont und wollten die transgenerationellen Folgen von Extremtraumatisierungen sowohl aus psychoanalytischer, erziehungs- und sozialwissenschaftlicher als auch aus neurowissenschaftlicher Sicht beleuchten. Doch angesichts der Flüchtlingskrise schien es uns naheliegend, dass wir den grundlagenwissenschaftlichen Dialog zur transgenerativen Weitergabe von Traumatisierungen mit den Neurowissenschaften und der ­Epigenetik nicht mehr ins Zentrum der T ­ agung rücken, sondern nun den Schwerpunkt auf bereits abgesichertes Wissen mit praktischer Relevanz für die Betreuung von Flüchtlingen legen. Viele von uns haben zum Beispiel in Psychoanalysen von chronisch ­Depressiven im Rahmen der LAC-Studie erneut erfahren, wie schwere Traumatisierungen nicht nur das eigene Leben unserer Patientinnen und ­Patienten bestimmen, sondern auch das ihrer Kinder und sogar noch nachfolgender Generationen. Wenn es also möglich ist, die innere Situation aus den Traumatisierungen der Vorfahren ­abzuleiten, ist es wichtig, den Menschen, die heute bei uns Zuflucht suchen – weil sie vor unvorstellbaren Gräueltaten und Verbrechen, Folter und Verfolgung fliehen –, möglichst schnell den sicheren (und professionellen) Raum zu bieten, über ihre eben erlebten Traumatisierungen zu sprechen. Gelingt es, den namenlosen Schrecken und das Grauen in Bilder und Sprache zu fassen, kann die Wahrscheinlichkeit verringert werden, die erlittenen Traumatisierungen ausschließlich ins Körperliche zu verbannen.

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Vorbemerkungen

Wie Stephan Hau in seiner Einführung erwähnt, wurde das psychoanalytische Wissen zur transgenerationalen Weitergabe von ­Extremtraumatisierungen zuerst in Behandlungen mit Überlebenden der Shoah und ihren Kindern und Enkelkindern gewonnen. Suzanne Kaplan und Ilany Kogan erinnern in ihren Beiträgen nochmals an diesen Zusammenhang. Um auch einen klinischen Beitrag aus Deutschland zu dieser Thematik miteinzubeziehen, haben wir einen Bericht aus einer Psychoanalyse einer Analysandin der zweiten Generation von Überlebenden der Shoah von Kurt Grünberg und Friedrich Markert in das Buch aufgenommen, der bereits 2015 in der Zeitschrift »Psyche« veröffentlicht wurde. Diesen Beiträgen vorangestellt haben wir einen Beitrag von Werner Bohleber, der eine Übersicht über die Entwicklung der psychoanalytischen Traumaforschung gibt und so die Beiträge des Buchs auf dem Hintergrund der internationalen psychoanalytischen Forschung verortet. Die anderen Beiträge wurden – in einer kürzeren, modifizierten Form – als Vorträge auf der Tagung »Migration, Flucht und Trauma – Die Folgen für die nächste Generation« Anfang März 2016 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gehalten. Diese Vorträge und Diskussionen sind teilweise in Videoaufzeichnungen auf der Webseite des SFI nachzuerleben (vgl. www.sigmund-freud-institut.de). In diesen Aufzeichnungen ist auch die Diskussion des Vortrags von Bassam Tibi mit Susanne Schröter zur islamistischen Radikalisierung enthalten. Wir wollten dieses Thema bei der Tagung wenigstens andiskutieren, obschon eine eigene Konferenz notwendig wäre, um ihm einigermaßen gerecht zu werden. Wir entschlossen uns zu dieser Buchpublikation zum engeren Thema »Migration, Flucht und Trauma«, um die Gedanken und das Wissen, das an dieser Tagung mit dem Publikum geteilt wurde, einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen. Einige der Beiträge wurden so nicht auf der Tagung als Vortrag gehalten, alle anderen deutlich überarbeitet und das Thema ausführlicher behandelt, als dies in einem Vortrag möglich ist. Wir hoffen, dadurch einen Beitrag zu einem notwendigen differenzierten Nachdenken zu diesem drängenden, gesellschaftlichen Problem in der Fachwelt, aber auch in der Öffentlichkeit, leisten zu können, um der drohenden Spaltung und Ablehnung einer offenen und migrationsfreundlichen Gesellschaft entgegenzuwirken.

Vorbemerkungen

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Die Tagung wurde von Prof. Dr. Tamara Fischmann (SFI, International Psychoanalytic University, Berlin), Prof. Dr. Stephan Hau (Universität Stockholm), PD Dr. Ulrich Bahrke (SFI) und mir als geschäftsführender Direktorin des SFI konzeptualisiert und zusammen mit dem IDeA-Zentrum organisiert. Wir danken Prof. Dr. Sabine Andresen, dass sie bereit war, in Vertretung von Prof. Marcus Hasselhorn in die Tagung einzuleiten. Ebenfalls unser herzlichster Dank gilt allen Vortragenden und Autorinnen und Autoren, die in relativ kurzer Zeit ermöglichten, dieses Buch herauszugeben. Da Simon Arnold (SFI) sowohl an der Organisation der Tagung wesentlich beteiligt war als auch den Großteil der editorischen Arbeit übernommen hat, ist er Mitherausgeber dieser Publikation. Wir danken Panja Schweder, Renate Stebahne und Elke Weyrach für die vielen Stunden bei der Organisation und Durchführung der Tagung. Ohne sie wäre die Tagung nie zustande gekommen. Schließlich gilt unser Dank dem offenen und kritischen Publikum, das durch ihre Fragen und Redebeiträge die gemeinsame emotionale und reflexive Annäherung an dieses komplexe und belastende Thema ermöglicht hat. Marianne Leuzinger-Bohleber für die Herausgeberinnen und Herausgeber

Stephan Hau

Einleitung

Die Tagung, welche die Grundlage für dieses Buch zum Thema »Migration, Flucht und Trauma« war, wurde im Frühjahr 2015 geplant. Damals war es nicht absehbar, welche Aktualität und auch Brisanz das Thema ein Jahr später, im März 2016, haben würde. Angesichts der Ereignisse stand natürlich im Vordergrund, wie eine angemessene und gute Betreuung der hier eintreffenden Menschen gewährleistet werden kann. Aber es sind auch andere wichtige Aspekte hinzugekommen, welche die öffentliche Diskussion prägen, wie etwa die immer deutlicher werdenden Ängste und Abgrenzungstendenzen in Teilen der B ­ evölkerung. ­Natürlich ist weiterhin die Hilfsbereitschaft enorm, was sich an den vielen privaten Initiativen, Hilfen und U ­ nterstützungen ablesen lässt. Es besteht die Gefahr, dass leicht übersehen wird, wie viele unermüdlich arbeitende Menschen versuchen, mit ihrem Engagement und unentgeltlichem Einsatz, es den Flüchtlingen zu erleichtern, sich in den ersten Tagen und Wochen nach der Ankunft zu orientieren und ein neues Leben zu beginnen. Eines kann man jedoch heute mit Sicherheit sagen: Der Umgang mit Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten sowie deren Integration in das Einwanderungsland Deutschland sind zur Herausforderung geworden. Ich möchte kurz darauf eingehen, welche verschiedenen Bedeutungen das Thema »Migration, Flucht und Trauma: Die Folgen für die nächste Generation« – haben kann, und damit auf einige Dinge hinweisen, die für die Tagung und dieses Buch relevant waren. Angesichts der Komplexität und der Dringlichkeit des Problems ist es erstens wichtig, Möglichkeiten zur Diskussion und Raum zum Nachdenken zu schaffen. Die unterschiedlichen Facetten und Aspekte des Themas werden in den verschiedenen Beiträgen deutlich und damit auch, dass es unklug ist, trotz großem Handlungsdruck voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen.

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Stephan Hau

Dieser Band soll zweitens auch die Möglichkeit geben, gesichertes Wissen über die Folgen von Trauma und Flucht durch neueste Forschungsergebnisse zu aktualisieren. Vor allem die Frage, wie stark die psychische Belastung der aktuell kommenden Flüchtlinge wirklich ist, scheint unklar. Dieses Buch soll drittens das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten (z. B. entwicklungspsychologisch, psychoanalytisch, sozialpsychologisch, neurophysiologisch), denn aufgrund der komplexen Prozesse, mit denen wir es bei der Untersuchung von Traumafolgen über mehrere Generationen hinweg zu tun haben, lassen sich die Phänomene nicht mit einem einzelnen Forschungs­ ansatz vollständig und adäquat erfassen und untersuchen. Deshalb hat dieser Band verschiedene inhaltliche Schwerpunkte, wie etwa die Perspektive auf die Weitergabe von Trauma an die nächste Generation (wie dies in den Beiträgen von Marianne Leuzinger-­Bohleber, Suzanne Kaplan und Ilany Kogan thematisiert wird) bzw. die klinische Perspektive auf die therapeutische Arbeit mit von Krieg, Gewalt und Verfolgung traumatisierten Menschen (wie zum Beispiel dies von Sverre Varvin oder von Rose Ahlheim und Claudia BurkhardtMußmann beschrieben wird). Darüber hinaus werden in weiteren Abschnitten Präventions- und Interventionsprogramme vorgestellt (Patrick Meurs sowie Tamara Fischmann und Kollegen). Schließlich setzt sich Marianne Leuzinger-Bohleber in ihrem Beitrag mit den Folgen von Trauma und Migration auseinander. Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes ist die Präsentation von aktuellen, zum Teil laufenden Forschungsprojekten, wobei auch konkrete, praxisnahe Fragen erläutert werden. Viertens soll dieses Buch einen wissenschaftlichen Beitrag zur aktuellen Diskussion liefern und mit den einzelnen Beiträgen auch konstruktive Möglichkeiten und Perspektiven erkennbar machen. Allerdings wird auch deutlich werden, dass viele Fragen ungeklärt bleiben und weiterer Forschungsbedarf besteht. Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass wir es bei dem gewählten Thema mit einem komplexen Problem zu tun haben, bei dem es keine einfachen und schnellen Lösungen gibt. Sicher ist, dass sich die Gesellschaft verändern wird und dass die Folgen für die nächsten Generationen noch nicht absehbar sind. Deshalb ist ein ständiger Austausch an Erfahrungen und wissenschaftlich

Einleitung

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fundierten Erkenntnissen meines Erachtens eine Notwendigkeit. Mit diesem Buch wollen wir einen Beitrag dazu leisten. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führen Statistiken zu Migration und Flucht. So gibt es zurzeit, laut Angaben der WHO, über 200 Millionen Migrantinnen und Migranten weltweit. Fokussiert man auf die Menschen, welche durch Krieg, Verfolgung und Gewalt zur Flucht gezwungen wurden, waren dies im Jahr 2015 über 60 Millionen (laut Angaben des UNHCR). Wären diese 60 Millionen Menschen eine Nation, käme sie auf den 24. Platz unter den Nationen dieser Erde. Einige weitere Zahlen: Die sieben größten Herkunftsländer von Flüchtlingen sind Syrien (3,88 Mio.), Afghanistan (2,59 Mio.), Somalia (1,11 Mio.), Sudan (648.900), Süd-Sudan (616.200), Demokratische Republik Kongo (516.800) und Myanmar (479.000 Menschen). Die sechs größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße des Landes sind Türkei (1,59 Mio.), Pakistan (1,51 Mio.), Libanon (1,15 Mio.), Iran (982.400), Äthiopien (659.500) und Jordanien (654.100 Menschen). Länder mit den meisten Binnenvertriebenen sind Syrien (7,6 Mio.), Kolumbien (6 Mio.), Irak (3,6 Mio.), Demokratische Republik Kongo (2,8 Mio.), Sudan (2,1 Mio.), Süd-Sudan (1,5 Mio.), Somalia (1,1 Mio.) und Ukraine (832.000 Menschen). Dies alles sind bedrückende Zahlen und sie werden umso bedrückender, wenn man sich klarmacht, dass sich hinter diesen Zahlen ebenso viele Einzelschicksale, individuelles Leiden, Hoffnung und Verzweiflung verbergen. Die Flüchtlinge, die es bis nach Deutschland oder Skandinavien schaffen, stellen also nur einen kleinen Teil der Flüchtlingszahlen insgesamt dar. Die Situation scheint auch in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich zu sein. So haben die Behörden in Kanada festgestellt, dass der Gesundheitszustand unter den Migrantinnen und Migranten insgesamt besser ist als der durchschnittliche Gesundheitszustand der kanadischen Bevölkerung. Dabei gibt es aber Subgruppen mit einem erhöhten Risiko für bestimmte physische und psychische Erkrankungen. Die meisten Flüchtlinge sind jedoch mehrfachen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt. Fasst man die Flucht als zeitlich begrenztes Ereignis auf, würde man dabei übersehen, dass

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Stephan Hau

dieser oft jahrelange Belastungen durch Verfolgung, soziale Ausgrenzung, Folter etc. vorausgegangen sein können. Viele Flüchtlinge haben also bereits vor der Flucht traumatische Erlebnisse erfahren müssen. Die Flucht selbst stellt einen weiteren Stressor dar, während der es zu gefährlichen bzw. traumatischen Ereignissen kommen kann. Die Belastung lässt zwar mit der Ankunft in einem Land, in dem Asylantrag gestellt werden kann, nach, sie hört aber nicht auf. Gerade der Zeitraum bis zum Bescheid eines Asylantrages stellt einen weiteren erheblichen Stress- und Belastungsfaktor dar. Besonders wichtig dabei ist, wie den Flüchtlingen begegnet wird, ob sie zum Beispiel die Behörden und die Menschen als freundlich und hilfsbereit erfahren oder eben nicht. Wir wissen, dass der psychische Gesundheitszustand von Asylsuchenden, über deren Antrag noch nicht entschieden ist, schlechter ist als der von Flüchtlingen, die eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen haben. Auch der sich anschließende Akkulturierungsprozess stellt eine Belastung dar. In Abhängigkeit vom sozialen Klima im Aufnahmeland kann dieser belastet sein, scheitern oder auch glücken. In einer Längsschnittuntersuchung im Großraum Stockholm werden einige Kollegen und ich 60 Einwandererfamilien über mehrere Jahre hinweg begleiten, um herauszufinden, welche belastenden, aber vor allem welche Resilienzfaktoren deren Akkulturierungsprozesse beeinflussen (vgl. Ferrer-Wreder, Trost, Bernhard-Oettel u. Hau, 2015). Die Menschen, die nach Deutschland kommen, haben für ihre Flucht große Risiken auf sich genommen. Es ist zweifellos so, dass viele von ihnen extremen Belastungen ausgesetzt waren. Die Bundespsychotherapeutenkammer (2015) schätzt, dass mindestens die Hälfte der Flüchtlinge unter einer psychischen Erkrankung leidet. Schätzungen gehen davon aus, dass 40–50 % dieser Gruppe an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden und 50 % eine Depression aufweisen. Häufig träten beide Erkrankungen gleichzeitig auf. Weiterhin haben Flüchtlinge mit PTBS ein stark erhöhtes Suizidrisiko. Auch die 170.000 Flüchtlinge, die seit 2012 nach Schweden gekommen sind, stellen eine sehr anfällige Gruppe für psychische und physische Störungen dar. Andererseits sind sie eine sehr heterogene Gruppe, in der die Prävalenz psychischer Störungen, die Symptombilder und auch die sozioökonomische Situation sehr unterschied-

Einleitung

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lich sein können. In einer Studie des schwedischen Roten Kreuzes wird dieser Frage zurzeit genauer nachgegangen, und es ist bestürzend zu erkennen, wie wenig die Ergebnisse über Erkrankungs­ risiken und traumatische Belastungen, die in anderen Ländern, bei anderen Flüchtlingsgruppen erhoben worden sind, auf die aktuelle Situation in Schweden anwendbar sind. Deutlich wird, dass wir es mit komplexen, netzwerkartigen Zusammenhängen zu tun haben, die eine vorschnelle Verallgemeinerung von Befunden nicht zulassen. So hängt vieles von den Erlebnissen und Erfahrungen vor der Migration ab, aber auch von Erlebnissen während der Flucht sowie von der Aufnahme durch die Bevölkerung und Behörden in den Ländern, in denen Asyl beantragt wird. Auch die Asylgesetze, die Arbeitsweise und Haltung der Behörden, die vielen individuellen Initiativen einzelner Gruppen und Individuen sowie Erwartungen und andere kulturelle Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Es bedarf also eines differenzierten Nachfragens, eines genaueren Hinschauens, um geeignete Hilfen und Unterstützungen bereitstellen zu können. So versuchen Kolleginnen und Kollegen aus Norwegen, Schweden, Deutschland, Serbien, Malta und Australien in einem internationalen und interdisziplinären Projekt den genauen Gesundheitszustand der Flüchtlinge in den unterschiedlichen Ländern und in den einzelnen Abschnitten des Flüchtlingsweges zu erfassen, um spezifische Interventionen zu entwickeln. In allen Ländern werden die Flüchtlinge direkt untersucht. In Deutschland ist das Sigmund-Freud-Institut am Projekt beteiligt. Das Institut leistet bereits mit einem Pilotprojekt in Darmstadt, dem STEP-BYSTEP-Projekt unter der Leitung von Marianne Leuzinger-Bohleber, in dem es um Präventions- und Interventionsmaßnahmen zur Unterstützung von Geflüchteten geht, einen wegweisenden Beitrag (vgl. Leuzinger-Bohleber, Rickmeyer, Tahiri, Hettich u. Fischmann, 2016). Mehr über diese anspruchsvolle und zum Teil auch sehr belastende Arbeit findet sich im entsprechenden Beitrag in diesem Band. Außer Zweifel steht, dass nicht nur Erwachsene von Krieg und Verfolgung betroffen sind, sondern vor allem auch Kinder. Traumatische Ereignisse, die diese selbst erleben mussten, oder Traumata der Eltern, die sich in die Beziehungserfahrungen einschleichen, diese beeinflussen und prägen – wodurch etwa eine sichere Bindungserfahrung erschwert oder unmöglich gemacht wird –, stellen

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besondere Anforderungen an die sozialen und psychotherapeutischen Hilfsangebote. Die intergenerationelle Weitergabe von traumatischem Erleben an die nächste Generation wird unter anderem in den Beiträgen von Suzanne Kaplan, Ilany Kogan, Kurt Grünberg und Friedrich Markert sowie Marianne Leuzinger-Bohleber aufgezeigt. In diesem Kontext darf nicht vergessen werden, dass sich eine nicht unerhebliche Zahl an unbegleiteten Kindern unter den Flüchtlingen befindet. In Schweden lag die Zahl der asylsuchenden, allein ankommenden Flüchtlingskinder bei ca. 2400 im Jahr 2010, sie stieg auf über 7000 im Jahr 2014 und zwischen Januar und Oktober 2015 waren es bereits über 23.000 (Migrationsverket, 2015). Man kann sich leicht vorstellen, dass diese unbegleiteten Kinder eine besondere Herausforderung für die Betreuung und Ausbildung darstellen, vor allem aber hinsichtlich der Frage, welche psychischen Hilfen diese Kinder benötigen. Beunruhigend ist auch, dass seit dem Jahre 2010 mehr als 1500 dieser Kinder in Schweden wieder »verschwunden« sind. Was dies für die Gesellschaft insgesamt langfristig bedeutet, darüber kann heute nur spekuliert werden. Bei Kindern muss man davon ausgehen, dass die Erkrankungsraten aufgrund von psychischen und physischen Belastungen besonders hoch sind. Laut Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer leiden 20 % der Kinder an Posttraumatischen Belastungsstörungen, was eine 15-fach erhöhte Erkrankungsrate im Vergleich zu in Deutschland geborenen Kindern bedeutet. Viele Kinder haben Gewalt erlebt, oft auch den Tod von Familienangehörigen, also katastrophale und lebensbedrohliche Ereignisse, die tiefe Verzweiflung verursachen können und die Seele in ihren Grundfesten erschüttern. Dazu ein Beispiel aus dem Libanon: Aufgrund des Krieges in Syrien leben momentan ungefähr 7,5 Millionen Kinder als Flüchtlinge innerhalb oder außerhalb Syriens, und jedes Kind hat seine eigene Geschichte. Laut UNICEF (2015) sind diese 7,5 Millionen syrischen Kinder von humanitärer Hilfe abhängig. Eine ganze Generation wurde durch den Krieg ihrer Zukunft beraubt und IS-Anhänger versuchen diese Situation auszunutzen, wenn sie die über 1000 informellen Flüchtlingslager im Bekaatal infiltrieren. Zurzeit leben 1,2 Millionen registrierte Flüchtlinge im Libanon, in einem Land also, das nur 4,8 Millionen

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Einwohnerinnen und Einwohner hat. Die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder. Eine Mitarbeiterin (Carolin Gißibl1) von Humedica berichtet von ihrer Begegnung mit Elisa, »[…] einem kleinen Mädchen, das im Eingang des Flüchtlingszeltes stand. Ihre kleinen Hände spielen nervös mit einem ihrer Zöpfe. Vorsichtig geht sie in das Zelt, scheint ein wenig verwirrt zu sein, von dem, was um sie herum passiert. Das staubige Zelt ist voll von Menschen. […] Sie sieht mich, lächelt und kommt zu mir gerannt. Wir kennen uns schon, seitdem ich vor kurzem mit ihr Fußball gespielt habe. […] Ich nehme ihre Hand und sage meinen Namen, frage ich sie nach ihrem Namen und wie alt sie ist und ob sie auf ihre Mutter warte. Sie heiße Elisa, sei fünf Jahre alt und ihre Mutter sei tot, antwortet sie kurz. Sie habe gesehen, wie sie getötet wurde, fügt sie mit fester Stimme hinzu. Für eine Sekunde wusste ich nicht, was ich sagen soll. Ich hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet. Gleichzeitig bin ich wütend, weil ich so taktlos war und ein Kind, das vor dem Krieg floh, nach den Eltern gefragt habe. Elisa spricht weiter. Ihre weiche Stimme berührt mich und ich bewundere die Kraft und die Ehrlichkeit, mit der sie erzählt, wie Männer in ihr Haus gestürmt seien und ihre Mutter mit sich rissen, trotz ihrer Schreie und Bitten. Sie hätten sie zur Tür gezogen und dann in den Kopf geschossen. Das Letzte, was sie sah, war, dass die Männer ihre Mutter an den Beinen über den Asphalt wegschleiften. Ich knie völlig erstarrt vor ihr. Was soll ich jetzt am Besten tun? Offensichtlich hat sie ein besseres Gefühl dafür. Sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihren Kopf. Als sie beim Fußballspielen hinfiel, hatte ich mit meiner Hand über ihren Kopf gestreichelt. Ich verstehe dies als Aufforderung, damit fortzufahren. Sie lächelt und fragt: ›Willst du meine neue Mama sein?‹« (Gißibl, 2015; eigene Übersetzung, S. H.).

Bei der Bewältigung solcher und ähnlicher traumatischer Erlebnisse bedarf es früher oder später psychotherapeutischer Hilfe. Die Psychoanalyse hat seit vielen Jahren maßgeblich zur Diskussion um 1 Carolin Gißibl ist Koordinatorin für Humedica und hat mehrere Reisen in den Libanon gemacht, um Flüchtlingen zu helfen.

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Stephan Hau

Trauma und deren Folgen beigetragen und sich bereits sehr früh, wie Werner Bohleber in seinem Beitrag zeigt, mit der Konzept­ ualisierung von Trauma und den Auswirkungen von Krieg, Folter und Gewalt auf die Psyche des Menschen beschäftigt. Vor allem die klinischen Erfahrungen über die psychischen Folgen, welcher der Holocaust für die Überlebenden und deren Kinder hatte, führten zu wichtigen Erkenntnissen über den zeitlichen Verlauf dieser Nachwirkungen und über mögliche Behandlungen. So beschrieb Krystal (2000) einen »katatanoiden Zustand« bei Überlebenden, in dem der Zugang zu Gefühlen blockiert ist. Keilson und Sarpathie (1979) wiesen die Auswirkungen der extremen KZ-Erfahrungen auf die Kinder der Überlebenden nach und auch Bergmann, Jucovy und Kestenberg (1982) beschrieben eindrücklich die traumatischen Folgen des Holocaust für die nächste Generation und wie die psychologischen Prozesse verstanden werden können, die zur Weitergabe des Traumas führen. Alle diese Arbeiten und viele weitere klinische Erfahrungen aus der psychoanalytisch-therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen stellen ein wichtiges Erfahrungswissen der Psychoanalyse dar, das in der heutigen Situation und bei der Frage nach geeigneten Hilfen für Flüchtlinge, die traumatische Situationen erleben mussten, von großer Bedeutung ist. Massive Traumatisierung hat die Destabilisierung basaler zwischenmenschlicher Strukturen zur Folge, wie etwa intime Beziehungen, bei denen intrapsychische und interpersonelle Funktion beeinträchtigt sind (etwa die Regulation von Emotionen, basale Zuwendung, grundlegende Identität), aber auch individuelle Beziehungen zu Gruppen, in denen Identität und Entwicklungsaufgaben verhandelt werden, sind nachhaltig beeinträchtigt. Die Auswirkungen von Migration, Flucht und Trauma sind also nicht nur individuell zu denken, sie haben einen nachhaltigen Einfluss auf soziale Gruppen und letztlich auf die Gesellschaft als Ganzes, und zwar über die Generationen hinweg. Hieraus erwächst die Verantwortung, sich diesen Problemen zu stellen und nach Lösungen zu suchen. Dieses Buch leistet einen Beitrag dazu.

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Literatur Bergmann, M., Jucovy, M., Kestenberg, J. (Hrsg.) (1995). Kinder der Opfer, Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Bundespsychotherapeutenkammer (2015). BPtK-Standpunkt: Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen. Zugriff am 16.01.2017 unter http://www.bptk. de/uploads/media/20150916_BPtK-Standpunkt_psychische_Erkrankungen_bei_Fluechtlingen.pdf Ferrer-Wreder, L., Trost, K., Bernhard-Oettel, C., Hau, S. (2015). Comparing approaches to reaching and engaging multiple generation families in research on health, acculturation, and positive development: A pilot study on sampling and incentive strategies. Stockholm University, Department of Psychology. Gißibl, C. (2015). Berättelse från flykten: »Vill du bli min nya mamma?«. Zugriff am 16.12.2016 unter http://barnmissionen.se/vill-du-bli-min-nya-mamma/ Keilson, H., Sarpathie, H. (1979). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern: deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart: Enke. Krystal, H. (2000). Psychische Widerständigkeit: Anpassung und Restitution bei Holocaust-Überlebenden. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 54 (9), 840–859. Leuzinger-Bohleber, M., Rickmeyer, C., Tahiri, M., Hettich, N., Fischmann, T. (2016). What can psychoanalysis contribute to the current refugee crisis? International Journal of Psychoanalysis, 97 (4), 1077–1093. Migrationsverket (2015). Statistik. Zugriff am 16.12.2016 unter http://www.migrationsverket.se/Om-Migrationsverket/Statistik.html UNHCR (2015). Weltflüchtlingszahlen: Global Trends 2015. Zugriff am 16.12.2016 unter http://www.unhcr.de/service/zahlen-und-statistiken.html UNICEF (2015). http://www.unicef.org/statistics/WHO (2015). Migrant health. Zugriff am 16.12.2016 unter http://www.who.int/hac/techguidance/health_ of_migrants/en/

I Transgenerative Weitergabe von Traumatisierungen in Familien der Überlebenden der Shoah

Werner Bohleber

Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse1

Die Katastrophen des vergangenen wie des begonnenen Jahrhunderts, Kriege, Holocaust, rassische und ethnische Verfolgung sowie die Zunahme sozialer Gewalt und das neu entwickelte Bewusstsein für die Gewalt in Familien, für Misshandlung und sexuellen Missbrauch von Kindern, machten und machen Traumatisierungen von Menschen und deren Folgen zu einer unabweisbaren Aufgabe für die Theorieentwicklung und Behandlungstechnik der Psychoanalyse. Wir stehen vor der Aufgabe, ein möglichst umfassendes Ver­ ständnis der Destruktion und der Folgen von Gewalt und Traumatisierung zu gewinnen, zugleich müssen die therapeutischen Konzepte der Psychoanalyse daraufhin geprüft werden, inwieweit sie für die Behandlung von Traumatisierungen geeignet sind. Die Beschäftigung mit dem Trauma und seinen Folgen, mit politischer und sozialer Gewalt hatte lange nicht den Stellenwert in der Psychoanalyse, der ihr zukommen müsste. Eine eigentümliche Ambivalenz beherrschte oft die klinische und theoretische Einschätzung. Ein wesentlicher Grund ist darin zu sehen, dass sich die klinischen Theorien der Psychoanalyse zunehmend auf das Hier und Jetzt der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung konzentriert haben und damit auf die Bedeutungen, die sich in der psychoanalytischen Begegnung innerhalb der Behandlungssituation entfalten. Die gegenwärtigen intersubjektiven, konstruktivistischen und narrativen Theorien fassen die Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Außenwelt als komplex und unbestimmt auf. Ihre Bedeutung wird in der intersubjektiven Beziehung zwischen Analytikern und Patienten jeweils neu geschaffen. Erfahrung erscheint so als ein fortlaufender intersubjektiver und interpretativer Prozess. Kind1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des vierten Kapitels von Bohleber (2012).

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heitserfahrungen und die determinierende Kraft der Vergangenheit geraten damit weitgehend ins Vage. Auch die Körperlichkeit aller menschlichen Erfahrungen verschwindet tendenziell; tatsächlich kann sie nicht darin aufgehen, durchweg sozial konstruiert zu sein, und sie lässt sich auch nicht gänzlich gesellschaftlich und intersubjektiv definieren. Bei der Behandlung von Traumatisierungen tritt nun diese Einseitigkeit postmodern-intersubjektiver Theorien besonders hervor, denn das Trauma durchschlägt den Schutzmantel, den die seelische Bedeutungsstruktur des Menschen bildet. Es wird dem Körper eingeschrieben und wirkt sich unmittelbar auf das ­organische Substrat seelischen Funktionierens aus. Das Spezifische des Traumas liegt in der Struktur der Wahrnehmungsprozesse und der Affekte sowie in der Erfahrung, dass der psychische Raum durchbrochen und die Symbolisierung zerstört wird. Das traumatische Erleben ist im Kern das eines »Zuviel«. In dieser kurzen Skizzierung deutet sich schon an, worauf in meiner Darstellung der Theoriebildung zum Trauma ein Schwerpunkt liegen wird, nämlich auf dem Ineinander von hermeneutischen und psychoökonomischen Konzeptualisierungen. Dabei bildet die Frage, worin psychologisch der Kern der traumatischen Erfahrung besteht, eine weitere Leitlinie. Das Trauma und seine Folgen hat in den letzten Jahren zunehmend wissenschaftliches Interesse in der Psychoanalyse auf sich gezogen. Die psychoanalytische Literatur zum Trauma ist zwischenzeitlich so stark angewachsen, dass ich auch nicht annähernd einen umfassenden Überblick über die Arbeiten zur Traumatheorie geben kann. Die Auswahl ist durch meine Schwerpunktsetzung bestimmt; auf Arbeiten, die sich mit Fragen der Behandlung von Traumatisierungen befassen, werde ich dabei nicht eingehen können.

Sigmund Freud und die Entwicklung eines psychoökonomischen Traumamodells Bei den Fällen, von denen Freud in den »Studien über Hysterie« (Breuer u. Freud, 1895d) berichtete, spielte ein sexuelles Trauma eine wichtige Rolle, doch Freud verallgemeinerte diesen Befund noch nicht. Erst 1895 begann Freud nach einer ganz spezifischen Ursache

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der Hysterie zu suchen und fand sie in einer sexuellen Verführung in der Kindheit. In seiner Praxis war Freud bei Patientinnen, die hysterische Symptome ausgebildet hatten, mit sexuellen Verführungserlebnissen in der postpubertären Entwicklungsphase konfrontiert. Als determinierender Faktor reichten ihm diese Erlebnisse aber zur Erklärung der Erkrankung nicht aus. Berichte seiner Patientinnen über sexuelle Verführungen in ihrer Kindheit ließen ihn ein präpubertäres sexuelles Trauma annehmen, eine genitale Stimulation des Kindes durch einen Erwachsenen, die es aber nicht als sexuell erleben konnte. Erst durch eine zweite Verführung nach der Pubertät und durch die zwischenzeitlich eingetretene sexuelle Reifung und Erlebnisfähigkeit erhält das frühe Erlebnis nachträglich seine Bedeutung. Durch assoziative Verknüpfung mit dem akuten Erlebnis und durch die einsetzende Reizüberflutung erhält dieses erste Erlebnis seine traumatische Kraft, die die Abwehr der Erinnerung erzwingt und sie unbewusst macht. Misslingt dieser Abwehrvorgang, eröffnet sich als Ausweg eine hysterische Symptombildung. 1896 hatte Freud die Verführungstheorie publiziert, widerrief sie aber dann 1897.2 Nach Blass und Simon (1994) war Freud immer wieder Zweifeln an seiner Verführungstheorie ausgesetzt. So habe er in der Zeit von 1893 bis 1897 vier unterschiedliche Verführungstheorien formuliert.3 Was wie ein plötzlicher Widerruf seiner Theorie erscheine, sei keinesfalls als eine vollständige Abwendung zu verstehen. Freuds theoretisches Denken gleiche eher einem Serpentinenweg, den er im Verlauf von 20 Jahren nur mit großen Schwierigkeiten begehen konnte (Blass u. Simon, 1994, S. 689). Freud hat sich mit dem Problem, ob eine Verführung tatsächlich stattgefunden hat, noch lange auseinandergesetzt. In dem Brief an Fließ vom 21.9.1897 (Freud, 1985c, S. 283 ff.) nennt er Gründe, die ihn bewogen haben, die Verfüh2 Freuds Widerruf seiner Verführungstheorie hat unzählige Debatten und Veröffentlichungen zu dem Thema nach sich gezogen, auf die ich hier nicht eingehen kann. 3 Blass und Simon (1994) weisen in einer detaillierten Analyse nach, dass Freud im Zeitraum zwischen 1893 und 1897 vier unterschiedliche Verführungstheorien formuliert hat. Als die Verführungstheorie gilt in der Literatur die dritte (während der Zeit vom 15.10.1895 bis zum 6.12.1896 entstanden). Die Autoren führen die unterschiedlichen Theorien darauf zurück, dass sich Freud in jener Zeit intensiv mit verwirrendem und emotional belastendem Material auseinandersetzte (1994, S. 678).

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rungstheorie aufzugeben: Zum einen erzielte er in den Analysen nicht die Erfolge, die er durch diese Aufklärung erwartete, zum anderen erzwang die Häufigkeit der hysterischen Neurosen den Rückschluss auf einen massenhaft verbreiteten sexuellen Missbrauch in Familien. Der dritte Grund, den Freud angibt, liegt in der Beschaffenheit des unbewussten Materials selbst. Da es im Unbewussten keine Realitätszeichen gebe, könne auch über Wahrheit oder affektbesetzte Fiktion nicht sicher entschieden werden. So sah er sich zur Annahme gezwungen, dass es sich bei den Erzählungen seiner Patientinnen nicht um wirkliche Erlebnisse, sondern um Phantasien handelte. Blass und Simon (1994) präzisieren zu Recht, dass entgegen dieser allgemein vertretenen Annahme nicht die Entdeckung ödipaler Phantasien der entscheidende Grund war, sondern die Erkenntnis, dass es möglich ist, eine Phantasie als Realität wahrzunehmen, und dass uns Phantasien auf dieselbe Weise wie reale Ereignisse beeinflussen können. Freud war dadurch gezwungen, von einer ziemlich komplexen Interaktion von Evidenz, Theoretisieren und Phantasie sowohl bei sich selbst als auch bei seinen Patientinnen und Patienten auszugehen. Auch Makari (1998) beschreibt die Wende in Freuds Denken als einen langsamen Übergang, begründet ihn jedoch anders als Blass und Simon. Mit dem Widerruf sei Freud von der Annahme einer spezifischen Ursache zu einer generelleren Kategorie frühinfantiler traumatisch wirkender sexueller Erfahrungen unterschiedlicher Art übergegangen. Neben die Verführung trat nun die traumatische Überstimulierung durch Masturbation. Zwischen 1901 und 1903 rekonzeptualisierte Freud die Masturbation als nicht traumatisch wirkend, sondern als ein Anzeichen erwachender infantiler Sexualität und wechselte damit von der Traumatheorie zu einer Theorie sexueller Triebe und Phantasien. Freud bezeichnete den Wechsel seiner Theorie als einen »Sturz aller Werte« (Freud, 1985c, S. 286). Grubrich-Simitis (1987) spricht von einer Gegenbesetzung gegen das Traumamodell, vom dem sich Freud geradezu »wegkatapultieren« wollte. Aber in Wirklichkeit seien das neu gefundene Triebmodell und das Traumamodell nicht antagonistisch, sondern ergänzten sich gegenseitig. Immer wieder kommt Freud in seinen Schriften auf die traumatische G ­ enese zu sprechen, und dabei auch auf den sexuellen Missbrauch, den er als eine der Ursachen neurotischer Erkrankungen nie aufgab. Wie

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­ rubrich-Simitis (1987, S. 1016) betont, habe Freud stets die BefürchG tung gehabt, »das vergleichsweise gefällige Traumamodell könne tendenziell das radikal neue, dauerhaft unliebsame, ›schwierigere und unwahrscheinlichere‹ [Freud 1918] Trieb-Modell gefährden«. Da für ihn jetzt die psychische Realität »in der Welt der Neurose die maßgebende« (Freud, 1916–17a, S. 383) war, kam er zur Überzeugung, dass eine Traumatisierung auch aus inneren Quellen stammen könne. Einige phasenspezifische infantile Triebäußerungen, Ängste und Konflikte galten ihm als prototypische innere Bedingungen, die einem Erleben durch entsprechende äußere Umstände traumatische Wirkung verleihen konnten. Der Erste Weltkrieg zwang Freud und seine Schülerinnen und Schüler, sich erneut mit der traumatischen Neurose und der pathogenen Wirkung von Außenweltfaktoren zu beschäftigen. Ein psycho­ökonomischer Aspekt trat in den Vordergrund: »Es ist so, als ob diese Kranken mit der traumatischen Situation nicht ­fertiggeworden wären, als ob diese noch als unbezwungene aktuelle Aufgabe vor ihnen stände, und wir nehmen diese Auffassung in allem Ernst an; sie zeigt uns den Weg zu einer […] ökonomischen Betrachtung der seelischen Vorgänge« (Freud, 1916–17a, S. 284). In »Jenseits des Lustprinzips« (1920 g) entwickelte Freud diese Auffassung durch das Konzept des Reizschutzes weiter.4 Dieser wird im traumatischen Erleben durchbrochen, die anstürmenden Quantitäten von Erregung sind zu groß, um gemeistert und psychisch gebunden zu werden. Der psychische Apparat regrediert auf primitivere seelische Reaktionsweisen. An die Stelle des Lustprinzips tritt der Wiederholungszwang. Er aktualisiert das traumatische Erlebnis wieder, in der Hoffnung, die Erregung auf diese Weise abzureagieren oder psychisch zu binden und damit das Lustprinzip wieder in Kraft zu setzen. Auch die posttraumatischen Träume aktualisieren die traumatische Situation wieder und dienen der Reizbewältigung. 4 Freuds Konzept des Reizschutzes, in dem sich biologische und psychologische Annahmen miteinander verschränken, ist immer wieder einer Kritik unterzogen worden, vor allem die neuere Säuglingsforschung hat es grundlegend revidiert. An die Stelle eines passiven Reizschutzes ist ein aktiv-regulierender Umgang des Säuglings mit seiner Umwelt getreten. Auch wird die Rolle der Mutter als Puffer und Reizschutz hervorgehoben (vgl. Esman, 1991; Stern, 1992, S. 324 ff.; Krystal, 1988, S. 200 ff.; Zepf, 2001).

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Das Trauma ist aber nicht nur eine Störung der libidinösen Ökonomie, sondern es bedroht die Integrität des Subjekts auf radikalere Weise (Laplanche u. Pontalis, 1967, S. 518). In »Hemmung, Symptom und Angst« (1926d) greift Freud auf das Konzept der automatischen Angst zurück, wie er es für die Aktualneurosen entwickelt hat. Durch die übergroße Erregungsmenge in der traumatischen Situation entsteht eine massive automatische Angst. Sie überflutet das Ich, das ihr ungeschützt ausgesetzt ist, und macht es absolut hilflos. Die automatische Angst hat einen unbestimmten Charakter und ist objektlos. In einem ersten Bewältigungsversuch nach der Traumatisierung versucht das Ich die automatische Angst in Signalangst zu verwandeln, indem es die absolute Hilflosigkeit in eine Erwartung zu transformieren sucht. Damit schützt es sich und verwandelt die traumatisch erlebte Situation in eine abschätzbare Gefahrensituation. Die innere Aktivität, die das Ich dabei entfaltet, wiederholt »eine abgeschwächte Reproduktion desselben [des Traumas], in der Hoffnung, deren Ablauf selbsttätig leiten zu können« (1926d, S. 200). Die traumatische Situation wird dadurch verinnerlicht und erlangt für das Ich Bedeutung. Die Angst wird symbolisiert. Sie wird zur Signalangst und bleibt nicht mehr unbestimmt und objektlos. Das Trauma erlangt eine hermeneutische Struktur, wodurch die Möglichkeit der seelischen Integration geschaffen wird. Für Freud kann eine traumatische Situation sowohl durch übermäßige Triebregungen als auch durch äußere, reale Erlebnisse entstehen. Die Beziehung zwischen dem äußeren Ereignis und den inneren Vorgängen wurde von Freud aber nie genau festgelegt und die Frage »reales äußeres Trauma versus traumatische Wirkung innerer Phantasien« kann bis heute Debatten auslösen. Auch Fenichel (1937/1981, 1945/1974) definiert das Trauma durch eine übergroße Erregungsmenge, die nicht gebunden werden kann, wobei die traumatische Wirkung eines Ereignisses davon abhängt, wie unerwartet es eintritt. Unerwartete Ereignisse wirken a priori ich-überwältigend. Neben Abfuhr und Bindung steht in Fenichels Traumamodell die Angst im Zentrum. Traumata sind für Fenichel in der menschlichen Entwicklung unvermeidbar. Da die elterliche Fürsorge nicht immer adäquat zur Verfügung steht, wird das kindliche Ich Erregungsmengen ausgesetzt, die zu groß sind und eine primäre Angst vor dem Zusammenbruch des Ichs erzeugen. Spätere Gefahren,

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die vor allem Triebgefahren sind, erinnern an den einmal erlebten traumatischen Zustand. Fenichel sieht einen engen Zusammenhang zwischen traumatischem Angsterleben und zu hoher Sexualerregung. Alle Triebabwehr erfolgt aus Angst und alle (sekundäre) Angst ist das Bemühen des Ichs, traumatische Erlebnisse zu vermeiden. Traumatisch überwältigende Angst, Realangst und Gewissensangst stellen für Fenichel eine genetische Entwicklungsreihe dar. Auf diese Weise leitet er die Psychoneurosen von der traumatischen Neurose ab. Je mehr psychische Energie zur Aufrechterhaltung früherer Verdrängungen aufgewendet werden muss, desto weniger kann das Ich Erregungsquanten binden und desto anfälliger ist es für Traumatisierungen. Im Zustand der Hilflosigkeit regrediert das Ich auf eine primitivere, passiv-rezeptive Art der Realitätsbewältigung. Fenichel hat ein reines psychoökonomisches Abfuhrmodell für das Trauma geschaffen. Die traumatische Situation wird nur noch als übergroße Erregungsmenge konzeptualisiert. War bei Freud in der Hilflosigkeit als traumatischem Zustand des Ichs das Objekt zumindest als fehlendes noch anwesend, so bleibt bei Fenichel nur noch Angst und Ohnmacht, die er als eine Abschaltung der überfordernden Reize versteht. In der Folgezeit rückten in der Theoriediskussion der Psychoanalyse die traumatischen Ursachen gegenüber den triebbedingten Konflikten und den Fixierungen der Libido an den Rand. Arbeiten, die sich mit dem Trauma befassten, bestätigten Freuds Formulierungen, führten aber nicht darüber hinaus.5 Erst die Untersuchungen zur frühen Entwicklung des Kindes seit den 1950er Jahren lieferten neue Erkenntnisse zur Traumakonzeption.

Ferenczi, die Untersuchung früher Mutter-Kind-Interaktionen und die Entwicklung eines Objektbeziehungsmodells des Traumas Eine Ausnahme in dieser Entwicklung bildet Sándor Ferenczi. Er war überzeugt, dass das traumatische Moment in der Pathogenese der Neurosen vernachlässigt wird. Die Nichtbeachtung der äußeren 5 Furst (1967) stellt diese Arbeiten ausführlicher dar.

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Faktoren führe zu falschen Schlussfolgerungen und zu vorschnellen Erklärungen der neurotischen Phänomene aufgrund von inneren Dispositionen. Es war die Änderung seiner therapeutischen Haltung, die Ferenczi ein vertieftes Verständnis traumatischer Störungen ermöglichte. Er gab die distanzierte analytische Haltung auf, weil er erkannte, dass es bei traumatisierten Patientinnen und Patienten in bestimmten Situationen therapeutisch notwendig ist, unbedingt aufrichtig zu sein, Irrtümer einzugestehen und auch eigene Gefühle zu offenbaren. Ferenczi hat die Wirkung von Lüge und Betrug als traumatisierendes Moment und die Gefahr ihrer Wiederholung in der therapeutischen Situation erkannt. Das Vertrauen, durch diese Aufrichtigkeit geschaffen, macht den Unterschied zur traumatogenen Vergangenheit aus und ermöglicht deren therapeutische Bearbeitung. Für Ferenczi ist es die Beziehung zum Objekt, die traumatogen wirkt, weil ein Erwachsener, dem das Kind vertraut, sich in einen Aggressor verwandelt und die Sicherheit des Kindes zerstört. Um das gute Objekt zu bewahren, identifiziert sich das Kind mit dem Aggressor, introjiziert ihn, verwandelt ihn in eine intrapsychische Figur und lässt ihn dadurch als eine äußere Bedrohung verschwinden. Das Kind introjiziert damit auch die Schuld des Erwachsenen und beginnt zu fühlen, dass es selbst Strafe verdient. Die Reaktion eines anderen Erwachsenen auf diese Aggression, in der Regel die Mutter, ist entscheidend dafür, ob die Aggression traumatisch wird. Dies ist der Fall, wenn die Tat abgeleugnet oder bagatellisiert wird (Peláez, 2009). Für Ferenczi ist also nicht nur die aggressive Tat verursachend, sondern auch die darin eingebettete Kommunikation: Enttäuschung, Vertrauensbruch und Ableugnung oder Bagatellisierung des Geschehenen. Den Worten der traumatisierenden Liebesobjekte und der Sprache wird hier eine bedeutsame Rolle als traumatogene Faktoren zugesprochen. Ferenczi hat viele spätere Erkenntnisse der Traumaforschung vorweggenommen: die zerstörerische Wirkung des Traumas, durch die ein »totes Ich-Stück« und eine Agonie entstehen; das Enactment, durch das sich ein Trauma in der Behandlung ausdrückt; die Spaltung des Ichs in eine beobachtende Instanz und in einen preisgegebenen Körper; die Lähmung der Affekte und insbesondere die Wirkung des Schweigens und der Sprachlosigkeit des Täters auf das traumatisierte Kind. Darüber hinaus beschrieb Ferenczi eine Notfallreaktion des Kindes, das in seiner ungeheuren Angst, Hilf- und

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Schutzlosigkeit gezwungen ist, sich mit dem Täter zu identifizieren, um seelisch zu überleben. Vor allem die Arbeit über »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« (1933) ist eine noch immer moderne Analyse traumatischer Störungen, die innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft jener Zeit auf Unverständnis und Ablehnung stieß und lange ignoriert worden ist. So verfielen Ferenczis Untersuchungen äußerer traumatisierender Bedingungen und deren Internalisierung durch das Individuum lange Zeit dem Vergessen.6 Die späteren Objektbeziehungsmodelle des Traumas, beginnend mit Michael Balint, gehen auf ihn zurück. Seit den 1950er Jahren untersuchten Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker defizitäre Bedingungen der frühen MutterKind-Interaktionen und deren traumatische Wirkung auf das Kind. Greenacre (1952, 1967) zeigte, wie traumatisch wirkende Ereignisse in den frühen prägenitalen Entwicklungsphasen später schwere Neurosen nach sich ziehen können, mit Störungen der Ich-Entwicklung, Charakterstörungen und Perversionen. Der von Ernst Kris (1956) eingeführte Begriff des Belastungstraumas (strain trauma) leistete gute Dienste, weil er unterschwellige Dauerbelastungen fokussierte. Vielfältige Situationen wurden erforscht, in denen die Mutter als Reizschutz für das Kind versagte und das Kind einer überfordernden und überwältigenden Trennungs- bzw. Verlassenheitsangst ausgesetzt war. Solche Zustände von frühem innerem Stress wirken als »silent trauma« (Hoffer, 1952). Anna Freud und ihre Mitarbeiterinnen hatten schon während des Zweiten Weltkriegs die Auswirkungen von Bombenangriffen auf Kleinkinder untersucht (Freud u. Burlingham, 1949). Spitz (1972) erforschte die Folgen des Entzugs affektiver Zufuhr. Winnicott (1974, 1990) beschrieb die Folgen eines Versagens der Mutter in der Zeit, in der sich das wahre Selbst des Kindes bildet. Das Ich kann die traumatische Wirkung nicht integrieren, spaltet das wahre Selbst ab und bildet ein falsches Selbst aus, das nun als Schutz gegen weitere traumatische Beschädigungen des wahren Selbst dient. Khan (1977) prägte den Begriff des kumulativen Traumas, das aus wiederholtem Versagen der Mutter in ihrer Funktion als Reizschutz für das kleine Kind re6 Vgl. dazu auch die Arbeiten von Cremerius (1983), Dupont (1999), Haynal (1989) sowie Rand und Torok (1995).

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sultiert. Sandler (1967) spricht von retrospektivem Trauma, bei dem die Wahrnehmung einer besonderen Situation die Erinnerung an eine frühere Erfahrung wachruft, die dann unter den gegenwärtigen Bedingungen traumatisch wird. Bowlby (1976) erforschte die verschiedenen Formen früher Deprivationstraumata. Mit allen diesen Untersuchungen rückten die Objekte des Kindes und die Beziehung zu ihnen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Der Traumabegriff wurde dadurch aber der Gefahr ausgesetzt, im Übermaß ausgeweitet und auf alle möglichen Defizite der Mutter-Kind-Beziehung angewandt zu werden, wodurch er seine Spezifität zu verlieren drohte. Mit der Entwicklung der Objektbeziehungstheorien kamen andere Modellvorstellungen in die Diskussion. Die sogenannte Ein-Personen-Psychologie und rein quantitative Erwägungen über eine unerträgliche Erregungsmenge, die das Ich überflutet, wurden verworfen. Nicht mehr ein einmaliges Ereignis wie ein Unfall ist das Paradigma, sondern die Objektbeziehung wird zur Basis der Traumatheorie. Balint (1970) hat dies in der Nachfolge von F ­ erenczi als Erster beschrieben. Ob ein Ereignis oder eine Situation traumatisch wirkt, hängt davon ab, ob zwischen dem Kind und dem traumatogenen Objekt eine intensive Beziehung bestanden hat. Drei spezifische Elemente müssen zusammenkommen: (1) Das Kind ist von dem Erwachsenen abhängig. (2) Dieser tut gegen die Erwartung etwas höchst Aufregendes oder Schmerzhaftes. (3) Er weist das Kind danach ab, die Tat wird geleugnet oder das Kind wird von ihm fallengelassen. Die Objektbeziehung selbst erhält damit traumatischen Charakter. Diese Auffassung vom Entstehen kindlicher Traumata erwies sich als sehr fruchtbar. Wie spätere Untersuchungen (Steele, 1994) bestätigten, sind es bei der Misshandlung oder dem Missbrauch nicht in erster Linie die physischen Verletzungen des Kindes, die die seelische traumatische Störung verursachen, das pathogenste Element ist vielmehr die Misshandlung oder der Missbrauch durch die Person, die man eigentlich für Schutz und Fürsorge braucht. Außerdem eröffnete dieser objektbeziehungstheoretische Ansatz den Blick darauf, dass bei einer schweren Traumatisierung nicht nur die innere Objektbeziehung beschädigt wird oder zusammenbricht, sondern auch die innere, schützende, Sicherheit gebende Kommunikation zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen. Dadurch

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entstehen Inseln traumatischer Erfahrungen, die von der inneren Kommunikation abgekapselt bzw. abgespalten sind. Untersuchungen zur Bindungstheorie haben diese Zusammenhänge weiter erhellt. Sichere Bindung bildet die Basis für das Sicherheitsgefühl und Vertrauen des Kindes in die Beziehungspersonen und die Umwelt. Sie fördert damit die Fähigkeit, über mentale Zustände nachzudenken. Ein Trauma aktiviert das Bindungssystem. Erfolgt eine Traumatisierung innerhalb einer Bindungsbeziehung (Bindungstrauma), so hat dies gravierende Folgen für das Kind. Da das Bindungssystem aktiviert wird, sucht das Kind gerade bei der Person Sicherheit und Hilfe, die seine Angst verursacht hat. Coates und Moore (1997) wiesen darauf hin, dass in den Fällen, in denen der Missbraucher gleichzeitig eine der primären Bindungspersonen ist, die Auswirkungen des Missbrauchs eine spätere symbolische Bearbeitung und Transformation blockieren. Es sei die zerstörerischste Folge des sexuellen Missbrauchs durch eine primäre Bezugsperson, dass es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich ist, das Bindungssystem jemals wiederherzustellen. Das Explorationssystem und die Fähigkeit zu mentalisieren sind antagonistisch zum Bindungssystem. Wenn sich das Kind sicher fühlt, ist das Bindungssystem inaktiv. Wird aber das Bindungssystem durch Ängste oder Traumatisierungen aktualisiert, so wird die Mentalisierungsfähigkeit herabgesetzt oder ausgeschaltet und nichtmentalisierende Modi der Repräsentation von Erfahrung treten wieder in Aktion (Fonagy, 2008). Damit wird auch die Wahrnehmung des traumatisierenden Anderen geschädigt; um die Bindungsperson zu schützen, identifiziert das Kind sich mit ihr und gibt sich selbst die Schuld am Geschehen – ein Zusammenhang, der schon von Ferenczi beschrieben worden ist. In ähnlicher Weise hat die Bindungsforschung in den 1990er Jahren die Einführung eines desorganisierten Bindungsstatus beschrieben. Der Status zentriert sich um Verhaltensmuster des Kindes, die zuvor im Bindungssystem unklassifizierbar waren. Das Kind reagiert desorganisiert, wenn es seine primäre Bezugsperson als Quelle von Angst und Alarmierung und gleichzeitig als die einzige Quelle für die Lösung erlebt. Diese widersprüchliche Erfahrung induziert einen Motivationskonflikt, denn Annäherungs- und Rückzugsverhalten werden gleichzeitig aktiviert. Die Forschungen erbrachten starke Hinweise darauf, dass der desorganisierte Bin-

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dungsstatus des Kindes auf eine gestörte Form elterlicher Betreuung zurückgeht, die ihrerseits eine Folge unaufgelöster traumatischer Erfahrungen der Mutter ist (Green u. Goldwyn, 2002). Psychoanalytische Kleinkindforschung und Bindungsforschung ergänzen sich auch bei der Untersuchung der transgenerationellen Auswirkungen von schwerer elterlicher Traumatisierung auf den Säugling und das Kleinkind und bei der Entstehung eines »relational trauma« in der Primärbeziehung (Leuzinger-Bohleber, 2009; ­Baradon, 2010). Traumatisierte Mütter bilden oft keine genügend gute »primary maternal preoccupation« aus (Rutherford u. Mayes, 2011). Gegen ihre bewusste Intention erzeugt das vulnerable, abhängige, bedürftige Baby in ihnen einen Drang, diesen Seiten ihres Babys entgegenzuwirken oder sie zu bekämpfen, weil dadurch Erinnerungen an ihre eigene frühe Hilflosigkeit aktiviert werden (Baradon, 2010). Mit neuen Untersuchungsmethoden werden hier Forschungen von Fraiberg und Kollegen fortgeführt, die beschrieben haben, wie die frühesten Erfahrungen mit dem primären Liebesobjekt in den Interaktionen mit der nächsten Generation quasi verkörpert wiederkehren. Fraiberg, Edelson und Shapiro (1975) sprachen von »Gespenstern im Kinderzimmer«. Um diese unbewussten Weitergaben zu unterbrechen, sind in der Zwischenzeit vielversprechende Programme von Mutter-Kind-Psychotherapien und Präventionsprogramme mit Risikopopulationen entstanden. Es bestehen auch komplexe Interaktionseffekte zwischen neurobiologischer Vulnerabilität und den Auswirkungen elterlichen Verhaltens. Der Zusammenhang von Misshandlung und sexuellem Missbrauch in der Kindheit und depressiven Erkrankungen im Erwachsenenalter ist hinlänglich empirisch belegt (Hill, 2010). Technologische Fortschritte in der Molekulargenetik machten nun in den letzten Jahren innovative Forschungen möglich, die der Frage nachgingen, wie Gene mit Umweltfaktoren interagieren und einen bestimmten Phänotypus hervorbringen. Diese Untersuchungen ergaben Hinweise, dass spezifische genetische Prädispositionen erst in Kombination mit speziellen Belastungsfaktoren klinisch manifest werden. Vor allem das Serotonintransportergen (und hierbei der Genotyp 5-HTT mit seinen s-Allel-Variationen) war hier von Bedeutung. Lag dieser Risikogenotyp vor, so erhöhten anhaltend belastende Lebensumstände oder Traumata, wie etwa Misshandlung im

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Kindesalter, das Erkrankungsrisiko für eine Depression erheblich (Caspi et al., 2003; Hauser, 2008). Umgekehrt konnten bestimmte protektive Faktoren, wie eine gute mütterliche Responsivität, das Risiko der Entwicklung einer depressiven Störung bei Kindern mit diesem Genotyp reduzieren. Misshandelte Kinder mit diesem genetischen Risiko wiesen nur einen minimalen Anstieg in den Depressions-Scores auf, wenn unterstützende Bezugspersonen verfügbar waren (Kaufman et al., 2006; Goldberg, 2009). Das wirft interessante Fragen nach dem Zusammenhang von Elternverhalten, genetischer Vulnerabilität und spezifischen umweltbedingten Stressfaktoren auf. Weitere Studien auf diesem auch für die Psychoanalyse hochinteressanten epigenetischen Forschungsfeld sind notwendig.

Von der Skotomisierung des sexuellen Missbrauchs zur Recovered-Memory-Debatte Obschon sich Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker mit den pathogenen Auswirkungen von Entwicklungsdefiziten bei Kindern beschäftigten, blieb die traumatische Realität des sexuellen Missbrauchs und Inzests weitgehend außer Betracht (vgl. dazu auch Krutzenbichler, 2005). Simon (1992) hat in den englischsprachigen psychoanalytischen Zeitschriften im Zeitraum von 1920 bis 1986 nur 19 Artikel gefunden, die sich im Titel entweder auf Inzest oder Verführung beziehen. Dieses Defizit hat wissenschaftsmethodische und praktische Ursachen. Psychoanalytisch erwies es sich als schwierig, zwischen unbewussten Phantasien und verdrängten Erinnerungen zu unterscheiden7, was dann zur Folge hatte, dass der Realität­scharakter von Kindheitserlebnissen nur unzureichend wahrgenommen und der Einfluss von Traumatisierungen nicht entsprechend anerkannt wurde. Ein weiterer Grund für die Reserve, Erinnerungen als Speicherung entsprechender Lebensereignisse zu betrachten, lag darin, dass die 7 Über den Realitätscharakter von Erzählungen über sexuelle Verführung schreibt Freud: »Es ist uns bis heute nicht gelungen, einen Unterschied in den Folgen nachzuweisen, wenn die Phantasie oder die Realität den größeren Anteil an diesen Kinderbegebenheiten hat« (1916–17a, S. 385). Der Grund liegt für Freud im Ergänzungsverhältnis von Phantasie und Realität.

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Psychoanalyse, aber auch die kognitive Psychologie, immer wieder aufgezeigt haben, wie sehr Wahrnehmungen durch Phantasien und Wünsche beeinflusst und wie Erinnerungen immer wieder umgearbeitet werden, je nachdem in welchem Kontext sie erneut im Bewusstsein auftauchen (Person u. Klar, 1994). Deshalb richtete sich die Aufmerksamkeit der meisten Psychoanalytiker/-innen auf die Untersuchung der unbewussten Phantasien und auf die darin enthaltenen Triebstrebungen sowie darauf, wie diese die klinischen Phänomene und das Narrativ der Patientinnen und Patienten organisieren. Um die lang anhaltende theoretische und klinische Vernachlässigung des sexuellen Missbrauchs zu erklären, bedarf es aber noch einer Ergänzung. In den Reihen der Psychoanalyse herrschte weithin die Sorge, durch die Beschäftigung mit dem realen Inzest könnte die zentrale Bedeutung des Ödipus-Komplexes infrage gestellt werden. Die ödipal orientierten Vorannahmen vieler Analytiker/-innen führten dazu, bei Patientinnen und Patienten, die einen sexuellen Missbrauch erlebt hatten, eher auf die verführerische Haltung des Kindes zu schauen, anstatt auf das, was dem Kind vonseiten des Erwachsenen angetan wurde. Furst (1967) stellt als Ergebnis mehrerer Untersuchungen zu Inzesterfahrungen von Kindern fest, dass diese den sexuellen Kontakt mit Erwachsenen gutgeheißen, provoziert oder sich sogar angeboten hätten. Auch hätten sie selten unter Schuldgefühlen und unter seelischen Störungen gelitten. Eine ähnliche Sicht findet sich schon bei Karl Abraham (1907a, 1907b), der bei an Hysterie oder Dementia praecox Erkrankten eine Traumatophilie annahm, in deren Folge sie als Kinder ein sexuelles Trauma unbewusst provoziert hätten.8 In den 1980er Jahren hat in der Frage des sexuellen Missbrauchs und der Behandlung von Inzestopfern innerhalb der psychoanalytischen Community ein Umdenken begonnen. Die klinische Beschäftigung mit dieser Art von Traumatisierung, ihre Erforschung, ihre theoretische Ausformulierung und ihre therapeutische Behandlung haben sich verstärkt, wie die wachsende Zahl von Publikationen zu diesem Thema bezeugt (Colarusso, 2010; Egle, 8 Nach Good (1995) wollte Abraham Freuds Auffassung über die infantile Sexualität weiterentwickeln und für die Fälle eine Erklärung finden, bei denen ein sexuelles Trauma tatsächlich stattgefunden hat. Dies brachte ihn mit Freud in Konflikt. Abraham relativierte später seine Position.

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Hoffmann u. ­Joraschky, 2005; Hirsch, 1987; Kluft, 1990; Kramer u. Akhtar, 1991; Levine, 1990; Shengold, 1995; Sugarman, 1994; u. a.). Noch mehr Brisanz erhielt das Thema in den letzten Jahren, als infolge der Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins und der zunehmenden Sensibilität für diese Traumatisierungen lange verschwiegene Missbrauchsfälle in kirchlichen Institutionen und in Internaten öffentlich gemacht wurden. Auch die psychoanalytischen Fachgesellschaften sind sensibler geworden für die Wahrnehmung des sexuellen Missbrauchs auf ihrem Gebiet, das heißt des Missbrauchs von Patientinnen und Patienten durch Psychotherapeuten und Psychoanalytiker. Im Folgenden werde ich mich nur mit dem Trauma des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit beschäftigen. Die Folgen sind – je nach Entwicklungsstand des missbrauchten Kindes – gravierend. Das Ich des Kindes wird von dem traumatischen Ereignis überwältigt und die Wirkungen für den Entwicklungsprozess und die Psychopathologie sind lebenslang. Je jünger das Opfer ist, desto eher benutzt es dissoziative Mechanismen, um das Trauma zu bewältigen, vor allem bei chronischem Missbrauch. Weitere Kernsymptome sind Angstzustände, dissoziative Zustände, Verhaltensauffälligkeiten, Depression, Störungen der Aufmerksamkeit und Schulschwierigkeiten. Während der Adoleszenz und im Erwachsenenalter kommen weitere Störungen hinzu, wie Substanzabusus, Essstörungen, Somatisierungen, erhöhtes Suizidrisiko, eine Häufung von jugendlichen Schwangerschaften, sexuelle Probleme in den Beziehungen. Diese Störungen halten mit großer Wahrscheinlichkeit lebenslang an (Colarusso, 2010). In den 1990er Jahren hat sich vor allem in den USA eine wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatte, die sogenannte Recov­ered-Memory-Debatte, über die Zuverlässigkeit von Erinnerungen an ein Kindheitstrauma entwickelt, insbesondere wenn diese Erinnerungen nach langer Zeit der Verdrängung im Erwachsenenalter im Verlauf einer Psychotherapie wieder auftauchen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht unter anderem die Frage, ob es ein besonderes traumatisches Gedächtnis gibt, in dem Erinnerungen anders als im expliziten autobiografischen Gedächtnis aufbewahrt werden. Diese Hypothese haben insbesondere Van der Kolk und seine Mitarbeiter/-innen in verschiedenen Untersuchungen vertreten (vgl. Van der Kolk, 1996; Van der Kolk, McFarlane u. Weisaeth, 1996).

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Danach werden traumatische Erfahrungen aufgrund der extremen Erregung spezifisch enkodiert. Die Integration und Interpretation mithilfe des semantischen Gedächtnisses wird unterbrochen, und die traumatischen Erfahrungen werden als affektiver Zustand, als somatische Empfindungen, als Gerüche, Geräusche und als visuelle Bilder gespeichert. Das Ergebnis ist ein nichtsymbolischer, unflexibler und unveränderbarer Inhalt traumatischer Erinnerung. Ihr Wiederauftauchen ist abhängig vom Eintreten bestimmter Reize, die mit der ursprünglichen traumatischen Szene assoziiert sind. Widersprüchlich bleiben bei Van der Kolk (1996) die Aussagen darüber, inwieweit diese traumatischen Erinnerungen ins Gedächtnis »eingraviert« sind und durch spätere Erfahrung nicht verändert werden können. Obwohl es zwischenzeitlich eine umfangreiche Forschung zur Frage des Vergessens und Wiedererinnerns von Kindheitstraumata gibt, sind wichtige Fragen noch nicht geklärt. Während Einigkeit besteht, dass traumatische Erinnerungen vergessen werden können, gibt es gegenwärtig keinen Konsens darüber, wie eine vergessene oder verdrängte Erinnerung wieder auftauchen kann und ob traumatische Erinnerungen anders prozessiert werden.9 Eines der Hauptargumente gegen die Annahme eines besonderen traumatischen Gedächtnisses besteht darin, dass der wesentliche Inhalt traumatischer Ereignisse in der Mehrzahl der Fälle sehr wohl mittels des autobiografischen Gedächtnisses erinnert wird. Vergessen und verzerrt werden in der Regel periphere Details (Schacter, 1996). Das gilt auch für frühe Erinnerungen, die bis ins dritte Lebensjahr zurückreichen können. Terr (1991) stellt fest, dass vor allem bei einmaligen Kindheitstraumata besonders deutliche und detaillierte Erinnerungen vorhanden sind, während bei länger dauernden und wiederholten traumatischen Erlebnissen Erinnerungslücken und Amnesien auftreten. Eine Rekonstruktion von traumatischen Erfahrungen aus wieder auftauchenden sensorischen Eindrücken, Bildern, Enactments und affektiven Zuständen durch die Therapeutin oder den Therapeuten, die dann bei Patientinnen und Patienten Erinnerungen an verges9 Eine gute Zusammenstellung der allgemeinen psychologischen Forschung haben Roth und Friedman (1997) vorgelegt. Innerhalb der psychoanalytischen Literatur findet sich eine detaillierte Kritik der Hypothese eines besonderen traumatischen Gedächtnisses bei Brenneis (1997, 1999) sowie bei Fonagy und Target (1997).

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sene sexuelle Missbrauchserfahrungen hervorrufen, ist, wenn sie nicht durch außertherapeutische Bestätigungen abgesichert wird, mit vielen Unwägbarkeiten und fraglichen Annahmen verbunden: (1) Es kann keine genaue Passung zwischen dem expliziten, autobiografischen und dem impliziten Gedächtnis geben. (2) Das Gedächtnis ist anfällig für suggestive Beeinflussungen, die gar nicht bewusst ausgeübt werden müssen. (3) Die Feststellungen von Brenneis (1997) als auch von Fonagy und Target (1997), dass es für keine der in der psychoanalytischen Literatur berichteten Wiedererinnerungen von sexuellem Missbrauch darüber hinausgehende außertherapeutische Bestätigungen gebe, sind umstritten (vgl. dazu auch Good, 1994). Kluft (1999) widerspricht dem entschieden und verweist unter anderem auf eigenes publiziertes Fallmaterial, zu dem es solche Bestätigungen gebe. (4) Sehr fraglich sind auch einige Annahmen, auf die ­Therapeuten in psychoanalytischen Fallberichten mit aufgedecktem sexuellem Missbrauch die Glaubwürdigkeit gründen. Traumatischen Erinnerungen wird darin eine besondere Qualität zugeschrieben, die es ermögliche, ihre historische Realität zu erkennen. Diese Besonderheit finden Davies und Frawley (1994) in den dissoziativen Zuständen: »Der Therapeut muss die dissoziativen Zustände, in die der Patient während der Behandlung kommt, annehmen, mit ihnen arbeiten und sie sogar fördern, denn durch diese Zustände enthüllt sich die Wahrheit« (S. 94, eigene Übersetzung, W. B.).

Für Person und Klar (1994) sind die intensive affektgeladene Qualität dieser Erinnerungen, ihre visuelle und sensorische Form sowie ihre Unveränderbarkeit Kennzeichen dafür, dass die Erinnerungen wirklichkeitsgetreu sind. Solche Annahmen können zu illusorischen Schlussfolgerungen führen, insbesondere wenn keine alternativen Hypothesen geprüft werden. Therapeut/-in und Patient/-in einigen sich dann darauf, dass bestimmte Erinnerungen authentisch sind, während es sich in Wirklichkeit um Deckerinnerungen handelt (vgl. Good, 1994, 1998). Die Sachlage, dass es vermutlich kein spezifisches traumatisches Gedächtnis gibt, dessen Inhalt eine größere Nähe zur historischen Realität aufweist, kann auch dazu verleiten, sich ganz von der historischen Realität zurückzuziehen und sich

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mit der Annahme zu begnügen, dass sich hinter den »Recovered Memories« nur eine psychische Realität befinden kann. In der Zwischenzeit scheint sich aber aufgrund weiterer Untersuchungen mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass Kindheitserinnerungen zwar fehlbar sein können, aber der Kern der Erlebnisse meist sehr genau erinnert wird, besonders bei belastenden und traumatischen Kindheitserfahrungen (Hardt u. Rutter, 2004; Fonagy, 2008; Leuzinger-Bohleber, 2008). Wie steht es aber ganz allgemein um Erinnerungen an Traumata, die sich vor dem dritten Lebensjahr ereigneten? Nach Terr (1988) ist der Zeitpunkt von 28 bis 36 Monaten der Wendepunkt, ab dem Kinder ihre Erfahrungen vollständig verbalisieren können, wobei bei Mädchen die Schwelle etwas früher liegt als bei Jungen. Lange Zeit gab es keine verlässlichen empirischen Daten zu Traumatisierungen in der frühen Kindheit. Zwar stießen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker in der Folge von Freuds Behandlung des Wolfsmannes, der im Alter von 18 Monaten den sexuellen Verkehr der Eltern beobachtet hatte und sich daran erinnerte, immer wieder auf traumatische Ereignisse in der Frühzeit der Patienten, aber genaues Wissen über diese Ereignisse war nicht verfügbar. Dazu gehörte auch die Frage, ob, wie und wie genau solche sehr frühen Traumatisierungen erinnert werden können. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Forschungslage dazu verändert. Die kognitive Unreife von Kleinstkindern schließt nicht aus, dass sie Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis ausbilden. Zumeist sind es implizite Erinnerungen, die sich danach über längere Zeiträume hinweg im Verhalten niederschlagen und sich in Enactments oder im Spiel wiederholen. Es handelt sich dabei mehr um ein Wiedererleben als um ein Erinnern, meist ausgelöst durch Trigger aus der Umgebung des Kindes. Terr (1985, 1988) betont, dass in dieser Frühzeit ein traumatisches Ereignis sich am stärksten in einem visuellen Eindruck niederschlägt, der wie ins Gehirn »eingebrannt« sein könne und Bestand habe sowie die Tendenz, sich wieder aufzudrängen, wenn Stimuli an das traumatische Ereignis erinnern. Coates und Gaensbauer (2009), Gaensbauer (1995) sowie Gaens­ bauer und Jordan (2009) fanden bei Kleinkindern zwischen sieben und 15 Monaten weitere sensorische Repräsentationen eines traumatischen Ereignisses jenseits des Visuellen wie Geräusche,

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Berührungsempfindungen oder auch kinästhetische Eindrücke, die alle über einen gewissen Zeitraum Bestand hatten. Zwar muss man davon ausgehen, dass diese frühen Erinnerungen in späteren Entwicklungsphasen, dem Alter und den kognitiven Möglichkeiten entsprechend, überarbeitet oder auch verändert werden, doch bleibt darin die frühe Erinnerung in der einen oder anderen Form erhalten. In der Behandlung von solchen traumatisierten Kleinkindern fand Gaensbauer, dass diese Kinder in den Re-Enactments des Traumas im Spiel zielgerichtet versuchten, das zu kommunizieren, was ihnen zugestoßen war. Dabei scheint es auch keine absolute Trennung zwischen einer nonverbalen und einer verbalen Darstellungsweise zu geben. Das explizite Gedächtnis scheint also schon weit früher zumindest rudimentär verfügbar zu sein als allgemein angenommen. Sobald diese Kinder über Worte verfügten, war jedes von ihnen in der Lage, die nonverbalen Repräsentationen mittels Worten sozusagen zu überschreiben. Zur Zeit des traumatischen Geschehens muss also nicht unbedingt die Verbalisierungsfähigkeit gegeben sein, damit es später verbal zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Gründe dafür, weshalb traumatische Erinnerungen in dieser Weise behalten werden können, sind noch nicht klar. Gaensbauer vermutet einen Zusammenhang mit der Ausschüttung von Stresshormonen während des traumatischen Ereignisses. Pretorius (2009) hatte einen zu Beginn der Therapie sechsjährigen Jungen vier Jahre lang in psychoanalytischer Behandlung, der sich im Laufe der Behandlung erstaunlich genau daran erinnern und beschreiben konnte, wie sein Vater ihn, als er 18 Monate alt war, entführt hat, nachdem er im Beisein des Kindes die Mutter ermordet hatte.

Kriegsneurosen Auf dem internationalen psychoanalytischen Kongress 1918 in Budapest fand ein Symposium zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen statt mit Beiträgen von Sándor Ferenczi, Karl Abraham, Ernst Simmel und Ernest Jones, die mit einer Einleitung von Sigmund Freud 1919 veröffentlicht wurden. Freud (1919d) spricht darin von einem Ichkonflikt zwischen dem friedlichen und dem neuen, kriegerischen

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Ich. Ersteres fühlt sich durch die Wagnisse des Letzteren in seinem Leben bedroht. Durch diese »Ichgestaltung« wird das Gefürchtete, das bei den traumatischen Neurosen eine äußere Gewalt ist, zu einem »inneren Feind«. Abraham Kardiner hat nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges seine Erfahrungen und Beobachtungen in der Behandlung von Kriegsveteranen aus dem Ersten Weltkrieg neu bewertet und 1941 veröffentlicht. Den Kern der traumatischen Neurose bildet danach eine Physioneurose mit einer chronifizierten extremen physiologischen Erregung. Weitere Kennzeichen sind eine Fixierung an das Trauma mit einer veränderten Konzeption des Selbst in der Beziehung zur Welt, ein atypisches Traumleben (Albträume mit Vernichtungsdrohungen, Träume mit wenig symbolischem Inhalt, mit Schuldreaktionen), Ich-Einschränkungen, chronische Irritabilität, Schreckreaktionen und eine Neigung zu explosiv-aggressiven Reaktionen. Auch Ernst Simmel hatte schon im Ersten Weltkrieg reichhaltige Erfahrungen mit Kriegsneurosen gesammelt. Er interpretiert sie später (1944/1993) im Lichte der neuen Ich-Psychologie. Die Art der traumatischen Situation bewirke die jeweilige Traumatisierung. Simmel unterscheidet zwischen traumatischen Neurosen in Friedenszeiten und im Krieg. Der entscheidende Unterschied zu sonstigen traumatischen Neurosen liegt ihm zufolge darin, dass der Soldat ein »Militär-Ich« ausbildet. Er muss als Teil einer Einheit funktionieren und sein ziviles Über-Ich durch den Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten ersetzen. So regrediert er psychisch auf eine Eltern-KindBeziehung. Die Vorgesetzten lenken ihn und vermitteln ihm dadurch Sicherheit und Schutz vor einer unbekannten Realität. Wird diese Identifikationsneigung von den Vorgesetzten enttäuscht, fühlt sich der Soldat wie von seinen Eltern verlassen. Die Enttäuschung des Vertrauens löst das Trauma aus, weil die Vorgesetzten ihre Funktion als schützende innere Instanz verloren haben. Erst diese innere Situation lässt die äußere Gefahrensituation traumatisch werden. Auf diese Weise schreibt Simmel dem Objekt eine besondere Bedeutung in der traumatischen Situation zu.10 Auch Fairbairn (1943/1994) und Rosenberg (1943) betonen die inneren infantilen Ursachen traumatischer 10 Michael Balint (1970) wird diesen Bruch des Vertrauens durch das Objekt in den Mittelpunkt seiner Traumakonzeption rücken.

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Erfahrungen und kommen in ihren Untersuchungen von Kriegsneurosen zum Schluss, dass äußere Ereignisse, unabhängig davon, wie überwältigend sie gewesen sind, nur dann eine Neurose auslösen können, wenn sie spezifische unbewusste Konflikte berühren. Rafael Moses (1978) hat Balints objektbeziehungstheoretischen Ansatz in seiner Untersuchung der Kriegsneurosen weitergeführt. Die rein energetische Sicht des Traumas als Überwältigung der Reizschranke habe den Psychoanalytikern den Blick dafür verstellt, nach weiteren Mechanismen zu suchen, die dem drohenden traumatischen Zusammenbruch entgegenwirken. Moses findet sie in der Entwicklung des Selbst, in einer realistischen Selbstachtung, die unbewusst nicht durch Omnipotenz und Verleugnung der eigenen Verletzlichkeit bestimmt wird, sowie in der Fähigkeit zur Affektkontrolle und in dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer primären Gruppe. Diese Faktoren gründen in der frühen Kindheit und sie bedingen unterschiedliche Anfälligkeit für Traumatisierungen im Erwachsenenalter. Sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die nachhaltigen Folgen der Kriegstraumatisierungen wieder in Vergessenheit. Erst nach dem Vietnam-Krieg wurden aufgrund des Engagements der Veteranenverbände in den USA groß angelegte Untersuchungen zu den langfristigen psychischen Folgen des Krieges durchgeführt. Daraus resultierte dann 1980 die Einführung einer neuen diagnostischen Kategorie »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTBS) in die offizielle psychiatrische Nomenklatur (vgl. dazu Herman, 1993; Van der Kolk, Weisaeth u. Van der Hart, 1996). Diese Neuerung setzte eine intensive psychiatrische, psychologische und neurobiologische Forschung in Gang, deren Ergebnisse auch die psychoanalytische Diskussion traumatischer Störungen beeinflussten.

Die Folgen des Holocaust in ihrer Bedeutung für die Traumatheorie Durch die seelischen Folgen des Holocaust für die Überlebenden und ihre Nachkommen erzwang eine extreme traumatische Realität Eingang in die psychoanalytische Theorie. Nach der Befreiung der

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Überlebenden aus den Lagern dauerte es allerdings längere Zeit, bis die Leiden der Opfer, von Ausnahmen abgesehen (Friedman, 1948/1990), die Aufmerksamkeit der Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker fanden.11 Ein Wandel trat ein nach dem Erlass der Gesetze zur Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung in der BRD. Sie schrieben vor, dass der Zusammenhang der Verfolgung mit den gegenwärtigen Symptomen durch medizinische und psychiatrische Untersuchungen nachzuweisen war. Neben Psychiatern waren auch Psychoanalytiker als Gutachtende tätig, von denen viele entweder selbst Nazi-Überlebende waren oder noch rechtzeitig emigrieren konnten. Durch ihre Pionierarbeiten wurden grundlegende wissenschaftliche Einsichten in die seelischen Störungen der Überlebenden gewonnen.12 Die bis dahin gängige Traumatheorie erwies sich als unzureichend, um die spezifischen Symptome und das Erleben der Überlebenden angemessen einzuordnen. Diese Art der Traumatisierung war mit den gängigen diagnostischen Kategorien nicht adäquat zu beschreiben. Es war kein einmaliges Durchbrechen der Reizschranke, wie etwa beim Schocktrauma, sondern eine extreme Dauerbelastung. Der Monate oder Jahre dauernde Terror, die physische Grausamkeit, der quälende Hunger, die Ohnmacht und die Dehumanisierung, der Verlust der Familie, das Miterleben von Folter und Mord, all das überschritt das für die Psyche Erträgliche bei weitem. Das Erscheinungsbild der traumatischen Folgen wies eine bestimmte Einheitlichkeit auf und seine Ausprägung war weitgehend unabhängig von der prätraumatischen Persönlichkeit und ihren Konflikten. Zwischenzeitlich ist die Anzahl von Arbeiten zu den Folgen des Holocaust stark angewachsen. Ich kann hier nur auf einige Arbeiten eingehen. Hoppe (1962, 1965, 1968) diagnostizierte bei den Überlebenden neben vielfachen psychosomatischen Reaktionen und Erkrankungen eine chronisch-reaktive Aggression. Die massive Aggression, 11 In dem Sammelband von Furst (1967) zum Beispiel kommt der Holocaust als Trauma noch nicht vor. 12 Eine ins Einzelne gehende Darstellung findet sich bei Bergmann und Jucovy (1992) und Grubrich-Simitis (1979). Zur skandalösen Handhabung der Gutachtenpraxis durch die deutschen Behörden und durch viele deutsche psychiatrische Gutachter vgl. Eissler (1963), M. Kestenberg (1995), Niederland (1980), Wangh (1965), allgemein: Pross (1988).

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von vielen Forschern als Zentrum des Überlebenden-­Syndroms erachtet, wurde gegen das eigene Selbst gewendet und führte zu Somatisierungen und zu der vielfach beschriebenen chronisch-reaktiven Depression. Ein weitgehender Verlust des Selbstwertgefühls ging einher mit Apathie und einem Rückzug von der Außenwelt. Die Tiefe der Depression war bestimmt von dem Ausmaß der narzisstischen Regression, die zu einem Rückzug aus Objektbeziehungen und zu einer Entmischung der libidinösen und aggressiven Triebimpulse führen konnte. Eissler (1968) hat dies als fortschreitende »narzisstische Entleerung« gekennzeichnet. Hoppe konnte zeigen, dass dieser Prozess der Regression auf die narzisstisch-orale Stufe dann aufgehalten und damit eine schwere Depression und Apathie verhindert werden konnten, wenn es dem Überlebenden gelang, introjizierte Elternimagines wieder zu besetzen. Ein anderer Identifizierungsmechanismus, der im Zuge dieser narzisstischen Regression auftrat, ist in seiner pathogenen Qualität in der Literatur mehrfach beschrieben worden: die Identifizierung mit dem Verfolger. Sie war auch ein Mittel, die massive voranschreitende narzisstische Entleerung aufzuhalten. Damit setzte sich aber, wie Grubrich-Simitis (1979) ausführt, paradoxerweise das von den Verfolgern propagierte Feindbild im Selbst fest und entwertete das Selbstwertgefühl weitgehend. Auf dem 25. Internationalen Psychoanalytischen Kongress 1967 in Kopenhagen fand erstmals ein Symposium zu den psychischen Problemen Überlebender statt.13 William Niederland berichtete dort über seine klinischen Erfahrungen in Diagnostik und Behandlung von Holocaust-Überlebenden. Er prägte den Begriff des »Überlebenden-Syndroms«, ein typischer psychopathologischer Zustand, der unabhängig von Alter, Geschlecht, individueller und soziokultureller Vorgeschichte nach längerem KZ-Aufenthalt auftrat (Niederland, 1968, 1981). Das Gesamtbefinden war beherrscht von einem chronischen Zustand ängstlicher, blander Depression. Auf der Symptomebene fanden sich multiple körperliche Beschwerden, schwere Schlafstörungen und Albträume, in denen die Vergangenheit wieder durchlebt wurde, soziale Rückzüge und chronische Apathie, die von 13 An dem Symposium »Psychic Traumatization Through Social Catastrophe« nahmen teil: Hoppe, Lorenzer, Niederland, Simenauer, Wangh, de Wind, Winnik.

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kurz dauernden Wutausbrüchen unterbrochen wurde, affektive Abstumpfung und die Unfähigkeit, die traumatischen Erfahrungen zu verbalisieren. Als ein Hauptcharakteristikum beschreibt Niederland eine nicht auflösbare Trauer und eine Überlebensschuld. Das Überleben wurde als Verrat an den toten Eltern und Geschwistern erlebt und selbst zum Konflikt. Auch für Henry Krystal (1968, 1988, 1991, 2000) führt die gängige ökonomische Sichtweise des Traumas mit ihrer Annahme von übermäßigen Reizquantitäten und ihrem Modell eines passiv wirkenden Reizschutzes zu irreführenden Konstruktionen über Affekte und Traumata. Nach der neueren Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung beruhen Wahrnehmungen und Bewertungen einer S­ ituation auf einem komplexen Zusammenspiel von verschiedenen kognitiven und affektiven Funktionen und in ihnen fundierten Abwehroperationen. Daraus ergeben sich interindividuelle Unterschiede. Nur so ergebe die Rede von der Reizschranke noch einen Sinn. Ob ein psychisches Trauma eintritt, hängt allein davon ab, ob eine gegebene innere oder äußere Gefahr subjektiv als unentrinnbar eingeschätzt wird. Ist dies der Fall, gibt das Subjekt auf und ein traumatischer Zustand tritt ein, der durch ein verändertes Bewusstsein bestimmt wird. Krystal bezeichnet ihn als »katanoiden Zustand«, der wie ein affektiver und kognitiver Filter wirke. Das Paradox des traumatischen Zustandes ist, dass das Betäuben und die Affektblockade als eine Erleichterung von den schmerzhaften Affekten der Angst erlebt werden. Verschiedene Autoren erkennen darin eine Anpassung an die unerträgliche Situation. Hoppe (1962) spricht von einer akuten Depersonalisation, die den Ausbruch eines seelischen Schocks und eines Affektstupors unterband und so half, die Grausamkeiten der ersten Wochen im Lager zu überleben. Grubrich-Simitis (1979) bezeichnet diesen Zustand als eine Armierung des Ichs, die verhindere, von automatischer und panischer Angst überflutet zu werden. Niederland spricht von Automatisierung des Ichs. Für Krystal wird durch den katanoiden Zustand ein Prozess eingeleitet, der zu einem »Automaten-Zustand« (robot state) führt. Die Unterwerfung zieht eine Selbstpreisgabe nach sich und eine Spaltung des Selbst in einen beobachtenden und einen anderen Teil, den Körper, den das Ich preisgibt. Es erfolgt eine Erstarrung und Abstumpfung, durch die alle Schmerzreaktionen und affektiven Äuße-

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rungen blockiert und die kognitiven Prozesse zunehmend eingeengt werden, sodass nur noch der Restbestand eines sich selbst beobachtenden Ichs übrig bleibt. Am Ende kann der psychogene Tod stehen. Krystal hat hier einen allgemeinen traumatischen Prozessverlauf beschrieben, der bei unterschiedlicher Intensität an bestimmten Punkten zum Stillstand kommen kann. Auch nach dem Ende der traumatisierenden Situation dauern die traumatischen Reaktionen noch an: die kognitiv-affektive Einengung bleibt bestehen; die katanoide Reaktion geht in eine Depression über; Stimuli, die mit der traumatischen Erfahrung assoziiert sind, werden vermieden und führen zu Pseudophobien. Albträume, reaktive Aggression sowie Anhedonie sind weitere Folgen. Den ungewöhnlich hohen Anteil an psychosomatischen Erkrankungen unter den Überlebenden interpretiert Krystal als Regressionsphänomen von Affektäußerungen und als posttraumatische Alexithymie.14 Hans Keilson (1979) führte eine groß angelegte Langzeituntersuchung mit jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden durch, die das Grauen zumeist in Verstecken überlebt hatten. Er erforschte die Auswirkungen der extremen Belastungssituation auf die Entwicklung dieser Kinder und fand, dass ein und dieselbe traumatisch wirkende Situation unterschiedliche Folgen je nach Altersstufe der Kinder hatte.15 Keilson prägte den Begriff der traumatischen Sequenzen. Die lang andauernde extreme Belastungssituation gliederte sich in unterschiedliche Phasen im Traumatisierungsprozess: (1) die feindliche Besetzung und der beginnende Terror durch die Nazis; (2) die einsetzende Verfolgung, die Trennung von den Eltern und der Aufenthalt in Verstecken und im KZ; (3) die Nachkriegsperiode. Die jeweilige Beschaffenheit dieser Sequenzen zog klinisch und statistisch signifikante Unterschiede bei den Folgen nach sich. Als ein besonderes Ergebnis der Untersuchung ist die Bedeutung der dritten Sequenz hervorzuheben. Kinder mit einem relativ günstigen Verlauf der zweiten traumatischen Sequenz, aber mit einer relativ ungünstig verlaufenden Betreuung in der Nachkriegsperiode, 14 Krystal beschrieb die posttraumatische Alexythymie zur selben Zeit, als Marty und de M’Uzan sie in Paris an psychosomatischen Patienten entdeckten. 15 Keilson stellte eine Verschiebung von hauptsächlich charakterneurotischen (0–4 Jahre) über angstneurotische Störungen (4–14 Jahre) hin zu chronisch-­ reaktiven Depressionen (14–18 Jahre) fest.

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zeigten 25 Jahre später ein schlechteres Entwicklungsbild als Kinder mit einer ungünstigen zweiten, aber einer günstigen dritten traumatischen Sequenz. Die mangelhafte Fähigkeit von Pflegeeltern, die Bedeutung des Traumas für das betroffene Kind zu erfassen und sich verstehend darauf einzustellen, erwies sich als ein trauma­ togener Faktor. Keilson beschreibt damit empirisch die Bedeutung der Objektbeziehungen und des kommunikativen Aspekts für die Auswirkungen von Traumatisierungen. Martin Bergmann (1996) hat einige der Fakten zusammengestellt, die die Psychoanalyse zwangen, nach dem Holocaust das Wesen des Traumas mit neuen Augen zu sehen: (1) Die Frage der prätraumatischen Persönlichkeit spielte für die Überlebenden des Holocaust oft keine Rolle. Viel wichtiger waren die Dauer der Inhaftierung und die Gräuel, die sie erlebt hatten. Die Traumatisierung war so massiv, dass es nicht zur Regression auf eine frühere psychosexuelle Stufe kam, sondern die seelische Struktur selbst zerstört wurde. (2) Das Bedürfnis zu trauern hatte die Unfähigkeit dazu in eine Melancholie verwandelt. (3) Die Fähigkeit, metaphorisch zu sprechen und zu handeln, ging verloren. Anders als bei Psychosekranken bestand der resultierende seelische Konkretismus nur partiell. Dies führte zu der wichtigen Entdeckung, dass die Überlebenden in einer doppelten Realität leben. Im Alltag verhalten sie sich realitätsgemäß. Von Zeit zu Zeit jedoch bricht die psychische Realität des Holocaust durch und sprengt ihr Leben. Das Trauma hat in einigen seelischen Regionen die Fähigkeit zerstört, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. (4) Oft vergingen viele Jahre und manchmal sogar Jahrzehnte zwischen der Befreiung aus den KZs und dem Ausbruch der traumatischen Neurose. Solange das Leben schwierig und unsicher war, schien die Wirkung des KZ-Aufenthalts häufig latent geblieben zu sein. Diese Latenz erwies sich als ein wesentliches Charakteristikum von traumatischen Störungen. (5) Die erlittenen Traumatisierungen überstiegen die seelische Verarbeitungsfähigkeit der Überlebenden und drangen auch in das Leben der nachfolgenden Generation ein.

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Weitergabe der traumatischen Folgen des Holocaust an die nächste Generation Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre begannen Forschungsarbeiten zu erscheinen, die bei Kindern von Überlebenden das Auftreten von Symptomen beschrieben, die im Verhalten und Erleben der Eltern während der Verfolgungszeit eine besondere Bedeutung hatten. Auch in Träumen und Phantasien dieser Kinder ließen sich immer wieder Hinweise auf die traumatischen Erfahrungen der Eltern finden. Nach und nach wurde somit erkennbar, dass eine extreme Katastrophe wie der Holocaust Auswirkungen auf die nächste Generation hatte. Es entstand eine umfangreiche Forschungsliteratur, und vielfältige psychoanalytische Behandlungsberichte verschafften weitere Aufschlüsse. Ein einheitliches Störungsbild im Sinne eines Zweite-Generation-Syndroms analog dem Überlebenden-Syndrom ließ sich nicht finden, die Störungsbilder waren eher inhomogen. Aber generell erwies sich das Trauma der Eltern als »organisierender Faktor« im Leben der Kinder (M. S. Bergmann u. Jucovy, 1995, S. 51). Kestenberg spricht von einem »ÜberlebendenKomplex«, der an die Kinder weitergegeben wird, als gemeinsamer Grundlage. Welche Konflikte und Störungen in der Entwicklung aus der Meisterung dieses Komplexes erwachsen, hängt von seiner jeweiligen Ausprägung ab. Kestenberg beobachtete in jedem Fall eine »Balance zwischen ungewöhnlicher Ich-Stärke und einem g­ ewissen Maß an Pathologie« (J. Kestenberg, 1995, S. 126). Untersucht wurden insbesondere die psychologischen Prozesse, die eine Transmission von Traumata ermöglichen. Schwer traumatisierte Eltern waren nur sehr begrenzt in der Lage, für ihre Kinder eine Container-Funktion (Kogan, 1990) zu übernehmen bzw. einen geschützten Raum für ihre Entwicklung bereitzustellen (Herzog, 1995). Da die traumatisierte Mutter durch eigene Ängste, aufgestaute Hassimpulse, Bindung an verlorene Objekte, Affektlähmung und andere Formen der Ich-Regression sich nicht adäquat in die Bedürfnisse ihrer Kinder einfühlen konnte, wirkte die Extremtraumatisierung der Eltern auf die Kinder als ein kumulatives Trauma (Grubrich-Simitis, 1979). Die Eltern konnten ihre Affekte und Phantasien und ihre davon geprägten Selbstanteile nicht in sich halten und beruhigen oder sie symbolisch bearbeiten, sondern

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sie brauchten ihre Kinder, um sich von dem unerträglichen Übermaß an Trauer und Aggression projektiv zu entlasten. Unbewusst wird vom Kind erwartet, dass es die affektiv belasteten Traumata, die die seelische Struktur der Eltern zerstört haben, ungeschehen macht. Für das Kind bedeutet dies, dass es mit seiner Person einen psychischen Raum darstellt für Wünsche, Ängste und Affekte, die nicht die seinen sind, die ihm aber eingeschrieben werden. Aufgrund der engen Verbundenheit mit dem Elternteil ist es dem Kind nicht möglich, sie als fremd zu erkennen und seine Autonomie zu behaupten. In der psychoanalytischen Literatur werden zwei Hauptphantasien beschrieben: (1) Das Kind fungiert als Ersatz eines ermordeten geliebten Familienmitglieds. (2) Dem Kind wird ein besonderer Auftrag zugeschrieben: Durch persönliche Leistungen und seine Lebensziele soll es den Familienstolz wiederherstellen und vergangene Verletzungen heilen (M. V. Bergmann, 1995). Indem nun das Kind diese elterlichen Phantasien übernimmt, rechtfertigt es die traumatisierten Erwachsenen, versucht ihnen zu helfen und erhält so die enge Beziehung aufrecht. Die Eltern-Kind-Beziehung hat einen stark symbiotischen Charakter. Der Individuations- und Separationsprozess der Kinder stellte eine ernste Bedrohung des familiären Gleichgewichts dar. Trennung konnte bei den Eltern alte Vernichtungsängste wiedererwecken (Barocas u. Barocas, 1979). Vor allem bei Eltern, die ihre massive Traumatisierung nur abwehren konnten, indem sie ihre traumatischen Erfahrungen verleugneten bzw. entwirklichten, erfassten die Kinder Details der Traumatisierung des Elternteils, konnten sich aber diese nicht erklären. Der Pakt des Schweigens verhinderte die Aufklärung. Die Kinder ahnten, dass die fragmentarischen Erinnerungsspuren etwas beinhalteten, was sie nicht wissen sollten, und verdrängten sie ihrerseits. Um diese verdrängten Spuren bildeten sich dann unbewusste Phantasien, deren Abkömmlinge ins Bewusstsein vordrangen und in der äußeren Welt ausagiert wurden. Die Kinder suchten das, was den Eltern zugestoßen ist und was sie erlebt haben, zu verstehen, indem sie in ihrem Leben die Erfahrungen der Eltern und die dazugehörigen Affekte wiedererschaffen: Da diese nicht symbolisch zu verarbeiten sind, hat das Verhalten der Kinder eine Art von Konkretismus, der die unbewusste Identifizierung mit dem Schicksal der Eltern aufzeigt (M. V. Bergmann, 1995; Grubrich-Simitis, 1984;

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­ ogan, 1995). Die Externalisierung soll helfen, die schreckliche ReaK lität ungeschehen zu machen oder sie zu verleugnen. Die Kinder leben in zwei Wirklichkeiten, der eigenen und der, die der traumatischen Geschichte der Eltern angehört. Diese Identifizierungsprozesse aufseiten der Kinder sind intensiv erforscht und beschrieben worden. Ich fasse die wichtigsten Kennzeichen zusammen: (1) Die Identifizierung findet nicht mit der Person oder den Eigenschaften von Vater oder Mutter allein statt, sondern es ist ein Typus von Identifizierung mit einer Geschichte, die vor der eigenen ­Lebenszeit liegt. Kestenberg (J. Kestenberg, 1989) spricht von »Transposition«, einer unbewussten identifikatorischen Teilhabe an der vergangenen traumatischen Lebenszeit der Elterngeneration. Faimberg (1987) kennzeichnet diesen Identifizierungstypus als »télescopage« (Telescoping), als ein Ineinanderrücken von drei Generationen. Klein und Kogan (1986) verwenden das Konzept »Mythos of Survival«, das als unbewusstes Phantasma über die Geschichte der Eltern in die Psyche der Kinder eindringt und um Tod und Leben oder um die Rollen von »Mörder« und »Opfer« kreist. (2) Es sind umfassende Identifizierungen mit dem Elternteil, die das Kind vornimmt, um den Eltern zu helfen, die ihm aber auch vonseiten der Eltern aufgezwungen werden, wenn sie das Kind zur Regulierung ihres prekären narzisstischen Gleichgewichts benötigen (Kogan, 2011). Indem die Geschichte eines anderen in das Kind hineinprojiziert wird und es sich damit identifiziert, erlebt es in einem Teil seines Selbst ein Gefühl der Entfremdung. Diese Identifizierungen können nicht assimiliert werden, sondern bilden einen Fremdkörper im Selbst. Abraham und Torok sprechen von »endokryptischer Identifizierung« (1979, 2001). (3) Es handelt sich um eine unbewusste Identifizierung, die aber nicht einer Verdrängungsleistung entstammt, sondern durch direkte Einfühlung in den unbewussten, verschwiegenen oder totgesagten Inhalt eines elterlichen Objekts entstanden ist. Man kann es als ­Geheimnis oder als »Phantom« (Abraham, 1991) bezeichnen, das sich im dynamischen Unbewussten des Kindes eingenistet hat. Eigene Gefühle und eigenes Verhalten entpuppen sich als entlehnt und gehören eigentlich der Geschichte der Eltern an.

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(4) Ein Charakteristikum ist das spezifische Verhältnis zu Zeit und Zeiterleben. Indem diese Kinder in zwei Wirklichkeiten leben, ist die Vergangenheit mit der Gegenwart vermischt. Die Folge ist eine zumindest partielle Identitätsverwirrung oder das Gefühl einer fragmentierten Identität.

Die Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Traumadiskussion im Deutschland der Nachkriegszeit Von den seelischen Folgen des Zweiten Weltkrieges waren Millionen von Menschen betroffen, Soldaten durch Kriegserlebnisse, die Zivilbevölkerung durch Bombenangriffe auf die Städte, durch Flucht etc. In den psychoanalytischen Behandlungen jener Jahrzehnte nach dem Krieg müssen diese Erlebnisse gegenwärtig gewesen sein, entweder bewusst oder verdrängt, verleugnet und abgespalten, aber in Symptomen und durch Abkömmlinge im Bewusstsein vertreten. Dieser Tatbestand hat zu keiner größeren wissenschaftlichen Reflexion traumatischer Erfahrungen und ihrer Effekte geführt. Auch wenn entsprechende Symptome und Folgen in den vereinzelt p ­ ublizierten Fallberichten beschrieben wurden, so wurden sie weder als traumatische erkannt noch als solche behandelt.16 Die seelischen Nachwirkungen des Krieges waren bei den einzelnen Deutschen unterschiedlich, je nach deren Involvierung in den Nationalsozialismus und seine Verbrechen und deren Verdrängung von Schuld und Verantwortung. Dies hatte spezifische Folgen auch für die Erinnerung und die Auseinandersetzung mit der Realität und den Konsequenzen des Krieges. Alexander und Marga16 Schottlaender und Mitscherlich, die Gründer der Zeitschrift »Psyche«, bemühten sich vergeblich, klinisch-kasuistische Beiträge zu den »großen Zeitfragen« einzuwerben, obwohl die Problematik sich doch jedem, der auf diesem Gebiet tätig war, in fast jeder Sprechstunde aufdrängen musste. Mitscherlich stellt 1947 in einem Brief an Felix Boehm fest, »dass die deutschen Autoren wieder einmal mit tiefsinniger Nabelschau beschäftigt sind […]. Um die Patienten scheint sich kaum jemand zu kümmern, die Bescheidenheit der Krankengeschichtsschreibung lockt offenbar nur wenige, in einer Zeit, in der die Welt verteilt wird« (Mitscherlich, zit. nach Lockot, 1994, S. 80).

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rete ­Mitscherlich haben in ihrer berühmten Studie »Die Unfähigkeit zu trauern« (1967) die gesellschaftlichen Verdrängungs- und Verleugnungsprozesse analysiert, aus denen eine Unfähigkeit zu trauern, eine Abwehr, sich zu erinnern, eine Derealisierung und emotionale Erstarrung sowie eine allgemeine Immobilität resultierte. Mitscherlich und Mitscherlich legen ihrer Analyse Freuds Trauerkonzeption zugrunde, ohne auf eine Traumatheorie zu rekurrieren. Heute können wir davon ausgehen, dass eine Unfähigkeit zu trauern, eine affektive Erstarrung und Immobilität auch Folgen von Traumatisierungen sein können. Darüber nachzudenken, ob eine traumatische Störung vorliegt, heißt nicht, die Frage nach Schuld und Verantwortung und die notwendige Unterscheidung zwischen Opfer und Täter zu ersetzen. Trauma ist ein empirisch-klinischer Begriff, der helfen kann, die damalige Situation umfassender und differenzierter zu verstehen.17 Einzig Alfred Lorenzer hat in jener Zeit die Traumatheorie aufgegriffen und weiterentwickelt (Lorenzer u. Thomä, 1965; Lorenzer, 1965, 1966, 1968a, 1968b). Auch Lorenzer und Thomä stellen zu Beginn ihrer Abhandlung fest, dass es noch kein ausreichendes Beobachtungsmaterial für das Krankheitsbild der traumatischen Neurose gebe, obwohl dies doch von erheblicher sozialer und politischer Bedeutung sei und die Auseinandersetzung um den Begriff des Traumas zu den wichtigen Aufgaben der Psychoanalyse gehöre. Die Patienten, die die Autoren vorstellen, waren durch Kriegseinwirkung schwer traumatisiert: Verlust des Augenlichts durch eine Phosphorgranate bei einem Bombenangriff; Verlust des Beines oder des Armes durch explodierende Granaten; ein draufgängerischer Soldat, der mehrere Verwundungen erlitt und lebensbedrohliche Operationen zu überstehen hatte. Bei allen diesen Patienten erfolgte der Ausbruch einer angstneurotischen Symptomatik ca. 15 bis 20 Jahre später. Eine genaue Untersuchung machte deutlich, dass diese lange symptomfreie Zwischenphase in Wirklichkeit eine »stumme Krankheitsphase« war, bei der eine rigide Abwehrkonstellation an der Oberfläche eine Pseudo- oder Supernormalität erzeugte. Der traumatische Verlust eines Körperteils wurde durch eine Spaltung im Ich gleichzeitig anerkannt und verleugnet. Er war ohne Bedeutung. 17 Ausführlicher gehe ich darauf in meiner Arbeit »Trauma, Trauer und Geschichte« ein (Bohleber, 2001).

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Erst nach einer geringfügigen späteren traumatischen Belastung, die vom »Erlebnisthema« her in einem inneren Zusammenhang mit der ersten traumatischen Situation stand, brach diese Abwehrorganisation zusammen und es kam zu einer massiven traumatischen Reaktion. Lorenzer (1966, 1968a) führt diese psychodynamischen Erkenntnisse über eine zweiphasige Abwehr und das symptomfreie Intervall gegen psychiatrische Gutachten ins Feld, die eine solche Latenz der traumatischen Reaktion bei Holocaust-Überlebenden nicht anerkennen wollten, sondern die später auftretenden Störungen als eine anlagebedingte Krankheit, die nicht auf das Trauma zurückzuführen sei, diagnostizierten, womit den Überlebenden die Berechtigung einer Wiedergutmachung abgesprochen wurde. Im Gegensatz zu dieser differenzierten Analyse der Abwehrorganisation beschreiben Lorenzer und Thomä die traumatische Situation nur global. Fenichel folgend definieren sie die traumatische Situation als ein unerträgliches Erlebnis, von dem das Ich unvorbereitet getroffen wird (1965, S. 693). Die traumatisierende Erfahrung besteht in einer schweren »äußeren Kränkung«. Mit einer solchen Beschreibung wird der Kern der traumatischen Erfahrung verdunkelt. Denn die Kränkung ist genau genommen schon eine Traumafolge und nicht die traumatische Erfahrung selbst. Die Hilflosigkeit des Ichs und seine Überwältigung, die Betäubung der Affekte und ihre Erstarrung sowie die Spaltung der Persönlichkeit als Kernelemente des Traumas werden aus der traumatischen Situation hinausverlagert und als ein typisches zwanghaftes Abwehrsyndrom gewertet. Diesen Mangel im Verständnis der traumatischen Situation hat Lorenzer später korrigiert (1966). Auch hier setzt er sich mit der psychiatrischen Gutachtenpraxis auseinander. Von einer traumatischen Neurose könne man nur sprechen, wenn die Krankheit zwingend durch die situative traumatisierende Konstellation verursacht worden sei. Nicht mehr ein isolierter Reizeinbruch ist das entscheidende Element, sondern das geschlossene Ganze der Umweltsituation, in der sich das traumatische Geschehen abspielt: Äußere Situation, erzwungene Ich-Position und phasenspezifische Symptomatik müssen sich in prägnanter Übereinstimmung befinden (1966, S. 488). Diese Arbeiten von Lorenzer stehen innerhalb der deutschen psychoanalytischen Literatur der 1960er und auch noch der 1970er Jahre fast einzigartig da. Obwohl viele internationale Arbeiten, vor

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allem zu den Folgen der KZ-Lagerhaft, in der Zeitschrift »Psyche« publiziert worden waren, wurde das Thema des Traumas in der deutschen Psychoanalyse kaum aufgenommen. Weitere Meilensteine sind die Arbeiten von Grubrich-Simitis (1979) über die Extremtraumatisierung sowie von Simenauer (1978, 1982) und Rosenkötter (1979, 1981) zu den transgenerationellen Auswirkungen auf die zweite Generation. Zudem lockerte die beginnende Auseinandersetzung der deutschen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker mit der Verwicklung ihrer Profession in den Nationalsozialismus die psychosoziale Abwehr. Seit den 1980er Jahren wurden die Folgen von Nationalsozialismus und Krieg für die nächste Generation vermehrt Gegenstand psychoanalytischer Untersuchung. Dabei hatten die Forschungen zur transgenerationellen Auswirkung des Holocaust auf die Kinder der Opfer und zu den dabei wirksamen Mechanismen auf die Erforschung der anderen Seite, der Kinder der Täter und Mitläufer, großen Einfluss. Die Pathologie der Eltern, das Verleugnen der Beteiligung am Nationalsozialismus und an seinen Verbrechen, die Hörigkeit gegenüber seinen Idealen, die Korrumpierung des elterlichen Ich-Ideals, die Unfähigkeit, sich mit Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen, all das zeitigte für die Kinder Spätfolgen, weil die Eltern sie, vor allem wenn Schuld und Verantwortung verleugnet wurden, im Sinne ihrer Abwehr narzisstisch funktionalisierten und missbrauchten. Eine solche Situation konnte durchaus als traumatisch im Sinne einer lang einwirkenden Schädigung angesehen werden (Rosenkötter, 1979).18 Noch länger dauerte es allerdings, bis das Schicksal der Kriegskinder im Zweiten Weltkrieg Aufmerksamkeit bekam. Den Anstoß dazu gab die in der Bundesrepublik einsetzende Debatte um die Bombardierung der deutschen Großstädte im Zweiten Weltkrieg und deren Folgen nach dem Jahr 2000. Kinder jedweden Alters sind im Krieg Erfahrungen ausgesetzt, die sie nicht verarbeiten können. Ihre seelischen Schutzmechanismen und psychischen Ressourcen sind 18 Auf diese Problematik der traumatischen oder traumaähnlichen Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die zweite Generation kann ich hier nicht weiter eingehen. Ich verweise auf die einschlägigen Arbeiten: Bohleber (1998); E ­ ckstaedt (1981, 1989); Eickhoff (1986); Hardtmann (1995); Rosenkötter (1979, 1981); Simenauer (1978, 1982); u. a. Zu neueren Untersuchungen vgl. Bohleber (1997) mit einer ausführlichen Analyse transgenerationeller Identifizierungen.

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noch nicht so wirksam wie bei Erwachsenen. Auch sind die Grenzen zwischen Innen und Außen noch nicht gefestigt. Kinder brauchen Schutz vor ihren eigenen inneren Ängsten und sie verfolgenden Phantasien und die Bestätigung, dass die Realität ihnen nicht entspricht. Das Kind benötigt die vertrauten erwachsenen Bezugspersonen, um sich geborgen und sicher fühlen zu können. Anna Freud und Dorothy Burlingham (1971) haben mit ihren Untersuchungen von evakuierten Kindern in den »War Nurseries« in London gezeigt, dass Mütter, wenn sie selbst ihre Angst in Grenzen halten konnten, vor allem dem kleinen Kind bei Bombenangriffen so viel Schutz gaben, dass es nicht traumatisiert wurde. Auch die anderen wenigen Untersuchungen über die Auswirkung von Krieg und Bombardierungen während des Zweiten Weltkriegs haben diese Ergebnisse bestätigt. Dennoch brachte der Zweite Weltkrieg, die Bombenangriffe auf die Städte, Flucht und Vertreibung, für Kinder Erlebnisse mit sich, die sie traumatisch überwältigten. Hier konnte in der Regel auch die Mutter keinen Schutz mehr gewähren, vor allem wenn sie selbst von Panik und Todesangst überflutet wurde und dabei seelisch erstarrte oder versteinerte. Britische Untersuchungen haben gezeigt, dass der psychische Schock, bombardiert zu werden, weniger gravierend und nachhaltig wirkte als der Umstand, in Begleitung eines Erwachsenen zu sein, der in Panik gestürzt wurde (Burt, 1943, zitiert nach Eth u. Pynoos, 1985). Auch belegen die britischen Untersuchungen im Zweiten Weltkrieg und spätere Untersuchungen aus anderen Kriegsgebieten (Arroyo u. Eth, 1985), dass die Evakuierung von zu Hause sowie die Zerstörung der vertrauten eigenen Wohnung und deren Anblick einen wichtigen traumatischen Stressor bilden. Dafür kann die moderne Bindungsforschung ihrerseits Belege liefern. Die Evakuierung von Kindern aus dem Elternhaus, die sogenannte Kinderlandverschickung, betraf in Deutschland viele Kinder und Jugendliche, als die Bombardements der großen Städte einsetzten. Verschickt wurde häufig in weit entfernte ländliche Gebiete, sodass ein Besuch der Eltern kaum möglich war. Er war auch nicht erwünscht, denn der NS-Staat versuchte auf diese Weise die Kinder und Jugendlichen unter seinen direkten Einfluss zu bringen. Dadurch wurde eine verfrühte Autonomie von Kindern und Jugendlichen provoziert, die häufig mit Trennungstraumata, massivem Heimweh und Verlassenheitsreaktionen einherging.

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Wie haben sich nun in der Nachkriegszeit solche traumatisierenden Kriegsereignisse auf die kindliche Psyche ausgewirkt? Traumaforschung im engeren Sinne existierte in der Nachkriegszeit nicht. Überhaupt fehlten wissenschaftliche Konzepte und Methoden, um Traumatisierungen angemessen zu diagnostizieren. Wir wissen heute, dass Kinder, die wiederholt traumatischen Ereignissen ausgesetzt sind oder bei denen traumatogene Bedingungen länger anhalten (Traumatyp II), lang anhaltende Persönlichkeitsstörungen ausbilden. Sie ziehen sich zunehmend aus Beziehungen zurück, wirken traurig, leiden unter Affekteinschränkungen und dissoziativen Zuständen. Ihre Erinnerungen sind weniger lebendig und manchmal verzerrt. Abgesehen von diesen allgemeinen Auswirkungen gibt es je nach Alter phasenspezifische Folgen. Je jünger das Kind, desto weniger verfügt es über eine seelische Abwehr gegen diese bedrohlichen Einwirkungen. Ein innerer Rückzug ist eine der häufigen Folgen, was oft zu dem Fehlschluss führt, das Kind sei von den äußeren Ereignissen nicht sonderlich betroffen worden. Während ein vier- bis fünfjähriges Kind schon mit Affektblockade und kognitiver Einschränkung reagieren sowie seine beobachtenden Ich-Funktionen aufrechterhalten kann, droht dem jüngeren Kind eine Überwältigung durch archaische Affekte, die sich mehr und mehr somatisch ausdrücken und in einen Alarmzustand des gesamten Organismus münden, in panisches Weinen und puren Schmerz, gefolgt von Erschöpfung und Einschlafen. Im Einschlafen, das die Funktion eines Sicherheitsventils hat (Krystal, 1978), manifestiert sich ein Rückzug aus einer unerträglichen Realität. Dem Wiederaufwachen folgt bei Fortdauer der traumatischen Situation erneut ein nicht regulierbares Überflutetwerden von Affekten (Krystal, 1988). Andere psychoanalytische Studien zeigen den Zusammenhang von akuten Reaktionen auf das Trauma mit später einsetzenden und lang andauernden Folgen für die Charakterentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Ich beziehe mich hier auf amerikanische »Disaster«-Studien (Honig, Lange u. Leu, 1999). Die unmittelbaren Reaktionen und Symptome ziehen oft charakterologische Langzeitveränderungen nach sich, vor allem wenn über die traumatisierenden Erlebnisse danach nicht mit einem empathischen Zuhörer gesprochen werden kann. Das Kind ist in der Zeit, die auf

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das Trauma folgt, bemüht, seine Psyche zu schützen, sein Selbst zu bewahren und eine Langzeitanpassung an das Trauma auszubilden, um dadurch das Selbst gegen eine erneute Überwältigung durch Angst und Hilflosigkeit zu wappnen. Gehen durch solche Anpassungen Angsteinbrüche, aggressive Handlungen, somatische Besorgnisse und Agiertheit allmählich zurück, so bleiben doch depressive Zustände bestehen und wirken fort. Die Depression ist eine der zentralen Langzeitauswirkungen auf der Charakterebene. Sie mag auf der psychischen Oberfläche nicht sofort erkennbar, sondern hinter rigiden Leistungsanforderungen verborgen sein, zumeist wird sie aber an der mangelnden Fähigkeit, Freude, Lust und Glück zu empfinden, erkennbar. In vielen Fällen bricht sie auch erst mit zunehmendem Alter und nachlassender Leistungsfähigkeit offen aus.19 Epidemiologische Untersuchungen zeigten, dass die heute über 60-Jährigen in Deutschland im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen eine zwei- bis dreifach höhere Prävalenzrate für Posttraumatische Belastungsstörungen haben (Kuwert et al., 2007; Maercker et al., 2008).

Neuere objektbeziehungstheoretische Ansätze zur Traumatheorie Das extreme Verfolgungstrauma des Holocaust hat in der Traumatheorie zu einer Weiterentwicklung der Modelle geführt. Dori Laub hat in verschiedenen Arbeiten (Laub u. Auerhahn, 1991; Laub u. Podell, 1995; Laub, 1998) die objektbeziehungstheoretische Konzeption in Hinsicht auf ihre kommunikative Funktion im Traumatisierungsprozess weiterentwickelt. Im Zentrum der Holocaust-Erfahrung steht der Zusammenbruch des empathischen Prozesses. Die kommunikative Dyade zwischen dem Selbst und seinen guten inneren Objekten bricht auseinander, was absolute innere Einsamkeit und Trostlosigkeit zur Folge hat. Die traumatische Realität zerstört 19 Zu Kriegskindheiten vgl. auch: Bohleber (2006); Ermann (2004); Ermann, Hughes u. Katz (2007); Radebold, Heuft u. Fooken (2006); Radebold, Bohleber u. Zinnecker (2008).

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den empathischen Schutzschild, den das verinnerlichte Primärobjekt bildete, und zugleich das Vertrauen auf die kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit mitmenschlicher Empathie, nämlich dass andere die grundlegenden Bedürfnisse anerkennen und auf sie eingehen. Im Trauma verstummt das innere gute Objekt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt (Cohen, 1985). Hoppe (1962) hat diesen Sachverhalt als eine Zerstörung des Urvertrauens gekennzeichnet und Eissler (1968) als eine fortschreitende narzisstische Entleerung. Je nach Grad der Zerstörung des Erwartungshorizontes der Gegenseitigkeit und je nach Schwere des Bruchs der Dyade von Selbst- und Objektrepräsentanzen lassen sich für Laub und Auerhahn Traumatisierungen unterschiedlich typisieren. »Im Extremfall führt das Trauma zu einer völligen Durchtrennung der Verbindung zwischen Selbst und Objekt« (1991, S. 274). Der Verlust des empathischen inneren Anderen zerstört die ­Fähigkeit, das Trauma zu erzählen. Es kann nicht in ein Narrativ eingebunden werden. Dieser Fähigkeit kommt bei Laub eine besondere Bedeutung zu. Erst in Gegenwart eines empathischen Zuhörenden können die Fragmente zu einem Narrativ zusammenwachsen und kann die Geschichte bezeugt werden. Durch die Erzählung wird Distanz geschaffen. Das traumatische Ereignis und Erleben wird zum Zeugnis und damit ein Stück weit re-externalisiert. Videointerviews mit Überlebenden haben deshalb auch eine therapeutische Bedeutung (Laub, 1992). Kirshner (1994) hat unter Bezug auf Ferenczi das Konzept des guten Objekts und seiner Bedeutung durch eine lacanianische Perspektive ausgeweitet. Er beschreibt es ähnlich wie Laub und Auerhahn (1991): »Das gute Objekt, anfänglich und konkret die Mutter als der erste Interaktionspartner, repräsentiert die menschliche Realität, die das Kind erwartet. Die Mutter bietet einen Zugang zum symbolischen (kulturellen) Universum, das ihre Rolle unterstützt und die Position des Kindes ebenso nach und nach strukturieren wird« (Kirshner, 1994, S. 239; Übers. W. B.).

Auch die Sprache bekomme durch Übertragung auf sie die Qualität eines potenziell liebenden symbolischen Anderen. Für Lacan ist das

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Trauma das Reale, das nur assimiliert werden kann, indem es in die symbolische Ordnung eintritt. Kirshner definiert das Trauma als ein interpersonales Ereignis, das das Netzwerk der Signifikanten zerreißt und das internalisierte gute Objekt beschädigt oder zerstört. Auch Gerson (2009) überträgt ein objektbeziehungstheoretisches Traumaverständnis von den Funktionen primärer Objekte und deren Verlust auf die Funktionen größerer sozialer Faktoren und deren Verlust. Der Verlust des guten inneren Objektes, der Zusammenbruch eines schützenden empathischen inneren Dialogs in der traumatischen Situation führt zu einer »Anwesenheit einer Abwesenheit«, einer Lücke, einem schwarzen Loch im Inneren. Um dies zu konzeptualisieren, zieht Gerson das Konzept der »toten Mutter« von André Green heran. Die Metapher der »toten Mutter« kann »den schockierenden und deshalb traumatischen Verlust aller Quellen von Beistand und Fürsorge bezeichnen, auf die wir uns entweder in der Vergangenheit verlassen oder von denen wir uns künftige Obhut und Schutz erhofft haben – sei es ein Elternteil oder ein Arzt oder ein anderer Mitmensch, eine Gemeinschaft oder auch die ›Mutter Erde‹. […] Die Menschheit als ›tote Mutter‹ ist ganz ähnlich wie die […] personale Variante von ihren eigenen Verlusten, Ängsten und Bedürfnissen so sehr in Anspruch genommen, dass sie angesichts der Not des Opfers stumm und ungerührt bleibt; diese Welt […] okkupiert […] den psychischen Raum als ein totes Drittes und hallt als solches in ihm wider« (2009, S. 201).

Die innere Situation des Traumatisierten ist eine Anwesenheit von Abwesenheit und das Vorhandensein einer Menge zerstörter innerer und äußerer Objekte, um die niemand trauert. Um den Zugang zu dieser Situation des Traumatisierten zu finden, bedarf es der Präsenz eines empathischen Anderen, der eine »Sprache der Abwesenheit« (Gurevich, 2008) erlernen kann, um die Patientin oder den Patienten zu erreichen und ihn durch die toten Zonen und die psychische Leere begleiten zu können, die im gelingenden Fall durch die Präsenz des Anderen aufgenommen und gehalten werden, eines Anderen, »der das Unaussprechliche erträgt und die Voraussetzung dafür schafft, dass es reflektiert werden und Bedeutung annehmen kann« (Gerson, 2009, S. 212).

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Diese objektbeziehungstheoretischen Konzeptionen des Traumas beinhalten verschiedene fruchtbare und weiterführende Aspekte. Dreierlei möchte ich in unserem Zusammenhang hervorheben: (1) Der innere Verlust jeglichen empathische Bedeutung gebenden Objekts in der traumatisierenden Situation kann in vielen Fällen zur Projektion des Empathiebedürfnisses auf den Täter und zu dessen maligner Internalisierung führen, was die spätere Integration des Traumas erschwert. Sylvia Amati hat diesen Vorgang für Folteropfer beschrieben: Der Folterer halte die innere Welt der Patienten dauernd besetzt: »Wie ein Usurpator setzt er sich an die Stelle der Grundobjekte, wirft sich als heilbringende Mutter, als schützender Vater und als derjenige auf, der über Leben und Tod, über Absolution, Ausrichtung und Zugehörigkeit entscheidet« (Amati, 1990, S. 733).

Das maligne, verfolgende Objekt tritt an die Stelle der inneren Objekte und bestimmt den inneren Dialog. Ihm sucht der Traumatisierte später zu entkommen, um wieder frühere prätraumatische Objekte an diese Stelle zu setzen.20 (2) Die traumatische Situation und deren Wirkung zerstört die Fähigkeit, sie zu symbolisieren und ihre Bedeutung zu erfassen (Grubrich-Simitis, 1984). Das Trauma wird zum »schwarzen Loch« in der psychischen Struktur. Unintegrierte Traumafragmente brechen später wieder ins Bewusstsein ein, überwältigen das Ich, das diese Bruchstücke nicht strukturieren und integrieren kann. Sie in ein übergeordnetes bedeutungsvolles Narrativ einzubinden, ist ohne Hilfe nicht möglich. Da das traumatische Erleben das Netz von Bedeutungen eines Menschen zerreißt, kann es auch nicht bedeutungsgebunden beschrieben werden. Der Halt, den Bedeutungen geben, existiert in diesem Augenblick nicht mehr, die traumatische Erfahrung kann nicht »contained« werden. Sie ist direkt in der Struktur der Erfahrung verankert. Um dies psychologisch zu beschreiben, müssen wir zu Metaphern Zuflucht nehmen. Am häufigsten werden die Metaphern des Fremdkörpers, des Lochs (Cohen, 1985; Kinston 20 Vgl. dazu auch Amati (1977); Ehlert u. Lorke (1988); Ehlert-Balzer (1996).

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u. Cohen, 1986), der Lücke (Caruth, 2000) in der psychischen Textur, der Krypta (Abraham u. Torok, 1979) oder des leeren Kreises (Laub, 1998) verwendet. Es bedarf der befriedigenden Interaktionen mit anderen, um den Prozess der Konstruktion von Bedeutungen in diesem Bereich wieder in Gang zu setzen. »Nur wenn der Überlebende sich mit jemand erinnert, wenn die Erzählung in Gegenwart eines engagierten Zuhörers entsteht, kann die Verbindung zwischen ›Ich‹ und ›Du‹ wiederhergestellt werden« (Kinston u. Cohen, 1986, S. 436 f., eigene Übersetzung, W. B.).

(3) Bei den sogenannten »man-made disasters« wie Holocaust, Krieg, ethnische Verfolgung und Folter sind die Opfer zugleich Zeuginnen und Zeugen einer besonderen geschichtlichen Realität. Ihre traumatische Erfahrung in ein übergeordnetes Narrativ einzubinden, bedarf deshalb auch eines gesellschaftlichen Diskurses über die historische Wahrheit des traumatischen Geschehens und über dessen Verleugnung und Abwehr. Die Anerkennung von Verursachung und Schuld restituiert überhaupt erst den zwischenmenschlichen Rahmen und damit die Möglichkeit, das Trauma angemessen zu verstehen. Dominieren in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung die Abwehrtendenzen, fühlen sich die Opfer häufig mit ihrer Erfahrung ausgegrenzt und ausgeblendet, was ihr Sicherheitsgefühl hinsichtlich der traumatischen Realität erneut untergräbt, sie Retraumatisierungen aussetzt oder zum Schweigen verdammt, da sie kein Verständnis erwarten können. Wir stoßen hier auf die komplexe Beziehung zwischen traumatischem Erleben und Wissen. Für Laub und Auerhahn (1993) liegt es in der Natur des Traumas, dass die Betroffenen sich dem Wissen durch Abwehr oder durch Überwältigung der Psyche entziehen, weil es die Fähigkeit des Menschen, das Wissen zu organisieren, überfordert und beschädigt. Die Realität der traumatischen Ereignisse ist jedoch so zwingend, dass sich die Erinnerung trotz ihrer gänzlichen oder partiellen Ausschaltung aus dem Bewusstsein durchsetzt, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise. Das Wissen um das Trauma manifestiert sich in einem breiten phänomenologischen Spektrum, das je nach psychologischer Distanz vom Trauma variieren kann. Es reicht von Flashbacks über intrusive Bilder, Albträume, neurotische

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und psychotische Symptome, repetitive Übertragungsphänomene bis hin zu Charakterstilen und überwertigen Lebensthemen. Die Konfrontation mit der Realität des Traumas löst auch im Zuhörenden heftige Affekte aus, die wiederum eine kognitive und affektive Abwehr oder Lähmung nach sich ziehen, vor allem auch deshalb, weil das Trauma die kulturellen und psychologischen Grundlagen unseres Lebens untergräbt. Eine wichtige Kritik und Ergänzung dieser neueren objekt- und kommunikationstheoretischen Ansätze liefern Baranger, Baranger und Mom (1988). Sie erkennen den Zuwachs an, den die Objektbeziehungstheorie für das Verständnis der pathogenen Rolle des Traumas gebracht hat, kritisieren aber, dass das Konzept des Traumas dadurch verblasse. Die neueren Theorien liefen Gefahr, die Verbindung zwischen traumatischer Situation und Angst aufzulösen. Deshalb setzen die Autoren den ökonomischen Aspekt der Angst wieder als zentrales Faktum des Traumas ein. Die Angst ist der Prüfstein, der zu unterscheiden hilft, was traumatisch wirkt oder was nur pathogen ist. Sie greifen auf Freuds Begriff der »automatischen Angst« zurück. Im Unterschied zur Signalangst sind die Einzelnen hier einer namenlosen, nicht zu lokalisierenden Gefahr ausgeliefert. Diese Angst ist so primitiv, dass sie nur in ökonomischen Termini beschrieben werden kann. Die Reizschranke wird durchbrochen, nicht verarbeitbare Mengen von Erregung rufen eine seelische Desorganisation hervor und eine vollständige Hilflosigkeit. Diese Situation bezeichnen Baranger und Kollegen (1988) als das »reine Trauma«. Die Traumatisierten versuchen das reine Trauma zu zähmen und zu mildern, indem sie ihm einen Namen geben und es einfügen in ein verstehbares kausales Handlungssystem. Paradox ist, dass das Trauma eigentlich inzidentell und fremd ist, aber solange es fremd und unbegriffen bleibt, wird es wiederbelebt und bricht in Wiederholungen ein. Da der Mensch ganz allgemein nicht ohne Erklärungen leben kann, versucht er dem Trauma einen individuellen Sinn zu geben und es in dieser Absicht zu historisieren. Diese nachträglichen Historisierungen sind zumeist Deckerinnerungen. Es ist Aufgabe des analytischen Prozesses, diese Deckerinnerungen als solche zu erkennen und die authentische Geschichte zu rekonstruieren, wobei die Historisierung nach vorne offen, prinzipiell endlos ist. Durch diese wahrere Geschichte wird die zirkulär in Wiederholungen gebundene Zeitlichkeit wieder frei, und

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Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit treten wieder miteinander in Austausch. Kann das Trauma wie im analytischen Prozess in einer offenen zeitlichen Historisierung rekonstruiert werden, so wird es als ein Ereignis der eigenen Geschichte anerkannt. Was vorher namenlos und nicht explizierbar war, spielt nun eine Rolle als ätiologischer Faktor für eine Reihe von Ereignissen und nachfolgenden Störungen. Baranger und Kollegen (1988) warnen vor dem weiten Niemandsland dieses »namenlosen Traumas«, das die Analytiker/-innen nicht ohne Risiko betreten. Eine der Gefahren liege darin, vorschnelle und falsche Historisierungen vorzunehmen, was zum Stillstand der Analyse führen kann und die Transformation des Traumas erneut in eine repetitive zirkuläre Bewegung geraten lässt.

Einige allgemeine Probleme psychoanalytischer Traumatheorie Integration der Traumamodelle (1) Nach Baranger und Kollegen (1988) können wir, wie dargestellt, den Kern traumatischer Erfahrung nur dann adäquat erfassen, wenn wir die überwältigende, vernichtende Angst mitberücksichtigen. Eine Angst, die ihrerseits nur mit psychoökonomischen Termini zu beschreiben ist. Wenn die Autoren theoretisch ein »reines Trauma« postulieren, so heißt das andererseits auch, dass ein psychoökonomisches Modell allein nicht ausreicht, denn ohne einen Restanteil bedeutungsgebender innerer Strukturen kommt ein Trauma nicht vor. Das als unerwartet Erfahrene steht zunächst auf dem Boden des Erwartbaren, das ihm seinen Sinn verleiht und von dem es sich abhebt. Die massive traumatische Erfahrung zerbricht dann diese Basis, indem sie das Vertrauen in die gemeinsame symbolisch vermittelte Welt, die uns vorbewusst verbindet und die wir in allen Interaktionen voraussetzen, zerstört. Das Trauma stellt insofern eine Crux für alle hermeneutisch-narrativen und konstruktivistischen Theorien dar. Was diese vor allem bei massiven traumatischen Erfahrungen nicht mehr erfassen können, ist der Zusammenbruch des Konstruktionsprozesses selbst, mit dem wir Bedeutungen generie-

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ren.21 Das destruktive Element, die unmittelbare traumatisierende Gewalt, entzieht sich der Bedeutungsgebung. Es bleibt ein Zuviel, ein massiver Überschuss, der die seelische Struktur durchbricht und nicht durch Bedeutung »contained« werden kann.22 Deshalb bedarf es neben einer objektbeziehungstheoretischen auch einer psychoökonomischen Begrifflichkeit. (2) Insbesondere das Moment der Überwältigung ist hier außer dem Einbrechen des Unerwartbaren in den seelischen Verstehenszusammenhang des Menschen anzuführen. Auch die wiederkehrende Intrusion fragmentierter traumatischer Erinnerungen kann retraumatisierend wirken, weil auch sie ein Moment des Plötzlichen und unmittelbar Überwältigenden hat. Aber nicht das zeitliche Moment ist letztlich entscheidend, sondern die Tatsache, dass das einbrechende Wiedererleben nicht von Bedeutungen aufgefangen werden kann und somit das Individuum erneut dem Geschehen hilflos und passiv ausgeliefert ist. Erst nachträglich versucht der Traumatisierte dem Geschehenen Bedeutung zuzuschreiben und damit für das Selbst einen Bezug herzustellen. Ich möchte dies noch etwas weiter ausführen. Wie Horowitz (1997, 1999) nachgewiesen hat, sind plötzlich einbrechende, aufschießende Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und Enactments im Verhalten ein hervorstechendes Indiz für das Vorliegen eines Traumas. Der Versuch, das Trauma zu meistern, vollzieht sich nach Horowitz in Phasen. Intrusion und Wiederkehr traumatischer Erinnerungen wechseln sich mit Phasen der Verleugnung und emotionalen Betäubung ab. Durch diesen phasisch sich wiederholenden Verlauf kann die intrusive Gewalt und die Verleugnung allmählich reduziert und die traumatische Situation langfristig integriert werden, wenn es – wegen der Schwere des Traumas oder aufgrund der Vulnerabilität durch frühere Konflikte – nicht zu Komplikationen und pathologischen Verläufen kommt. Intrusive Symptome scheinen bei der Mehrheit der Traumatisierten innerhalb von 48 Stunden nach dem Ereignis aufzutreten. Viele bewerten in dieser Phase ihr Handeln, ihre Lähmung und Hilflosigkeit mit besonderer 21 Eine interessante Möglichkeit, dieses Problem innerhalb konstruktivistischer Theorien zu lösen, bietet Moore (1999). 22 Ähnliches scheint Krystal (1988) mit seinem Begriff des »surrender« fassen zu wollen.

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Intensität. Die intrusiven Phänomene fördern somit zunächst die Assimilation und helfen auch, über das traumatische Geschehen zu sprechen. Mit der Zeit aber scheinen sie ihre Funktion zu verändern (Shalev, 1996). Dienten sie zunächst der Verarbeitung und waren insofern ein »Heilungsversuch des Ichs« (Freud, 1939a), so können sich die Intrusionen später chronifizieren und als reine Überwältigung erfahren werden, der das Ich passiv ausgeliefert ist. Ihm wird damit demonstriert, in der Kontrolle seiner Reaktionen anhaltend hilflos zu sein. Die intrusiven Phänomene werden dann zu einer repetitiven Dysfunktion des Gedächtnisses, und das Ich muss ein beträchtliches Maß an kognitiver und emotionaler Aktivität aufwenden, um ihr Auftreten abzuwehren. Die Intrusion hat insofern zwei Gesichter: Sie kann der seelischen Integration und Bedeutungsfindung dienen, sie kann aber auch disruptiv und überwältigend sein. (3) Traumatisierte Patientinnen und Patienten berichten oft, sie hätten ein eingefrorenes Zeitgefühl oder ihre innere Uhr sei mit dem Datum der Traumatisierung stehen geblieben. Sie haben zwar ein Gefühl für die objektive Zeit, nicht aber für ihre eigene Entwicklung und Lebenszeit, insbesondere nicht für ihre Zukunft. Auch dem Wiederholungszwang ist eine solche Störung des Zeiterlebens inhärent. Erinnerungen, Albträume und Flashbacks sind von solch unmittelbarer Qualität, als wäre das Ereignis eben passiert. Sie demonstrieren den Betroffenen, dass die Zeit nicht vergeht. Terr (1984) hat in einer empirischen Untersuchung den Zusammenhang von Trauma und Zeit erforscht. Normalerweise funktioniert der Wahrnehmungsapparat als Filter gegen Überstimulierung. Wird er in der traumatischen Erfahrung überrannt, kommt es zu Veränderungen und Verzerrungen der Wahrnehmung. Das rhythmische Zeitgefühl, zum Beispiel der Herzschlag oder das bewusst eingesetzte Zählen, kann für alle Altersgruppen als Schutz gegen Angst, Überwältigung und Fragmentierung dienen. In der traumatischen Erfahrung wird die Zeitdauer bzw. ihre subjektive Bewertung verändert. So berichten Betroffene, dass sie das traumatische Ereignis in Zeitlupe ablaufend wahrgenommen haben. Häufig treten auch Verzerrungen in der zeitlichen Abfolge auf. Ereignisse, die nach dem Zeitpunkt der Traumatisierung stattgefunden haben, werden in die Zeit davor verlegt. Damit verbunden ist die Suche nach Bedeutungen und Vorzeichen, die in der Vorgeschichte des Traumas gesucht

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und dann in einen zeitlichen und inneren Zusammenhang mit dem Trauma gestellt werden. Es sind Versuche, eine unkontrollierbare Situation doch noch retrograd zu meistern und damit subjektiv eine Abwehr gegen das unerträgliche Gefühl absoluter Hilflosigkeit aufzubauen. Traumatisierte antizipieren weitere Desaster, und ihre Zukunftsperspektive ist in ihrer Ausdehnung eingeschränkt. Manche berichten, dass sie nur noch von Tag zu Tag leben. Urvertrauen bezieht sich auch auf die Zeitperspektive, und mit seiner Zerstörung durch das Trauma gerät für den Traumatisierten auch die Zeit aus den Fugen.23 Diese Dysfunktionen der Zeitwahrnehmung und des Zeiterlebens müssen einerseits als Veränderung der Wahrnehmungsfunktion durch Überstimulierung psychoökonomisch beschrieben werden, andererseits dient die Verzerrung der Zeitperspektive aber auch dem Versuch, ein Verstehen des Ganzen herbeizuführen, indem nach »Vorzeichen« gesucht wird, um eine retrospektive Kontrolle über das plötzlich Hereingebrochene zu erlangen. (4) Aus der Sicht der Metapsychologie benötigt die psychoanalytische Traumatheorie deshalb beide Modelle, sowohl das hermeneutisch-objektbeziehungstheoretische als auch das psychoökonomische. Auf der psychischen Erfahrungsebene betont das psychoökonomische Modell, für das paradigmatisch das Schocktrauma steht, die Erfahrung der Überwältigung und eines Überschusses an Gewalt, Angst und Erregung, die seelisch nicht zu binden sind. Die dadurch erzwungene Passivität und Hilflosigkeit kann ein inneres Aufgeben nach sich ziehen. Objektbeziehungstheoretische Modelle stellen mit dem Zusammenbruch der inneren tragenden Objektbeziehungen die gänzliche Verlassenheit und die Unterbrechung jeglicher affektiver Bindung und innerer Kommunikation in den Mittelpunkt, was zur Folge hat, dass das Trauma narrativ nicht integriert werden kann.

23 Hoppe hat schon 1962 diese Verbindung zwischen der Zerstörung des Urvertrauens und dem Verlust des Zeitbegriffs für die Holocaust-Überleben dargestellt.

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Probleme der Definition des Traumas (1) Wie aus der bisherigen Darstellung zu erschließen, ist in der Psychoanalyse das Trauma kein präzise definierter Begriff. Im Laufe ihrer Entwicklung sind vielfältige Formen von Traumatisierungen beschrieben worden, die sich auf unterschiedliche äußere Ereignisse bezogen. So ist von Verführungstrauma, sexuellem Missbrauch, Kriegstrauma, Extremtrauma, Deprivationstrauma, stummem Trauma, Belastungstrauma, kumulativem Trauma und anderen die Rede. Schon diese Bandbreite der Phänomene bedingte, dass man nicht von einheitlichen Wirkungen und Folgen ausgehen konnte. Der Begriff hatte mithin seine Spezifität mehr oder weniger verloren und war oft von anderen pathogenen Ursachen und schwerwiegenden Frustrationen oder psychischem Stress nicht mehr adäquat zu unterscheiden.24 In den 1980er Jahren hat die Arbeitsgruppe »Konzeptforschung« des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main unter der Leitung von Joseph Sandler den Bedeutungsraum des Konzepts »Trauma« untersucht, wobei sie davon ausging, dass es von seiner Bedeutung her als Prototyp eines elastischen Begriffs gelten kann (Sandler et al., 1987; Sandler, Dreher u. Drews, 1991; Dreher, 1998). Die Untersuchung ergab, dass die verschiedenen Dimensionen des Traumas und deren Wechselspiel nur sehr ungenau unterschieden wurden. Zwischen dem Prozess der Traumatisierung, dem traumatischen Zustand und den bleibenden pathologischen Veränderungen muss jedoch differenziert werden. So können zum Beispiel die unmittelbaren Folgen des Erlebens der traumatischen Situation pathologisch oder pathogen sein, müssen es aber nicht (Dreher, 1998, S. 174). Abgesehen von massiven oder Extremtraumatisierungen, wirkt nicht jede traumatische Situation auf alle Menschen gleichartig. Das bedeutet, dass ein Trauma, was seine Wirkung betrifft, in der Regel nur retrospektiv von seinen seelischen Folgen her definiert werden kann. Dabei sind auch prädisponierende Faktoren mit zu berücksichtigen. (2) Das Trauma ist ein Konzept, das ein äußeres Ereignis mit dessen spezifischen Folgen für die innere psychische Realität verknüpft. Es ist insofern ein relationaler Begriff (Fischer u. Riedesser, 1998). 24 Von dem allgemein undifferenzierteren Sprachgebrauch in klinischen Diskussionen sehe ich hier ab.

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Diese doppelte Bezogenheit macht die Unschärfe des Begriffs aus. Deshalb erscheint es vorteilhaft, das Verhältnis zwischen den beiden Bestimmungsstücken genauer zu definieren, um seiner begrifflichen Auflösung entgegenzuwirken. Ich schließe mich A. Freud, Furst, Krystal, Cooper und anderen an, die für eine enge Definition des Traumas plädieren. Cooper definiert das Trauma in Anlehnung an Freud: »Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt, dass diese droht, und es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation« (1986, S. 44, eigene Übersetzung, W. B.).

Ein wesentlicher Faktor bei dieser Definition ist das Plötzliche, Disruptive und nicht zu Kontrollierende des traumatischen Ereignisses und die Erfahrung eines hilflos machenden Zuviel. Die traumatische Erfahrung konfrontiert das Ich mit einem »fait accompli« (Furst, 1978, S. 349). Die Reaktionen des Ichs kommen zu spät. Sie erfolgen nicht als Antwort auf eine drohende Gefahr, sondern nachdem diese Realität geworden ist und das Ich ihr passiv ausgeliefert war. Für Krystal ist das, was in der Literatur häufig als psychisches Trauma bezeichnet wird, tatsächlich nur eine traumaähnliche ­Situation, die sich nicht zu einem traumatischen Zustand ausweitet. Um den eigentlichen traumatischen Prozess, der spezifische pathologische Folgen hat, davon zu unterscheiden, spricht Krystal (1988) vom »katastrophischen Trauma«. Für ihn ist der zentrale Faktor die erlebte Hilflosigkeit. Nicht die traumatische Situation selbst löse diese Hilflosigkeit aus, sondern erst deren subjektive Bewertung. Ob diese zutreffend ist, hat für die seelische Reaktion zunächst keine Relevanz. Wird die Gefahr als unvermeidbar angesehen, geht die Hilflosigkeit in ein inneres Sichaufgeben über. Für Krystal ist diese Überwältigung der Abwehrfunktion und der Ausdrucksfunktion der Angst sowie deren Hemmung das eigentlich traumatische Ereignis. (3) Für das Ich ist es unmöglich, das traumatische Erleben seelisch zu integrieren. Die Zuschreibung von Bedeutung wird unter-

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brochen, denn das Zufällige und Unerwartbare des Ereignisses ist nicht durch vorgängige Bedeutungsstrukturen aufzufangen. Eine für die Definition des Traumas wichtige anhaltende und nicht vorübergehende Wirkung besteht darin, dass das Urvertrauen zerstört wird und dies eine »dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses« nach sich zieht (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 79).25 Das Trauma ist nicht nur deshalb ein relationaler Begriff, weil es Innen und Außen verknüpft, sondern auch, weil im Trauma eine haltende, grundlegende Objektbeziehung zusammenbricht.

Trauma, Abspaltung, innere und äußere Realität Für Cohen (1985) wird im Trauma die Fähigkeit, Erinnerungsspuren in mentale Objektrepräsentanzen zu organisieren, gestört. Die traumatischen Ereignisse werden durchlebt, aber sie werden nicht als ein Teil des Selbst erfahren. Der traumatische Zustand resultiert in einer Abwesenheit von Struktur und repräsentierbarer Erfahrung in dieser Region des Selbst. Diese Abwesenheit setzt Cohen mit der Urverdrängung gleich. Die Ereignisse werden registriert, aber nicht repräsentiert. Die Urverdrängung wirke wie ein Loch im seelischen Gewebe. Die Symbolisierungsfähigkeit des Selbst bricht in diesem Bereich zusammen, und um dieses Loch mit den traumatischen Stimuli entstehen eine Reihe schützender primitiver Vermeidungsmechanismen wie Abspaltung, Projektion und Verleugnung. Sie schaffen eine Art von Kokon oder Mauer, die das Loch zudeckt. Für Hopper (1991) wird das Trauma zur inneren Katastrophe, zum »schwarzen Loch«, in dem Vernichtungsangst, Leere, Hilflosigkeit und Schmerz herrschen, die alles zu verschlingen drohen. Hopper beschreibt, wie der Traumatisierte in einer solchen Situation versucht, ein Containment zu schaffen und das traumatische Erleben in sich einzukapseln, es abzuspalten und aus dem Bewusstsein auszuschließen. Diese Einkapselung diene der Abwehr der Vernichtungsangst. Den Inhalt der 25 Fischer und Riedesser definieren das Trauma als ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (1998, S. 79).

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Einkapselung bilden Selbst, Objekt und die verschiedenen Aspekte der traumatischen Situation. Die Repräsentation dieser Szene beruht vor allem auf ihren realen Gegebenheiten, auch wenn unbewusste Phantasien die Wahrnehmung mitgestalten können. Hopper betont den realistischen, fixierten Charakter dieser Konfiguration. Sie bildet einen inneren Fremdkörper in der Psyche und wird nicht in den allgemeinen Fluss unbewusster Phantasien integriert.26 Dieser realistische Charakter der eingekapselten Erinnerungen wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Sind diese Erinnerungen einer weiteren psychischen Bearbeitung zugänglich, auch wenn sie abgespalten oder dissoziiert sind, oder erschöpft sich der Versuch, sie zu integrieren, in einem repetitiven Wiedererleben in Bildern, Gefühlen und Re-Enactments? Vor allem in der PTBS-Forschung wird betont, dass die primären Symptome weder symbolisch noch das Produkt einer Abwehr sind, sondern ihr realistischer Charakter ein Zeichen sei für die Unmöglichkeit, diese Erfahrung zu integrieren. Die Opfer bleiben deshalb eingebettet in das Trauma als einer gegenwärtigen Erfahrung, und sie sind nicht in der Lage, diese als etwas zu integrieren, was zur Vergangenheit gehört. Für Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker ist das repetitive Wiedererleben als Wiederholungszwang ein zentrales Kennzeichen des Traumas. Ob aber die wiedererlebten Erinnerungen und Bilder genaue Repliken der ursprünglichen traumatischen Situation sind, bleibt für sie fraglich. Denn es spricht einiges dafür, dass diese Erfahrungen, auch wenn sie im Gedächtnis abgespalten registriert sind, seelisch weiterbearbeitet werden. Pynoos, Steinberg und Goenjian (1996) betonen, dass aus traumatischen Erinnerungen traumatische Erwartungen entstehen, die das Wiederauftauchen der Bedrohung, eine erneut einsetzende Hilflosigkeit bzw. ein schützendes Eingreifen der Umwelt zum Gegenstand haben. Lansky und Bley (1995) haben gezeigt, dass chronische posttraumatische Albträume nicht nur affektgeladene Erinnerungen und Wiederholungen traumatischer Szenen sind, vielmehr unterliegen diese Träume auch einer Traumarbeit. Nicht nur die Angst dominiere die Albträume, sondern die Angst könne auch eine Ab26 Küchenhoff (1998) versucht mithilfe einer Theorie der Repräsentation traumatische Erfahrungen zu systematisieren.

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wehrbedeutung haben, hinter der sich Schamgefühle, narzisstische Verletzungen sowie Wünsche nach Wiederherstellung und Integrität verbergen können. Oliner nimmt in dieser Frage eine prononcierte Position ein (1996, 1999). Die psychoanalytische Traumatheorie gerate in eine unhaltbare Position, wenn sie die Genauigkeit der traumatischen Erinnerungen betone, denn damit würden die »tatsächlichen Ereignisse« unabhängig von der besonderen Bedeutung, die diese Erfahrung für das Individuum hatte, hervorgehoben. Oliner nimmt auch an, dass schwere Traumatisierungen abgespalten von den normalen Erinnerungen registriert werden, aber die nackte Realität dieser Erinnerungen für Abwehrzwecke genutzt werde, vor allem als Abwehr gegen Schuldgefühle. Weil diese Erinnerungen nicht dem normalen Prozess des Verblassens unterliegen, sei es so schwierig zu erkennen, dass auch sie »im Dienste der verzerrten, durch das infantile Drama gefärbten Bedeutung genutzt werden« (1999, S. 1122). Die Abspaltung vom normalen Erleben bedeute, dass dieser Bereich keiner äußeren Realitätskontrolle mehr unterliege und in ihm eine Regression zur infantilen Omnipotenz und zu einem archaischen Über-Ich stattfinde. Deshalb werden Ohnmacht und Wut, die in der traumatischen Situation mit einem Erleben absoluter Hilflosigkeit verbunden waren, gegen sich selbst gewendet als dem einzigen Ausweg, der dem Traumatisierten bleibe. Eine Phantasie der eigenen Schuld entstehe, die allmächtige Züge annehmen könne, aber dem ganzen unbegreiflichen Geschehen einen Sinn gebe. Auch verschaffe das Schuldgefühl ein Empfinden von Aktivität und Selbstverantwortlichkeit. Indem man sich die Verursachung selbst zuschreibe, werde illusionär impliziert, dass man es auch wiedergutmachen könne.

Abschließende Bemerkungen Die zuletzt dargestellten Arbeiten verdeutlichen noch einmal, in welcher Weise die Psychoanalyse Traumatisierungen als komplexe seelische Phänomene begreift. Traumatisierungen unterliegen zwar spezifischen psychodynamischen Einschränkungen und Operationen, aber ihre Abspaltung schließt sie nicht ganz aus

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dem Fluss des seelischen Geschehens und von der Überformung durch bewusste und unbewusste Phantasien aus. Das macht andererseits auch deutlich, wie wichtig es ist, die historische Realität vergangener traumatischer Erfahrungen zu rekonstruieren. Sie darf nicht gegenüber der psychischen Realität als unerkennbar vernachlässigt werden. Die Rekonstruktion der traumatischen Erfahrung und ihrer Umstände kann Ängste und Selbstbilder in einen Zusammenhang rücken und die unbewusst zugeschriebene Selbstverantwortlichkeit entlasten. Eine der zentralen Eigenschaften traumatischer Erfahrung ist, dass die abgekapselte traumatische Realität nicht symbolisch durchgearbeitet werden kann, sondern dass sie stattdessen verdeckt in Ängsten, in Re-Enactments und in Träumen wieder einbricht. Der Traumatisierte fühlt sich diesen Wiederholungen passiv ausgesetzt und sucht unablässig Kontrolle und Verstehen zu erlangen; da ihm das jedoch nicht ausreichend gelingt, entsteht ein Gefühl von Vergeblichkeit. Die seelische Aktivität läuft dabei gewissermaßen heiß und erzeugt immer wieder aufs Neue Ohnmachtserfahrungen. Sinnzuschreibende Narrationen allein, ohne eine Rekonstruktion der verursachenden Realität, laufen Gefahr, diesen Circulus nur zu perpetuieren. Die Aufdeckung der Realität des Traumas, das heißt seine Historisierung, ist die Voraussetzung, um seine sekundäre Bearbeitung und Überformung mit unbewussten Phantasien und Bedeutungen, die Schuldgefühle und Bestrafungstendenzen beinhalten, aufzuklären und verstehbar zu machen. Damit werden Phantasie und Realität abgegrenzt. Das Ich wird entlastet und erhält einen Verstehensrahmen für die bis dahin unbegreiflichen Einbrüche traumatischer Realität. Ein neues Empfinden seelischer Aktivität kann dann eine Auflösung des Wiederholungszwangs und eine Transformation und Integration des Traumas ermöglichen.

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Suzanne Kaplan

Child Survivors von Genoziden: Traumabezogene Affekte und Schwangerschaft

In den späten 1990er Jahren interviewte ich als Koordinatorin für die »USC Shoah Foundation« (»Institute for Visual History and Education«) in Schweden 330 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Es stellte sich heraus, dass 40 der Interviewten Child Survivors waren. Kinder waren von der Judenverfolgung im Holocaust in besonders gravierender Weise betroffen. In den von den N ­ ationalsozialisten besetzten Ländern überlebten nur 11 % der jüdischen Kinder (Dwork, 1994). Die 40 Interviews mit Child Survivors bilden zusammen mit zwölf Interviews von Jugendlichen, die ich in Ruanda durchführte, den Kern meiner Forschung über Kinder, die einen Völkermord überlebt haben. Auf das Thema der transgenerationalen Weitergabe von Traumata wurde ich aufmerksam, als ich zwei Frauen ausführlich interviewte. Sie waren beide acht Jahre alt, als die Länder, in denen sie geboren waren, von den Nationalsozialisten besetzt wurden. Es wurde deutlich, dass ihre Einstellung zur Elternschaft maßgeblich durch die traumatische Erfahrung beeinflusst worden war. Beide Frauen hatten sich bewusst dagegen entschieden, Mutter zu werden. Eine von ihnen, Anna, sagte mit lauter Stimme, »Ich habe zweimal abgetrieben, weil ich selbst noch ein Kind war.«1

Diese Aussage beeinflusste den gesamten Verlauf des weiteren Forschungsprozesses: Welchen Einfluss hatte das eigene Alter des Kindes, während und nach dem Völkermord, sowie die Wahrnehmung seines Alters auf die Fähigkeit, ein Gefühl von anhaltenden verinnerlichten Bindungen zu Bezugspersonen zu entwickeln? Wie können solche

1 R., 1997, Interview by The Survivors of the Shoah Visual History Foundation, Stockholm, Sweden, 23 of November, tape 5, 25:19:20–29:16:14.

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verinnerlichten Bindungen als »Rettungsleine« fungieren und es ermöglichen, Bindungen zur nachfolgenden Generation zu gestalten? Schwangerschaft scheint mir ein Kernthema zu sein. Die verschiedenen traumatischen Erfahrungen während der Verfolgung bewirkten, dass sich diejenigen, die als Kinder überlebt hatten, dazu entschieden, selbst keine Kinder zu bekommen, oder – was ich als die andere Seite der Medaille interpretiere – viele Kinder zu bekommen und diese nach ermordeten Verwandten zu benennen. Was ich hier fand, veranlasste mich dazu, weitere Lebenserzählungen von Frauen und Männern, die als Kinder überlebt hatten, hinsichtlich dieses Themas zu untersuchen. Die 40 Child Survivors kamen nach dem Krieg aus neun Ländern nach Schweden. Mehr als die Hälfte der Gruppe (13 Mädchen und 10 Jungen) waren als Gefangene in einem oder mehreren Konzentrationslagern gewesen. Die anderen hatten im Ghetto und/oder im Versteck überlebt. Die meisten von ihnen waren während der Kriegsjahre von ihren Müttern getrennt worden. Ein Drittel hatte beide Elternteile verloren. Erinnerungen an die verletzbar wirkende Mutter – wie zum Beispiel wenn sie nach den häuslichen Razzien und Deportationen unter Schock stand – finden sich in vielen L ­ ebensgeschichten: »Meine Mutter war […] ›paralysiert‹, ›sprachlos‹, ›total verloren‹, ›blind‹«, erzählten einige der Interviewten.

Es stellt sich die Frage, welchen Einfluss die Erfahrung massiver Traumatisierung auf das Leben nach dem Holocaust hatte. Der bloße Gedanke an eine Schwangerschaft mag manche davon abgehalten haben, Eltern zu werden (Kaplan, 2000; 2010). Die Angst vor einer Konfrontation mit den schmerzhaften Erinnerungen könnte sie abgeschreckt haben. Es gab keinen Fall, in dem der/die Interviewer/-in Fragen zum Thema Schwangerschaft gestellt hatte. Vielmehr kam das Thema zufällig, über Assoziationen und die mit ihnen verbundenen überwältigenden Affekte in die semistrukturierten Interviews. Die Zeit, in der sich die Frage für oder gegen eine Elternschaft stellte, liegt für die Überlebenden weit zurück. Es ist daher bemerkenswert, dass sie das Thema in den Interviews wie eine gegenwärtig bedeutsame Frage behandelten.

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Child Survivors, die keine Kinder haben Am Ende ihres Interviews fragte ich Anna, die Auschwitz überlebt hat: »Wie haben Ihre Erfahrungen Sie persönlich, Ihren Alltag beeinflusst?«

Sie antwortet fast schreiend, mit lauter und sehr trauriger Stimme: »Dass ich keine Kinder haben wollte. Dass ich zweimal abtrieb, weil ich selbst ein Kind war.«2

Dies weckte mein Interesse daran, die Interviews speziell auf die Themen von Schwangerschaft und Mutterschaft hin zu untersuchen. Es stellte sich heraus, dass das Thema Schwangerschaft ein auffälliges und überraschend wiederkehrendes Thema war, sowohl bei Interviewten, die Kinder hatten, als auch bei Interviewten ohne eigene Kinder. Nicht weniger als neun der 40 Child Survivors waren zum Zeitpunkt des Interviews kinderlos. Diejenigen Child Survivors, die Kinder hatten, kamen assoziativ auf die Themen Schwangerschaft und Geburt zu sprechen, während sie von ihren traumatischen Erfahrungen erzählten. Sie schienen in einem Vakuum zu leben – zwischen den verlorenen Eltern einerseits und einem komplizierten Verhältnis zum Kinderkriegen andererseits. Eine Erklärung für die Entscheidung gegen eine Elternschaft kann sein, dass die Betroffenen Anzeichen dafür wahrgenommen haben, dass sie mit überwältigenden Affekten in Kontakt kamen. Diese unbewusste Angst kann, zusammen mit dem bewussten Motiv, dass »kein Kind das ertragen soll, was ich ertragen habe« (wie eine andere Frau sagte), Grund für die Entscheidung gegen ein Kind sein. Eva, die als Sechsjährige im Versteck überlebt hat, erzählte über ihre Fehlgeburt: »Ich habe oft gedacht, dass etwas mit dem Kind nicht stimmt. Manchmal dachte ich, dass es meine Angst war, die meine Fehlgeburt ausgelöst hat. 2 R., 1997, Interview by The Survivors of the Shoah Visual History Foundation, Stockholm, Sweden, 23 of November, tape 5, 25:19:20–29:16:14.

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Natürlich weiß ich, dass man aus Angst keine Fehlgeburt bekommt. Aber die eine Nacht war ich sehr glücklich, dann war ich wieder voller Angst […] für mich ist dieses ungeborene Kind immer noch meine Tochter, die 26 Jahre ist. Sie war mein Kind.«

Untersuchungen von 25 Familien in Israel zwischen 1967 und 1969 zeigten, dass viele überlebende Frauen, die Kinder bekamen, eine ausgeprägte Angst davor hatten, sich von guten Müttern in Ungeheuer zu verwandeln, die missgebildete Kinder gebären (Bergman u. Jucovy, 1982, S. 21 ff.).

Child Survivors, die Kinder haben Marysia, die während der Verfolgung zehn Jahre alt war, erzählte, dass sie sich plötzlich während der Geburt ihres Kindes an ihre Deportation nach Auschwitz erinnerte. Hier wird deutlich, wie unerwartet die traumatischen Erinnerungen ins Erleben der Überlebenden hineinbrechen können. »[…] und wir kamen nach Auschwitz. […] ich sagte dann zu den Schwestern, als ich aus der Narkose aufwachte: ›Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Freude es ist, hier ein Kind zu bekommen‹ […] Ich glaube nicht, dass ich realisierte, was ich damit meinte. Sie mussten gedacht haben, dass ich im Delirium war. Aber daran habe ich wirklich gedacht, als mein erstes Kind geboren wurde.«3

Alice, die für zwei Jahre versteckt in einem Schuppen gelebt hatte, erzählte, dass sie drei Fehlgeburten hatte. Sie erzählte auch von dem Tag, als ihre Tochter geboren wurde, und über ein Gespräch, welches sie am selben Tag mit ihrem Ehemann hatte. »Aber sie war geboren. Sie war ein gesundes Kind. […] als wir aus dem Krankenhaus nach Hause kamen […] sagte ich am selben Tag zu meinem 3 S., 1996, Interview by The Survivors of the Shoah Visual History Foundation, Stockholm, Sweden, 2 of December, tape 4, 18:41:16–24:38:08.

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Ehemann, dass, in dem Fall, dass ein weiterer Krieg mit antisemitischen Übergriffen wie zwischen 1939–45 ausbricht, dass ich unsere Tochter töten und dann mich selbst umbringen würde, weil ich nicht will, dass sie das Gleiche durchmachen muss, was ich durchgemacht habe.«4

Einige Child Survivors fragen nach dem Sinn des Zurückkommens und Weiterlebens, aber sie betonen auch, dass ihre gesunden und erfolgreichen Kinder und Enkelkinder ihr Leben mit großer Freude erfüllen. Möglicherweise dienen die Kinder dazu, die Wunden der Vergangenheit der Eltern zu heilen; oder sie geben ihnen für das Weiterleben und Überleben Kraft. Ein gutes Leben im Erwachsenenalter schützt jedoch nicht vor den überwältigenden Affekten, die in einem anderen Teil des Selbst aktiv sind. Eine wesentliche Beobachtung ist, dass in der Gruppe der 40 Child Survivors sowohl die Entscheidung für ein Kind als auch dagegen mit intrusiven Erinnerungsbildern behaftet ist. Auch die Männer in dieser Studie waren »beeinträchtigt« und scheuten sich, eine Funktion als Elternteil einzunehmen. Ein kinderloser Überlebender begründet sein Widerstreben dagegen, selbst Kinder zu bekommen, damit, dass er zahlreiche brutale Ermordungen von Kindern, die am lebendigen Leibe verbrannt worden sind, bezeugen musste. Bauer (2001) betont, dass das Verbrennen von Kindern am lebendigen Leib zu den vielleicht »schrecklichsten Szenen, die jemals beobachtet worden sind, gehört«. Manche Väter sprachen darüber, dass ihnen das Vatersein in der Zeit am ­schwersten fiel, als ihre Kinder in dem Alter waren, in dem sie selbst die massive Traumatisierung erfahren hatten. Jacob berichtete von seinem Unbehagen, das er hatte, als seine Frau schwanger wurde. Er wollte die Abtreibung: »Ich hatte Zweifel und wollte es wegmachen lassen, aber sie wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass er geboren wird. Ich wollte keine Nachfahren.

4 B., 1998, Interview by The Survivors of the Shoah Visual History Foundation, Uppsala, Sweden, 25 of June, tape 5, 14:10:19–18:02:12.

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Mein Sohn hat nichts und niemanden, er ist ein unglücklicher Junge. Ich bemitleide die zweite Generation.«5

Zwei der 40 Überlebenden in meiner Gruppe verloren ihre Kinder, als diese im jungen Erwachsenenalter Suizid begingen. Die überlebenden Eltern begründeten dies mit den Depressionen der Angehörigen der zweiten Generation. Als sich Janinas Sohn, ihr einziges Kind, das Leben nahm, war dies die größte Katastrophe. Sie sagte: »Es hat alles ausgelöscht.«6

Und ihr Mann fügte hinzu: »Der Zweite Weltkrieg ist nicht beendet, es sterben weiterhin Menschen daran. Unser einziger Sohn, P., 37 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder […] hat sich umgebracht. Er hinterließ zwei Kinder, vier und ein Jahre alt, seine Frau und uns traumatisiert. Er hatte die Depression der zweiten Generation.«

Zahlreiche Forscher und Forscherinnen (Levine, 1982; Ofer u. Weitzman, 1998; Fonagy, 2002) beschrieben, dass sich Kinder von Überlebenden ebenfalls als Opfer der Verfolgung erleben, da die antisemitische Ideologie der Nazis auch ihre Vernichtung als sogenannte »ungeborene Träger jüdischer Gene« vorsah.

Schlussfolgerungen Die Verlusterfahrungen von Child Survivors berühren als umfassendes und massives Trauma einen der sensibelsten Punkte des Lebenszyklus – Schwangerschaft und Geburt. Die psychische Ent5 F., 1996, Interview by The Survivors of the Shoah Visual History Foundation, Stockholm, Sweden, 16 of November, tape 6, 24:04:11–26:14:04. 6 B., 1997, Interview by The Survivors of the Shoah Visual History Foundation, Gothenburg, Sweden, 21 of September, tape 4, 8:21:10–9:43:15.

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wicklung erfolgte dann unter komplizierten Bedingungen, insbesondere wenn die Kinder unsicher gebunden und somit von den Folgen der Verfolgung besonders betroffen waren (Bowlby, 2008). Sie waren gezwungen, frühzeitig erwachsen zu werden. Es war ihnen nicht möglich, als Kinder oder Jugendliche elterliche Fürsorge und Behütung zu erleben, solche Erfahrungen zu internalisieren und an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Keine Kindheit gehabt zu haben, kann regressive Bedürfnisse auslösen, die bedrohlich wirken, denn sie können nicht von dem/ der Partner/-in oder den Kindern erfüllt werden. Der Gedanke an eine Schwangerschaft kann eine Regression im Dienste des Ichs verursachen, eine Identifikation mit dem erwarteten Kind. Dies kann bei Child Survivors eine Signalangst auslösen, die vor überwältigenden Affekten warnt. Gedanken an eine Elternschaft können verwirrende Verschiebungen im zeitlichen Erleben erzeugen. Die Child Survivors gaben oftmals an, sich – sowohl als Kinder als auch als Erwachsene – nicht gemäß ihrem chronologischen Alter zu fühlen. Ich will dieses Phänomen »Alterszerrung« nennen.

Der Genozid in Ruanda 1994 Das zentrale Ziel des Völkermordes in Ruanda 1994 war die Vernichtung einer gesamten Gruppe von Menschen, der Tutsi. Die Hutu-Extremisten verbreiteten ihre ethnische Hasspropaganda hauptsächlich über das Radio (Mamdani, 2001). Ein hohes Maß an erniedrigender und dehumanisierender Stigmatisierung bereitete der Verfolgung den Weg. Tutsi-Kinder wurden in den Medien beispielsweise als »kleine Ratten« bezeichnet (Doná, 2011). Die Täter verstanden das Ermorden von Frauen und Kindern als »Zerstören der Wurzeln schlechten Unkrauts« (Gourevitch, 1998). Den Tutsis sollte jede Möglichkeit, eine nachfolgende Generation zu schaffen, genommen werden. Von April bis Juli 1994 ermordeten die ­Hutu-­Extremisten annähernd 700.000 Menschen, die meisten davon waren Tutsi.

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Was in den Interviews gesagt wird – und wie es erzählt wird Den Kernprozess, durch den die einzelnen Angaben inhaltlich in die Lebensgeschichten eingebunden waren, habe ich »Generations­ zerfall« genannt. Dieser Prozess beruht zum einen auf zwei Kernkonzepten, die ich als »Perforieren« und als »Raumschaffen« bezeichne, zum anderen auf der Dynamik zwischen beiden. »Perforieren« umfasst die unbeschreiblichen Grausamkeiten, denen Juden durch die Nationalsozialisten bzw. die Tutsi durch die Hutu-Extremisten aussetzt waren. »Raumschaffen« bezieht sich auf den innerpsychischen Prozess, durch den, wie die Verfolgten im Interview beschrieben, sie sich trotz begrenzter Möglichkeiten einen Raum zum Denken und Handeln zu schaffen versuchten. Edith phantasierte als Kind, dass sie durch ein kleines Loch in der Wand des Waggons, in welchem die Opfer zum Lager gefahren wurden, in weiter Entfernung einen Baum sah. So war es ihr auf mentaler Ebene möglich, sich selbst von der schrecklichen Situation zu distanzieren und sich für einen Moment »lebendig« zu fühlen. Dies zeigt, dass die Interviewten mental Verbindungen zu inneren Bildern von wichtigen Personen und Ereignissen nutzten, um sich dem Perforieren und der Todesangst zu widersetzen.

Affekte Im Laufe meiner detaillierten Analyse der videografierten Lebensgeschichten achtete ich mehr und mehr auf den emotionalen Ausdruck der Interviewten. Affektgeladene oder auch affektmangelnde Inhalte dienten mir dabei als Signal und Anhaltspunkt. Die Art, wie etwas gesagt wurde, sowie die Mimik der Interviewten waren für mein Verständnis, was die Opfer erlebt hatten, ebenso wichtig wie das, was sie erzählten. Auf Grundlage dieser Gesamtheit an Erinnerungsfragmenten und Affekten leitete ich sodann einige Hypothesen zur Affektregulierung ab. Die Affektregulierung scheint mir zentral für den Kernprozess des Generationenverfalls zu sein. Die Hypothesen dienten als Basis zur Entwicklung eines

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theoretischen Modells über diejenigen psychischen Phänomene, die ich Traumabindung und Generationale Verbundenheit nenne.

Der Affektpropeller Das theoretische Modell, welches ich »Affektpropeller« nenne und welches auf meinen Analysen und meinen Konzepten basiert, wird im Folgenden erläutert (siehe Abbildung 1).

Affekteinströmung

Hilfeschrei

Indirekte Racheakte

Racheakte

Wiederholung

Kreativität

Affektregulierung

Rache­ phantasien

Affektsymbolisierung

Affektisolierung

Distan­ zierung

Schmerz

Kontrolle über das Trauma behalten

Angst

ein »norkleinere males Racheakte Leben« zurück­ gewinnen

Affektaktivierung

Generationale Verbundenheit Traumabindung/Affektausstoßung Traumabindung/Affekterleben Abbildung 1: Der Affektpropeller als Instrument zur Analyse der Affektregulierung bei einzelnen Personen (Grafik nach Kaplan, 2005, 2010. Mit freundlicher ­Genehmigung der Autorin).

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Das Modell illustriert und verdeutlicht die verschiedenen dynamischen Prozesse der individuellen Affektregulierung des traumatischen Erlebens (Kaplan, 2006; 2007; 2010). Die Flügel des Affektpropellers weisen verschiedene Bewegungsformen und Ausdehnungen auf. Jeder Flügel beinhaltet drei verschiedene Ebenen sogenannter Bindungsprozesse: zwei Formen der Traumabindung und die Generationale Verbundenheit. »Bindung« bezieht sich auf die assoziativen Verknüpfungen zwischen affektiven Zuständen und zentralen Narrationselementen der individuellen Erzählung. Traumabindung bedeutet, dass das traumatische Erleben leicht – im Interview sowie in alltäglichen Ereignissen – aktiviert wird. Eine Form der Traumabindung ist das Affekterleben, das heißt das affektive Wiedererleben des Traumas; der andere, destruktivere Prozess, ist die Affektausstoßung, das heißt eine Abwehr des Traumas, wie sie zum Beispiel in Rache­akten vorkommt. Generationale Verbundenheit bildet demgegenüber Aspekte ab, die für das Individuum förderlich sind. Zusammenfassend lässt sich sagen: 1. Perforieren und Raumschaffen bilden Narrationselemente. 2. Traumabindung und Generationale Verbundenheit bilden die assoziativen Verknüpfungen zu diesen Elementen und umgekehrt. 3. Die Verknüpfungen basieren auf der individuellen Affektregulation. Die Flügel, die ich als Affekteinströmung, Affektisolierung, Affektaktivierung und Affektsymbolisierung bezeichne, repräsentieren einen solchen Prozess. In der Affekteinströmung werden Emotionen, die mit traumatischen Erinnerungen verbunden sind, in nichtsprachlicher Form ausgedrückt, zum Beispiel in Form einer Körperbewegung oder eines Schreies. Ein Beispiel hierfür ist Annas verzweifeltes Weinen anstelle einer Antwort, als sie begann über ihre Abtreibungen nachzudenken; ein Affekt, der scheinbar mit ihrer früheren traumatischen Erfahrung verknüpft ist. Der Affekt ist die Verbindung. Überlebende erleben wiederholt die Ereignisse imaginativ, dabei wiedererleben sie auch das Trauma (vgl. Allen, Fonagy u. Bateman, 2008, S. 217–218). Wenn jemand von Affekten, die die Grenze des psychisch Ertragbaren übersteigen, überwältigt wird, erhöht sich

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das Risiko einer Psychose durch das Implodieren von Affekten. Erinnerungen können dann ausgelöscht werden. Affektisolierung zeigt sich häufig bei einer distanzierten, manchmal geschlossenen Erzählform, derer sich die Mehrheit der Interviewten bedienten. Die Interviewten erzählten ihre »bekannte Geschichte«, die sie gewöhnlicherweise erzählen, wenn sie gefragt werden. Diese Haltung des Erzählenden kann hier verschlossen wirken. Sie kann aber auch, im Sinne der Generationalen Verbundenheit, als eine erworbene Handlungsfähigkeit gedeutet werden, die es den Betroffenen in gewisser Weise ermöglicht, sich Kontrolle über das Trauma zu verschaffen. Offen bleibt hier die Frage, was mit den Affekten geschieht, wenn sie vollkommen eingekapselt bleiben, und welche Rolle dies beispielsweise bei der Chronifizierung von Symptomen spielt: Womöglich manifestieren sich die Affekte als somatische Symptome. Auf ähnliche Weise beschreibt Hopper (1991) den Prozess der »Encapsulation« (d. h., sich unbewusst in einer phantasierten Kapsel zu verstecken) als eine Abwehr der Vernichtungsangst. Schacter (1999) stellt die Überlegungen an, dass das Scheitern des Vergessens manchmal schädigender sein könne als das Vergessen selbst. Die Dynamik zwischen Affekteinströmung und Affektisolierung korrespondiert mit Hermans (2003) Beschreibung von »intrusion« und »constriction« als zwei gegensätzliche Reaktionen, die »im oszillierenden Rhythmus« als Folge eines überwältigenden Traumas einsetzen, was sie als »Dialektik des Traumas«bezeichnet (Herman, 2003, S. 47). Affektaktivierung bezieht sich auf das Risiko, während des Erzählens mit dem Trauma und Angsterleben in Berührung zu kommen. Das Bemühen darum, ein »normales« Leben zu führen, die Identität als ein Überlebender hinter sich zu lassen und sich anstelle dessen lebendig zu fühlen, dominiert hier. Dies ermöglicht es, sich sicherer zu fühlen und angstfreier zu leben. Bei gelingender Affektsymbolisierung dürfte sich jemand in seiner/ihrer Beziehung zur Vergangenheit freier fühlen. Das Trauma ist nicht mehr dissoziiert, nicht mehr abgeschlossen vom Selbst, sondern zu einem gewissen Grad in das Leben der/des Betroffenen integriert. Es kann beispielsweise in künstlerischen Formen, im Schreiben oder bei Vorträgen Ausdruck finden. Dabei können auch Rachewünsche gegenüber einem größeren Publikum ausgedrückt

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werden, beispielsweise wenn jemand ein Buch über die eigenen Erfahrungen schreibt, das aus seiner/ihrer Perspektive an die Täter und Täterinnen gerichtet ist. Gleichzeitig hat ein solches Handeln auch eine andere Seite. Es kann ein Weg sein den Schmerz zu »teilen«, beispielsweise wenn jemand ausdrückt, dass am Geschehen eines Völkermordes alle Menschen beteiligt sind oder dass ein Völkermord ein globales Problem ist. Das Modell des Affektpropellers stellt die Affektregulation bei Traumatisierten als oszillierenden Prozess zwischen den beschriebenen Kategorien dar. Die Flügel des Propellers schwingen um den zentralen Punkt der Affektregulation. Jemand kann zwischen diesen Flügeln oszillieren, doch können sich Personen individuell hinsichtlich dessen unterscheiden, ob sie vorrangig zu dem einen oder anderem Flügel tendieren. Die Flügel rotieren um die Drehachse, können ineinandergreifen oder getrennt sein, so wie auch Emotionen fluktuieren können. Ein Interview mit einem Überlebenden kann auf der einen oder anderen Ebene bzw. dem einen oder anderen Flügel starten (Kaplan, 2006; 2007; 2013). Der Affektpropeller illustriert die komplexe Affektregulation bei Traumatisierten, ist aber auch ein analytisches Instrument. Zu wünschen wäre, dass die Traumabindungen langfristig hinter einer dominierenden Generationalen Verbundenheit als Verarbeitungsform zurücktreten. Ich möchte diese Ausführungen nachfolgend auf den Völkermord in Ruanda beziehen. Die Kinder in Ruanda waren einem extremen Ausmaß an Gewalt ausgesetzt. Oft wurden sie Zeuginnen und Zeugen des Mordes nahestehender Familienmitglieder. Eine Folge dieser Verluste und Gewalterfahrungen für die Kinder ist insbesondere das bleibende Gefühl, dass ihr Leben bedroht ist. Der Völkermord geschah vor vergleichsweise kurzer Zeit; die Überlebenden leben in unmittelbarer Nähe derjenigen Menschen, die die Verbrechen gegen sie begangen haben und nun aus der Haft entlassen wurden. Rache kann in verschiedenen Kontexten und auf verschiedenen Ebenen stattfinden, in Extremsituationen jedoch offenbart sie sich am deutlichsten. An einem sicheren Ort in Ruanda interviewte ich zwölf adoleszente Jungen, die ihre Eltern verloren hatten und nach dem Genozid auf der Straße lebten. All diese Jungen haben extreme und schreckliche Gewalt- und Missbrauchserfahrungen gemacht (Kaplan, 2013).

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Gefühle der Wut und mörderische Rachephantasien gelten als gewöhnliche Reaktionen auf Missbrauchserfahrungen (Herman, 2003). Auch Zorn und Gewalt können Reaktionen auf derlei beschämende Erfahrungen sein (Schore, 2003). Rachegedanken können aus der Angst hervorgehen, als Folge einer Unterdrückung, die kennzeichnend für die traumatische Situation, bestehend aus externen Gewaltakten und innerer Verletzbarkeit, ist (Böhm u. Kaplan, 2009). Es wurden zwar keine Rachehandlungen in den Interviews berichtet, allerdings zeigten zwei Jungen Beispiele von ausprägten Rachephantasien. Ich fragte zu Beginn des Interviews: »Woran musst du immer wieder denken, wenn du allein bist?«

Wut erfüllte Jeans Gesicht und er presste die Fingerspitzen an seine Stirn als er sprach: »Das, was mich nicht loslässt, ist die Art und Weise, wie meine Schwester starb […]. Was mich am meisten verletzte, war, dass der Mann, der sie umbrachte, unser Nachbar war, der für gewöhnlich nebenan Fleisch grillte. Ich denke immer daran, dass ich ihn umbringen werde, wenn ich ihn je wiedersehen sollte – das ist, was mich nicht loslässt […]. Ich denke, selbst wenn sie mich dann finden und umbringen, ich hätte meine Schwester gerächt. Und das ist, was zählt.«

Am Ende des Interviews wirkte er jedoch mit einem Mal wesentlich entspannter und erzählt: »Ich war an einem bestimmen Ort – dort versuchte man, mich davon abzubringen, an meine Rache zu denken. […] da habe ich mich hingesetzt und ihnen von meinen Plänen erzählt. Und als sie dann versuchten mich aufzuhalten, bin ich wieder fortgelaufen auf die Straße […]. An diesem Ort traf ich auch eine gewisse Dame, die mich mochte und mich zu einem Gebetsplatz mitnahm. Sie gab mir sogar Plastiktütchen, die ich verkaufen und damit Geld zum Leben verdienen konnte. Sie war sehr glücklich, als sie mich später auf der Straße wieder traf und hörte, dass ich nun zur Schule gehe und lerne.« […]

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»Ich denke jetzt nicht mehr auf die Weise, wie ich früher gedacht habe; – denn diejenigen, die gestorben sind, können nicht wieder in unser Leben zurückkehren. Ich hoffe nun auf eine bessere Zukunft mit Frau und Kindern. Ich werde ihnen von all dem erzählen, was ich erlebt habe.«

Dieses Beispiel veranschaulicht das rasche Fluktuieren der Emotionen – von der Affektausstoßung in der Traumabindung zur konstruktiven Generationalen Verbundenheit. Während des Nachdenkens über das Racheüben mag sich dies so anfühlen, als könne es eine persönliche Genesung bewirken, eine Pseudomöglichkeit für ein normales Leben. Tatsächlich wird dadurch aber das Opfer selbst zum Täter. Wenn es Überlebenden nach einem Genozid – überwältigt von den unvorstellbaren Verlusten – nicht möglich ist zu trauern und den entsetzlichen Erinnerungen zu entfliehen, dann kann die Wut darüber einen Drang zum Töten auslösen. Junge Mütter in Ruanda fragten mich: »Ich möchte meinem Sohn von unserer Familiengeschichte erzählen. Aber wie kann ich das tun, ohne dass er dann Hass empfindet?«

Es ist bedeutsam für die Eltern, darüber zu reflektieren und gemeinsam mit den Kindern das, was diese angesichts des Grauens empfinden, zur Sprache zu bringen.

Abschließende Bemerkungen Aus meiner Arbeit mit zwei Populationen, die geografisch und zeitlich getrennt sind – Holocaust-Überlebende und Opfer des Konflikts in Ruanda –, habe ich herausgearbeitet, dass extreme Traumatisierung durch unerwartete, anormale Ereignisse in ähnlicher Weise erlebt werden, und zwar unabhängig von der jeweiligen Kultur (Kaplan, 2006, 2008). Jedoch nehmen die individuelle persönliche Vulnerabilität, die Lebensgeschichte, die Nähe zu den Tätern und die Kultur in der nachfolgenden Zeit einen Einfluss auf die Angstregulation der Überlebenden und Betroffenen.

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Schwangerschaft und Reproduktion waren von der Gewalt der Nationalsozialisten wie auch unter den Hutu durch Vergewaltigungen, Experimente und Folter betroffen. Ferner haben Eltern, die selbst überlebende Kinder in Gegenden mit fortlaufenden politischen Konflikten waren, ein erhöhtes Risiko zur Weitergabe des Traumas an die nachfolgende Generation, wenn ihre emotionale Beziehung den Kindern gegenüber gestört ist. Schore (2003) betont die Auswirkung von Stressregulation und Dysregulation in den Interaktionen mit der Bezugsperson auf das reifende Bewältigungssystem des Kindes. All diese Phänomene scheinen für die Angst vor Schwangerschaft und Elternschaft bedeutsam zu sein. Dem sollte mit Bezug auf die kumulativen Studien über Kriegskinder – sowie angesichts des aktuellen großen Anstiegs an Geflüchteten, insbesondere an unbegleiteten Kindern und Jugendlichen – Rechnung getragen werden. Auch sollte aus meiner Sicht schwangeren Frauen und geflüchteten Familien mit Kindern mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Kürzlich berichteten Angestellte einer Schwangerschaftsbetreuung in Südschweden im schwedischen Rundfunk: »Plötzlich standen diese Frauen einfach an der Anmeldung und brauchten umgehend Hilfe. Sie waren schwanger und standen kurz vor der Geburt. Zuerst versuchten wir einen Dolmetscher zu finden, was bei dem heutigen Bedarf an Dolmetschern nicht leicht ist. Darüber hinaus waren die Frauen zuvor medizinisch unzureichend versorgt worden. Manche hatten eine Tuberkulose-Infektion oder auch multiresistente Bakterien und andere Krankheiten. Und die Frauen haben große Schwierigkeiten damit, sich auszudrücken. Das alles sind schwierige und komplexe Fälle, auf die wir vorbereitet sein müssen«, betont das Personal.

Die Zahl der Anmeldungen in der Schwangerschaftsbetreuung ist in dem Landkreis seit dem letzten Jahr um 10 % gestiegen. Schwangere Frauen und junge geflüchtete Kinder befinden sich heute also in einer ähnlichen psychologischen Situation wie die Kinder, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben. Während des Zweiten Weltkrieges wurden ungefähr 70.000 Kinder aus Finnland nach Norwegen, Dänemark und vor allem Schweden evakuiert. Die Größe der Gruppen war mit ungefähr

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600 Kindern pro Transport beträchtlich. Der finnische Psychoanalytiker Mattson (Mattsson, Maliniemi-Piispanen u. Aaltonen, 2015) hat mit seinen Kolleginnen und Kollegen Interviews mit ehemals zwei- bis siebenjährigen finnischen Kindern durchgeführt, die nach dem Krieg nicht nach Finnland zurückgekehrt waren. Die Interviewten erzählten inkohärente Geschichten, in denen die emotionale Sprache in sich zusammenzubrechen schien. Viele konnten sich an die Überfahrt über die Ostsee nicht erinnern. Einige sagten: »Niemand war da, der erzählen konnte, was geschieht oder was ge­schehen würde.«

Es fiel den Interviewten schwer, über die schwerwiegenden Ereignisse zu reflektieren, ganz so, als sei die Erinnerung durch die Affektisolierung ausradiert (Kaplan u. Laub, 2009). Wenn die Erinnerung weg ist, nimmt der Wissensdrang ab. Die Forscherinnen und Forscher suchten Geschichten nach Ausdrucksformen von Trauer, fanden in den meisten Fällen jedoch etwas, das sie als unbewusst projektierte Wut interpretierten. Der Mangel einer haltenden erwachsenen Figur während der Umbrüche und der Evakuierung löste Gefühle von Ungewissheit und diffuser Wut aus, die gegenwärtig nicht einfach an Personen in ihrer Umgebung adressiert werden konnten. Die Kinder hatten verborgene Gefühle der Erniedrigung und des unterdrückten Zorns. Da es niemanden gab, an den sie ihre Frustration hätten adressieren können, waren sie mit dem diffusen Gefühl alleingelassen. Die Bedeutung der Erniedrigung bei von Menschen verursachten Traumata ist lange Zeit gegenüber anderen Aspekten übersehen worden (Linder, 2011). Es ist wichtig, Manipulationsversuche von Aktivisten gegenüber Gruppen von jungen, vulnerablen, traumatisierten Opfern zu erkennen, um das Risiko der Eskalation durch eine destruktive Spirale der Gewalt zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns darüber bewusst werden, dass Gefühle der Demütigung von einer Generation in die nächste übertragen werden und was die Konsequenzen daraus sein können. Die Fähigkeit, als Überlebender mit den seelischen Folgen zu leben und Racheakten zu widerstehen, dürfte größer sein, wenn die Entwicklung der Mentalisierungs­

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fähigkeiten gefördert wird. Hierfür ist Jeans Erzählung (vgl. S. 99) ein Beispiel. Mentalisierungsprozesse können das eigene Selbstbild und die Haltung verändern. Es erfordert Symbolisierung, angst-­ getriebenes Verhalten zu mindern. Diese psychologische Arbeit kann (wie notgedrungen in verarmten Ländern) von Laien gemacht werden. Sie sollte jedoch innerhalb eines professionellen Rahmens erfolgen. Es ist wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem alle Arten von Gedanken ausgedrückt werden können, um den Nährboden für einen politischen Extremismus zu eliminieren. Anhand der Rachephantasien wird deutlich, wie schmal der Grat zwischen Täterschaft und Opfersein ist. Insbesondere dann, wenn die Belastung zu groß wird, zum Beispiel bei ungenügender Fürsorge und Empathiemangel für das Opfer sowie für seine Wut und destruktiven Gedanken als Anteile der Traumabindung. Zugleich kann ein Bewusstsein für das Oszillieren zwischen den Phänomenen der Traumabindung und der Generationalen Verbundenheit eine hilfreiche Orientierung für die therapeutische Arbeit mit Traumatisierten sein. Indem Therapeutinnen und Therapeuten Themen, die mit Phänomenen der Generationalen Verbundenheit assoziiert sind, aufgreifen und hervorheben – auch wenn ihre Präsenz subtil und nicht offensichtlich ist –, können sie die individuelle Kreativität und Resilienz der Betroffenen unterstützen (Kaplan, 2008; 2010). Übersetzung: Lena Dierker

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Mein Vater und ich Die Weitergabe eines Traumas von einer Generation an die nächste Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Kinder von Überlebenden der Shoah nicht vom Leiden der Eltern loszukommen scheinen. So zeigen – für manche vielleicht überraschend – Kinder, die in der Vorstellung gerade das Leben bejahen sollten, Anzeichen des vergangenen Leidens ihrer Eltern. Ich habe das Thema der Weitergabe von Traumata von Eltern, die den Holocaust überlebten, an ihre Kinder in all seiner Tiefe in meinem Buch »Der stumme Schrei der Kinder« (Kogan, 1998, 2009) beschrieben. In diesem Beitrag, der die Analyse einer Tochter von zwei Holocaust-Überlebenden und ihre Beziehung zu ihrem Vater beschreibt, will ich zunächst die »Nachträglichkeit« (Freud, 1918) der Weitergabe des Holocaust-Traumas des Vaters an die Tochter untersuchen. Weiterhin will ich den »Zusammenbruch« der idealisierten Repräsentation des Vaters als Überlebender und die unbewusste Identifikation der Tochter mit den verleugneten aggressiven Anteilen des Vaters betrachten. Darüber hinaus werde ich einige besondere Probleme bezüglich Übertragung und Gegenübertragung ansprechen, die insbesondere aufgrund der Zugehörigkeit zur selben großen Gruppe der Traumatisierten von Patientin und Analytikerin zustande kamen. Um mein erstes Thema zu entfalten, werde ich Material aus der zweiten Analyse von Sarah präsentieren, deren erste Analyse dem Aufsatz »Was es bedeutet, ein totes, geliebtes Kind zu sein« (Kogan, 2011) zugrunde liegt. Sarah ist das Kind von zwei Holocaust-Überlebenden, welche beide wiederum jeweils ein Kind während des Krieges verloren hatten. Ihre erste Analyse konzentrierte sich auf die Beziehung zu ihrer Mutter. Die erste Tochter der Mutter war in einer »Aktion« zu Beginn des Holocausts ermordet worden, nach welcher die Mutter in ein Konzentrationslager deportiert und dort für mehrere Jahre gefangengehalten wurde. Sarahs Eltern begegneten sich zum ersten

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Mal in Israel, heirateten dort, zogen aber schließlich mit Sarah nach Europa. Mit dem Erreichen des elften Lebensjahres – dem Alter, in dem die erste Tochter getötet worden war – zerbrach die liebevolle Beziehung zwischen Sarah und ihrer Mutter. Während ihrer ganzen Adoleszenz litt Sarah fürchterlich unter den Wutausbrüchen ihrer Mutter, ihrer Fähigkeit, sie zu ignorieren, über mehrere Tage hinweg nicht mit ihr zu sprechen, und den harschen Anschuldigungen, dass Sarah der Grund für ihr Unglück sei. In der ersten Analyse waren wir hauptsächlich mit den Auswirkungen der unbearbeiteten Trauer der Mutter auf die Beziehung zu ihrer Tochter und auf die Charakterstruktur der Tochter beschäftigt. Sarah begann ihre erste Analyse – angesichts ihrer zwanghaften Symptome, die nicht durch eine Verhaltenstherapie nachließen –, um Hilfe zu bekommen, sowie aufgrund der Konflikte mit ihrer jugendlichen Tochter. Die Erinnerungen an ihre eigene Jugend waren entsetzlich, wurden jedoch ohne Affekt zu zeigen erzählt, so wie sie gelernt hatte, die Gefühle vor ihrer Mutter zu verstecken. Sogar ihre Stimme klang metallen, als ob sie hinter einer Mauer eingeschlossen gewesen wäre. In dieser Analyse hatte ich das Gefühl, Sarah (die selbst vieler Sprachen mächtig ist) eine neue Sprache beizubringen – die Sprache der Gefühle. Sarah verließ ihr Elternhaus im Alter von 18 Jahren. Sie zog nach Israel, um mit ihrer Großmutter väterlicherseits zusammenzuleben, die selbst nur einige Jahre vorher nach Israel zurückgekehrt war. Sarah studierte Naturwissenschaften an der Universität und heiratete einen erfolgreichen Mann, der fähig war, ihr stetig Liebe und Unterstützung zu geben. Sie war stolz auf ihre erfolgreiche Ehe und ihre beiden Kinder. Sarahs Eltern blieben in Europa. Ihr Vater war ein bekannter Wissenschaftler und erfolgreicher Geschäftsmann. Zu seinen philanthropischen Aktivitäten gehörte unter anderem die Förderung von Forschung unterschiedlicher wissenschaftlicher Institutionen. Nachdem Sarahs Mutter an Krebs gestorben war, lebte er einige Jahre allein und heiratete dann nochmals im Alter von 97 Jahren. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er damit, seine Memoiren zu schreiben.

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Der Vater in Sarahs Kindheit und Jugend Im Laufe der vorherigen Analyse deckten wir beide, Analytikerin und Patientin, in Teilen die Wahrheit über Sarahs innere Repräsentation des Vaters auf. Vor Beginn der Analyse hatte Sarah ihn wirklich idealisiert. Er war clever und erfolgreich und hatte sie während ihrer ganzen Kindheit mit Liebe überschüttet. Sie genossen ihre gemeinsame Zeit und er war immer stolz auf sie gewesen. Sarahs ödipale Anziehung, ihre Liebe und Bewunderung, die sie gegenüber ihrem Vater verspürte, standen im scharfen Kontrast zu den negativen Gefühlen gegenüber ihrer Mutter. In Sarahs erster Analyse bearbeiteten wir ihren ödipalen Konflikt.

Der Vater der erwachsenen Sarah Sarahs Wiederkehr, zwölf Jahre nach Beendigung ihrer ersten erfolgreichen Analyse, war durch den kürzlich eingetretenen Tod ihres Vaters begründet. Nach dem Tod des Vaters hatte der Notar Sarah drei Briefe ausgehändigt, die der Vater in den letzten 16 Jahren geschrieben hatte. Er hatte verfügt, dass diese ihr erst nach seinem Ableben übergeben werden sollten. Sarah hatte den Eindruck, dass er es darauf anlegte, ihr die Schuld, eine schlechte Tochter und eine gescheiterte Persönlichkeit zu sein, für den Rest ihres Lebens aufzubürden. Das Vermögen, das er ihr hinterließ, würde durch seine Verachtung für sie und das Leben, das sie sich aufgebaut hatte, für immer verdorben sein. Diese Umstände, die den Tod ihres Vaters begleiteten, waren vollkommen unerwartet für Sarah und hinterließen einen starken Eindruck auf sie und die Repräsentation ihres Vaters. Sarah fühlte sich von den Anschuldigungen und abfälligen Bemerkungen in den Briefen ihres Vaters verfolgt. Bis dahin hatte sie geglaubt, dass ihr Vater sie liebte, trotz seiner fehlenden Unterstützung in ihren Auseinandersetzungen mit der Mutter. Ihrerseits hatte sie ihn immer sehr geliebt und bewundert, sogar vergöttert. Nun fühlte sie sich verletzt, entwertet und betrogen von jemandem, der ihr eigentlich Liebe und Unterstützung zeigen sollte. Sie war am Boden zerstört und voller Wut. Sarah brauchte die Analyse, um die schmerzhafte und komplexe

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Beziehung zu ihrem Vater aufzuarbeiten und um sich schließlich von den Verfolgungsgefühlen und der Schuld, die ihr Vater ihr durch seine Briefe weitergegeben hatte, zu befreien. Verärgert und zutiefst verletzt durch die Briefe ihres Vaters, bestand sie darauf, mir Auszüge während der Analysesitzungen vorzulesen. Ich werde mich im Folgenden auf diese Auszüge und auf Sarahs Reaktionen darauf fokussieren. Ich habe Material aus sieben Sitzungen ausgewählt: jeweils zwei aus dem ersten, dem dritten und dem vierten Jahr der Analyse sowie eine aktuelle. Alle Sitzungen fanden nach dem Tod ihres Vaters statt.

Erste Sitzung (aus dem ersten Jahr) Sarah (aufgebracht und verärgert): »In seinem ersten und verbittertsten Brief, den er kurz nach dem Tod meiner Mutter schrieb, versuchte mein Vater zu erklären, warum er und meine Mutter keine enge Beziehung zu mir und meinem Mann hatten. Er schrieb darin, dass, obwohl ich außergewöhnlich begabt gewesen sei, ich meine Fähigkeiten hauptsächlich dazu verschwendet hätte, die Karriere meines Mannes zu befördern, und dies auch nur mit begrenztem Erfolg. Er behauptete, dass mein Ehemann akademisch nie viel zu bieten und keine wirkliche Berufung gehabt habe. (Sarah schreiend): Das macht mich so wütend! Ich bin außer mir! Ich will nicht weinen, aber es macht mich einfach wahnsinnig! Das ist keine Kritik, nur Müll! Was soll ich damit anfangen? Wie kann er sagen, dass ich meine Fähigkeiten an einen unwürdigen Ehemann verschwendet hätte? Was wollte er von mir? Ich habe ein gutes Leben, mein Ehemann ist sehr erfolgreich und in seinem Gebiet weltbekannt. Ich glaube nicht, dass ich einen unwürdigen Ehemann habe, ich habe vielmehr das Gefühl, unwürdige Eltern gehabt zu haben! Können Sie sich vorstellen, dass er schrieb, dass unser Verhalten den Tod meiner Mutter, zwar nicht beschleunigt, aber es zu ihrem Leiden beigetragen hat!«

Ich war betroffen von der »Verneinung« (Freud, 1925) im Brief von Sarahs Vater und offensichtlich war sie es ebenso. Sarah: »Also, er hat ernsthaft in Betracht gezogen, dass wir (mein Mann und ich) ihren Tod beschleunigt haben könnten. Ich glaube, ich weiß, warum er das sagt. Mutter verbarg ihren Brustkrebs zwei Jahre vor ihm. Als

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sie schließlich Hilfe suchte, sagte der Arzt, dass er niemals zuvor in seiner Laufbahn einen so schlimm verleugneten Fall von Brustkrebs gesehen hatte. Sie war ganz klar suizidgefährdet, meine Mutter. Vater wusste nichts von ihrem Brustkrebs, trotz der Tatsache, dass sie Bett und Badezimmer teilten. Das ließ ihn sich so schuldig fühlen, dass er seine Schuld milderte, indem er uns dafür verantwortlich machte.« Ilany: »Ihr Vater hatte das Gefühl, dass Sie der Verfolger waren, der das Leben seiner geliebten Frau während ihrer letzten Jahre verbittert hatte. Sie fühlen nun wiederum, dass er Ihr Verfolger ist und dass Sie durch ihn gequält werden.«

Sarah bestätigte meine Interpretation, und ihre weiteren Assoziationen bezüglich der Sicht ihres Vaters auf ihre Kinder (seine Enkelkinder) bekräftigten diese Einschätzung. Sarah: »Ja, absolut. Was mich besonders wütend macht, ist seine Haltung meinen Kindern gegenüber. In seinen Briefen beschrieb er sie als ›genetische Mischung‹, die nicht als Erfolg gesehen werden könnten. Sie seien ihm lieb und teuer, liebenswürdige Persönlichkeiten, zeigten aber wenige unserer Familiencharakteristika. Diese Charakteristika seien Wissensdurst, das Handeln zum Wohle der Gesellschaft sowie beruflicher und ökonomischer Erfolg. (Sarah schreiend:) Nur ein Rassist nennt seine Enkelkinder eine ›genetische Mischung‹. Mein Vater hatte faschistische Ansichten! Er behauptete, es gebe überlegene und unterlegene Rassen mit ihren jeweils spezifischen Charakteristiken. Meine Kinder gehören nicht in seine elitäre Familie, da sie diese Charakteristiken nicht haben.«

Plötzlich kam mir eine seltsame Frage in den Sinn. Ilany: »Zu wem gehören Ihre Kinder?« Sarah (grimmig): »Sie gehören zu ihrem Vater, zu seiner Familie.«

Tausende Gedanken gingen mir nach dieser Episode durch den Kopf. Wie konnte ich eine Mutter fragen, zu wem ihre Kinder gehörten? War es möglich – so dachte ich im Stillen –, dass meine Frage die unbewusste Phantasie widerspiegelte, die das Leben von Sarahs Eltern wie das der erwachsenen Sarah beherrschte: zu wem sie, Sarah denn gehörte? In ihren Wutausbrüchen hatte Sarahs Mutter oft

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betont, dass diese kalt und egozentrisch wie ihr Vater, sie also nicht ihre, sondern die Tochter des Vaters sei. War es möglich – so fragte ich mich –, dass Sarahs Vater wiederum fühlte, dass Sarah und ihre Kinder auch nicht zu seiner Familie gehörten? Ich fragte mich im Stillen, was die Erwartungen von Sarahs Vater an sie waren. Waren es nur narzisstische von Ruhm, Ehre und ökonomischem Erfolg? Oder versteckte sich etwas tief darunter? Wir werden uns in der Analyse später mit den Antworten auf diese Fragen beschäftigen.

Zweite Sitzung (die nächste Sitzung) Sarah: »Ich erinnere mich wie mein Vater einmal sagte: ›Die Tschechen waren schlau, sie leisteten den Deutschen keinen Widerstand; deshalb wurde Prag nicht zerstört. Die Polen waren dumm, sie leisteten Widerstand und Warschau wurde zerstört.‹ Ich fragte meinen Vater, wie er das meinte, und er erklärte: ›Wunderschöne historische Gebäude wurden zerstört, das ist wirklich schade; Menschen sind austauschbar, sie werden immer wieder geboren.‹ Mein Vater hatte definitiv faschistische Ansichten.« Ilany: »Sagen Sie, dass Ihr Vater glaubte, dass Menschen austauschbar seien, weil sie durch andere ersetzbar sind, so wie er Ihre tote kleine Schwester durch Sie ersetzt hat?« Sarah: »Ganz genau. Ich war tatsächlich ein doppeltes Ersatzkind. Ich ersetzte die Kinder beider meiner Eltern, und als solches hätte ich wie ein Wunder behandelt werden sollen; aber als Erwachsene enttäuschte ich sie. Genauso taten es wiederum meine Kinder, die – wie Sie durch den Brief meines Vaters sehen können – seine Wertschätzung nicht genossen. (Stille) Mein Vater erwarb Immobilien, er kaufte einige Gebäude in Osteuropa. Sie waren billig und es schien eine gute Geldanlage zu sein. Ich erfuhr von diesem problematischen Besitz vor einigen Jahren, als mein Vater mich als Nachlassverwalterin einsetzte. Diese Häuser fielen auseinander, was sich wirklich als Gefahr für die Mieter herausstellte, besonders da die meisten alt und hilflos waren. Ich war besorgt um sie, gerade in den harten Wintern. Ich sprach einmal mit meinem Vater darüber, der aber nur sagte: ›Es wird schon nichts passieren. Und wenn schon, wer würde einen alten Juden, der in Westeuropa lebt, dafür zur Rechenschaft ziehen?‹ Ich war geschockt von seiner Antwort. Und nun, da ich den Nachlass verwalte, bin ich auch dafür verantwortlich, wenn diesen Leuten etwas zustößt. Es scherte ihn

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nie, dass eines Tages auch ich diese Verantwortung tragen würde, da er sie nie als seine erachtete.« Ilany: »Aus Ihren Erzählungen schließe ich, dass Ihr Vater – obwohl er sich sein ganzes Leben wohltätig für die Förderung von Wissenschaften und auch für andere Menschen einsetzte – eigentlich kalt und indifferent anderen gegenüber war.« Sarah: »Genau das. Er kümmerte sich nur um sich selbst.« Ilany: »Sie haben mir einmal erzählt, dass als Kind Ihr Vater ein großer, machtvoller Zufluchtsort für Sie war. Jetzt, da Sie erwachsen sind, scheint dieser Ort für Sie genauso zu zerfallen wie diese Häuser in Osteuropa. Und Sie fühlen sich wie die alten und hilflosen Mieter in diesen heruntergekommen Häusern.« Sarah: »Das Bild meines Vaters ist wie eine Seifenblase, die platzt. Ich hatte einige schlaflose Nächte wegen dieser Menschen in den Häusern. Schließlich riet mir ein Sachverständiger, die Häuser der Stadt zu vermachen. Die Stadtverwaltung wird sie wieder instand setzen und sie sicher und lebenswert machen. Das ist wichtig für meinen Seelenfrieden.« Ilany: »Vielleicht wollen Sie hier in der Analyse das beschädigte, emotionale Vermächtnis Ihres Vaters abladen. Sie wollen, dass ich das zerbrochene Bild Ihres Vaters wieder instand setze, sodass Sie wieder damit leben können und Ihren Seelenfrieden finden.« Sarah: »Sie halfen mir vor Jahren, mit meiner Mutter klarzukommen. Und jetzt brauche ich definitiv wieder Ihre Hilfe.«

Dritte Sitzung (aus dem dritten Jahr der Analyse) Nach dem Tod ihres Vaters verbrachte Sarah manchmal einige Zeit im Haus ihrer verstorbenen Eltern. Sie war gerade von einem einmonatigen Urlaub dorther zurückgekehrt. In dieser Sitzung beschwerte sie sich hauptsächlich über ihren Mangel an Selbstvertrauen, den sie immer noch bei der Verwaltung des Vermögens ihres Vaters verspürte. Sie glaubte, dass sie durch die kritischen Stimmen ihrer Eltern, die sie internalisiert hatte und die dadurch zu einem Teil von ihr geworden sind, eingeschüchtert war. Am Ende der Sitzung sagte Sarah, dass sie kurz das Badezimmer benutzen müsse. Nach ein paar Minuten öffnete sie die Badezimmertür und bat mich zweimal einzutreten. Überrascht trat ich ein. Sie schaute mich streng an, zeigte auf ein kleines Schränkchen nahe dem Waschbecken und

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sagte harsch: »›Wissen Sie, dass da Ameisen drin sind?‹ Ich war verblüfft, fühlte mich angegriffen und meine unmittelbare Reaktion war zu fragen ›Wo?‹ Sarah zeigte auf drei kleine Ameisen auf einem Schränkchen. Sie waren so klein, dass ich sie wahrscheinlich nicht bemerkt hätte, wenn sie nicht auf sie gezeigt hätte. Ich war erstaunt und gleichzeitig beschämt, als ob ich dabei ertappt worden wäre, schlampig geputzt zu haben. Um mich gegen das, was ich als böse Anschuldigung erfuhr, zu verteidigen, murmelte ich etwas wie: »Das ist wahrscheinlich aufgrund der Hitze in den letzten Tagen […].«

Nachdem Sarah gegangen war, dauerte es etwas, bis ich meine Fassung wiedergewann. Ich war von ihrer Schroffheit mitgenommen. Mich ins Badezimmer zu rufen, um mit mir aufgrund einiger kleiner Ameisen auf einem Schränkchen zu schimpfen, war eine seltsame Sache. Aber ich realisierte, dass meine starke Reaktion auf ihren Hinweis, den Gefühlen von Erniedrigung und Verwundbarkeit in der Gegenübertragung geschuldet waren, die ihr harscher Ton in mir verursacht hatte. Während dieses Zwischenfalls im B ­ adezimmer war ich ein kleines Mädchen geworden, das sich einem kritischen, bedrohenden Erwachsenen gegenüber sah, von dem ich durch unerwartete Kritik angegriffen wurde. Indem ich meine Gefühle durcharbeitete, realisierte ich, dass Sarah eine Situation aus ihrer Kindheit reinszenieren musste (im Original: to enact), um mich das fühlen zu lassen, was sie als Kind gefühlt hatte. Aber wer war dieser kritische, bedrohende Erwachsene, fragte ich mich. Konnte es der introjizierte Nazi-Aggressor sein, ein verleugneter Aspekt der Selbstrepräsentation von Sarahs Vater, mit welchem sie sich unbewusst identifizierte? Wenn dies der Fall wäre, so wurde sie, indem sie mir die kleinen Ameisen gezeigt hatte, die vernichtet werden mussten (das jüdische Volk), zum mächtigen Nazi-Aggressor, dessen Befehle ich befolgen musste. Aus einer anderen Perspektive fühlte ich in der Gegenübertragung, ich sei die Dienerin, die nicht gut genug geputzt hatte. Wessen »Dreck« war das, fragte ich mich. Deutete sie, beim Zeigen auf die Ameisen, auf »meinen« Schmutz oder auf den ihrer eigenen Verfolgungsgedanken, die sie dadurch loswerden wollte (die »Toiletten-­ Brust«, vgl. Meltzer, 1967). Wenn es wirklich ihre eigenen Verfolgungsgedanken waren, dann wäre ich die unnütze Analytikerin,

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welche sie nicht verhindern konnte; und weswegen einige dieser Gedanken immer noch frei herumschwebten.

Vierte Sitzung (die nächste Sitzung) Sarah: »Ich habe Angst, Fehler mit der Vermögensverwaltung meines Vaters zu machen. Ich fühle mich wegen so vieler Dinge unsicher. Ich fühle mich sogar noch unsicherer als vor ein paar Jahren.« Ilany: »Wir haben uns seit einem Monat nicht gesehen, und Sie scheinen unglücklicher als vor dem Trip nach Europa.« Sarah: »Ja, das ist möglich. Ich bin im letzten Monat nicht hier gewesen, sondern im Haus meines Vaters, wo die Erinnerungen zurückkehrten. Ich habe Unterlagen gefunden, die zeigen, dass mein Vater nicht all seine Steuern bezahlt hat und dass deren Bezahlung sowie das Bußgeld auf mich übertragen wurden. Ich habe Zeitungsausschnitte gefunden, die ihn des Betrugs beschuldigen, auch wenn er nie schuldig gesprochen wurde und es nicht zum Prozess kam.« Ilany: »Mir scheint, dass diese Gedanken wie die Ameisen auf dem Schränkchen in der Toilette sind, die Sie mir zum Ende der letzten Sitzung gezeigt haben.« Sarah: »Die Ameisen können in der Tat symbolisch gewesen sein, weil es der Behandlung bedarf, um sie loszuwerden.« Ilany: »Als Sie mich in das Badezimmer riefen und mir die Ameisen gezeigt haben, zitterte ich wie ein kleines Mädchen, das streng von einem Erwachsenen kritisiert worden ist. Im Versuch, meine Gefühle angesichts dieses Vorfalls zu verstehen, realisierte ich, dass ich wahrscheinlich in der Identifikation mit Ihnen das nachempfand, was Sie in der Kritik durch die strenge väterliche und mütterliche Stimme in der Kindheit erfahren haben.« Sarah: »Das wollte ich nicht, aber ich sehe nun, wie Sie mich zu verstehen versuchen. Ich habe Sie ins Badezimmer gerufen, um Ihnen zu erklären, dass Sie herausfinden müssen, wo diese Ameisen herkommen; dass es wichtig ist, ihren Ursprung zu behandeln.« Ilany: »Und Sie haben wahrscheinlich gefühlt, dass ich in der Behandlung des Ursprungs nicht effektiv genug war. Woher, glauben Sie, kommen die Verfolgungsgefühle?« Sarah: »Ich habe von meinen Eltern nie sonderlich Unterstützung erfahren oder Bestätigung. Ich hatte viele Probleme mit meiner Mutter. Aber

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ich war mir immer sicher, dass mein Vater mich liebte, und das gab mir Kraft. Ich wusste, dass er nicht verstand, was zwischen mir und meiner Mutter passierte, aber ich hatte immer die Hoffnung, dass er mich sehr liebte. Nun fand ich heraus, dass seine Liebe nicht das war, wofür ich sie gehalten hatte. Seine Liebe war nicht bedingungslos, sie war ambivalent. Es ist sehr schwer für mich zu akzeptieren, dass mein Vater seiner einzigen Tochter nur hinterließ, dass sie und ihre Familie seiner unwürdig seien, eine Enttäuschung. Das bringt das Fass zum Überlaufen und tut mir sehr weh. (Stille) Sie haben mir heute gesagt, dass Sie sich im Badezimmer wie ein kleines Mädchen fühlten, das von einem Erwachsenen ausgeschimpft wurde – wie ich, als ich jung war. Das berührt mich. Meiner Meinung nach ist das Verstehen, das Sich-Einfühlen die ultimative Liebe. Mein Vater versuchte nie, mich zu verstehen, er war nicht fähig dazu.«

Fünfte Sitzung (aus dem vierten Jahr der Analyse) Sarah: »Jetzt, nach dreieinhalb Jahren, in denen wir die Briefe meines Vaters in der Analyse besprachen, kann ich sagen, dass ich sie mit anderen Augen betrachte. Ich habe übrigens einen Ort gefunden, an dem ich die Briefe meines Vaters nun aufbewahren kann.« Ilany: »Wo waren die Briefe Ihres Vaters, bevor Sie diesen Ort gefunden haben?« Sarah: »Ich habe sie immer mitgenommen, wenn ich aus dem Haus ging oder auf meinen Reisen ins Ausland. Ich wollte nicht, dass meine Familienmitglieder sie finden und so verletzt werden könnten wie ich.« Ilany: »Ich verstehe, dass Sie Ihre Familienmitglieder davor schützen wollten, verletzt zu werden. Aber ist es nicht auch möglich, dass Sie, als Sie die Briefe mit sich nahmen, nicht bereit waren, sich von den verfolgenden Worten Ihres Vaters zu trennen?« Sarah: »Sie könnten Recht haben, aber das war mir nicht bewusst. Ich glaube, dass, wenn jetzt – dreieinhalb Jahre nach seinem Tod – jemand aus meiner Familie die Briefe finden würde, diese Person nicht so verletzt würde. Und nachdem wir so viel über den Einfluss der Briefe meines Vaters auf mich diskutiert haben, glaube ich damit leben zu können. (Stille) Wissen Sie, die Haltung meines Vaters mir gegenüber war möglicherweise auch das Resultat all dessen, was er durchgemacht hatte. Er sprach nie viel über die Familie, die er verloren hatte. Es war bekannt, dass er

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seine Ehefrau und sein Kind verloren hatte, aber er zeigte nie Gefühle des Schmerzes oder der Schuld. Erst kürzlich, beim erneuten Lesen seines letzten Briefes, ist mir bewusst geworden, wie schuldig er sich der Familie gegenüber fühlte, die er verloren hatte. Dort schrieb er, dass er es bereute, nicht früher fähig gewesen zu sein, den Personen Zuneigung zu zeigen, die es verdient hatten: seiner ersten Frau und Tochter, die beide im Holocaust umkamen. Er schrieb, dass er sie, selbst ein halbes Jahrhundert später, in guter Erinnerung habe und sie betrauere. Dass er jeden Tag seines Lebens an sie denke und sich an sie erinnern werde, bis er sterbe. Mir scheint, dass er den Verlust seiner Frau und seines Kindes nie verkraftet hat. Äußerlich genoss er seinen weltweiten Erfolg, aber innerlich war er über all diese Jahre gefangen in seiner Trauer. Ich glaube, dass ein Teil seiner Bitterkeit, die in den Briefen zum Ausdruck kommt, von diesen traumatischen Verlusten stammt, die ich nicht wiedergutmachen konnte. Mein Vater brauchte den Erfolg regelrecht, denn er spendete ihm Trost. Er war ein autoritärer und eindrucksvoller Mann, aber innerlich war er unsicher. Jetzt weiß ich, dass, was auch immer ich getan hätte, ich ihn niemals glücklich hätte machen können. Ich habe durch unsere gemeinsame Arbeit hier auch verstanden, dass das mangelnde Mitgefühl anderen Menschen gegenüber bei meinem Vater mit dem Alter wuchs. Er half vielen Menschen. Aber mit dem Alter wurde er sehr egozentrisch und brauchte den Ruhm und den Glanz. Mir ist bewusst geworden, wie bedürftig er im Alter war. Dass er manchmal das Geld spendete, um sich Ansehen zu kaufen. Wahrscheinlich gaben meine Familie und ich ihm nicht genug davon. Von der Anerkennung, die er so stark brauchte. Ich war mir nie seiner Schwäche bewusst, nur seiner Stärke. Ich bin mir auch bewusst, dass er mich auf seine Weise liebte. Er begann seinen letzten Brief damit zu sagen, dass er seine letzten guten Jahre mir zu verdanken hatte. (Stille) Aber es ist eine Schande, dass er diese Briefe schreiben musste.« Ilany: »Warum, glauben Sie, dass er sie schreiben musste?« Sarah: »Ich weiß nur, dass er sich nach dem Tod meiner Mutter schrecklich schuldig gefühlt haben musste. Schuldig, nichts über ihre Krankheit gewusst zu haben. Fast bis an sein Lebensende besuchte er jede Woche ihr Grab. Obwohl sie eindeutig sterben wollte, gab ihm die Tatsache, dass er nichts bemerkte, das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.« Ilany: »Meinen Sie, er ließ sie im Stich, genau wie er seine erste Familie verließ und sie dem Tod und der Vernichtung überließ?«

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Sarah: »Ja, und dann fühlte er sich schrecklich schuldig. Und weil er die Schuld nicht ertragen konnte, machte er mich und meine Familie dafür verantwortlich.« Ilany: »Ist es möglich, dass er Ihnen das Gefühl der Verfolgung weitergab, sodass Sie sich nach seinem Tod genauso verfolgt fühlen würden, wie er sich gefühlt hatte nach dem Verlust seiner ersten Familie und Ihrer Mutter?« Sarah: »Jedenfalls ist es ihm nicht gelungen, dass ich mich schuldig fühle. Aber ich fühle mich von seinen Anschuldigungen verfolgt. Statt Liebe bekam ich eine furchtbare Mischung aus Liebe und Hass. Nach dem Tod meiner Mutter fühlte ich manchmal, dass mein Vater verärgert und enttäuscht über mich war. Aber ich verhinderte immer, dass er etwas Schlechtes über meinen Ehemann oder mich sagen konnte. Er wusste, dass wenn er etwas Barsches sagen würde, ich wütend wäre und etwas erwidern würde. Eine hässliche Auseinandersetzung würde beginnen, die dazu führen könnte, dass er mich endgültig verlässt. Mein Vater hatte das früher schon angedroht, wenn er unzufrieden mit mir war. (Stille) Diese Dinge, die ich während der Jahre in Behandlung herausfand, haben mir viel Schmerz verursacht. Das Platzen der Seifenblase, die das Bild meines Vaters und das seiner Liebe war, schmerzt sehr.« Ilany: »Dann fühlen Sie wahrscheinlich, dass ich diesen Schmerz verursachte, dadurch, dass ich den Weg zu dieser Entdeckung gebahnt habe. Kann es sein, dass Sie manchmal sauer auf mich waren, aber Angst hatten, es mir zu sagen, weil ich mich, wie Ihr Vater, hätte rächen oder unsere Verbindung hätte lösen können?« Sarah: »Das könnte sein. Ich komme hier oft mit meinem Schmerz in Berührung und das ist nicht einfach, aber ich weiß, dass es das Ziel hat, meine Wunden zu heilen. Es entspricht meiner Natur, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Wenn ich diese Briefe gelesen hätte, ohne hier mit Ihnen zu sein […] Ich will gar nicht wissen, was dann passiert wäre. Wenn ich, bezogen auf meine Mutter, nicht mit der Vergangenheit klar kam, entwickelte ich ernsthafte Symptome, die mein Leben beeinträchtigten. Jetzt ist die Beziehung zu meiner Mutter allerdings klar und die Schwierigkeiten liegen hinter mir. Die Tatsache, dass ich fähig war, die Beziehung zu ihr durchzuarbeiten, ist unser Erfolg. Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit, die Wunden, die mir mein Vater zugefügt hat, zu heilen. Jedes Mal, wenn ich von hier losgehe, fühle ich mich besser. Ich fühle, dass ich es geschafft habe, an etwas wirklich zu arbeiten; wir bringen die Dinge in Ordnung. Und ich bin sehr froh, dass ich die Möglichkeit dazu habe.«

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Sechste Sitzung (einige Monate später) Sarah: »Ich möchte Ihnen einen kleinen Vorfall schildern, der sich neulich ereignete. Es gibt da einen kleinen Park, nicht weit von meinem Zuhause. Ich fuhr gerade zu meiner Gymnastikstunde, als ich plötzlich in dem Park einen Hund tot an einem Seil von einem Ast hängen sah. Der Hund hatte das Seil im Maul und bewegte sich nicht. Eine junge Frau saß auf einer Bank in der Nähe und las ein Buch. Ich hielt an und ging auf sie zu. Ich fragte sie nach dem am Ast hängenden Hund und sie begann zu lachen. Sie meinte, dass der kleine Welpe voller Energie sei und gern mit Seilen spiele. Ich sah hin und der Hund sprang vom Baum – er war am Leben.«

Sarahs Geschichte schien mir wie ein Traum, der vom Nabel ihres Unbewussten aufstieg. Ich wartete und sagte dann: Ilany: »Sie sahen den Hund vom Baum hängen und dachten, dass ihn jemand gequält hatte und ihn dann an den Baum hängte […] das Bild eines grausamen Todes […]« Sarah: »Aus meinem Blickwinkel sah der Hund eindeutig tot aus. Wir haben neulich darüber gesprochen, dass mein eigener Hund dieses Jahr gestorben ist. Das war eine sehr schmerzhafte Erfahrung für mich. Sie sagten einmal, dass Hunde wie Kinder sein könnten.« (Stille) Ilany: »Vielleicht sagen Sie mir damit, dass ich – diejenige, die auf Sie Acht geben sollte – so sehr mit anderen Dingen beschäftigt bin, dass ich, wenn ich Sie so blühend lebendig sehe, nicht die erstickten, toten Anteile erkenne, die Sie mit sich herumtragen?« Sarah: »Etwas anderes ist mir in den Sinn gekommen. Als Sie bemerkten, dass der Hund gequält worden sein könnte, dachte ich über meine Schwestern nach. Sowohl die Tochter meiner Mutter als auch die Tochter meines Vaters sind wahrscheinlich gequält worden, bevor man sie ermordete. Die Tochter meiner Mutter wurde ihr weggenommen und in Treblinka im Krematorium verbrannt.« Ilany: »Dann ist es vielleicht so, dass die junge Frau und ihr verspielter Hund in dem hübschen kleinen Park Ihre äußere Realität widerspiegeln und der am Baum hängende Hund repräsentiert Ihre toten Schwestern, die sich in Ihrer inneren Realität befinden. Diesmal war Ihre Phantasie über sie so stark, dass sie in die äußere Realität vordrang. (Unbeabsichtigtes

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Seufzen) Solch eine schreckliche Geschichte, die Sie da bis heute mit sich herumtragen!« Sarah: »Ja, das ist wahr.«

Siebte Sitzung Sarah brachte zu dieser Sitzung eine Liste ihrer Publikationen mit, um mir ihre wissenschaftlichen Arbeiten zu zeigen. In der Übertragung war ich der geliebte Vater ihrer Kindheit und sie war das kleine Mädchen, das mir ihre exzellenten Schulnoten zeigt. Gleichzeitig war ich der Vater der erwachsenen Sarah, die mir ihre akademischen Errungenschaften zeigt, damit ich ihr die Liebe und Anerkennung gebe, die sie in ihren Augen von ihrem älteren Vater verdient gehabt hätte, aber nicht bekommen hatte. Sarah: »Ich besuchte eine Bekannte. Eine Frau, deren Vater vor kurzem gestorben war. Es war so offensichtlich, wie viel Liebe sie mitbekommen hatte! Ich wünschte, ich hätte weniger Geld und dafür mehr Liebe bekommen.«

Ich fragte mich im Stillen, ob – in der Übertragung – ich diese beneidete Bekannte war, die mehr Liebe und weniger Geld bekommen hatte. Die Bestätigung, dass Sarah wünschte, ich zu sein, kam am Ende der Sitzung. Sarah: (fährt fort) »Mitsamt seinen Briefen übermittelte mir mein Vater die Nachricht: ›Vergiss nie, dass du versagt hast, mich glücklich zu machen!‹ Während seiner letzten Jahre steckte ich so viel Energie in sein Wohlergehen. Ich versuchte die Beziehung zwischen ihm, mir und meiner Familie wiederzubeleben. Ich war froh, dass er eine neue Frau hatte, und ich unterstützte die Heirat. Er schätzte das, aber nichts war ihm gut genug.« Ilany: »Es scheint mir, dass Sie so verletzt sind, weil Sie, trotz Ihrer Bemühungen, nicht fähig waren, ihn wieder glücklich zu machen.« Sarah: »Ganz genau! Ich versagte darin bei beiden Elternteilen. Ich erzählte Ihnen, dass, als ich erwachsen wurde, meine Eltern nie mit mir prahlten. Sie waren nie stolz auf meine Errungenschaften. Sie schenkten der Tatsache, dass ich solch eine liebevolle Familie gegründet habe und dass ich

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eine gelungene Beziehung mit meinem Ehemann führe, nie Anerkennung. Sie waren glücklich mit mir als ich noch ein talentiertes, erfolgreiches Kind war, aber als ich älter wurde und ein eigenes Leben aufzubauen begann, verstießen sie mich. Mein Vater bewies seinen Wert der ganzen Welt. Er war sowohl finanziell wie auch akademisch erfolgreich. Aber erst jetzt realisiere ich, dass er gar nicht so göttlich war. Und ich enttäuschte ihn eindeutig.« Ilany: »Was, glauben Sie, hat er von Ihnen erwartet?« Sarah: »Vater erwartete wohl von mir eine exakte Kopie seiner selbst zu sein. Aber ich war anders als er. Ich hatte andere Interessen und eine andere Sicht auf die Welt. Das führte bei ihm zu einer großen Enttäuschung. Da waren einige schwarze Löcher in seiner Beziehung zu mir. Ich liebte ihn bedingungslos, doch er liebte mich nur unter der Bedingung, dass ich erfüllte, was mir unmöglich war.«

Am Ende dieser Sitzung, als sich Sarah zur Tür bewegte, drehte sie sich noch einmal um und sagte: Sarah: »Ich kenne jemanden mit dem Namen Ilany. Ein kleines Mädchen, die Tochter einer Bekannten von uns. Sie hat einen homosexuellen Vater. Er spendete seinen Samen und eine Frau gab ihre Eizelle. Das befruchtete Ei wurde einer Leihmutter eingesetzt. So ist dieses reizende kleine Mädchen zur Welt gekommen und sie trägt Ihren Namen.«

Sarah ließ mich erneut mit einer Geschichte zurück, über die ich zu grübeln hatte. Mir wurde klar, dass sie über sich selbst gesprochen hatte. Sie war das reizende kleine Mädchen zweier Menschen, die, allen Widrigkeiten zum Trotz, ein Kind wollten. Diese beiden Menschen waren die biologischen Eltern des Mädchens, aber um geboren zu werden, musste der Fötus eine Weile in meine analytische Gebärmutter. In der Übertragung war ich Sarahs Leihmutter. Gleichzeitig brachte das kleine Mädchen meinen Namen zur Welt. Wollte Sarah als Ilany wiedergeboren werden, damit auch sie all die Liebe erhält, von der sie dachte, dass ich sie von meinen Eltern bekommen hatte – wie in der Geschichte ihrer Bekannten?

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Diskussion In der Diskussion werde ich zunächst zwei Gründe für die Traumatisierung meiner Patientin untersuchen: Die Nachträglichkeit der traumatischen Holocaust-Vergangenheit, die an die Tochter weitergegeben wurde, und der »Zusammenbruch« der idealisierten Vaterrepräsentation. Danach werde ich die unbewusste Identifikation der Tochter mit den Opfer- und den Täteranteilen des Vaters analysieren, wie ich es anhand des Enactments der Patientin in der Szene mit den Ameisen demonstriert habe. Ich werde schließlich einige der besonderen Probleme von Übertragung und Gegenübertragung diskutieren, die hauptsächlich auftraten, weil Patientin und Analytikerin zur selben großen Gruppe der Traumatisierten gehörten.

Die Nachträglichkeit der traumatischen HolocaustVergangenheit des Vaters und die Weitergabe an seine Tochter Sarahs Vater, ein brillanter und sehr erfolgreicher Wissenschaftler und Geschäftsmann, schrieb über eine Zeitspanne von 16 Jahren eine ganze Reihe kühl berechnender Tiraden, die erst nach seinem Tod zugestellt werden sollten. In all diesen Briefen kommen Beschwerden gegen Sarah zum Ausdruck, weil sie ihn nicht genügend geliebt und respektiert habe, und eine Verachtung ihr und ihrer Familie gegenüber. Anstatt Sarah direkt zu adressieren, schienen diese Briefe eher an das Publikum eines Gerichtssaals gerichtet zu sein, das seine Not bezeugen und darüber urteilen sollte (Poland, 2000). Sarah – und ich ebenso – war von der Grausamkeit überrascht, dass ihr Vater einen so vernichtenden Überfall auf seine Tochter geplant hatte. Wie kann man eine so grausame und hasserfüllte Untat verstehen? Ich will diesbezüglich vorschlagen, dass der traumatisierte, gealterte Vater unter einem Wiederholungszwang stand (Freud, 1920) und sein Trauma der zurückgelassenen und im Holocaust verlorenen Familie, gegenüber seiner Tochter ausgelebt haben könnte. Durch seine Briefe hinterließ er ihr – ähnlich, wie es ihm damals erging – schmerzhafte Konflikte, die sie nur schwer nach seinem Tod bearbeiten würde können.

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Ihr Vater schrieb den ersten Brief, kurz nachdem seine Ehefrau an Brustkrebs gestorben war. Wie beschrieben, hatte Sarahs Mutter ihre Krankheit zwei Jahre vor ihrem Ehemann verheimlicht, bevor sie ihr Geheimnis lüftete. Als sie schließlich Hilfe suchte, bemerkte der Arzt, dass ihm in seiner ganzen Karriere niemals ein so schlimm verleugneter Fall von Brustkrebs untergekommen wäre. Aus Sarahs Sicht hatte die Tatsache, dass ihr Vater nichts vom Brustkrebs seiner Frau wusste, obwohl er so eng mit ihr zusammengelebt hatte, schwere Schuldgefühle in ihm ausgelöst. Wie wir aus dem letzten von Sarah beschriebenen Brief ihres Vaters sehen können, hatte er es nie geschafft, seine Trauer zu bearbeiten und über den Verlust seiner Familie hinwegzukommen. Deshalb könnte der Tod von Sarahs Mutter rückblickend sein Holocaust-Trauma mit großer Kraft wiederbelebt haben (Freud, 1918).1 Folglich könnte sich der Vater nach dem Tod seiner Frau gezwungen gefühlt haben, seine traumatische Geschichte zu reinszenieren (im Original: to enact) und an seine Tochter weiterzugeben. So wurde Sarah von den Briefen ihres Vaters heimgesucht, wie er beständig von der Familie heimgesucht worden war, die er verlassen und im Holocaust verloren hatte. Auf diesem Weg wurde die traumatische Erfahrung des Vaters im Leben der Tochter aktualisiert. Im Enactment seines eigenen Traumas durch die Tochter, wurde der Vater zum Opfer seiner Vergangenheit wie zum Verfolger seiner Tochter.

Der »Zusammenbruch« der idealisierten Vaterrepräsentation In beiden Analysen stellte sich der »Zusammenbruch« der väterlichen Repräsentation als Niedergang einer vergötterten Figur dar. In der ersten Therapie war der Sturz einer romantischen Phantasie, welche die Patientin während der schwierigen Zeiten mit der Mutter unterstützt hatte, sehr schmerzhaft gewesen: Ihr Vater liebte 1 Wir können diese Reaktion mittels des psychoanalytischen Traumamodells verstehen, das zwei Ereignisse postuliert: ein späteres Ereignis, das ein früheres Ereignis wiederbelebt und dadurch erst traumatisch werden lässt (Laplanche u. Pontalis, 1967).

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sie, war Zeuge ihres Leidens, aber wagte es nicht einzugreifen, aus Furcht, die Mutter würde vollkommen zusammenbrechen. Noch schmerzhafter war der »Zusammenbruch« des Bildes des Vaters in der zweiten Analyse, in der der idealisierte Vater aus Sarahs Kindheit, der bewunderte, großzügige und liebende Vater, nach seinem Tod zu einer bitteren und verfolgenden Figur wurde. Ich möchte die Hintergründe der väterlichen Erwartungen und der bitteren Ernüchterung, die er in den Briefen an Sarah ausdrückte, weiter ausführen. Trotz seiner großartigen Errungenschaften glaube ich, dass es Sarahs Vater nie gelang, die Wunden aus seiner Vergangenheit heilen zu lassen. Holocaust-Überlebende übertragen häufig ihren Kindern die Phantasierolle, die ihren eigenen Narzissmus durch die persönlichen Errungenschaften ihrer Kinder wiederherstellen soll. Warum aber funktionierte es im Fall von Sarahs Vater nicht, obwohl sie durchaus eine erfolgreiche Karriere und Ehe hatte und auch ihr Ehemann Karriere machte? Die Antwort auf diese Frage könnte darin gesehen werden, dass Sarah nicht gewillt war, ihr unabhängiges Selbst (Freyberg, 1980) aufzugeben. Sarahs Eltern konnten offensichtlich ihr Erwachsenwerden und ihre Trennung nicht akzeptieren, da sie sie als Erweiterung ihrer selbst betrachteten. Dass sie das Zuhause verlassen hatte, wurde von ihren Eltern wahrscheinlich als Verrat an der Familie erfahren. Sarah litt deshalb an einer gespaltenen Selbstrepräsentation: Einerseits war sie das geliebte Kind, das ihren Eltern Freude bereitete, und andererseits die verunglimpfte Tochter, die mit 18 Jahren das Haus verließ. Die Briefe des Vaters drückten seine Wut und seine Enttäuschung darüber aus, dass Sarah es gewagt hatte, einen eigenen Wertekanon zu entwickeln, der sich von seinem unterschied. Darüber hinaus würde ich vorschlagen, dass Sarahs Vater ihr Weiterleben nach seinem Tod als Verrat wahrnahm (so wie er sein eigenes Weiterleben nach der Vernichtung seiner ersten Familie als Verrat wahrgenommen haben könnte). Die Briefe könnten dem Vater als Ausdruck seines unbewussten Wunsches gedient haben, seine Tochter zu töten, sodass sie nach seinem Tod nicht weiterleben würde und damit für immer mit ihm verbunden bliebe. Durch das Scheitern ihrer Rolle, seine Wunden zu heilen und ihn glücklich zu machen, wurde zwischen Vater und Tochter eine feindselige Bindung etabliert, sodass sie den jeweils anderen als Verfolger

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erfuhren. Sarah sah ihren Vater, obwohl er sein Leben lang anderen Menschen half, manchmal faschistische Moralvorstellungen annehmen. Auf seine alten Tage erfuhr er Sarah als ein strenges, externales Über-Ich (als Verfolger), das über seine moralischen Standards richtete und dem es an Empathie mangelte (Kestenberg, 1982). Ich glaube, dass das Verhalten des Vaters in seinem späteren Leben größtenteils aufgrund der Schädigung des Über-Ichs, insbesondere seiner Schutzfunktion, durch Todesdrohung und pathologischer Trauer geprägt war (Kogan, 2014). Freud (1914) postulierte, dass die durch unsere Sterblichkeit verursachte narzisstische Kränkung den Kern dafür bildet, dass wir unweigerlich vermeiden, uns mit dem Tod auseinanderzusetzen. Ich halte diese Sicht für Sarahs Vater relevant, weil er es ebenso vermied, sich mit seinem körperlichen Verfall auseinanderzusetzen, wie er es vermied, sich mit dem Schmerz und den Schuldgefühlen auseinanderzusetzen, die durch den Tod von Sarahs Mutter verursacht wurden und sich mit dem Tod seiner ersten Familie überlagerten. Darüber hinaus war die Konfrontation mit dem Tod für den Vater deshalb traumatisch, weil sie eine Wiederholung seiner Konfrontation mit dem Tod als junger Mann darstellte (Laplanche u. Pontalis, 1973). Um seiner Hilflosigkeit und Schwäche entgegenzuwirken, wurde er zum »master of the universe« (Grunberger, 1993; Wolfe, 1987) – unbesiegbar und dem Gesetz und gewöhnlichen Sterblichen überlegen. Das fortgeschrittene Alter des Vaters führte zu einem merklichen Verlust von Empathie für andere (Grubrich-Simitis, 1984). Ein Beispiel dafür ist die Indifferenz des Vaters gegenüber dem Schicksal der älteren und hilflosen Mieterinnen und Mieter seines heruntergekommenen Eigentums in Osteuropa. In den Worten Eriksons (1959) ausgedrückt, beschädigte die Angst des Vaters vor dem Tod die Unversehrtheit seines Ichs. Dies führte zur Spaltung einerseits zwischen seinem großzügigen Verhalten und seinen Beiträgen zum Wohlergehen anderer und andererseits zu seiner Indifferenz und seinem Mangel an Empathie für andere. Die Folge des »Zusammenbruchs« von Sarahs idealisierter Vaterrepräsentation war, dass ihr Über-Ich nicht länger imstande war, ihren Vater als beschützende Instanz auf ihrer Seite zu internalisieren, eine Tatsache, die für sie zu großer Enttäuschung führte. Die Ernüchterung und Wut von Vater und Tochter waren gegenseitig.

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In der Analyse konnte Sarah erkennen, wie die abfällige und kritische Haltung ihres Vaters ihr gegenüber nicht nur durch seine narzisstische und unemphatische Persönlichkeit, sondern auch durch seine traumatischen Verluste und sein fortgeschrittenes Alter verursacht worden waren. Sie verstand, dass ihr die unmögliche Aufgabe auferlegt worden war, die Wunden seiner Vergangenheit zu heilen. Sie verstand außerdem, dass das fortgeschrittene Alter ihres Vaters seine Gefühle der Hilflosigkeit verstärkten und gleichzeitig sein großes Bedürfnis nach Anerkennung und narzisstischer Befriedigung verschärften. Sarah bemühte sich, die bewussten und unbewussten Reaktionen ihrer Eltern auf ihre traumatische Vergangenheit zu verstehen, um sich selbst von der problematischen Hinterlassenschaft ihrer Eltern zu befreien.

Die unbewusste Identifikation der Patientin mit den verdrängten aggressiven Anteilen ihres Vaters Ich war mir bewusst, dass in der Übertragung die gespaltene Repräsentation des Vaters auf mich projiziert worden war. Oftmals war ich die idealisierte Figur, von der Sarah Liebe und Anerkennung suchte. Gleichzeitig war ich aber auch der verfolgende Vater, der ihr Schmerzen und Leid verursachte. In dieser zweiten Analyse war Sarah nicht mehr die emotional beschränkte Frau, die zum ersten Mal eine Analyse macht. Sie war sich ihrer Gefühle, der Verletzung und der Wut bewusst und konnte sie zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel dafür ist die Reaktion auf die Briefe ihres Vaters, als sie schreit: »Ich bin außer mir! Ich will nicht weinen, aber es macht mich einfach wahnsinnig! Das ist keine Kritik, nur Müll!« Dennoch, Sarah traute unserer Beziehung nicht ausreichend, um ihrem Ärger mir gegenüber Ausdruck zu verleihen. Genauso wie in der Beziehung zu ihrem Vater schützte sie mich vor ihrem Ärger, weil sie Angst davor hatte, dass ich sie abweisen und verlassen könnte. Das war der Grund dafür, dass es Sarah nicht möglich war, den Ausdruck ihrer narzisstischen Kränkung und Aggression auf die symbolische Sprache zu beschränken. Sie musste es mich spüren lassen, indem sie es in unserer Beziehung reinszenierte (im Original: enacting; die Szene mit den Ameisen).

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Eine genaue und ausgezeichnete Darstellung der Ambivalenzen des Begriffs des Enactments und seiner technischen Implikationen wurde von Ivey (2008) und Bohleber et al. (2013) vorgelegt. Ich selbst habe das Konzept auf die Nachkommen von HolocaustÜberlebenden angewendet und es definiert als deren Zwang, die Erfahrungen ihrer Eltern in ihrem eigenen Leben nachzustellen (Kogan, 2002, 2007a). Dem Zwang der Nachkommen, die traumatischen Erfahrungen der Eltern zu wiederholen, liegt eine Art Identifikation mit dem beschädigten Elternteil zugrunde, die »primitive Identifikation« genannt wird (Freyberg, 1980; Grubrich-Simitis, 1984; Kogan, 1998, 2007a, 2007b, 2012). Diese Identifikation führt zum Verlust des eigenen Gefühls für das Selbst und zur Unfähigkeit, zwischen sich selbst und dem beschädigten Elternteil zu unterscheiden.2 Sarahs Enactment in der Ameisenszene war ihre einzige Möglichkeit, ihre innere Erfahrung, das Opfer ihrer Eltern zu sein, noch einmal zu erleben und sich dadurch mit deren Opferanteilen zu identifizieren. Gleichzeitig wurde sie zum Angreifer und ich zu ihrem Opfer. In diesem Sinn beinhaltete ihr Enactment Eigenschaften der Internalisierung.3 Schließlich gelang es mir, Interpretationen ihrer Internalisierung anzubieten, die ihr den Ursprung der Phantasien aufzeigten, die ihre Handlungen begründeten. Meine Gefühle der Erniedrigung und Verletzung in der Gegenübertragung, die durch Sarahs Enactment hervorgerufen worden waren, waren ein Hinweis auf ihren eigenen inneren Zustand (Levine u. Friedman, 2000). Sie stellten für mich einen Weg dar, um ihre Traumatisierung durch die Eltern ebenso wie ihre Identifikation mit den verdrängten aggressiven Anteilen ihrer Eltern verstehen zu können.

2 Ich halte das für ein ähnliches Phänomen, wie es bei der pathologischen Trauer vorzufinden ist. Freud (1917) beschrieb dieses Phänomen als einen Prozess, bei dem die trauernde Person versucht das Objekt zu besitzen, indem sie, statt die Ähnlichkeit zu ertragen, selbst zu diesem Objekt wird. Das geschieht, wenn die trauernde Person das Objekt aufgibt, es jedoch gleichzeitig auf eine kannibalistische Art bewahrt (Green, 1996; Grinberg u. Grinberg, 1974). 3 Dieses Konzept wurde definiert als »Internalisierung der Übertragung« oder »Internalisierung der analytischen Situation« (Hinshelwood, 1989).

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Ilany Kogan

Sarah empfand sich selbst nicht nur als Ersatzkind4, sondern auch als Nazi-Täterin, die für den frühen Tod ihrer Geschwister verantwortlich war. Dies zeigt sich an der Szene mit dem Mädchen, das auf der Bank sitzt und liest, während ihr toter Hund vom Baum hängt. Das Mädchen und der spielende Hund repräsentieren Sarahs angenehme externe Realität, während das grausame Bild des toten, hängenden Hundes ihre toten Geschwister symbolisieren, die ihre Phantasie bewohnen. Diese Szene nahm eine erschreckende Qualität an, weil die Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen Realität und Phantasie, aufgehoben war (Auerhahn u. Prelinger, 1983). Die Kommunikation zwischen drinnen und draußen war insofern beschädigt, als Sarahs Inneres die innere Welt nicht länger zurückhalten konnte (Janin, 1996) und diese in externe Realität überging. Sarah hatte beide Rollen internalisiert und gegen sie rebelliert, wodurch sie in eine Situation geriet, in der Liebe und Hass untrennbar miteinander verschmolzen waren und in der ihr Überleben selbst zum Verrat wurde.

Die Probleme in Übertragung und Gegenübertragung Sarahs Enactment half mir, die speziellen Übertragungsprobleme bewusst zu machen, die in dieser Analyse auftauchten und die Einfluss auf mein Verständnis ihrer Dynamik und meiner Interpretationstechnik hatten. Diese Probleme stellten einige Hürden dar, die ich bewältigen musste. Im Durcharbeiten der Gefühle, die durch ihr Enactment evoziert worden waren, verstand ich, dass mein Mitgefühl mit Sarahs Opferanteilen (das hilflose elfjährige Kind, das von zwei furchterregenden Erwachsenen verfolgt wurde) meine Fähigkeit beeinträchtigt hatte, das Nazi-Introjekt durchzuarbeiten, also die aggressiven Anteile der Selbstrepräsentationen ihrer Eltern, mit denen sie sich auch identifizierte. Zunächst hatte ich Sarahs Enactment in der Übertragung als ihren Wunsch interpretiert, mich fühlen zu lassen, wie sie sich selbst 4 Nach Blums (1983) Beschreibung des sogenannten »Ersatzkind-Syndroms« hinterlegen die Eltern in die Selbstrepräsentation des neuen Kindes nicht nur das Bild des verlorenen Kindes, sondern auch die unbewusste Phantasie, dass dieses Kind ihren Kummer heilen wird.

Mein Vater und ich

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als von ihren bedrohlichen Eltern zurechtgewiesenes Kind wahrgenommen hatte. Erst später war ich dazu fähig, die Schwierigkeit zu überwinden und eine Beziehung zu Sarahs aggressiven Anteilen aufzubauen, indem ich sie darauf aufmerksam machte, dass sie mich zu einer ineffektiven und nutzlosen Analytikerin umgewandelt hatte, die unfähig war, ihr dabei zu helfen, ihre quälenden Gedanken loszuwerden. Wie in Sarahs erster Analyse schenkte ich diesem Aspekt keine Beachtung, weil wir beide zu derselben großen traumatisierten Gruppe gehören – den Nachkommen der Holocaust-Überlebenden (Blum, 1985; Volkan, Ast u. Greer, 2002). Meine Schwierigkeit, mit dem Nazi-Introjekt (vermittelt durch ihre Aufforderung, die kleinen Ameisen bzw. das jüdische Volk auszurotten) umzugehen, war auch darin begründet, dass ich vermeiden wollte, ein Nazi-Täter zu werden und so meiner Patientin weitere Scham und Erniedrigung zuzufügen (Oliner, 1996). Ein weiteres Problem in der Gegenübertragung rührte aus der Tatsache, dass wir eine gemeinsame historische traumatische Erfahrung teilten: den »Zusammenbruch« der idealisierten väterlichen Repräsentation der Tochter eines Holocaust-Überlebenden. Vor einigen Jahren untersuchte ich den »Zusammenbruch« der Vaterrepräsentation der Nachkommen von berüchtigten, hochrangigen Nazi-Tätern (Kogan, 2010). Während ich mit der psychoanalytischen Literatur zu diesem Thema – welche besagt, dass gerade angesichts von hohem Alter und Tod Veränderungen im Über-Ich stattfinden, die seine Normalfunktion beeinträchtigen (Bergmann, 1982; Grubrich-Simitis, 1984; Kogan, 2014) – gut vertraut bin, widerstrebte es mir, die Leerstelle des Über-Ichs eines Überlebenden zu untersuchen. Ich glaube, es widerstrebte mir, weil Sarahs Vater in unserem kollektiven jüdischen Unbewussten alle Überlebenden-Väter repräsentierte. Ungeachtet seiner internationalen Bekanntheit, seiner Menschenliebe und seiner großen Anstrengungen, das Leben tausender Menschen zu verbessern, weckten sein manipulatives, grausames und verurteilenswertes Verhalten sowie seine psychische Abgestumpftheit Gefühle der Scham und der narzisstischen Verletzung in mir. Diese machten die Untersuchung, das Schreiben über und die öffentliche Diskussion des Profils eines Überlebenden-Vaters schwierig für mich. Sarahs Analyse ist immer noch im Gange und wir bemühen uns sehr, ihre komplexe und schmerzhafte Beziehung zu ihrem Vater

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durchzuarbeiten. Dies wird ihr nach und nach helfen, die gespaltene innere Repräsentation ihres Vaters und ihrer selbst bis zu einem gewissen Grad zu »reparieren«, Gefühle eines gesunden Narzissmus zu stärken und eine bessere psychische Integration zu erreichen. Übersetzung: Simon Arnold und Jenny Jung

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Kurt Grünberg und Friedrich Markert

Todesmarsch und Grabeswanderung – Szenisches Erinnern der Shoah Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland1 Ein Begreifen von Auschwitz angesichts Auschwitz’ ist mit dem Versuch vergleichbar, offenen Auges in die Sonne zu starren. (Louis de Jong, zitiert nach Dan Diner, 1987, S. 186)

Das Forschungsprojekt »Szenisches Erinnern der Shoah – Zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland« am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut hat das Ziel, die vor allem unbewusste Weitergabe von Verfolgungserfahrungen jüdischer Überlebender an ihre Töchter und Söhne zu ergründen, dies insbesondere unter den spezifischen Bedingungen im »Land der Täter«. Anhand einer psychoanalytischen Behandlungsphase möchten wir im Folgenden darlegen, wie eine Patientin der Zweiten Generation das Verfolgungsschicksal ihrer Eltern im Nationalsozialismus in der Beziehung zu ihrem jüdischen Analytiker, der ebenfalls der Zweiten Generation angehört, szenisch ausgestaltet. Das an die Patientin tradierte Extremtrauma erfährt in der Analyse eine erneute Tradierung. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Traumatradierung zu erforschen. Im Zentrum der Studie steht dabei eine Besonderheit, nämlich zu fragen, wie die Shoah von ihren Opfern nicht primär verbal, sondern szenisch erinnert wird und welche Wirkung von dieser Form der Erinnerung ausgeht und auf die nachfolgende Generation einwirkt. Wir gehen davon aus, dass dabei zentrale Aspekte des Traumas vermittelt werden, die von der Sprache von vornherein ausgeschlossen sind. Mit diesem Ansatz beziehen wir uns auf Konzepte des »szenischen Verstehens« von Alfred Lorenzer (1970a, 1 Der nachfolgende Aufsatz wurde bereits veröffentlicht; vgl. Grünberg u. Markert (2013). Die Patientin hat ihre Einwilligung zur Veröffentlichung der ausführlichen Darstellung gegeben.

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1970b, 2002) und Hermann Argelander (1967, 1968, 1970a, 1970b). Besonders für Lorenzer (2002, S. 70) liegt der wesentliche Zugang zu unbewussten Erinnerungen im Szenischen, denn seine Ausgangsfrage lautet: »Wie will man mit Sprache das Nichtsprachliche erfassen?« Während sich frühere Arbeiten zu den Spätfolgen der Shoah insbesondere auf die verbale Vermittlung des Traumas bezogen (vgl. Grünberg, 1997), findet hier nun mit der Betrachtung des »szenischen Erinnerns der Shoah« das nonverbale Geschehen besondere Berücksichtigung. Damit beziehen wir uns auf eine Perspektive, die Hans Keilson (1984, 1998) mit dem Leitgedanken vorgab: »Wohin die Sprache nicht reicht«. Hier geht es um das Nicht-vergessen-Können, das Nicht-Verstehen, das Unbegreifliche, das kaum in Sprache Fassbare der nationalsozialistischen Vernichtung der Jüdinnen und Juden. Weil die Erinnerungen der Überlebenden als kaum oder gar nicht aushaltbar und »verdaulich« erlebt werden, erliegen sie psychisch bestimmten Veränderungen. Sie werden deshalb fragmentiert, dissoziiert sowie eingekapselt und manifestieren sich deswegen oft nur – wie gezeigt werden wird – unbewusst in Szenen, das heißt verdeckt bzw. v­ erborgen in Beziehungen zu ihren Nachkommen wie zu den ­behandelnden Analytikern. Auch die Zweite Generation vermittelt auf diesem Wege solche Erinnerungen an ihre Kinder bzw. an ihre Analytikerinnen und Analytiker. Mit unserem Ansatz stellen wir das Konzept eines bloß »konkretistischen« Erinnerns (vgl. Bergmann, 1995, S. 344 ff.; GrubrichSimitis, 1984; Kogan, 1995) bzw. das der »Welt jenseits von Metaphern« (Herzog, 1995) infrage und plädieren für eine Theorie des »szenischen Erinnerns der Shoah«, die als »wortloser Symbolismus« (vgl. Langer, 1965) verstanden werden kann. Methodisch folgt unsere Studie dem Ansatz der »multi-sitedethnography« von George Marcus (1995): Die »Probandinnen« und »Probanden« werden nicht in einem einzigen »Feld« untersucht, sondern an mehreren Orten: in Analysen, Psychotherapien oder Gruppen, in Videointerviews, in Hausbesuchen sowie im Frankfurter »Treffpunkt für Überlebende der Shoah«. Zudem wird die Traumatradierung nicht allein mit der Zweiten Generation erforscht, sondern auch mit Überlebenden selbst, der Ersten Generation. Die

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Auseinandersetzung mit dem »szenischen Erinnern der Shoah« wird dabei als ein generationenübergreifender individueller wie gesellschaftlicher Bearbeitungs- und Trauerprozess verstanden. Das Projekt knüpft an Studien über die psychosozialen Spätfolgen der Shoah insbesondere in Deutschland an, die seit dem Jahr 1980 begonnen wurden (vgl. Grünberg, 1983, 2000a, 2000b, 2004; Grünberg u. Straub, 2001). Die Prozesse des szenischen Erinnerns der Shoah (vgl. dazu Grünberg, 2012) werden aus unterschiedlichen Beobachterperspektiven untersucht, von einem nichtjüdisch-deutschen und einem jüdischen Psychoanalytiker in Deutschland, die sich beide seit vielen Jahren mit dieser Frage klinisch und theoretisch beschäftigen. Da die Übertragung des Traumas nicht direkt beobachtbar ist, muss sie hermeneutisch erschlossen werden. Dies geschieht in mehreren Schritten. Zunächst werden relevante Szenen aus dem analytischen Material ausgesucht und phänomenologisch beschrieben (vgl. Markert, 2012). Darauf werden diese analytisch durchgearbeitet und konzeptualisiert. Im letzten Auswertungsschritt werden Expertinnen und Experten einbezogen, die sich in der Beschäftigung mit den psychosozialen Spätfolgen der Shoah ausgewiesen haben. Mit ihnen erfolgt eine weitere Vertiefung der Psychoanalyse des »szenischen Erinnerns der Shoah«. Dieses Vorgehen soll im Folgenden am Beispiel einer psychoanalytischen Behandlung angewandt werden. Der behandelnde Psychoanalytiker war Kurt Grünberg, begleitender Supervisor Friedrich Markert. An einzelnen Punkten der Darstellung werden kurze theoretische Erläuterungen eingefügt, um Bezüge zur Fachliteratur herzustellen. Im letzten Teil dieses Beitrags wird es insbesondere um die kritische Auseinandersetzung mit den Konzepten des »Konkretismus« und der »Welt jenseits von Metaphern« gehen, um diesen gegenüber dem eigenen Ansatz des »szenischen Erinnerns der Shoah« herauszustellen.

Aus der Analyse mit Naomi B. Vor einigen Jahren kam Naomi B. zu mir in Analyse. Ihre Behandlung dauerte fünf Jahre. Die damals 58-jährige Patientin, eine sehr attraktive und sympathische Frau, hat zwei erwachsene Töchter. Sie

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kam in einer existenziellen Krise, die durch die Scheidung einer ihrer Töchter von deren jüdischem Ehemann ausgelöst worden war. Die Scheidung erlebte Naomi mit einem tiefen Gefühl des Verlusts und des Scheiterns, denn nach dem Tod ihres eigenen Ehemannes hatte sie ihre »Lebensaufgabe« darin gesehen, die Töchter jüdisch verheiratet zu wissen. Gleich zu Beginn der Analyse erzählte Naomi ihre Familiengeschichte, die mich sehr berührte und erschütterte. Mutter und Vater der Patientin waren bereits vor der Shoah mit jeweils anderen Partnern verheiratet gewesen. Beide Ehepartner sowie ihre jeweiligen Kinder sind von den Nazis ermordet worden. Die Mutter, die geglaubt hatte, eine ihrer Töchter gerettet zu haben, als im September 1943 die Deportation der Kinder im Ghetto von Lodz stattfand, wurde dann doch noch von einem deutschen Soldaten entdeckt. Dieser riss ihr das Kind, das sie zuvor unter ihrem Mantel versteckt hatte, aus den Armen und warf es auf einen Lastwagen. Die Mutter selbst ist Opfer medizinischer Experimente der Nazis geworden. Dabei wurde sie derart »verunstaltet«, dass ein Kind aus der Nachbarschaft einmal schreiend davongelaufen sei, als es – viele Jahre später – ihre körperlichen Entstellungen zu sehen bekam. Naomis Vater wurde ebenfalls Opfer der Nazi-Verfolgungen. Er musste ansehen, wie seine hochschwangere Frau und sein ­zweijähriger Sohn bei der Selektion »ins Gas geschickt« wurden. Diese traumatischen Erfahrungen prägten später die Atmosphäre in Naomis Familie. Der Alltag war von Bedrückung und Trostlosigkeit erfüllt. Die Außenwelt wurde als fremd und feindlich empfunden; man lebte völlig abgeschottet. Ständig schien die Gefahr in der Luft zu liegen, »es« könnte wieder geschehen. Die Eltern, beide Analphabeten, saßen mit ihren Kindern abends im abgedunkelten Raum. Wortlos wurde vermittelt, dass es sich nicht gehörte, Licht einzuschalten oder sich in ein anderes Zimmer zurückzuziehen. Die Familie blieb zusammen, keiner sollte fehlen, es sollte aber auch niemand Fremdes hinzukommen. Man lebte, doch das Leben schien wertlos zu sein. Im Grunde hatte man kein Recht zu leben. An der Wohnzimmerwand hingen Fotos der ermordeten Familienangehörigen. Das Leben war wie ein endloses »Shive-Sitzen« für die Toten (Trauerritual im Judentum). Unüber-

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sehbar litten die Eltern unter einer Überlebenden-Schuld und Verlustpanik, die alle Lebendigkeit erstickten. Vor allem der Vater nahm Anstoß an allem Lebendigen. Immer wurde die Gegenwart mit Auschwitz verglichen: »Dagegen war alles nichts«, sagte Naomi. Ihr Vater empörte sich: »Wus lachst di?« (Wie kann man nur lachen?). Jede Fröhlichkeit wurde erstickt. Selbst wenn der Vater seine Töchter auf dem Motorrad mitnahm, fuhr sein Trauma gewissermaßen mit. Er hatte nämlich die Angewohnheit, an Kreuzungen genau in dem Augenblick loszufahren, wenn für alle Verkehrsteilnehmer die Ampeln auf »Rot« standen. Den für alle geltenden Regeln wollte er sich nicht unterwerfen, als wollte er zum Ausdruck bringen: »Nach Auschwitz lasse ich mir niemals wieder vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe«. Er »spielte« dabei sogar mit dem Leben seiner Kinder und forderte mit dieser Reinszenierung einer möglichen Katastrophe das Schicksal geradezu heraus. Unter all dem litt besonders Naomis Mutter. Sie hatte sich trotz ihres schweren Verfolgungsschicksals eine gewisse Lebenslust ­bewahrt und versuchte, Kontakt zu anderen Menschen zu finden. Manchmal musste sie »rausrennen«, um der Isolation der Familie wenigstens für kurze Zeit zu entrinnen. Mit dieser Seite der Mutter und ihren Versuchen, mit der Außenwelt in Beziehung zu treten, konnte sich Naomi identifizieren. Sie war es dann auch, die die Aufgabe übernahm, die Belange der Familie mit der Außenwelt zu regeln. Für Kindsein, für kindliche Bedürfnisse und Wünsche gab es in der Familie wenig Raum. Schon im Alter von vier Jahren spülte Naomi aus eigenem Antrieb das Geschirr. Sie hatte sich von ihren Eltern einen kleinen Schemel geben lassen, um an die Spüle zu reichen. Immer mehr bekam sie das Gefühl, dass das Wohlergehen und Schicksal der Familie vor allem von ihrem Engagement abhinge. Alles schien auf ihren Schultern abgeladen. Die zahlreichen Umzüge der Familie wurden später vor allem von ihr organisiert. Naomi und ihre Schwester hatten für sich selbst, aber auch für die Eltern zu sorgen. So war es für Naomi selbstverständlich, solche Aufgaben zu übernehmen. Unübersehbar waren die extrem traumatisierten Eltern so sehr mit ihren traumatischen, nicht verarbeitbaren Erinnerungen beschäftigt, dass es schwierig für sie war, die Kinder ausreichend zu

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versorgen. Mario Erdheim (2006) hat beschrieben, dass die Paren­ tifizierung (vgl. auch Stierlin, 1978) in solchen F ­ amilien zum Aufheben der Generationsgrenzen führt, »das heißt, das Kind wird als Erwachsener behandelt und muss in der Regel auch entsprechende Funktionen ausüben« (Erdheim, 2006, S. 25). Bei Überlebenden liegen liebevolle Zuwendung und zuweilen ein Zuviel des Umsorgens mitunter nahe bei der Schwierigkeit, sich in die kindliche Welt einzufühlen. Die tiefe Loyalität der Kinder zu ihren Eltern verhindert oft, dass sie Konflikte als solche empfinden und austragen können. Dies soll im Folgenden verdeutlicht werden: Naomis Eltern hatten es sich geleistet, ihren Töchtern wunderschöne Lackschuhe zu kaufen, die in der Welt von Auschwitz undenkbar gewesen wären. Sie waren davon überzeugt, dass die Kinder solche Schuhe mit Begeisterung und Dankbarkeit tragen müssten. Dabei bedachten sie offenbar nicht, dass Lackschuhe im kalten Winter alles andere als geeignetes Schuhwerk waren, sodass Naomi sehr unter ihren eiskalten Füßen litt. Sie wagte es nicht, um wärmere Winterschuhe zu bitten. Vor diesem Hintergrund entwickelte sie im Erwachsenenalter einen Zwang, sich eine Vielzahl von Schuhen zu kaufen, die sie zu Hause aufbewahrte, um niemals wieder unter kalten Füßen leiden zu müssen. Naomi war offensichtlich die vom Vater begehrte und bevorzugte Tochter. Ihre Schwester nannte er »Kalecke« (jiddisch für Krüppel). Mit Naomi »promenierte« er stolz auf der Straße; im Auto mussten ihre Mutter und Schwester hinten sitzen. Dann wieder musste sie erleben, wie der Vater ihre eigenen Leistungen nicht würdigte. Als sie eine wichtige Prüfung an der Universität geschafft hatte, meinte er: »Wus toig dus?« (Welchen Wert hat das?). »Ma Sin wat gewein a Dokter in dane Juhrn!« (Was ist das schon? Mein Sohn hätte in deinem Alter längst seinen Doktor gemacht!). An dieser Stelle wird deutlich, dass Naomi ein »ReplacementChild« war, das ihr eigenes Leben als »Ersatz« für das Leben der ermordeten Geschwister empfinden musste.

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Analytische Beziehung Als es in einer der ersten Analysestunden um die Frage ging, wie sich die analytische Beziehung wohl im Laufe der Zeit gestalten würde, machte ich, fast wie im Scherz, die Bemerkung: »Natürlich werden Sie sich in mich verlieben.« Diesen intuitiven Einfall von mir wies Naomi heftig zurück, während ich eher dachte: »Schauen wir einmal.« Einige Stunden später sprach Naomi von einer »Grabeswanderung«, die sie zu unternehmen habe. Dies hielt ich im ersten ­Moment für eine Fehlleistung: Hatte sie nicht von einer »Gratwanderung« sprechen wollen? – Und nun begann unsere »Grabeswanderung«, die zugleich eine »Gratwanderung« war. Naomi erinnerte sich wieder und wieder an Schilderungen ihres Vaters aus Auschwitz und an seinen Todesmarsch. Ihre Beschreibungen wirkten so nah und »lebendig«, als sei sie selbst dort und dabei gewesen. Damit zog sie mich in ihren Bann. Von alldem, was sie erzählte, war ich tief berührt, sodass ich bereit war, sie bei dieser Grabeswanderung zu den nicht vorhandenen Gräbern in Auschwitz zu begleiten. Mit ihren Erinnerungen wollte ich sie nicht alleinlassen und dachte: »Zusammen können wir es schaffen.« Für vieles, was sie von den Erzählungen ihres Vaters erinnerte, fand Naomi Worte. Vor allem aber gestaltete sich im analytischen Prozess dann auch szenisch etwas, das offenbar nicht verbalisiert werden konnte, eben das, »wohin die Sprache nicht reicht«. Dazu gehörte, dass ich meine eigene »Wanderung« antreten würde und dabei der Spur des Todesmarsches meines Vaters folgte. Auch ich hatte dafür zunächst keine Sprache und verstand dies erst später. Nicht nur erzählend, sondern auch sprachlos tauchte Naomi damals immer tiefer in die Welt der Ermordeten und der Überlebenden ein. Ein Entkommen schien unmöglich. Sie war schließlich sogar körperlich in dieser Konzentrationslager-Welt »angekommen«. Harvey und Carol Barocas (1979, 1980) hatten als »den wichtigsten Aspekt der Psychologie der Kinder von Überlebenden« ­(Kestenberg, 1989, S. 163) folgendes Phänomen beschrieben: Sie »zeigen Symptome, die man von Kindern erwarten würde, die selbst den Holocaust erlebt haben. Die Kinder fühlen, dass der Holocaust das Ereignis ist, welches ihr Leben am nachhaltigsten geprägt hat,

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obwohl der Holocaust sich vor ihrer Geburt ereignet hatte« (Kestenberg, 1989, S. 163).2 Robert Prince (1998) weist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit hin, sorgfältig zwischen Erster und Zweiter Generation zu differenzieren, insbesondere was die je besonderen Merkmale betrifft. Wie durch einen »Zeittunnel« (Kestenberg, 1995, S. 179) tauchte Naomi – wie auch ich selbst – in die Welt der Verfolgung und Vernichtung ein. Judith Kestenberg nennt diese unbewusste identifikatorische Teilhabe der Zweiten Generation an der vergangenen traumatischen Lebensgeschichte der Eltern »Transposition« (S. 191) und versteht diese auch als Trauer um die verlorenen Familienangehörigen (S. 204). Naomi zog sich zunehmend aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und verlor immer mehr an Gewicht, sodass ich sehr erschrak und in Alarmbereitschaft geriet, als ich in ihr einen ­KZ-Häftling zu sehen meinte. Ich merkte, wie sie immer weiter abglitt. In mir entstand eine große Angst, dass sie unsere gemeinsame Grabeswanderung nicht überlebt. So überlegte ich, wie ich sie aus der existenziellen Not, in die ich sie hineinbegleitet hatte, wieder herausholen könnte. Erst in der Bearbeitung dieser Behandlungsphase im Forschungsprojekt wurde mir klar, dass Naomi und ich einen gemeinsamen »Todesmarsch« und eine gemeinsame »Grabeswanderung« inszenierten. Ich war nicht nur mit Naomis Vater identifiziert, sondern auch mit meinem Vater, dem ich mich in dieser Zeit sehr nahe fühlte. Auf seinem Todesmarsch hatten er und sein Freund ­David de Haas den Cousin meines Vaters, Walter, über eine große Strecke gestützt, gehalten und mitgeschleppt. Als Walter völlig erschöpft zusammenbrach, ließen sie von ihm ab. Dies führte dazu, dass er erschossen wurde, und zwar nur wenige Minuten vor der Rettung. Denn nur kurze Zeit, nachdem ihn mein Vater und David zurückgelassen hatten, wurden die beiden befreit. Die deutschen Soldaten hatten sich – wegen der herannahenden sowjetischen Front – »plötzlich aus dem Staub gemacht«. Dies bildete – zunächst unbewusst – in mir den Hintergrund für meine große Angst, die Geschichte von Walter könnte sich wieder2 Kestenberg (1989) fasst darin Sätze aus zwei unterschiedlichen Textpassagen von Barocas und Barocas (1979) zusammen.

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holen: Naomi würde »unseren Todesmarsch« nicht überleben, weil ich sie nicht genügend gehalten und »getragen« hätte. Vielleicht hätte ich sie von vornherein vor diesem Marsch bewahren müssen. Vor allem aber fürchtete ich, ich könnte mich schuldig machen, wenn Naomi nicht überlebt, so wie mein Vater Zeit seines Lebens mit dem Schuldgefühl lebte, er trage die Verantwortung für Walters Tod. Bereits einige Wochen vor dieser Krise hatte ich intuitiv – und wohl auch einem eigenen Lebensmotto folgend – Naomi von Viktor Frankls Buch »Trotzdem Ja zum Leben sagen« (1981) erzählt. Wenig später begann sie dieses Buch zu lesen. Besonders war sie von Frankls Schilderung der Zeit kurz nach der Befreiung aus Auschwitz beeindruckt, wo er schreibt: »Wir gehen […] querfeldein, ein Kamerad und ich, dem Lager zu, aus dem wir vor kurzem befreit wurden; da steht plötzlich vor uns ein Feld mit junger Saat. Unwillkürlich weiche ich aus. Er aber packt mich beim Arm und schiebt mich mit sich mittendurch. Ich stammle etwas davon, daß man doch die junge Saat nicht niedertreten soll. Da wird er böse: in seinen Augen zuckt ein zorniger Blick auf, während er mich anschreit: ›Was du nicht sagst! Und uns hat man zu wenig genommen? Mir hat man Frau und Kind vergast – abgesehen von allem andern – und du willst mir verbieten, daß ich ein paar Haferhalme zusammentrete […]‹« (Frankl, 1981, S. 145).

Ihr Vater, da war sich Naomi ganz sicher, hätte ebenfalls keinerlei Rücksicht genommen. Er hätte gesagt: »Sa wi sa – is toig gunish. – alles in Drerd« (Es taugt sowieso nichts. Es hat alles keinen Wert. In die Erde damit!). Ihr Vater habe – ohne auf irgendetwas oder auf irgendwen Rücksicht zu nehmen – »Schritt für Schritt für Schritt ein Bein vor das andere gesetzt. Egal, wo er hintrat«. Ich begann nun, um Naomis Überleben zu kämpfen, mischte mich in Fragen ihrer Ernährung ein und machte deutlich, dass es in der Analyse nicht darum gehen könne, sein Leben zu beenden. Es gehe darum zu leben. Ihr Vater habe doch so eindrucksvoll gezeigt, dass er, auch wenn er sich in seinem Trott so mechanisch bewegte, überleben wollte. Naomi tauchte tief in die Schrecken von Auschwitz und des Todesmarsches ein. Yossi Hadar (1991) weist in diesem Zusammen-

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hang auf Folgendes hin: Die »chronologische Zeit« der Zweiten Generation beginne zwar erst nach der Shoah, doch gefühlsmäßig liege der Geburtszeitpunkt im Konzentrationslager. Die Zweite Generation sei gewissermaßen »in den Holocaust hineingeboren worden […], im Gegensatz zu ihren Eltern, die in der normalen Welt, die vor dem Holocaust bestand, geboren wurden« (S. 163). Naomis Abmagerung könnte somit auch als eine körperliche Reinszenierung der KZ-Situation verstanden werden (vgl. dazu Küchenhoff, 2000). Der Todesmarsch und die Grabeswanderung wurden lange Zeit gemeinsam durchlebt und durchlitten. Es war nicht nur ein Sprechen über diese furchtbare Zeit, sondern im Besonderen ein nonverbales, szenisches Geschehen, ohne Worte, wohin die Sprache nicht reicht. Erst im supervisorischen Gespräch und in der Auseinandersetzung im Forschungsprojekt bekam ich genügend inneren Abstand zur eigenen Verwicklung im analytischen Prozess. Dies ermöglichte es mir zu erkennen, dass sich in der Analyse ein szenisches Erinnern der Shoah manifestiert hatte. Diese Erkenntnis hatte eine befreiende Wirkung. Mir wurde klar, dass wir den Todesmarsch beenden müssen, und zwar so, dass Naomi nicht dabei zugrunde geht, sondern einen Weg findet, wie sie »trotzdem Ja zum Leben sagen« kann. Die Erkenntnis, dass wir gemeinsam Todesmarsch und Grabeswanderung »szenisch erinnerten«, deutete ich wiederholt. Naomi fühlte sich mit dieser Deutung sehr verstanden, und dies bewirkte eine besondere Nähe zwischen uns. Häufig sagte sie aber auch, sie habe keine Kraft mehr, sie wisse nicht, ob sie es schaffen würde, jemals aus diesem Elend und diesem Leid lebendig herauszukommen. In mir entstand jedoch Hoffnung, es gemeinsam schaffen zu können. Nun kam mir meine Bemerkung zu Beginn der Analyse wieder in den Sinn, wonach sich die Patientin selbstverständlich in mich verlieben würde. Denn da war erotisches Gefühl in unserer Beziehung. Naomis aggressiv-destruktiv-vitale Kraft wurde offenbar, als sie direkt im Anschluss an eine Analysestunde ein parkendes Auto rammte und dabei einen Achsenbruch herbeiführte. Sie hatte Gas gegeben anstatt zu bremsen. Den Wagen hatte sie mit der Ermunterung ihres Analytikers gekauft, weil sie glaubte, sich so ein schönes neues Auto nicht leisten zu dürfen. Ich deutete ihr Potenzial an aggressiven und destruktiven Kräften, während sie ihre Vitalität

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eher negierte und wohl aus Schuldgefühl und Angst mein Bemühen zurückwies, indem sie ihre Destruktivität gegen sich selbst richtete, anstatt sie kreativ zu gestalten oder in die analytische Beziehung einzubringen. In ähnlicher Weise durfte das Aggressive und Destruktiv-Vitale schon in der Beziehung zu den Eltern, die tief verletzt und traumatisiert waren, nicht gelebt werden. Gleichwohl erschien mir dieser Unfall auch als ein »Fortschritt«, wenn man bedenkt, dass Naomi in dieser Zeit auch daran dachte, sich auf der Autobahn das Leben zu nehmen. Sie hatte sich vorgestellt, mit ihrem Auto gegen einen Betonpfeiler zu rasen. Als eines Abends ein Kollege nach »diesem schönen Mädchen« fragte, das ihm aus meiner Praxis entgegengekommen war, wurde mir klar, dass der erotische Blick des Analytikers für die Patientin auf der »Grabeswanderung« und dem Todesmarsch verloren gegangen war, mit der die Analyse doch begonnen hatte. Mein Wiederentdecken des Erotischen gab mir die Hoffnung, dass diese Gefühle auch in der Patientin lebendig werden. Wenig später erhielt ich einen Anruf der jüngeren Tochter der Patientin, die ihre Sorge zum Ausdruck brachte, ihre Mutter würde sich etwas antun, insbesondere jetzt, da sie im Begriff sei, in der kommenden Woche in eine andere Stadt umzuziehen. In die folgende Stunde kam Naomi schick gekleidet, geschminkt, mit einem rosafarbenen Mantel, den sie bis vor kurzem ihrer Tochter geliehen hatte, in die Praxis. Sie sehe keinen Sinn mehr im Leben. Wenn sie nachts aufwache, frage sie sich, weshalb es sich überhaupt noch lohnen solle, den nächsten Tag zu erleben. Das habe nichts mit dem Verhalten einer anderen Person zu tun, weder mit dem ihrer Töchter noch ihrer Enkelkinder. Aus den Analysestunden könne sie nichts mit nach Hause nehmen, obgleich ich der Einzige sei, mit dem sie wirklich offen sprechen könne. Sie habe das Gefühl, dass sie auf sich »als Mädchen« zurückgeworfen sei. In diesem Augenblick spürte ich ein Lächeln in mir und erzählte ihr von der bereits erwähnten Äußerung meines Kollegen, der sie ja ebenfalls als, zumal attraktives, »Mädchen« bezeichnet hatte. Ich erinnerte sie an den Beginn der Analyse, an meine damalige Äußerung, sie werde sich selbstverständlich in mich verlieben, auf die sie spontan gesagt hatte: »Das wird sicherlich nicht geschehen! Sie sind verheiratet, so etwas würde ich niemals tun.«

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Naomi konnte sich gut an diese Stunde erinnern. Im weiteren Stundenverlauf sagte ich: »Ich spüre in Ihnen eine Lebendigkeit, die Sie offenbar selbst noch nicht wahrnehmen, weil Sie vor allem mit Ihrem Leid, dem Leid Ihrer Familie und Ihrer Trauer um die Ermordeten beschäftigt sind.« Zudem erinnerte ich sie an den Autounfall, den sie vor einigen Monaten direkt nach einer Analysestunde herbeigeführt hatte: »Da waren Sie auch sehr lebendig!« Darauf breitete sich ein großes Lächeln in ihrem Gesicht aus und sie sagte: »Das könnte stimmen.« Zu Anfang der Analyse hatte Naomi in mir auch ihren verstorbenen Mann, den sie sehr liebte, gesehen. In meiner Gegenübertragung fragte ich mich, wie es wäre, wenn die Liebesgefühle für den verstorbenen Mann aus dem Verborgenen hervorträten und wie es wäre, wenn die Liebesgefühle für den Vater, der mit ihr »promenierte«, in der Übertragung offenbar würden. In der Analyse hatte sich Naomi einen geborgenen und sicheren Raum wie eine Urhöhle erschaffen, von der aus sie die Hölle in Auschwitz betrachten konnte. Auf der »Vorderbühne« des analytischen Prozesses fanden lange Zeit Todesmarsch und Grabeswanderung statt, während nun Gefühle und Persönlichkeitsanteile Naomis zum Vorschein kamen, die lange auf die »hintere Bühne« zurückgedrängt waren. Vielleicht bedurfte es einer »Erlaubnis«, den Todesmarsch, der die große Verbundenheit und Loyalität Naomis mit ihren Eltern zum Ausdruck brachte, zu beenden. Auf die Schwierigkeit der Nachkommen von Überlebenden, sich von ihren Eltern zu lösen und ein eigenes Leben zu leben, hat Haydée Faimberg (2009) mit ihrem Konzept des »Telescoping« hingewiesen. Sie beschreibt das unbewusste In- und Aneinanderrücken der beiden Generationen in Überlebendenfamilien der Shoah durch Identifizierung. Das Telescoping erschwere in beträchtlichem Ausmaß den Individuations- und Separationsprozess der Zweiten Generation.

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Konkretismus versus szenisches Erinnern der Shoah Wir verstehen Naomis Reinszenierung des Todesmarsches und der Grabeswanderung als eine Identifikation mit der Verfolgungsgeschichte ihrer Eltern. Mit Judith Kestenberg sprechen wir hier von einer »Transposition« (1995, S. 191). Wie durch einen »Zeittunnel« (S. 179) sind Analytiker und Analysandin in den Horror der Shoah hinabgestiegen, um zu erkunden, welches unsagbare Leid die Eltern durchlitten haben. Yolanda Gampel (1995, S. 146; vgl. auch Gampel, 2005) zufolge agieren »alle Kinder [von Überlebenden; K. G., F. M.] ein Drehbuch […], das sie selbst nicht kennen, ein Drehbuch, das nicht ihr eigenes, sondern in Wahrheit Teil der Geschichte ihrer Familien und insbesondere jener Angehörigen ist, die den Holocaust überlebt haben«. In der Fachliteratur über psychoanalytische Behandlungen der Ersten und Zweiten Generation wird von zahlreichen Autorinnen und Autoren das Phänomen der »Konkretisierung« beschrieben. Maria Bergmann (1995) gehörte zu den Ersten, die dieses Konzept anwenden. Für sie ist es letztlich ein pathologisches Merkmal, das zutage trete, weil die Nachkommen der Überlebenden nicht die Möglichkeit gehabt hätten, die an sie tradierten Erfahrungen in Worte zu fassen und zu symbolisieren. Phantasien würden, so schreibt sie, »weil sie nicht verbalisiert werden können, ausgelebt, auf die Umwelt übertragen und mit der gegenwärtigen Realität verwoben« (S. 345). Zudem spricht sie von dem massiven Trauma, das bei »Überlebenden und ihren Kindern die Fähigkeit zur Phantasiebildung zerstörte« (Kestenberg, 1995, S. 345; Hervorhebung K. G., F. M.). Viele Überlebende hätten mit ihren »Kindern gemeinsame Phantasien konkretisiert und in der Umwelt ausgelebt« (S. 345). Die Traumatisierung »setzt die Fähigkeit zur Wahrnehmungs- und Affektkontrolle herab, es findet eine Regression der Symbolisierungsfähigkeit und des Wortgebrauchs zugunsten des Handelns statt« (S. 348). Ilse Grubrich-Simitis (1984, S. 17) beschreibt die »Ichfunktion der Metaphorisierung und ihre Schädigung durch das HolocaustTrauma« sowie den »Konkretismus« der Zweiten Generation als wiederholt vorkommende Phänomene in deren Behandlung: »Die Patienten fassen das, was sie mitteilen, oft dinghaft auf, also nicht

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als etwas Vorgestelltes, Gedachtes, Erinnertes; es hat für sie nicht Zeichen-, nicht beweglichen Phantasiecharakter, sondern eine eigentümlich unverrückbare, konkretistische Qualität« (S. 5; Hervorhebung K. G., F. M.). Als »generalisierbare Behandlungsrichtung« benennt sie das Ziel, »vom Konkretismus zur Metaphorik« (S. 15) zu gelangen. Das in solchen Behandlungen auftretende Agieren der Patientinnen und Patienten sei »anfänglich jedenfalls nicht als etwas Unerwünschtes, nicht bloß als Widerstand aufzufassen, den es möglichst rasch zu überwinden gilt« (S. 20). Das Agieren müsse vielmehr als Appell verstanden werden, den Konkretismus in der psychoanalytischen Behandlung durch ein gemeinsam erarbeitetes Verständnis zu überwinden. Mit der Vorstellung, Überlebenden-­ Familien lebten in einer »Welt jenseits von Metaphern« (1995, S. 139), schließt sich James Herzog ebenfalls dem Konkretisierungskonzept an. Auch Ilany Kogan (1995) beschreibt die Konkretisierung als einen der Kernprozesse der Behandlung bei Kindern von Überlebenden, als »das bezwingende, unbewusste Bedürfnis, die traumatische Vergangenheit der Eltern samt den Begleitaffekten nachzuvollziehen und nachzuerleben, als ob es ihre eigene Lebensgeschichte wäre« (S. 214). Kogan schreibt der Konkretisierung die Funktion der »Vermeidung psychischen Leidens« (S. 220) zu. Die Konkretisierung sei »eine pragmatische Art des Denkens über Menschen und Ereignisse« (S. 220). Kogan spricht in diesem Zusammenhang von einem »Mangel an emotionaler Reaktion auf wichtige Lebensmomente oder traumatische Verluste im Leben der betreffenden Person« (S. 220). Die These Kogans, mit der »Konkretisierung« werde der Versuch gemacht, psychisches Leiden zu vermeiden, unterstellt die Auftrennbarkeit von körperlichem und seelischem Erleben und Leiden.3 Dabei wird übersehen, dass jede körperliche Aktion auch einen Affektanteil beinhaltet: Körperhaltung, Mimik, Gestik, Bewegungsabläufe korrelieren ebenso mit affektiven Zuständen wie sprachliche Vorgänge, in denen Sprechrhythmus, Stimmmodulation, Lautstärke, Sprachtempo bedeutungsvolle Bestandteile des Sprechens sind. Die 3 Die folgenden Überlegungen verdanken wir einem intensiven persönlichen Austausch mit Angela Moré.

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Vorstellung, der Körper sei in seiner Ausdrucksweise unmittelbar konkret und folglich unfähig zur Vergegenwärtigung von symbolischen Gehalten, verleugnet die Existenz der affektiv-psychischen Rückkopplungen von Körpererleben und die Bedeutung des Körperausdrucks als primärem Signalsystem, wie es auch die Säuglingsforschung und die Mentalisierungstheorie betonen. Dass der Körper die Basis von Symbolisierungsvorgängen ist, zeigt sich in künstlerischer Form sowohl im Ausdruckstanz wie in der Pantomime, die man auch als »Lyrik« der Körpersprache auffassen kann und deren Wortlosigkeit nicht weniger Symbolkraft besitzt wie die bereits erwähnten Kunstformen der Musik, der Malerei und bildenden Künste. Hätten diese körpersprachlichen Ausdrucksweisen keinen symbolischen Sinngehalt, so wären sie nicht durch ein Gegenüber entzifferbar und verstehbar. Der symbolische Charakter der Körpersprache offenbart sich in der Verwendung des Körpers als Instrument der Performanz von Mitteilungen, deren bewusste wie unbewusste Bedeutungsgehalte sowohl verschlüsselt wie auch entschlüsselt werden können. Grundlage des körpersprachlichen Inszenierens und interpretierenden Verstehens ist die mimetische Mitvollziehung, wie sie im frühen Interaktionsprozess zwischen Mutter oder Vater und Baby beginnt (matching), und in den Vorstufen der Identifikation als mimetisches Begehren (im Sinne René Girards, vgl. Emrich, 2007, S. 193 ff.). Das mimetisch angeeignete Begehren in der Traumatransmission und ihrer körperlichen In-Szene-Setzung ist das Ungeschehenmachenwollen des Traumas und das gleichzeitige (unbewusste und bewusste) Wissen um die Unmöglichkeit dieses Verlangens. Der hohe symbolische Gehalt, den Freud in der hysterischen Inszenierung erkannte, widerspricht ebenso dem Konzept des Konkretismus wie die traumatische Inszenierung, die den Traumatisierten wie ihren Nachkommen immer wieder neu das unintegrierbare Erleben auf die innere Bühne zurückholt. Erinnern ist nicht nur ein kognitiver, sondern immer auch ein neuronaler, muskulärer, affektiv-mimischer und gestischer Vorgang. Letzterer ist besonders dort bedeutsam, wo der Zugang zur bewussten Erinnerung versperrt ist (vgl. Moré, 2005). Aus der Perspektive unseres Ansatzes des »szenischen Erinnerns der Shoah« erscheinen die von den Autorinnen und Autoren ge-

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nannten geteilten Konzepte der »Konkretisierung« bzw. des »Konkretismus« und der »Welt jenseits von Metaphern« als pathologisierende Interpretationen. Was nicht aushaltbar und zum Teil auch nicht in Worte gefasst werden kann, wird zum Krankhaften erklärt. Im Gegensatz dazu betont Robert Prince (1995, 1998) die lebensbejahenden Ressourcen und die Resilienz der Überlebenden und ihrer Nachkommen. Zwar beschreiben Bergmann, GrubrichSimitis, Herzog und Kogan Phänomene, die in den Behandlungen der Zweiten Generation beobachtbar und bedeutsam sind. Kann allerdings tatsächlich davon die Rede sein, dass die Phantasiebildung der Ersten und Zweiten Generation zerstört sei? Wird aufseiten der Nachkommen der Überlebenden wirklich psychisches Leid vermieden? Liegt tatsächlich eine mangelnde Symbolisierungsfähigkeit vor? Während viele Analytikerinnen und Analytiker Naomis Verhalten im analytischen Prozess vermutlich als eine solche »Konkretisierung« oder gar als »Konkretismus« verstehen würden, erkennen wir in genau diesen Phänomenen ein »szenisches Erinnern der Shoah«, nämlich den hoch symbolischen, metaphorischen Ausdruck des an Naomi tradierten extremen Traumas ihrer Eltern, die – wie später ihre Tochter – keine Worte finden konnten für das, was man ihnen und ihrem Volk angetan hatte. Mit unserem Konzept wollen wir ein tiefergehendes Verständnis für solche Inszenierungen eröffnen und den Wahrnehmungsraum erweitern, um auf diese Art und Weise neue und andersartige Beobachtungen zu gewinnen, aus denen wir auf die transgenerationale Übertragung des Traumas schließen können. Es wird in der weiteren Untersuchung zu klären sein, ob das »szenische Erinnern der Shoah« als »Spezialfall« grundsätzlich und methodisch eine Ausweitung des Konzeptes des »szenischen Verstehens« beinhaltet und erfordert. In Anlehnung an die Arbeiten von Alfred Lorenzer (2002, S. 63 ff.) und Susanne K. Langer (1965, S. 86 ff.) verstehen wir szenisches Geschehen als »präsentativen, wortlosen Symbolismus«, der vom »sprachlich-diskursiven Symbolismus« zu unterscheiden ist. Das Präsentative, das Nichtsprachliche kommt zum Beispiel in der Musik, der Malerei oder der bildenden Kunst zum Ausdruck. Es ist, wie Susanne Langer ausführt (1965, S. 107), »wie geschaffen […] zur Erklärung des ›Unsagbaren‹«.

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Wer in die Schrecken der Shoah eintaucht, wird durchtränkt vom Nazi-Gift und dieses maligne Introjekt nicht mehr los. Nach Joachim Küchenhoff (1998, S. 14) »wird erfahrene Destruktivität zu einem destruktiven inneren Objekt, das in Widerstreit zu liebevollen Erfahrungen gerät« und das sich »in die Seele des Kindes einschreibt«. Die schrecklichen Erinnerungen der Überlebenden, die sich aufgrund eines von Menschen begangenen »Zivilisationsbruchs« (Diner, 1988) jedem Sinnzusammenhang entziehen und sich wie beständige Fremdkörper bzw. maligne Introjekte in das Seelenleben der Opfer einschrieben, werden von der Ersten an die nachfolgenden Generationen tradiert. Das Gift der Entwürdigung, Entmenschlichung und Vernichtung, das die Nazis Naomis Eltern zugefügt haben, dringt auf diese Weise unweigerlich auch in die Körper und Seelen der Nachkommen der Überlebenden ein (Kurt Grünberg spricht in diesem Zusammenhang von einer »Vergiftung der Generativiät«; Grünberg, 2006, S. 269, vgl. auch Grünberg, 2007). Die dargestellte Behandlungsphase aus Naomis Analyse ist selbst zum gemeinsamen Todesmarsch und zur Grabeswanderung geworden. Hier verdichten sich in mehrfacher Form die nicht verarbeitbaren Erinnerungen ihrer Eltern an das ihnen zugefügte Leid und werden zu dem, was wir als »szenisches Erinnern der Shoah« konzeptualisieren. Der Todesmarsch und die Grabeswanderung wurden nicht nur in Worten erlebt, sondern gemeinsam durchlitten, bis hin zu der lebensbedrohlichen Gefahr, in der es um das Überleben schlechthin ging. Das szenische Erinnern ging so weit, dass Naomi einem KZ-Häftling zu ähneln begann. Die Verfolgungserfahrungen ihrer Eltern haben sich somit in der analytischen Beziehung und in ihrem Körper reinszeniert. Naomis Körper wurde zum Ort des »szenischen Erinnerns der Shoah«.

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II M  igration, Flucht und Trauma: Psychoanalytische Überlegungen

Sverre Varvin

Psychoanalytische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen

Es wurde mehrfach gezeigt, dass Flüchtlinge als Gruppe mit diversen, potenziell traumatischen Ereignissen wie Nahtoderfahrungen, Misshandlungen oder dem Tod von Angehörigen, Folter, Vergewaltigung und Ähnlichem konfrontiert sind. Die meisten Untersuchungen finden eine erhöhte Prävalenz an bekannten posttraumatischen Zuständen wie PTBS, Angststörungen, Depressionen, Somatisierungsstörungen, Substanzmissbrauch und psychotischen Störungen in Flüchtlingspopulationen (vgl. Vaage et al., 2010; Teodorescu et al., 2012; Drozdek, Kamperman, Tol, Knipscheer u. Kleber, 2013; ­Vervliet, Lammertyn, Broekaert u. Derluyn, 2013; Alemi, James, Cruz, Zepeda u. Racadio, 2013; Opaas u. Varvin, 2015; Apitzsch et al., 1996; Kroll, Yusuf u. Fujiwara, 2011). Traumatisierung kann zu Störungen der Persönlichkeits- und Beziehungsfunktion, der Affektregulation und somatischer Regulation führen (Rosenbaum u. Varvin, 2007; Varvin u. Rosenbaum, 2011a; Allen, Vaage u. Hauff, 2006; Allen u. Fonagy, 2015; Schore, 2003). Traumatisierte Patientinnen und Patienten im Allgemeinen und umso mehr Flüchtlinge im Speziellen weisen im Regelfall komplexe Vorbedingungen mit multifaktorieller Ätiologie sowie eine schwierige soziale Lage (Armut, schlechte Wohnumstände, Mangel an Unterstützung) auf. Oftmals sind Familien betroffen und es besteht eine hohe Anzahl an transgenerationalen Problemen: Dies führt häufig zu mangelhaftem frühem Fürsorgeverhalten und manchmal auch zu Kindheitstraumata (Daud, Skoglund u. Rydelius, 2005; de Mendelssohn, 2008; Blanck-Cereijido u. Grynberg Robinson, 2010; Krell, Suedfeld u. Soriano, 2011; Wiegand-Grefe u. Möller, 2012; Silke u. Möller, 2012; Romer, 2012). Es wurde gezeigt, dass frühkindliche Traumatisierungen einen pathogenen Einfluss auf verschiedene psychische Störungen haben, so wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung (Allen u. Fonagy, 2015), Essstörungen (Herzog, Staley,

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Carmody, Robbins u. Van der Kolk, 1993), dissoziative Störungen (Brenner, 1999) und Somatisierungsstörungen (Rodin, De Groot u. Spivak, 1998), die auch unter stark traumatisierten Flüchtlingen vorkommen (Opaas u. Varvin, 2015). Es ergibt sich ein komplexes Bild: Behandlungssuchende Flüchtlinge können verschiedene Symptome sowie Persönlichkeitsproblematiken aufweisen, zusätzlich zu einer schwierigen Familien- und prekären sozialen Situation aufgrund von aufreibenden Akkulturationsprozessen. Solcherlei Probleme auf PTBS zu reduzieren und lediglich traumafokussierte Therapien als Hauptvorgehensweise zu empfehlen, ist sicher unangemessen. Es ist vielmehr notwendig, das Problemfeld in seiner Gesamtheit zu erkennen und psychotherapeutische Behandlung mit somatischen Therapien (beispielsweise für Folterfolgen) im Zusammenspiel mit Familien und unterschiedlichen sozialen Fürsorgeinterventionen zu koordinieren, die vorzugsweise innerhalb eines Teams durchgeführt werden sollten. Traumatisierungen stellen sicherlich einen wichtigen Hintergrund für viele Flüchtlinge dar, weshalb diese im Kontext der Vorflucht-, der Flucht- und der Exilsituation betrachtet werden müssen. Vor der Betrachtung psychoanalytischer Therapie als spezialisierte Behandlung ist es notwendig zu betonen, dass Flüchtlinge sowohl als Gruppe wie auch als Individuen ein hohes Potenzial für Resilienz haben – unter angemessenen Umständen. Dies sind Umstände, die es vermeiden, Menschen in eine abhängige Position zu bringen, die Aktivität, Selbstbestimmung und die Möglichkeit fördern, stützende und warmherzige Beziehungen – wie zum Beispiel innerhalb der Familie – zu erfahren sowie Chancen generieren, die es ermöglichen, aus Erfahrungen zu lernen. Viel kann innerhalb dieser Bereiche getan werden, die für die Entwicklung psychischer Störungen präventiv sind, die auch vorbeugend gegen die Chronifizierung bereits bestehender Störungen sind und die dabei helfen, Copingstrategien und Möglichkeiten kreativer Lebensführung zu entwickeln. Leider – und dies ist ziemlich schockierend – werden solche Möglichkeiten aktuell zunehmend von der Regierungspolitik vieler Länder unterminiert. Länder in Europa erzeugen wissentlich Bedingungen für Flüchtlinge, die zwangsläufig mehr Krankheit und schwierigere Verhältnisse erzeugen sowie die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen befördern. Die Erfolgsrate sol-

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cher Politik definiert sich durch das Ausmaß, in dem Flüchtlinge von Europa ferngehalten werden. Diese Dynamik existiert seit vielen Jahren, hat sich aber in der letzten Zeit noch forciert. In Europa erfolgt momentan eine massive Dehumanisierung.

Traumatisierung und ihre Reaktionen: Wie kann psychoanalytische Psychotherapie die Resilienzkräfte unterstützen? Traumatisierte Personen leiden unter mentalen und körperlichen Schmerzen, die schwierig zu verstehen und in Worte zu fassen sind. Die Schmerzen können sich als dissoziative Zustände ausdrücken, als körperliche Schmerzen und andere somatische Erfahrungen oder Dysfunktionen, als überwältigende Gedanken und Gefühle, als Verhaltenstendenzen, als Beziehungs- und als Lebensstile. Die Gemeinsamkeit dieser Manifestationen sind Defizite innerhalb des repräsentationalen Systems, die sich durch die Traumatisierung und Folgeereignisse ergeben; die überwältigenden Erfahrungen werden schmerzhaft erlebt und schreiben sich in den Körper und die Psyche ein, ohne eine spätere Möglichkeit der Einschreibung in das individuelle Lebensnarrativ. Sie sind entweder gar nicht oder nur defizitär symbolisiert und bleiben in der Psyche als dissoziierte oder eingekapselte Fragmente bestehen, als welche sie einen störenden Einfluss auf die Stimmung und seelische Stabilität haben (Rosenbaum u. Varvin, 2007, Schore, 2003). Extreme Traumatisierung (wie Vergewaltigung oder Folter) entzieht sich regelmäßig ihrer Bedeutung, wenn sie geschieht, und die Situation verhindert es, eine innere dritte Position zu formen, durch welche sich die Person – in ihrer eigenen Psyche – eine reflexive Distanz schaffen kann gegenüber dem, was passiert und was passiert ist. Die innere Beobachtungsposition (engl. inner witnessing function), die so wesentlich für die Herstellung von Bedeutung von Erfahrungen ist, wird während solcher extremer Erfahrungen überwältigt, sodass das Individuum unfähig ist, die ihm widerfahrenden Grausamkeiten auf symbolischer Ebene zu verarbeiten. Wenn überdies auch die äußere Beobachtungsfunktion (engl. external

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witnessing function), die die Schmerzen eingedämmt haben könnte, versagt, wird die traumatisierte Person allein zurückgelassen. Das Ergebnis ist oft, dass diese Erfahrungen als fragmentierte Stücke zurückbleiben, die sich nur durch körperlichen Schmerz, dissoziative Geisteszustände, Albträume und Beziehungsstörungen ausdrücken können. Der traumatisierte Geist wird versuchen, die Erfahrungen in unbewussten Entwürfen oder Szenarien zu organisieren, welche auf mehr oder weniger verdeckte Weise in Bezug auf andere und sich selbst zum Ausdruck kommen. Die psychoanalytische Arbeit mit traumatisierten Patienten und Patientinnen bringt es mit sich, dass die Analytiker/innen zwangsläufig in diese nichtsymbolisierten, fragmentarischen und regelmäßig stark affektiven Szenarien involviert werden, die sich auf die traumatischen Erfahrungen der Patienten beziehen. Dies geschieht ab der ersten Begegnung mit Patienten und drückt sich meist durch nonverbale Interaktionsformen aus. Es benötigt gewöhnlich einige Zeit, bevor diesen Manifestationen eine narrative Form gegeben werden kann, die sich auf sinnvolle Art und Weise in den biografisch-historischen Kontext der traumatischen und prätraumatischen Erfahrungen einfügen lässt. Es gibt immer mehr empirische Bestätigung dafür, dass psychoanalytische Therapien für traumatisierte Personen auf umfassende Art und Weise hilfreich sind und dass dieser Ansatz entscheidende Bereiche innerhalb der klinischen Gestaltung komplexer Traumatisierungen (komplexer PTBS) anzusprechen hilft, die durch andere aktuelle, empirisch-gestützte Behandlungen vernachlässigt werden (die aber auf ihre Weise auch hilfreich sein mögen wie beispielsweise Kognitiv-behaviorale Therapie oder EMDR, also »Eye Movement Desensitization and Reprocessing« (Davidson u. Parker, 2001, Yehuda, 2002)). Psychoanalytische Therapie hat eine historische Perspektive und arbeitet mit Problemen, die mit dem Selbst und dem Selbstwertgefühl in Beziehung stehen, wobei die Fähigkeit gefördert wird, Reaktionen auf ein Trauma durch verbessertes Reflexionsvermögen zu begegnen; außerdem zielt sie darauf ab, sichere innere Arbeitsmodelle von Beziehungen zu internalisieren. Ein weiterer Fokus liegt auf der Verbesserung sozialer Funktionen. Weiterhin wird durch einige Studien belegt, dass psychodynamische Therapie noch nach Ende der Behandlung

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anhaltend Verbesserungen erzielen kann (Schottenbauer, Glass, Arnkoff u. Gray, 2008).

Trauma und der soziale Kontext Um die nicht oder nur unzureichend symbolisierten Erfahrungen zu integrieren und ihnen einen bedeutungsvollen Platz in der individuellen Psyche zukommen zu lassen, müssen sie aktualisiert werden und im Rahmen einer haltenden und containenden therapeutischen Beziehung eine eigene Form erhalten. Das bedeutet, die Analytiker/-innen müssen sich mit Patientinnen und Patienten in Bereiche der Psyche begeben, die auf schmerzhafte Weise frei von Bedeutung und teilweise voll von Schrecken sind. Im Regelfall jedoch ist dies nicht ausreichend: Ohne die Anerkennung der traumatischen Ereignisse auf einem sozialen, kulturellen und politischen Niveau kann die individuelle oder Gruppenarbeit mit traumatisierten Personen äußerst schwierig sein. Bleibt die Erkundung dieser Bereiche aus, können die Gefühle von Unwirklichkeit und Fragmentierung, die mit den Erfahrungen verbunden sind, fortbestehen. Dies war der Fall bei vielen Menschen nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Westen, wo die offizielle Devise zum größten Teil darin bestand, dass man weiterleben und die Vergangenheit hinter sich lassen müsse. In Norwegen hatte diese Devise nicht nur verheerende Folgen für Überlebende von Konzentrationslagern (Eitinger, 1965), sondern auch für viele Marinesoldaten, die unter extremem Druck während der kontinuierlichen Attacken und Torpedoangriffe durch deutsche U-Boote standen (Askevold, 1980, Sem u. Aniksdal, 2015). Einer der schwerwiegendsten Ursachen für persönliches Leid in massiven sozialen Traumatisierungen wie Kulturrevolution, Genoziden (wie in Ruanda, auf dem Balkan, Kambodscha) und nun im syrischen Bürgerkrieg ist die Hilflosigkeit dabei zusehen zu müssen, wie einem nahestehende Personen (besonders Kinder) misshandelt oder getötet werden, ohne ihnen helfen oder sie beschützen zu können. Diese Tatsache unterstreicht die Wichtigkeit der Einsichten von Niederland (1968, 1981) in das Phänomen der Überlebensschuld, ein

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Thema, das für viele Jahre lediglich ein Schattendasein innerhalb der Traumaliteratur fristete. Das Konzept konnte jedoch sehr klar bei den Jugendlichen, die das Utøya-Massaker am 22. Juli 2011 in Norwegen überlebt hatten, untersucht werden (Varvin, 2013a).

Die Dynamik und Struktur extremer Traumatisierung Wie stark sich ein Trauma auf eine Person auswirkt, hängt einerseits vom Schweregrad, der Komplexität und der Dauer des traumatisierenden Ereignisses ab, andererseits vom Kontext, dem individuellen Entwicklungsstadium und der Art und Weise, wie die Traumatisierung innere Objektbeziehungen beeinflusst; also beispielsweise ob frühere traumatische Verhältnisse aktiviert werden (Opaas u. Varvin, 2015) und inwieweit Hilfestellungen oder Behandlungen nach dem Ereignis verfügbar sind.

Die Phänomenologie von Traumatisierung Traumatisierung wird sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen als etwas Unerwartetes empfunden, was nicht passieren sollte und eine Situation schafft, in der eine tiefe Hilflosigkeit und das Gefühl erlebt wird, von allen guten und helfenden Objekten verlassen worden zu sein. Dieses tiefgehende Gefühl von Hilflosigkeit und Verlassensein kann bis in die posttraumatische Phase anhalten, in welcher die Überlebenden abhängig vom Ausmaß und den Umständen der Traumatisierung eine tiefgehende Furcht vor einer nahe bevorstehenden Katastrophe entwickeln können, der man erneut hilflos und ohne Unterstützung ausgeliefert sein wird. So mögen sich innere Gefühle von Verzweiflung und eine Angst vor einem psychosomatischen Zusammenbruch zusammen mit der Angst vor Vernichtung ergeben; ein Großteil dieser posttraumatischen Pathologie kann dabei als Abwehr gegen diese vermeintlich bevorstehende Katastrophe verstanden werden. Die drohende Katastrophe spiegelt die frühe Angst vor dem Zusammenbruch wider, die in der infantilen Phase erfahren wird

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(Winnicott, 1991). Posttraumatische Ängste sind tiefgreifend, umfassend und können gut als Vernichtungsängste (Hurvich, 2003) oder namenlose Furcht (Bion, 1962) verstanden werden. Eine von Menschen verursachte Traumatisierung beeinflusst innere Objektbeziehungsszenarien auf unterschiedliche Art und Weise. Frühe Traumata, die eine gewisse Ähnlichkeit zu der aktuellen Traumatisierung aufweisen, können reaktiviert werden, sodass das momentane Trauma von Eindrücken früherer Verluste, Erniedrigungen und traumatischen Erfahrungen durchsetzt sein kann. Sogar frühe ausreichend-sichere Beziehungen können durch die späteren traumatisierenden Beziehungen verfärbt werden, wenn beispielsweise ein autoritärer Vater mit einem Folterer verschmilzt, wodurch die eigentlich ausreichend guten Aspekte dieser Beziehung annähernd zerstört werden (Varvin, 2013b). Komplizierte Beziehungen gegenüber dem traumatisierenden Anderen, die Umstände und andere involvierte Beziehungen werden in der Übertragung aktualisiert. Die Identifikation mit dem Aggressor ist hinlänglich bekannt (Hirsch, 1996). Henningsen (2012) beschreibt das Phänomen der »konkretistischen Fusion«, die sich auf die Situation bezieht, in der die traumatisierte Person das traumatisierende Objekt internalisiert, wobei ein Teil des Selbst eine Fusion mit diesem traumatisierenden Objekt eingeht, um das Objekt im Inneren zu behalten und somit den kompletten Objektverlust, der ein Kennzeichen traumatischer Erfahrung ist, zu vermeiden. Diese verflochtene Selbst-Objekt-­Beziehung kann abgespalten werden und mehr oder weniger eingekapselt bleiben, versteckt innerhalb der Persönlichkeit. Erst später, während Krisen oder nach Traumatisierungen, kann diese wieder in Erscheinung treten und in der Übertragungsbeziehung innerhalb der Therapie aktualisiert werden. Die traumatisierte Person internalisiert somit wichtige Aspekte des traumatischen Szenarios in Form der Selbst-Objekt-Beziehung, die mehr oder meist weniger (wie bei der konkretistischen Fusion) differenziert und/oder fragmentiert ausfällt und die die Aktualisierung, die im analytischen Prozess re-inszeniert wird, leugnet.

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Beziehung und Symbolisierung Eine zentrale Aufgabe in der psychotherapeutischen Arbeit mit traumatisierten Patientinnen und Patienten besteht in der Verbesserung metakognitiver oder mentalisierender Fähigkeiten, die dabei helfen können, besser mit Erinnerungsspuren und Derivaten der traumatischen Erfahrung umzugehen. Dies bedeutet, den Patienten aus mentalen Zuständen herauszuhelfen, die durch Konkretheit und einen Mangel an Dimensionalität gekennzeichnet sind. Damit dies geschehen kann, muss als Vorbedingung eine verbesserte Symbolisierungsfähigkeit vorliegen. Mentale Erinnerungsspuren oder Fragmente bezüglich der traumatischen Erfahrung werden häufig als »wild« erlebt, da sie zum Beispiel als verstörende Träume, somatische Eindrücke, Gefühlszustände und Halluzinationen auftauchen. Die innere, bedeutungsgebende Funktion funktioniert nicht optimal und wenn die Person innerhalb dieser regressiven mentalen Zustände ihre Fähigkeit, sie zu organisieren und mit ihnen umzugehen, reduziert hat, kann sich die Person vollkommen allein fühlen, ohne empathischen Anderen, der dabei helfen könnte, der Erfahrung Sinn zu verleihen (Laub, 2005). Das organisierende Ich funktioniert nicht adäquat im Umgang mit diesen Erinnerungsspuren oder Fragmenten und die dritte Position, von der aus die Person Distanz aufbauen und die Erfahrungen verstehen sowie möglicherweise reflektieren kann, ist nur unbeständig vorhanden. Die Fragmente präsentieren sich der Psyche wie von außen und werden deshalb häufig als fremd und bedrohlich erlebt. Der psychische Apparat wird dadurch in Richtung extremer Angst und Katastrophenfurcht verschoben (Rosenbaum u. Varvin, 2007). Trotz dieser Verschlechterung der psychischen Funktionen werden Versuche unternommen, die Erfahrung zu (re-) organisieren. So können in Träumen von schwer traumatisierten Personen Versuche hinsichtlich der Kontextualisierung und Symbolisierung der traumatischen Erfahrungen beobachtet werden (Varvin, Fischmann, Jović, Rosenbaum u. Hau, 2012a; Varvin, Jović, Rosenbaum, Fischmann u. Hau, 2012b). Diese traumabezogenen Szenarien können in späteren Beziehungen aktualisiert werden und dann einen konkreten und beharrenden Charakter annehmen, wenn beispielsweise Bindungen an und Vertrauen in andere

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Personen als gefährlich wahrgenommen werden; mit dem imaginierten Risiko des Wiedererlebens der ursprünglichen Hilflosigkeit und dem Gefühl, vielleicht wieder in äußerster Verzweiflung allein gelassen zu werden. Rückzugsmuster können die Folge sein: eine negative Rückzugsspirale zu erschaffen bedeutet gleichzeitig den Verlust von potenzieller äußerer Unterstützung (Varvin u. Rosenbaum, 2011). Die Verhältnisse der Person zur äußeren Welt können somit auf verschiedene Arten betroffen sein und dazu beitragen, Beeinträchtigungen auf körperlich-affektivem Niveau zu erzeugen, aber auch hinsichtlich der Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen (wie der Familie) zu formen und dem Erlebten Bedeutung zu geben. Der letzte Punkt ist von den soziokulturell existierenden oder nicht existierenden bedeutungsgebenden und unterstützenden Funktionen abhängig. Die traumatisierte Person lebt mit historischen Erfahrungen, die zwar niemals formuliert, aber schmerzhaft und nonverbal im Körper und in der Psyche repräsentiert sind. Die Aufgabe psychoanalytischer Therapie ist es also, diesen Erfahrungen zu ermöglichen, innerhalb der Übertragungsbeziehung zum Ausdruck zu kommen, sodass Worte und Bedeutung gleichzeitig entwickelt werden können, auch wenn die eigentlichen Erfahrungen nach allem menschlichen Ermessen grausam und ohne Sinn erscheinen mögen. Kulturelle und soziale Dimensionen befinden sich nicht außerhalb des psychischen Raums, sondern bilden einen integralen Bestandteil bei der Erfahrung, sich selbst und andere zu erleben. Spezifisch für psychoanalytische Therapie ist, dass die Repräsentationen der traumatischen Erfahrungen im Rahmen der therapeutischen Beziehung in Form von Handlungen, intensiven negativen Übertragungen sowie unerträglichen Gegenübertragungsgefühlen aktualisiert werden. Analytiker/-innen können in Beziehungsszenarien hineingezogen werden, in denen sie Teil aufkommender Szenarios werden, die sich auf die traumatischen Erlebnisse beziehen, mit denen die Patienten bisher allein zu kämpfen hatten (Killingmo, 2007; Gullestad u. Killingmo, 2013). Ich behaupte, dass diese Prozesse spezifisch für psychoanalytische Therapie mit traumatisierten Patientinnen und Patienten sind und dass dies jenes Moment darstellt, das psychoanalytische Arbeit

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von anderen Therapieformen unterscheidet.1 Meine Behauptung ist, dass die Aktualisierung und das Enactment einen zentralen Heilungsprozess darstellen, die es erlauben die traumabezogenen und fragmentierten Szenarios, zumindest zu einem gewissen Ausmaß, zu symbolisieren und zu reflektieren. Diese Behauptung soll anhand einer Darstellung eines psychotherapeutischen Prozesses, der sich besonders auf die Behandlung fokussiert, illustriert werden.

Aktualisierung, Projektive Identifizierung und Enactment Die traumabezogenen Szenarien werden in der Psychotherapie von Beginn an aktiviert und Analytiker/-innen werden unvermeidlich mit Derivaten der traumatischen Erfahrung befasst sein. Am Anfang wird die Übertragung auf Basis dieser Szenarien kaum symbolisierbar sein und einen konkreten und aufdringlichen Charakter haben (Varvin, 2013c). Der Erstkontakt mit der Situationsgestaltung und die emotionale Kontaktaufnahme zu den Patienten und Patientinnen ist in diesem Kontext eine Begegnung mit der Reaktion des Patienten auf und dem Kampf mit den Auswirkungen seiner Erfahrungen von Überwältigung. Die Behandlung des »Traumas« ist daher nicht als etwas anzusehen, was erst später geschieht, nachdem das Traumanarrativ berichtet wurde (Van der Hart, Nijenhuis u. Steele, 2006). Was die Patienten kommunizieren, berührt Analytiker/-innen und vermag ihr unbewusstes, ihrerseits nicht aufgearbeitetes Material zu tangieren, was ein Enactment dieser Gegenübertragung zur Folge haben könnte (Jacobs, 1986). Dieses Enactment der Analytiker/-innen könnte den Ausgangspunkt eines möglichen Prozesses der Symbolisierung darstellen und diese impliziten Erfahrungen bewusst machen (Scarfone, 2011). Derartige Enactments erscheinen bei Analytikern in Interaktionen, in denen sie unwissentlich dazu beitragen, unbewusste Wünsche sowohl ihrer selbst, als auch seitens 1 Es existieren auch andere interessante Verfahren für die Behandlung traumatisierter Flüchtlingspatienten, die die Komplexität der Flüchtlingssituation mitbedenken, siehe z. B. Kira, Asgby, Omidy u. Lewandowski (2015).

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der Patienten zu aktualisieren. Jenes Moment kann entweder eine abgrenzbare Episode eines Prozesses mit mehr oder weniger klaren Grenzen zwischen einer Prä-Phase, dem aktuellen Moment und einer Post-Phase sein, und/oder einen längeren Zeitraum der Therapie einnehmen (Jacobs, 1986). Diese offensichtlichen Verletzungen der Analyseregel »Sprache statt Handlung« könnte eine Möglichkeit der Integration schaffen oder, wenn schlecht oder zu »explosiv« verarbeitet, den analytischen Prozess behindern. Enactments können als absolute Überraschung auftreten, häufig jedoch auch im Voraus identifiziert werden, beispielsweise in Phantasien, Gedanken oder anderen emotionalen Zuständen (Jacobs, 2001). Zumeist erscheinen sie jedoch überraschend, sodass erst retrospektiv gesehen werden kann, was geschah, um anschließend – im besten Fall – zu verstehen, welche Prozesse am Werk waren, also die unsymbolisierten und/oder abgewehrten traumabezogenen Erfahrungenen ins psychische Feld zu bringen. Dieser Prozess ist eine Voraussetzung, um metakognitive oder Mentalisierungsfunktionen zu stärken. Der Perspektive auf die Behandlung traumatisierter Patienten aus Sicht der Mentalisierung (siehe Allen u. Fonagy, 2015) kann dann ein bedeutenderer Aspekt zukommen. Ich werde nun versuchen, Aspekte dieser Prozesse anhand der Behandlung einer schwer traumatisierten Frau kurz einzuführen.

Verlust und Trauma – eine Fallgeschichte B., eine Frau in ihren späten Dreißigern, kam neun Jahre vor der Behandlung als Geflüchtete aus einem lateinamerikanischen Land nach Norwegen. Sie berichtete von einer relativ glücklichen Kindheit, in der sie von ihren Eltern und Geschwistern geliebt wurde und eine Ausbildung machen konnte. Sie war verheiratet und arbeitete als Angestellte, als sie verhaftet wurde, weil ihr Ehemann in einer gewaltfreien politischen Organisation mitarbeitete. Zu dem Zeitpunkt ihrer Inhaftierung war sie im letzten Trimester schwanger. Sie wurde physisch (inklusive Schläge auf ihren schwangeren Bauch) und psychisch (Drohungen, Isolation etc.) misshandelt, litt unter Mangelernährung sowie einer mangelhaften medizinischen Versorgung und wurde krank. Ihr Ehemann wurde zur selben Zeit inhaftiert und einige

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Monate später zu Tode gefoltert. Für die Geburt ihres Kindes wurde ihr gestattet, in ein öffentliches Krankenhaus zu gehen, aus dem ihr kurz darauf eine geplante Flucht gelang. Während sie im Untergrund lebte, starb ihr Kind an einer unbekannten Krankheit, vermutlich verursacht durch die Folter, Mangelernährung und die schlechte medizinische Versorgung während ihres Aufenthaltes im Gefängnis. Nach dem Tod ihres Kindes und Ehemannes lebte sie ein weiteres Jahr im Untergrund, ehe sie unter schwierigen Umständen aus dem Land floh. Während dieser Zeit erlebte sie weitere schwere Traumatisierungen. Als sie in Norwegen ankam, glaubten ihr die Behörden nicht. Sie wurde erneut inhaftiert und in ein drittes Land ausgewiesen, wo sie für einige Zeit unter ärmsten Bedingungen lebte und wo ihr wieder schwere Traumatisierungen widerfuhren. Später wurde ihr mit Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen wieder erlaubt, nach Norwegen einzureisen. Sie erreichte Norwegen in einem schwer depressiven und suizidalen Zustand und litt unter schwerwiegenden Essstörungen, dazu zeigte sie posttraumatische und psychosomatische Symptome. Während der Jahre in Norwegen litt sie kontinuierlich unter Albträumen, Intrusionen, Vermeidungsverhalten, Somatisierungen, psychosomatischen Symptomen und rezidivierender Depression. Dennoch schaffte sie es, sich gut in die Gemeinschaft zu integrieren. Sie lebte allein und hatte Freunde, jedoch keinen Intimkontakt zu Männern. Ihr Leben im Exil war charakterisiert von einem großen Maß an Aktivität mit wenig Zeit für sich selbst und viel Hilfe für andere Personen, was vermutlich ein Bedürfnis nach Handeln statt Fühlen widerspiegelt. B. trauerte sehr stark um ihren Ehemann und führte zum Beispiel an seinem Geburtstag Trauerrituale durch. Der Verlust ihres Kindes war keines ihrer geschilderten Probleme, als sie in Therapie kam, und wurde verschwiegen, bis es in einer Sitzung nach einer einwöchigen Pause auf dramatische Art und Weise in Erscheinung trat.

Eine Schlüsselsitzung Sie kam pünktlich zur Therapiestunde, außer Atem, weil sie dachte, sie sei spät dran. Ihre erste Anmerkung war: »Ich habe den Bus verloren« (ein gewöhnlicher Ausdruck in Norwegen, wenn man zu spät zum Bus kommt, jedoch auch ein Indikator für das Thema

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Verlust). Im ersten Teil der Sitzung sprach sie im Stakkato-Stil, der beim Analytiker ein starkes Bedürfnis hervorrief, sie zu unterstützen und ihr zu helfen. Sie sprach über ihre Einsamkeit während der Pause, über ihr Bedürfnis danach, jemanden zu haben, dem sie vertrauen, dem sie sich nahe fühlen und an den sie sich anlehnen kann. Der Analytiker bestätigte ihr Gefühl der Einsamkeit; etwas, das eine Gegenbewegung in Gang setzte, als sie von einem »progressiven« Freund sprach, der behauptete, dass man auch ohne die Hilfe der Familie auskommen kann. Ihre eigene Familie und ihre engen Beziehungen zu ihr sowie ihre ambivalenten Gefühle angesichts dessen wurden während der Behandlung thematisiert. In diesem Teil der Sitzung wurde die Intervention des Analytikers sehr intellektualisierend, mit einem Fehlen von affektiver Resonanz. Der Analytiker folgte der Patientin an dieser Stelle mit einem Enactment, im Versuch, die schmerzhaften Inhalte abzuwehren. Dann fand ein Wechsel statt, als der Analytiker, sich an die zuvor erwähnte Zuneigung zu ihrer Familie erinnernd, anmerkte, dass diese sicherlich gewollt hätte, dass die Patientin eine Familie hat. Dann wurde sie für einige Minuten still und sagte dann weinend: »Ja, ich dachte gerade, dass meine Tochter nun 13 Jahre alt sein würde und […].«

Sie weinte sehr viel und wirkte distanziert, dabei offensichtlich Szenen aus ihrer Vergangenheit wiedererlebend. Dann erzählte sie zögerlich nach einer Aufmunterung von der Geburt ihres Kindes und wie glücklich sie war, als sie das Kind weinen hörte. Es fühlte sich für sie an wie ein Sieg. Auch die Gefahren kamen ihr in den Sinn, und sie war verängstigt und verzweifelt während der Stunde. Sie weinte noch, als sie den Raum verließ. Das war ein Durchbruch von Erinnerungen, oder vielmehr Erinnerungsfragmenten, die für die Patientin (und den Analytiker) überraschend kamen. Es war ein Wiedererleben des Traumaszenarios »wie im Film«, ein gebrochenes Narrativ. Sie war physisch krank während der folgenden Nacht und als sie am nächsten Tag kam, war sie noch immer betroffen und es wurde nach und nach klar, dass das, was zuvor und während der letz-

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ten Sitzungen passierte, eine Aktualisierung des Dramas über den Verlust ihres Kindes repräsentierte. In drei aufeinanderfolgenden Nächten vor der Schlüsselsitzung hatte sie den folgenden Traum, den sie mir erzählte, und in ihm selbst eine Verbindung zum Tod ihres Kindes hergestellt: »Und dann werde ich plötzlich ganz; Ich fühle ich, ich war wie; Ich hatte/ Ich hatte Ihnen nicht erzählt, dass ich drei Nächte [vor der Schlüsselsitzung] lang träumte, dass ich weine […] Es wurde mir sehr eng in der Kehle und ich hatte so etwas wie Speichel um meinen Mund. Es ist wie; dann dachte ich, was ist es, was mich so fühlen lässt. Ich kriege nicht genügend Sauerstoff und, ich konnte nur schwer atmen. Als ich, äh, mitten im Weinen war, bin ich aufgewacht«.

Dann konnte sie erzählen, wie ihr Kind starb: Sie lebte im Untergrund unter ärmlichen Umständen. Ihr Kind bekam Fieber und hatte Schwierigkeiten zu atmen. Am Ende starb das Kind in ihren Armen wegen Atemnot (Asphyxie). Ihre Verzweiflung und Trauer wurden plötzlich von den gefährlichen Umständen unterbrochen, die sie dazu nötigten aufzubrechen. Ihr Kind wurde in Eile begraben und der harsche Ton ihrer Kameraden und Kameradinnen beendete jeden Versuch einer emotionalen Reaktion. Jetzt können wir weitere Geschehnisse der Therapie rekonstruieren. Sie hatte eine bemerkenswert positive, nahezu idealisierende Übertragung gegenüber dem Analytiker. In den Pausen hat sie sich höchst einsam gefühlt, was in ihr unbewusste Erinnerungen an das Kind und andere Personen, die sie verloren hat (ihren Ehemann und dann auch ihren Vater, als sie im Exil war), auslöste. In die Sitzung kam sie außer Atem mit einer Verlusterfahrung (ausgedrückt in ihrer ersten Bemerkung: »Ich habe den Bus verloren«). Die Gegenübertragung war zunächst charakterisiert durch einen verzweifelten Versuch zu helfen und anschließend von einem Gefühl der Hilflosigkeit, das in einer Distanzierung und Intellektualisierung seitens des Analytikers resultierte. Im Nachhinein war es möglich, das Thema Verlust und die Erwähnung toter Kinder bereits mehrere Therapiesitzungen zuvor zu identifizieren. Das war offensichtlich ein Versuch der Patientin, ihre wohl schmerzhafteste Erfahrung in die Therapie einzubringen, aber

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sie schreckte dann davor zurück und intellektualisierte oder ließ das Thema fallen. Der Analytiker ließ sich darauf ein und vermied ebenfalls das Verlustthema, das eindeutige Bezüge zu seinen eigenen Problemen hatte, Bezüge zu ungelösten Problemen mit eigenen Verlusten. Das Thema Verlust wurde für sie jedoch schon in der Pause vor der Schlüsselsitzung akut. Während dieser Zeit hatte sie offenkundig, teilweise unbewusst, ihren Verlust erneut durchlebt und sich mit ihrem toten Kind identifiziert und dem Analytiker kam, durch projektive Identifizierung, die Rolle des hilflosen Helfers zu, die ihn dazu drängte, so zu handeln, wie für die Rolle vorgesehen. Diese Interpretation wurde gestützt von den subjektiven Gegenübertragungsreaktionen des Analytikers (zum Beispiel sich besorgt, aber hilflos zu fühlen). Die relative Abstinenz in der Sitzung erlaubte es ihr, ihren traumatischen Verlust zu symbolisieren. Die Träume waren offenbar Signale für eine unbewusste Vorbereitung, den Tod ihres Kindes wiederzuerleben, in denen sie jenen inneren Anteilen eine Stimme gab, die sich mit dem Kind im Überlebenskampf identifizierten. Als das Verlustthema ausgearbeitet war, begann B. den Verlust ihres Kindes mit den anderen Verlusten zu integrieren – dem Verlust ihres Ehemannes, dem Verlust ihrer Mutter vor einigen Jahren sowie weitere Tode. Das Bewusstsein für den Kindesverlust brachte also die Erinnerung anderer Verluste mit sich, die sie im weiteren Therapieverlauf zu integrieren und zu betrauern versuchte. Unnötig zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass dieser Prozess auch für den Analytiker eine harte Arbeit war, der mit seinen eigenen ungelösten Themen konfrontiert wurde. Ich würde nicht sagen, dass die Behandlung abgeschlossen war, aber sie machte einen Unterschied in ihrem Leben. B. war nicht mehr depressiv und hatte weniger somatische Schmerzen und, noch wichtiger, sie begann einen neuen Lebensweg. B. war nicht mehr die unermüdliche Helferin, sie nahm sich Zeit, auf sich selbst zu achten und zu entspannen, und sie begann eine Beziehung mit einem Mann.

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Abschließende Bemerkungen Die Behandlung von Frau B. weist spürbare Verbesserungen auf. Es eröffnete sich ein psychischer Raum, in dem die Gegenwart klarer von der Vergangenheit abgegrenzt werden konnte, sie erreichte eine größere Autonomie und Entscheidungsfreiheit sowie ein besseres Funktionieren in Beziehungen. Die zentrale Frage ist, welche Art von Hilfe schwer traumatisierte Personen brauchen und welchen Platz Psychotherapie zusätzlich zu anderen somatischen und Rehabilitationsversuchen einnehmen kann. Ich habe mich hier auf Psychotherapie fokussiert, die die Behandlung der Wahl bei psychischen posttraumatischen Problemen darstellt. Es gibt darüber hinaus einen offenkundigen Bedarf, unsere Theorien über Traumatisierungen zu klären. Das Wort »Trauma« scheint, wie schon erwähnt, eher nutzlos und mehr Verwirrung als Klärung zu stiften. Die Effekte extrem traumatisierender Erfahrungen können am besten als komplexe Antworten verstanden werden, die die komplette Persönlichkeit umfassen und einzig in ihrem historischen Kontext zu verstehen sind (Oliner, 2014). Diese Behandlung zeigte, dass: 1. Zeit ein wichtiger Parameter ist und zu kurze Behandlungen (die heutzutage häufig empfohlen werden), die in einer Phase des Widerstandes enden, verheerend sein können; 2. die Arbeit in und mit Übertragung und Gegenübertragung essenziell ist, was die neuere Forschung über die Behandlung von persönlichkeitsbasierten Pathologien unterstützt (Høglend et al., 2006; Høglend et al., 2008); 3. Analytiker/-innen und Therapeuten in traumabezogene Szenarien involviert werden müssen; 4. Enactments in der Gegenübertragung nichtsymbolisierte Inhalte zum Vorschein bringen können; 5. verbesserte Symbolisierung und Mentalisierung in einem ausreichend langen therapeutischen Prozess möglich ist. Die wichtigsten Aspekte von Beziehungstraumata sind nonverbal und nur teilweise symbolisiert. Die Erfahrungen traumatisierter Menschen sind teilweise abgeschottet, das heißt Teile des Symbolischen

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werden untergraben und stehen in einem Gegensatz zu einer totalen Untergrabung der Symbolfunktion der Psychose. Ausgeschlossene Signifikanten sind nicht im Unbewussten des Subjekts integriert, tendieren also dazu, von außen »im Realen« zu erscheinen. Anders ausgedrückt erscheinen sie als Beta-Elemente und manchmal auch als bizarre Objekte, beispielsweise in Halluzinationen. In dieser Hinsicht hat die Behandlung schwer traumatisierter Menschen eine Ähnlichkeit zur Behandlung der Psychosen. Darüber hinaus machen traumatisierte Patienten die Erfahrung, dass die Sprache während der Folter und anderer grässlicher Situationen pervertiert wird, sodass sie gelernt haben, sich in der Kommunikation auf andere, nonverbale Aspekte zu verlassen. Der Fakt, dass der Fokus in interpersonalen Beziehungen zu schwer traumatisierten Patientinnen und Patienten auf den nonverbalen Dimensionen liegt, könnte bis zu einem gewissen Grad erklären, warum psychoanalytische Therapie auch mit Menschen aus anderen Kulturen funktioniert, wo sich die Muttersprache von Patient/-in und Analytiker/-in unterscheidet. Wie Erik Homburger Erikson eindringlich vor vielen Jahren im Hinblick auf die Kommunikation mit Exilanten und Migranten formulierte: Sie »hören nicht, was du sagst, aber ›halten sich‹ an deine Augen und deinen Tonfall« (Erikson, 1964, S. 95). Abgesehen davon muss man sagen, dass ­psychoanalytische Psychotherapie an sich ein kultursensitiver Ansatz ist. Massive Traumatisierung kreiert eine Destabilisierung der basalen Strukturen menschlicher Beziehungen: –– in der Dimension intimer Beziehungen, wo intrapsychische und interpersonale Funktionen die Regulation von Emotionen, der medizinischen Grundversorgung und der grundlegenden Identität betreffen; –– in der Dimension individueller Beziehungen zur Gruppe, wo Identität und Entwicklungsaufgaben verhandelt werden; –– in der kulturellen oder diskursiven Dimension, wo verschiedene Diskurse etabliert werden, die Beziehungen und Entwicklungen auf invidueller und Gruppenebene stabilisieren und ihnen Bedeutung geben. Daher kann die Behandlung traumatisierter Patientinnen und Patienten nur mit großen Schwierigkeiten in einem soziokulturellen

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Setting funktionieren, wo die Traumatisierung auf anderen Ebenen der Gesellschaft weder anerkannt noch bearbeitet wird. Übersetzung: Moritz Firmenich und Patrick Rachel

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Vladimir Jović

Kriegstrauma, Migration und ihre Konsequenzen

In den letzten Monaten waren wir Zeuginnen und Zeugen eines Ereignisses historischen Ausmaßes – eine massive Migration von Millionen von Menschen, die versuchen den Gräuel des Krieges zu entkommen. Serbien ist eine der Haupt-Transitrouten und allein im Jahr 2015 durchquerten Hunderttausende von Flüchtlingen das Land, die über die bulgarische und mazedonische Grenze einreisten und über Ungarn und, nach der Schließung der ungarischen Grenze, über Kroatien ausreisten (vgl. Abbildung 1 und 2).

Abbildung 1: Flüchtlinge an einem Kontrollpunkt in Serbien

Ihre Reise kann sehr rasch vonstatten gehen. Für einige von ihnen dauerte es nicht länger als vier Tage, um von Syrien nach Serbien zu gelangen, während andere mit ihren Familien viel länger, in ­manchen Fällen bis zu sechs Monate, unterwegs waren. Auf d ­ ieser Route waren viele von ihnen inhumaner und entwürdigender Be-

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handlung oder sogar physischem Missbrauch durch Offizielle, hauptsächlich der Polizei, ausgesetzt. Dies kommt hinzu zu den Qualen, die Viele in ihren Herkunftsländern überlebt haben. Wir haben etliche Berichte über systematische Folter durch Militär und Polizei in diesen Ländern gehört. Im Laufe des Sommers 2016 haben wir eine Studie durchgeführt, die ich später im Detail vorstellen werde, in der wir herausgefunden haben, dass 29,8 % der interviewten Flüchtlinge in ihrem Herkunftsland gefoltert wurden, während eine noch höhere Prozentzahl (42 %) von ihnen inhumane Behandlung und physischen Missbrauch in den Transitländern erlebt haben. Diese Traumata sind ihr wirkliches »Eigentum«, das sie mit in ihr Zielland nehmen werden. Dieses Eigentum wird sie ein Leben lang begleiten. Es ist wichtig, die psychologischen und sozialen Konsequenzen von Kriegstraumata und Folter zu verstehen. Daher will ich im Folgenden einige klinische Erfahrungen ebenso wie einige Forschungsergebnisse schildern, die wir in den zwei Jahrzehnten gemacht und erhalten haben und die wir jetzt in der Arbeit mit Flüchtlingen und Folterüberlebenden in unserer Region nutzen.1

Abbildung 2: Flüchtlinge besteigen einen Zug nach Kroatien 1 Alle im IAN veröffentlichten Publikationen sind zugänglich auf: http://www.ian. org.rs/publications/

Kriegstrauma, Migration und ihre Konsequenzen

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Abbildung 3: Eine Psychologin und ein Übersetzer mit Flüchtlingen

Abbildung 4: Ein junger Flüchtling wartet an einem Kontrollpunkt

Seit dem Beginn meiner Fachausbildung zum Psychiater, also seit dem Jahr 1993, arbeite ich mit Flüchtlingen, Kriegsveteranen und Folterüberlebenden. Die Kriege in Ex-Jugoslawien begannen in den Jahren 1991 (in Slowenien und Kroatien) und 1992 (in Bosnien). Diese Konflikte endeten 1995, der Krieg im Kosovo begann 1998 und

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endete mit den NATO-Kampfeinsätzen gegen Serbien und Montenegro im März 1999. Alle diese Konflikte hatten eine enorme Anzahl an Toten, vertriebenen und schwer traumatisierten Menschen zur Folge. Wir können uns die Ausmaße der Katastrophe bewusst machen, indem wir uns einige Zahlen ansehen (­ Radović, 2005, S. 13 ff.): Von den ungefähr 23,5 Millionen Einwohnern der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien waren 3,7 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene (engl. internally displaced persons; IDPs), was 15,83 % der Gesamtbevölkerung ausmacht. Wenn wir nur die Länder analysieren, in denen die Konflikte tatsächlich stattfanden (Kroatien, Bosnien und Kosovo), dann stellen die Zahlen sich sogar noch dramatischer dar: 33,54 % der Gesamtbevölkerung waren Flüchtlinge oder Binnenvertriebene. In Serbien belief sich die Zahl der Flüchtlinge zu diesem Zeitpunkt auf 10 % der Gesamtbevölkerung. Noch 2004 war die Anzahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen nach UNHCR-Berichten (Radović, 2005, S. 14) mehr als eine halbe Million Menschen (291.415 und 256.891). Zu den direkten Kriegsfolgen müssen wir noch die ernste ökonomische Situation als Folge der internationalen Sanktionen mit einem Abfall der industriellen Produktion um 60 % innerhalb eines Jahres, die politische Instabilität, die mit dem Sturz des Milošević-Regimes ihren Höhepunkt erreichte, sich aber mit der Ermordung des Premierministers 2003 fortsetzte, die Unabhängigkeitserklärung von Montenegro 2006, die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 (von Serbien immer noch nicht anerkannt), den Aufstand im nördlichen Teil des Kosovo von 2011 bis 2012 und die schwierige Entwicklung der Verhandlungen zwischen Belgrad und Priština miteinrechnen. Dieses Bild sollte noch durch Anomie (Gesetzlosigkeit) und die weit verbreitete Korruption in allen unseren Gesellschaften auf dem Balkan ergänzt werden; alles wiederum gekoppelt mit einem sehr langsamen ökonomischen Wachstum. In dieser Umgebung versuchen wir Wunden zu heilen, anderen zu helfen und eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Das alles ist eine ziemliche Herausforderung. Seit 1997 habe ich im »International Aid Network« (IAN) mit Flüchtlingen, Folteropfern und anderen Risikogruppen gearbeitet. Das »IAN Center for Rehabilitation of Torture Victims« (IAN CRTV;  IAN Zentrum für die Rehabilitation von Folteropfern) ist der Ort, wo ich die Gelegenheit hatte zu arbeiten und Forschungs-

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ansätze und verschiedene Herangehensweisen an die »psychosoziale Behandlung« von traumatisierten Menschen zu entwickeln. Momentan stellt das IAN CRTV mit mobilen Teams an verschiedenen Orten in Serbien unter anderem Hilfe für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten bereit. Die Fotos (vgl. Abbildungen 2–4, S. 176 f.) entstanden an den Grenzübergängen, an denen das IAN-Team medizinische und psychologische Unterstützung leistet.

Kriegstraumata Wenn wir kriegsbezogene Erlebnisse betrachten, finden wir schnell heraus, dass diese mit einer Art von bewaffnetem Konflikt in Verbindung stehen. In den 1990er Jahren fanden auf dem Balkan Militäreinsätze in kleineren oder größeren Städten statt, die die Zivilbevölkerung in erheblichem Umfang extremen Erfahrungen wie Bombardierungen und direkten Kampfhandlungen etc. aussetzten. Noch schlimmer, Zivilistinnen und Zivilisten wurden bei den sogenannten »ethnischen Säuberungen« häufig gezielt von bewaffneten Gruppen und lokalen politischen Autoritäten ins Visier genommen. Der Begriff ethnische Säuberung »[…] bezeichnet eine Reihe von Maßnahmen, die die Polizei, das Militär und politische Autoritäten durchführen, um eine ethnische Gruppe in einem bestimmten Gebiet auszulöschen oder signifikant zu reduzieren« (Radović, 2005, S. 15, eigene Übersetzung, D. M.). Diese Maßnahmen umfassen »diverse Formen von physischer und sexueller Gewalt, […] Vertreibung, Zwangsenteignung, Entlassung aus dem Beruf, den Verlust von diversen bürgerlichen und sozialen Rechten und alle möglichen Formen von Druck, Diskriminierung, Einschüchterung und Erniedrigung« (Radović, 2005, S. 15, eigene Übersetzung, D. M.). Wir können dasselbe Muster in Berichten aus Syrien, dem Irak und Libyen wiedererkennen, und die Liste ist vermutlich noch länger. Ein wichtiger Aspekt dieser Art von bewaffneten Konflikten ist, dass es keine eindeutigen Rollen gibt, die einer Person zugeschrieben werden können: Eine Person kann gleichzeitig Zivilist sein, an militärischen Aktionen teilnehmen, Gefangener und Folteropfer werden oder Zuflucht in einem anderen Land suchen. Und seine

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bzw. ihre Familie könnte in derselben Situation sein, in einer belagerten Stadt, einem Konzentrationslager oder einem Flüchtlingslager, was einen großen Unterschied zu Berufssoldaten darstellt, die in anderen Staaten eingesetzt werden. Was macht nun ein traumatisches Ereignis aus? In den 1990ern hatten wir bereits ein Konzept von Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), das auf dem Konzept der traumatischen Erinnerungen aufbaute, das heißt die Erinnerung an ein traumatisches Ereignis, die nicht in das bewusste Denken integriert werden kann, aber stattdessen sich wiederholend wiedererlebt wird. Die Idee war, dass das Ereignis selbst die Pathologie bei sonst »normalen« Menschen hervorgerufen hat, oder dass »PTBS einen natürlichen Anpassungsprozess an außergewöhnlich ungünstige Situationen umfasste und dass das Muster an Symptomen nicht von konstitutioneller Vulnerabilität abhängig war« (Yehuda u. McFarlane, 1995, S. 1706, eigene Übersetzung, D. M.). Dann wurde es schwer zu erklären, warum so viele Menschen, die extremem Stress ausgesetzt waren, keine PTBS entwickelten oder warum »es schwierig ist, bei mehr als 50 % der Bevölkerung auch nur vorübergehende Symptome zu finden und dass bei der Mehrheit die Symptome normalerweise innerhalb von zwei bis drei Jahren wieder abgeklungen sind« (S. 1708, eigene Übersetzung, D. M.). Dies trug einerseits zur Suche nach »Vulnerabilitätsfaktoren« bei und veranlasste andererseits zu Ideen einer »sozialen Konstruktion« von PTBS als Pseudo-Krankheit, die als Rahmen für humanitäre Hilfsaktionen missbraucht wurde (Summerfield, 1999). Diese Konzepte könnten unseren Anstrengungen zur verstärkten Unterstützung von Flüchtlingspopulationen schaden und wir sollten bald eine Antwort darauf finden. Man kann sagen, dass die PTBS (wie andere DSM-Kategorien) inhärente Probleme mit sich bringt, da sie mittels einer deskriptiven Methodologie festgelegt wurde, das heißt als ein Syndrom, dass aus beobachtbaren »Anzeichen und Symptomen« besteht, die tatsächlich eine Veränderung im Verhalten, entweder im Handeln oder in verbalen Auskünften, widerspiegeln. In diesem Sinne erfasst sie nur oberflächlich erkennbare Anzeichen wie vegetative Erregung oder Aussagen von Patienten, die emotionales Leiden in Verbindung mit Kriegserfahrungen bestätigen. Auf der anderen Seite sind einige wichtige Charakteristika ausgeschlossen, da sie

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nicht durch Verhaltensanalyse entdeckt werden können. Dies ist zum Beispiel bei Schuld der Fall, die als »Schuld darüber, überlebt zu haben, wenn andere nicht überlebt haben, oder über Verhalten, das für das Überleben notwendig war« (APA, 1980; S. 238, eigene Übersetzung, D. M.), Teil der PTBS-Kriterien des DSM-III war, aber in der nächsten Ausgabe herausgenommen wurde. Als ich einen meiner Patienten, er war Veteran, fragte, ob er sich schuldig fühlte, antwortete er unmittelbar »Nein!«, fing aber sogleich an zu weinen und murmelte: »Sie sahen genau wie meine Söhne aus […]!«. Er meinte die feindlichen Soldaten, die er im Einsatz getötet hatte. Erwähnt werden müssen noch die vielen und verschiedenartigen Symptome, die als »Komorbidität« wahrgenommen werden, wie Somatisierungen, Angstattacken, Substanzabhängigkeit, psychosomatische Syndrome etc. Das Resultat des Zusammenspiels von traumatischen Ereignissen, Persönlichkeit und (verschiedenen) Symptomen – nicht nur die traumatische Erinnerung – sollte, wie ich glaube, mittels psychoanalytischer Explorationen der unbewussten Phantasien verstanden werden. Die Notwenigkeit eines dynamischen Verständnisses ist auch für die Analyse traumatischer Ereignisse gegeben. Vor zwei Jahrzehnten wollten wir traumatische Ereignisse »messen« oder, in anderen Worten, eine Art von numerischer Ausgabe für verschiedene traumatische Ereignisse erhalten, die eine Person während des Kriegsverlaufs erlebt haben könnte, besonders im Hinblick auf die Komplexität von Kriegssituationen und ihre mögliche Rolle darin. Wir entwickelten einen Fragebogen mit einer Liste von Aussagen, die in Verbindung mit Kriegserfahrungen standen. Die Analyse ergab acht Cluster mit sehr guten psychometrischen Eigenschaften (Jović, Opačić, Knežević, Lečić-Toševski u. Tenjović, 2002). In den folgenden Jahren und anhand verschiedener Gruppen von Probandinnen und Probanden konnten wir sehen, dass einige Cluster stärker mit posttraumatischer Pathologie korrelierten, wie das bei »Gefangennahme/Folter«, »Leben in feindseligen Umgebungen«, »Mangel im Kriegszusammenhang« der Fall war, während die Kategorie »aktive Kampfhandlungen« nicht korrelierte. Es scheint so zu sein, dass die Situationen, in denen die Person keine aktive Kontrolle hat und keine aktive Rolle einnimmt, »traumatischer« sind als der aktive Kampf.

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War Stressors Assessment 2,5 2 1,5 1

EXP. GROUP CONT. GROUP

Combat exposure

Life in hostile surrounding

Injury

War-related deprivation

Loss of org./ mil. structure

Witn. death or wounding

Active combat

0

Imprisonment/ torture

0,5

Abbildung 5: Ergebnisse des War Stressors Assessment Questionnaire (Kriegs-Stressoren-Beurteilungs-Fragebogen)

Abbildung 5 zeigt die Unterschiede in den Arten der Stressoren zwischen zwei Gruppen von Probanden: solche mit momentaner PTBS und solche, die ähnlichen Stressoren ausgesetzt waren, jedoch derzeitig keine PTBS zeigen. Obwohl es sich um relativ kleine Gruppen handelt (N = 20 + 25), scheint dieses Muster vergleichbar in anderen und größeren Stichproben aufzutreten. Die Probanden wurden innerhalb des Projektes »Analysis of post-traumatic dreams project« (Projekt zur Analyse posttraumatischer Träume) bewertet – teilweise vom Research Board der IPA finanziert –, in dem wir ihre Traumnarrative aufzeichneten und diese später analysierten (einige Ergebnisse der Forschung wurden 2013 auf der »Joseph Sandler Psychoanalytic Research Conference« vorgestellt, vgl. Jović, 2013). Meine Kollegen, Bent Rosenbaum und Sverre Varvin, haben zeigen können, dass sich diese beiden Gruppen in einer Charakteristik ihrer Traum-Narrative unterschieden – ob die Träumenden in einer aktiven oder in einer passiven Rolle waren, das heißt die Probanden und Probandinnen, die keine PTBS entwickelten, hatten Träume, in denen sie vornehmlich eine aktive Rolle einnahmen. Ich werde auf das Thema Hilflosigkeit oder Passivität später noch eingehen.

Kriegstrauma, Migration und ihre Konsequenzen

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Es gab aber einen anderen Befund dieser Traumstudie, den ich gern als ein Argument dafür anführen möchte, dass wir von den deskriptiven Konzepten und dem »Erinnerungs-Paradigma« wegkommen sollten. Eines der herausragenden Merkmale der PTBS sind wiederkehrende Träume und Albträume über traumatische Erlebnisse. Manchmal werden diese als »wiederholende Nachbildungen« (»repetitive replicas«) beschrieben, was impliziert, dass die Träume das Wiedererleben von tatsächlichen Ereignissen darstellen (und es ist wahr, dass viele Patienten Träume von einem bestimmten, spezifischen Ereignis berichten, das in ihrem Leben passiert ist). In unseren Untersuchungen ist uns jedoch kein einziger NacherlebensTraum (»replica dream«) begegnet, der aus einer exakten Wiederholung eines »objektiven« Ereignisses bestanden hätte. Alle Träume, die im Labor vorkamen, waren Resultate von Traumarbeit – symbolisch entstellt, verschoben und verdichtet. Folglich können wir daraus schließen, dass traumatisierte Menschen wirklich traumatische Träume, aber keine Nacherlebens-Träume aufweisen. Andererseits beschrieben eine große Zahl von Probanden ein Ereignis, das sie tatsächlich durchlebt hatten, wenn sie (während eines Interviews) gebeten wurden, wiederkehrende oder ihnen außergewöhnlich wichtige Träume zu berichten. Es kann sein, dass wir dazu noch eine gründliche Analyse benötigen, aber es scheint, dass Träumen und Erinnern häufig verwechselt werden.

Folter und Entmenschlichung Wie ich bereits erwähnt habe, hat eine hohe Prozentzahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, genauso wie die Flüchtlinge und Binnenvertriebenen im ehemaligen Jugoslawien, irgendeine Art von Folter überlebt. Von der Menschenrechtsseite wird »Folter« eigens von der UN-Antifolterkonvention2 definiert; für unseren Versuch, 2 Laut der UN-Antifolterkonvention (1984) bezeichnet Folter »jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um

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sie dynamisch zu verstehen, ist es wichtig zu erkennen, dass die extremen, physischen Formen von Folter nur die finale und ultimative Konsequenz eines komplexen Prozesses darstellen, der mit Entmenschlichung beginnt und viel häufiger als »inhumane und erniedrigende Behandlung« begriffen wird. Allein die Existenz von Folter und speziell ihr häufiges Vorkommen in bewaffneten Konflikten sollte uns nicht zu dem Missverständnis führen, sie bloß hinzunehmen als einen Teil von Kriegsgräueln, als ethnischen oder interreligiösen Hass, als etwas, das im Krieg inbegriffen ist, und speziell als eine Aggression gegen »andere« in einem Konflikt. Folter wird gründlich von Kriegspropaganda vorbereitet, wenn Feinde entmenschlicht, als weniger menschlich oder Untermenschen dargestellt und manchmal als böse, gierige Kreaturen dämonisiert werden, die uns unser Eigentum und unsere Werte nehmen, unsere Frauen vergewaltigen und unsere Kultur und unsere Lebensweise verändern wollen. Wir konnten dies bei der Propaganda zu Beginn der Konflikte in Ex-Jugoslawien beobachten, in denen andere Ethnien und Religionen diskriminierend dargestellt wurden. Unglücklicherweise wurde diese entmenschlichende Propaganda auch von einigen Psychiatern und Psychoanalytikern in »wissenschaftlichen« Veröffentlichungen benutzt (Kecmanovic, 1999).



sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.« Laut Artikel 3 der UN-Antifolterkonvention darf eine Person nicht in einen anderen Staat ausgewiesen, abgeschoben oder an diesen ausgeliefert werden, wenn sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden. Laut Artikel 14 der Konvention hat jeder Vertragsstaat in seiner Rechtsordnung sicherzustellen, »dass das Opfer einer Folterhandlung Wiedergutmachung erhält und ein Recht auf gerechte und angemessene Entschädigung einschließlich der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation hat«. (Folgender Abschnitt: Übersetzung des Autors) Vertragsstaaten sollten in ihrem Asyl-System die Notwendigkeit für eine frühzeitige, umfassende Rehabilitation der Folteropfer unter Flüchtlingen und Asylsuchenden anerkennen, die medizinische und psychologische Fürsorge sowie soziale und rechtliche Dienste beinhalten sollte.

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Folteropfer waren nicht nur Opfer von inter-ethnischem Hass. Wir haben mit vielen männlichen Flüchtlingen serbischer Ethnie aus Kroatien und Bosnien und Herzegowina gearbeitet (es sind wahrscheinlich mehr als 10.000), die nach den kroatischen Militäraktionen im Sommer 1995 oder einige Zeit davor von der serbischen Polizei nach ihrer Ankunft in Serbien verhaftet wurden (vgl. Opačić, Jović, Radović u. Knežević, 2006). Sie wurden zu den Stützpunkten paramilitärischer Einheiten transportiert, wo sie gefoltert – erniedrigt, geschlagen oder »diszipliniert« (wie ihre Wärter es ausdrückten) – wurden. Und sogar später, als wir anfingen in Gefängnissen, Polizeistationen und psychiatrischen Krankenhäusern zu arbeiten, konnten wir das gleiche Muster erkennen: auf der einen Seite eine unkontrollierte Autorität, die den Offiziellen gegeben wurde und die diese ausnutzten und auf der anderen Seite entmenschlichte »Subjekte« unter ihrer Kontrolle. Wir stellten fest, dass Folter nicht notwendigerweise mit Krieg verbunden sein muss, sondern dass sie überall vorkommen kann, vorausgesetzt, wir haben eine Gruppe, die entmenschlicht wurde und als gefährlich, ungewollt oder zu anders wahrgenommen wird. Sverre Varvin (2015) hat über Entmenschlichung in verschiedenen Umgebungen geschrieben und ich habe versucht seine Betrachtungen zu ergänzen, indem ich mich auf die Mechanismen der Aufrechterhaltung und Weitergabe von Entmenschlichung in Institutionen fokussiert habe (Jović, 2015). Innerhalb des IAN haben wir in Programmen mit Gruppen gearbeitet, die gewöhnlich sehr stigmatisiert sind, wie Menschen mit HIV/AIDS (PLWHA; »people living with HIV/AIDS«), Nutzer/-innen von psychiatrischen Diensten, Gefangenen, Roma oder Nutzer/-innen von intravenös zugeführten Drogen (IDUs; »intravenous drug users«). Dabei konnten wir das Ausmaß sehen, indem Entmenschlichung in der tagtäglichen Praxis und Ideologie verwurzelt ist sowie unter Praktikern fortbesteht und repliziert wird (d. h. unter denen, die Fürsorge und Behandlung bereitstellen sollten). Ich glaube, in der Zukunft werden wir mit ähnlichen Mechanismen in Verbindung mit den Flüchtlingen konfrontiert sein, die jetzt nach Europa kommen. Wie Grotstein (2009) sagte: »Entmenschlichung ist die Kehrseite von Empathie«. Und wir sehen in diesen Tagen häufig einen Mangel an Empathie für Flüchtlinge.

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Was auch immer diese »andere«, »fremde« Gruppe ist oder was der Inhalt der Ideologie ist, die sie als gefährlich beschreibt, es sind diese Haltungen, die wir jetzt unter anderem gegen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak gerichtet sehen, die so mächtig sind, weil sie unsere unbewussten Strukturen nutzen, die wir durch unsere psychosexuelle Entwicklung erworben haben. An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, wie nationalistische Propaganda ödipale Konflikte dazu nutzt, Massen zu erregen und sie auf Kriege vorzubereiten: Traumata der Vergangenheit werden dazu instrumentalisiert, Bilder eines besiegten und gedemütigten Vaters hervorzurufen, der dann glorifiziert wird (durch Spaltung und Projektion unserer eigenen Aggressionen), während Ambivalenz aufgelöst und die Identifizierung mit und der Zusammenhalt in der Gruppe gestärkt wird (vgl. Jović, 2008). Auf ähnliche Art werden Mitglieder der anderen Gruppen entmenschlicht (durch Spaltung unserer ungewollten Anteile) und dargestellt als jene, die in unseren sicheren Hafen eindringen, den Körper der Mutter angreifen, alles Wertvolle (Milch, Babys) rauben und ihn beschmutzen werden (Hochzeiten zwischen den »Rassen«), sodass nichts bleiben wird als das verbrannte Land, bewohnt von fremden und unmenschlichen Kreaturen. Dies ist alles wohlbekannt und wir sehen es in den Phantasien unserer Klientel in der Psychoanalyse in Verbindung mit irgendwelchen gewöhnlichen Menschen, die uns wütend machen (am häufigsten die engsten Vertrauten). Aber es ist sehr wichtig, dieses Muster in den Reden von populistischen Führern zu erkennen, weil diese Art von Botschaft zu feindseligen Reaktionen gegenüber Flüchtlingen führen kann bzw., wie ich fürchte, bereits dazu führt. Auch jetzt, wenn sie auf der Durchreise sind, hat ein großer Prozentsatz von ihnen irgendeine Art von Folter erlebt, was – da bin ich mir sicher – eine Folge von Entmenschlichung ist. Sogar bei bewusst wohlwolAbbildung 6: Ein maroklenden Menschen, wie in Diskussionen kanischer Junge, der in mit Professionellen, die tatsächlich in der einem EU-Land von der Polizei geschlagen wurde aktuellen Krise helfen, konnte ich Bezüge

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Abbildung 7: Ein syrischer Junge, dessen Arm von einem Polizisten in einem der EU-Staaten gebrochen wurde

zur Fruchtbarkeit der arabischen Frau hören, dass »sie nicht so für Kinder sorgen, wie wir das tun« oder ähnliche Phrasen. In der Forschungsstichprobe, die ich vorher erwähnt habe, beschrieben Flüchtlinge häufig diskriminierende Erlebnisse in den Transitländern. Unter anderem wurde immer wieder von langer, unnötiger Warterei auf Papiere, der Unterbringung unter inhumanen Bedingungen, ohne ausreichend Nahrung und Wasser, sowie verschiedensten anderen Erniedrigungen berichtet. Von jenen, die durch ein bestimmtes Land reisten, wurden 82,9 % eingesperrt. Fast alle wurden dabei auch Opfer von Gewalt, so unter anderem durch Geschlagenwerden mit Gummiknüppeln und Ausgeraubtwerden (all ihr Geld und ihre Mobiltelefone wurden ihnen weggenommen). Einige berichteten, dass sie von der Polizei mit Hunden durch den Wald gejagt wurden (Janković, Jovanović, Trivunčić u. Đurašinović, 2015). Was sind die realen Folgen von Folter? Es gibt aus der ganzen Welt viele Studien über Folterüberlebende. In unserem Umfeld waren wir in der Lage, mit einer großen Anzahl von Personen zu arbeiten, die zu irgendeinem Zeitpunkt in Lagern in Kroatien und Bosnien gefangen gehalten und gefoltert wurden. 2004 veröffent-

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lichten wir eine Monografie über verschiedene Aspekte der Arbeit mit Folterüberlebenden (Špirić, Knežević, Jović u. Opačić, 2004). In einer anderen Veröffentlichung stellten meine Kollegen die grundlegenden sozio-demografischen Charakteristika und Profile der psychischen Symptome von 621 Folteropfern (93 weiblich) dar und verglichen diese mit 437 Flüchtlingen und Binnenvertriebenen (179 weiblich), die unsere Unterstützung aufgrund von schweren psychischen Problemen, die ihre Erlebnisse hervorgerufen hatten, in Anspruch nahmen (Špirić u. Knežević, 2004). Die zwei Gruppen unterschieden sich in der Intensität und der Verteilung der posttraumatischen Symptome: Die Folteropfer hatten viel stärkere Symptome von Hyperarousal und eine stärker ausgeprägte allgemeine und spezifisch posttraumatische Symptomatologie. Unter den Folteropfern wiesen mehr als 20 % eine chronische somatische Erkrankung auf (20,6 % im Vergleich zu 13,6 % in der Kontrollgruppe). Physische Kriegsverletzungen wurden bei 14,6 % der Folterüberlebenden festgestellt und bei 2,3 % der Flüchtlinge oder Binnenvertriebenen. Aber einige sozio-demografische Indizes waren beunruhigender: Mehr als 20 % (20,4 % bzw. 24,3 %) der Probanden waren behindert (erwerbsunfähig), ein vergleichbarer Prozentsatz von ihnen war arbeitslos, während der Rest von ihnen ein wenig Geld mit Schwarzarbeit verdiente. Mehr als 85 % der Folteropfer wollte nicht in ihr Heimatland zurückkehren und fast die Hälfte von ihnen plante in ein drittes Land zu emigrieren; faktisch hatten zur Zeit der Befragung bereits 30 % den Immigrationsprozess eingeleitet. Auffällig erschien auch, dass das soziale Funktionieren der Menschen, die gefoltert wurden, extrem beschädigt ist. Abgesehen von der Tatsache, dass sie sozial isoliert sind, unfähig, die Anwesenheit anderer, sogar engster Familienmitglieder zu genießen, sind sie unfähig zu arbeiten, sehr unbeteiligt gegenüber ihren Partnerinnen bzw. Partnern und oft uninteressiert am Liebesleben. Wenn wir mit ihnen sprechen, dann sehen wir, dass ihre Energie vollständig von der Anstrengung aufgezehrt wird, ihre emotionalen Veränderungen, ihre vegetative Erregbarkeit und die Wahrnehmung von anderen zu regulieren. Wünsche und Verlangen nach Kontakt zu anderen ist unmittelbar gefolgt von katastrophaler (oder Vernichtungs-) Angst, die zu weiterem Rückzug führt. Probleme sind in der Therapie oder Konsultation zu beobachten, wenn der Kontakt zu Therapeutinnen

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oder Therapeuten vermieden wird, sich als emotional erschöpfend darstellt oder selbst als eine Form von Folter wahrgenommen wird. Ich glaube, dass die meisten dieser Menschen nach einiger Zeit eine Form von Gleichgewicht finden, das weit von ihrem Vorkriegs-Funktionieren entfernt liegt. Wir können uns an alte Männer aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, die launische, schwierige Menschen waren, unfähig, mit anderen in Beziehung zu treten, häufig vor Wut platzend, manchmal überwältigt von Ängstlichkeit verschiedener Art (hyper-dramatisch oder mit Verfolgungswahn) und manchmal im Alkohol ertränkt. Und seit Psychoanalytiker/-innen dazu in der Lage waren, Folterüberlebende für längere Zeitspannen zu beobachten, glaube ich, dass selbst jene, die überraschend gut funktionierten und als »resilient« wahrgenommen wurden, tatsächlich sehr ähnliche Spannungen in den Anstrengungen, ihre Affekte zu regulieren und ihre interpersonalen Beziehungen zu modulieren, erleben. Und dass einige von ihnen mit der Zeit in schwere depressive Zustände verfallen könnten, was wir in Diskussionen vor ein paar Jahren »Depletion« (Auszehrung, Entleerung, Raubbau; Anm. des Übersetzers) genannt haben. Es sieht danach aus, dass ihre Energie über die Zeit erschöpft wurde und sie eine Art von depressivem Stupor zeigen. Wir können die Mechanismen erkunden, durch die traumatische Ereignisse die Persönlichkeit in einer solch extremen Weise beschädigen. Ich würde gern hervorheben, dass es viele Möglichkeiten gibt, die unbewusste Dynamik des Traumas zu fassen. Aus diesem Anlass würde ich gern die besondere Bedeutung des entmenschlichenden Effekts herausstellen, der, wie ich glaube, den destruktivsten Einfluss auf die Persönlichkeit hat. Es ist möglich, eine Kontinuität von extremen Formen der Entmenschlichung (massive Tötungen, Folter, sexuelle Sklaverei) hin zu entmenschlichenden Effekten der Kriegssituation, wie gewaltsame Mobilmachung, wahllose interreligiöse Gewalt und Bestrafung, wahllose Bombardierung etc., herzustellen. Tatsächlich stellen sich all diese »passiven Erlebnisse« als verstörender heraus (wenigstens für manche Menschen) als konkretes, eigentliches Kämpfen. Wir können uns zunächst »weichere« Formen der Entmenschlichung ansehen, wie sie während der militärischen Ausbildung vorkommen. Obwohl unsere männlichen Flüchtlinge, die verhaftet und in paramilitärische Einheiten gesteckt wurden von extremen

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Erniedrigungen gesprochen haben, ist es möglich, dass es sich dabei um einen Routineteil jeder militärischen Ausbildung handelt: der Angriff auf die »zivile« Identität des Adoleszenten, seine Männlichkeit, persönliche Habe und seinen persönlichen Raum (und wirklich jedes Kennzeichen seiner Persönlichkeit), um einen gehorsamen, entmenschlichten Vollstrecker zu erzeugen. Dies wurde zum Beispiel für das My-Lai-Massaker beschrieben (Bourne, 1971). Im Zusammenhang mit den Vorfällen in Abu Ghraib beschrieb Zimbardo (2005), wie er in seinem berühmten Experiment die »Wärter« entmenschlichen musste, bevor sie die »Gefangenen« entmenschlichten: »Wir haben die Gefangenen entmenschlicht, haben ihnen Nummern gegeben und ihnen ihre Identität genommen. Wir haben auch die Wärter ent-individualisiert, nannten sie Mr. Correctional Officer, steckten sie in khaki Uniformen und gaben ihnen silbrig verspiegelte Sonnenbrillen« (eigene Übersetzung, D. M.). In einem sehr ähnlichen Experiment wurden Patienten und Patientinnen einer psychiatrischen Klinik ihrer persönlichen Gegenstände beraubt und eine humane Behandlung verweigert, woraufhin sie eine defensive, unpersönliche, passive Haltung gegenüber Autoritäten entwickelten. Dieses Phänomen beschrieb Goffman (1968) als Mortifikation, also Abtötung des Selbst. Es kann aber fachsprachlich auch Katatonie oder Residuum einer Psychose genannt werden und wird bei Patienten, die zum Teil schon Jahrzehnte in einer Klinik untergebracht sind, immer noch vorgefunden. Folter in seinen extremen Formen geht noch darüber hinaus: Sie beinhaltet Versuche der Zerstörung aller Ego-Funktionen und nicht nur der persönlichen Identität, Autonomie und Kontrolle. Das Zufügen von Schmerz kann eine Demonstration der Kontrolle und Macht des Täters sein, aber es beinhaltet häufig andere Elemente, wie Unberechenbarkeit, Scheinexekutionen, das Hervorrufen extremer Ängste vor Ertrinken oder Ersticken, sodass jeder Aspekt der basalen Sicherheit zerstört wird. Der Körper wird Entbehrungen jeder erdenklichen Art ausgesetzt: Entzug von Nahrung, Medizin, persönlicher Hygiene, Wasser, Licht (in Dunkelheit eingesperrt oder mit verbundenen Augen sein), Schlafentzug, Bewegungsentzug (entweder durch Einzelhaft oder indem Menschen für mehrere Stunden dazu gezwungen werden, in einer fixierten Position zu verbleiben), das Verhindern von Urinieren oder Stuhlgang. Es ist dabei

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das Hauptziel, alle Kapazitäten und Ego-Funktionen (schwerlich erlangt durch guten Kontakt mit wohlwollenden Objekten während der Entwicklung) sowie die basale Sicherheit, Thermoregulation, den Schlaf- und Wachzyklus, die Schließmuskelkontrolle, die sensomotorische Autonomie, die Kontrolle des persönlichen Raums etc. zu zerstören. Folglich können extreme Formen von Folter viel tiefere Schichten unserer Funktionen beschädigen, als zum Beispiel eine harsche Militärausbildung das erreichen kann (die auf die Errungenschaften der Resultate der phallischen Phase abzielt, wie Stolz, Maskulinität, Selbstsicherheit, Rebellion etc.). In diesem Sinne scheint Folter ein Prozess zu sein, der in die gegensätzliche Richtung geht wie die Entwicklung des Ego (das sich durch wohlwollenden interpersonalen Kontakt mit der Mutter entfaltet, die sich um den Körper kümmert und – idealerweise – dabei hilft, seine Autonomie herzustellen). Während die Zerstörung der vorhandenen Ego-Funktionen eine Person in einem Zustand der Hilflosigkeit hinterlässt, konfrontieren uns aktive und systematische physische Schädigung (Schneiden, Verbrennen der Haut, Amputation und Verstümmlung) in einem direkten Kontakt mit den tatsächlich schlechten Objekten, die die intensivsten Vernichtungsängste auslösen. Diese »Verdinglichung« des Körpers der Opfer stellt die wahrscheinlich extremste Form der Entmenschlichung dar, denn sie provoziert die intensivsten Ängste. Sie ist in der Lage, uns in die frühesten Tage von äußerster Impotenz, Immobilität und Abhängigkeit zu versetzen, und macht es vorstellbar, wie das Ego sich selbst als bloßes Objekt in den Händen einer gottähnlichen (oder dämonischen) Figur fühlt. Marvin Hurvich (2003, S. 581) definierte Vernichtungsangst als »mentalen Inhalt, der Besorgnisse um das Überleben, die Erhaltung des Selbst und die Kapazität zu funktionieren reflektiert« (eigene Übersetzung, D. M.). In unserer engen Arbeit mit Trauma-Überlebenden konnten wir feststellen, wie nützlich es ist, dieses Konzept in das Verständnis miteinzubeziehen. Wir können zustimmen, dass die »Vernichtungsängste als psychischer Inhalt in Verbindung mit dem Aspekt des kontrollierten und unkontrollierten Affekts […] eine Brücke hin zu einer Integration der psychoanalytischen Theorie der Angst mit der psychoanalytischen Theorie des psychischen Traumas schlägt, zum Vorteil beider« (S. 592, eigene Übersetzung, D. M.). Aber ich bin leider nicht in der Lage, viele und ergiebige

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Möglichkeiten zur Integration dieser Konzepte vorzustellen. Das Hauptziel dieses Beitrags ist es, die Bedeutung des Verständnisses der komplexen Dynamiken, die auf traumatische Erfahrungen folgen, hervorzuheben. Ich habe die Bedeutung und destruktive Macht von Folter und Entmenschlichung betont, obwohl wir wirklich hoffen, dass nicht alle Flüchtlinge diese Erfahrungen machen und dass sich die meisten von ihnen in einer sicheren Umgebung rasch davon erholen.

Behandlung als Wieder-Menschwerdung Diesen Beitrag habe ich chronologisch erzählt. Wahrscheinlich ergab sich das teilweise aus der Tatsache, dass wir über all diese Jahre Learning by Doing betrieben. Am Anfang entwickelten wir ein Konzept zur »psychosozialen Unterstützung« (vgl. Jović, 2004) zusammen mit den internationalen NGOs, die dazu bereit waren, den Flüchtlingen Hilfe zur Verfügung zu stellen. Im Wesentlichen bedeutete dies, dass wir, den Bedürfnissen der Flüchtlinge folgend, versuchten ihre Rechte und ihren rechtlichen Status wiederherzustellen, grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen, Nahrung,

Abbildung 8: Spielendes kleines Mädchen vor einem Flüchtlingsheim

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­Hygieneartikel, Kleidung und Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Medizinische Hilfe, Rehabilitation, psychiatrische Behandlung und Psychotherapie kamen kurz danach.3 Rückblickend ist es unmöglich zu sagen, ob wir unser Bestes getan haben. Wir können aber für uns einiges Wichtiges mitnehmen. Zum Beispiel brauchen wir solche Dienste, die die soziale und humanitäre Dimension miteinbeziehen, also Anwälte, Prozessvertretung und materielle Hilfe, um mit diesen Menschen, die sozial benachteiligt, in ihren Rechten eingeschränkt, isoliert und stigmatisiert sind, arbeiten zu können. Man kann das mit der Situation anderer Gruppen vergleichen, die sozial ausgeschlossen waren: Beispielsweise war es für die geistig Behinderten, die für viele Jahre in Heimen gelebt haben, zunächst wichtig, ihnen zu helfen ihre Rechte zurückzugewinnen und sie in die Gemeinschaft einzubeziehen, während man ihnen gleichzeitig half, ihr psychisches Leiden zu überwinden. Wieder ist dies der umgekehrte Prozess, den man als eine Form von »Wieder-Vermenschlichung« auffassen kann – Wiederherstellung von verlorenem Vertrauen, sozialen Verbindungen und Sinn. Psychologische Behandlung kann selbstverständlich nicht bloß auf diese (vermenschlichende) Dimension reduziert werden, aber ich bin dazu genötigt, sie zu gebrauchen. Motiviert durch die Erfahrung, was Flüchtlinge und Folterüberlebende als extrem hilfreich berichten: eine kleine Hilfe von einem Fremden, Trost von einem Nachbarn, eine Zigarette oder ein wenig Essen von einem Gefängniswärter. Es scheint, dass diese kurzen menschlichen Kontakte Überlebenden helfen können, ihre Bemühungen zur Selbsterhaltung aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne glaube ich, dass unsere Tätigkeit, die auf medizinische und psychologische Unterstützung abzielt, wie dies in unseren mobilen Teams geleistet wird, einen konkreten Sinn und einen förderlichen Effekt hat. Übersetzung: Daniel Moedl

3 Berichte über IAN-Aktivitäten in Verbindung mit Flüchtlingen und Folterüberlebenden finden sich auf: http://www.ian.org.rs/publications/

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Marianne Leuzinger-Bohleber

Embodied memories – Enactments – szenisches Verstehen Annäherungen an transgenerative Mechanismen bei der Weitergabe schwerer Traumatisierungen

Vorbemerkungen In meinem einleitenden Vortrag zur internationalen Tagung »Migration, Flucht und Trauma« hatte ich mich darauf beschränkt, das Wissen aus der klinisch-psychoanalytischen Forschung zur Shoah knapp zusammenzufassen und mit einigen ausgewählten, vielleicht weniger bekannten, entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Erkenntnissen zu den Mechanismen der transgenerativen Weitergabe von Extremtraumatisierungen zu verbinden. Um einen Eindruck von der Relevanz dieser empirisch gewonnenen Erkenntnisse für den Umgang mit Schwangeren und jungen Müttern sowie Vätern unter erschwerenden oder gar traumatisierenden Bedingungen von Migration und Flucht zu vermitteln, hatte ich sie mit ersten Beobachtungen aus der aktuellen Arbeit mit Flüchtlingen illustriert. Es waren vor allem Erfahrungen aus dem Pilotprojekt STEP-BY-STEP, das Sabine Andresen und ich zusammen mit fast 60 jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und in enger Zusammenarbeit mit den Teams vor Ort zurzeit in einer der Ersteinrichtungen für Flüchtlinge in Darmstadt sowie der Flüchtlingsambulanz am SFI durchführen (vgl. in diesem Buch, S. 345 ff.). Da die entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zur transgenerativen Weitergabe in der frühen Elternschaft in einer ausführlichen Fassung in der Zeitschrift »Psyche« erschienen sind (Leuzinger-Bohleber et al., 2016), Werner Bohleber eine detaillierte Zusammenfassung der psychoanalytischen Traumaforschung in diesem Buch vorlegt (S. 25 ff.) und das Projekt STEP-BY-STEP mit einem eigenen Beitrag in diesem Band vertreten ist, würde die Publikation meines Vortrags viele Redundanzen enthalten. Daher lege ich im Folgenden

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den Fokus auf einen interdisziplinären Versuch, die Mechanismen der transgenerativen Weitergabe vertiefend zu verstehen, denn diese Frage ist – sowohl in der Psychoanalyse als auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen – noch weitgehend ungeklärt. Viele heutige Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker  – unter ihnen Kurt Grünberg und Friedrich Markert (in diesem Buch, S. 131 ff.) – greifen zur Erklärung transgenerativer Phänomene auf Konzepte wie das »szenische Verstehen« zurück, mit denen Hermann Argelander und Alfred Lorenzer in den 1970er Jahren in kreativer Weise beschrieben haben, wie Patientinnen und Patienten unbewusste Phantasien und Konflikte im Erstinterview inszenieren (vgl. z. B. Argelander, 1967, 1968, 1970a, 1970b und Lorenzer, 1970, 2005). Diese Prozesse lassen sich vor allem durch eine sorgfältige Analyse der Gegenübertragungsreaktionen in den »Interaktionsszenen« in der ersten psychoanalytischen Begegnung mit den Patientinnen und Patienten entschlüsseln. Das »szenische Verstehen« hat Generationen von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern oder der Psychoanalyse nahestehende Berufsgruppen inspiriert. Einige von ihnen nutzen das Konzept auch für die Reflexion der transgenerativen Weitergabe von Traumatisierungen. Doch, wissenschaftshistorisch betrachtet, verlieren auch die kreativsten Konzepte sukzessiv ihr Erklärungspotenzial, wenn sie Gruppenidealisierungen anheimfallen und von der klinischen und wissenschaftlichen Weiterentwicklung isoliert werden. Daher möchte ich im Folgenden Überlegungen zur Diskussion stellen, die das Konzept des »szenischen Verstehens« aus der Sicht der sogenannten »Embodied Cognitive Science« sowie neuerer Entwicklungen in den Neurowissenschaften neu beleuchten, in der Hoffnung, dadurch zu einer Revitalisierung dieses klinisch äußerst fruchtbaren Konzepts beizutragen und es weiterhin für das Verstehen der Mechanismen der transgenerativen Weitergabe von Traumatisierungen nutzbar zu machen1 (vgl. dazu u. a. Marshall, 2009; Mizen, 2009).

1 Im beschränkten Rahmen dieses Beitrags greife ich vor allem auf die ausführliche Darstellung des Embodimentkonzeptes in der Arbeit »Den Körper in der Seele entdecken. Embodiment und die Annäherung an das Nicht-Repräsentierte« zurück, der 2014 in der Zeitschrift »Psyche« erschienen ist.

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Dabei geht es, wie in den anderen Beiträgen dieses Bandes, um den Versuch, der Abwehr entgegenzuwirken, die immer mit dem Thema »Migration, Flucht und Trauma« verbunden ist. Es handelt sich dabei um individuelle und kollektive Formen der Abwehr unbewusster Erinnerungen (und von embodied memories), wie im Folgenden diskutiert werden soll. Die Bilder der Massen von Flüchtlingen sind bei vielen Deutschen unbewusst assoziiert mit den Erinnerungsspuren an den Holocaust sowie an die 14 Millionen Flüchtlinge, die nach 1945 in Westdeutschland untergebracht und versorgt werden mussten. Das kollektive (unbewusste) Gedächtnis daran mag einer der Gründe für die enorme Hilfsbereitschaft sein, die Flüchtlinge willkommen zu heißen und Empathie für das enorme Leid und Elend in aktives Helfen umzusetzen. Doch, wie wir alle wissen, werden vermutlich auch andere unbewusste Erinnerungen geweckt, die mit Identifikationen mit nationalsozialistischen Tätern und ihren Umgang mit Randgruppen und Fremden in Zusammenhang stehen und – in Kombination mit Angst, Unsicherheit und Überforderung – in Teilen der deutschen Bevölkerung dazu führen, dass die Gewalttaten gegen Flüchtlingsunterkünfte und Flüchtlinge ständig zunehmen. Ein weiterer Grund für die ambivalente Reaktion auf Flüchtlinge mag darin liegen, dass die Kriegsflüchtlinge ebenfalls unbewusste Assoziationen und Erinnerungen zum Thema »Trauma«2 wecken, das heißt zu extremen Erfahrungen, die das Selbst Todesangst, Hilflosigkeit und Ohnmacht aussetzen und derart überfluten, dass das Grundvertrauen in ein helfendes Objekt und ein aktives Selbst zusammenbrechen. Zu den ubiquitären Reaktionen auf die Wahr2 Ich verwende hier, anlehnend an Bohleber (in diesem Buch, S. 25 ff.), einen engen Begriff von »Trauma«. Durch das Trauma, eine plötzliche, nicht vorausgesehene, extreme Erfahrung, meist verbunden mit Lebensbedrohung und Todesangst, wird der natürliche Reizschutz durchbrochen. Das Ich ist einem Gefühl extremer Ohnmacht und seiner Unfähigkeit ausgesetzt, die Situation zu kontrollieren oder zu bewältigen. Es wird mit Panik und extremen physiologischen Reaktionen überflutet. Diese Erfahrung führt zu einem psychischen und physiologischen Schockzustand. Die traumatische Erfahrung zerstört zudem den empathischen Schutzschild, den das verinnerlichte Primärobjekt bildet, und das Vertrauen auf die kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit menschlicher Empathie. Im Trauma verstummt das innere gute Objekt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt.

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nehmung von Trauma und Traumatisierten gehört der biologisch angelegte Fluchtimpuls: der Impuls, wegzuschauen, zu verleugnen und die Augen vor dem Unerträglichen zu verschließen. Diesem Impuls muss gegengesteuert werden, um sich (traumatisierten) Flüchtlingen empathisch zuwenden zu können, was immer eine seelische Anstrengung bedeutet. Der drohenden Spaltung zwischen hilfsbereiten, offenen und aggressiv-ablehnenden Teilen in der deutschen Bevölkerung entgegenzuwirken, war eines der Anliegen der internationalen Tagung und dieses Buchs. Dabei ist uns selbstverständlich bewusst, dass Erkenntnisse, die im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung gewonnen werden, aktuelles politischen Handeln kaum beeinflussen können. Doch kommt den Wissenschaften, und besonders einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Psychoanalyse, in einer Gesellschaft unter anderem die Funktion zu, Reflexionsräume zu schaffen, in denen Wissen aus unterschiedlichsten Bereichen zusammengetragen werden, die eventuell in Überlegungen zu komplexen, aktuellen, politisch relevanten Themen münden können. Was kann die Psychoanalyse zu solchen interdisziplinären Überlegungen beitragen? Auf welchen klinischen Beobachtungen beruht das genuin psychoanalytische Wissen? Welche professionellen Erkenntnismethoden hat die Psychoanalyse entwickelt, um sich dem Unbewussten, sprachlich nicht Repräsentierten und aus dem Bewusstsein Verbannten anzunähern? Diese Fragen werden im Folgenden erläutert, denn gerade schwere Traumatisierungen entziehen sich der Symbolisierung und Versprachlichung und daher auch der direkten Kommunikation mit anderen, etwa mit den eigenen Kindern. Dadurch werden die Traumatisierungen der Eltern zu einem »organisierenden Faktor« im Leben der Kinder, wie dies von einigen der Autorinnen und Autoren in diesem Buch bezogen auf Familien der Überlebenden der Shoah beschrieben wird (vgl. z. B. Werner Bohleber, S. 25 ff.; Ilany Kogan, S. 106 ff.). Inzwischen wurde auch bei anderen Patientengruppen festgestellt, dass schwere Traumatisierungen auf kommende Generationen übertragen werden (z. B. Radebold, Heuft u. Fooken, 2006; Leuzinger-Bohleber, 2003; Negele et al. und Fritzemeyer et al. in diesem Buch). Auch bei vielen Kindern von schwer traumatisierten Geflüchteten, die wir im Rahmen des Projekts STEP-BY-STEP in

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der psychosozialen Sprechstunde sehen, ist zu befürchten, dass die schweren Traumatisierungen der Eltern, die ins Unbewusste verbannt werden, zu einem »organisierenden Faktor« im Leben ihrer Kinder werden. Daher berichte ich im Folgenden von einer Analysandin, deren Leben – wie Haydée Faimberg (1987) dies für Angehörige der zweiten Generation von Überlebenden der Shoah beschreibt – teleskopisch mit dem Leben ihrer Mutter verbunden war. Die inneren Grenzen zwischen ihnen waren verwischt. Sie hatte sich weder in der äußeren noch in der inneren Realität von ihr separieren können und war im Begriff, diese Problematik auch an ihre Tochter weiterzugeben. Der »Zivilisationsbruch Auschwitz« darf durch die Vergleiche von Mechanismen der transgenerativen Weitergabe von schweren Traumatisierungen bei verschiedenen Patientengruppen auf keinen Fall relativiert werden und die kategorischen Unterschiede im Leiden der Opfer einerseits und in den Erfahrungen der Täter oder Mitläufer andererseits darf in Deutschland nicht aufgeweicht werden.3 Es scheint mir trotzdem wichtig, Denk- und Diskussionsräume zu öffnen, um diese Mechanismen der Weitergabe – sowohl in ihren Unterschieden als auch in gemeinsamen Anteilen – bei verschiedenen Gruppen schwer Traumatisierter zu untersuchen. Je präziser wir verstehen, wie schwere oder extreme Traumatisierungen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, desto eher können wir bei Geflüchteten heute durch präventive und therapeutische Angebote dazu beitragen, dass sie ihre erlittenen Traumatisierungen ansatzweise zu symbolisieren und zu kommunizieren versuchen. Damit kann im besten Fall die Wahrscheinlichkeit einer ungebrochenen Weitergabe der erlebten Traumatisierungen an die nächste Generation verringert werden.

3 Ein Versuch, diese kategorialen Unterschiede auch sprachlich festzuhalten, ist zum Beispiel, dass der Begriff »Extremtraumatisierung« ausschließlich für die Opfer der Shoah verwendet wird.

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»Embodied« Gegenübertragungsreaktionen im Erstinterview – Schlüssel zum nichtrepräsentierten Trauma? Freud schrieb 1914 in »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten«: »Vor allem beginnt er [der Patient] die Kur mit einer solchen Wiederholung. […] Natürlich wird uns das Verhältnis dieses Wiederholungszwanges zur Übertragung und zum Widerstande in erster Linie interessieren. […] Je größer der Widerstand ist, desto ausgiebiger wird das Erinnern durch das Agieren (Wiederholen) ersetzt sein« (1914g, S. 130).

Seit Freud haben sich Generationen von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern damit beschäftigt, wie unverarbeitete, unbewusste Konflikte der Vergangenheit die Gegenwart bestimmen, in der Übertragung wiederholt und sukzessiv in einen heilenden Erinnerungsprozess überführt werden können. Zumeist handelte es sich dabei um symbolisch repräsentierte und verdrängte Erinnerungen bzw. Muster von Beziehungen. Doch gerade schwere Traumatisierungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich einer Symbolisierung und seelischer Repräsentanz entziehen. Daher befassen sich die Theorie und Klinik der Psychoanalyse seit einigen Jahren mit seelischem Material, das auf andere Weise in der analytischen Beziehung gegenwärtig ist. »Unrepresented states and the construction of meaning« nannten Levine, Reed und Scarfone (2013) ihren Sammelband, in dem sie André Green würdigen und aus heutiger Sicht auf die Frage nach der Sinnfindung von Unrepräsentiertem fokussieren. Green (2004) hat mit seinem breit rezipierten Konzept der »toten Mutter« beschrieben, dass frühe, nicht zu verarbeitende Trennungen vom Primärobjekt zu einer Identifikation mit diesem Objekt, zu einem Besetzungsrückzug und damit zu einem Verschwinden der inneren Repräsentanzen führen, was in der Übertragungsbeziehung von Analytikern als eine Leere, eine negative Halluzination des Objekts, »a representation of the absence of representation« (Green, 1999, S. 196, zit. nach Reed, 2013, S. 39), wahrgenommen werden kann. Reed (2013, S. 29 ff.) weist darauf hin, dass die negative Halluzination des Objekts – ein leerer Spiegel – bei diesen Patienten und Patientinnen im Grunde genommen immer da ist, aber oft nur

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in den extremen Reaktionen der Analysanden auf Trennungen von ihren Analytikern/Analytikerinnen beobachtbar wird. Green beschäftigte sich mit dem Prozess der Desobjektalisierung, das heißt der Auslöschung von Repräsentanzen. Andere psychoanalytische Forscherinnen und Forscher konzentrierten sich dagegen auf das seelische Material, das nur unzureichend oder überhaupt noch nie einen Prozess der Symbolisierung durchlaufen hat, wie dies bei manchen schwer Traumatisierten zu beobachten ist. Dominique Scarfone (2013) legt eine konzeptuelle Integration verschiedener Formen von seelischer Repräsentation und ihrer unterschiedlichen psychoanalytischen Konzeptualisierungen vor.4 Er vergleicht die Zeichentheorie von Pierce mit Freuds Auffassung von Primär- und Sekundärprozessen, mit Lacans Theorie des Realen, des Imaginären und des Symbolischen, mit Bions Beta- und Alpha-Elementen, mit Laplanches infantilen Sexualtheorien und deren Entschlüsselung im analytischen Diskurs und mit Piera Aulagniers Konzept des »primary«, wie etwa der »primary violence«, die in Szene gesetzt wird (»mise en scène«) und sich schließlich dem sekundärprozesshaften Diskurs erschließen kann: ein brillantes Beispiel heutiger psychoanalytischer Konzeptforschung. Ich möchte einen anderen Weg gehen, indem ich einige Studien aus dem Bereich der Grundlagenwissenschaften, konkret der Embodied Cognitive Science und der kognitiven Neurowissenschaften heranziehe. Ich hoffe damit aufzeigen zu können, dass diese Disziplinen erste Erklärungsmodelle für das klinisch wichtige Phänomen anbieten, wie spontane Einfälle der Analytikerinnen und Analytiker – zum Beispiel in einer Initialszene im Erstinterview – entstehen, 4 Scarfone betont, dass die Auffassungen von Freud, wie er sie in »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (1914 g) skizziert, durchaus mit den in dieser Arbeit diskutierten, auf Erkenntnissen der modernen Neurowissenschaften beruhenden Konzeptualisierungen von Erinnerungsprozessen kompatibel sind: »The act of representing is now called ›remembering‹, presented as the main goal of psychoanalytic work, but one gets a clear sense that such remembering is not the mere recalling or evoking. A close reading of the paper – with Freud’s theory of memory (Freud, 1896a, 1899a) and its resonance with modern neuroscientific models (Edelman, 1989) in the background – indicates that memory is not a static storage space where ›files‹ can be retrieved. It is really a living process, perceptually refigurating itself as new elements accrue, so that ›remembering‹ in the present context is really a re-composing of the whole psychic field« (Scarfone, 2013, S. 77).

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die einen entscheidenden Schritt zum Verstehen von bisher nichtrepräsentiertem seelischem Material besonders bei traumatisierten Patientinnen und Patienten darstellen und sie damit einer psychoanalytischen Bearbeitung zugänglich machen können.5 Damit soll, wie bereits erwähnt, eine neue Perspektive auf bekannte Konzepte geworfen werden, wie zum Beispiel auf das »szenische Verstehen« (Argelander, Lorenzer), aber auch auf das »Hören mit dem dritten Ohr« (Reik), das »Cracking-up« (Bollas) oder die »now moments« der Boston Change Process Study Group. Zudem werden Aspekte aktueller Diskurse zur intersubjektiven Psychoanalyse und zum Enactment berührt sowie das, um die sinnliche Körperlichkeit der Analytiker/-innen erweiterte, Verständnis von Gegenübertragung (vgl. dazu auch Scharff, 2010). Auch Bezüge zu Arbeiten zur Musikalität, zur dynamisch-emotionalen Syntax und zur Performanz der analytischen Beziehung sind naheliegend (vgl. dazu u. a. Dantlgraber, 2008; Leikert, 2013; Buchholz u. Gödde 2013). Das klinische Beispiel aus einem Erstinterview nehme ich als Ausgangspunkt, um im Folgenden zu zeigen, wie sich diese neueren interdisziplinären Konzeptualisierungen des Gedächtnisses und des Erinnerns als fruchtbar erweisen.6

Enactment, Gegenübertragung und szenisches Verstehen im Erstinterview: Ein Beispiel Bevor ich die Tür richtig öffnen kann, stürmt Frau M. in den Flur. Sie greift stürmisch nach meiner Hand, nimmt sie in einer merkwürdig sexuell stimulierenden Weise zwischen ihre eigenen Hände und tritt mir dabei sehr nahe, meine normale Intimdistanz über5 Ich beziehe mich dabei vor allem auf gemeinsame Arbeiten mit Rolf Pfeifer, der die Wende zur Embodied Cognitive Science wesentlich mitbestimmt hat (vgl. u. a. Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, 2002, 2013a, 2013b). Allerdings kann ich in dem begrenzten Rahmen dieses Beitrags die komplexen und herausfordernden wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Problemstellungen, die mit diesem Dialog verbunden sind, nicht erörtern (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, Emde u. Pfeifer, 2013; Hagner, 2008; Hampe, 2003; Gallese, 2013b). 6 Aus Diskretionsgründen muss ich auf Fallmaterial zurückgreifen, das ich bereits 2008 für eine Publikation benutzt habe.

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schreitend: »Hallöchen … Ich bin so froh, dass ich mit Ihnen sprechen kann.« Ich trete intuitiv zwei Schritte zurück und beobachte sogleich eine intensive negative emotionale Reaktion, verbunden mit aversiven Körperreaktionen: Was für eine überwältigende Frau! Das ist mir zu viel. Sie rückt mir zu sehr auf die Pelle … Warum habe ich ihr einen Termin angeboten? Werde ich sie je wieder wegschicken können? Sie scheint mir so bedürftig … Dann fragt sie mich, wo die Toilette sei, und irritiert mich, weil sie die Tür weit offen lässt. Erst als sie auf dem Stuhl vor mir sitzt, nehme ich ihr hübsches, mädchenhaftes Gesicht wahr, das sich um ein auffallend soziales Lächeln bemüht, sowie ihren schönen weiblichen Körper, den sie durch weite Jeans und einen ausgefransten, unscheinbaren Pullover zu verbergen scheint. Sie ist Mitte 40, wirkt aber wie 60. Am Telefon hatte sie mir berichtet, ihr Hausarzt habe ihr geraten, sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Sie sei krank, leide unter einem Burnout-Syndrom mit schweren Depressionen: »Ich kann nicht mehr – seit Wochen kann ich nicht mehr schlafen und kaum noch essen, bin unfähig zu arbeiten – und kann die Jugendlichen, die ich als Sozialarbeiterin betreue, kaum mehr ertragen. Immer wieder breche ich auch vor ihnen in Tränen aus. Ich habe keine Ahnung, was mit mir passiert ist – ich habe immer bestens funktioniert. Nun geht gar nichts mehr.« Als ich sie nach dem Kontext ihres »Zusammenbruchs« frage, erzählt sie, dass ihr jahrzehntelanger Freund ihr angekündigt hatte, er werde in eine andere Stadt ziehen. Zudem setzten ihr die täglichen Auseinandersetzungen mit ihrer 14-jährigen Tochter und ihrer Mutter zu. »Doch dies sind eigentlich Bagatellen – der Freund bedeutet mir im Grunde genommen nicht viel und Streitigkeiten mit einer Pubertierenden sind ja wohl mehr als normal. Ich verstehe nicht, warum ich in ein so tiefes Loch gefallen bin … Nichts macht mehr Sinn. Ich habe keine Kraft mehr …« Wie im Folgenden erläutert wird, war das auffallende Interaktionsverhalten von Frau M. durch »embodied memories«7 determi7 Bisher wird in der deutschen Fachliteratur der englische Ausdruck »embodied memories« verwendet. Elisabeth Vorspohl hat – unter anderem in ihrer Übersetzung der Arbeit von Gallese (2013a, 2013b) – »embodied« als »verkörpert«

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niert, die die Anfangsszene im Erstinterview unbewusst prägten und zu der heftigen Gegenübertragung der Analytikerin führten. Unter anderem werden Erkenntnisse aus Studien zu den Spiegelneuronen beigezogen, um zu erklären, dass in der Initialszene und den darin evozierten »embodied« Gegenübertragungsreaktionen durchaus ein erstes, unbewusstes Verstehen von traumatischen frühen Objektbeziehungen, die Frau M. im Erstinterview in der Übertragung wiederholte, enthalten war. Allerdings konnte dieses »unbewusste Verstehen« erst im dritten Jahr der Psychoanalyse mit Frau M. der bewussten Erinnerung und damit dem analytischen Durcharbeiten erschlossen werden, wie wiederum bezugnehmend auf Ergebnisse der Embodied Cognitive Science diskutiert wird.

Den Körper in der Seele entdecken – ein altes Problem und ein revolutionäres Konzept Was sind »embodied memories«? Marcel Proust hat mit seinem berühmt gewordenen Beispiel der Madeleine in seinem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« die Grundidee des Embodiments lange vor der »Embodied Revolution« mit einer bewundernswerten Genauigkeit beschrieben: »Gleich darauf führte ich, ohne mir etwas dabei zu denken, doch bedrückt über den trüben Tag und die Aussicht auf ein trauriges Morgen, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. […] Zehnmal muß ich es wieder versuchen, mich zu ihm hinunterbeugen. Und jedesmal rät mir die Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe, von jeder bedeutenden Leistung fernhalten will, das Ganze auf sich beruhen wiedergegeben (z. B. »verkörperte Simulation«), doch hat sich diese Übersetzung bisher nicht durchgesetzt.

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zu lassen, meinen Tee zu trinken im ausschließlichen Gedanken an meine Kümmernisse von heute und meine Wünsche für morgen, die ich unaufhörlich und mühelos in mir bewegen kann. Und mit einem Mal war die ­Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine, das mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie es in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte« (Proust, 1913/2004, S. 67, S. 69 f.; Hervorh. M. L.-B.).

Erinnerungen werden plötzlich – »mit einem Mal« – in einer bestimmten Situation erzeugt, die Analogien zu einer früheren Situation aufweist. Diese Analogien werden nicht kognitiv erkannt, sondern durch (unbewusste) Wahrnehmungen verschiedener Sinneskanäle. Die Embodied Cognitive Science spricht hier von »sensomotorischen Koordinationen«. Sie sind nicht in irgendeiner Form gespeichert, sondern werden in der Gegenwart im Körper konstruiert und rekategorisiert. Im Gegensatz dazu wurden im Repräsentanzenmodell der Psychoanalyse und in der Computermetapher der »klassischen« Cognitive Science, aber auch, wie Gallese (2013b) diskutiert, in der »Eine-Person-Perspektive« der analytischen Philosophie ganz allgemein, Gedächtnis, Erinnerung und »Mindreading« lange Zeit fälschlicherweise als Prozesse verstanden, in denen (statisch) gespeichertes Wissen aus dem Langzeitgedächtnis in einer aktuellen Problem­ lösungssituation ins Kurzzeitgedächtnis transferiert und dort abgerufen wird. Aristoteles’ berühmter Vergleich des Gedächtnisses mit einer Wachstafel, in die sich die Erfahrungen einschreiben, scheint bis heute fortzuleben, wie manche Lehrbücher der Klinischen Psychologie bezeugen. Auch in den populären Sprachgebrauch ist diese (falsche) Vorstellung von Gedächtnis eingegangen: »Wir rufen gespeichertes Wissen ab« oder »Wir suchen im Gedächtnis nach einem vergessenen Namen« wie nach einem Mantel an einer Garderobe. Forscherinnen und Forscher der Embodied Cognitive Science entwickelten sukzessiv alternative, adäquatere Vorstellungen von Gedächtnis und menschlichem Problemlösen, indem sie sich vor allem von den sogenannten »Life Sciences«, der Biologie, der Genetik, der empirischen Entwicklungsforschung und den modernen Neurowissenschaften, anregen ließen.

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Embodiment – eine neue, grundlagentheoretische Sichtweise des »Leib-Seele-Problems« Gedächtnis als eine Funktion des gesamten Organismus Der Unterschied zwischen den neuen, biologisch inspirierten und den »klassischen« Gedächtnismodellen wurde von Gerald Edelman (z. B. 1995) beschrieben und ist in Abbildung 1 veranschaulicht (vgl. dazu auch Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, S. 897 ff.). Bei herkömmlichen Gedächtnismodellen geht man – analog zur Informationsverarbeitung in Computern – von einer präzisen Wissensspeicherung aus, die aber statisch und unveränderlich ist und daher kaum einen Transfer auf neue Problemlösungssituationen ermöglicht. Hingegen ist die »Wissensspeicherung« in den dynamischen Modellen der Embodied Cognitive Science zwar ungenauer, ermöglicht aber gerade optimale Generalisierung und Adaption an neue Situationen (s. Abbildung 1). Dabei entstehen aus den funktionalen Kreisläufen der ständigen Interaktionen des Organismus mit seiner Umwelt sogenannte neuronale Karten. »Diese bestehen aus einigen 10.000 Neuronen, die funktionell in einer Richtung arbeiten. So hat jedes Wahrnehmungssystem, z. B. der Sehapparat, die Sinnesoberfläche Haut etc., eine Vielzahl von Karten angelegt, die durch qualitativ verschiedene Eindrücke gereizt werden: Farbe, Berührung, Richtung, Wärme etc. Diese Karten sind untereinander durch parallele und reziproke Fasern verbunden, die für den erneuten und wiederholten Eintritt, Durchlauf und Austausch von Signalen sorgen. Werden durch Reize Gruppen von Neuronen einer Karte selektiert, erfolgt gleichzeitig eine Stimulation der mit ihnen verbundenen Karten. Aufgrund der reziproken Verbindungen (›reentry‹) werden die Nervenimpulse rückgeführt, wodurch die Verstärkung bzw. Schwächung von Synapsen in den neuronalen Gruppen jeder Karte erfolgt: Auch die Verbindungen der Karten selbst erfahren eine Modifizierung. Dadurch entstehen neue, selektive Eigenschaften, mit anderen Worten, ›automatische‹ Rekategorisierungen aktueller Stimuli aus unterschiedlichen Sinneskanälen« (Leuzinger-­ Bohleber u. Pfeifer, 1998, S. 898 f.).

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Alte Sicht Replikativ

Adresse

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Gespeicherte Daten

Input Output

Neue Sicht Dynamisch Input Output ZEIT

Ähnlicher Input Ähnlicher Output Abbildung 1: Vergleich der »klassischen« und der »embodied« Erinnerungen adaptiert nach Gerald Edelman (1995)

Durch diese »sensomotorischen Koordinationen«, verbunden mit ständigen Rekategorisierungen, sichert sich der Organismus selbst fortlaufend die Fähigkeit, sich in der Interaktion mit der Umwelt zu orientieren, das heißt, die aktuelle Erfahrung mit früheren in Verbindung zu setzen, indem die bisherigen Rekategorisierungen aufgrund der erhaltenen Stimuli an die neue Situation adaptiert werden. In der Embodied Cognitive Science wird daher heute, aufgrund des eben skizzierten radikalen konzeptuellen Umdenkens, Gedächtnis als eine Funktion des gesamten Organismus verstanden. Als ein Produkt komplexer, dynamischer, rekategorisierender

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und interaktiver Prozesse, die immer »embodied« sind (vgl. u. a. Leuzinger-­Bohleber u. Pfeifer, 2013a). Gerald Edelman mit seinem Buch »Unser Gehirn – ein dynamisches System« (1993), Antonio Damasio mit »Descartes’ Irrtum« (1995), Lakoff und Johnson mit »Philosophy in the flesh. The embodied mind and its challenge to western thought« (1999) und Pfeifer und Bongard mit »How the body shapes the way we think« (2007) sind einige der bekanntesten Beispiele, die zeigen, dass Descartes’ Dualismus von Geist und Körper revidiert werden muss, eine Einsicht, die seit den 1990er Jahren leidenschaftliche philosophische, wissenschaftstheoretische und -methodische Diskurse evoziert hat: »There exists no Kantian radically autonomous person, with absolute freedom and a transcendent reason that correctly dictates what is and isn’t moral. Reason, arising from the body, doesn’t transcend the body. What universal aspects of reason there are arise from commonalities of our bodies and brains and the environments we inhabit. The existence of these universals does not imply that reason transcends the body. Moreover, since conceptual systems vary significantly, reason is not entirely universal. Since reason is shaped by the body, it is not radically free, because the possible human conceptual systems and the possible forms of reason are limited« (Lakoff u. Johnson, 1999, S. 5; vgl. auch Buchholz u. Gödde, 2013).

Interaktion mit der Umwelt: eine neue Sicht auf das Nature-nurture-Problem Wie eben gezeigt, konstituieren sich psychische Prozesse aus der Sicht der Embodied Cognitive Science immer nur durch adaptive, re-kategorisierende Interaktionen des Subjekts mit der Umwelt, in denen Gedächtnis aktiv konstruiert wird. Ein weiteres zentrales Postulat ist, dass sich der Organismus in dauernder Veränderung befindet. Dazu möchte ich ein Beispiel aus dem für die Psychoanalyse hoch interessanten Forschungsgebiet der Epigenetik geben, die dank der technischen Fortschritte der Molekulargenetik in den letzten Jahren eine Fülle von Studien hervorgebracht hat und für die Thematik dieses Buchs relevant ist. Auch nachgewiesene genetische Vulnerabilitäten sind für die Betroffenen noch kein Schicksal, sondern

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werden erst dann wirksam, wenn belastende frühe Umwelt- bzw. Beziehungserfahrungen (z. B. unter erschwerenden Bedingungen von Flucht und Migration) hinzukommen. So erregten unter anderem Studien von Caspi et al. (2003) und Hauser (2008), die eine genetische Vulnerabilität bei Depressiven durch das sogenannte verkürzte 5-HHT-Allel des Serotonintransportergens nachweisen konnten, viel Aufsehen. Sie zeigten, dass Menschen mit diesem Genotyp nur dann mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Depression erkrankten, wenn sie anhaltenden belastenden Lebensumständen oder frühen Traumatisierungen ausgesetzt gewesen waren. Kaufman et al. (2006) und Goldberg (2009) konnten zudem zeigen, dass ein responsives, empathisches mütterliches Verhalten in den ersten Lebensmonaten einen protektiven Faktor darstellt, wodurch das Risiko, an einer Depression zu erkranken, auch bei nachgewiesener genetischer Vulnerabilität, verringert wird (vgl. auch Suomi, 2011). Wie wir an anderer Stelle ausführlich diskutiert haben, büßen Eltern unter den traumatisierenden Bedingungen von Flucht und Vertreibung oft als Erstes ihre empathischen Fähigkeiten ein, sich in kindliche Bedürfnisse einzufühlen. (z. B. Leuzinger-Bohleber u. Lebiger-Vogel, 2016). Diese epigenetischen Studien bestätigen die psychoanalytische Grundthese einer ständigen und determinierenden Interaktion zwischen Genetik und Umwelt, zwischen Biologie und sozialer Erfahrung, besonders in der frühen und frühesten Kindheit. Die Entwicklungsperspektive der Embodied Cognitive Science differenziert diese allgemeinen Thesen, indem sie unter anderem empirisch nachweist, dass die Interaktion des Organismus mit der Umwelt nicht, wie man sich dies lange vorgestellt hat, ausschließlich durch ein »genetisches Programm« gesteuert wird, sondern durch eine ständige dynamische und »embodied« Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt, und zwar von Anfang an. Das möchte ich im Folgenden weiter ausführen.

Embodiment, Selbstregulation und »Learning by Doing« Wie radikal die Sichtweise selbstregulatorischer Prozesse des Embodiment-Konzeptes unser bisheriges Verständnis psychischen Funktionierens infrage stellt, wurde unter anderem mit einem Experi-

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ment aus der Grundlagenforschung von Pfeifer und Bongard (2007, S. 196–204) illustriert: Um die Auswirkungen von sensomotorischen Koordinationen und das Prinzip der Selbstregulation zu untersuchen, bauten die Forscher in einem Experiment eine Molekülkette nach, die aus motorischen und sensorischen Elementen (»Zellen«) und Bindeelementen bestand.8 Durch die Verbindung zwischen sensorischen und motorischen Elementen kann sich eine solche Molekülkette wie eine Raupe in Bewegung setzen, ohne dass sie einem entsprechenden (genetischen) Steuerungsprogramm folgt. Die sensorische Stimulation bewegt das motorische Element, das daraufhin das sensorische Element verschiebt etc. Die Forscher ließen eines Abends ihr Experiment liegen und entdeckten zu ihrer Überraschung am nächsten Morgen, dass sich ein faszinierendes, komplexes Gebilde an neuen Zellstrukturen entwickelt hatte. Dies war der grundlagentheoretische Nachweis des Embodiments, das heißt eines selbstorganisierenden Prinzips, das durch »Learning by Doing« (John Dewey, z. B. 1986) – nämlich durch sensomotorische Koordinationen, die sich ohne (zentrale) Steuerung vollziehen  – eine Zellstruktur ausbildet, die in dem Sinne »intelligent« ist, als sie selbstorganisiert im Laufe der Zeit intelligentes Verhalten hervorbringt (im Experiment: ein H ­ indernis verschiebt).9

Welche Einsichten können durch diese Experimente gewonnen werden? 1. Biologische Systeme sind selbstorganisiert und entwickeln »intelligente« Körper, das heißt Strukturen, indem sie – ohne zentrale Steuerung (ohne Homunkulus) – durch sensomotorische Koordinationen mit der Umwelt interagieren. 8 Wie in der Embodied Cognitive Science üblich, konstruierten die Forscher sensorische und motorische Elemente, in die sie charakteristische Merkmale sensorischer bzw. motorischer Zellen implementierten, deren Veränderungen im Laufe des Experiments systematisch mitbeobachtet wurden (vgl. dazu Pfeifer u. Bongard, 2007, S. 177–211). 9 Ein Kurzfilm zu diesem Experiment findet sich auf der Website des Artificial Intelligence Lab der Universität Zürich: http://www.ifi.uzh.ch/ailab.html.

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2. Bei (biologischen) Lebewesen findet Lernen immer gleichzeitig sensomotorisch (im Körper) und im Gehirn (in neuronalen Netzwerken) statt. 3. Lernen, Problemlösen und Gedächtnis sind daher nicht Funktionen einer »Speicherung im Gehirn«, sondern immer das Produkt komplexer, selbstgesteuerter, sensomotorischer Koordinationen. 4. Psychische Prozesse, wie »unbewusste Erinnerungen« oder in einer bestimmten Situation evozierte Affekte und Phantasien, werden im Hier und Jetzt einer Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt »konstruiert«: Denken, Fühlen und Handeln entstehen daher nur interaktiv. Das Subjekt kann nicht abgeschlossen in sich, quasi in einer autistischen Kapsel, lernen und sich weiterentwickeln, es braucht die Interaktion mit der Umwelt. 5. Auch Kategorien, Grundlage jedes Lernens und Verstehens, entwickeln sich nicht durch das Abrufen oder durch Modifikationen gespeicherten Wissens. Sie werden automatisch durch sensomotorische Koordinationen hervorgebracht (spontan »konstruiert«). – Weil dies für unser Thema des Verstehens von NichtRepräsentiertem in einer diagnostischen Situation entscheidend ist, soll noch auf ein anderes Experiment hingewiesen werden: Geben wir einem etwa einjährigen Kind in die eine Hand einen roten Gummiball und in die andere Hand einen braunen Schokoriegel, wird es beide mehrere Male in den Mund nehmen – aber schon nach zwei, drei Versuchen den Schokoriegel vorziehen. Durch die sensomotorischen Koordinationen – das Learning by Doing – hat es, ohne dass ihm dies ein Erwachsener erklärt hätte, das heißt ohne die Zuhilfenahme kognitiver Schemata, Kategorien gebildet: Das braune, längliche Ding schmeckt gut, kann man essen – auf das rote, runde Ding kann man zwar beißen, aber es schmeckt nicht, man kann es nicht essen! Irgendwann kommentiert die Mama dann: »Na, schmeckt die Schokolade?« und nun assoziiert das Kind zu seiner selbst gebildeten Kategorie auch noch den sprachlichen Begriff. Wie dieses Beispiel zeigt, bietet das Konzept des Embodiments einen Lösungsversuch für eines der zentralen Probleme der Entwicklungspsychologie an – nämlich den frühen vorsprachlichen Erwerb von Kategorien und schließlich auch von Symbolen und Sprache (vgl. dazu Leuzinger-­Bohleber u. Pfeifer, 2013b).

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6. Das Konzept des Embodiments ist in dem Sinne radikal »historisch«, als psychische Prozesse in der Gegenwart immer als das Produkt von sensomotorischen Koordinationen analog zu solchen in der idiosynkratischen Vergangenheit des Subjekts ablaufen: Die Vergangenheit prägt unweigerlich – und zwar meist unbewusst – Gegenwart und Zukunft. 7. Da jede neue Erfahrung die sensomotorischen Koordinationen weiterentwickelt, werden frühere Erfahrungen ständig umgeschrieben. Die »historische Wahrheit« kann daher aufgrund eines bestimmten Verhaltens in der Gegenwart nie eins zu eins rekonstruiert werden. Zugespitzt formuliert: Dies ist der subjektive Anteil jeder psychischen Erfahrung. Doch sind in den sensomotorischen Koordinationen durchaus die vergangenen realen Erfahrungen »objektiv« im Körper enthalten (»embodied«) und könnten prinzipiell, zum Beispiel mithilfe neurobiologischer Methoden, gemessen werden. Daher haben psychische Erfahrungen, wie etwa Erinnerungen, immer sowohl eine »subjektive« als auch eine »objektive« Seite.10

Ein neuer Blick auf frühe Entwicklungsprozesse und frühe Elternschaft (»early parenting«) unter den erschwerenden Bedingungen von Migration, Flucht und Trauma Gerald Edelman erläutert mit seiner Theorie des »neuronalen Darwinismus« die bereits erwähnte zentrale These der Embodied Cognitive Science, dass sich das neuronale Netzwerk in einer ständigen, dynamischen Entwicklung befindet (vgl. Abbildung 1, S. 209). Schon während der Embryonalzeit führen Umwelterfahrungen im 10 Die hier skizzierten Konzepte des Embodiments wurden inzwischen sowohl in der psychoanalytischen als auch der nichtpsychoanalytischen Community breit rezipiert, worauf aber in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden kann. Zudem kann ich auf die intensive Forschung zu einem embodied Verständnis früher Entwicklungsprozesse und deren Langzeitfolgen an dieser Stelle nur verweisen (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, 2015; Leuzinger-Bohleber, Emde u. Pfeifer, 2013).

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Uterus zu einer Entwicklungsselektion und damit zur Bildung des primären Repertoires. Der Einfluss der Umwelt, das heißt der sozialen Beziehungen, verstärkt sich im ersten Lebensjahr: Die Erfahrungsselektion führt zur Bildung des sekundären Repertoires. All diese Prozesse entsprechen den Prinzipien eines »neuronalen Darwinismus«: Erfolgreich genutzte Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden verstärkt – nicht genutzte verkümmern und sterben ab (vgl. Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, S. 897 ff.). Wichtig ist die reziproke Kopplung von Karten aufgrund der sensomotorischen Koordinationen. Embodiment bedeutet daher, dass die sozialen Erfahrungen durch die entstandenen sensomotorischen Koordinationen ihren nachhaltigen Niederschlag finden und buchstäblich in die Hardware von Körper und Gehirn eingehen. Daher sprechen führende Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler heute vom »social brain«. Sie müssten allerdings immer auch ergänzen, dass dieses »social brain« nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern Teil eines »social body« ist; eine Position, die den »intersubjective turn« in der Psychoanalyse interdisziplinär abstützt (vgl. dazu Gallese, 2009, 2013b; Knox, 2009; Fuchs, Sattel u. Henningsen, 2010). »Embodied« bedeutet daher weit mehr als einfach nur »nonverbal« oder im Körper begründet: Gedächtnis entsteht durch eine Kopplung sensorischer und motorischer Prozesse, die sich – ohne zentrale Steuerung – gegenseitig beeinflussen. Diese Kopplung wird durch neuronale Karten, die im sensomotorischen System des Organismus eingebettet sind, biologisch implementiert. So beschreibt etwa Clancey (1994) Gedächtnis als die Fähigkeit, neurologische Prozesse so zu koordinieren und sensorische und motorische Vorgänge so zu kategorisieren, wie dies in einer analogen früheren Situation geschah. Diese zentrale These der Embodied Cognitive Science wurde durch die Entdeckung der Spiegelneuronen11 bei Makaken durch 11 Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die im Gehirn von Primaten beim Betrachten eines Vorgangs die gleichen Aktivitätsmuster aufweisen wie diejenigen, die diese Aktion selbst aktiv durchführen. Rizzolatti, Fadiga, Fogassi und Gallese (2002) brachten die Existenz des Spiegelneuronensystems (Brodmann-Areal [BA] 44) beim Menschen in Verbindung mit »action recognition« und Imitation. Seither wurden viele Studien durchgeführt, die die Bedeutung der Spiegelneuronen für Empathie, »theory of mind«, »facial emotion processing« etc. belegen (vgl. auch

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Giacomo Rizzolatti und seine Mitarbeiter weiter abgestützt (di Pelle­ grino, Fadiga, Gallese u. Rizzolatti, 1992). Ihre Erkenntnisse sind inzwischen durch zahlreiche Experimente auch für den menschlichen Säugling nachgewiesen. Diese Studien sensibilisieren dafür, dass der Säugling durch frühe Identifikationsprozesse mit seinen ersten Beziehungspersonen (mithilfe der Spiegelneuronen) geprägt wird, lange bevor er Bewusstsein und Sprache entwickelt. Diese frühesten Identifikationen schlagen sich in den sensomotorischen Koordinationen (Karten etc.) nieder, die spätere Interaktionen bestimmen. Gallese (2013b) hat die Bedeutung der Spiegelneuronen für frühe »embodied« Interaktionsprozesse darüber hinaus auch für eine intersubjektive Betrachtung emotionaler, sozialer und therapeutischer Austauschprozesse diskutiert: »Die Entdeckung des für Aktionen zuständigen Spiegelungsmechanismus führte zu der Hypothese, dass die Spiegelneuronen womöglich nur die Spitze eines gewaltigen, bislang unentdeckten Eisbergs bilden, der sich im Bereich der Emotionen und körperlichen Empfindungen verbirgt […]. Diese Hypothese wird durch empirische Funde gestützt« (S. 95).

Und weiter: »In ihrer Gesamtheit legen diese Ergebnisse nahe, dass ein wichtiger Aspekt der Intersubjektivität bei der Beobachtung des Ausdrucks fremder Emotionen und Sensationen als Wiederverwendung derselben Schaltkreise verstanden werden kann, die unseren eigenen emotionalen und sensorischen Erfahrungen zugrunde liegen […]. Man hat die These vertreten, dass ein gemeinsamer funktionaler Mechanismus, nämlich die ›verkörperte Simulation‹ (ES = Embodied Simulation), diese Vielfalt intersubjektiver Phänomene kohärent und neurobiologisch plausibel zu erklären vermag« (S. 97; Hervorh. M. L.-B.).

Die vielen inzwischen durchgeführten Studien zu den frühen, vorsprachlichen Prozessen der Identifizierung des Säuglings mit den primären Bezugspersonen entsprechen der psychoanalytischen AufBauer, 2006). Bekannt geworden sind Videoaufnahmen eines erst zehn Minuten alten Säuglings und seines Vaters. Dieser streckte wiederholt die Zunge heraus – nach kurzer Zeit imitierte der Säugling dieses Verhalten.

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fassung, dass die frühen Objektbeziehungen sich in der Grundmelodie der Seele niederschlagen. Bekannt geworden ist das sogenannte »Still-Face-Experiment« (Tronick, 2003), das empirisch in eindrucksvoller Weise belegt, wie sehr die psychische Befindlichkeit des Säuglings von einer resonanten, affektiv stimmigen Interaktion mit seiner Mutter abhängt. Eine Mutter wird gebeten, nach einer Sequenz einer »üblichen«, affektiv resonanten Spielsequenz mit ihrem ca. einjährigen Baby zwei Minuten lang keine mimische Reaktion, ein »still face«, zu zeigen. Das Baby reagiert sofort, versucht zuerst mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die Mutter zu ihrem »normalen« Interaktionsverhalten zurückzubewegen. Als ihm dies nicht gelingt, reagiert es sichtbar irritiert, wendet sich ab und fängt schließlich an, bitterlich zu weinen. Empirisch und klinisch gut untersucht ist das frühe Interaktionsverhalten von depressiven Müttern mit ihren Babys (vgl. u. a. Stern, 2010; Beebe u. Lachmann, 2004; Feldman, 2012; Rutherford, Goldberg, Luvten, Bridgett u. Mayes, 2013). Durch die Depression sind Einfühlung und emotionale Resonanz der Mütter auf die individuellen Bedürfnisse des Säuglings stark eingeschränkt oder fehlen ganz. Daniel Stern hat eindrücklich beschrieben, dass Säuglingen depressiver Mütter keine andere Wahl bleibt, als sich mit den Affekten ihrer »toten Mutter« zu identifizieren, um überhaupt Nähe zu ihrem Primärobjekt herzustellen. Eine der vier von ihm beschriebenen möglichen langfristigen Copingstrategien, die die werdende Persönlichkeit stark prägen, ist das Ausbilden eines »falschen Selbst«, wie es bei der anfangs erwähnten Patientin, Frau M., zu beobachten war (vgl. dazu im Folgenden und Leuzinger-Bohleber, 2003). Mit anderen Worten: Die in den frühen Objektbeziehungserfahrungen mit dem depressiven, traumatisierten Primärobjekt erworbenen sensomotorischen Koordinationen werden unbewusst alle späteren Beziehungen determinieren. Wie alle diese Studien zeigen, »triggern« daher die frühen Beziehungserfahrungen die genetische Anlage des Säuglings in spezifischer Weise (vgl. u. a. Hill, 2009; Suomi, 2011; Leuzinger-Bohleber, 2015) und erhalten sich im Sinne des Embodiments im Körper. Da sich in diesen ersten Beziehungen die sensomotorischen Koordinationen bilden, kann ihr prägender Einfluss auf späteres Denken, Fühlen und Handeln in neuen Beziehungen kaum überschätzt wer-

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den. Um dies mit einer Metapher auszudrücken: In den frühesten Beziehungen wird wie bei einer Stradivari der Klangkörper des seelischen Instruments gebaut, der in späteren Beziehungen zum Schwingen gebracht wird. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass sich nur die frühesten Beziehungserfahrungen als »embodied memories« niederschlagen, obschon diese, wie skizziert, die seelische Grundmelodie oder – räumlich gesprochen – die Grundrichtung der sensomotorischen Koordinationen bestimmen, die die weitere Entwicklung einschlägt. Im Sinne eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses werden auch spätere Erfahrungen ständig in den Körper eingehen. Entscheidend sind dabei vor allem traumatische Erfahrungen, die wegen ihrer extremen, psychisch nicht zu verarbeitenden Qualität in jedem Lebensalter die bisherigen sensomotorischen Koordinationen – metaphorisch gesprochen – zum Zusammenbruch bringen und die psychische Selbstregulation, Kreativität und integrative Problemlösung abrupt zusammenbrechen lassen. Um eine Metapher von Edelman aufzugreifen: Unbewusste Erinnerungen an traumatische Objektbeziehungen lösen in späteren, analogen Beziehungssituationen »Gewitter« in Körper und Gehirn aus, die ein reifes psychisches Funktionieren verunmöglichen und die traumatische Erfahrung (wie bei Frau M.) stets wiederholen (vgl. dazu LeuzingerBohleber, 2015; Leuzinger-Bohleber u. Lebiger-Vogel, 2016).

Vertieftes Verständnis von Transformationsprozessen in der Psychoanalyse – eine Voraussetzung für die Unterbrechung der transgenerativen Weitergabe von Traumatisierungen Es ist – wie bereits erwähnt – auch in der heutigen psychoanalytischen Literatur weitgehend ungeklärt, wie es in einer analytischen Situation möglich ist, Nicht-Repräsentiertes einer Analysandin oder eines Analysanden nicht nur zu spüren, sondern in Bilder und Sprache zu fassen und dadurch unbewusstes Wiederholen in einen transformierenden therapeutischen Erinnerungsprozess zu überführen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Assoziationen, die

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spontanen Einfälle der Analytiker/-innen, die häufig einen ersten Schlüssel zum Sinn von bisher völlig Unverstandenem bieten, das in der Übertragung agiert wird. In der analytischen Literatur werden diese spontanen Erkenntnisse und Einfälle oft metaphorisch umschrieben als »turning point« der Behandlung, als »meeting of the minds«, als Kommunikation von Unbewusstem zu Unbewusstem, als »now moments« etc. Auch das hier diskutierte Konzept des »szenischen Verstehens« beschreibt metaphorisch spontane Erkenntnisse zur unbewussten Bedeutung des Verhaltens von Patientinnen bzw. Patienten in der Interaktion mit ihrer Analytikerin oder ihrem Analytiker. Doch liegen bisher, soweit mir bekannt ist, keine plausiblen Erklärungsmodelle für das Zustandekommen dieser Einfälle vor. Genau dies bieten meines Erachtens die in dieser Arbeit zusammengefassten Erkenntnisse der Embodied Cognitive Science an: Wie skizziert, bilden sich Kategorien in Interaktionen des Subjekts mit der Umwelt immer aufgrund sensomotorischer Koordinationen. Das menschliche Gehirn – und die menschliche Seele – befindet sich in einem ständigen Prozess der Rekategorisierung von Erfahrungen. Ohne spontan sich bildende (unbewusste) »Verstehenskategorien« fehlt in einer neuen Situation jede Orientierung. Der Organismus könnte nicht überleben, sich nicht in der Gegenwart zurechtfinden, es gäbe keine adaptiven Reaktionen, keine Problemlösungsprozesse, keine spontan sich einstellenden Erinnerungen, die Gelerntes für die aktuelle Situation fruchtbar machen, kein Lernen (vgl. das erwähnte Experiment von Pfeifer u. Bongard, 2007). Dies gilt auch für die analytische Beziehung. Wie ausgeführt, ermöglicht das Spiegelneuronensystem den Analytikern, sich mit aktuell ablaufenden sensomotorischen Koordinationen (den unbewussten Erinnerungsprozessen) der Analysanden zu identifizieren. Diese Identifikationen kommen im Sinne des Embodiments in der eigenen Gegenübertragung – das heißt im Körper – zur Wirkung. Dadurch werden in der aktuellen Interaktion in der Analytikerin bzw. im Analytiker sensomotorische Koordinationen analog denen der Analysanden aktiviert. Diese Prozesse bringen automatisch, spontan und unbewusst Kategorien hervor, die dank der Identifikation mit unbewusst ablaufenden Prozessen der Erinnerung der Analysanden an frühere, wichtige Beziehungserfahrungen in Zusammenhang stehen. Bei traumatisierten Patientinnen

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und Patienten sind es vor allem Erinnerungen an psychisch unerträgliche Erfahrungen der Überflutung, von extremer Ohnmacht, Verzweiflung, Schmerz, Panik oder Todesangst. Die Analytikerin oder der Analytiker wird – durch die Identifikationsprozesse in den spontan sich bildenden Kategorien – diese durch traumatische Erfahrungen bedingten Reaktionen rekategorisieren, das heißt unbewusst »verstehen«. Allerdings wird die extreme Qualität der traumatischen Erfahrung auch bei ihnen zu einer spontanen Abwehr führen und ein Bewusstwerden zunächst erschweren. Bewusst registrieren sie daher im ersten Kontakt meist eine Mischung aus den unmittelbar sensomotorisch kategorisierten Wahrnehmungen und eigenen Abwehrprozessen, wie das anfangs geschilderte Beispiel von Frau M. illustriert.12 Die (bewussten) Einfälle (»Was für eine überwältigende Frau! Das ist mir zu viel. Sie rückt mir zu sehr auf die Pelle … Warum habe ich ihr einen Termin angeboten?«) enthielten offensichtlich sowohl die Wahrnehmung der überwältigenden Qualität, der durch ein Trauma bestimmten psychischen Realität der Patientin, als auch eigene Abwehrbewegungen. Bei dieser ersten, unbewussten Wahrnehmung der spezifischen traumatischen Erfahrungen der Analysandinnen und Analysanden durch die Analytikerin oder den Analytiker handelt es sich nicht um einen einmaligen Vorgang, sondern es ist ein sich ständig wiederholender komplexer Prozess. Es braucht einerseits die wiederholten

12 In diesen Behandlungen ist es besonders schwer, eine Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit einzunehmen, da die meisten schwer traumatisierten Patienten kaum frei assoziieren können, weil sie – in Umkehr der extremen Hilflosigkeit in der traumatischen Erfahrung – versuchen, passiv Erlittenes in aktiv Zugefügtes zu verwandeln, das heißt, Beziehungen in extremer Weise zu kontrollieren. Dies ist einer der Gründe dafür, warum Psychoanalysen mit dieser Patientengruppe in der Regel sehr lange dauern: Aufgrund der skizzierten Erkenntnisse der Embodied Cognitive Science werden sich die Analytiker/-innen vorerst unweigerlich mit dem extremen Kontrollbedürfnis der Analysanden identifizieren, das heißt, die sensomotorischen Koordinationen in die Gegenübertragung übernehmen, was dazu führt, dass sie zunächst nur »Abwehrkategorien« analog jenen der Analysanden hervorbringen können. Zudem zeigt die klinische Erfahrung, dass erst nach der Durcharbeitung des Traumas in der Übertragung eine Bearbeitung der durch die Traumatisierung übermäßig stimulierten unbewussten Phantasien der Analysanden möglich ist (vgl. u. a. Bohleber, 2012; Leuzinger-Bohleber, 2014).

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Enactments13 in der Übertragung, um durch die Identifikation mit den vielen Variationen der ablaufenden sensomotorischen Koordinationen schließlich die erlittenen Traumatisierungen in der eigenen »embodied« Gegenübertragung immer differenzierter zu rekategorisieren. Andererseits ist es unumgänglich, dass die Analytiker/-innen ihre Abwehr gegen eine mögliche Überflutung durch traumatisches Material der Patienten (unbewusst) bearbeiten, um die unbewusst gebildeten Kategorien über die von den Patienten erlittenen Traumatisierungen schließlich bewusst werden lassen zu können. Wie inzwischen die klinisch-psychoanalytischen Erfahrungen besonders mit schwer traumatisierten Patientinnen und Patienten in vielfältiger Weise belegt haben, wird ein direktes Wiederbeleben der traumatischen Erfahrung in der Übertragung von beiden Beteiligten erst möglich, wenn sich eine tragende, haltende und containende analytische Beziehung entwickelt hat. In der Sprache der Embodied Cognitive Science: In der therapeutischen Interaktion entwickeln sich (neue) sensomotorische Koordinationen, die sukzessiv die Erinnerung an die Tragfähigkeit, das Verstandenwerden durch ein neues Objekt, die Analytikerin oder den Analytiker, aufbauen. Es gehört zu den nachhaltigsten Erfahrungen von schweren Traumatisierungen, dass das Urvertrauen in ein helfendes Objekt total zusammenbricht. Verbunden damit sind unbewusste Überzeugungen und Phantasien, in denen sich die Betroffenen selbst die Schuld an der traumatischen Erfahrung zuschreiben. Daher werden traumatisierte Patienten unbewusst diese »innere Wahrheit« in der Übertragung wiederholen und erst aufgrund alternativer Beziehungserfahrungen allmählich in ihrer Gültigkeit einschränken. Mit anderen Worten, die sensomotorischen Koordinationen können, analog zu den traumatischen Beziehungserfahrungen, nicht gelöscht werden, sie werden immer und immer wieder in der analytischen Beziehung wiederholt, doch können sukzessiv alternative sensomotorische Koordinationen (d. h. alternative neuronale Pfade) aufgebaut werden, die mit den Kategorien »Sicherheit«, »Zuverlässigkeit«, »Verstehen« und »Überleben« verbunden sind. Lange laufen die »alten«, auf der traumatischen Be13 Zum Begriff des Enactments in der neueren Psychoanalyse vgl. Bohleber et al. (2013).

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ziehungserfahrung beruhenden Rekategorisierungsprozesse parallel und unverbunden neben den neuen Rekategorisierungsprozessen her, die sich in der analytischen Beziehung bilden. Erst wenn die neuen Rekategorisierungen schließlich zu einigermaßen stabilen Kategorien wie Vertrauen, Sicherheit etc. geführt haben, werden die beiden Pfade der sensomotorischen Koordinationen (die Karten) miteinander verbunden. Nun kann die Analytikerin oder der Analytiker die bisher unbewusste Kategorie »Trauma« durch einen treffenden, spezifischen Einfall dem Bewusstsein erschließen (Beispiel: sexueller Missbrauch) und dadurch eine Tür zu einem analytischen Bearbeiten der Traumatisierung aufstoßen. Diese komplexen Prozesse sollen an dem klinischen Beispiel veranschaulicht werden.

Fallbeispiel Erst im dritten Jahr der Psychoanalyse erschloss sich die Bedeutung der bereits erwähnten Szene im Erstinterview. Das geschilderte intrusive Verhalten hatte sich in der analytischen Behandlung in vielen Variationen wiederholt (Frau M. benutzte z. B. wiederholt unser privates WC; öffnete die Türen zu unseren Privaträumen; stieg, als das Fenster offen war, in mein Auto, um das Licht auszumachen etc.). Am Tag vor der hier geschilderten analytischen Sitzung hatte mich das intrusive Verhalten von Frau M. erneut stark irritiert. Sie war unangemeldet zu einem meiner Vorträge erschienen und saß in der ersten Reihe. Als ich in der folgenden Sitzung Frau M. etwa zehn Minuten schweigend zuhörte, wie sie mir berichtete, dass ihr Onkel noch kurz vor seinem Tod erzählt hatte, wie ungeduldig sie als Jugendliche immer vor seinem Atelier auf ihn gewartet hatte, schoss mir plötzlich durch den Kopf, dass es dabei zu einem sexuellen Missbrauch durch den Onkel gekommen war. Ich sagte: »Könnte es sein, dass Sie in Erinnerung behalten haben, dass die Ungeduld und die Besuche bei Ihrem Onkel von Ihnen ausgingen, ja Sie die Nähe zu ihm aktiv gesucht haben, weil es vielleicht zu schmerzlich war zu denken, dass Ihr Onkel Ihre Vatersehnsucht missbraucht und die Intimschranken überschritten hat?«14 14 An diesem Beispiel mag deutlich werden, dass sich der erste, spontane (theoriefreie) Einfall (»sexueller Missbrauch«), um dessen Zustandekommen es in diesem Beitrag geht, erst bilden konnte, als sich ansatzweise ein Vertrauen in die ana-

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»Natürlich ist es zu Zärtlichkeiten zwischen uns gekommen – doch fand ich dies schön. Als er meine Brust berührte, kam ich mir endlich als attraktive junge Frau vor«, antwortete Frau M. zu meiner großen Überraschung. Das Thema verschwand für längere Zeit aus den Sitzungen, doch tauchten vermehrt brutale sexualisierte Szenen in ihren Träumen auf. Ich versuchte wieder daran anzuknüpfen: »Sie waren schon eine Jugendliche, als Sie das Atelier Ihres Onkels besuchten, und können sich wahrscheinlich an die Erfahrungen damals erinnern. Sie haben mir vor längerer Zeit erstmals erzählt, dass es auch zu Zärtlichkeiten zwischen Ihnen und Ihrem Onkel kam. Ist es möglich, dass Sie ungern an weitere Details denken, die sich zwischen Ihnen ereignet haben?« Frau M. reagierte sehr heftig auf diese Frage. Sie ging zur Toilette und übergab sich. In den folgenden Sitzungen konnte sie mir von Erinnerungen erzählen, die von Gewalt geprägte Koituserfahrungen mit ihrem Onkel beinhalteten. Ekel, Abscheu und Widerwillen tauchten auf: Das Ausagieren der überwältigenden, traumatischen Erfahrungen wich einer sukzessiven Erinnerung und Verbalisierung. Frau M. gab sich selbst die Schuld an diesen Vorkommnissen: »Ich war so liebesbedürftig. Kein Wunder, dass mein Onkel darauf reagierte.« Erst allmählich konnte sie zulassen, dass es sich wirklich um einen sexuellen Missbrauch gehandelt hatte, der ihre Adoleszenz und ihre Sexualität als Frau wesentlich geprägt hat. »Wenn ich meinen Onkel als Dreizehnjährige besuchte, bin ich immer ins Atelier reingestürmt und habe die Initiative für unsere sexuellen Abenteuer ergriffen. Ich wollte die Emanzipierte, Unkonventionelle sein und nicht er. Ich fand das toll …« Erst jetzt verstand ich, dass in der geschilderten Szene im Erstinterview unbewusste »embodied memories« ihrer traumatischen Erfahrungen mit ihrem Onkel enthalten waren: Auch mich hatte sie im Erstinterview buchstäblich überrannt, überwältigt und war mir »zu sehr auf die Pelle gerückt«. Damals war es mir allerdings noch nicht möglich, diese unbewussten lytische Beziehung entwickelt hatte. Metaphorisch ausgedrückt: Erst nun wagen es Analysandin und Analytikerin, die traumatische Erfahrung direkt in der analytischen Beziehung zu erleben. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die innovativen Einfälle sich selbstverständlich sofort mit den impliziten und expliziten Theorien der Analytiker/-innen verbinden (z. B. mit der These, dass Traumatisierte versuchen, passiv Erlittenes in aktiv Zugefügtes zu verwandeln), ein Thema, das in diesem Rahmen nicht weiter diskutiert werden kann (vgl. dazu u. a. Bohleber, 2010; Leuzinger-Bohleber, 2010).

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Erinnerungen im Enactment von Frau M. zu entschlüsseln. Erst nachdem ich das Intrusive, Übergriffige in der Übertragungsbeziehung zu mir oft direkt erlebt und gleichzeitig eine tragende analytische Beziehung zu der Analysandin aufgebaut hatte – die mehr Einfühlung in das verzweifelte, traumatisierte Kind in Frau M. ermöglichte –, tauchte der entscheidende Einfall auf. Nochmals in der Sprache der Embodied Cognitive Science ausgedrückt: Erst nachdem ich charakteristische sensomotorische Koordinationen von Frau M. immer und immer wieder in den analytischen Sitzungen – unbewusst – erlebt, durch Identifizierungen mit meiner »embodied« Gegenübertragung darauf reagiert hatte und sich durch alternative sensomotorische Koordinationen neue Kategorien einer tragfähigen analytischen Beziehung entwickelt hatten, konnten die beiden bisher getrennten Pfade der Erinnerung miteinander verbunden werden. Diese Verbindung brachte schließlich unvermittelt – wie in der »Madeleine-Szene« von Proust – aufgrund meiner eigenen (unbewussten) sensomotorischen Koordinationen den Einfall (die Kategorie) »sexueller Missbrauch« hervor. Er stand – selbstverständlich unbewusst – im Zusammenhang mit den durch sich wiederholende sensomotorische Koordinationen vermittelten »embodied memories«. Ich traf damit offensichtlich ins Schwarze. Wie sich nun herausstellte, war Frau M. von ihrem Onkel vom 13. bis zum 20. Lebensjahr sexuell missbraucht worden. Doch erst in der haltenden psychoanalytischen Beziehung konnte sie sich, anhand neuer Erinnerungen an brutale Szenen, schließlich eingestehen, dass es sich wirklich um sexuelle Übergriffe und nicht um eine von ihr initiierte, »emanzipierte« und »glückliche« Affäre gehandelt hatte. Erst die sichere Beziehung zur Psychoanalytikerin ermöglichte ihr die schmerzliche Einsicht, wie zerstörerisch diese Erfahrungen für sie waren und dass sie wesentlich dazu beigetragen hatten, dass sie sich nie eine konstante, zärtliche und gleichzeitig leidenschaftliche Liebesbeziehung erlauben konnte, sondern sich unter anderem damit begnügen musste, mit ihrem Freund, einem verheirateten Mann, eine sehr begrenzte, von ihr stark kontrollierte Sexualität zu leben. Mein Einfall hatte erstmals ermöglicht, bisher Unrepräsentiertes in Sprache zu fassen und dadurch einen Prozess des Durcharbeitens in der Übertragungsbeziehung zu initiieren. Ich kann in diesem Rahmen nicht ausführen, sondern nur erwähnen, dass – wie das Konzept der »embodied memories« postuliert – die traumatischen Erfahrungen von Frau M. immer

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und immer wieder überschrieben worden waren. So führten uns zum Beispiel Träume im vierten Jahr der Analyse schließlich zu einer weiteren unerwarteten Entdeckung: Mit ihren adoleszenten Missbrauchserfahrungen agierte Frau M. zugleich unbewusste »embodied memories« an eine brutale Vergewaltigung ihrer Mutter durch russische Soldaten aus, die sie als Dreijährige miterlebt hatte. – Traumatische Erinnerungen, die sie zudem in ihrer Spätadoleszenz unbewusst dazu gebracht hatten, sich in gefährliche sexuelle Abenteuer zu verwickeln, mit sieben Abtreibungen innerhalb von zehn Jahren. Die dadurch ausgelösten unbewussten Schuldgefühle determinierten, wie sich ebenfalls erst spät in der Psychoanalyse herausstellte, ihren depressiven Zusammenbruch. Schließlich waren diese »embodied memories« eng mit traumatischen Separationserfahrungen von ihrer an einer schweren postpartalen Depression erkrankten Mutter im ersten Lebensjahr verbunden, die sie nach der Verlustmeldung ihres Ehemanns an der russischen Front entwickelt hatte. Die Depression war so schwer, dass sie nicht fähig war, den Säugling zu versorgen. Er wurde weggegeben und während mehrerer Monate durch eine unempathische, stark von der nationalsozialistischen Erziehungsideologie geprägte Verwandte betreut. Unbewusste »embodied memories« an diese frühen Trennungstraumatisierungen waren daher ebenfalls in der erwähnten Anfangsszene enthalten: Die Art und Weise, wie Frau M. meine Hand zwischen ihre beiden Hände drückte, hatte nicht nur einen sexuell stimulierenden Charakter, sondern wir verstanden sie schließlich auch als einen Versuch, mich buchstäblich festzuhalten, mich nicht zu verlieren. »Werde ich sie je wieder wegschicken können? Sie scheint mir so bedürftig …« waren damals die spontan sich bildenden Verstehenskategorien, in denen ich, nachträglich gesehen, schon das frühe Trennungstrauma wahrnehmen, aber auch wegen der erwähnten eigenen Abwehrreaktionen noch nicht en détail entschlüsseln konnte.

Abschließende Bemerkungen In der psychoanalytischen Literatur finden sich viele kreative Metaphern dafür, Unrepräsentiertes, Unbewusstes dem Verstehen zu erschließen und die im Enactment zum Ausdruck kommenden, von Patientinnen und Patienten abgespaltenen traumatischen Er-

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innerungen in einen zwar schmerzlichen, aber heilenden Erinnerungsprozess zu transformieren. In diesem Beitrag wurde zur Diskussion gestellt, dass grundlagenwissenschaftliche Konzepte und Studien aus dem Gebiet der Embodied Cognitive Science und den kognitiven Neurowissenschaften erste Erklärungsmodelle für das spontane, »theoriefreie« Auftauchen von innovativen, kreativen Einfällen bei der Analytikerin oder dem Analytiker im Erstinterview und in psychoanalytischen Sitzungen anbieten. Sie bilden den entscheidenden ersten Schritt, um bisher im Körper zwar Präsentes, aber nicht Repräsentiertes in Bilder und Sprache fassen zu können. Ich hoffe, dass mit diesem Exkurs in einen aktuellen interdisziplinären Dialog und seiner möglichen Bedeutung für das Verstehen unbewusster Phantasien und Konflikte Konzepte des psychoanalytischen Verstehens komplexer seelischer Prozesse gerade bei traumatisierten Patientinnen und Patienten in neuer Weise beleuchten werden konnten. In der akademisch-psychologischen und psychiatrischen Welt werden im Gegensatz dazu standardisierte Verfahren (wie das DSM-5 oder ICD-10) für die Diagnostik traumatischer Störungen (z. B. von Posttraumatischen Belastungsstörungen) eingesetzt. Damit kann selbstverständlich nur bewusst Zugängliches erfasst werden. Daher bleiben, aus psychoanalytischer Sicht, wie bei Frau M., die unbewussten, durch die Traumatisierung entstandenen, determinierenden Faktoren inadäquaten psychischen und psychosozialen Verhaltens unverstanden. Wie einleitend erwähnt, haben Hermann Argelander (1967, 1968, 1970a, 1970b) und Alfred Lorenzer (1970a, 1970b, 2005) in den 1960er und 1970er Jahren mit dem Konzept des »szenischen Verstehens« einen alternativen, äußerst einflussreichen, psychoanalytischen Zugang zum Verstehen unbewusster Kommunikationsversuche von Patienten und Patientinnen in der ersten Begegnung mit der Analytikerin oder dem Analytiker entwickelt. In der Initialszene werden oft die unverarbeiteten Konflikte und Phantasien der Patienten »wiederholt«. Die Analyse der eigenen Gegenübertragung in den ersten Interaktionen bildet daher den Schlüssel für ein erstes Verstehen. Wie das Fallbeispiel illustriert, gilt diese Entdeckung auch heute noch. Doch hoffte ich zu zeigen, dass auch geniale Konzepte wie das »szenische Verstehen« historisch verankert sind bzw. vom Wissensstand der jeweiligen Zeit abhängen. Im diskutierten Fall wa-

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ren dies die damaligen statischen Gedächtnistheorien von Repräsentanzen, die in einer neuen Konfliktsituation verbal und nonverbal »abgerufen«, das heißt, aus dem Langzeit- ins Kurzzeitgedächtnis transferiert und dadurch dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden können. Wie dargelegt wurde, hat sich diese Vorstellung von Erinnerung und Gedächtnis, die in den 1970er und 1980er Jahren auch in der »klassischen« Cognitive Science gängig war, als grundlegend falsch erwiesen. Daher wird aufgrund der heutigen interdisziplinären Erkenntnisse in der sogenannten »Embodied Cognitive Science« das »szenische Verstehen« in weit radikalerer Weise als vor 40 Jahren als dynamischer, intersubjektiver, konstruktiv-kreativer und körperlich verankerter Prozess verstanden. Eine praktische Folgerung aus diesem aktuellen Verständnis von Erinnern und Durcharbeiten, die übrigens auch den reichen klinischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit Erstinterviews entspricht, ist, dass wir inzwischen vorsichtiger geworden sind bezüglich der Treffsicherheit unserer Deutungen unbewusster Szenen. Oft sind, wie bei Frau M., Jahre sorgfältiger psychoanalytischer Arbeit notwendig um – zusammen mit den Analysandinnen und Analysanden – die unbewusste Bedeutung der szenischen Darstellung ungelöster Konflikte und Phantasien wirklich zu verstehen. Oft dient daher spekulatives »szenisches Verstehen« eher selbstidealisierenden Prozessen oder der eigenen Abwehr von Ohnmacht und Insuffienzgefühlen angesichts des Nicht-Verstehens traumatisch bedingter Interaktionen in den ersten psychoanalytischen Begegnungen, als einer adäquaten Einfühlung in unerträgliche, nicht symbolisierte seelische Zustände von Traumatisierten. Doch gerade eine Haltung des Aushaltens von »Nicht-Verstehen«, von Neugier und Offenheit sowie der Bereitschaft, sich zusammen mit dem Analysand oder der Analysandin auf eine Reise ins Unbewusste mit offenem Ausgang zu begeben, charakterisiert die Psychoanalyse im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die »Sicherheit«, »Objektivität« und »Kontrolle der Komplexität« auch bezogen auf diagnostische Zugriffsweisen von traumatisch bedingtem seelischem Leiden suggerieren. Durch einen verkürzten Begriff von Empirie und »objektivierenden Diagnosen« wird eine solche Haltung der Offenheit, des Nicht-Verstehens und eines professionellen Beziehungsangebotes gerade auch im aktuellen Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen bedroht.

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Bezogen auf die Behandlungstechnik mag deutlich geworden sein, dass die Beschäftigung mit den neuen, biologisch fundierten Gedächtnistheorien die psychoanalytische Haltung insofern beeinflusst, als sie für die eigenen, feinsten (»embodied«) Körperreaktionen sensibilisiert. Bei dem störungsanfälligen Versuch, Unbewusstes in den Enactments der Analysanden zu entschlüsseln, erweist sich das Couch-Setting für die Analytiker/-innen als große Hilfe, da es die Identifikationsprozesse mit den sensomotorischen Koordinationen sowie das Richten der eigenen Antennen auf feinste »embodied« Gegenübertragungsreaktionen erleichtert. In einem Face-to-FaceSetting werden die feinsten resonanten Spiegelungsprozesse ständig durch aktuelle sensomotorische Koordinationen überlagert und erschweren daher die Wahrnehmung der dissoziierten, abgespaltenen psychischen Wirklichkeiten (vgl. dazu auch Bender, 2014). Schließlich erfahren auch Erkenntnisse der Psychoanalyse der letzten Jahrzehnte, dass weder eine exklusive Arbeit mit der Übertragung noch eine ausschließliche (meist zudem intellektuelle) Rekonstruktion der (traumatischen) Lebensgeschichte der Analysanden und Analysandinnen zu einer nachhaltigen therapeutischen Veränderung führt, durch das Konzept des Embodiments eine neue, interdisziplinäre Abstützung. Besonders in Psychoanalysen mit schwer traumatisierten Patientinnen und Patienten braucht es die Reflexion sowohl einer horizontalen als auch einer vertikalen Dimension psychischer Prozesse (vgl. Buchholz u. Gödde, 2013). Einerseits spielen sich psychische Prozesse immer in einer aktuellen Interaktionssituation des Subjekts mit seiner Umwelt (bzw. seinen Bezugspersonen) ab und sind daher »horizontal«, intersubjektiv und von der Gegenwart bestimmt. Andererseits sind die aktuellen Erfahrungen immer durch sensomotorische Koordinationen determiniert, die sich in der idiosynkratischen (biografischen) Vergangenheit des Subjekts gebildet haben. Die unverwechselbare Geschichte des Individuums ist in dem Sinne »embodied«, als die in den frühesten Beziehungserfahrungen entstandenen sensomotorischen Koordinationen die späteren und aktuell ablaufenden psychischen Prozesse in Beziehungen dauernd (kausal) bestimmen. Diese Konzeptualisierung hat weitreichende klinische Konsequenzen (vgl. dazu Bohleber, 2012; Leuzinger-Bohleber, 2008, 2015; Bohleber u. Leuzinger-Bohleber, 2016). Besonders in Psychoanalysen mit

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schwer traumatisierten Analysandinnen und Analysanden erweist es sich als unverzichtbar, sich der Lebens- und Trauma­geschichte, der »historischen Realität« des Traumas, anzunähern, auch wenn es nie möglich ist, die historische Wahrheit des Traumas eins zu eins aufzudecken. Zwar werden lebensgeschichtliche Ereignisse – im Sinne der Nachträglichkeit – immer und immer wieder umgeschrieben und der aktuellen Gegenwart angepasst, doch bleibt in diesen Überschreibungen die »historische Realität« als Kern erhalten. Daher ermöglichen der sukzessive analytische Verstehensprozess von »embodied memories« und ihr Durcharbeiten in der analytischen Beziehung, die durch Traumatisierungen entstandenen dissoziativen Zustände, die Fragmentierungen des Selbst und der inneren Objekte besser psychisch zu integrieren. Die Analysandinnen und Analysanden gewinnen dadurch, wie Frau M., einen heilenden Zugang zu ihrer eigenen, unverwechselbaren Trauma- und Lebensgeschichte.

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Migration, Flucht und Trauma – Erkenntnisse aus psychoanalytischen Frühpräventionsprojekten Die Themen Migration, Flucht und Trauma sind heute aktueller denn je. Den Bildern aus Syrien können wir uns nicht entziehen. Sie sind täglich in den Nachrichten. Und man mag zur Flüchtlingspolitik in Deutschland oder der EU stehen wie man will, wir haben zur Zeit eine Situation, in der es nur darum gehen kann, die Asylsuchenden und ihre Kinder möglichst gut aufzunehmen. Ihre Integration ist zu einer der vordringlichsten gesellschaftlichen Aufgaben in Deutschland geworden. Zu den Fragen, wie sich Migration, Flucht und Trauma auswirken, liegen uns Erkenntnisse aus psychoanalytischen Untersuchungen und Frühpräventionsprojekten vor, die wir hierfür nutzen können und sollten und über die ich im Folgenden berichten möchte. Laut den vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF, 2016) veröffentlichten Zahlen vom Januar 2016 sind in Deutschland im Jahr 2015 knapp 500.000 Asylanträge in Deutschland gestellt worden. Mehr als 70 % der Asylerstantragsteller waren jünger als 30 Jahre und mehr als 50 % der Antragsteller stammten aus Syrien. Es waren auch viele Kinder und Jugendliche dabei – mindestens 30 % waren unter 18 Jahre alt. Es flüchteten also viele Familien mit ihren Kindern und suchten Asyl hier bei uns in Deutschland. Ihre Erfahrungen, sowohl vor als auch nach der Ankunft in dem Land, in dem sie Zuflucht suchen, machen sie besonders anfällig für Belastungsstörungen. Zu den ungünstigen Faktoren nach ihrer Ankunft zählen rassistische Gewalt, Heimatlosigkeit, ihrer Berufstätigkeit enthoben zu sein (de-skilling of professionals), Sprachprobleme, ein unsicherer Residenzstatus und auch Schwierigkeiten, sich in einem friedlichen Land zurechtzufinden. Eine Reihe von Erfahrungen haben einen besonders negativen Einfluss auf Kinder:

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gewaltsamer Tod eines Elternteils; Zeuge von Mord, Folter oder Verletzung eines Familienmitglieds; Trennung und erzwungene Migration; Terroranschläge; Bombardierung und Beschuss; Zeuge elterlicher Angst und Panik; Hunger; anderer kultureller Hintergrund im Exilland.

Flüchtlinge und Flüchtlingskinder erleben im Exil häufig weiterhin Not, da sie meist die Unterstützung ihrer Herkunftsgemeinschaft verloren haben, während sie sich an die neue Umgebung anpassen müssen. Sie erleben Trennung nicht nur von Familienangehörigen, sondern auch von Gewohntem, früher in ihrer Heimat Alltäglichem. Dies kann erheblichen Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern haben. Auch erleben die Kinder ihre Eltern anders – diese stehen unter enormem Druck, sind präokkupiert mit all dem Neuen und vielleicht verängstigt und können sich ihren Kindern nicht so zuwenden wie sie es gewohnt sind.

Traumatisierung von Kindern in Folge von Migration und Flucht Vieles, was wir heute psychoanalytisch zu Traumatisierungen von Kindern in Folge von Migration und Flucht wissen, basiert auf empirischen Studien zu Traumatisierungen von Kindern als Opfer von Krieg und Verfolgung in und nach der Shoah – so unter anderem von Hans Keilson (1991; 2005) in Holland und Anna Freud und ­Dorothy Burlingham (1980) in Großbritannien, die uns fundamentale Einsichten lieferten für den Umgang mit durch Krieg und Verfolgung traumatisierten Kindern. Aber es sind nicht nur durch Krieg und Verfolgung traumatisierte Kinder, die sehr empfindsam auf Trennungssituationen reagieren. Auch behütet aufgewachsene Kinder tun dies, wie ein Film von James und Joyce Robertson (1969; 1971) aus den 1960er Jahren über einen behütet aufgewachsenen englischen Jungen – John – uns sehr

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deutlich vor Augen führt. Der Film zeigt uns, welche Folgen eine nur neuntägige Trennung für ein Kind haben kann: John, 17 Monate alt, wird von seinen Eltern in ein Kinderheim gegeben, weil seine Mutter ihr zweites Kind erwartet. Die Betreuerinnen dort sind sehr freundlich und hilfsbereit, können ihm aber nicht seine Mutter ersetzen, da die Betreuerinnen zu häufig wechseln und sich um zu viele andere Kinder kümmern müssen. Der Film zeigt, wie John in der relativ kurzen Zeit von neun Tagen versucht, damit fertig zu werden, aber letztendlich sowohl psychisch als auch physisch daran zerbricht. Einerseits beobachtet man einen kleinen Jungen, der sehr kreativ versucht, Ersatzbeziehungen zu Bezugspersonen herzustellen, und andererseits sieht man, wie eine emotional und sozial bis zur Trennung gut entwickelte junge Persönlichkeit einen fortschreitenden vollständigen Zusammenbruch erleidet – trotz täglicher Besuche durch den Vater. Am Ende ist John ganz offensichtlich sehr depressiv; er kann nicht mehr essen oder spielen, er liegt nur noch auf seinem Schmusetuch im Bett, untröstlich krank und verzweifelt weinend.

Anna Freud kommentierte diesen Film (1969) und betonte, welche Auswirkung eine unvorbereitete Trennung für Kinder haben kann. Mehr noch als die Trennung ist es für das Kind belastend, mit seinen wiederholt fehlgeschlagenen Versuchen, eine Ersatzbindung herzustellen. Ihm bleibt nur noch ein autistischer Rückzug, um dem zu entkommen. Schon 1940, als Anna Freud (Freud u. Burlingham, 1980) Kinder während der deutschen Bombardierung Englands in Kinderheimen auf dem Land betreute, resümierte sie, dass das, was am meisten gebraucht wird, nicht die unpersönliche und professionelle Hygiene, Betreuung und Beaufsichtigung ist, sondern ein persönlicher und intimer Austausch mit einer oder allenfalls zwei bekannten Personen. Nur dies ermöglicht es dem Individuum, einen ganz entscheidenden Schritt für sein späteres emotionales Leben zu machen: den Übergang von der Notwendigkeit nach körperlicher Zuwendung hin zu einer stabilen emotionalen Bindung an die dafür verantwortlichen Bezugspersonen. Anna Freud beschreibt anhand vieler Beispiele, wie eine plötzliche und tiefgreifende Veränderung der äußeren Lebensumstände durch Trennung zu Verzögerungen oder ernsthaften Zusammen-

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brüchen von normalem psychischem Wachstum führen kann. Das Kind regrediert mehr oder weniger in seiner Entwicklung, es zeigt Verhaltensweisen, die es bereits überwunden hat, zum Beispiel nässt es wieder ein oder es verhält sich wie ein Kleinkind und ist ständig mit seinem eigenen Körper beschäftigt: Statt sozialen Kontakt zu suchen, treten Verhaltensweisen wie Schaukeln des Körpers, Masturbation, Kopf gegen das Bett schlagen auf. Hans Keilsons (2005) Erfahrungen mit traumatischen Erfahrungen von Kindern durch Trennung und Krieg infolge der Shoah veranlassten ihn, den psychoanalytischen Traumabegriff zu erweitern. Um die pathogenen Konsequenzen einer Traumatisierung einschätzen zu können, bezog er sich nicht nur auf eine einzige traumatische Situation, sondern berücksichtigte auch die Trennung von der Bezugsperson. Er unterschied zwischen drei traumatischen Sequenzen, die entscheidend für die psychologischen Auswirkungen der traumatischen Erfahrung sind: 1. Die erste traumatische Sequenz umfasst die Zeit vom Beginn der Verfolgung und beinhaltet all die Ängste im Zusammenhang mit dem Zerfall des legalen Schutzes, der Verfolgung, Angriff auf Werte und Integrität der Familie, der Vernichtung der ökonomischen Existenz, Ghettoisierung, Angst vor zukünftigen Gräueltaten und dem Verschwinden von Verwandten, Bekannten, Freunden, Spiel- und Klassenkameraden. 2. Die zweite traumatische Sequenz umfasst neben der direkten Bedrohung von Leib und Leben Gesetzlosigkeit, feindliche Umgebung mit permanenter Belastung durch Entbehrung, Hunger, Krankheit, Infragestellen sozialen Verhaltens, Konfrontation mit brutaler Macht, Horror und Tod, die plötzliche Unterbrechung von normalem Spiel, Lernen und erzieherische Möglichkeiten. 3. Die dritte traumatische Sequenz ist die Frage des Lebens nach dem Krieg, der Wiederbegegnung mit Familienmitgliedern und der eventuellen Unterbringung von Kindern außerhalb der ­Familie. Je nach Alter zu Beginn der Traumatisierung treten verschiedene Persönlichkeitsveränderungen auf: neurotische Charakterentwicklungen, Angststörungen und chronisch reaktive Depressionen. Unter jüngeren Kindern fand Keilson (2005) mehr neurotische

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Persönlichkeitsentwicklungen im späteren Leben, während zum Zeitpunkt der Traumatisierung Adoleszente später eher neurotische Ängste entwickelten und solche, die eine Trennung während der Pubertät erlebten, waren später vermehrt chronisch depressiv. Weiterhin stellte er fest, dass es zwar keinen Zusammenhang gab zwischen dem Ausmaß der massiven kumulativen Traumatisierung und der psychosozialen Funktionsfähigkeit im späteren Leben (Heirat, Karriere und Freizeitaktivitäten), vielmehr war hierfür ausschlaggebend, wie die dritte traumatische Sequenz ausfiel – also das Leben nach dem Krieg. Es ist schon bemerkenswert, wie sehr diese frühen Studien auch heute noch Geltung zu haben scheinen. Sie weisen auf einen für Kinder sehr wichtigen Umstand hin: Trennung und Bindung, weshalb ich hier kurz näher auf die frühkindliche Entwicklung und Bindung bei Risikokindern eingehen möchte. Die Bindungstheorie John Bowlbys (z. B. 1978) beschreibt die besondere Beziehung von Kindern zu ihren Bindungspersonen. Sie postuliert Bindungsbedürfnisse von Kindern als phylogenetische präadaptierte Programme, die epigenetisch verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten haben. Die Mutter unterstützt in der Regel das Kind, indem sie seine Bindungsbedürfnisse aufgrund ihrer mehr oder weniger empathischen Interpretation seines Verhaltens »erkennt« und angemessen und prompt reagiert. Reagiert die Mutter fürsorglich, einfühlsam und prompt, wird das Kind eine sichere Bindungsqualität entwickeln, kann sie hingegen das Ausdrucksverhalten ihres Kindes nicht interpretieren, sei es, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, aufgrund eigener Traumatisierung oder Depressivität, so erfährt das Kind nicht die vorgesehene Unterstützung für eine sichere Bindungsentwicklung und seine Bindungsqualität wird unsicher oder desorganisiert. Das Kind ist auf fürsorgliche und unterstützende Bindungspersonen angewiesen, um seine Gefühle zu verstehen und sie mit seinen Verhaltensweisen zu koordinieren und innerlich zu integrieren. Die Feinfühligkeit der Bindungsperson spielt hier eine ausschlaggebende Rolle. Mary Ainsworth (in Bowlby, Ainsworth u. Grossmann, 2003) benannte vier Merkmale, die diese ausmachen: (1) Das Kind aufmerksam »im Blick« haben ohne zu hohe Wahrnehmungs-

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schwelle (Kind erfährt, dass es bemerkt wird), (2) die Äußerungen des Säuglings richtig und nach seiner Lage interpretieren (nicht nach ihren Bedürfnissen; Kind erzielt soziale Wirkung), (3) prompte Reaktion (eigene Effektivität) und (4) angemessene Reaktion (Kind lernt Wirkung seiner Signale). Bei Kindern zwischen zwölf und 18 Monaten werden im Fremde-­ Situations-Test (Ainsworth, 1978), bei Vier- bis Sechsjährigen im »Manchester Child Attachment Story Task« (MCAST; Goldwyn, Stanley, Smith u. Green, 2000), bei Grundschulkindern im »Child Attachment Interview« (CAI; Shmueli-Goetz, Target, Fonagy u. Datta, (2008); Venta, Shmueli-Goetz u. Sharp, 2014) vier Bindungstypen definiert: sicher (Bindungstyp B), unsicher-vermeidend (Bindungstyp A), unsicher-ambivalent (Bindungstyp C) und unsicher-desorganisiert (Bindungstyp D). Einige Langzeitstudien haben nachgewiesen, dass vor allem unsicher-desorganisiert gebundene Kinder bis ins Erwachsenenalter Beeinträchtigungen in ihrer kognitiv-affektiven und sozialen Entwicklung aufweisen (Sroufe, Coffino u. Carlson, 2010; Van Ryzin, Carlson u. Sroufe, 2011; Groh, Roisman, Van IJzendoorn, Bakermans‐Kranenburg u. Fearon, 2012).

Frühkindliche Entwicklung und Bindung bei Risikokindern In der frühkindlichen Entwicklung spielt Bindung eine zentrale Rolle. Nach Auffassung von Bindungsforscherinnen und -forschern bilden das Bindungs- und das Explorationssystem zwei basale antagonistische Motivationssysteme (vgl. u. a. Cassidy u. Shaver, 2008). Bei Gefahr wird das Bindungssystem aktiviert und das Kleinkind dazu motiviert, den Schutz bei den primären Bezugspersonen zu suchen. Das Explorationssystem wird in diesen Situationen eingestellt. Erst wenn das Kleinkind sich sicher fühlt, kann sich das Explorationssystem entfalten. Je nach vorherrschenden Erfahrungen mit den ersten Bezugspersonen entwickelt das Kind unterschiedliche innere Arbeitsmodelle, in anderen Worten ein charakteristisches Bindungssystem, das – analog zu kognitiven Schemata – die basalen Erwartungen an neue Bezugspersonen prägt. Diese inneren Arbeits-

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modelle manifestieren sich in konkretem Verhalten von zwölf bis 18 Monate alten Kindern während Trennungssituationen und können im sogenannten »Fremde-Situations-Test« empirisch bestimmt werden (Ainsworth, 1978). Im Fremde-Situations-Test reagieren sicher gebundene Kinder (Typ B) mit Weinen auf die Trennung von der primären Bezugsperson und stellen ihr Explorationsverhalten ein, lassen sich aber nach deren Rückkehr rasch von ihr beruhigen. Unsicher-vermeidende Kinder (Typ A) reagieren scheinbar kaum auf die Trennung von der Bezugsperson. Sie explorieren weiter und lassen sich leicht von einer fremden Person beruhigen. Doch zeigen erhöhte Cortisol-Werte, dass diese Kinder keineswegs souverän mit der Trennung von den primären Bezugspersonen umgehen, sondern unter erhöhtem Stress stehen (Hertsgaard, Gunnar, Erickson u. Nachmias, 1995). Unsicher-ambivalente Kinder (Typ C) reagieren mit heftigen Affekten und gestörtem Explorationsverhalten auf die Trennung und lassen sich nach der Trennung kaum von ihrer Bezugsperson beruhigen. Unsicher-desorganisiert gebundene Kinder (Typ D) reagieren ängstlich und erregt. Sie zeigen bizarre, klinisch auffällige Verhaltensweisen wie »Einfrieren« von Bewegungen und dissoziative Phänomene. Diese Kinder scheinen kaum ein stabiles inneres Bindungsmuster ausgebildet zu haben (Main, Kaplan u. Cassidy, 1985; Main u. Solomon, 1986). Inzwischen konnte gezeigt werden, dass ein desorganisierter Bindungstyp als Folge einer traumatischen, von Brüchen gekennzeichneten affektiven Kommunikation mit den primären Bezugspersonen entsteht, eine Beziehungserfahrung, die von Angst, Schrecken und Verunsicherung gekennzeichnet ist (vgl. u. a. Schechter u. Serpa, 2013; Rutherford, Williams, Moy, Mayes u. Johns, 2011; LeuzingerBohleber et al., 2016). Die primären Bezugspersonen sind, meist aufgrund eigener traumatischer Erfahrungen, nicht in der Lage, dem Säugling oder Kleinkind ein Gefühl von basaler Sicherheit und eine voraussehbare, positiv resonante Beziehungserfahrung zu vermitteln. Kommt es zudem zu physischer oder psychischer Gewalt, werden die Bindungspersonen selbst zur Quelle von Angst und Gefahr. Fonagy (2010) spricht in diesem Zusammenhang von einem Bindungstrauma (»attachment-trauma«). Er diagnostizierte frühe Bindungstraumata unter anderem bei straffälligen Jugendlichen mit einer Borderlinestörung (Fonagy, 2010).

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Frühe Bindungserfahrungen haben sich in vielen Studien als entscheidend für die weitere psychische und psychosoziale Entwicklung erwiesen (Cassidy u. Shaver, 2008). Vor allem Kinder mit einem desorganisierten Bindungstyp (Typ D) sowie ambivalent gebundene Kinder (Typ C) zeigen im Grundschulalter und in der Adoleszenz vermehrt schwere Verhaltensprobleme, zum Beispiel klinisch auffällige externalisierende (z. B. Hyperaktivität) und/oder aggressive Symptome, Feindseligkeit im Klassenverband sowie schlechte schulische Leistungen (Moss et al., 2006; Moss u. St-Laurent, 2001; Lyons-Ruth, Alpern u. Repacholi, 1993; Solomon, George u. De Jong, 1995; Zusammenfassung der Langzeitstudien in Leuzinger-Bohleber, 2014). Desorganisiert gebundene Jugendliche konsumieren beispielsweise auch häufiger illegale Drogen als sicher gebundene Adoleszente (Dube et al., 2003). Im Schulalter entwickeln Kinder mit desorganisiertem Bindungsmuster oft übermäßig ausgebildete Kontrollstrategien. Wie verschiedene Studien zeigen, versuchen traumatisierte Kinder (mit einem D-Bindungstyp) alles zu tun, um nicht erneut einer unkontrollierbaren, traumatogenen Situation ausgesetzt zu sein (O’Connor, Rutter, English u. Team, 2000; Rutter, Kreppner u. O’Connor, 2001; Schechter u. Serpa, 2013). Sie können sich kaum von ihren Bindungspersonen trennen, da sie ständig versuchen müssen, durch ein kontrollierendes Verhalten eine befürchtete Katastrophe zu verhindern. Ihr Kontrollbedürfnis schränkt ihr kognitives, affektives und soziales Explorationsverhalten stark ein (vgl. z. B. O’Connor u. McCartney, 2007; Teti, 1999). Zudem sind sie oft auch aufgrund ihres aggressiv-destruktiven Verhaltens sozial isoliert (Lenzi et al., 2013; Guedeney, 2013; Leuzinger-Bohleber, Emde u. Pfeifer, 2013).

Fallbeispiel (aus der Einkaufsvignette einer MCAST-Erhebung1) Ali (3 Jahre) hat ein desorganisiertes Bindungsmuster: Als die »Ali-Puppe« im Einkaufszentrum ihre Mutter verliert und Ali diese – im Spiel – schließlich wiederfindet, wird er zuerst von seiner Mutter geschlagen. Anschlie1 MCAST = Manchester Child Attachment Story Task

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ßend schlägt er sie – und verliert immer mehr die Kontrolle. Er bringt das ganze Puppenhaus durcheinander und begräbt die »Mutter-Puppe« impulsiv unter den Möbeln, »damit sie endlich tot ist«. Während er dies tut, fragt er immer wieder: »Ist sie schon tot, ist sie schon tot?«. Er kann sich nicht aus seiner aggressiv-destruktiven Stimmung befreien: Eine Viertelstunde ist er damit beschäftigt, die Mutter-Puppe zu töten.

In den letzten Jahren haben viele Studien aus dem Bereich der empirischen Bindungsforschung Faktoren beleuchtet, die die kognitivaffektive und soziale Entwicklung von Kindern beeinflussen. Sie untersuchten unter anderem die Entwicklung von Bindungsmustern bei Kindern in den ersten Lebensjahren und deren Konstanz bis ins Erwachsenenalter.

Welchen Einfluss hat frühe Erfahrung auf spätere Entwicklung – die Minnesota-Studie Die Minnesota-Langzeitstudie (vgl. Sroufe, 2005) untersuchte 180 Individuen im Alter von drei Monaten vor ihrer Geburt bis zu 34 Jahren danach. Alle Kinder wurden in Armut geboren, was eine gravierende Spanne in der Qualität der Fürsorge als auch in der Entwicklung nach sich zog. Untersucht wurde der Einfluss früher Erfahrung auf Kognition, Sprachentwicklung und sozio-emotionaler Entwicklung. Mitberücksichtigt wurden Temperament in der Kindheit sowie die Qualität der Fürsorge im Verlauf. Diverse Aspekte von Elternschaft wurden untersucht, wie das Bereitstellen einer sicheren Basis für Bindung, Struktur und auch kognitive Stimulation. Letztlich wurden auch Faktoren wie Elterncharakteristika, familiärer Lebensstress und soziale Unterstützung mitberücksichtigt, um diese statistisch kontrollieren und Faktoren finden zu können, die Einfluss auf die Kontinuität und Veränderung der kindlichen Entwicklung haben. Generelle Aussagen über den Einfluss von früher Erfahrung sind schwer zu treffen, da der Zeitpunkt, an dem ein Ereignis auftritt, ausschlaggebend ist. Studien aus der empirischen Säuglingsforschung zeigen, dass Säuglinge unterschiedlich auf Trennungs­

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erfahrung, wie zum Beispiel Hospitalisierung, reagieren. Je älter die Säuglinge waren, desto heftiger wehrten sie sich und benötigten eine gewisse Zeit, um sich danach wieder zu Hause einzugewöhnen. Das Timing ist demnach von Bedeutung, was damit zusammenhängt, dass Systeme dann am verletzlichsten sind, wenn sie entstehen – nicht bevor sie entstehen. Darüber hinaus muss bedacht werden, dass frühe und späte Erfahrungen einen kumulativen Einfluss haben. So belehrten uns experimentelle Deprivationsstudien an Rhesusaffen (z. B. von Suomi, 1977) darüber, dass diese, wenn sie in den ersten sechs Lebensmonaten isoliert wurden, im späteren Leben eher sozial behindert waren als solche, die während der zweiten sechs Lebensmonate isoliert wurden. Jedoch zeigte sich auch, dass Rhesusaffen, die während des gesamten ersten Lebensjahres isoliert wurden, weit gehandikapter waren als Affen, die in den ersten sechs Lebensmonaten isoliert waren, so bedeutsam dies auch war. In der Minnesota-Studie fanden Ogawa, Sroufe, Weinfield, Carlson und Egeland (1997) heraus, dass eine desorganisierte Bindung im Kleinkindalter spätere dissoziative Symptome vorhersagt. Aber auch, dass dies umso eher zutraf, wenn späterer Missbrauch hinzukam. Ferner kommt als Drittes hinzu, dass der mögliche Einfluss von frühen Erfahrungen durch spätere überformt werden kann. So zum Beispiel dann, wenn die Umwelt auf einen entsprechenden frühen Mangel mit mehr Anstrengung, diesen zu kompensieren, reagiert (Frühgeborene erhalten mehr Zuwendung und Stimulierung). Wenn ein Kind zum Beispiel früh die Erfahrung gemacht hat, dass es immer dann, wenn es Gefühlsregungen gezeigt hat, zurückgewiesen wurde und sich infolgedessen immer mehr zurückzieht – wenn dieses Kind daraus lernt, Gefühlsregungen zurückzuhalten, dann wird dadurch eine korrektive Erfahrung verhindert. Die Minnesota-Studie konnte zeigen, dass der Bindungsstil, der im Alter von zwölf und 18 Monaten beobachtet wurde, einen der theoretisch am bedeutsamsten und empirisch am deutlichsten nachweisbaren Zusammenhänge zwischen früher Erfahrung und späterem Verhalten darstellt. Dass dieser Zusammenhang nicht vom Temperament des Kleinkindes abhängig ist, sondern von der einfühlsamen Reaktionsbereitschaft der Bezugsperson, bestätigte, dass Ainsworth-Bindungsmuster als Summation der interaktiven

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Erfahrungen mit der primären Bezugsperson interpretiert werden können. Die so erhobenen Bindungsstile stehen in einem robusten Zusammenhang mit späteren Individualcharakteristiken wie Abhängigkeit/Autonomie, Selbstachtung und Schulleistungen und sind konsistente Prädiktoren für spätere soziale Beziehungen (Sroufe, 2005). Manchmal sind solche Verflechtungen komplex und schwer interpretierbar. So wenn ein vermeidender früher Bindungsstil eine größere Abhängigkeit von Lehrern und Erziehern in der mittleren Kindheit vorhersagt – ganz im Sinne von Bowlbys Theorie (1973). Dies kann als instabile Abhängigkeit interpretiert werden (erst nicht, später abhängig) oder eben als dauerhafte Kontinuität: von einem Versagen der Fähigkeit, eine effektive Bindung in der frühen Kindheit herzustellen, hin zu einer Abhängigkeit später im Leben. Ein weiterer signifikanter und starker Prädiktor für spätere Verhaltensauffälligkeiten ist die infantile desorganisierte Bindung (Korrelationen im 40 Bereich; Carlson, 1998). Desorganisierte Bindung entsteht durch angsteinjagendes elterliches Verhalten (Van IJzendoorn, Schuengel u. Bakermans-Kranenburg, 1999). Wenn die Eltern gleichzeitig die Quelle für Angst und der einzig verfügbare »sichere Hafen« sind, so steht der Säugling vor einem unmöglichen Dilemma, das er nur lösen kann, indem er die widersprüchlichen Erfahrungen voneinander trennt und es zu einem Kollaps der Verhaltensorganisation kommt. Liotti (1992) bezeichnete dies als mikro-dissoziative Erfahrungen, die als Prototyp für spätere Dissoziationen dienen. Dieser Zusammenhang konnte auch in der Minnesota-Studie zu verschiedenen Messzeitpunkten aufgezeigt werden (Carlson, 1998). Ebenso war ein früher desorganisierter Bindungsstil ein Prädiktor für selbstverletzendes Verhalten in der Adoleszenz (Yates, 2004) und Borderline-Persönlichkeitsstörungssymptome (Carlson, Egeland u. Sroufe, 2009). Ferner konnte die kumulative Power (Stärke) von multiplen frühen Risikofaktoren, wie Kindesmisshandlung, Zeugenschaft von Gewalt, Familienzusammenbrüchen und allgemeiner familiärer ­Lebensstress, sowie der sozioökonomische Status (SES) in der Studie nachgewiesen werden. Jeder dieser fünf Faktoren sagte adoleszente Verhaltensstörungen voraus. Misshandlung und Zeuge von Gewalt in der frühen Kindheit sind stärker mit adoleszenten Verhaltensstö-

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rungen verknüpft, als wenn diese in der mittleren Kindheit auftreten, auch wenn diese zeitlich näher am späteren Geschehen liegen. Zudem zeigte unter anderem De Bellis (2005) in seiner Übersichtsarbeit zur Psychobiologie von früher emotionaler Verwahr­ losung, dass sich Traumatisierungen in den ersten Lebensmonaten vor allem auf das Stressregulationssystem von Kindern nachhaltig auswirken (vgl. dazu auch Thomas u. De Bellis, 2004; Mirescu, ­Peters u. Gould, 2004; Feldman et al., 2012; neuere Übersichten in Mayes u. Lewis, 2012). Und es sind hauptsächlich traumatisierte Kleinkinder, die häufig einen desorganisierten Bindungstyp entwickeln.

Neurobiologische Entwicklung von Bindung Die frühe emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind ist entscheidend für die neurobiologische und psychische Entwicklung von Kindern. Für die Etablierung der Mutter-Kind-Bindung sind mehrere spezifische neurobiologische Systeme bedeutsam und daher wichtig für das Verständnis der Entwicklung desorganisierter Bindungsmuster bei Kindern mit traumatischen frühkindlichen Erfahrungen. In tierexperimentellen Untersuchungen an Ratten konnten Weaver und Kolleg/innen (2004) die Bedeutung der mesolimbischen Dopaminaktivierung (Nucleus accumbens/ventrales Striatum) für die Interaktion zwischen den Rattenmüttern und ihren Nachkömmlingen nachweisen. Zeigen Muttertiere ein ausgeprägtes Pflegeverhalten, war die Anzahl der Dopamin-Rezeptoren (D1 und D3) im Nucleus accumbens deutlich höher als bei Muttertieren, die dieses Verhalten kaum aufwiesen. Olazábal und Young (2006) konnten außerdem eine deutlich erhöhte Dichte an Oxytocin-­Rezeptoren im Nucleus accumbens bei weiblichen Prairie-Wühlmäusen mit ausgeprägtem mütterlichem Pflegeverhalten nachweisen. Beide Studien heben (exemplarisch für eine umfangreiche tierexperimentelle Literatur) die Bedeutsamkeit des Nucleus accumbens und der dort lokalisierten dopaminergen und oxytoci­nergen Systeme für das mütterliche Pflegeverhalten hervor (vgl. hierzu auch Champagne u. Curley, 2009; Francis, Champagne u. Meaney, 2000). Wichtiger

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noch ist die Frage, wie sich Unterschiede im mütterlichen Bindungsverhalten auf die neurobiologische Entwicklung des Nachwuchses auswirken. Curley, Champagne, Bateson und Keverne (2008) konnten zeigen, dass Nagetiere, die täglich von ihren Müttern getrennt wurden, langanhaltende Veränderungen in ihren kognitiven Fähigkeiten, ihren Angstreaktionen und ihrem sozialen Verhalten aufweisen, die mit einer Veränderung in der Genexpression einhergehen (S. 1551). Nachwuchs von Rattenmüttern, die ein ausgeprägtes Pflegeverhalten zeigen, sind weniger ängstlich und haben unter Stress verminderte Corticosteron-Reaktionen. Ferner sind beim Nachwuchs eine erhöhte Anzahl von hippocampalen Glucocorticoid-Rezeptoren festzustellen (Champagne, 2008, S. 705). Das Pflegeverhalten von Muttertieren führt zu epigenetischen Veränderungen des Östrogen-Rezeptor-Alpha-Genpromoters im medialen präoptischen Bereich der Nachkommen und damit zu unterschiedlichen Rezeptorexpressionen, was wiederum das Pflegeverhalten der weiblichen Nachkommen ihrem eigenen Nachwuchs gegenüber beeinflusst (Curley et al., 2008, S. 1559).

Strukturelle und funktionelle neuronale Korrelate des Bindungstyps bei Erwachsenen und Kindern Nach Fonagy, Luyten und Strathearn (2011) bilden die neuronalen Systeme, die bei Tieruntersuchungen mit dem Bindungssystem assoziiert wurden, auch die Basis einer sicheren Mutter-Kind-Bindung beim Menschen. Sie stehen mit der Fähigkeit in Zusammenhang, die Bedürfnisse des Säuglings aus visuellen und anderen sensorischen Hinweisreizen zu erkennen und differenziert darauf zu reagieren. Bartels und Zeki (2004) konnten in einer fMRT-Untersuchung mit Müttern zeigen, dass die Aktivierung des mütterlichen Bindungssystems mit einer verstärkten Aktivierung von Substantia nigra, Globus pallidus, dem Nucleus basalis Meynert oder der Area ventralis tegmentalis (VTA) einhergehen. Dies sind Hirnregionen, die reich an Oxytocin- und Vasopressin-Rezeptoren sind und in Zusammenhang mit dem dopaminergen Belohnungssystem stehen. Strathearn, Fonagy, Amico und Montague (2009) untersuchten die

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differenzielle Aktivierung des Belohnungssystems und des peripheren Oxytocins in Abhängigkeit vom mütterlichen Bindungsstil (gemessen mit dem AAI). Die Forschergruppe konnte zeigen, dass sicher gebundene Mütter eine verstärkte Aktivierung in den Hirnarealen des Belohnungssystems aufweisen. Im Gegensatz dazu stellten sie bei unsicher gebundenen Müttern eine verstärkte insuläre Aktivierung fest. Auf Basis dieser Studien lässt sich vermuten, dass je nach Bindungsstil unterschiedliche Hirnbereiche aktiviert werden. So kann davon ausgegangen werden, dass die Entwicklung des oxytocinergen, neuroendokrinen Systems mit der Entstehung des individuellen Bindungsstils eng verzahnt ist. Auch eine Untersuchung von Vrtička, Andersson, Grandjean, Sander und Vuilleumier (2008), die fMRT nutzten, um den Einfluss individueller Bindungsstile bei Erwachsenen auf soziale Beziehungen zu untersuchen, weist in dieselbe Richtung. Sie stellten fest, dass unterschiedlich gebundene Probanden auf soziale Beziehungen mit unterschiedlicher Hirnaktivierung reagierten: Unsicher-vermeidende Probanden (analog zu dem bereits diskutierten Bindungstyp A) wiesen verringerte Aktivierung im Belohnungssystem auf (inklusive ventralem Striatum und VTA), und zwar hauptsächlich dann, wenn die Situation als sozial unterstützend empfunden worden war. Dieser Befund entspricht klinischen Beobachtungen, dass unsicher-vermeidende Persönlichkeiten physische und emotionale Distanz bevorzugen und sich lieber auf sich selbst verlassen, als vom Lob anderer abhängig zu sein. Diese (psychologischen) Vermeidungstendenzen gehen demnach mit einer Abwärtsregulation des mesolimbischen dopaminergen Belohnungssystems bei kongruent-positiver Bestärkung einher. S­ icher gebundene Probanden zeigten hingegen bei unterstützenden Rückmeldungen eine erhöhte Aktivierung in den Hirnregionen des Belohnungssystems. Im Gegensatz hierzu reagierten Personen mit einem ambivalenten Bindungsstil auf Tadel oder Bestrafung mit einer selektiv gesteigerten Aktivierung der linken Amygdala und des linken medialen Thalamus, während sicher gebundene Probanden eine Deaktivierung dieser Bereiche zeigten. Zusammenfassend zeigen uns diese Studien, dass Unterschiede im Bindungstyp zu einer differenziellen Modulation unterschiedlicher neuronaler Systeme – beispielsweise im Bereich der Emo-

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tionsregulation und des Belohnungssystems – führen können. Frühkindliche Erfahrungen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine Vielzahl von Erfahrungen im Jugend- und Erwachsenenalter überformt, auf die sich die meisten der eben erwähnten Studien beziehen. In einer interdisziplinären Studie untersuchen wir zurzeit am Sigmund-Freud-Institut in Zusammenarbeit mit der Goethe-Universität,2 wie sich desorganisiert-gebundene Kinder im Hinblick auf strukturelle und funktionelle neurobiologische Auffälligkeiten von sicher gebundenen Kindern unterscheiden. Ziel ist es, die Zusammenhänge zwischen frühkindlichen Erfahrungen, individuellen Bindungsmustern und neurobiologischen Korrelaten bei Kindern direkt zu untersuchen.

Erkenntnisse aus Frühpräventionsprojekten: Die EVA-Studie Bezogen auf die Frühprävention zeigen alle diese Studien, wie wichtig es ist, die Manifestationen von Traumatisierungen im kindlichen Verhalten zu verstehen und in frühpräventive Maßnahmen einfließen zu lassen. Als Beispiel eines Frühpräventionsprojektes möchte ich hier unsere EVA-Studie herausgreifen. In der EVA-Studie (»Evaluation von zwei Präventionsprogrammen in Kindertagesstätten in Stadtteilen mit erhöhter sozialer Problemlage«) untersuchen wir die Effektivität eines psychoanalytisch orientierten Präventionsprogramms auch hinsichtlich der Frage, ob dieses die individuellen Bedürfnisse von Kindern in einer Risikostichprobe berücksichtigt und dort nachhaltig wirksam ist. Ein wesentliches Ziel der EVA-Studie ist es, durch das psychoanalytische Präventionsangebot FRÜHE SCHRITTE vor allem die gefährdeten 2 Vgl. hierzu die Internetquellen http://www.sfi-frankfurt.de/forschung/forschungsfeld-3/neurobind-neuroimaging-des-bindungssystems.html#c16021 sowie http://www.idea-frankfurt.eu/de/forschung/schwerpunkte/individuelleentwicklung/neurobind

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Kinder mit einem desorganisierten Bindungstyp zu unterstützen und ihnen im besten Fall zu helfen, den Bindungstyp hin zu einer sicheren Bindung zu verändern. Die Hypothese ist, dass, wenn Kinder im Rahmen des Programms FRÜHE SCHRITTE eine stabile alternative Beziehungserfahrung machen, es möglich sein sollte, den Bindungstyp eines Kindes von einem desorganisierten Bindungstyp hin zu einem organisierten Bindungstyp zu verändern.

Interventionen 1. Untersuchungsarm: Präventionsprogramm FRÜHE SCHRITTE FRÜHE SCHRITTE (Leuzinger-Bohleber et al., 2008) basiert wie alle Präventionsstudien des SFI auf psychoanalytischen Konzepten zur Frühentwicklung und -prävention und zielt auf eine Förderung der Qualität der professionellen Beziehungen der Erzieherinnen zu den Risikokindern in der Hoffnung, diesen Kindern – im Sinne der Ergebnisse der Resilienzforschung – im besten Fall zu alternativen, »genügend guten Objektbeziehungen« zu verhelfen. Das psychoanalytische Angebot FRÜHE SCHRITTE besteht aus mehreren »Bausteinen«: 1. Vierzehntägige Supervision des Kindertagesstätten-Teams durch erfahrene Kindertherapeutinnen und -therapeuten 
 Die Fallsupervisionen erweisen sich, laut systematischer Rückmeldung der Teams, als ausgesprochen hilfreich und stellen eine gezielte Möglichkeit einer professionellen Weiterqualifikation für die Erzieher und Erzieherinnen dar. 
 2. Wöchentliche Präsenz von erfahrenen Kindertherapeutinnen und -therapeuten in den Einrichtungen, die vor Ort individuelle Beratungen von Erzieher/-innen, Eltern sowie analytische Kindertherapien anbieten 
 Einige der Kinder und ihre Familien konnten therapeutische Hilfe annehmen, was oft zu erstaunlichen Entwicklungen bei den Kindern führte. Ergebnisse der psychoanalytischen und nichtpsychoanalytischen Resilienzforschung lassen uns – trotz der erwähn-

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ten schlechten Prognose für Kinder mit einem desorganisierten Bindungstyp – auf eine nachhaltige positive Entwicklung hoffen. In vielen Studien hat sich gezeigt, dass positive alternative Beziehungserfahrungen oft in erstaunlicher Weise die Entwicklung von Resilienz von Kindern aus Multiproblemfamilien fördern, was sich oft erst Jahre nach der Frühprävention zeigt. 
 3. Im 2. Projektjahr wird für alle Kinder im Zeitfenster das Gewaltpräventionsprogramm FAUSTLOS (Cierpka u. Schick, 2006) angeboten (vgl. im Folgenden). 
 4. Begleitung einzelner Kinder beim Übergang Kindergarten–Grundschule
 Da, wie erwähnt, nicht alle Eltern von Kindern mit desorganisiertem Bindungstyp bereit waren, therapeutische Hilfe anzunehmen, wurde mit allen Eltern beim Übergang in die Grundschule ein Einzelgespräch durchgeführt und zusätzlich zu der Beratung angeboten, das Kind durch einen Studierenden in den ersten Schulmonaten zu begleiten oder unterstützende Sozialkontakte einzuleiten (z. B. Besuch eines Sportvereins, Musikunterricht etc.).


2. Untersuchungsarm: Präventionsprogramm FAUSTLOS 
 Das Gewaltpräventionsangebot FAUSTLOS (Cierpka u. Schick, 2006) basiert auf dem US-amerikanischen Präventionsprogramm »Second Step« (Fitzgerald u. Van Schoiack-Edstrom, 2006). Ziel dieses von der Heidelberger Gruppe um Manfred Cierpka entwickelten und inzwischen weit verbreiteten Programms ist es, den Defiziten in der kindlichen Entwicklung durch Förderung von Empathiefähigkeit, Impulskontrolle und Problemlösefähigkeit schon früh entgegenzuwirken und Kompetenzen im Umgang mit Ärger und Wut aufzubauen. In wöchentlichen, aufeinander aufbauenden Lektionen über die gesamte Kindergartenzeit werden die Kinder mithilfe ansprechender Materialien (Bilder, Fotos von einzelnen Kindern und Konfliktsituationen mit Erwachsenen und anderen Kindern, Handpuppen) angeleitet.

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Forschungsziel und Hypothesen Forschungsziel ist die Evaluation der Wirksamkeit der beiden Präventionsprogramme. Die Hypothese lautet, dass Programme wie FRÜHE SCHRITTE, die die individuellen Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen, in einer Risikostichprobe nachhaltiger wirksam sind als Programme mit einem allgemeineren Ansatz wie FAUSTLOS. Die empirische Bindungsforschung stellt einen gängigen Ansatz zur Erfassung der spezifischen Mutter-Kind-Beziehung und der innerpsychischen Objektrepräsentationen von Kindern dar. Wie erwähnt, belegten verschiedene Studien, dass sich ein sicherer Bindungstyp als ein protektiver Faktor in der kindlichen Entwicklung erweisen kann (Übersicht dazu vgl. Leuzinger-Bohleber, 2009, 2010; Leuzinger-Bohleber, Canestri u. Target, 2010). Knapp zusammengefasst sind sicher gebundene Kinder schon im Kindergarten kreativer, entwickeln ein adäquateres soziales Verhalten und sind weniger häufig in aggressiv-destruktive Auseinandersetzungen verwickelt als unsicher gebundene Kinder. Daher ist eines der wesentlichen Ziele der EVA-Studie, durch das psychoanalytische Präventionsangebot FRÜHE SCHRITTE vor allem die gefährdeten Kinder mit einem desorganisierten Bindungstyp zu unterstützen und ihnen im besten Fall zu verhelfen, den Bindungstyp hin zu einer organisierten Bindung zu verändern. Sollte es gelingen, dass Kinder im Rahmen des Programms FRÜHE SCHRITTE eine stabile alternative Beziehungserfahrung machen, nehmen wir an, damit den Bindungstyp eines Kindes von einem unsicheren, desorganisierten Bindungstyp hin zu einem organisierten Bindungstyp verändern zu können.

Erste Ergebnisse der Untersuchungen zum Bindungsverhalten (MCAST) Bereits die ersten Ergebnisse der Baseline-Untersuchung (t1) zeigen, dass wir in der EVA-Studie einen hohen Prozentsatz gefährdeter Kinder erfassen. Von den 291 Kindern der EVA1-Studie, die die Einschlusskriterien erfüllten, konnten 186 MCASTs sowohl zu t1 als auch t2 erhoben und ausgewertet werden. Davon waren knapp 70 % unsicher und

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desorganisiert gebunden. Diese Kinder brauchen dringend professionelle Hilfe, und zwar so früh wie möglich. Erste Ergebnisse der EVA-Studie zeigen, dass es uns gelingt, auch empirisch nachzuweisen, dass wir durch FRÜHE SCHRITTE (FS) Kindern helfen können, ihren problematischen Bindungstyp in einen sicheren oder strukturierteren zu transformieren und damit ihre Chance für eine kreative psychische und psychosoziale Entwicklung zu erhöhen. Wenn wir zwei für die Bindungssicherheit relevante Maße betrachten, nämlich das Ausmaß der Sicherheit und das der Desorganisation, so zeigt sich ein signifikanter Zuwachs an Sicherheit bei den Kindern der FS-Gruppe und auch eine Abnahme des Ausmaßes an Desorganisation; auch wenn dieses Ergebnis nicht signifikant wird – die Richtung stimmt. Diese Befunde stimmen uns positiv, dass wir mit unserer psychoanalytischen Intervention den richtigen Ansatz haben, um gerade traumatisierten Kindern zu mehr Sicherheit und weniger Desorganisation zu verhelfen. In unserer EVA-Studie begegneten wir vielen desorganisiert gebundenen Kindern, was diese Studie für den Kontext von Migration, Flucht und Trauma so interessant macht, denn es ist zu erwarten, dass viele Kinder, die Migration und Flucht hinter sich haben, dadurch traumatisiert und in ihrem Bindungsverhalten desorganisiert sind. Diese Kinder weisen ein hohes Entwicklungsrisiko auf und benötigen intensive pädagogische und/oder psychotherapeutische Unterstützung. Mit unserem Präventionsprogramm FRÜHE SCHRITTE versuchen wir die spezifische unbewusste Beziehungswelt dieser Kinder, ihre Phantasien und Entwicklungsdefizite durch eine psychoanalytische Brille zu betrachten, die uns ein differenziertes Bild von der Psychodynamik des einzelnen Kindes erschließt. Außerdem bieten wir allen desorganisierten Kindern und ihren Familien analytische Kindertherapien in den Einrichtungen selbst an, was wir für essenziell halten. Die hier vorgestellten vorläufigen Ergebnisse machen uns Mut, auf dem von uns eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

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Rose Ahlheim und Claudia Burkhardt-Mußmann

Psychoanalytisches Arbeiten mit Migrantenfamilien

Wir stellen gemeinsam »Die psychoanalytisch orientierte Mitarbeiterschulung« vor, wie sie für das Frühpräventionsprojekt ERSTE SCHRITTE zusammen mit Angelika Wolff und Marianne Leuzinger-Bohleber entwickelt wurde (vgl. Leuzinger-Bohleber u. LebigerVogel, 2016; Wolff, 2015a, 2015b). Wir verbinden mit diesem Projekt die Hoffnung, auf die Herausforderungen reagieren zu können, die angesichts der vielen geflüchteten Mütter, Kinder und Familien zu bewältigen sein werden, die hier ein Zuhause suchen. Rose Ahlheim war verantwortlich für die Schulung der Mitarbeiterinnen von ERSTE SCHRITTE im Kindergesundheitshaus e. V. am Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin. Claudia BurkhardtMußmann hat diese Aufgabe für das Praxisteam in Frankfurt übernommen. Die Konzeptentwicklung für das Frühpräventionsprojekt ERSTE SCHRITTE hatte die Chance, auf den Kenntnissen einer langen und intensiven Projekterfahrung aufbauen zu können. Bei Projektbeginn führten bereits seit über 10 Jahren das Sigmund-Freud-Institut (SFI) mit Marianne Leuzinger-Bohleber und das Anna-Freud-Institut (AFI) mit Angelika Wolff in Kooperation Präventionsprojekte durch. In produktiver Gemeinsamkeit wurden und werden Forschung seitens des SFI und Klinik seitens des AFI zusammengeführt. Die Interventionsangebote dieser gemeinsamen Präventionsprojekte wurden in Frankfurter Kindertagesstätten durchgeführt. Die Ausführenden waren Kindertherapeutinnen und -therapeuten des Anna-FreudInstituts. Sie verließen ihre Praxen, in denen sie als Niedergelassene arbeiteten, um die Kindertagesstätten aufzusuchen. Dort vor Ort haben sie durch teilnehmende Beobachtung mit einer Haltung offener Aufnahmebereitschaft und emotionaler Zuwendung Wissen gerade über schwierige Kinder erworben, das sie dann den Erzieherinnen zur Verfügung stellen konnten.

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Mit der Einführung des ERSTE-SCHRITTE-Projekts mussten wir zum ersten Mal von einigen Eckdaten dieser bewährten Praxis abweichen. Weder konnten wir auf bestehende Einrichtungen zurückgreifen noch konnten wir Kolleginnen für diese umfängliche Arbeit gewinnen. Dafür gab es mehrere Gründe. ERSTE SCHRITTE war ein Angebot für schwangere Migrantinnen, die erst vor kurzem nach Deutschland gekommen waren – ein Großteil von ihnen als Familienzugewanderte. Zu Forschungszwecken war es nötig, eine Vergleichsgruppe zu etablieren, zudem musste in relativ kurzer Zeit eine hohe Anzahl Teilnehmerinnen gewonnen werden. In Zahlen ausgedrückt: Für zehn Gruppen à acht Müttern in drei verschiedenen Frankfurter Stadtteilen musste mindestens die dreifache Teilnehmerzahl angeworben werden. Veränderungen der Lebenssituation durch Umzüge, aber auch andere Erwartungen an das Angebot waren häufige Gründe für einen Rückzug aus dem Projekt. Um die Teilnahme am Projekt aufrechtzuerhalten, mussten vor jeder der wöchentlichen Gruppensitzungen Kurznachrichten mit Erinnerungen verschickt bzw. die Teilnehmerinnen oder ihre Familien telefonisch kontaktiert werden.

Die Ausgangslage von ERSTE SCHRITTE Als ERSTE SCHRITTE im Jahr 2010 gestartet wurde, gab es in Frankfurt noch keine speziellen Angebote, die die besonderen Bedürfnisse von gerade erst zugewanderten Migrantinnen und ihren Kleinkindern berücksichtigt hätten. Dadurch entstand die Herausforderung, ein eigenes Projekt zu entwickeln. Konzeptionelle Vorbilder waren einerseits psychoanalytische Mutter-Kind-Gruppen und andererseits kultursensible psychoanalytische Konzepte von Frühpräventionsangeboten für Migranten, wie Patrick Meurs und Mitarbeiter sie in Belgien etabliert hatten (vgl. Meurs, Jullian u. Vliegen, 2016). Begleitet wurde die gesamte Konzeptentwicklung durch die Haltung der französischen Ethnopsychologin Moro (1994), nicht die eigene Kultur zum Dreh- und Angelpunkt zu machen, sondern sich der fremden Kultur mit Interesse und Neugier zu nähern. Aus den Erfahrungen der Vorgängerprojekte resultierten Hinweise auf Herausforderungen, die von Angelika Wolff auf den Punkt gebracht wurden.

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Sie fasste die Zusammentreffen der Kinderanalytikerkollegen mit den Eltern und Kindern in den aufgesuchten Kindertagesstätten mit einem sehr hohen Migrantenanteil folgendermaßen zusammen: »Es klingt positiv und anerkennenswert, wenn wir als Psychoanalytiker unseren ureigenen angestammten Platz: die Praxis […] auch einmal zu verlassen bereit sind, um uns […] draußen bedürftigen Kindern mit […] erheblichen Entwicklungsrisiken zuzuwenden. Was aber, wenn wir diesen und ihren Eltern nur fremd sind, eine sprachliche Verständigung ausgeschlossen scheint und unser Interesse am ehesten Scham und unsere Zuwendung Misstrauen auslöst? Was, wenn wir selbst vorwiegend negative Gefühlsreaktionen spüren, deren Reflexion und Kontrolle alle Kraft fordert und wir nur noch weg wollen?« (Wolff, 2013b, S. 373). Bei der Konzeptualisierung von ERSTE SCHRITTE wurde versucht, diese zu erwartenden Schwierigkeiten mitzudenken: die Fremdheit, von der beide Seiten ergriffen sind; Scham und Misstrauen auf Elternseite und Fluchtbewegungen auf der Seite der Berater/-innen oder Projektanbieter/-innen. Im Folgenden wollen wir einige der Projektkoordinaten kurz beschreiben.

Früher Beginn Die Hoffnung war, mit einem frühest möglichen Beginn, nämlich von der Schwangerschaft an, die Eltern in einer Phase zu erreichen, in der sie für unterstützende Maßnahmen besonders offen sind, schon aufgrund der hormonellen Einflüsse in dieser Zeit. Natürlich war an den zeitigen Beginn auch das Ziel geknüpft, die frühe Bindung zu stärken und damit der Entwicklung der Kinder einen guten Start zu ermöglichen.

Langfristigkeit Eine weitere wichtige Koordinate war Langfristigkeit (Projektdauer: drei Jahre). Zum Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Gruppenleiterinnen und den teilnehmenden Müttern und Kindern war es notwendig, Fremdheit zu überwinden und sich mit

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Be-fremden auseinanderzusetzen. Dazu braucht es Zeit. Langfristigkeit trägt den Vorwärtsbewegungen wie den Rückzügen Rechnung, dem Kommen und Gehen, dem Vertrauen und dem Misstrauen. Kurzfristige Angebote geben dazu keine Chance. Wer nach einem Rückzug wiederkommen möchte, findet bei kurzfristigen Angeboten unter Umständen einen verlassenen Ort vor.

Regelmäßigkeit/Kontinuität Sie tragen, ähnlich wie Langfristigkeit, zu innerer Sicherheit und Stabilität bei und bilden damit ein Gegengewicht zu flucht- bzw. migrationsbedingten Verlusten und Ängsten. Im Hinblick auf die Kinderentwicklung kann die Separation, besonders im Alter von zwei bis drei Jahren, im Rahmen einer von Angst- und Fremdheits­ gefühlen beherrschten Eltern-Kind-Beziehung zu Krisen führen und die Entfaltung eines Kindes nachhaltig hemmen. Auch vor diesem Hintergrund müssen wir Kontinuität im Sinne einer Unterstützung zur Krisenbewältigung zur Verfügung stellen. Die Gruppentreffen finden einmal pro Woche am gleichen Ort mit denselben Mitarbeiterinnen statt.

Offenheit Zu den weiteren Koordinaten des Projekts gehört Offenheit. Sie ist für die Lebensgeschichten der Mütter und Familien von einem teilnehmenden Interesse geleitet, das, ohne intrusiv zu sein, durchaus auch Fragen stellt, die dazu anregen, starre Narrative zu hinterfragen. Kulturübergreifende aktuelle Themen zu »Schwangerschaft, Kind und Entwicklung« können dazu beitragen, dass verbindende Gruppenthemen entstehen; bei bis zu fünf verschiedenen Ethnien in einer Gruppe kann man davon ausgehen, dass die Erfahrungen mit diesen Themen sehr unterschiedlich sind. Kulturspezifische Reflexionen der Kindesentwicklung können bei allen Beteiligten den Blick öffnen für neue Erfahrungen und machen die Unterschiede transparent, die im Zusammenhang mit

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einem Aufwachsen in einer gruppenspezifischen bzw. einer elternzentrierten Kultur entstehen.

Erreichbarkeit Eine der großen methodischen Herausforderungen bestand darin, die Menschen, die für das Angebot gewonnen werden sollten, auch zu erreichen. Um die Zielgruppe der schwangeren Migrantinnen oder der Migrantinnen mit Kleinkindern zu erreichen, wurden die seit 2004 obligatorisch gewordenen Integrations- und Sprachkurse genutzt, in denen auch Kinderbetreuung angeboten wurde. In ­14-tägigem Rhythmus wurde das Projekt bei den Sprachkursanbietern vorgestellt. Eine traditionell gekleidete türkische Mitarbeiterin hatte großen Erfolg darin, schwangere Mütter, die muslimisch gekleidet waren, auf der Straße anzusprechen und sie ins Projekt einzuladen. Die Mitarbeiterinnen waren in der Gewinnung von Teilnehmerinnen umso erfolgreicher, je traditioneller sie waren, das heißt, wenn sie selbst in einer gruppenverbundenen, kollektiven Kultur aufgewachsen waren und ihnen die Priorität des persönlichen Kontakts selbstverständlich war. Sie konnten diskussionslos den Stellenwert des sachorientierten Interesses hintanstellen und sich quasi als Mitglied der Großfamilie einfühlen und gewannen damit die Herzen der Mütter und der ganzen Familie. Wo diese Voraussetzung nicht erfüllt war, wurde es schwierig. Die »schwere Erreichbarkeit« von muslimischen Familien wird bereits 2008 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Thema gemacht. In der Broschüre »Wie erreicht Familienbildung und -beratung muslimische Familien? Eine Handreichung« (Thiessen u. Michels, 2009) werden die Erfahrungen einer Beraterin folgendermaßen zusammengefasst: »Wenn meine Kollegin zu einem Beratungstermin in eine deutsche Familie aufbricht, ist sie nach ca. zwei Stunden, manchmal auch früher, wieder zurück. Unter drei bis vier Stunden habe ich es bei meinen ausländischen Familien noch nie geschafft« (S. 26). Im Zusammenhang mit der akuten Konfrontation, Konzepte entwickeln zu müssen, die der großen Zahl Geflüchteter mit Bleibe­ absichten Teilhabemöglichkeiten bieten, wird man intensiver da-

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rüber nachdenken müssen, welche Lösungen es für das Bedürfnis nach »persönlichem Kontakt« geben könnte. Denn die Geflüchteten kommen aus eben jenen Herkunftsländern, in denen sie überwiegend in Systemen kollektiver Orientierung aufgewachsen sind.

Professionalisierung Um den Herausforderungen eines randomisierten Forschungsprojekts gerecht zu werden, wurde schnell deutlich, dass unsere kinderanalytischen Kolleginnen weder die Rekrutierung stemmen noch die Leitung der zehn Gruppen würden übernehmen und noch zusätzlich einen hohen Aufwand würden betreiben können, um den persönlichen Kontakt zu den Teilnehmern zu halten. Aber ihre kinderanalytische Kompetenz konnte fester Bestandteil eines Konzepts zur Professionalisierung des Teams werden. Die Mitarbeiterinnen waren Pädagoginnen oder Psychologinnen, die meistens eigene Migrationserfahrung hatten und als wichtiges Verbindungsglied zu den migrantischen Müttern eigene Erfahrungen als Mutter aufwiesen.

Die psychoanalytisch orientierte Mitarbeiterschulung Ein auf drei Säulen basierendes Angebot bereitete die Mitarbeiterinnen auf ihre Arbeit vor und begleitete sie kontinuierlich über den gesamten Verlauf des Projekts: psychoanalytische Supervision, psychoanalytische Praxisreflexion und das für das Projekt erarbeitete, auf einem Manual basierende Curriculum (Burkhardt-Mußmann, 2015, S. 35–38). Das Curriculum wird von Kolleginnen aus dem AFI angeboten. Als Vorlage für die zu vermittelnde Theorie wurden unter anderem das Programm von Parens (Parens u. Rose-Itkoff, 1997) genutzt. Es war um theoretische Konzepte, eigene Sichtweisen oder Ergänzungen erweitert worden. Die Abfolge der Themen orientierte sich an Szenen, die in den Gruppenprotokollen als konflikthaft beschrieben worden waren, und am Entwicklungsalter der Kinder in einer

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Gruppe. Eine Schwierigkeit in der Theorievermittlung ergab sich dadurch, dass die Gruppen nicht altershomogen waren. Psychosoziale Entwicklungsschritte konnten also nicht so vermittelt werden, wie sie genetisch vorgegeben sind. Die Supervision ist eine psychoanalytische Einzelfallreflexion.1 Sie wird, weil die Gefühle im Zusammenhang mit der Projektarbeit oft schwer auszuhalten sind, auch als Selbsterfahrung genutzt. In der Praxisreflexion werden Themen behandelt, die den Kontakt zu den Müttern bzw. Familien mit Kindern betreffen. Unter anderem geht es darum, Gründe für schwere Zugänglichkeit zu reflektieren, Abbrüche und Rückzüge zu thematisieren etc. Weitere Themen sind unter anderem, wie die Rolle der (abwesenden) Väter einzuschätzen ist, welche entwicklungspsychologischen Fragestellungen aktuell relevant sind und wie Erkenntnisse aus der Reflexion in die Praxis Eingang finden könnten. Die Themen der Praxisreflexion werden anhand von Protokollen besprochen, in denen die Abläufe von Rekrutierung, Hausbesuchen und Gruppensitzungen festgehalten werden. Dafür wurde ein Leitfaden entwickelt. Er soll der Sensibilisierung der Mitarbeiterinnen für psychodynamische Prozesse dienen. Im Folgenden einige Ausschnitte:

Vorfeld Was beschäftigt mich, hat es mit mir oder der bevorstehenden Gruppensitzung zu tun? Eine kurze, stichwortartige Darstellung reicht aus, zum Beispiel ob eine Mutter, die man schon oft angerufen hat, wohl kommen wird; Überlegungen zum zu erwartenden Ablauf bzw. etwas, das im letzten Gruppentreffen nicht geklärt werden konnte.

1 Sie wird von der Ärztin und Psychoanalytikerin und sehr erfahrenen Supervisorin Dr. Gisela Volk angeboten.

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Auftakt (besondere Szene) Kommt jemand in einer ungewöhnlichen Stimmung? Hat man selbst besondere Erwartungen? Ist ein Kind anders als sonst?

Ablauf Beim Ablauf ist auf die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung achten: –– Was löst wer in mir aus, worauf reagiere ich besonders? –– Was bewirkt, was ich mache, sage, eventuell im anderen? –– Setzt mich eine Situation unter Druck? –– Gibt es besonders gute Lösungsansätze/belastende Interaktionen im Gruppengeschehen? –– Was fällt mir an der Entwicklung der Kinder, der Mutter-KindBeziehungen auf? –– Wie wird die Gruppe beendet? Kann sich jemand besonders schlecht trennen? Wird noch ein Einzelgespräch gesucht? Der Berliner Ableger des Projekts konnte schon auf das Konzept, die Erfahrungen und Überlegungen des Frankfurter Teams zurückgreifen. Dafür war es ein wenig sparsamer ausgelegt. Ungewollt ergab sich eine längere Vorlaufzeit, ehe die erste Gruppe starten konnte. Wir nutzten sie für die Einführung des Teams in psychoanalytisches Denken, in das Konzept und die Arbeitsweise der Frankfurter Gruppen, in die psychoanalytische Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre und der frühen Mutter-Vater-Kind-Beziehung. Vor allem aber war dies auch die Zeit des Kennenlernens und Zusammenwachsens des Teams. Fast alle Mitarbeiterinnen hatten – anders als in Frankfurt – Berufserfahrung mit Babys und kleinen Kindern, und sie alle waren bereit, ihren Expertinnenstatus beiseite zu lassen und von ihren neuen Erfahrungen zu lernen. Das wöchentliche zweistündige Treffen diente dann, nachdem die Arbeit mit den Gruppen angelaufen war, zu einem kleinen Teil der organisatorischen Verständigung, vor allem aber von Fall zu Fall der Weiterbildung und der Praxisreflexion. In die Richtung einer Teamsupervision ging es dann, wenn eine Konfliktdynamik aus

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dem Gruppenleben unverstanden in das Team »überschwappte« oder wenn aufgekommene Affekte belastend waren und das Denken oder die professionelle Distanzierung blockierten. Die Berichte aus den Gruppen orientierten sich an dem Leitfaden, der in Ausschnitten bereits vorgestellt wurde, waren aber bedeutend kürzer. Die Teamdiskussion folgte der Frage an jede Gruppe »Gibt es etwas Belastendes oder Unverstandenes, Wichtiges, etwas Erfreuliches?« und war von einem hohen gegenseitigen Interesse getragen, sodass nahezu jede beteiligte Familie uns allen mehr oder weniger bekannt war.

Szenisches Verstehen: Eine Methode der Praxisreflexion In der Praxisreflexion wird den Mitarbeiterinnen ein Raum zum Nachdenken zur Verfügung gestellt, um über Unverstandenes gemeinsam mit einer erfahrenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin nachdenken zu können. Der leitende Gedanke ist, sich nicht an den Tatsachen zu orientieren, sondern nach dem subjektiven Sinn zu suchen, der sich hinter der besonderen Szene verbirgt: Was könnte die Szene aus der Sicht dieser besonderen Mutter oder Familie und ihrer besonderen Lebenssituation bedeuten? Diese Art des Reflektierens trug dazu bei, dass am Anfang eine Szene vieles bedeuten konnte, am Ende vieles nicht mehr (Lorenzer, 1973, S. 148). Bedeutungen, die auf diese Weise erarbeitet worden waren, wurden probeweise eingesetzt und auf ihre Richtigkeit überprüft. Mit der als szenisches Verstehen bezeichneten Methode wurde ein Zugang zum Verstehen genutzt, der von Alfred Lorenzer in »Sprachzerstörung und Rekonstruktion« entwickelt worden war. Im Bereich der psychoanalytischen Pädagogik beispielsweise kann sie, gerade in Frankfurt, auf eine bewährte Tradition zurückblicken (Datler, 1995; Leber, Trescher u. Weiss-Zimmer, 1989; Trescher 1990).

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Fallbeispiel (Berlin) Mit der Spaltung in »gut« und »schlecht« hatte Consuela sich über die Neuorientierung im fremden Land hinweggeholfen und zugleich über die schwierige Zeit der Umstellung auf eine neue Lebenssituation als Mutter eines neugeborenen Sohnes. Consuela erklärt ihr karibisches Herkunftsland für schmutzig, unordentlich, umweltverseucht, dort könne sie nicht leben, und sie idealisierte Deutschland als das saubere, sichere und geordnete Land ihrer Träume. Zielstrebig hatte sie darauf hingearbeitet, einen deutschen Ehemann für sich zu gewinnen, und nun suchte sie in der ERSTE-SCHRITTE-Gruppe Kontakte für sich und ihr Baby. Consuela wünschte sich ein inniges Zusammensein, »unendliche Nähe«, wie es im Nachhinein schien, und erbat und erhielt viele Hilfsdienste, die über die Gruppenarbeit weit hinausgingen. (Schon früh spiegelte sich in der Supervisionsgruppe die Tendenz zu feindseliger Polarisierung: Eine Minderheit geriet regelrecht in Zorn über die »Anspruchshaltung«, mit der Consuela so sehr um Zuneigung und Unterstützung bemüht war. Andere ärgerten sich über diese »Verurteilung« und Einfühlungsverweigerung, und man ging ohne Einigung auseinander.) Dann gab es in der Müttergruppe eine Wendung: Consuelas idealisierende Überschätzung der Helferinnen kippte in eine offenbar tiefe Enttäuschung um, die in dem Vorwurf gipfelte: Es sei so schmutzig und unordentlich hier im Gruppenraum, dass ihr kleiner Sohn sich Krankheiten holen würde. Eine Neuauflage also ihres Vorwurfs an ihr Herkunftsland (»umweltverseucht«), und damit blieb Consuela der Gruppe fern. Gleichzeitig »emigrierte« sie in ein nicht weit entferntes Mutter-Kind-Zentrum, wo sie geeignete Gruppen und vor allem Freundinnen für sich selbst fand. Wir sahen in dieser Aktion eine szenische Wiederholung ihrer Migration, die bis dahin zu keiner guten Lösung gefunden hatte. Die Gruppenleiterin hatte weder Kränkung noch Verärgerung gezeigt, sondern Wertschätzung dieses Mutter-KindZentrums, und Consuela mit Hinweisen auf besonders geeignete Angebote dort versorgt. Consuela war also nicht in »Feindesland« ausgewandert und so nahm diese Migration im Kleinformat eine versöhnliche Wendung. Das zeigte sich, als Consuela mit ihrem zweiten Baby in die ERSTE-SCHRITTEGruppe zurückkehrte, ohne die anderen Kontakte abzubrechen. Letztendlich könnte eine gute Erfahrung für sie darin liegen, dass Enttäuschung und Fortgehen nicht in Unversöhnlichkeit enden.

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Der Blick auf das Baby Neben dem szenischen Verstehen kann ein weiterer Zugang uns ahnen lassen, was in einer jungen Mutter vorgeht: das Verhalten ihres Babys. Blickt es, in sich zurückgezogen, teilnahmslos ins Leere? Bemüht es sich überdeutlich, durch Laute, Gesten und ansteckendes Lachen die Mutter aufzuheitern, ihre Stimmung zu erhellen? Lässt es Sicherheit erkennen, indem es von ihrem Schoß aus die Umgebung mit seinen Blicken erforscht, oder verbirgt es sich schüchtern in ihrer Kleidung? Geht es auf Erforschung des Raumes, wenn es krabbeln kann, tauscht es von unterwegs Blicke mit ihr? Dabei ist freilich zu bedenken, dass in anderen Kulturen der Austausch über den Blick nicht die gleiche Rolle spielt wie bei uns und dass mit dem Größerwerden die Orientierung an den älteren Geschwistern und Nachbarkindern wichtiger sein kann als der Kontakt zur Mutter. Aber es gibt doch Auffälligkeiten.

Fallbeispiel Marija war eine lebhafte Frau, die viel scherzte und lachte. Ihre kleine Tochter Lydia aber vermied es sichtlich, ihre Mutter anzusehen. Wenn sie ihre Augen im Raum wandern ließ, machte ihr Blick einen Bogen um die Mutter. Nahm die Mutter sie auf den Arm, so überstreckte sie sich, drehte den Kopf nach außen und suchte eindeutig den Kontakt zu vermeiden. Sie weinte viel und nahm die Brust nur, wenn sie wirklich hungrig war. Marija aber wirkte resigniert, ließ Lydia in ihrem Wagen im Nebenraum stehen und versuchte kaum, ihr Weinen zu beruhigen – verständlich, wie uns schien, weil die Kleine sich von ihr ja nicht beruhigen ließ. Wir machten uns deswegen Sorgen um Marija, und dann erzählte sie – immer nur unter vier Augen – mehrfach von ihrer Geschichte: Sie hatte die Ermordung ihrer Familie miterleben müssen und hatte auf ihrer überstürzten Flucht ihre kleine Schwester – damals noch ein Baby – mitgenommen. Später hatte sie dieses Mädchen als ihr Kind adoptiert. Nun konnten wir vermuten, dass Marija dieses verlorene, überlebende Baby in Lydia wiedersah, dass die Schreckensszene von mörderischer Verfolgung und Flucht nach dem Verlust aller ihrer Lieben für sie lebendig wurde, wenn sie mit Lydia zusammenkam – so wäre Lydias Abwehr dagegen, von Marijas Armen umfangen

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zu werden, gegen Marijas Blick verständlich. Weiterhin verstanden wir Marijas Neigung, Lydia viel zu dick, in etliche Kleidungsschichten einzupacken, als szenische Darstellung ihres Wunsches, das kleine Wesen mit einem Schutz zu umgeben. Da blieben bloße Belehrungen nutzlos. Wir konnten uns nicht anmaßen, bei der Bewältigung dieses Traumas zu helfen, aber die Gruppenleiterinnen konnten Marija vermitteln, dass sie sie nicht für eine schlechte Mutter hielten, sondern großen Respekt vor ihr hatten, und Lydia zeigte auf Dauer, dass sie von den freundlichen Kontakten in der Gruppe gut profitieren konnte, sie wurde zu einem kontaktfreudigen und oft fröhlich gestimmten kleinen Mädchen.

Herausforderungen Im interkulturellen Kontext – nicht selten gepaart mit belastenden familiären Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmangel und einer leidvollen individuellen Geschichte – sind konflikthafte Interaktionen vorgezeichnet. In der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung tauchen sie in Form von Selbstzweifeln und Verunsicherungen in den Mitarbeiterinnen wieder auf. So führte die Anstrengung, die Migrantenfamilien nur mit außerordentlichem persönlichem Einsatz erreichen zu können, nicht selten zur Infragestellung der eigenen Person, aber auch zur Verunsicherung im Hinblick auf das, was man anzubieten hatte.

Die Laien-Experten-Falle Kompensatorisch zu den Verunsicherungen, die sich dadurch ergeben, dass ein Angebot nur zögerlich nachgefragt wird, verführen Fragen der teilnehmenden Mütter die Gruppenleiterinnen oft zu schnellen Antworten. Expertenwissen vermittelt das gute Gefühl, sich auf vertrautem Terrain zu bewegen und etwas Hilfreiches geben zu können, ein durchaus vertrautes Phänomen und eine Falle für alle Expertinnen und Experten. Umso mehr ist die Chance wertzuschätzen, wenn es dafür einen Reflexionsraum gibt. Die Fallvignette

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einer afrikanischen Mutter, die mit ihrem kleinen Sohn am ERSTESCHRITTE-Projekt teilnahm, soll das skizzieren.

Fallbeispiel Alles fing an mit ihrer scheinbar eindeutigen Frage, wie sie eine weitere Schwangerschaft verhindern könne. Eine besonders kundige Mitarbeiterin gab ihr umfassend Auskunft. Da wir von dieser Mutter wussten, dass sie ambitionierte berufliche Ziele verfolgte, schien es aus Sicht der Gruppenleiterin logisch, dass die Ausbildung Priorität vor einem Kind haben sollte. Als die Mutter nicht mehr zur Gruppe kam, wurde in der Praxisreflexion über die Gründe dafür nachgedacht. Beim Zusammentragen der Faktenteilchen und Assoziationen entstand ein weiteres Bild dieser Mutter. Es zeigte sie in der Einsamkeit ihrer weit abgelegenen kleinen Wohnung. Der Mitarbeiterin, die sie dort besucht hatte, hatte sie von ihrem Heimatort erzählt, wo es immer voller Leben war und wo sie jeden kannte. Wir verstanden mit einem Mal, dass sie sich Kinder wünschte, um etwas von dem Leben ihrer Heimat um sich herum zu haben, dass sie sich aber gleichzeitig anzupassen versuchte, um die beruflichen Möglichkeiten, die sich ihr hier boten, zu nutzen. Die Mitarbeiterin, die ihr Verhütungsmethoden so gut erklärt hatte, traf sie zufällig wieder, den Kleinen im Wagen und sichtbar schwanger mit einem zweiten Kind. Es war ein freudiges Wiedersehen, vor allem auch deshalb, weil die Mitarbeiterin sich so offensichtlich mit ihr freuen konnte, dass sie bald ein weiteres Kind haben würde. Die Mutter war vom Zeitpunkt dieser Begegnung an wieder Teilnehmerin im Projekt, sie wurde eine der tragenden Säulen der Gruppe, bekam noch ein drittes Kind und belebte alle mit ihrer vitalen mütterlichen Ausstrahlung. Einsichten dieser Art machten es leichter, dem Druck standzuhalten, auf Fragen keine fertigen Experten-Antworten parat zu haben und stattdessen die Runde der Mütter einzubeziehen und, um noch einmal Moro zu zitieren, im Sinne interkultureller Erfahrung mit der Gruppe der Mütter gemeinsam »nicht die eigene Kultur zum Dreh- und Angelpunkt zu machen, sondern sich der fremden Kultur mit Interesse und Neugier zu nähern« (Moro, 1994).

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Fallbeispiel Daria fragt immer wieder, ob ihr Kind in Ordnung und gesund sei. Sie fürchtet auch, sie könne es beim Stillen am Atmen hindern, sodass es ersticken müsse, und deshalb nimmt sie es immer wieder nach wenigen Schlucken von der Brust. Da hilft keine medizinische oder pflegerische Aufklärung. Denn ihre Frage geht dahin, ob sie ohne den Beistand ihrer Familie und ihrer heimatlichen Umgebung eine ausreichend gute Mutter sein und für ihr Kind, die Last der Verantwortung für sein Leben, allein tragen kann. Hilfe kann ihr der Rückhalt in der Gruppe, das mütterliche Wohlwollen der erfahreneren Mütter geben. Nach einigen Wochen hat ihre Sorge um die Gesundheit des Babys nachgelassen und es kann ruhig an ihrer Brust trinken.

Das Kinderspiel in seiner kulturellen Bedeutung Zu den Werten einer elternzentrierten im Gegensatz zu einer familien- oder gruppenzentrierten Gesellschaft gehört die Entwicklung des Kindes zu einem eigenständigen, unabhängig denkenden und urteilendem Individuum. Schon die frühesten Interaktionsformen zwischen den Eltern und dem Baby tragen den Keim zur Entfaltung einer individuellen Entwicklung in sich. Ganz gegensätzliche Erfahrungen fanden sich bei einem Großteil der Mutter-KindInteraktionen in den ERSTE-SCHRITTE-Gruppen. Viele Kinder erhalten wenige Gelegenheiten zu frühen spielerischen Interaktionen, wie sie mit Blickkontakt, Lautieren und Greifen möglich sind. Die Funktionen eines Gegenstandes zu entdecken, zu entwickeln, mit ihm zu experimentieren und zu expandieren, wird oft sogar aktiv unterbunden. Es entsteht der Eindruck, dass es keine Idee von dem Vergnügen und den Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit beim Kind gibt. Ein hilfreicher Schritt, um hier einen Zugang zu eröffnen, war für beide Seiten – die Gruppenleiterinnen wie die teilnehmenden Mütter – eine Auseinandersetzung mit den Spielgewohnheiten, wie die Mütter sie selbst erlebt hatten. Für viele von ihnen galt, dass sie sich nicht an Spielerisches zwischen Kleinkindern und Müttern erinnern konnten. Aber dennoch begannen

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einige plötzlich Kinderlieder zu singen, von denen sie erinnerten, dass sie zum Einschlafen gesungen worden waren. Eine andere Mutter entsann sich, wie in ihrer Heimat kleine Puppen aus Maisblättern hergestellt wurden. Eine interkulturelle Annäherung gerade in Bezug auf das frühkindliche Spielen steht noch aus. Immer wieder werden Beobachtungen von Spiel­szenen geschildert, die auf die Gruppenleiterinnen irritierend oder gar verstörend gewirkt haben, umgekehrt drücken Bemerkungen von an den Gruppen teilnehmenden Müttern oft den Anpassungsdruck aus, unter dem sie sich sehen, zum Beispiel wenn gefragt wird, wie oft und lange sie denn mit dem Kind spielen müssten.

Fallbeispiel In einem heißen Berliner Sommer traf sich die Gruppe auf einer Wiese und ein Planschbecken war auch da. Loretta, eine Mutter aus dem subsaharischen Afrika, griff ihren kleinen Leon, um ihn ins Wasser zu setzen – Leon zappelte und schrie und wehrte sich aus Leibeskräften, aber es half ihm nichts. Trotz seines verzweifelten Geschreis hielt Loretta ihn energisch im Wasser fest. Die Gruppenleiterinnen sahen äußerst befremdet, ja entsetzt zu. Loretta sagte später einmal, in ihrer Heimat pflege man Kinder nicht zärtlich zu behandeln, sie nicht zu trösten und nicht mit ihnen zu spielen, denn sie sollten stark werden! Und zum Spielen habe man auch keine Zeit. Szenisch konnten wir diese Episode noch anders verstehen: Loretta fühlte sich damals noch fremd und elend in Deutschland, sie war nur auf dringenden Wunsch ihrer Familie dem Ehemann nachgereist, der schon früher hierhergekommen war. Sie hatte »ins kalte Wasser springen« müssen, gegen ihren eigenen Willen.

Die Abwesenheit einer weiblichen Adoleszenzerfahrung In der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung in den ERSTE-SCHRITTE-Gruppen dominiert eine Atmosphäre schwesterlicher Verbundenheit zwischen den Teilnehmerinnen und den

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Leiterinnen mit Umarmungen, Küsschen und der bedeutungsvollen Rolle, die dem gemeinsam eingenommenen Essen zukommt. Unbehagen, Ärger und Konflikte offenbaren sich oft in aggressiven Auseinandersetzungen zwischen den Kindern, manchmal ist auch das Fernbleiben von der Gruppe ein Hinweis auf Ärger. Vor dem Hintergrund, in eine Sozialstruktur hineingeboren zu sein, in der der Gruppenzusammenhalt Priorität hat, wird von vornherein die Homogenität des subjektiven Erlebens betont. Das Andersartige, das Individuelle wird nicht nur keine Lust machen, es wird angsterregend sein. Solange diese Gesellschaft nicht verlassen werden muss, entsteht kein Druck zur Auseinandersetzung mit der Komplexität von Subjektivität. Die Vorstellung, dass Generationenkonflikte in der Adoleszenz entwicklungsfördernd sind und dass sie auf ein eigenständiges Leben vorbereiten, ist den meisten Müttern fremd. Manchmal gelingt es dennoch, einen hoffnungsvollen Blick auf einen Neuanfang entstehen zu lassen, verbunden mit dem Reiz, etwas Eigenes zu entwickeln. Das schaffte zum Beispiel Loretta, die anfangs plante, ihre Kinder zu ihrer Familie nach Afrika zu schicken, sobald sie groß genug wären, und die selbst am liebsten sofort zurückgegangen wäre. Inzwischen hat sie mehrere Deutschkurse absolviert, sich beruflich weitergebildet und eine Anstellung erhalten, ihre Kinder gehen mit gutem Erfolg zur Schule.

Ausblick Die Beendigung des klinischen Teils – die Forschung ist noch nicht abgeschlossen – des Frühpräventionsprojekts ERSTE SCHRITTE nach vier Jahren ist nicht das Aus des Angebots. In gemeinsamer Anstrengung der beiden Institute (Sigmund- und Anna-Freud-­ Institut) und mit Übernahme der Trägerschaft durch die AWO (Perspektiven  gGmbH) in Frankfurt und dem Kindergesundheitshaus e. V. am Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin, ist es an beiden Standorten gelungen, ein weiterführendes Projekt zu konzipieren: »­Jasmin – zwischen Traum und Trauma« in Frankfurt, »Hand in Hand« in Berlin. Beide Projekte verstehen sich als Gruppenange-

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bote für Flüchtlingsfamilien. Die migrierten Mütter aus ERSTE SCHRITTE, die zum größten Teil im Rahmen von Familienzuwanderung nach Deutschland gekommen waren, sind weiterhin Teilnehmerinnen. Plätze, die frei werden, weil die Kinder in den Kindergarten gehen, werden mit Müttern und Kindern aus den Unterkünften für Geflüchtete besetzt. Der große Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, dass Gruppen nicht erst neu gegründet werden müssen und dass die Geflüchteten Aufnahme finden bei Menschen, die mit ihrer Kultur vertraut sind, oft sogar aufgrund gemeinsamer Sprache das Übersetzen übernehmen können. Zudem konnten sie sich bereits Strategien aneignen, das Leben im Aufnahmeland Deutschland zu meistern. Die Zusammenführung der beiden Gruppen verlangt gleichwohl ein sehr sensibles Eingehen auf die Bedürfnisse aller Beteiligten. Das gelingt bisher, nach den insgesamt eineinhalb Jahren, in denen es »Jasmin – zwischen Traum und Trauma« gibt, gut. Die weiterhin, nur in weniger dichter Frequenz, durchgeführte psychoanalytisch fundierte Mitarbeiterschulung erweist sich als Sicherheit gebendes emotionales Fundament, von dem aus die Annäherung an das Fremde sowie das behutsame Eingehen auf traumatisch verzerrte Mutter-Kind-Interaktionen gelingen kann.

Literatur Ahlheim, R. (2016). Ankommen in einer fremden Welt – ein psychoanalytischer Blick auf Mutter-Kind-Beziehungen nach der Migration. In M. Leuzinger-Bohleber, J. Lebiger-Vogel (Hrsg.). Migration, frühe Elternschaft und die Weitergabe von Traumatisierungen. Das Integrationsprojekt »ERSTE SCHRITTE« (S. 259–277). Stuttgart: Klett-Cotta. Bundesministerium des Innern, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2012). Migrationsbericht 2012. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Zugriff am 09.01.2017 unter https://www.bamf.de/ SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2012.pdf?__blob=publicationFile Burkhardt-Mußmann, C. (2015). ERSTE SCHRITTE. Ein psychoanalytisch fundiertes Frühpräventionsprojekt oder Räume die Halt geben. In C. Burkhardt-Mußmann (Hrsg.), Räume die Halt geben. Psychoanalytische Frühprävention mit Migrantinnen und ihren Kleinkindern (S. 31–60). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.

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Rose Ahlheim und Claudia Burkhardt-Mußmann

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III P  sychoanalytisch inspirierte und interdisziplinäre Studien zur transgenerativen Weitergabe von Traumatisierungen, Intervention und Prävention

Alexa Negele, Johannes Kaufhold, Ulrich Bahrke, Lisa Kallenbach, Mareike Ernst und Marianne Leuzinger-Bohleber

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung in der Kindheit Ergebnisse der LAC-Depressionsstudie1 aus Sicht von Patienten und Psychoanalytikern2 Die Entwicklung chronischer Formen von Depression wird häufig mit Erfahrungen von Traumatisierung oder Widrigkeit in der Kindheit in Beziehung gebracht (Jobst et al., 2016). Bis zu 80 % der chronisch Depressiven sollen Kindheitstraumatisierungen erfahren haben (Teicher u. Samson, 2013; Teicher, Samson, Polcari u. Andersen, 2009). Darüber hinaus ist ein Vorliegen multipler Kindheitstraumatisierungen bei chronisch Depressiven wahrscheinlicher als bei Patienten, die an nichtchronischen Formen einer Depression leiden (Chu, Williams, Harris, Bryant u. Gatt, 2013; Wiersma et al., 2009). Längere Dauer und ausgeprägte Symptomschwere chronischer Depressionen sind ebenfalls mit Erfahrungen multipler Kindheitstraumatisierung in Verbindung gebracht worden. Kindheitstraumatisierungen lassen zudem auf eine geringere Remissionswahrscheinlichkeit schließen (Klein, 2009). Missbrauch, Familienprobleme (Angst, Gamma, Rossler, Ajdacic u. Klein, 2011) und belastende frühe Beziehungserfahrungen werden im Zusammenhang mit chronischen Verläufen von Depression genannt. Dysthyme Patienten berichten von signifikant schlechteren Eltern-Kind-Beziehungen und davon, 1 Die LAC-Depressionsstudie wird von der DGPT (Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e. V.), der Heidehof Stiftung, dem International Advisory Board der IPA (International Association of Psychoanalysis) und dem Donator Dr. Matthias von der Tann finanziert. 2 Eine ausführliche und erweiterte Fassung dieses Beitrags ist unter dem Titel »Childhood trauma from a patient and a psychoanalyst perspective: Linking chronic depression to relational multiple trauma« bei der Zeitschrift »Psychoanalytic Psychotherapy« erschienen (vgl. Negele, Kaufhold u. Leuzinger-Bohleber, 2016).

280

Alexa Negele et al.

weniger Fürsorge erhalten zu haben, als Patientinnen und Patienten mit episodischen Depressionen (Lizardi et al., 1995). Sehr häufig zeigen Studien, dass Erfahrungen von emotionalem Missbrauch (Chapman et al., 2004; Gibb, Chelminski u. Zimmerman, 2007; Khan et al., 2015; Norman et al., 2012) und emotionaler Vernachlässigung (Hill, 2009; Spinhoven et al., 2010; Widom, DuMont u. Czaja, 2007) das Risiko einer Depression im Erwachsenenalter (Widom et al., 2007) und darüber hinaus einer chronischen Entwicklung (Tanskanen et al., 2004; Wiersma et al., 2009) bedeutend erhöhen. Jobst et al. (2016) identifizieren emotionalen Missbrauch und Vernachlässigung als »interpersonelle Traumata« und betrachten die ausgeprägten interpersonellen Probleme chronisch depressiver Patienten als mögliche Folge von Bindungsstörungen. Riso, Miyatake und Thase (2002) betonen, dass bei chronisch Depressiven im Vergleich zu nichtchronisch Depressiven vermehrt Widrigkeiten in der Kindheit festzustellen sind (siehe auch Dube et al., 2003). Widrige Lebensereignisse an sich seien dabei nicht ausschlaggebend, sondern vielmehr die emotionale Qualität der kindlichen Umgebung (Hovens et al., 2009). Das häufig gemeinsame Auftreten von widrigen Lebensereignissen und Traumatisierung mag auf einen spezifischen Kontext solcher Erfahrungen verweisen (Rosenman u. Rodgers, 2004; siehe auch Dube et al., 2003; Felitti et al., 1998). Der Verlust eines Elternteils ist beispielsweise nur dann mit einem erhöhten Risiko einer Depression im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht worden, wenn die hinterbliebenen Familienbeziehungen belastend waren (Luecken, 2000; Tennant, 1981). Moderne psychoanalytische Konzeptualisierungen von Depression (siehe einen Überblick bei Bohleber, 2010a; Leuzinger-Bohleber, 2013) beziehen sich zentral auf phantasierte oder reale Objektbeziehungserfahrungen, deren Störungen und/oder Unterbrechungen auch in traumatischen Primärobjektbeziehungen begründet sind. Bleichmar (1996, 2013) betrachtet zum Beispiel traumatische, externe Realität als relevant für die Entwicklung einer Depression und konzeptualisiert Depression als spezifische Reaktion auf den Verlust eines realen oder phantasierten Objekts. Diese Reaktion ist gekennzeichnet durch eine persistierende Sehnsucht, die aber gleichzeitig als unrealisierbar erlebt wird. Auf ähnliche Weise schließt Taylor (2010) in seine spezifischen Objektbeziehungskonfigurationen der

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung 

281

Depression eine Persönlichkeit mit ein, die von »Widrigkeiten in Erziehung und in den frühen versorgenden Beziehungen sowie im aktuellen Leben« überwältigt scheint. Trauma kann als relationaler Begriff (Fischer u. Riedesser, 2009) verstanden werden, als ein »Konzept, das ein äußeres Ereignis mit dessen spezifischen Folgen für die innere psychische Realität verknüpft« (Bohleber, 2012, S. 122). Cooper (1986) definiert das Trauma als Ereignis, »das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt, dass diese droht, und es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation« (S. 44). Das gleichzeitige oder aufeinanderfolgende Zusammen- und Ineinanderwirken traumatischer Erfahrungen – zum Beispiel sequenziell (Keilson, 1979), komplex (Herman, 1992; Van der Kolk, Roth, Pelcovitz, Sunday u. Spinazzola, 2005) und/oder kumulativ (Khan, 1963) – kann deren Auswirkungen weiter vervielfältigen. Das Vertrauen in eine kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit von Einfühlung wird zerstört. Das innere gute Objekt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt verschwindet (Bohleber, 2012; Cohen, 1985; Hoppe, 1962; Leuzinger-Bohleber, 2015a, 2015b; Leuzinger-Bohleber u. Fischmann, 2015). Frühe Beziehungserfahrungen erhalten sich in unbewusst verarbeiteter Weise im Gedächtnis und bestimmen so späteres Denken, Fühlen und Handeln. Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass sich Widrigkeiten in der Kindheit dann traumatisch auswirken, wenn sie zugleich mit umfassenden und prägenden Beziehungserfahrungen verbunden sind und aus diesen heraus nicht bewältigt werden können. So stellen sie keine singulären Einzelereignisse dar, sondern sind eingebunden in ein gleichzeitiges oder multiples traumatisch-prägendes Beziehungsmuster, das sich – im Sinne des Wiederholungszwangs – in den aktuellen Beziehungen fortschreibt und bestätigt. So werden sie weniger erinnert, sondern primär wieder erlebt, können aber nicht verstanden werden, da sie außerhalb ihres historischen Kontexts auftreten. Dieses traumatische Beziehungsgeschehen prägt dann die innere und äußere Welt. Die Psychoanalyse bietet zentrale Konzepte zu diesem Beziehungsgeschehen an, zum Beispiel über Identifikation und Intro-

282

Alexa Negele et al.

jektion (Bleichmar, 1996, 2013; Bohleber, 2010) oder Bindung und Mentalisierung (Bowlby, 1969; Fonagy et al., 2002). Bions (1962) Konzept von Container/Contained und Winnicotts (1945) HoldingKonzept verweisen auf die zentrale Rolle der Mutter bzw. frühen Bezugsperson. Der Childhood Trauma Questionnaire (CTQ; Bernstein u. Fink, 1998) misst, das der Patientin/dem Patienten zugängliche, bewusste Wissen über Beziehungserfahrungen oder Lebensereignisse in der Kindheit mittels fünf Subskalen. Befunde aus der LAC-Depressionsstudie, die psychoanalytische und kognitiv-behaviorale Langzeitpsychotherapien bei chronischen Depressionen vergleicht (Beutel et al., 2012; Leuzinger-Bohleber et al., 2010), zeigen, dass 75,6 % dieser chronisch depressiven Patienten klinisch relevante (bezogen auf die Cut-off-Werte nach Walker, Unutzer u. Rutter, 1999) Kindheitstraumatisierungen angeben (Negele, Kaufhold, Kallenbach u. Leuzinger-Bohleber, 2015). Insbesondere berichtet über die Hälfte der LAC-Stichprobe von emotionalem Missbrauch (60,7 %) und emotionaler Vernachlässigung (51,9 %). Die Ergebnisse verweisen zudem mit 37 % der Patienten auf eine zentrale Bedeutung multipler Kindheitstraumatisierung, denn diese zeigten schwerere depressive Symptome als diejenigen, die weniger Kindheitstraumatisierung berichteten. Diesen wichtigen extraklinischen CTQ-Befunden zum Zeitpunkt der Studienaufnahme mangelt es jedoch an einem vertieften klinischen Verständnis bzw. einer spezifischen Verbindung der Traumaskalen mit den verinnerlichten Beziehungserfahrungen der Patienten und Patientinnen, wie sie sich in der klinischen Situation und in der Übertragungsbeziehung verdeutlichen. Ziel dieses Beitrags ist es deshalb, die standardisierten CTQ-Befunde aus der LAC-Depressionsstudie um eine Perspektive aus psychoanalytisch-klinischer Sicht – wie sie in der Behandlung von Patient/-in und Psychoanalytiker/-in gemeinsam erarbeitet und verstanden worden sind – zu ergänzen und so extraklinische Ergebnisse mit klinischen Einschätzungen anzureichern und zu vergleichen. Um das traumatische Beziehungsgeschehen über die psychoanalytische Einzelfalldarstellung hinaus zu untersuchen, entwickelten wir ein Screening-Instrument für die behandelnden Psychoanalytiker/-innen, das einen differenzierten Blick auf das traumatische Beziehungsgeschehen erlauben soll.

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung 

283

Methodenteil Patientinnen und Patienten 52 chronisch depressive Patienten mit ihren 24 Psychoanalytikern aus der LAC-Depressionsstudie, in welcher Patienten zwischen 21 und 60 Jahren mit der Diagnose einer Major Depression von mindestens zwölf Monaten oder eine Dysthymia von mindestens 24 Monaten aufgenommen worden sind, nahmen an der Untersuchung teil. Für die Aufnahme in die Studie mussten die Patienten zudem einen Wert von mehr als 17 im Beck-Depressions-Inventar (BDI-2, Hautzinger, Keller u. Kühner, 2006) und einen Wert von mehr als 10 im Quick-Inventar Depressiver Symptome (QIDS-C, Fremdeinschätzung; Rush, Trivedi u. Ibrahim, 2003) erreichen. Das Studienprotokoll ist bei Bahrke et al. (2013), Beutel et al. (2012) und Leuzinger-Bohleber et al. (2010) detailliert ausgeführt. Homogenitätsanalysen zwischen dieser Substichprobe und der Gesamtstichprobe zeigten keine signifikanten Unterschiede für Alter (p = 0,097), BDI-2 (p = 0,62), QIDS-C (p = 0,86), GSI/SCL-90 (p = 0,48), CTQ (p = 0,23), Geschlecht (p = 0,81), Diagnose (p = 0,10), Familienstand (p = 0,80), Schulausbildung (p = 0,47) und Anzahl vorausgehender ambulanter Psychotherapien (p = 0,80), sodass von einer für die Gesamtstichprobe repräsentativen Substichprobe ausgegangen werden kann. Die Psychoanalytiker/-innen wurden in den klinischen Arbeitsgruppen eines Studienzentrums der LAC-Depressionsstudie gewonnen. Neun Psychoanalytiker und 15 Psychoanalytikerinnen beurteilten insgesamt 52 Behandlungen3 an deren Ende.

Instrumente Kindheitstraumatisierung wurde mit der deutschen Version des CTQ (Klinitzke, Romppel, Häuser, Brähler u. Glaesmer, 2011; Bader, Hänny, Schäfer, Neuckel u. Kuhl, 2009; Wingenfeld et al., 2010) 3 Besonderer Dank gilt den Patientinnen/Patienten und Psychotherapeutinnen/ Psychotherapeuten der LAC-Depressionsstudie, die bereit waren und sind, Einblick in das Erleben und die Behandlung der Depression zu ermöglichen.

284

Alexa Negele et al.

erhoben, einem reliablen und validen (Bernstein u. Fink, 1998) Selbsteinschätzungsinstrument, das ursprünglich von Bernstein et al. (1994) entwickelt wurde. Die Kurzversion erhebt retrospektiv fünf Subskalen von Missbrauch und Vernachlässigung. Das Trauma wird dabei vornehmlich in »primären Beziehungen« (vgl. SubicWrana, Beetz, Wiltink u. Beutel, 2011, S. 55) erfasst und bildet die Erfahrung ab, dass Menschen, die schützenden Halt geben sollen, selbst zur Quelle der Gefahr bzw. Bedrohung geworden sind. Lediglich beim Item »sexueller Missbrauch« bleibt der Täter im CTQ unbestimmt. Es lassen sich ein Gesamtwert (Wertebereich: 25–125) und fünf Skalenwerte (Wertebereich: 5–25) berechnen. Jedes Item wird im Kontext von »Als ich aufwuchs …« auf einer fünfstufigen Likert-Skala von »trifft überhaupt nicht zu« bis »trifft überhäufig zu« beantwortet. Höhere Werte signalisieren entsprechend ein höheres Ausmaß traumatischer Erfahrungen. Cut-off-Bereiche für die Skalen markieren jeweils keine, geringe, moderate und schwere Traumatisierung (Wertebereiche für sexuellen Missbrauch: gering 6–7, moderat 8–12, schwer 13–25; für körperlichen Missbrauch: gering 8–9, moderat 10–12, schwer 13–25; für emotionalen Missbrauch: gering 9–12, moderat 13–15, schwer 16–25; für körperliche Vernachlässigung: gering 8–9, moderat 10–-12, schwer 13–25; für emotionale Vernachlässigung: gering 10–14, moderat 15–17, schwer: 18–25). Detaillierte Skalenbeschreibungen finden sich bei Bernstein und Fink (1998, S. 2f). Emotionale Vernachlässigung bezieht sich auf das Fehlen von Halt und Unterstützung (Item Beispiel: »Während meiner Kindheit und Jugend gab es jemand in der Familie, der mir das Gefühl gab, wichtig und etwas Besonderes zu sein.«). Emotionaler Missbrauch beschreibt eine Atmosphäre verbaler Bedrohung, Erniedrigung und Entwertung sowie verbale Angriffe auf ein kindliches Gefühl von Wert oder Wohlbefinden (Item Beispiel: »… dachte ich, meine Eltern hätten sich gewünscht, dass ich niemals geboren worden wäre.«). Körperliche Vernachlässigung bezieht sich auf das Fehlen grundsätzlicher physischer Bedürfnisse wie Essen und Obdach (Item Beispiel: »… wusste ich, dass es jemand gibt, der sich um mich kümmert und mich beschützt.«). Körperlicher Missbrauch beschreibt körperliche Angriffe (Item Beispiel: »… wurde ich von jemandem aus meiner Familie so stark geschlagen, dass ich zum Arzt oder ins Kranken-

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung 

285

haus musste.«). Sexueller Missbrauch bezieht sich auf jeglichen erzwungenen sexuellen Kontakt zwischen einem Kind und einem Erwachsenen (Item Beispiel: »… versuchte jemand, mich sexuell zu berühren oder sich von mir sexuell berühren zu lassen.«). Um die Auswirkungen multipler Traumatisierungen zu untersuchen, wird ein Index gebildet, der die Anzahl der CTQ-­Subskalen, die mindestens den Bereich für geringe Traumatisierung erreichen, berücksichtigt, und die Stichprobe in vier Gruppen einteilt: Trauma unter Schwellenwert (Cut-off-Werte für geringes Trauma werden nicht erreicht), einfaches Trauma (eine Skala erreicht Cut-off-Werte für zumindest geringes Trauma), doppeltes Trauma (zwei Skalen erreichen Cut-off-Werte für zumindest geringes Trauma), multiples Trauma (mindestens drei Skalen erreichen Cut-off-Werte für zumindest geringes Trauma). Das Screening-Instrument für die Psychoanalytiker/-innen knüpft an die Skalen des CTQ an und spiegelt vor allem die klinischen Erfahrungen zu den Traumatisierungen dieser Patientengruppe wider, wie sie auch in den klinischen Konferenzen der LAC-­ Depressionsstudie diskutiert werden (vgl. Goebel-Ahnert, 2013; Kennel, 2013; Kilber-Brüssow u. Weis, 2013; Leuzinger-Bohleber, 2015a). Es fokussiert auf die Beziehungserfahrungen der Patienten und unterscheidet sieben Skalen: Separationstraumatisierung, Beziehungstraumatisierung, Erkrankung/Unfall/Naturkatastrophe, sexueller Missbrauch, körperlicher Missbrauch, Traumatisierungen durch humanitäre Katastrophen (man-made disasters) und transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung. Separationstraumatisierung bezieht sich sowohl auf Verlusterfahrungen innerhalb von Primärobjektbeziehungen durch Trennung, Scheidung, Tod oder Suizid als auch auf Heim- oder Hospitalisierungserfahrungen als Kind. Beziehungstraumatisierung umfasst Erfahrungen emotionaler Vernachlässigung, Erfahrungen von Demütigung, Entwertung und Sadismus und Erfahrungen im Zusammenhang mit einer chronisch nichtresponsiven und nichtcontainenden elterlichen Funktion. Hierunter fallen auch psychische Störungen der Eltern. Krankheit, Unfall oder Naturkatastrophen in der Kindheit wurden mit einer entsprechenden Skala abgebildet. Sexueller und körperlicher Missbrauch innerhalb und außerhalb der Familie wurden jeweils differenziert nach ihrer Häufigkeit

286

Alexa Negele et al.

(punktuell oder wiederholt) erfragt. Die Skala man-made disaster erfasst Traumatisierungen durch humanitäre Katastrophen, zum Beispiel Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung oder Migration. Solcherart Erfahrungen wurden mit der Skala transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung für die nachfolgenden Generationen erfragt. Ein möglicher Einfluss nationalsozialistischer Erziehungsideale wurde hier ebenfalls erfasst, um der deutschen Stichprobe gerecht zu werden. Für die Untersuchung multipler Kindheitstraumatisierung wurde analog zu den Auswertungen der Daten der Patientinnen und Patienten ein Index gebildet, der die Anzahl der Traumaskalen pro Patient/-in berücksichtigt.

Ergebnisse Stichprobenbeschreibung Die Stichprobenbeschreibung ist in Tabelle 1 abgebildet. Die Patienten waren zur Studienaufnahme durchschnittlich 40,63 (SD = 11,31) Jahre alt. Die Chronizität fand zusätzlich Validierung in der hohen Anzahl von Patienten (67,3 %), die bereits vorausgehend psychotherapeutische Behandlungen in Anspruch genommen haben. Der Mittelwert des BDI-2 von 32,57 (SD = 8,87) signalisiert eine schwere, der Mittelwert des QIDS-C von 14,08 (SD = 3,11) eine moderate depressive Symptomatik. Der Mittelwert von 1,31 (SD = 0,51) im GSI des SCL-90 (Franke, 2002) verweist auf die hohe psychische Gesamtbelastung der Stichprobe.

287

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung  Tabelle 1: Charakteristika der Patientenstichprobe (N = 52) Mittelwert

SD

40,63

11,31

BDI-2

32,57

8,87

QIDS-C

14,08

3,11

1,31

0,54

N

%

 weiblich

35

67,3

 männlich

17

32,7

 deutsch

54

93,1

 andere

4

6,9

Alter

SCL-90 (GSI) Geschlecht

Nationalität

Schulausbildung   nach 9 Jahren

4

7,7

  nach 10 Jahren

12

23,1

  nach > 12 Jahren

36

69,2

 alleinstehend

31

59,6

 verheiratet

12

23,1

 getrennt/geschieden

9

17,3

 keine

30

57,7

  ein Kind

6

11,5

  zwei Kinder

14

26,9

  drei und mehr Kinder

2

3,8

Familienstand

Elternschaft

Diagnose   Depressive Episode

29

55,7

  Double Depression

19

36,5

 Dysthymia

4

7,7

 keine

15

28,8

 eine

13

25,0

  zwei und mehr

22

42,3

Anzahl vorausgehender ambulanter Psychotherapien

288

Alexa Negele et al.

Selbsteinschätzungen der Patientinnen und Patienten (CTQ) Die Ergebnisse zum CTQ sind in Tabelle 2 dargestellt. Der CTQ erreichte einen Mittelwert von 58,35. Insgesamt berichten 86,5 % der chronisch depressiven Patienten von zumindest geringer, 48,1 % von schwerer Kindheitstraumatisierung. 76,9 % geben Erfahrungen emotionaler Vernachlässigung und 67,3 % Erfahrungen emotionalen Missbrauchs an. Es finden sich keine signifikanten Geschlechterunterschiede für die Gesamtanzahl traumatisierter Patientinnen und Patienten (Chi2 = 5,429, p = 0,142), emotionalen Missbrauch (Chi2 = 4,425, p = 0,219), körperlichen Missbrauch (Chi2 = 1,101, p = 0,777), sexuellen Missbrauch (Chi2 = 4,638, p = 0,200), emotionale Vernachlässigung (Chi2 = 5,0350, p = 0,170) und körperliche Vernachlässigung (Chi2 = 4,997, p = 0,172). Tabelle 2: Häufigkeiten zu den CTQ-Skalen für keine, geringe, moderate und schwere Traumatisierung und Mittelwerte (N = 52) Schweregrad Trauma

kein

gering

moderat

schwer

Mittelwert

CTQ-Skalen

N (%)

N (%)

N (%)

N (%)

(SD)

Gesamtanzahl

7 (13,5)

5 (9,6)

15 (28,8)

25 (48,1)

58,35 (18,65)

emotionaler Missbrauch

17 (32,7)

10 (19,2)

10 (19,2)

15 (28,8)

12,37 (5,41)

emotionale ­Vernachlässigung

12 (23,1)

9 (17,3)

13 (25,0)

18 (34,6)

15,06 (5,36)

körperliche ­Vernachlässigung

26 (50,0)

11 (21,2)

10 (19,2)

5 (9,6)

7,92 (2,93)

körperlicher ­Missbrauch

35 (67,3)

7 (13,5)

5 (9,6)

5 (9,6)

7,29 (3,33)

sexueller ­Missbrauch

23 (44,2)

13 (25,0)

8 (15,4)

8 (15,4)

7,54 (3,48)

59,6 % der Patienten berichteten Erfahrungen multipler Kindheitstraumatisierung von zumindest geringem Schweregrad (siehe Tabelle 3). Häufigste Kombinationen waren emotionale Vernachlässigung mit sexuellem Missbrauch und körperlicher Vernachlässigung (13,5 %) sowie emotionaler Missbrauch mit sexuellem Missbrauch und emotionaler Vernachlässigung (9,6 %). Es finden sich keine signifikanten Geschlechterunterschiede (Chi2 = 3,602, p = 0,308).

289

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung 

Tabelle 3: Multiple Kindheitstraumatisierung aus dem CTQ: unter Schwellenwert, einfache, doppelte, multiple Traumatisierung (N = 52) Traumagruppen

N

%

männlich

%

weiblich

%

unter Schwellenwert

7

13,5

4

57,1

3

42,9

einfache Traumatisierung

6

11,5

3

50,0

3

50,0

doppelte Traumatisierung

8

15,4

2

25,0

6

75,0

multiple Traumatisierung

31

59,6

8

25,8

23

74,2

Gesamt

52

100

17

32,7

35

67,3

Einschätzungen der Psychoanalytiker/-innen Tabelle 4 stellt die Einschätzungen der Psychoanalytiker/-innen dar. Bei 98,1 % der Patienten wird eine Beziehungstraumatisierung gesehen: 88,5 % der Patienten sollen chronisch eine responsive und containende elterliche Funktion vermisst haben, 51,9 % werden als emotional vernachlässigt eingeschätzt, 36,5 % erfuhren Demütigungen, Entwertungen und Sadismus. 55,8 % der Patienten sollen mit zumindest einem psychisch kranken Elternteil aufgewachsen sein. Bei 53,8 % wird eine Separationstraumatisierung angegeben: 32,7 % beziehen sich auf Verluste von Primärobjektbeziehungen, 11,5 % auf Hospitalisierungen und 7,7 % auf Heimerfahrungen. Bei 36,5 % war die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung relevant (bei 17,3 % von Kriegserfahrungen, bei 15,4 % von Flucht und Vertreibung, bei 9,6 % von Migration). Bei 19,2 % der Patienten sollen Nazi-Erziehungsideale eine Rolle gespielt haben. Körperlicher Missbrauch kam in 28,8 % der Fälle vor. 21,2 % sollen sexuellen Missbrauch erfahren haben.

290

Alexa Negele et al.

Tabelle 4: Einschätzungen der Psychoanalytiker/-innen: Häufigkeiten zu Traumaskalen N = 52

N

%

Beziehungstraumatisierung nichtresponsive elterliche Funktion emotionale Vernachlässigung Demütigung, Entwertung, Sadismus elterliche psychische Störung  Mutter  Vater   beide Eltern elterliche Depression  Mutter   Postpartale Depression Mutter  Vater   beide Eltern elterliche körperliche Erkrankung Kranke(s) Geschwister

51 46 27 19 29 22 15 8 17 12 4 5 2 3 2

98,1 88,5 51,9 36,5 55,8 44,2 28,8 15,4 32,7 23,1 7,7 9,6 3,8 5,8 3,8

Separationstraumatisierung primäre Beziehungen Trennung/Scheidung Tod Suizid andere wichtige (bedeutsame) Beziehungen Trennung von Geschwistern Hospitalisierung als Kind Heimerfahrung als Kind elterliche Hospitalisierung

28 17 9 7 1 11 6 6 4 4

53,8 32,7 17,3 13,5 1,9 21,1 11,4 11,5 7,7 7,7

Transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung durch Krieg Vertreibung Migration andere Einfluss nationalsozialistischer Erziehungsideale

19 9 8 5 2 10

36,5 17,3 15,4 9,6 3,8 19,2

Körperlicher Missbrauch innerhalb der Familie wiederholt

15 15 13

28,8 28,8 25,0

Sexueller Missbrauch innerhalb der Familie wiederholt

11 8 5

21,2 15,4 9,6

Krankheit, Unfall, Naturkatastrophe Krankheit Unfall/Naturkatastrophe

5 5 0

9,6 9,6 0

Traumatisierung durch humanitäre Katastrophen (man-made disaster) Krieg Flucht und Vertreibung Migration

4

7,7

0 0 4

0 0 7,7

291

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung 

Diese Ergebnisse zeigen, dass alle Patientinnen und Patienten von den Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern als in ihrer Kindheit traumatisiert eingeschätzt wurden. 44,2 % von ihnen sollen multiple Kindheitstraumatisierung, das heißt solche aus mindestens drei Skalen, erfahren haben (siehe Tabelle 5). Bei diesen findet sich ein signifikanter Trend für Geschlecht (Chi2 = 5,777, p = 0,56). Die häufigsten Kombinationen bilden Separationstraumatisierung mit Beziehungstraumatisierung (17,3 %), Beziehungstraumatisierung mit transgenerationaler Weitergabe von Traumatisierung (9,6 %) und Beziehungstraumatisierung mit Separationstraumatisierung und transgenerationaler Weitergabe von Traumatisierung (9,6 %). Tabelle 5: Multiple Kindheitstraumatisierung aus den Einschätzungen der Psychoanalytiker/-innen: keine, einfache, doppelte, multiple Traumatisierung Traumagruppe

N

keine Traumatisierung

0

%

männlich

%

weiblich

%

einfache Traumatisierung

7

13,5

5

29,4

2

5,7

doppelte Traumatisierung multiple Traumatisierung

22

42,3

5

29,4

17

48,6

23

44,2

7

41,2

16

Gesamt

45,7

52

100

17

100

35

100

Vergleich der Angaben von Psychoanalytikern und Patienten Für emotionale Vernachlässigung findet sich eine Übereinstimmung beider Perspektiven von 63,5 %. In 30,8 % der Fälle berichten Patientinnen und Patienten von emotionaler Vernachlässigung, während die Psychoanalytiker/-innen dies nicht so einschätzen; in 5,8 % ist es umgekehrt. Psychoanalytiker/-innen werden nach Erfahrungen von Demütigung, Entwertung und Sadismus gefragt, wohingegen die Angaben der Patienten in die Skala »emotionaler Missbrauch« eingehen. Hier stimmen die Beurteilungen in 61,4 % der Fälle überein. In 34,6 % geben Patienten emotionalen Missbrauch an, während die Psychoanalytiker/-innen dies nicht so sehen; in 3,8 % ist es umgekehrt. Für körperlichen Missbrauch fanden wir eine Übereinstimmung von 73,1 %. Einen solchen gaben 15,4 % der Patientin-

292

Alexa Negele et al.

nen und Patienten im Fragebogen an, ohne dass er auch von den Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern angeführt wurde; in 11,5 % der Fälle war es umgekehrt. Für sexuellen Missbrauch lag die Übereinstimmung bei 54,2 %. In 40,4 % berichteten Patientinnen und Patienten von sexuellem Missbrauch und Psychoanalytiker/innen nicht; in 5,8 % umgekehrt. Eine detaillierte Betrachtung der sieben Patienten, die im CTQ die Cut-off-Werte für zumindest geringe Kindheitstraumatisierung nicht erreichen (Tabelle 6), verweist auf die Bedeutung von Beziehungstraumatisierung, Separationstraumatisierung und transgenerationaler Weitergabe von Traumatisierung. Nach den Einschätzungen der Psychoanalytiker/-innen haben alle diese Patienten und Patientinnen eine Beziehungstraumatisierung in ihrer Kindheit erlitten. Häufig fanden sich zudem Separationstraumatisierung und transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung. Zwei dieser Patienten wurden gar als multipel traumatisiert beurteilt. Tabelle 6: Einschätzungen der Psychoanalytiker/-innen zu den sieben Patientinnen und Patienten, die zur Studienaufnahme im CTQ unter dem Cut-off-Wert für geringe Traumatisierung blieben Patient Trauma

Spezifikation

Aus der Gruppe »einfaches Trauma« (Psychoanalytiker/-innen-Rating) 1

Beziehungstraumatisierung

nichtresponsive elterliche Funktion Demütigung, Entwertung, Sadismus

2

Beziehungstraumatisierung

nichtresponsive elterliche Funktion Demütigung, Entwertung, Sadismus

3

Beziehungstraumatisierung

nichtresponsive elterliche Funktion Postpartale Depression und Depression Mutter

Aus der Gruppe »doppeltes Trauma« (Psychoanalytiker/-innen-Rating) 4 5

Beziehungstraumatisierung

nicht-responsive elterliche Funktion

Separationstraumatisierung

Suizid (Vater)

Beziehungstraumatisierung

körperliche Erkrankung Mutter

transgenerationale Weitergabe

Krieg

Aus der Gruppe »multiples Trauma« (Psychoanalytiker/-innen-Rating) 6

Beziehungstraumatisierung

Depression Mutter

Separationstraumatisierung

Hospitalisierung als Kind

sexueller Missbrauch

außerhalb der Familie

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung  Patient Trauma

293

Spezifikation

Aus der Gruppe »multiples Trauma« (Psychoanalytiker/-innen-Rating) 7

Beziehungstraumatisierung

nicht-responsive elterliche Funktion emotionale Vernachlässigung Depression und Psychose Mutter

Separationstraumatisierung

Trennung von Primärobjekt und Geschwistern

sexueller Missbrauch

innerhalb der Familie (Cousin), wiederholt

man-made disaster

Migration

transgenerationale Weitergabe

Migration

Diskussion Ziel dieser Untersuchung war es, extraklinische Befunde zu Kindheitstraumatisierung bei chronisch depressiven Patienten durch eine psychoanalytisch-klinische Perspektive zu ergänzen. Hierzu erhoben wir zusätzlich zur standardisierten CTQ-Selbsteinschätzung vor Therapiebeginn die Perspektive der behandelnden Psychoanalytiker/ innen gegen Ende der Behandlung. 87 % der Patienten berichteten in den Selbsteinschätzungen von einer mindestens geringen Kindheitstraumatisierung. 60 % gaben an, multiple Kindheitstraumatisierungen erfahren zu haben. Emotionale Vernachlässigung (78 %) und emotionaler Missbrauch (67 %) wurden, auch in Kombination, am häufigsten berichtet. Aus Sicht der Psychoanalytiker/-innen sind alle Patientinnen und Patienten in ihrer Kindheit traumatisiert worden. Mit 44 % fällt der Anteil multipler Traumatisierungen etwas niedriger aus als bei den CTQ-Selbsteinschätzungen, ist aber ebenfalls sehr hoch. Am häufigsten sahen die Psychoanalytiker/-innen Beziehungstraumatisierung (98,1 %) vorliegen und spezifizierten Erfahrungen im Zusammenhang mit einer chronisch nichtresponsiven und nichtcontainenden elterlichen Funktion als zentral für diese Patientengruppe. Mehr als die Hälfte der Stichprobe soll emotional vernachlässigt worden, mit zumindest einem psychisch kranken Elternteil aufgewachsen sein oder traumatische Verluste bzw. Trennungen erfahren haben. Bei

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einem Drittel der Stichprobe wurde eine transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung durch Krieg, Flucht und Vertreibung oder Migration angegeben. Dass solche Erfahrungen miteinander einhergehen und einander bedingen können (Lizardi et al., 1995), bildet sich in unseren Ergebnissen insofern ab, als dass Beziehungstraumatisierung, Separationstraumatisierung und transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung mit 18 % als häufigste Kombination auftreten. Unsere Ergebnisse bestätigen Studien, die einen Zusammenhang von multipler Kindheitstraumatisierung (Jobst et al., 2016, Chu et al., 2013) und multiplen Widrigkeiten in der Kindheit (Angst et al., 2011; Dube et al., 1995) mit chronischer Depression berichten. Darüber hinaus weisen unsere Ergebnisse auf die zentrale Bedeutung der Beziehungstraumatisierung hinter chronischer Depression hin. Dieses traumatische Beziehungsgeschehen scheint weiteren widrigen Lebensereignissen und/oder traumatischen Erfahrungen vorauszugehen, diese zu begleiten und schließlich eine adäquate Bewältigung bzw. Verarbeitung solcher Erfahrungen zu verhindern. So kommt es durch die Beziehungstraumatisierung auch zu einer Störung der Fähigkeit, Erfahrungen Bedeutung zuzuschreiben (Bohleber, 2010a). Fonagy und Target (1997) berichten, dass traumatische Erfahrungen über das sensorische System dekontextualisiert werden und nicht bewusst werden können, falls sie nicht mit neuer Bedeutung versehen werden. Dies mag auch zum Ausdruck bringen, dass sich hinter chronischer Depression Erfahrungen von emotionalem Missbrauch und emotionaler Vernachlässigung nicht mehr differenzieren lassen. Erfahrungen von körperlichem und sexuellem Missbrauch werden als Parameter multipler Kindheitstraumatisierung diskutiert (Andrews, Corry, Slade, Issakidis u. Swanton, 2003; Fergusson u. Mullen, 1999) und darüber hinaus als multiple Beziehungstraumatisierung konzeptualisiert (Fischer u. Riedesser, 2009), welche mit Störungen in der Entwicklung des Selbst in Verbindung gebracht wird, die wiederum zu Schwierigkeiten in Beziehung zu anderen führen können (Briere u. Elliott, 1994). Claussen und Crittenden (1991) zeigen, dass in den meisten Fällen körperlichen Missbrauchs zugleich emotionaler Missbrauch stattfindet. Dem entspricht, dass in unserer Stichprobe sexueller und körperlicher Missbrauch im-

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung 

295

mer in Kombination mit einer Beziehungstraumatisierung vorkommen. Betrachtet man die vergleichbaren Skalen, also emotionale Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch, körperlicher Missbrauch und sexueller Missbrauch, ist die Übereinstimmung der Einschätzungen der Psychoanalytiker/-innen und der Einschätzungen der Patientinnen und Patienten relativ hoch (zwischen 60 und 70 %), die der Psychoanalytiker/-innen jedoch insgesamt zurückhaltender. Einerseits mag dies auf eine professionelle Haltung verweisen, die in einem vorsichtigen Blick auf Traumatisierung und dessen Bedeutung Ausdruck findet. Andererseits mag dies das Ergebnis einer größeren Differenziertheit sein, mit der Psychoanalytiker/-innen gegen Ende der Behandlung traumatisches Geschehen beurteilen und zuordnen können. Es erscheint uns beeindruckend, dass bei all denjenigen Patienten und Patientinnen, die im CTQ unter dem Cut-off-Wert für geringe Traumatisierung verblieben sind, eine Beziehungstraumatisierung seitens der Psychoanalytiker/-innen ausgemacht wurde. Am häufigsten wurde diese in Kombination mit Separationstraumatisierung oder transgenerationaler Weitergabe von Traumatisierung genannt. Im Verlauf einer Psychoanalyse kommt es zu Versprachlichung und Durcharbeiten des traumatischen Beziehungsgeschehens in der Übertragungsbeziehung. Dabei findet eine gemeinsame Konstruktion der Bedeutung von Erfahrungen durch die Rekonstruktion historischer Ereignisse statt, die ihren affektiven Erfahrungen zugeordnet werden (Habermas, 2014). Zusammen mit den Patienten werden Beobachtungen unbewusster Phantasien und Konflikte sukzessive visualisiert, symbolisiert und auf verschiedenen Ebenen schließlich in Worte gefasst (LeuzingerBohleber et al., 2010; 2015ab; Leuzinger-Bohleber u. Fischmann, 2015). Es ist zu vermuten, dass sich in den niedrigen Einschätzungen der Patienten vor Therapiebeginn Abwehrmechanismen äußerten, um Selbst- und Objektbeziehungen zu stabilisieren. Zu dieser Zeit sind manche Patienten womöglich nicht bereit, solch schmerzliche Erfahrungen preiszugeben, oder aber die Erfahrungen oder deren traumatische Bedeutung sind noch nicht zugänglich. Zur Klärung dieser Frage könnte eine weitere CTQ-Selbsteinschätzung zu Behandlungsende beitragen.

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Alexa Negele et al.

Nachfolgend möchten wir noch auf wichtige Einzelbefunde eingehen. Bei 54 % der Patientinnen und Patienten wurden Verlust- und Trennungserfahrungen angegeben. Die Bedeutung von Trennungserfahrungen hinter Depressionen entspricht nicht nur der tradierten psychoanalytischen Theorie, sondern steht auch in Übereinstimmung mit Studien, die interpersonelle Verluste als stressauslösende Faktoren bei depressiven Patienten untersuchen. 44 % der depressiven Episoden sollen Belastungen durch interpersonelle Verluste vorausgehen (Farmer u. McGuffin, 2003). Personen, die frühen Verlusten ausgesetzt waren, sollen zudem auf geringere diesbezügliche Belastungen hin depressiv werden als solche, die keine frühen Verlust- oder Trennungserfahrungen gemacht haben (Slavich, Scott u. Gotlib, 2011). Dass ein traumatisches Beziehungsgeschehen zwischen den Generationen stattfindet und dort fortgeschrieben wird (Leuzinger-Bohleber, 2013, 2015a; Leuzinger-Bohleber u. Fischmann, 2015), zeigte sich in den sehr hohen Angaben zur Einschätzung psychisch kranker Eltern (56 %), vor allem depressiver Eltern (33 %), und der transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierung durch Krieg, Flucht und Vertreibung oder Migration (37 %). Depressive Mütter sind beispielsweise weniger zugänglich und neigen dazu, mehr negative als positive Affekte zum Ausdruck zu bringen. Sie können weniger mütterliche Wärme und Beteiligung zur Verfügung stellen (Lyons-Ruth, Lyubchik, Wolfe u. Bronfman, 2002; Mustillo, Dorsey, Conocer u. Burns, 2011). Traumatisches Beziehungsgeschehen zwischen den Generationen umfasst Verlusterfahrungen auf vielerlei Ebenen, die sich potenziell aktualisieren und Entwicklung hemmen. Laub (2012) folgend nimmt Cavalli (2012) an, dass sich der innere Zustand einer zusammengebrochenen Symbolisierungsfähigkeit zwischen den Generationen vermittelt: Die dritte Generation nimmt die Bindung in sich auf, die die zweite Generation in einer desorganisierten Weise zu dem »unverdauten« (S. 601) Trauma der ersten Generation entwickelt hatte. Unsere Ergebnisse sind an dieser Stelle womöglich insofern relevant, als dass sie einer deutschen Stichprobe entstammen, deren Eltern und Großeltern vornehmlich ohne Verfolgungsgeschichte, jedoch mit bewusst und/oder unbewusst vermittelten nationalsozialistischen Erziehungsidealen, die systematisch Empathie ermangeln oder angreifen, aufgewachsen

Chronische Depression und multiple Beziehungstraumatisierung 

297

sind (Bohleber, 2012; Leuzinger-Bohleber, 2003; Radebold, Heuft u. Fooken, 2006). Die Bedeutung dieser Untersuchung ist in der Verbindung von extraklinischen Befunden mit klinischer Forschung zu sehen. Jedoch birgt sie einige Einschränkungen: Erstens kann die retrospektive Beurteilung von Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit Erinnerungsverzerrungen unterliegen, obwohl die Erinnerung von Erwachsenen an Traumatisierungen als relativ reliabel eingeschätzt wird (Brewin, Andrews u. Gotlib, 1993) und eine gute Kriteriumsvalidität mit Therapeuteneinschätzungen nachgewiesen ist (Bernstein et al., 2003). Die Grenzen von Selbsteinschätzungen sollten auch hinsichtlich einer darin gefassten Abwehrfunktion verstanden werden. Zweitens enthalten die Einschätzungen der Psychoanalytiker/-innen implizite Traumakonzepte, die wir nicht explizit erfasst haben. Dies könnte die Ergebnisse beeinflusst haben. Drittens ist diese Untersuchung an einer kleineren Stichprobe durchgeführt worden und sie beruht auf einem Screening-Instrument. Es wäre interessant, von den Patientinnen und Patienten zum Ende der Behandlung nicht nur eine erneute CTQ-Selbsteinschätzung zu erfahren, sondern mit einem den Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern analogen Instrument die gleichen inhaltlichen Aspekte abzufragen.

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Patrick Meurs

Das FIRST-STEPS-Programm – Arbeiten mit Migrantenfamilien

Vorbemerkungen Im Jahr 1991 traf ich erstmalig auf eine Migrantenfamilie in meiner psychotherapeutischen Praxis. Meine präventive Arbeit mit kultursensibler Unterstützung von kindlicher Entwicklung und Elternschaft im FIRST-STEPS-Projekt begann nur wenige Jahre später, im Jahr 2000. Wenn ich nun zurückschaue, bemerke ich, dass sich die Einwanderungswellen im Zeitraum von 1990 bis 2000 deutlich von der aktuellen Migration unterscheiden. Die Familien in diesen damaligen Einwanderungswellen wurden vor andere Probleme gestellt als Familien, die aktuell einwandern. In diesem Beitrag möchte ich meinen eigenen Findungsprozess im Feld interkultureller Therapie und Prävention darstellen. Diese Reflexion ermöglicht uns ein Verständnis bestimmter Entwicklungen bei FIRST STEPS in Belgien; zuerst gingen wir von einer psychotherapeutischen Perspektive in eine präventive über. Und später – innerhalb der präventiven Perspektive – von einem Fokus auf Ambivalenz und innere Konflikte bei Migrantinnen und Migranten der ersten und zweiten Generation zu einem Fokus auf die Prävention von Desorientierung und anderer traumaassoziierter Probleme bei neuen Flüchtlingen und bei Jugendlichen der dritten Generation. Intergenerationale Weitergabe von Resillienz und kulturellen Ressourcen ist ein primäres Ziel von FIRST STEPS. In früheren Migrationswellen wurde diese Transmission durch ungelöste Trauerarbeit blockiert, während bei den Flüchtlingsfamilienheute Transgenerationalität selbst durch unvorstellbare Traumata und Obdachlosigkeit zersetzt wird. Ich werde beschreiben, wie intergenerationale Weitergabe von Stärke und Resilienz statt von Verlust, unbewältigter Trauer und Trauma gefördert werden kann. Wie erreicht man die Engel (the angels in the nursery, Lieberman,

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Padrόn, Van Horn u. Harris, 2005) statt der Geister im Kinderzimmer (the ghosts in the nursery, Fraiberg, Edelson u. Shapiro, 1975) und rückt sie in den Vordergrund?

Psychoanalytisch geprägte interkulturelle Therapie Lassen Sie mich in das Jahr 1991 zurückgehen, zu meinem ersten interkulturellen Therapiefall. Ich arbeitete zu dieser Zeit in einem Krankenhaus an der Nordsee in Belgien, in der ambulanten psychotherapeutischen Abteilung der Psychiatrie für Erwachsene. Als ausgebildeter Kinderanalytiker konnte ich dort eine zusätzliche Beratung für Kinder und Jugendliche anbieten. In diesem Zusammenhang wurde ich von einem tunesischen Mann konsultiert. Die Tochter seines Bruders wurde ihm anvertraut. Das 17-jährige Mädchen pflegte einen mondänen Lebensstil, ihr Onkel hingegen befürchtete Gerede. Nach einer scharfen, harten Diskussion mit seiner Nichte, die in Tunesien aufgegriffen wurde, suchte er sich Hilfe in der gynäkologischen Abteilung unserer Klinik, um zu klären, ob das Mädchen noch jungfräulich ist, und sollte dies nicht der Fall sein, ob eine Rekonstruktion des Jungfernhäutchens möglich wäre. Der Gynäkologe stellte fest, dass das Mädchen bereits seit längerer Zeit keine Jungfrau mehr war. Der Mann schien den Befund des Arztes nicht wirklich verstehen zu können oder verstehen zu wollen, weshalb er an mich – als einzigen klinischen Psychologen im Hospital – überwiesen wurde. In einem Dutzend Sitzungen mit dem Mann und seiner Nichte konnten wir zu einer Einigung gelangen: Der Mann beendete die Verteufelung des Mädchens, das Mädchen wiederum stimmte zu, sich künftig weniger trotzig oder oppositionell zu verhalten. Ich schrieb ausführlich über die wechselhaften Sitzungen mit dem Mann und die Therapiesitzungen mit dem heranwachsenden Mädchen (Meurs u. Foblets, 1994). In diesen ersten interkulturellen Therapiesitzungen wurde mir der Versuch des Selbst deutlich, in einem Migrationsprozess eine Brücke zwischen gegenteiligen oder kontrastierenden Motiven zu schlagen: auf der einen Seite der Wunsch, mit seiner kulturellen Herkunft verbunden zu bleiben, auf der anderen Seite der Wunsch nach Integra-

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tion in die neu entdeckte Welt. Es gibt Bindung an die Herkunft (»Ursprungsbindung«) und die Integration (»Integrationsorientierung«) mit der Vergangenheit und Zukunft, mit dem Heimischen und den Gastgebern: eine Suche nach dem »Zuhause« im Retrospektiven und im Prospektiven. Schritt für Schritt begriff ich, dass diese gegensätzlichen Tendenzen bei Mitgliedern von Migrantenfamilien innerhalb einer, aber auch über mehrere Generationen hinweg, embodied sind und auf andere Familienmitglieder projiziert werden können. In meinem Therapiezimmer sah ich, wie Partner/-innen, Eltern und Kinder auf projektive Weise mit unerwünschten Aspekten von schwierigen Migrationsprozessen belegt wurden. Im Fall des tunesischen Mädchens wurde sie nach Europa geschickt, um sie vor ihrem Interesse am urbanen Leben in Tunis zu schützen. Der Mann lebte in einem kleinen belgischen Dorf am Meer, das sich der Vater als Oase des Schutzes für das Mädchen vorstellte. Der Mann wollte seinen Bruder in Tunesien nicht enttäuschen, auch wenn er durch das Großziehen seiner eigenen Kinder wusste, dass man Jugendliche nicht einsperren kann. Das Mädchen war glücklich, als sie herausfand, dass ihr Onkel nicht alles kontrollieren wollte, die Vermittlung schien bald zu einer Lösung zu führen. Als ich darüber nachdachte die Behandlung zu beenden, fing das Mädchen an, über ihre Zweifel zu berichten, was ihr Onkel und Vater wohl für ein Bild von ihr haben würden: »Werden sie mich für eine gute Muslimin halten, trotz allem, was ich gesagt und getan habe?«

Als westlicher Therapeut dachte ich, dass das Problem gelöst wäre, sobald man dem Mädchen mehr Freiheiten einräumt. Aus ihrer Perspektive kam ein eher depressives Element hinzu: »Bin ich jetzt, da ich mehr Freiraum habe, immer noch eine gute Muslimin?«

Zu meiner Überraschung dauerte diese Phase des Therapieprozesses deutlich länger. Das Mädchen blieb ein weiteres Jahr bei mir in individueller Behandlung (Meurs u. Gailly, 1998). Ihr Lebensstil in Tunesien, anders als in Belgien, rief nie einen solch starken inneren Konflikt in ihr hervor: Ihr Sinn für Moral und Zugehörigkeit war in Belgien deutlich fragiler als in Tunesien.

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Ich fand diese gegensätzlichen Tendenzen und Ambivalenzen bei den meisten Migrantenfamilien: Wie integriert man westliche Lebensaspekte und Werte und bleibt gleichzeitig den Werten und Ansichten seiner Herkunft treu? Der Großteil der Fälle, die ich in der Praxis sah, mit Eltern der ersten Generation und Kindern der zweiten Generation, können als ein Arbeiten an dieser Ambivalenz verstanden werden: ein innerer Konflikt zwischen zwei beeinflussenden Wertesystemen. Über diese Art von Arbeit habe ich 1999 in der Zeitschrift »Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie« geschrieben: das Verlangen nach einer Verflochtenheit mit der Herkunft (Meurs u. Cluckers, 1999). Ohne Zweifel war es eine sehr optimistische Perspektive, die ich einbrachte; einige betitelten sie sogar als romantisierte Version eines interkulturellen Prozesses. Das Selbst der Migranten und Migrantinnen steht ja manchmal auch unter dem Druck unvereinbarer Tendenzen: zum Beispiel das Tragenwollen eines Kopftuchs und ein Kopftuchverbot am Arbeitsplatz; Partner/-innen gefunden zu haben und das Wissen, dass man bereits einer anderen Person versprochen wurde; oder, für junge gebildete Frauen: die Partnerschaft mit einer Person ohne Schulabschluss, während man selbst ein erfolgreiches Berufsleben führt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Ambivalenzen auch in meiner präventiven Arbeit mit den Patienten und Patientinnen äußern würden: zum Beispiel die Hoffnung, dass das Kind die Sprache des Aufnahmelandes lernen würde, und die Angst, dass sie sie zu gut lernen werden und zu Fremden in der eigenen Familie werden. Diese komplexen psychologischen Prozesse werden von politischen Diskursen völlig ausgeschlossen, in denen bikulturelle Identität von progressiven Parteien als erwiesen angenommen oder von anderen Parteien angezweifelt bis abgelehnt wird. Je mehr Migrantenfamilien ich in Behandlung hatte, desto deutlicher wurde für mich, dass ein psychoanalytisches Modell über interkulturelles Aufeinandertreffen ein »dritter Diskurs« zwischen »linken« und »rechten« Diskursen war. Der psychoanalytische Diskurs kann unnötige Idealisierung oder Ablehnung von komplexen Identitäten bewusst machen (­Rubin, 2004) und bietet die Möglichkeit, über die Fremden oder die Flüchtlinge in uns selbst nachzudenken (Kristeva, 1988). Oder die tieferen Schichten unseres Bewusstseins, in denen wir sowohl Interesse für

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als auch Angst vor der anderen Kultur verspüren. Unsere Welt wird mehr und mehr zu einer Welt der Vielfältigkeit oder »Superdiversität«, der multiplen und gemischten Identitäten. Das sind komplexe (psychologische) Realitäten und der psychoanalytische Standpunkt kann eine Menge zu deren besseren Verständnis beitragen, eine kreative Reflexion über ein aktuelles Unbehagen in unsere Kultur.

Kultursensitive Prävention bei der Mutter-Kind-Beratung Angeregt durch den Erfolg des »Infant Mental Health Movements« mit seiner Betonung der Präventionsforschung erarbeiteten wir um das Jahr 2000 das FIRST-STEPS-Präventionsprogramm (Meurs, Jullian u. Ferrant, 2000). Wir wollten Eltern erreichen, die kaum Zugang zu psychologischen Diensten haben, isolierte Familien mit Säuglingen und kleinen Kindern. Wir verschafften uns über die Geburt der neuen Generation einen Zugang: »the birth of a new generation as a port of entry«. Wir empfingen die Eltern und Kinder bei wöchentlichen Treffen, die Raum zum Spielen und Sprechen geben sollten, einen Raum, der Kulturen zusammenbringt und ihnen als Container dienen kann. Dieser Begegnungsraum war ein potenzieller Raum für Interkulturalität und Transgenerativität. In unserer Arbeit mit Eltern und deren Säuglingen wollten wir die kindliche Entwicklung und elterliche Kompetenz stärken, und das ab der Geburt. Wir wollten diesen Eltern helfen, ihren Weg in die westliche Gesellschaft zu finden. Das Eröffnen einer Begegnungsstätte bot vielen dieser Familien eine Möglichkeit. Wir bemerkten, dass die meisten Eltern, die unsere Gruppe besuchten, ihre Kinder nicht in Kindergärten brachten, für die sie zahlen mussten. Die FIRST-STEPS-Gruppe wurde dadurch zur ersten außerfamiliären Lernumwelt für viele dieser Kinder. Unser Ziel war die Reduktion von Risiken in der Säuglingsentwicklung und die Schaffung konstruktiver Bindung zwischen unserer Gesellschaft und den jungen Migrantenfamilien, von der Geburt der neuen Generation an. Von Beginn an waren mehr als 90 % der Teilnehmer/-innen im FIRST-STEPS-Projekt muslimische Familien. Eine der größten He-

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rausforderungen für die westlichen europäischen Gemeinschaften heute ist die Integration von Millionen muslimischer Familien. Deren Immigration nach Westeuropa dauert seit 1963 an, eine Immigration, die im Schatten einer Geschichte von Verletzungen in der Beziehung zwischen Christentum und Islam, dem Westen und dem Orient stattfindet. Eine Geschichte traumatischer Spuren im kollektiven Unbewussten. Die schmerzlichen Elemente dieser Geschichte werden weder in den Schulbüchern behandelt, noch gibt es Denkmäler zur Erinnerung in unserer Gesellschaft. Die Familien, die beteiligt sind, sind sich dessen oft nicht bewusst. Nach zwei Jahren präventiver Arbeit im FIRST-STEPS-Projekt, luden wir im März 2002 Bob Emde in unsere psychoanalytische, kinderpsychotherapeutische Forschungsgruppe an der Katholischen Universität Leuven ein. Auf einer Tagung mit Professor Emde präsentierten wir unsere vielversprechenden, vorläufigen Ergebnisse. Der psychoanalytische Blick auf die Mutter-Kind-Gruppen war unterdessen gut elaboriert. Zentral war dabei das Ziel, bei gleichzeitiger Aussicht auf Integration in die neue Kultur mit seiner eigenen Kultur verbunden zu bleiben. Ein anderes Thema war das Sprechen der Muttersprache in der Mutter-Kind-Beziehung und die Vorstellung, dass eine weitere Sprache bald in die Mutter-Kind-Beziehung eintreten würde. Weitere Themen waren »Migration als Verlust, Verlust kultureller Anhaltspunkte, nicht aber von Kultur, sondern der Verlust der Selbstverständlichkeit der Kultur«. Zu diesem Zeitpunkt war ich sehr von Grinbergs Buch »Psychoanalytic perspectives on migration and exile« beeinflusst, einem kleinianischen Text (Grinberg u. Grinberg, 1989). Diese Autoren differenzierten ein rigides Beibehalten an allem Kulturellen als eine Art obsessiven Schutz gegen jegliche kulturellen Änderungen. Dies führt zu einer starren Kultur bei Migrantengruppen, starrer als die Kultur im Heimatland, die sich unterdessen wandelt. Der zweite Schutzmechanismus oder Abwehrmechanismus ist ein manisches Einverleiben der neuen westlichen Kultur, bei dem Verbindungen zur Herkunftskultur komplett ausgeblendet werden. Eine mehr kreative Haltung (Grinberg und Grinberg nennen diese Haltung die der Depressiven Position) innerhalb der Migration bedeutet zu realisieren, dass beide Kulturen einflussreich sind. Überraschenderweise bedeutet es auch, dass die Integration einer neuen Kultur nur möglich

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ist, wenn aus der heimischen Kultur geschöpft werden kann. Mehr westliche Kultur bedeutet nicht weniger heimische Kultur; es kann sogar ein Neuentdecken und Wertschätzen der mitgebrachten Kultur bedeuten, die sich aus der Begegnung mit der westlichen Kultur erneuern kann. Andere psychoanalytische Autoren und Autorinnen, die mich zu dieser Zeit interessierten, waren Garza-Guerrero (1974), der über den Kulturschock und die Anpassungsprozesse im Ich/ Selbst, das mit Änderungen des kulturellen Kontextes konfrontiert wird, schrieb, sowie Akhtar (1999) mit seinem Buch »Immigration and identity«. Letzteres Werk trägt zum Verständnis bei, wie Eltern ihre ganze Einstellung und Erwartung ändern können, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen haben (eine Art der Anpassung an unterschiedliche Umstände), und wie angsteinflößend und verwirrend dies für die Jugendlichen der zweiten Generation sein kann. In ihnen ruft die Strategie ihrer Eltern unvorstellbare Befürchtungen hervor. Es handelt sich zum Beispiel um die Angst, an jemanden versprochen oder zu einer Hochzeit gezwungen zu werden durch sich sehr traditionell verhaltende Eltern, die sich sonst in Europa ganz anders verhalten. Was für die Eltern in gewisser Weise adaptiv zu sein scheint (in zwei kulturellen Umgebungen ganz anders zu sprechen, sich anders zu kleiden und zu verhalten), kann von den Kindern als bedrohlicher Schnitt wahrgenommen werden, ein Bruch der vulnerablen Identität der Adoleszenz. Die französische Psychoanalytikerin und Ethno-Psychiaterin Marie-­Rose Moro eröffnete mir eine weitere Perspektive. Sie organisiert Präventionsprogramme für Eltern und Kinder aus Bürgerkriegsgebieten im Kontext von Katastrophen und Traumata. Außerdem setzt sie sich mit den entwicklungsphasenspezifischen Schwierigkeiten (Geburt und Kleinkindalter; Eintritt in die weiterführende Schule und damit Erwerb umfangreicher Fähigkeiten und Fertigkeiten; Identitätssuche in der Adoleszenz) von afrikanischen Migrantenkindern in Frankreich auseinander (Moro, 1994, 2002). Wir vereinten diese Theorien und Programme mit der Arbeit von Françoise Dolto (in ihrer »Maison Verte«, dt. »Grünes Haus«; 1989) zu einem Ansatz für ein aufsuchendes, präventives Angebot in wenig privilegierten Stadtteilen belgischer Städte in Zusammenarbeit mit den Institutionen, die von diesen Familien bereits aufgesucht wurden (z. B. Krankenhaus, Sprachkurs usw.).

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In der ersten FIRST-STEPS-Gruppe empfingen wir hauptsächlich Mütter der zweiten Generation (geboren zwischen 1970 und 1980) und ihre Kinder, die sogenannte dritte Generation. Wir entdeckten die »World Association for Infant Mental Health« (WAIMH) und den Beitrag von Emde und Spicer (2000) über frühe beziehungsund bindungsbasierte Intervention. Die Migration begann sich schon in ersten Jahren unserer Präventionsarbeit zu ändern.

Migrationswellen: ökonomische, politische und transnationale Migration Migration verändert sich ständig. Seit Anfang der 1960er Jahre empfingen wir in Westeuropa Gastarbeiter/-innen aus dem Mittelmeerraum, sowohl aus christlichen Ländern wie Italien, Spanien und Portugal als auch aus islamischen Ländern wie Marokko, Algerien und der Türkei. Dabei handelte es sich um Wirtschaftsmigranten, deren Ziel es war, sich durch Arbeit in Europa ein besseres Leben in ihren jeweiligen Herkunftsländern zu ermöglichen. Die ersten Migranten waren Männer, erst ca. zehn Jahre später kamen Frauen hinzu, um ihre Männer beim Leben und Arbeiten im fremden Land zu unterstützen. Kinder waren oft noch nicht an der Migration beteiligt, viele von ihnen kamen erst nach Europa, als sie das Schulalter erreicht hatten. Aus der westlichen Perspektive bezeichnet man das als »Familienzusammenführung«, aber dieser Begriff wird der psychologischen Komplexität der Situation, bei der die Ehepartner/-innen weit voneinander entfernt leben, nicht gerecht. Brüche im Leben der Familien aus der ersten Generation kommen erst sehr viel später zur Sprache, zum Beispiel wenn die erste Generation das Stadium des hohen Alters erreicht (vgl. z. B. Erikson, 1968) und auf ihr Leben zurückblickt oder wenn die Mütter der zweiten Generation, die fast mutterlos aufgewachsen sind, im FIRST-STEPSBegegnungsraum über die Bruchlinien in ihren Familien erzählen. Die seit 1963 zunächst zeitlich begrenzte Migration wurde ab den frühen 1970er Jahren dauerhafter. Die Ölkrise spielte dabei eine große Rolle. Die Gastarbeiter konnten nicht in ihre Herkunfts­ länder zurück, da sie in diesem Fall keine Chance mehr hatten, nach

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Europa zurückzukehren, da zu diesem Zeitpunkt die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen begrenzt oder gestoppt wurde. Also blieben sie in Europa. Ihre Aussicht auf eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer wurde immer unwahrscheinlicher und blieb oft nur in der Phantasie erhalten, beispielsweise im Urlaub oder bei Beerdigungen (bzw. dem Wunsch, später im Herkunftsland beerdigt zu werden). Rückkehrabsichten blieben häufiger bei Männern bzw. Vätern als bei Frauen bzw. Müttern bestehen. Sobald eine Frau Kinder hat, bleibt sie an dem Ort, an dem diese aufwachsen. In der Zwischenzeit wurden aus den sogenannten »Gastarbeitern« Migrantinnen und Migranten, sich durch ihre Herkunft und Kultur unterscheidende Menschen. Bei FIRST STEPS verwenden wir oft das Bild »auf zwei Stühlen zu sitzen« oder »dazwischen« hinzufallen: Die erste Generation der Migration verspürt durch gegensätzliche Erwartungen oft Verwirrung oder einen tiefgreifenden Konflikt. Es gibt zwei Stühle, auf denen man sitzen oder auf die man sich beziehen kann. Aus dieser Situation entstehen Konflikte und Ambivalenzen im Hinblick auf Loyalität. Ab Mitte der 1970er Jahre kam eine neue Migrationswelle nach Westeuropa. Exilsuchende aus Lateinamerika flohen vor Diktatoren und Juntas wie dem Pinochet-Regime in Chile. Auch diese Asylsuchenden hatten Rückkehrpläne für den Fall, dass sich die politische Situation ändern und die Diktatur eine Ende nehmen würde. Allerdings kehrten auch von dieser Gruppe die meisten nicht mehr zurück. In Belgien empfingen wir in den 1980er Jahren zum Beispiel viele Somalier/-innen, die vor der Menghistu-Diktatur flohen, aber auch viele kongolesische Familien, die vor dem Mobutu- oder dem Laurent-Kabila-Regime flüchteten. Das Leben und die Gedanken dieser Menschen sind von weitaus mehr als einem Konflikt zwischen zwei Kulturen geprägt, nämlich von ethnischen Säuberungen, lebensbedrohlichen Ereignissen, dem Verschwinden von Angehörigen und Bekannten, Folter, Familiengeheimnissen, Verrat und Misstrauen in der eigenen Familie. Wir begegneten sehr geschlossenen Familien und solchen mit einem sehr gering ausgeprägten Sinn für Zusammenhalt; Familien ohne Kontakte zur Außenwelt, Familien ohne Zusammenhang im inneren Kreis. Heute und in Zukunft ist politisches Exil ein zentrales Thema für die europäische Politik. Seit dem Fall der Berliner Mauer 1989

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veränderte sich das Gesicht der Migration durch Migrationswellen erst aus Osteuropa (aus der ehemaligen UdSSR, aus Jugoslawien sowie aus armen, ländlichen Gebieten in Rumänien, Bulgarien und Polen) und später aus Südost-Asien, dem Nahen Osten und Afrika in den Westen (z. B. aus Ruanda nach dem Genozid). Seit 1990 sind diese Asylsuchenden Teil einer sich globalisierenden Welt: Ihr Ziel ist nicht die Rückkehr in ihre Herkunftsländer, auch wenn viele keine legale Grundlage für ihren Aufenthalt besitzen. Eine Rückkehr in die Herkunftsländer ist nicht nur angesichts von Diktatur und einer sich verschlechternden, instabilen politischen Situation praktisch unmöglich, sondern auch im Hinblick auf ein zerstörtes Heimatland, ein unattraktives, verwüstetes Gebiet. Transnationale Migration unterscheidet sich von den ersten politischen Asylsuchenden dadurch, dass nun Menschen mehrere Länder passieren. Sie lassen sich in der Hoffnung, dass ein Familienmitglied einen Aufenthaltsstatus erhält und die anderen nachholen kann, von Schleppern oder Schmugglern mitnehmen und riskieren dabei ausgeraubt, vergewaltigt und eingeschüchtert zu werden. Sie verlieren auf dem Weg Familienangehörige und werden manchmal von Partnern und Partnerinnen, Eltern oder Geschwistern getrennt. In Wirklichkeit erhält keines der Familienmitglieder offizielle Dokumente und bleibt somit illegal. Bei dieser Art der Migration ist kein »Stuhl« übrig, nachdem man alles im Herkunftsland zurückgelassen hat und im Ankunftsland keine Aussichten auf legalen Aufenthalt hat. Die Situation zeichnet sich ohne offizielle Dokumente und Zukunftsperspektive durch Illegalität aus, aber auch durch Traumata (Kindheitstraumata, Traumata, die durch die Flucht ausgelöst wurden, oder Traumata, die sie in Aufnahmeeinrichtungen, bedingt durch ihren vulnerablen Zustand, erlebt haben). Daneben gibt es viele (aus strategischen Gründen) zerbrochene Familien sowie Alleinerziehende, allein reisende Männer, Stress und Selbstregulationsprobleme in Schulen, desorganisierte Bindung und Überlebensmechanismen. Seit kurzem werden wir Zeuginnen und Zeugen einer neuen Veränderung in der Dynamik von Migration. Im Zusammenhang mit der Finanzkrise in Südeuropa – Griechenland, Spanien, Portugal, Italien – wurden viele Familien von Wirtschaftsmigranten, die für drei Generationen in diesen Ländern ansässig waren, wieder zur Migration gezwungen, in der Hoffnung auf Solidarität seitens ihrer

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großen verwandtschaftlichen Netzwerke in Nordwesteuropa. Meistens fanden sie dort nicht die erhoffte Großzügigkeit. Viele dieser Wirtschaftsmigranten, die zu transnationalen Migranten wurden, leben am Rand unserer Gesellschaft. Es wurde uns klar, dass bei der Arbeit mit Familien mit transnationalem Migrationshintergrund, im Gegensatz zu der »klassischen« Arbeit mit der zweiten und dritten Generation der Familien von Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten, einige neue Perspektiven im Hinblick auf die Präventionsarbeit eingenommen werden mussten.

Forschung zur Entwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund und zu den Effekten von Frühprävention Mittlerweile richteten wir unser Forschungsunternehmen auf die Fragen nach den Schwächen und Stärken in der Entwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund. Sie schneiden ab dem zweiten Lebensjahr in einigen Entwicklungsbereichen im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund, die unter vergleichbaren sozioökonomischen Bedingungen aufwachsen, signifikant schlechter ab. Dies ist besonders bei der Sprachentwicklung und der frühen kognitiven Entwicklung der Fall (Meurs u. Jullian, 2008). Zudem sind bei Kindern armer Familien mit Migrationshintergrund vom ersten Lebensjahr an alle Entwicklungsbereiche in größerem Ausmaß gefährdet. Da wir wissen, dass die Armutsquote weiterhin ansteigt – in Belgien leben heutzutage 15 % aller Neugeborenen in Armut – und dass die neu hinzukommenden Familien mit Migrationshintergrund öfter als zuvor der Gruppe der Armen angehören, ist eine präventive Begleitung der Flüchtlingsfamilien so notwendig wie noch nie. In der Anfangsphase von FIRST STEPS arbeiteten wir mit der relativ resilienten Mutter-Kind-Bindung, um die vulnerablen sprachlichen und kognitiven Entwicklungsprozesse positiv zu beeinflussen. Das Ziel war es, eine größere Chancengleichheit beim Übergang in den Kindergarten und in die Grundschule zu erreichen. Die teil-

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nehmenden Mütter fragten oft nach Spielsachen, die der kognitiven Entwicklung zuträglich sind. Sie erzählten uns, dass während ihrer eigenen Kindheit die Verbindung von Spiel und kognitiver Entwicklung für ihre Eltern (im Vergleich zu westlichen) eine wesentlich geringere Rolle spielte. Es wurde eine »bibliotheca« (eine Bibliothek für Bücher) und eine »play-o-theca« (eine Bibliothek für Spiel­sachen) eingerichtet, ein Ort, an dem Mütter Spielsachen und andere Spielmaterialien ausleihen konnten. In den Gruppentreffen arbeiteten wir mit den inneren Konflikten und kontrastierenden Loyalitäten wie auch mit den Konflikten im Hinblick auf die Ambivalenz zum Erwerb einer neuen Sprache. Aspekte bezüglich des Containments traten in den Vordergrund, wenn die Mütter die Gruppe als eine Unterstützung erlebten, was ihnen einen Orientierungspunkt in ihrem Leben in Stadtbezirken gab, in die viel zu wenig investiert wurde und in denen nicht hinreichend gute Gesundheitsversorgung und Schulen vorhanden waren. In neueren Gruppen mit transnationalen Migrantinnen und Migranten gerät dieses Bedürfnis nach Anker- und Orientierungspunkten sowie nach Halt und Containment immer mehr ins Blickfeld. Kinder, die unter diesen Umständen aufwachsen, benötigen umfassende Entwicklungshilfe und bindungsfokussierte Vorsorge (wenn die Bindung unter dem Druck von Überlebensmechanismen, schlechten Lebensbedingungen, Traumata und zahlreichen Verlusten stand). Seit 2005 erweitern wir das FIRST-STEPS-­Programm um Follow-up-Programme wie SECOND STEPS (Zweite oder nächste Schritte) und FURTHER STEPS (Weitere Schritte, bei dem mit Eltern mit Migrationshintergrund in Zusammenarbeit mit der Grundschule gearbeitet wird) sowie erst kürzlich mit »Youth Steps Meeting Points« für Eltern und Jugendliche (Meurs u. Jullian, 2016). Ohne Hilfe durch Frühprävention besteht für diese neuen Flüchtlinge, angesichts der hochkomplexen Situation, in der sie sich befinden, die Gefahr, multiple und komplexe Traumatisierungen zu entwickeln. 2014 erweiterten wir unser Programm einmal mehr um YOUTH STEPS, das Treffen für Eltern oder auch Jugendliche anbietet. Forschungen zur Langzeitwirkung von FIRST STEPS zeigten deutlich, dass Kinder, die das Programm im Alter von vier Jahren beendeten, in der Grundschule weniger Probleme mit dem Sprach-

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unterricht und mit Mathematik hatten, im Alter von zwölf Jahren öfter den Übergang in eine Sekundarschule ohne Verzögerung schafften, weniger Verhaltens- oder emotionale Probleme im Alter von 10 bis 15 Jahren aufwiesen sowie bei Bedarf einen schnelleren Zugang zu psychologischer Hilfe fanden und öfter in Familien lebten, die gesellschaftlich gut integriert waren (Meurs u. Jullian, 2016). Wir können die Wirkung von niedrigem sozioökonomischem Status nicht zunichtemachen, aber die frühe Teilnahme an Prävention ist ein wichtiger Faktor im Prozess des »Wegkommens« aus der Armut. Der Ökonom James Heckman (2013) und der Psychoanalytiker Robert N. Emde (2003) zeigten, wie hoch sich diese frühen Investitionen in Risikofamilien auszahlen. Es handelt sich nicht um Zauberei. Es ist kein magisches Rettungsmittel, das jedes beteiligte Kind rettet, aber es funktioniert für die meisten. Die Investition von 1 Euro zahlt sich langfristig gesehen wieder mit 7 bis 17 Euro aus. Je früher die Investition, desto höher der Nutzen.1

Follow-up-Programme für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund In der heutigen Welt ist diese Frühprävention eine Herausforderung, aber wir sollten Folgemaßnahmen über die Kindheit hinaus bis ins Jugendalter ermöglichen. Diejenigen, die nach Syrien gehen, um dort zu kämpfen, sowie die sich radikalisierenden Jugendlichen konfrontieren uns mit der Notwendigkeit, auch für diese Entwicklungsphase Interventionen anzubieten. In einem aktuellen qualitativen Forschungsprojekt, in dem radikalisierte Jugendliche und deren Familien interviewt werden, fanden wir komplexe psychische Konstellationen: das Gefühl, weder zu dieser noch jener Gesellschaft 1 Heckman erklärt diesebzüglich: »Children born in disadvantage are, by the time they start kindergarten, already at risk. […] A new focus on preschool intervention emphasizing the improvement of early environments of disadvantaged people and increasing the quality of parenting while respecting the primacy of the family and cultural diversity, has much greater positive economic and psychosocial impact than later interventions, especially in a longer-term perspective« (Heckman, 2013, S. 228).

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etwas beitragen zu können; das Gefühl, sich mit der Gesellschaft im Allgemeinen nicht verbunden zu fühlen, sich um die Gesellschaft nicht zu kümmern, da man zu dieser nichts beitragen kann (wie man es mit Winnicott (1963) fomulieren könnte: only a feeling of contributing in leads to a sense of concern for); das Gefühl, kein Mann oder Vater werden zu können; das Gefühl, desillusioniert alleingelassen zu werden, fremdgesteuert zu werden etc. (Meurs, 2016). Dies sind wichtige Themen sowohl für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit transnationalem Migrationshintergrund als auch für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sowie die Jugendlichen in der dritten Generation von Familien mit klassischem wirtschaftlichen (ökonomischen) Migrationshintergrund. Die erste und zweite Generation wollte für ihre Kinder Brücken in die westliche Welt errichten. Vor allem sind die Mütter die Brückenbauer. Allerdings sahen die Kinder die unverarbeitete Trauer ihrer Eltern und Großeltern und begannen die Aggression widerzuspiegeln. Hinzu kommt der Identitätskonflikt. In dieser vulne­ rablen Situation suchen sie nach Vorbildern außerhalb der Familie, allerdings nicht so sehr in der westlichen Populärkultur, dafür aber bei den radikalen Stimmen in den Moscheen und vor allem im Internet. Diese radikalen Stimmen werden vernommen, sowohl von den ungebildeten, marginalisierten Jugendlichen als auch von manchen besser Gebildeten, die das Gefühl haben, sich trotz einer guten Schulkarriere doppelt und mehrfach beweisen zu müssen, ohne eine Arbeit zu bekommen. Demagogen und Anwerber finden in diesen vulnerablen Jugendlichen ein ideales Ziel für ihre fundamentalistischen Botschaften. Die multiple Identität der Jugendlichen mit Migrationshintergrund scheint eine große Schwierigkeit darzustellen. Sie tendieren dazu, Ambivalenzen und Ambiguitäten bezüglich Identität zu verringern, maximieren die Liebe für einen identitären Teilaspekt und den Hass auf einen anderen. Um das Risiko der Radikalisierung zu verringern, arbeiten wir im Projekt YOUTH STEPS mit Selbstaussagen und Erzählungen der Jugendlichen über ihre Identitätskrise. Wir laden Imame ein, die für ihre Offenheit bekannt sind, und besuchen mit diesen Jugendlichen Orte, an denen die gegenwärtige islamische Präsenz in Belgien deutlich wird (z. B. Friedhöfe für muslimische Soldaten, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg

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für das Land gekämpft haben). Wir organisieren zudem Treffen von gemischten Gruppen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund oder Gruppen mit muslimischen und assyrischen christlichen Jugendlichen. Die Arbeit des Aufbaus von interkulturellen Begegnungen wurde viel zu lange ignoriert. Diese Vernachlässigung hat zu fatalen Entwicklungen geführt, wie in Molenbeek, der sogenannten »Hauptstadt des Dschihadismus«. Heute wird versucht Molenbeek mit neuen Initiativen und sozialen Projekten wiederzubeleben. Dort bieten die YOUTH-STEPS-Gruppen einen Rahmen, um dieses neue Leben in dem vernachlässigten Bezirk der europäischen Hauptstadt Brüssel einzufangen. Wir stellen bei muslimischen Jugendlichen oft ein tief verwurzeltes, negatives Selbstbild bei der Begegnung mit der westlichen Kultur fest. Sie sind überzeugt, dass arabische Jugendliche zurückbleiben, dass alle Entdeckungen in der westlichen Welt gemacht werden, dass der reiche Westen alles hat und »die Araber« arm sind und nichts haben. Diese Jugendlichen müssen die Möglichkeit haben, mehr über ihre eigene Geschichte kennenzulernen, zum Beispiel über die Bedeutung orientalischer Literatur, Geschichte und Wissenschaft. »Ich bin ein Nichts« (»I am nothing«) muss ersetzt werden durch »Ich komme voran, seht meine Fortschritte« (engl.: »I take new steps, see the traces of my youth steps here«). Das Gefühl, zu Hause zu sein, hat sich bei ihnen nie voll eingestellt. Auch wenn sie in Europa geboren wurden und hier seit zwei oder drei Generationen leben, stellt in der Vorstellung von manchen Jugendlichen das Kalifat des Islamischen Staates ein Zuhause und eine Heimat dar, erst bei den Jungen, jetzt auch bei den Mädchen.

Schwerpunkte bei der Arbeit mit Flüchtlingsfamilien Heimat und Rückkehr in die Heimat sind zentrale Aspekte menschlicher Erfahrung und Geschichte. Die Erfahrung des Verlusts der Heimat teilen alle Flüchtlinge, aber nicht unbedingt die Traumata. Sie sehnen sich nach einer Heimat, die sowohl den Herkunftsort als auch das erstrebte Ziel (z. B. »Allemania«) bedeuten kann.

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Das antike griechische Epos »Odyssee« (Homer, 1990) handelt von dem langen und anstrengenden Kampf, in die Heimat zurückzukehren. Die Heimkehr ist für den Helden Odysseus nicht das Ende der Geschichte. Er erreicht bereits in der Mitte des Epos nach zehn Jahren Krieg und zehn Jahren der Heimreise Ithaca. Aber er erkennt seine »Heimat« nicht und wird auch selbst von niemandem erkannt. Auch als er verstanden hat, dass er wieder in seinem geliebten Heimatland angekommen ist, ist er noch nicht wirklich angekommen. Bei der Heimkehr geht es um das Wiederherstellen von bedeutungsvollen Verbindungen: Odysseus kann nicht einfach in seinen vorherigen Zustand zurückkehren, vielmehr muss er noch erbitterter kämpfen als auf seinem Weg nach Ithaca. Psychologisch gesehen ist es schwieriger und heikler, sich wieder mit dem Herkunftsland in Beziehung zu setzen und dabei den Verlust der eigenen Idealvorstellung nach all den heldenhaften Anstrengungen der Rückkehr zu riskieren. Auf die heutigen Flüchtlinge übertragen heißt das, dass die erste Aufgabe das Überleben des Krieges sowie die Flucht nach Europa ist und die zweite, sich wieder mit dem Selbstgefühl und mit dem Anderen zu verbinden. Papadopoulos (2002) beschreibt die Erfahrung der Flüchtlinge als eine »wehmütige Desorientierung« (engl.: »nostalgic disorientation«), die mehr als nur Verlust darstellt. Falls die Abwesenheit der Heimat eine innere Leere bei den Flüchtlingen bewirkt und sie sich dadurch haltlos, ohne Containment fühlen, werden sie nach Mitteln suchen, um diese Leere zu füllen, und versuchen, sich ein schützendes und haltendes Zuhause zu schaffen. Das Zuhause bietet eine schützende und haltende Hülle. Normalerweise ist diese elementare, umgebende Schicht nicht bewusst, bis sie angegriffen bzw. beschädigt wird. Genau das geschieht bei Menschen, die ihr Zuhause verlieren und zu Flüchtlingen werden. Dieser Mangel ergreift die Flüchtlinge in jedem Fall zusätzlich zu ihren weiteren sekundären Verlusten. Wenn die Hülle beschädigt ist, Menschen ihr Zuhause verlieren und zu Flüchtlingen werden, kommt es zu Verwirrung und Gefühlen von Derealisation, da sie etwas verlieren, dessen sie sich nicht bewusst sind. Der Verlust der Heimat bedeutet nicht nur einfach den Verlust des Ortes, an dem die Familie zu Hause ist, sondern ist viel tiefgreifender: Er erzeugt Desorientierung, existenzielle Unsicherheit und Angst. Es handelt sich um eine Lücke,

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eine Verletzung oder einen Mangel an Selbsterfahrung und an der Fähigkeit, das Leben und die Generativität mit Sinn zu füllen.2 Flüchtlinge bzw. fast jeder, der von Kriegserlebnissen und politischer Verfolgung betroffen ist, wird als traumatisiert betrachtet. Oft werden sie hauptsächlich oder nur als Opfer gesehen und es gibt keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen psychologischen Reaktionen auf »traumatische Situationen«. Zudem scheint sich der Traumadiskurs nur einseitig mit den Erfahrungen von Flüchtlingen (und der Gewalt, vor der sie fliehen) auseinanderzusetzen. Martha Bragin (2005) schlug einen neuen Ansatz für das Konzept von Trauma vor. Die Unterschiede in der Reaktion auf traumatische Erlebnisse und dem, was wir daraus für die Unterstützungsprogramme lernen können, sollten wir uns viel mehr bewusst machen. Bei den unterschiedlichen Reaktionen auf Kriegserlebnisse spielt Resilienz eine große Rolle. Wir dürfen auch die sozialpolitische Natur der Ereignisse nicht aus dem Blickfeld verlieren (sonst laufen wir Gefahr, ein politisches Problem zu pathologisieren) und wir müssen auch die Effektivität des Gruppenzusammenhalts in Not (d. h., innere Ressourcen können durch Gruppensolidarität und innerhalb einer Gesellschaft gestärkt werden, was Möglichkeiten zur Integration schafft) berücksichtigen. Es ist wichtig, dass die Gruppe nicht nur Gefühle der Machtlosigkeit sowie des Ausgeschlossenund Opferseins verstärkt, sondern auch einen potenziellen Raum für Selbstheilung und für die Aktivierung oder das Wiederentdecken von selbstaufrichtenden Tendenzen bietet. Weiterhin ist es wichtig, Willkommensein und Solidarität zu signalisieren, damit neue Traumatisierungen im Asylland die Bereitschaft und Offenheit bei Eltern und Kindern nicht zerstören. In diesen Erstaufnahmestellen (wie z. B. im Michaelisdorf in Darmstadt) sind nach der Flucht die Offenheit und Bereitschaft, die Hoffnung und die Idealisierung noch groß, genau wie die Unerträglichkeit der Desillusionierung. 2 Wir können hier an aktuelle Bilder aus Idomeni denken, im Lager an der mazedonisch-griechischen Grenze und an die wütend schreienden Väter, die ihre Kleinkinder hochhalten und rufen: »Unsere Eltern haben wir dort gelassen, unsere Kinder dürfen hier nicht rein. Wir haben keine Zukunft, keine Hoffnung, dass es [die Transgenerativität] weitergeht …« Dieses Bild der bedrohten Transgenerativität macht die Art dieser tiefen humanitären Flüchtlingskrise im Jahr 2016 in Europa sehr deutlich.

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Abschließende Bemerkungen Flüchtlinge können eine beeindruckende Resilienz und Kraft bei der Konfrontation mit seelischem Schmerz, Flucht und Not zeigen. Trotz des Elends im Heimatland und bei der Flucht versuchen sie alles, um in Kontakt mit ihrer Lebendigkeit zu bleiben, mit einem guten inneren Objekt, das es ihnen ermöglicht, die erlittene Entbehrung und den Verlust zu verkraften, ohne von ihm überwältigt zu werden. Als Konsequenz befähigt sie dies, das Beste aus ihrer Situation zu machen, indem sie jegliche verfügbare Hilfe annehmen, um sich wieder ein Leben aufzubauen. Einige schutzsuchende Personen oder Familien sind weniger belastbar. Der Verlust des guten und unterstützenden inneren Objekts verringert deren Belastbarkeit, wodurch sie unzureichend geschützt, der unerträglichen Realität ihrer Situation begegnen. Im Interesse ihrer Kinder und Säuglinge haben sie jedoch eine hohe Motivation, die transgenerationale Kontinuität wiederherzustellen, die in ihrem Herkunftsland (durch den IS, der ihnen die Kinder nimmt und ihre Geschichte, ihre Zukunft und ihren Lebensraum zerstört) und an den Mauern der Festung Europa (»Wir sind in Camps gesperrt, in denen es für unsere Kinder keine Lebensqualität gibt, während selbst Hunde hier besser behandelt werden.«) bedroht wird. In Programmen wie »Jasmin – zwischen Traum und Trauma« (vgl. auch Ahlheim u. Burkhardt-Mußmann, in diesem Buch, S. 259 ff.) müssen wir die Hoffnung ab dem Moment der Ankunft wiederherstellen. Ein solches Programm kann entscheidend an der Wiederherstellung intergenerationaler Geschichte, der Wiederherstellung der Transgenerativität, beteiligt sein. Um diese Arbeit verrichten zu können, benötigen Flüchtlingsfamilien einen Treffpunkt für unsere präventiven Projekte wie FIRST STEPS und »Jasmin«, ebenso wie Anleitung durch Berater/-innen, die ein tiefes Vertrauen in die Stärke und Belastbarkeit der Flüchtlinge verkörpern und die den therapeutischen Wert des Erzählens (wiederholen, Verbindungen herstellen, Kraft schöpfen) begleiten, sodass die geschichtlichen und intergenerationalen Perspektiven sogar nach den Zerstörungen, welche die Flucht auslösten, aufrechterhalten werden können. Solch früh angebotene Prävention für die aktuellen Flüchtlings­ familien verringert das Risiko auf Retraumatisierung nach der Flucht (82 % der Flüchtlingsfamilien geben an, dass nicht die Flucht, son-

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dern die ersten Jahre im Asyl am stärksten traumatisierend wirken). Nach der Flucht erwartet man weniger Trauma und man ist weniger auf Aggressionen vorbereitet, deshalb werden neue Probleme und Konflikte im Flüchtlingslager oft als traumatisierend erlebt. Aus diesem Grund sollten wir gerade in diesen Momenten diesen Familien unsere Präventionsprogramme anbieten. Denn das ist es, was man sich als Flüchtling unterwegs erträumt, willkommen geheißen zu werden und Hilfe zu bekommen, statt im Asyl wieder traumatisiert zu werden. Hierin liegt ein neuer Weg vom Trauma zum Traum. Übersetzung: Tom Degen und Tobias Baier

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Korinna Fritzemeyer, Constanze Rickmeyer, Judith Lebiger-Vogel, Munise Agca, Lea Lochmann, Claudia Burkhardt-Mußmann und Marianne Leuzinger-Bohleber

Frühpräventionsprojekte für geflüchtete Familien mit Kleinkindern – Praxis und Forschung am Sigmund-Freud-Institut 2007 begann das Sigmund-Freud-Institut (SFI) in enger Kooperation mit dem Anna-Freud-Institut (AFI) mit der Konzeption von ERSTE SCHRITTE, einem psychoanalytischen Frühpräventionsund Integrationsprojekt für Kleinkinder mit Migrationshintergrund. Damals war bei Weitem nicht abzusehen, dass das Projekt, wie aktuell in der sogenannten »Flüchtlingskrise«, eine solche Aktualität haben würde. Seit 2014 haben über eine Million Menschen einen Asylerstantrag in Deutschland gestellt. Die meisten von ihnen kommen aus Kriegs- und Krisengebieten (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2016a, 2016b). Die Gesamtzahl der Geflüchteten in Deutschland wird jedoch auf deutlich mehr geschätzt, da allein 2015 schon 1,1 Millionen Zugänge von Asylsuchenden registriert worden sind und die formale Antragstellung nur zeitlich verzögert möglich ist. Viele von ihnen sind aus lebensbedrohlichen Situationen und unter ebensolchen Umständen geflohen und haben Familienangehörige verloren. Es ist davon auszugehen, dass sich ihre unverarbeiteten, oft traumatischen Erfahrungen auf ihre Kinder auswirken, wenn sie nicht die Möglichkeit erfahren, ihre Erlebnisse zu teilen und ihre Verluste zu betrauern. Im Rahmen von ERSTE SCHRITTE und den darauf aufbauenden Folgeprojekten »Jasmin« und »Hand in Hand«, speziell für geflüchtete Familien, nehmen Mütter und ihre Kleinkinder (0–3 Jahre) in Frankfurt am Main, Berlin und Stuttgart an psychoanalytisch moderierten Mutter-­Kind-Gruppen teil. Ziel ist es, die Weitergabe unverarbeiteter Traumatisierungen und negativer Erfahrungen im Kontext von Migration zu verhindern bzw. ihre Auswirkungen auf die Kinder abzumildern sowie die psychosoziale Integration der Familien zu unterstützen.

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Übersicht über das Konzept von ERSTE SCHRITTE Ausgangspunkt der Entwicklung von ERSTE SCHRITTE war unter anderem die Erkenntnis, dass Kinder mit Migrationshintergrund in deutschen Bildungsinstitutionen weiterhin benachteiligt sind und mit einer größeren Wahrscheinlichkeit in Hochrisikoumgebungen aufwachsen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2012; BMAS, 2013). Zwar gab es auch vor Beginn der hier beschriebenen Präventionsprojekte für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund zahlreiche Projekte, die meisten setzten jedoch beim Erlernen der deutschen Sprache an und waren daher nur für ältere Kinder und Erwachsene konzipiert (Lebiger-Vogel et al., 2013; Leuzinger-Bohleber u. Lebiger-Vogel, 2016). ERSTE SCHRITTE, das unter anderem an das belgische FIRST-STEPS-Projekt von Patrick Meurs angelehnt ist (s. Meurs, in diesem Buch), verfolgt hingegen das Ziel, bei den frühesten Beziehungserfahrungen von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund anzusetzen. Dies soll durch eine Verbesserung ihrer frühen Umwelt- und Bindungserfahrungen, die aufgrund der elterlichen Migration und damit zusammenhängenden psychologischen und sozioökonomischen Risikofaktoren belastet sein können (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2012; Lebiger-Vogel et al., 2013; Leuzinger-Bohleber, Fischmann, u. Lebiger-Vogel, 2009), erreicht werden. ERSTE SCHRITTE richtet sich vor allem an »schwer erreichbare« Familien mit Migrationshintergrund, bei denen insbesondere die Mütter nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen. Die Mütter sind Migrantinnen der ersten Generation, die schwanger sind oder gerade ein Kind geboren haben und meist erst seit Kurzem in Deutschland leben. Indem ERSTE SCHRITTE das »natürliche« Zeitfenster für die Entwicklung der Bindung zwischen Mutter und Kind nutzt, versucht das Projekt unter anderem durch die Unterstützung Halt gebender und »genügend guter« Mutter-Kind-Interaktionen (vgl. Winnicott, 2006) die Bindungssicherheit und eine gesunde Entwicklung der Kinder von Anfang an zu fördern. Dies geschieht indem die reflexiven Fähigkeiten (Fonagy u. Target, 2002), eine adäquate Emotionsregulation und das Erziehungsverhalten der Eltern (v. a. der Mütter) individuell unterstützt werden. Darüber hinaus versucht ERSTE SCHRITTE die psychosoziale Integration der Eltern zu fördern und Schwierigkeiten zu bewältigen, die mit der Migration einhergehen. Dadurch soll das

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Projekt dazu beitragen, dass sich vor allem die eingewanderten Mütter in Deutschland sicherer fühlen und ihre Kinder in ihrer sozio-emotionalen und kognitiven Entwicklung adäquater unterstützen können. Im Rahmen des ERSTE SCHRITTE-Angebots werden die Familien mit Hausbesuchen und Gruppenangeboten möglichst von der Schwangerschaft bis zum Eintritt in den Kindergarten, wenn die Kinder etwa drei Jahre alt sind, durch psychoanalytisch geschulte Projektmitarbeiterinnen gezielt gefördert und begleitet. In den wöchentlich stattfindenden Gruppen kommen jeweils ca. sechs bis acht Frauen zusammen. Sie erfahren durch die je zwei Projektmitarbeiterinnen, die die Gruppen leiten, Rituale (Begrüßungs- und Abschiedslieder), Kontinuität (die Gruppen haben feste Mitglieder – es sind keine offenen Gruppen) sowie Begleitung und Unterstützung bezüglich ihrer Erfahrungen und Sorgen als Migrantinnen und Mütter. Die Projektmitarbeiterinnen, ausschließlich Frauen, haben keine psychoanalytische Ausbildung, sind jedoch oftmals Pädagoginnen, Erziehungswissenschaftlerinnen oder ausgebildet im medizinischen oder Kleinkindbereich. Sie werden im Rahmen des Projekts durch erfahrene Psychoanalytikerinnen in psychoanalytischer (Entwicklungs-)Theorie geschult und ihre Arbeit wird (u. a. mithilfe von Videobeobachtungen), eingeschlossen die sich darin darstellenden Konflikte, wöchentlich supervidiert.

Umsetzung in Frankfurt am Main In enger Zusammenarbeit mit dem AFI in Frankfurt, insbesondere mit Claudia Burkhardt-Mußmann und Angelika Wolff sowie erfahrenen Supervisorinnen des Instituts, wurde das Konzept von ERSTE SCHRITTE in verschiedenen Stadtteilen Frankfurts implementiert und parallel (weiter-)entwickelt. Die Gruppen wurden erfolgreich an die obligatorischen Sprachkurse dreier Sprachkursanbieter angebunden. Die Projektmitarbeiterinnen gingen regelmäßig in die dort angebotenen Deutsch- und Integrationskurse und luden dort schwangere Frauen ein, eine ERSTE-SCHRITTE-Gruppe, die in denselben Einrichtungen – meist nur ein paar Räume weiter – stattfand, zu besuchen.

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Vor allem die zeitintensive Rekrutierung, die zu Beginn unregelmäßige Teilnahme bzw. das »Verschwinden« von Teilnehmerinnen, weil diese zum Beispiel ihre Telefonnummer wechselten und zeitweise schlicht nicht zu erreichen waren, gehörten zu den großen Herausforderungen, mit denen die Projektmitarbeiterinnen konfrontiert waren (vgl. Burkhardt-Mußmann, 2013, 2015).

Umsetzung in Berlin-Neukölln Die erfolgreiche, aber auch ressourcenintensive Durchführung des ERSTE-SCHRITTE-Konzepts in Frankfurt am Main ließ die Frage aufkommen, ob das Konzept auch in einem anderen Kontext (nicht nur bei Integrationskursanbietern) sowie in einer anderen Stadt und ohne direkte institutionelle Anbindung an das Sigmund- bzw. das Anna-Freud-Institut durchführbar ist. In Kooperation mit den Kliniken für Geburtsmedizin und Kinder- und Jugendmedizin des Vivantes-Klinikums Neukölln, einer großen medizinischen Versorgungseinrichtung1 und insbesondere mit Rainer Rossi, dem dortigen Chefarzt für Kinder- und Jugendmedizin, sowie seiner Frau, Hildegard Rossi, damalige Leiterin des Kindergesundheitshauses e. V., war es mithilfe einer Förderung durch das Bundes­ familienministerium (BMFSFJ) ab November 2012 möglich, dies zu untersuchen. Die Projektmitarbeiterinnen gingen täglich auf die Mutter-Kind-Station und erfuhren von den Schwestern, welche Frauen nur über wenige Deutschkenntnisse verfügen (als Indikator für eine geringe Integration). Sie sprachen diese in ihren Zimmern wenn möglich auch in Anwesenheit der Väter an und überreichten Informationsmaterialien zum Projekt – möglichst in deren Muttersprache. Wenn die Frauen/Familien einwilligten, telefonisch kontaktiert zu werden, wurden sie ca. zwei Wochen später – dies erwies sich als bester Zeitpunkt – angerufen und in eine Gruppe eingeladen. Die Gruppen fanden entweder im Kindergesundheits1 Mit ca. 3500 Geburten pro Jahr (davon ca. 70 % Migrantinnen der ersten und zweiten Generation) ist das Vivantes-Klinikum Neukölln eines der geburtenreichsten Krankenhäuser Deutschlands.

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haus e. V. (auf dem Klinikgelände) oder im Waschhauscafé e. V., einem niedrigschwelligen Nachbarschaftscafé wenige Kilometer von der Klinik entfernt, statt.

Begleitforschung und erste wichtige Ergebnisse2 Um die Wirksamkeit des ERSTE-SCHRITTE-Angebots zu untersuchen, wurde es von Anfang an und an beiden Standorten (Frankfurt a. M. und Berlin) mithilfe eines randomisierten Vergleichsgruppendesigns umfassend evaluiert. Hierbei wurde das ERSTE-SCHRITTE-Angebot (qualifiziertes Personal, regelmäßige Supervision und Praxisreflexion, systematische Einzel- und Gruppenangebote einschließlich Hausbesuche; Präventionsangebot A) mit einem laiengestützten Präventionsangebot (Vergleichsgruppen, gleiche Gruppengrößen, Frequenz und Dauer; Präventionsangebot B) verglichen. Bei dem Vergleichsangebot handelt es sich um eine Art Treatment-as-usual, einem in diesem Bereich zurzeit oft politisch präferiertem relativ wenig kostenintensiven Ansatz. Die Idee ist, dass Laienhelferinnen ihre Erfahrungen als Migrantinnen und Mütter an andere Mütter weitergeben und zu sozialem Austausch im Rahmen eines Mutter-Kind-Treffs einladen. Die Laienhelferinnen bekommen keine professionelle Begleitung und können die Gruppen frei nach ihren Vorstellungen gestalten. Die Teilnehmerinnen wurden den beiden Präventionsangeboten randomisiert zugewiesen. Die Forschungshypothesen unter anderem zur Wirksamkeit der beiden miteinander verglichenen Angebote werden laufend mithilfe einer Vielzahl an Sprach-, Bindungs- und Entwicklungsuntersuchungen sowie mithilfe von Videoaufnahmen der Mutter-Kind-Interaktion untersucht. Darüber hinaus werden Selbst- und Fremdbeurteilungsinstrumente zu soziodemografischen Informationen, Alltagsstress und postnataler Depression abgefragt. Die abschließenden Analysen zur differenziellen Wirksamkeit beider Angebote stehen noch aus, da noch nicht alle Mütter und Kinder das Projekt durchlaufen haben. 2 Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion siehe Lebiger-Vogel et al. (2016).

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In Frankfurt wurden bis zum Ende der Rekrutierung für die Begleitforschung insgesamt n = 233 Familien aus 32 Ländern für das Projekt gewonnen. In Berlin nahmen bis Ende 2015 n = 89 Familien aus insgesamt 36 unterschiedlichen Herkunftsländern teil.3 Es zeigte sich, dass die Rekrutierung über die Integrationskurse effizienter war als diejenige kurz vor und nach der Geburt in einer großen Geburtenklinik. Relevante Gründe sind nach unseren bisherigen Eindrücken die unmittelbare Nähe der Integrationskurse – wo die Mütter angesprochen werden – zu den Gruppenräumen von ERSTE SCHRITTE, ferner die Vertrautheit mit den Einrichtungen sowie die Möglichkeit, den Müttern dort schon während der Schwangerschaft zu begegnen und nicht erst kurz nach der Geburt (dazu s. LebigerVogel et al., 2016). Während in Frankfurt die meisten der teilnehmenden Mütter aus Ost-, West- und Nordafrika sowie aus der Türkei stammen, kommen die Teilnehmerinnen in Berlin zwar auch häufig aus der Türkei, viele jedoch auch aus arabischen (z. B. Libanon und Syrien) sowie aus osteuropäischen Ländern (Polen, Rumänien, Bulgarien). Sowohl in Frankfurt als auch in Berlin zeigte sich, dass sich mehr Frauen, die dem psychoanalytisch orientierten Präventionsangebot A zugeordnet wurden, für eine Projektteilnahme entschieden, verglichen mit Frauen, die dem laiengestützten Präventionsangebot B zugewiesen wurden. Zudem zeigen die bisherigen Ergebnisse in Frankfurt und Berlin, dass jene Teilnehmerinnen, die dem ERSTE-SCHRITTE-Angebot (Präventionsangebot A) zugeordnet wurden, häufiger und regelmäßiger an den Gruppentreffen teilnahmen bzw. teilnehmen als jene der Vergleichsgruppen (Präventionsangebot B). Dies ist ein wichtiges erstes Ergebnis. Es weist darauf hin, dass ein laiengestütztes Angebot weniger geeignet ist, Familien mit Migrationshintergrund eine genügend intensive Unterstützung anzubieten, die es ermöglicht, dass sie längerfristige und konstante Bindungen zu den Projektleiterinnen und den anderen Gruppenteilnehmerinnen aufzubauen und sich somit aus einer möglichen sozialen Isolation der Migration herausbewegen (Lebiger-Vogel et al., 2016). 3 Vereinzelt lehnten Frauen auch die Begleitforschung ab. Es wurde ihnen jedoch trotzdem ermöglicht, als »Stützfrauen« die Gruppen zu besuchen.

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Zusammengefasst gehörte die zeitintensive Rekrutierung und die individuelle Betreuung von Teilnehmerinnen, bis diese kontinuierlich an den Gruppen teilnehmen, sowohl in Frankfurt als auch in Berlin – neben der Datenerhebung – zu den größten Herausforderungen. Nur durch einen hohen personellen und zeitlichen Aufwand und eine enge (räumliche und personell sich überschneidende) Zusammenarbeit verschiedener Einrichtungen kann es gelingen, diese »high-at-risk«- und »hard-to-reach«-Zielgruppe von Migrantinnen mit nur kurzfristig zurückliegenden und zum Teil traumatisierenden Migrationserfahrungen zu erreichen.

Weiterentwicklungen von ERSTE SCHRITTE: »Jasmin – zwischen Traum und Trauma« und »Hand in Hand« Als sich 2014 insbesondere aufgrund der Verfolgung der syrischen Bevölkerung in ihrem Heimatland und der anhaltenden Konflikte in Afghanistan, im Irak und in nordwestafrikanischen Ländern abzeichnete, dass viele Menschen nach Deutschland fliehen, entstand die Idee, das ERSTE-SCHRITTE-Konzept zu erweitern und gezielter geflüchtete Familien in das Angebot einzubinden. Unter der Leitung von Claudia Burkhardt-Mußmann (Anna-Freud-Institut, Frankfurt a. M.) und in Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt (AWO Hessen Süd e. V.) konnten Mittel bei Aktion Mensch e. V. eingeworben werden, um das daraus entstandene Projekt »Jasmin – zwischen Traum und Trauma« in Frankfurt umzusetzen. Seit Ende 2014 werden nun im Rahmen von »Jasmin« vermehrt Frauen mit einem Flüchtlingsstatus in die bestehenden ERSTE-­SCHRITTEGruppen eingeladen. Die Projektmitarbeiterinnen besuchen hierfür verschiedene Flüchtlingsunterkünfte, von denen aus die geflohenen Familien die Gruppen in den Räumlichkeiten der kooperierenden Integrationskursanbieter besuchen können. Während zuvor nur ungefähr 10 % der ERSTE-SCHRITTE-Teilnehmerinnen in Frankfurt einen Flüchtlingsstatus hatten, ist es nun Ziel der »Jasmin«-Gruppen, zur Hälfte Migrantinnen ohne und zur Hälfte Migrantinnen mit Flüchtlingsstatus aufzunehmen. Dies ermöglicht, die Belastun-

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gen aufgrund von Traumatisierungen im Kontext von Bürgerkriegs­ erfahrungen in einem für alle erträglichen Maße zu halten. Auch mobilisieren die Begegnung und der Austausch mit Teilnehmerinnen, die schon erste Hürden geschafft und in Deutschland Fuß gefasst haben, bei den neu ankommenden Flüchtlingsfamilien Ressourcen auf der Grundlage von Zuversicht und Hoffnung, was sich positiv auf die Kinder auswirkt. Analog zu diesem Folgeprojekt von ERSTE SCHRITTE in Frankfurt ist es im November 2015 gelungen, Aktion Mensch e. V. für die Förderung eines Folgeprojekts (»Hand in Hand«) in Berlin zu gewinnen. »Hand in Hand« wird seit Januar 2016 vom Kinder­gesundheitshaus e. V. in der bewährten Kooperation mit dem Vivantes-Klinikum Neukölln sowie dem Waschhauscafé e. V. durchgeführt. Wie in Frankfurt ermöglicht »Hand in Hand«, dass Frauen, die das ERSTE-SCHRITTE-Angebot noch nicht abschließend durchlaufen haben, weiter an den Gruppen teilnehmen und wissenschaftlich begleitet werden können. Darüber hinaus werden freie Plätze von Teilnehmerinnen, die das Projekt durchlaufen haben, geflüchteten Frauen zur Verfügung gestellt, die in Notunterkünften in Neukölln wohnen. Die Herausforderungen, die mit dieser Erweiterung bzw. Fokus­ verlagerung einhergehen, können die Projektmitarbeiterinnen sowohl in Frankfurt als auch in Berlin weiterhin in der fortgesetzten wöchentlichen Supervision/Praxisreflexion besprechen. Erste Erfahrungen mit den geflüchteten Familien werden im folgenden Abschnitt schlaglichtartig skizziert. Zuvor ist an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass es aufgrund der erfolgreichen Durchführung von ERSTE SCHRITTE in Frankfurt und in Berlin zudem möglich war, das Projekt seit Herbst 2015 auch in Stuttgart am Robert-­BoschKrankenhaus zu implementieren. Zudem sind ERSTE-SCHRITTE-­ Gruppen seit Januar 2016 ein fester Bestandteil und Baustein im Projekt STEP-BY-STEP, einem Pilotprojekt in der Erstaufnahmeeinrichtung Michaelisdorf für Flüchtlinge in Darmstadt (siehe Leuzinger-Bohleber et al., 2016; sowie Leuzinger-Bohleber in diesem Buch).

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Die Arbeit mit geflüchteten Müttern und ihren Kleinkindern in Gruppen – Erfahrungsberichte aus der Praxis Wie aufmerksam die Projektmitarbeiterinnen die einzelnen Mütter im Auge haben müssen und wieviel Zeit und Feinfühligkeit die Kontaktaufnahme und das Halten benötigt, zeigen folgende, für diesen Beitrag leicht gekürzte, Berichte von zwei Projektmitarbeiterinnen aus Frankfurt (Fallbeispiel 1: Munise Agca; Fallbeispiel 2: Lea Lochmann).

Fallbeispiel 1: Bihter Bihter 4, eine Mutter aus Afghanistan, wird von einem Frankfurter Familienzentrum zu ERSTE SCHRITTE vermittelt. Dort treffen wir uns auch das erste Mal. Ich erfahre vorab, dass Bihter erst seit kurzem in Deutschland, jedoch hochschwanger ist, vier weitere Kinder hat und, dass sie wahrscheinlich durch die Flucht traumatisiert ist. Auf dem Weg zum Familienzentrum mache ich mir viele sorgenvolle Gedanken: Ich stelle mir die Situation der flüchtenden Frauen vor und ihre Angst um ihre Zukunft und die der Familie. Bihter ist eine zierliche Frau im schwarzen Gewand. Sie wirkt völlig in sich zusammengesunken, nahezu depressiv. Ihre drei Wochen alte Tochter Zalha jedoch wirkt im Kontrast dazu sehr wach. Ich frage mich, ob ein Teil ihrer Seele vielleicht gestorben und ob das, was ich sehe, nur das ist, was davon übrig geblieben ist. Es schmerzt mich, sie so zu sehen. Ich weiß, dass jede Migrantin, jeder Geflüchtete eine andere Geschichte und einen anderen kulturellen Hintergrund hat. Ihnen gemeinsam ist jedoch, dass sie die verlassene Heimat und das Heimweh in sich tragen, Ängste, Unsicherheit und Ambivalenz zwischen dem alten und dem neuen Land. Bihters Äußerungen sind klagend. Sie sagt, dass ihre drei Jahre alte Tochter krank sei, sie sie aber nicht zum Kinderarzt bringen dürfe, da Flüchtlinge außer in einem Notfall nicht zum Arzt gehen dürften. Sie benötigt und bekommt sehr viel amtliche Unterstützung, unter anderem aus dem Familienzentrum. Sie ist seit einem Jahr in Deutschland, hat jedoch noch keine Aufenthaltserlaubnis. Über Italien flüchtete sie mit ihren vier Kindern 4 Alle persönlichen Daten wurden aktiv verschlüsselt (anonymisiert).

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nach Deutschland, wo sie zunächst in eine hessische Kleinstadt und dann nach Frankfurt in ein Wohnheim kam. Vor kurzem konnte sie mit ihren Kindern eine Wohnung beziehen. Da sie – auch später – nur »Kein Vater!!!« antwortet wenn ich oder die Gruppenteilnehmerinnen sie nach dem Vater fragen, stellt sich uns die Frage, ob sie vielleicht auf der Flucht schwanger, vielleicht gar vergewaltigt worden ist, wie wir dies von anderen geflüchteten Frauen erfahren haben. Ihre afghanische Nachbarin, die die ersten Treffen übersetzt, begleitet sie die ersten Male in die Gruppe. Damit ist die erste Hürde genommen. Das dritte Mal kommt sie zusammen mit einer Kollegin der AWO, die im gleichen Stadtteil wohnt, und schon das vierte Mal schafft Bihter es, allein mit dem Bus in die Gruppe zu kommen. Bihter scheint sich in der Gruppe wohlzufühlen, jedenfalls sehe ich sie ab und zu lachen. Dann aber sehe ich auch wieder, wie sie ihren Kopf auf den Tisch aufstützt mit einem sehr traurigen Ausdruck im Gesicht. Bihter versucht schnell, sich bei der Vorstellungsrunde auf Deutsch vorzustellen. Mit ein paar Wörtern und Gesten berichtet sie über ihre Familie. Ihre Eltern seien in Afghanistan und lebten unter schlechten Bedingungen. Mit Tränen in den Augen erzählt sie, dass sie wegen der Taliban geflohen sei. Am Anfang bringt Bihter häufig auch ihre älteren Kinder mit in die Gruppe. Ihr Baby lässt sie im Kinderwagen liegen. Es scheint, als gehöre das Baby nicht zu ihr. Der Kontakt mit den großen Kindern wirkt anders – verbundener – und Bihter wirkt selbstsicherer. Ich frage mich, warum das Baby nicht Teil davon ist. Erinnert es sie an die schwierige Zeit der Flucht und muss außen vor bleiben? Ob sie irgendwann später davon erzählen wird? Im Verlauf eines Jahres sind zwischen den Müttern der Gruppe und Bihter gute Beziehungen entstanden. Bihter fragt immer nach, wenn eine Mutter fehlt. Die anderen Mütter sind sehr daran interessiert, dass die sprachliche Verständigung klappt, und bringen ihr Deutsch bei, so gut sie es selbst können. Sie helfen ihr aber auch ganz konkret: Einmal machen sie uns Gruppenleiterinnen darauf aufmerksam, dass der Kinderwagen von Bihters Baby zu klein geworden ist. Wenn es sich hinsetzt, droht es fast hinauszufallen. Noch während wir mit Bihter darüber sprechen, organisieren die Mütter einen sportlichen Kinderwagen, sodass schon gegen Ende der Gruppenstunde ein Vater, der von seiner Frau angerufen worden war, einen passenden Wagen für die kleine Zalha vorbeibringt. Seit wir Bihter kennen, kommt sie jede Woche regelmäßig in die Gruppe. Nur ein einziges Mal, wegen eines Termins beim Jugendamt, kann sie nicht

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kommen, jedoch hat sie darauf bestanden, dass sie den Termin »nachholte«, indem sie eine andere unserer Gruppen besuchte, die zwei Stunden später stattfand.

Das zweite Fallbeispiel verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass die Projektmitarbeiterinnen nicht nur auf die aktuellen Migrations- und Lebenssituationen fokussieren, sondern, wenn möglich schon in der Schwangerschaft, auch die frühen Bindungs- und Beziehungserfahrungen der Mütter mit in ihre Überlegungen und Interventionen einbeziehen. Dies kann den Müttern ermöglichen, frühe Verlusterfahrungen, die in der Schwangerschaft und der frühen Beziehung zum Kind reaktiviert werden, zu bearbeiten, sodass sich damit assoziierte negative Gefühle und »emobodied« memories (Leuzinger-Bohleber, 2015) weniger auf die Kinder auswirken.

Fallbeispiel 2: Rahel Rahel wurde uns von einer Mitarbeiterin einer psychosozialen Beratungsstelle vermittelt. Man sagt uns, dass sie zurzeit eine Psychotherapie mache, in der traumatische Erfahrungen behandelt würden. Als sie das erste Mal mit ihrer Tochter in die Gruppe kommt, wirkt sie sehr ruhig und vorsichtig, aber auch sehr freundlich. Wir sprechen zunächst Englisch miteinander, da ihr dies leichter zu fallen scheint. Wir freuen uns, dass sie die Räumlichkeiten so gut allein gefunden hat. Sie sagt, dass sie ganz in der Nähe wohnt und dass der Weg für sie leicht zu finden war. Wochen später erfahren wir jedoch, dass sie keineswegs im Viertel wohnt, sondern einen längeren Weg mit der Bahn fahren muss. Wir sind sehr überrascht über das Missverständnis. Hat unser eigenes Bild einer »verlorenen Flüchtlingsfrau« uns so sehr beeinflusst, dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass sie problemlos den langen Weg zu uns findet? Rahel ist zu diesem Zeitpunkt Anfang dreißig und schwanger. Ihre Tochter Ayanas ist etwas über ein Jahr alt. Rahel stammt aus einem Dorf in Äthiopien. Seit drei Jahren lebt sie in Deutschland. Sie lebt gemeinsam mit Ayanas Vater, der ebenfalls Äthiopier ist, seit zwei Jahren in einer Beziehung und in einer gemeinsamen Wohnung. Während unserer Vorstellungsrunde beschäftige ich mich viel mit Ayana. Ich spreche mit ihr, lächle und reiche ihr Spielzeug. Ayana geht diese Interaktion ein, lächelt zurück und reicht

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Spielzeug an uns alle weiter. Sie ist ein auffällig hübsches Kind mit einem bezaubernden Lächeln. Rahel wirkt erstaunt über Ayanas positive Reaktion auf uns. Sie sagt zu mir: »Kinder mögen dich!« und erklärt, dass Ayana sonst große Angst vor Fremden habe. Wir sind langsam und vorsichtig, um Ayana nicht zu verschrecken. Ebenso kann man die Situation mit der Mutter beschreiben. Das Kennenlernen geht langsam und vorsichtig vonstatten. Rahel wirkt zunächst ruhig und verschlossen, scheint sich jedoch wohlzufühlen. Im Verlauf der Gruppensitzung erzählt sie uns von ihrer erneuten Schwangerschaft, die man der sehr dünnen Frau noch nicht ansehen kann. Ihr trauriger Blick und ihre herabhängenden Schultern lassen uns wissen, dass die Schwangerschaft nicht geplant war. Sie erzählt, dass sie vor der nächsten Schwangerschaft unbedingt habe Deutsch lernen wollen und dass sich dies nun leider verzögert. Wir haben den Eindruck, dass sie viele Ansprüche an sich stellt und den Wunsch hat, endlich neu anzufangen. Am Ende der Gruppe nehme ich Ayana auf den Arm, während die Mutter ihr die Schuhe bindet. Rahel reagiert sehr überrascht und sagt staunend: »This is amazing!« – das ist ja unglaublich. Ayana habe es zuvor noch nie zugelassen, dass jemand außer den Eltern sie auf den Arm nehme. Wir freuen uns sehr darüber, dass Ayana sich in unserem Gruppenrahmen so wohlgefühlt hat, und hoffen, dass dies daran liegt, dass auch Rahel sich sicher fühlt. Wir verabschieden uns herzlich voneinander und sie sagt, es habe ihr sehr gut gefallen. In den nächsten Wochen freuen wir uns über die regelmäßige Teilnahme von Rahel und Ayana. Es scheint ihnen gut zu tun die Gruppe zu besuchen, und Rahel erzählt uns nach und nach mehr Details ihrer Familiengeschichte. Als eine neue Frau aus Eritrea die Gruppe besucht, übernimmt Rahel hilfsbereit die Rolle der Übersetzerin und unterstützt uns somit sehr. Neben der neuen jungen schwangeren Frau, die mit ihrem Partner verspätet zur Gruppe kommt, da sie den Weg nicht gefunden hatten, wirkt Rahel sehr selbstständig und selbstbewusst. Doch als wir auf das Thema »Spiele in der Kindheit« zu sprechen kommen, sehen wir eine andere Seite Rahels. In sich versunken erzählt sie, dass ihre Eltern nie mit ihr gespielt hätten, da ihre Mutter starb, als sie zwei Jahre alt war, und ihr Vater danach eine andere Frau heiratete. Wir stellen uns vor, dass diese Erinnerungen vor allem jetzt, da sie wieder schwanger ist, nicht leicht für sie sind: Zur Geburt ihres zweiten Kindes wird Ayana ungefähr in dem Alter sein, in dem Rahel war, als ihre Mutter starb. Sie selbst erzählt in den folgenden Wochen in Bezug auf ihre Schwangerschaft, dass sie sich für Ayana freue, dass sie eine Schwester oder

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einen Bruder bekomme. Doch sie selbst wirkt noch immer sehr belastet und auffällig dünn. Wir sprechen darüber, dass gesunde Ernährung in der Schwangerschaft sehr wichtig ist, und sie erklärt, dass sie keinerlei Appetit habe. Als sie dann wiederholt, dass die Schwangerschaft nicht gewollt war, beginnt sie zu weinen. Wir trösten sie und sagen ihr, dass es wohl Ängste gibt, die so groß sind, dass man sie nicht einfach vergessen könne. Wir alle sind sehr bedrückt und spüren ihr Gefühl der Ausweglosigkeit. In der folgenden Woche verhält sich zwar Ayana wie immer, sie wirkt auf uns sicher gebunden, exploriert viel und kehrt doch immer wieder zu ihrer Mutter zurück, und auch Rahel hat Ayana stets im Blick und reagiert auf ihre Bedürfnisse, jedoch gehen wenige Zärtlichkeiten von ihr aus. Wir sprechen über die Entwicklungsfortschritte von Ayana, jedoch bleibt Rahel dabei unheimlich leise. Sie wirkt traurig und verloren. Ihre eigene Situation scheint sie so sehr zu belasten, dass sie sich nicht auf ihre Tochter konzentrieren kann. Mittlerweile besucht Rahel seit zwei Monaten unsere Gruppe, das Gefühl während unserer Begrüßung ist sehr vertraut und herzlich. Ihr Bauch ist deutlich gewachsen, während sie noch immer sehr dünn ist. Wir sprechen mit den Müttern über Träume und Ziele für die Zukunft. Rahel spricht mittlerweile mehr Deutsch und möchte, dass wir kaum noch auf Englisch übersetzen. Das scheint ihr sehr gut zu tun! Erneut beobachten wir jedoch, dass die sehr warmherzig wirkende Frau ihrer Tochter gegenüber kaum Innigkeit zeigen kann. Ist sie depressiv? Im Kontrast zu ihrer Mutter zeigt Ayana ein strahlendes Lächeln und wir müssen an die Kinder traumatisierter Mütter denken, die versuchen, den Müttern das Leben zu »erleichtern«. Da zwei weitere schwangere Frauen in der Gruppe sind, sprechen wir viel über Geburtserfahrungen und Ängste. Rahel hat die Möglichkeit, die positiv verlaufene Geburt von Ayana zu erzählen, und wir haben die Hoffnung, dass es ihr helfen kann, positive Gefühle mit der Geburt ihres nächsten Kindes zu verknüpfen. Einige Zeit später überrascht uns Rahel in der Gruppe mit einem Ratespiel. Sie wünscht sich schelmisch grinsend, dass wir das Geschlecht ihres Babys raten, da sie es nun erfahren habe. Ich habe das Gefühl, dass Rahel sich mehr über einen Sohn freuen würde, da die meisten Frauen in unseren Gruppen großen Wert darauf legen, einen Jungen und ein Mädchen zu haben. Da sie so glücklich wirkt, rate ich also, dass es ein Junge wird. Sie lacht und sagt stolz, dass sie ein weiteres Mädchen bekommen werde. Wir freuen uns sehr mit ihr und sind erleichtert, dass sie mittlerweile so froh und leicht über das Kind, das sie erwartet, sprechen kann.

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Auswirkungen von Fluchterfahrungen auf die frühe Mutter-Kind-Interaktion Die Untersuchung transgenerationeller Folgen von unverarbeiteten, traumatischen und überfordernden Erfahrungen der Elterngeneration im Kontext von Migration ist äußerst komplex (s. hierzu Leuzinger-Bohleber u. Fritzemeyer, 2016). Um die empathischen und identifikatorischen Prozesse, durch die es zur Weitergabe dieser Erfahrungen an die nächste Generation kommt, zu verstehen, müssen die genauen Umstände und Hintergründe der Migration sowie weitere Faktoren im Einwanderungsland betrachtet werden (Akhtar, 2007). So können zum Beispiel Menschen, die aufgrund von Krieg und Verfolgung zwangsmigrieren und nur dadurch ihr Leben in Sicherheit bringen können, oftmals sehr lange nicht in ihr Heimatland zurückkehren. Im Gegensatz zu Migrantinnen und Migranten aus dem Familienmigrationskontext, die zum Beispiel relativ kurz nach der Geburt eines Kindes häufig in ihr Heimatland reisen und Verwandte besuchen, können sich Familien, die vor Krieg und Terror geflohen sind, nicht entsprechend durch solche Reisen wieder emotional »auftanken« (Akhtar, 2007 mit Bezug auf Mahler, Pine u. Bergmann, 1978). Die Flucht bedeutet über kurz oder lang nicht nur die Fragmentierung der Kernfamilie, sondern auch den Verlust der »außerfamiliären Empfindungswelt« (Parens, 2001, S. 223; Übers. K. F.), das heißt, die Nachbarschaft, der Arbeitsplatz, Freunde etc. stehen ebenfalls nicht mehr zur Verfügung. Nicht nur der Fluchtweg ist häufig lebensbedrohlich und geht mit tiefgreifenden Erschütterungen einher. Furcht, Hypervigilanz, Unsicherheiten, körperliche Beschwerden und mangelndes Sicherheitsgefühl bestehen häufig auch über das Ankommen hinaus. Sind Geflüchtete außerdem direkt Opfer oder Zeuginnen und Zeugen von menschlichen Gräueltaten geworden, werden sie oft für den Rest ihres Lebens von quälenden Erinnerungen begleitet und können unter Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder unter Depressionen leiden (Ardjomandi u. Streeck, 2007). Therapeutische Angebote kommen jedoch meist nur einem Bruchteil der durch Gewalt traumatisierten Geflüchteten zugute. Ihre Behandlung erfordert besondere Herangehensweisen (Varvin, 2015 und in diesem Buch).

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Bei einer der wenigen quantitativen Untersuchungen zur frühen Mutter-Kind-Interaktion von traumatisierten Migrantinnen wurden die bisherigen Befunde zum Einfluss von Symptomen der mütterlichen PTBS auf die Mutter-Kind-Interaktion bestätigt.5 Van Ee, Kleber und Mooren (2012) untersuchten in den Niederlanden weibliche Flüchtlinge bzw. Asylsuchende mit ihren zwischen 16 und 42 Monaten alten Kleinkindern, die selbst keine Traumatisierungen im engeren Sinne erlebt hatten. Die Ergebnisse ihrer Studie zeigen, dass diese Mütter weniger feinfühlig waren und die Kleinkinder ihre Affekte und Erregung schlechter regulieren konnten. Zusammengefasst sind Studien zu Auswirkungen von Traumatisierungen von Migrantinnen und Migranten auf Kleinkinder jedoch noch »spärlich oder nichtexistent« (Van Ee et al., 2012, S. 460, Übers. K. F.). Es ist zu vermuten, dass, wie Daniel Schechter und Sandra Serpa (2013) es für Nicht-Migrantinnen mit PTBS-Symptomen beschreiben, auch ERSTE-SCHRITTE-Teilnehmerinnen häufig die Trennungsangst und das Gefühl der Hilflosigkeit des (Klein-)Kindes, welches sich unter anderem im Schreien äußert, »als Wut, Nötigung oder anderweitige Bedrohung missdeuten« (Schechter u. Serpa, 2013, S. 233). Sie versuchen möglicherweise dem negativen Stress (Disstress) ihres Kindes aus dem Weg zu gehen, »um die eigene emotionale Regulation aufrechtzuerhalten« (S. 233), da dieser ein Auslöser für bereits bestehenden posttraumatischen Stress sein kann. Vor diesem Hintergrund sind vorläufige Analysen der Migrationshintergründe der teilnehmenden Mütter aus dem Projekt ERSTE SCHRITTE in Frankfurt, die noch vor Beginn der »Flüchtlingskrise« in Frankfurt erhoben wurden, besorgniserregend. Knapp ein Fünftel der teilnehmenden Kleinkinder sind Kinder von Müttern, die im Kontext von Krieg und/oder Verfolgung nach Deutschland migrierten (s. Fritzemeyer, im Druck). Dies heißt nicht, dass sie alle am eigenen Leib menschliche Gräueltaten erlebt haben, jedoch besteht ein erhöhtes Risiko hierfür.

5 Je mehr Symptome der PTBS (Hyperarousal, Vermeidung, Wiedererleben des Traumas etc.), desto geringer die mütterliche Feinfühligkeit und desto geringer die psychosozialen Kompetenzen von Kleinkindern (vgl. auch Schechter u. Serpa, 2013).

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Im Rahmen der Begleitforschung von ERSTE SCHRITTE werden unter anderem die Emotional Availability Scales (EAS; Biringen, 2008, s. hierzu Lebiger-Vogel, 2016) eingesetzt. Zusammengefasst ermöglichen die EAS eine Bestimmung der Emotionalen Verfügbarkeit (EV) in der Interaktion von Bezugsperson und Kind. Vier Hauptskalen fokussieren auf das Verhalten der Bezugsperson: (fehlende) Feinfühligkeit, (fehlende) Strukturierung, Unaufdringlichkeit/ Übergriffigkeit, (fehlende) Feindseligkeit. Zwei weitere Hauptskalen fokussieren auf das Verhalten des Kindes: (zu geringe oder übertriebene) Ansprechbarkeit des Kindes auf den Erwachsenen und Einbezug des Erwachsenen durch das Kind. Die Videoaufnahmen, die auch für die Praxisreflexion der Projektmitarbeiterinnen herangezogen werden, um ein vertieftes Verständnis einer Mutter-Kind-Dynamik zu entwickeln, und die Einschätzung der EV ermöglichen es, auch »nur« problematisches und nicht im engeren Sinn »traumatisierendes« Verhalten in verschiedenen Bereichen abzubilden.6 So zeigt zum Beispiel das Video einer Anfang 40-jährigen Irakerin mit ihrer knapp zwei Monate alten Tochter, dass es zu Beginn ihres Besuches einer ERSTE-SCHRITTE-Gruppe schwere Kommunikationsschwierigkeiten zwischen ihr und ihrer Tochter gibt. Die Eltern der Mutter sind 2004, in der instabilen politischen Situation nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003, von Unbekannten aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit als Christen ermordet worden. Die Mutter und ihr Mann flohen daraufhin – wie viele andere Christen zu dieser Zeit – Hals über Kopf und ohne sich verabschieden zu können, zunächst nach Schweden und zwei Jahre später nach Deutschland. Zu Beginn ihres Kontakts mit den Projektmitarbeiterinnen entschuldigt sie sich telefonisch. Sie könne nicht kommen, da ihr Kind zu unruhig sei und zu viel schreie. Als ihr diese ersten Ängste genommen werden können und sie beginnt, die Gruppe zu besuchen, wünscht sie sich, dass ein Video gemacht wird, wie sie es von anderen Teilnehmerinnen der Gruppe beobachtet hat. Das Video ermöglichte die Einschätzung der EAS. Es bildete sich ab, dass

6 Die Einschätzung der Emotionalen Verfügbarkeit mithilfe der EAS findet durch einen unabhängigen und blinden Beurteiler statt, der das Mutter-Kind-Paar nicht kennt und zuvor eine Interraterreliabilitätsprüfung absolviert hat.

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die Mutter die Interaktion zwar relativ gut strukturiert 7, das heißt, dass sie die Situation mäßig und eher proaktiv gestaltet. Auch war sie wenig feindselig gegenüber ihrer Tochter. Jedoch zeigten sich problematische Werte in den Bereichen Feinfühligkeit und Übergriffigkeit. Auch wenn sie Einiges in der Interaktion »gut genug« machte und auch Wärme zeigte, tat sie dies, »ohne [genügend] Wechsel- und Gegenseitigkeit innerhalb der Interaktion zuzulassen« (Biringen 2008, deutsche Übersetzung, 2014, S. 111), wie die Entwicklerin der Skalen den Bereich, dem die Interaktion mittels der EAS zugeordnet wurde, beschreibt. Des Weiteren zeigte sich eine komplizierte Ansprechbarkeit des Kindes auf den Erwachsenen. Die Tochter wandte sich deutlich von der Mutter ab und schien sich erst hierdurch zu beruhigen. Ihre Ansprechbarkeit auf die Mutter ist jedoch noch in einem Bereich, der annehmen lässt, dass sich die Mutter-Kind-Beziehung bei einer Intervention relativ leicht zum Positiven entwickeln kann. Weder die Videoaufnahme allein noch die Einschätzung der Mutter-Kind-Interaktion mit der EAS erlauben natürlich, genau zu bestimmen, ob es eben jene mütterlichen Erfahrungen von Terror sind, die die problematischen Elemente dieser Interaktion primär bedingen. Auch wird im ERSTE-SCHRITTE-Team immer wieder diskutiert, wie die Videoaufnahme an sich vielleicht schon die Interaktion beeinflusst. In diesem Fall stellt sich im Besonderen die Frage, ob nicht die Mutter, indem sie aktiv bittet, gefilmt zu werden, unbewusst den Wunsch nach der Kompensation einer vielleicht eingeschränkten Triangulierung äußert. Zusammengefasst ermöglicht das Betrachten der Videoaufnahmen im Rahmen der Supervision den Praxismitarbeiterinnen meist jedoch eine intensivere Diskussion und hierdurch eine Annäherung an ein Verstehen der Interaktionsdynamik bzw. des Verhaltens von Mutter und Kind. In dem beschriebenen Fall stellte sich zum Beispiel die Frage, warum die Mutter die Tochter immer wieder aus deren Beschäftigung mit sich selbst und ihrer Umwelt riss, wie es sich auf der Skala Übergriffigkeit der EAS abbildete. Erlebt die Mutter eine eigenständige Beschäfti7 Die kursiv geschriebenen Begriffe sind Subskalen der EAS bzw. Begriffe die die Skalen beschreiben. Für eine detaillierte Beschreibung des Einsatzes der EAS s. Lebiger-Vogel (2016) und bezogen auf das Fallbeispiel Fritzemeyer (2016).

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gung der Tochter als Abwendung von sich, die bedrohlich ist, da sie mit zurückliegenden Verlusten der Mutter assoziiert ist? Ist die Mutter, obwohl ihre Flucht schon einige Jahre zurück liegt, nach wie vor sehr verunsichert? Dass das Schreien der Tochter scheinbar nur dann beruhigt werden kann, wenn Mutter und Tochter sich voneinander abwenden – und eben nicht eine Beruhigung durch die Mutter stattfindet –, legt die Vermutung nahe, dass im Bion’schen Sinne eine »psychische Verdauungsstörung« vorliegt. Die Mutter scheint nur eingeschränkt in der Lage zu sein, die rohen Eindrücke (Beta-Elemente) und projektiven Identifizierungen des Kindes aufzunehmen und in einer reiferen, verdauten Form (Alpha-Elemente) dem Kind zurückzugeben, wodurch das Kind Beruhigung erfahren würde. Möglicherweise ist die Fähigkeit der Mutter zur Reverie, wie Bion (1962) das träumerische Aufnehmen der Unlustbekundungen des Säuglings nennt, durch die traumatischen Erfahrungen, Verluste und bestehenden Unsicherheiten im Einwanderungsland (u. a. Aufenthaltstitel und die ungeklärte Frage nach einer möglichen Rückkehr ins Herkunftsland) gestört. Hier ist es Aufgabe der Projektmitarbeiterinnen von ERSTE SCHRITTE bzw. den Folgeprojekten »Jasmin« und »Hand in Hand«, der Mutter einen sicheren Raum anzubieten, in dem sie in der Gruppe oder im Einzelkontakt mit den Mitarbeiterinnen ihre Sorgen und Nöte teilen kann. Indem sie hier Halt und Containment erfährt, kann es ihr hoffentlich zunehmend selbst gelingen, ihrem Kind den notwendigen Halt zu geben. Hierdurch würde nicht nur die Mutter-Kind-Beziehung an sich, sondern auch die gesunde Entwicklung des Kindes unterstützt werden.

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Marianne Leuzinger-Bohleber, Nora Hettich, Mariam Tahiri und Tamara Fischmann

STEP-BY-STEP Ein Pilotprojekt zur Unterstützung von Geflüchteten in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung Michaelisdorf in Darmstadt

Vorbemerkungen Die Flüchtlingskrise überraschte wohl alle hier in Europa – egal, ob aus der Politik, Therapie und Wissenschaft oder ganz anderen Bereichen. Sie überraschte alle Bürgerinnen und Bürger und so auch uns. 2015 wurden 1.091.894 Asylsuchende im EDV-System EASY (Erstverteilung der Asylbegehrenden) in Deutschland registriert (Bundeszentrale für politische Bildung, 2016). Im Herbstgutachten 2015 rechnen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute für 2016 mit 750.000 Migrantinnen und Migranten (Bayme vbm vbw, 2015). Im Juni 2016 ging die Information durch die Medien, dass mindestens 300.000 Flüchtlinge in diesem Jahr versuchen werden über das Mittelmeer nach Deutschland zu gelangen. 2015 kamen die meisten Flüchtlinge, die in Deutschland registriert wurden, aus Syrien (39 %), Afghanistan (14 %) und dem Irak (11 %). Weitere kamen aus Albanien, dem Kosovo, dem Iran, Eritrea, Pakistan, Serbien, Mazedonien, Marokko, Tunesien, Russland und der Ukraine (Bundeszentrale für politische Bildung, 2016). Im Jahr 2015 wurden 69 % der Asylanträge von Männern gestellt und 56 % von ihnen waren zwischen 18 und 35 Jahre alt. Weiterhin waren unter den Antragstellern 31 % Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2016). Fast 5.000 minderjährige Geflüchtete wurden 2015 in Deutschland als vermisst gemeldet (FAZ, 2016). Viele der Bilder in den Medien, die tagtäglich auf uns einströmen, tragen uns das Leid der Flüchtenden buchstäblich in unsere Wohnzimmer. Sie zeigen auch die transgenerative Dimension von Verzweiflung, Angst und Trauma. Die Bilder wecken vor allem

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bei den älteren Menschen hier in Deutschland so manche Erinnerungen an die 15 Millionen Flüchtlinge, die nach 1945 durch Deutschland irrten. Einige waren noch selbst betroffen. Das kollektive Gedächtnis daran mag einer der Gründe für die enorme Hilfsbereitschaft sein, die Geflüchteten willkommen zu heißen und Empathie für das enorme Leid und Elend in aktives Helfen umzusetzen. Doch bekanntlich nehmen gleichzeitig auch die fremdenfeindlichen und rechtsradikalen Gewalttaten gegen Flüchtlingsunterkünfte und Geflüchtete ständig zu. Daher befürchten viele, dass die Geflüchteten eine Spaltung in der heutigen deutschen Gesellschaft bewirken könnten. Der Wunsch, einen Beitrag zur Verhinderung der drohenden Spaltung der Gesellschaft zu leisten, motivierte eine Forschungsgruppe am Sigmund-Freud-Institut (Leitung: Marianne Leuzinger-Bohleber) und der Goethe-Universität Frankfurt (Leitung: Sabine Andresen) im Oktober 2015, sich um die Förderung eines Pilotprojekts zur Unterstützung von Geflüchteten in der Erstaufnahmeeinrichtung Michaelisdorf beim Hessischen Ministerium für Soziales und Integration zu bewerben. Der Antrag wurde bewilligt. Infolgedessen konnte die Durchführung des Pilotprojekts »STEPBY-STEP – Projekt zur Unterstützung von Geflüchteten in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung Michaelisdorf in Darmstadt« nach einer Erprobungsphase im Dezember 2015 und Januar 2016 am 1. Februar 2016 offiziell begonnen werden. Zusammenfassend versucht STEP-BY-STEP das Team im Micha­ elisdorf mit einer Vielzahl von niedrigschwelligen Angeboten dabei zu unterstützen, stabile Alltagsstrukturen zu schaffen, die den Geflüchteten sichere Orientierungen, einen ersten Halt und verlässliche Beziehungserfahrungen im Sinne von FIRST STEPS bieten, um Gewalt, Desintegration und Retraumatisierungen entgegenzuwirken. Vor allem traumatisierte Familien und besonders vulnerable Menschen mit Fluchterfahrung, für die das Michaelisdorf speziell eingerichtet ist, sollen im Raum Darmstadt eine bleibende Unterkunft finden, sodass sie mit weiteren Maßnahmen langfristig vom STEP-BY-STEP-Team unterstützt werden können. Zusammen mit dem Sozialministerium wurde eine formative Evaluation nach sechs und zwölf Monaten nach Projektbeginn geplant. Darüber hinaus hat sich die Möglichkeit ergeben, in Koope-

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ration mit dem SOEP (Sozioökonomisches Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Berlin, Prof. Schupp) die Integration der Familien der Geflüchteten längerfristig zu verfolgen, und eröffnet somit eine einmalige Chance, um wichtige Erkenntnisse über die Kurz- und Langzeitwirkung der Erstaufnahme von Geflüchteten hier in Deutschland zu gewinnen. Dazu wurde eine Feasability-Studie vom IDeA-Zentrum bewilligt.

Zum Problem der Früherkennung besonders schwer traumatisierter und vulnerabler Gruppen von Geflüchteten Am 26. Juni 2013 veröffentlichte die EU eine »Richtlinie des Europä­ ischen Parlaments und des Rats zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen« (2013/33/EU). Im Kapitel IV, Bestimmungen für schutzbedürftige Personen, steht im Artikel 21: »Allgemeiner Grundsatz Die Mitgliedstaaten berücksichtigen in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien« (Amtsblatt der Europäischen Union, 2013,L 180/106).

Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e. V.) befasste sich detailliert mit Möglichkeiten, diese Richtlinie umzusetzen, und schreibt im Abstract ihrer Broschüre »Frühfeststellung und Versorgung traumatisierter Flüchtlinge. Konzepte und Modelle zur Umsetzung der EU-Richtlinien für besonders schutzbedürftige Asylsuchende«:

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»Die EU-Aufnahmerichtlinie besagt, dass besonders schutzbedürftige Asylsuchende als solche identifiziert, ihre besonderen Bedarfe berücksichtigt und notwendige Unterstützung und Versorgung eingeleitet werden müssen. Zum Personenkreis der besonders Schutzbedürftigen gehörten u. a. Menschen, die in ihren Herkunftsländern Opfer von schwerer Gewalt, von Folter oder anderen Menschenrechtsverletzungen geworden sind, aber auch alle Geflüchteten, die an schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen leiden. Es bedarf hierfür eines sinnvollen Verfahrens von Feststellung, Bedarfsermittlung, Erstversorgung und Behandlung. In Deutschland existiert jedoch nach wie vor kein Konzept für die Identifizierung und Versorgung besonders schutzbedürftiger Geflüchteter. Es gibt mittlerweile in den europäischen Ländern sowie innerhalb der Bundesrepublik Deutschland unterschiedliche Versuche, den Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie nachzukommen und ein Verfahren zu implementieren, mit welchem Personen, die besonders schutzbedürftig sind, identifiziert, besondere Bedarfe ermittelt und notwendige Hilfen eingeleitet werden. Allen Modellen ist gemein, dass sie als Pilotprojekte initiiert wurden und ihre Finanzierung über unterschiedliche Fonds auf Projektbasis finanziert wurde. Es konnten erste Ergebnisse und Erfahrungen gesammelt werden, wie die Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie umgesetzt werden können. Die Praxis zeigte, dass alle Modelle mit verschiedenen Stärken und Schwächen behaftet sind. In der Praxis zeigte sich, dass es bei den verschiedenen Konzepten Elemente gab, die in allen Modellen von Bedeutung waren und aus denen sich verallgemeinerbare Standards ableiten lassen, wie die Bedeutung geschulten Personals, qualifizierte DolmetscherInnen und ein niedrigschwelliger Zugang. Auch verweisen die Ergebnisse auf klassische ›Stolpersteine‹, die es konzeptionell zu berücksichtigen gilt, wie das Fehlen eines geeigneten, institutionalisierten Gesprächsformates für die Früherkennung, unzureichendes Schnittstellenmanagement und die fehlende Sicherstellung der Leistungsgewährung nach Feststellung der besonderen Schutzbedürftigkeit« (BafF, 2015, S. 4).

Vor diesem politischen Hintergrund ist das Pilotprojekt STEP-BYSTEP zu sehen, von dem im Folgenden berichtet wird. Zu den Zielen von STEP-BY-STEP gehört der Versuch, ein Modell der Früherkennung besonders traumatisierter Geflüchteter in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu entwickeln und dies mit einer möglichst

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humanen und professionellen Betreuung aller Geflüchteten in diesen Einrichtungen zu verbinden.

Die Erstaufnahmeeinrichtung Michaelisdorf in Darmstadt Die Hessische Erstaufnahmeeinrichtung Michaelisdorf wurde in der Trägerschaft des Deutschen Roten Kreuzes Darmstadt-Stadt in der akuten Flüchtlingskrise im September 2015 zuerst als Zeltstadt und anschließend in den Räumen einer ehemaligen Kaserne eingerichtet. Inzwischen wurden auf dem Gelände ein großes Thermozelt und neue, kleinere Häuser aufgebaut, die die Unterbringung in den ehemaligen Kasernengebäuden ergänzen. Je nach Anzahl der ankommenden Flüchtlinge waren in den letzten Monaten zwischen 400 und 800 Personen dort untergebracht (oberste Kapazität: 1000 Plätze). Aufgrund der jahrelangen Erfahrungen mit empirischpsychoanalytischen Präventionsprojekten wurde das SigmundFreud-Institut (SFI) im Oktober 2015 vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration dazu ermuntert, einen Forschungsantrag für ein Pilotprojekt zur Unterstützung von Geflüchteten in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung Michaelisdorf in Darmstadt zu konzeptualisieren. Die politisch Verantwortlichen wollten besonders vulnerable Gruppen von Geflüchteten (allein reisende Mütter mit Kleinkindern, Familien, Schwangere, allein reisende Mädchen sowie besonders traumatisierte Geflüchtete), die Hessen zugeteilt werden, direkt in Darmstadt unterbringen1. Das Projekt STEP-BY-STEP bietet, zusammen mit den Teams vor Ort, eine erste professionelle Betreuung im Sinne von FIRST STEPS an, die anschließend durch weitere Schritte langfristig intensiviert werden

1 In verschiedenen Erstaufnahmeeinrichtungen kam es zu Gewalt und sexuellen Übergriffen, vor allem weil oft mehrere hundert junge Männer mit nur wenigen Frauen und Familien in vorläufigen Unterkünften untergebracht worden waren. Um dies zu verhindern, sollten in Hessen junge Familien, allein reisende Frauen und besonders vulnerable Geflüchtete gleich nach Darmstadt gebracht und dort professionell betreut werden.

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kann, da diese Familien möglichst in Darmstadt selbst oder der näheren Umgebung dauerhaft untergebracht werden sollen.

Theoretischer Hintergrund von STEP-BY-STEP Migration und Flucht sind immer mit Aufbruch und Hoffnung auf ein besseres, sicheres (Über-)Leben verbunden. Mit der Flucht gehen aber auch viele Verlusterfahrungen und oft traumatische Erlebnisse einher. Daher stützt sich STEP-BY-STEP zum einen auf die psychoanalytische und psychiatrische Trauma- und Migrationsforschung und zum anderen auf Erkenntnisse der Kindheitsforschung zum kindlichen Wohlbefinden unter prekären Lebensumständen. Diese theoretische Grundlegung, in der zwei systematische Zugänge interdisziplinär miteinander verschränkt sind, wird im Folgenden dargelegt.

Psychoanalytische Migrations- und Traumaforschung Die Psychoanalyse als wissenschaftliche Disziplin ist eng mit dem Thema Trauma und Migration verbunden. Viele Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker wurden von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet. Doch fokussieren Grinberg und Grinberg (2010) in ihrem Klassiker der psychoanalytischen Migrationsforschung »Psychoanalyse der Migration und des Exils« nicht nur auf Migrationserfahrungen, die durch die nationalsozialistische Verfolgung bedingt waren, sondern stellen fest, dass Migration aufgrund innerer und äußerer Beweggründe so alt wie die Menschheit selbst sei. Die Autoren und Autorinnnen illustrieren dies anhand von Mythen und Märchen und betonen einerseits die mit Migration verbundene Sehnsucht nach Neuem, nach Abenteuer und Aufbruch, andererseits Erfahrungen der Entwurzelung, von Verlusten, Trauer und der existenziellen Erfahrung des Fremdseins im Gastland. Daher unterscheiden sie zwischen verschiedenen Formen von Migration, vor allem zwischen freiwilliger und erzwungener Migration. Im Projekt STEP-BY-STEP geht es um erzwungene Migration, Flucht aus Kriegs-

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gebieten, vor Folter, Terror und Perspektivlosigkeit im Heimatland, das heißt um Emigration meist ohne Perspektive auf baldige Rückkehr in die eigene Heimat. Migration unter solchen Bedingungen erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Traumatisierung, wenngleich jede Erfahrung von Migration traumatische Erfahrungen beinhalten kann. Zusammenfassend sagen Grinberg und Grinberg (2010), »dass Migration potentiell eine traumatische Erfahrung ist, die durch eine Reihe von partiellen traumatischen Ereignissen gekennzeichnet ist und die zugleich eine Krisensituation bildet. Diese Krise kann ihrerseits die Migration auslösen oder auch Folge der Migration sein« (S. 12). Auch in anderen psychoanalytischen Arbeiten wird die Migrationserfahrung als traumatisierende Situation beschrieben, die mit einem schockartigen Verlust von kulturellen Sinnsystemen und des eigenen Halts in der Ursprungskultur einhergeht (vgl. dazu auch Rickmeyer, 2016; Kohte-Meyer, 2000, 2006; Kogan, 2005; Volkan, 2002). Der Migrationsprozess bedeutet demnach eine große seelische Erschütterung und bringt das Individuum in einen Zustand der psychischen Labilisierung und Desorganisation. Der Verlust »der Anderen«, die die psychosoziale Identität sichern, führt zu einer zwangsläufigen Erschütterung des narzisstischen Gleichgewichts. Dadurch kann es zu spezifischen innerseelischen Konflikten und einer manifesten Traumatisierung kommen. So erleben Migranten und Migrantinnen zum Beispiel ihre Migration häufig als Illoyalität gegenüber ihrer zurückgelassenen Familie, als Akt der Aggression und des Verrats, als Verstoß gegen verinnerlichte Anforderungen des Gewissens und verinnerlichte Selbstideale. Im neuen Land sind Migranten und Migrantinnen zunächst Fremde. Es besteht die ständige Angst, die kulturelle und individuelle Identität zu verlieren (Khoshrouy-Sefat, 2007). Die Ethnopsychoanalytikerin Maya Nadig (1986) beschreibt das Erlebnis der Fremde in der neuen Kultur sogar als ein Gefühl des »sozialen Sterbens«. Schließlich ist eine Migration immer mit Trennungs-, Verlust- und Verlassenheitsängsten verbunden, egal ob sie erzwungen wurde oder freiwillig erfolgte (Schaich, 2012; Volkan, 2002). Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass eine Migrationserfahrung nicht per se zu einer manifesten Traumatisierung werden muss. Vielmehr kommt es darauf an, wie die mit der Migration einhergehenden Erfahrungen verarbeitet werden und inwieweit eine angemessene Trauer über die erlittenen Verluste möglich ist.

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Dabei spielen die Persönlichkeitsstruktur vor der Migration, die Reaktionen derjenigen, die verlassen wurden, sowie die Reaktionen der neuen Gesellschaft eine entscheidende Rolle (Schaich, 2012). Zudem stellt die Migration kein einzelnes traumatisches Erlebnis dar. Vielmehr kommen mehrere Faktoren zusammen, die »erst in ihrer Verbindung Angst und seelischen Schmerz verursachen und deren Auswirkungen tiefgreifend und langanhaltend sind« (Kogan, 2005, S. 291). Kogan beschreibt in diesem Zusammenhang fünf traumatisch wirksame Faktoren: »1. Trennung als Verlust und Abbruch, 2. Einsamkeit und mangelndes Zugehörigkeitsgefühl, 3. Migration als Bedrohung der Identität, 4. Regression oder Infantilisierung infolge der Migration und 5. aufgeschobenes Trauern als Auswirkung von Migration« (Kogan, 2005, S. 291).

Im Projekt ERSTE SCHRITTE, in dem das SFI inzwischen mit über tausend Müttern, die erst seit kurzer Zeit in Deutschland angekommen sind, Kontakt aufgenommen und rund 300 der Familien über drei Jahre in Gruppen in Frankfurt und Berlin betreut hat, erweisen sich professionelle Betreuungen von Migrantinnen in Gruppen als sehr hilfreich, damit die Migration weniger häufig zu einer Retraumatisierung führt (Leuzinger-Bohleber u. Lebiger-Vogel, 2016). Vorangegangene traumatisierende Erfahrungen können die Trauerarbeit, die notwendig ist, um die Migrationserfahrung zu bewältigen, erschweren bzw. aufschieben. Volkan (2002) schreibt dazu: »Ohne Hilfe werden diese Menschen oft zu immerwährenden Trauernden« (S. 26). Bei Menschen, die vor der Einwanderung bereits Traumatisierungen erlitten haben, besteht die Gefahr, dass sie unter verfolgenden inneren Phantasien leiden, was ihnen die Loslösung wiederum erschwert. Daher gehen Migrationserfahrungen immer mit gravierenden Belastungen, aber nicht immer mit schweren Traumatisierungen einher, sodass sich als eine professionelle Aufgabe in den Erstaufnahmeeinrichtungen stellt, die besonders Traumatisierten zu erkennen und ihnen die notwendige Soforthilfe zur Bewältigung der akuten Traumatisierungen zukommen zu lassen.

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Wie können solche schweren Traumatisierungen erkannt werden? In der psychoanalytischen Fachliteratur wird bis heute um ein adäquates Verständnis von Trauma gerungen. Cooper (1986, S. 44) bezog sich zum Beispiel auf Freud, als er definierte: »Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt, dass diese droht; es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation.«

In anderen Worten wird dabei der natürliche Reizschutz durch eine plötzliche, nicht vorausgesehene extreme Erfahrung – meist verbunden mit Lebensbedrohung und Todesangst – durchbrochen. Das Ich ist einem Gefühl extremer Ohnmacht ausgesetzt sowie der Unfähigkeit, die Situation zu kontrollieren oder zu bewältigen. Es wird mit Panik und extremen physiologischen Reaktionen überflutet. Diese Überflutung des Ichs führt zu einem psychischen und physiologischen Schockzustand. Die traumatische Erfahrung zerstört den empathischen Schutzschild, den die verinnerlichten Beziehungspersonen (Primärobjekte) bilden, und untergräbt das Vertrauen auf die kontinuierliche Präsenz guter Beziehungen und auf die Erwartbarkeit menschlicher Empathie. Im Trauma verstummt die Erinnerung an innere gute Bezugspersonen (gute innere Objekte) als empathische Vermittler zwischen Selbst und Umwelt (Cohen, 1985; Bohleber, 2010, Leuzinger-Bohleber, 2015). Das psychoanalytische Wissen zu kurz- und langfristigen Auswirkungen von schweren Traumatisierungen stammt vorwiegend aus der klinischen Arbeit mit Überlebenden der Shoah und ihren Kindern und Kindeskindern2. Was die Opfer der Shoah erlebten, übersteigt unser aller Vorstellungskraft. Das Unfassbare des Trau2 Vgl. unter anderem Abrams, 1999; Cohen, Brom u. Dasberg 2001; Chaitin, 2002; Dahmer, 1990; Dasberg, Bartura u. Amit, 2001; Eitinger, 1990; Faye, 2001; Grünberg, 1998, 2000; Kellermann, 1999, 2001; Kogan, 2002; Niederland, 1980; Segal, 1988; Sugar, 1999; Weiss u. Weiss, 2000.

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mas wird in psychoanalytisch-wissenschaftlichen Begriffen wie Extremtraumatisierung (vgl. z. B. Krystal, 1968), sequenzielle (Keilson, 1979) oder kumulative Traumatisierung (Khan, 1977) nur in einer groben Annäherung beschrieben. Die Überlebenden solcher Extremtraumatisierungen zeigten, dass solche Traumatisierungen psychisch nicht zu verarbeiten sind, sondern zu lebenslangen Schädigungen führen. Dazu können Albträume, Flashbacks, Einsamkeit und Depression, Dissoziations- und Derealisierungserlebnisse, Störungen im Zeit- und Identitätsgefühl, diffuse Panik, Angst- und Aggressionsattacken, emotionale Abkapselungen, ein Zusammenbrechen des Urvertrauens in andere und basale Sinnstrukturen des Lebens sowie psychosomatische Störungen wie Schlafstörungen oder nicht lokalisierbare Schmerzzustände gehören. Diese tiefen psychischen Wunden können auch in langen Psychotherapien höchstens gelindert, nie aber wirklich geheilt werden. Zudem werden die erlittenen Traumatisierungen oft an die zweite und dritte Generation weitergegeben.3 Es dauerte aus begreiflichen Gründen fast 60  Jahre, bis sich Psychoanalytikerinnen und -analytiker hier in Deutschland auch den Auswirkungen von schweren Traumatisierungen bei Tätern und Mitläufern in der deutschen Bevölkerung während der NSZeit zuwandten. Ungebrochen ist dabei die Sorge, dass durch das Studium dieses Themas die Unvorstellbarkeit und historische Unvergleichbarkeit der Shoah relativiert werden könnte. Doch zeigten in einer großen Ergebnisstudie, dass 62 % der über 400 untersuchten ehemaligen Patientinnen und Patienten, die in den 1980er Jahren 3 Faimberg (1987) hat, bezogen auf Opferfamilien des Holocaust, beschrieben, wie die Grenzen der Generationen durch die nicht zu verarbeitenden Traumatisierungen aufgeweicht werden. Sie spricht von einem »telescoping of the generations«. Cournut (1988) diskutiert ein »entlehntes Schuldgefühl«, das oft unbewusst das gesamte Lebensgefühl von Menschen nach einem nicht betrauerten, traumatischen Verlust bestimmt. Laub, Peskin und Auerhahn (1995) sprechen von einem »schwarzen Loch«: Die extreme Traumatisierung wirkt unerkannt als verschlingendes Energiezentrum, das nicht nur das psychische Erleben der ersten, sondern auch der zweiten und dritten Generation von Holocaustüberlebenden determiniert. Abraham und Maria Torok (1994) beschrieben ähnliche Phänomene mit dem Begriff der »Inclusion«, der Einschließung oder der Krypta. Der traumatische Verlust wird in eine innere Gruft verbannt, statt betrauert, und entfaltet von dort aus konstant und unerkannt seine Wirkung.

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bei Analytikern und Analytikerinnen der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) in Langzeitbehandlungen gewesen waren, schwere Traumatisierungen als Kleinkinder erlebt hatten. Und dies meist im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg (siehe dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, 2003, 2006; aber auch Radebold, 2000; Radebold, Heuft u. Fooken, 2006). Alle diese Studien zeigen daher die Kurz- und Langzeitfolgen von sogenannten man-made disasters und den damit verbundenen schweren Traumatisierungen, wie sie viele der heutigen Geflüchteten erlebt haben. Ebenfalls gut untersucht ist, wie wichtig der erste Umgang mit Traumatisierten nach ihrer Flucht ist. Eine möglichst baldige, empathische und professionelle Hilfe kann zwar die erlittenen Traumatisierungen nicht ungeschehen machen, aber den Umgang damit wesentlich erleichtern, die Chronifizierung verhindern und die ungebrochene Weitergabe der eigenen Traumatisierungen an die Kinder abmildern oder sogar unterbrechen. Ein weiterer Befund der psychoanalytischen Traumaforschung ist für STEP-BY-STEP entscheidend: Die erlittenen Traumatisierungen führen zu einer großen Vulnerabilität der Traumatisierten nach ihrer Flucht (bzw. nach der Befreiung; vgl. dazu u. a. Bohleber, 2010, Leuzinger-Bohleber u. Target, 2002). Diese Vulnerabilität macht sie besonders sensibel für die Beziehungen, die ihnen im Gastland entgegengebracht werden. Erlebten zum Beispiel die Überlebenden des Holocaust in den Lagern für Displaced Persons erneut kalte oder sogar sadistische Beziehungen, verloren sie oft den letzten Funken Hoffnung zu überleben: Es kam zu vielen Suiziden. Daher ist eines der ersten Ziele von STEP-BY-STEP, zusammen mit den professionellen und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern im Michaelisdorf, eine sichere, empathische und hoffnungsvolle Atmosphäre für die Geflüchteten zu schaffen, die versucht, ihnen Mut und Hoffnung auf ein humaneres Leben hier in Deutschland zu vermitteln. Eine solche Atmosphäre des Willkommenseins ist für alle Geflüchteten wichtig, für schwer Traumatisierte aber oft lebensentscheidend.

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Früherkennung, Notfallbetreuung und Planung von längerfristigen Betreuungen nach dem Transfer Aber wie kann zwischen belasteten und schwer traumatisierten Geflüchteten unterschieden werden? International hat sich die Definition Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) des DSM-5 oder des ICD-10 (zwei verschiedenen psychiatrischen Klassifikationssystemen) eingebürgert. Danach ist ein Trauma »ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde« (Graubner, 2000, S. 211). Ein solches Ereignis wirkt von außen als massiver Stressor auf das Individuum ein und verändert dessen teils genetisch angelegte, teils durch vorgeburtliche und frühkindliche Bindung geprägte, teils durch Außenerfahrungen gelernte Strukturanteile. Diese Einwirkung wird vom Gehirn als Gefahr identifiziert und führt innerhalb sehr kurzer Zeit zu einer somatischen Stressreaktion, die von heftigen psychischen Reaktionen begleitet ist. Als Symptome einer PTBS nennt das DSM-5 unter anderem: –– Symptome des Wiedererlebens (Intrusionen), die auf das oder die traumatischen Ereignisse bezogen sind, –– anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem oder den traumatischen Ereignissen verbunden sind, –– negative Veränderungen von Kognitionen und der Stimmung im Zusammenhang mit dem oder den traumatischen Ereignissen, –– deutliche Veränderungen des Erregungsniveaus und der Reaktivität im Zusammenhang mit dem oder den traumatischen Eregnissen (American Psychiatric Association, 2015, S. 369 f.). Auslöser für traumatisierende Situationen sind beispielsweise Kriege, Naturkatastrophen, schwere Unfälle, aber auch bewusst durch andere Menschen verursachte Schädigungen wie Folter oder Vergewaltigung. Wichtig ist, dass nicht alle Menschen in analoger Weise auf solche Extremerfahrungen reagieren. Fischer und ­Riedesser (2006) stellen nach einer Reihe eigener Untersuchungen fest, dass »nur« etwa ein Viertel bis ein Drittel von Personen nach Ereignissen bzw. Lebensumständen von mittelschwerem bis hohem Belastungsgrad eine Psychotraumatische Belastungsstörung

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entwickeln. Daher hat sich die Resilienzforschung in den letzten Jahren vermehrt mit der Frage auseinandergesetzt, welche Faktoren bei Menschen nach stark belastenden, akuten oder chronischen Ereignissen dazu führen, dass sie keine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln und sich »erstaunlich normal« entwickeln. Hauser, Allen und Golden (2009) haben zum Beispiel aufgrund einer detaillierten Nachuntersuchung von gewalttätigen, schwer traumatisierten Kindern und Jugendlichen nach einem psychiatrischen Aufenthalt postuliert, dass die Einsicht in den eigenen Anteil der schweren Entwicklungskrise sowie minimal unterstützende Bedingungen (mindestens eine vertrauensvolle Beziehungserfahrung in der frühen Kindheit) die Resilienz dieser Kinder positiv beeinflusste: Etwa 17 % entwickelten sich zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr zum Erstaunen der Forscher/-innen überraschend gut. Sie zeigten Jahre nach den erlittenen Traumatisierung erstaunlich resiliente Fähigkeiten. Vor dem Hintergrund solcher Studien versucht STEP-BY-STEP durch eine humane und professionelle Betreuung der Geflüchteten deren Resilienz zu stärken. Verschiedene Fragebögen wurden entwickelt, um PTBS bzw. Symptome einer Traumafolgestörung von Geflüchteten wissenschaftlich zu erfassen (vgl. dazu BAfF, 2015). Doch wie die bereits erwähnten Evaluationen durch die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer zeigen, bestehen folgende Probleme bei der Selbsteinschätzung solcher Fragebögen durch Geflüchtete: –– Sprach- und Alphabetisierungsprobleme der Geflüchteten; –– traumatisierte Geflüchtete können oft ihre Traumatisierungen nicht direkt wahrnehmen – Angst, Panik oder psychosomatische Symptome werden in den ersten Wochen nach der Flucht oft massiv verleugnet. Im subjektiven Erleben vieler Flüchtlinge zählt verständlicherweise vorerst einmal, dass sie den Gräueltaten entflohen und in Sicherheit sind. Daher kreuzen sie oft – in der sogenannten Latenzzeit nach der Traumatisierung – in Fragebögen an, dass sie unter keinen Symptomen leiden; –– Die Fragebögen sind leicht zu durchschauen, sodass manche Geflüchtete aus verständlichen Gründen ankreuzen, dass sie schwer traumatisiert sind, weil sie sich dadurch bessere Chancen einräumen in Deutschland bleiben zu können.

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Aufgrund dieser Überlegungen wird in STEP-BY-STEP eine Sprechstunde durch erfahrene Traumaexperten und -expertinnen (M. Leuzinger-Bohleber u. a.) angeboten, die meist aufgrund mehrerer Gespräche den Grad der Traumatisierungen auf dem Refugee Health Screener (RHS-15) einschätzen. Unabhängig von ihnen schätzt ebenfalls ein Mitglied des Sozialteams aufgrund eigener Beobachtungen, mehrerer Gespräche mit den Geflüchteten und dem Austausch mit den Mitgliedern des medizinischen und sozialen Teams den RHS-15 ein. Dies erlaubt einen (reliablen) Vergleich der Einschätzung des Grads der Traumatisierungen auf diesem international gut validierten Fragebogen. Die Experteneinschätzungen dieses Fragebogens ermöglichen die systematische Dokumentation aller in der psychosomatischen Sprechstunde stattgefundenen Abklärungen. Sie dienen zudem als Basis der Beratungen in der wöchentlichen Fallsupervision, in der – gemeinsam mit Vertretern des Sozialteams, des medizinischen Teams und der Verwaltung – erste Hilfeleistungen (»FIRST STEPS«) im Michaelisdorf selbst und weitere Maßnahmen (»SECOND STEPS«) überlegt werden. Diese Vorgehensweisen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die besonders schwer Traumatisierten im Michaelisdorf erkannt werden und die Akuthilfe bekommen, die sie dringend benötigen (vgl. im Folgenden). Die wöchentlichen Fallbesprechungen sowie weitere Fortbildungen zur psychoanalytischen und psychiatrischen Traumaforschung haben dazu geführt, dass Vertreterinnen und Vertreter aller Teams vor Ort ihre Beobachtungen geschärft haben, um besonders schwer traumatisierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Alltag des Michaelisdorfes zu erkennen. Sie sprechen daraufhin mit einem Mitglied des Sozialteams, das ausschließlich für STEP-BY-STEP verantwortlich ist (Mariam Tahiri). Die Verantwortliche sammelt diese Beobachtungen, systematisiert sie und bereitet die wöchentliche Sprechstunde vor (z. B. Vorstellung der Geflüchteten nach Dringlichkeit). Sie verfügt über fundierte Kenntnisse bezüglich der einzelnen Geflüchteten und hat mit allen mehrere Einzelgespräche geführt. Sie ist auch in der Sprechstunde in der Regel persönlich anwesend und füllt, wie eben erwähnt, unabhängig von den Trauma­ experten, den erwähnten Fragebogen aus.

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Daher entwickelte und erprobte STEP-BY-STEP das folgende »Modell zur Früherkennung von traumatisierten Geflüchteten und ihrer medizinischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Betreuung«:

Erstaufnahmeeinrichtung »Michaelisdorf« Früherkennung durch: –– Sozialdienst –– Medizinischen Dienst –– Verwaltung/ Organisation –– STEP-BY-STEP Mitarbeiter –– ProFamilia

FIRST STEPS im »Michaelisdorf«

SECOND STEPS nach der Zuweisung

Gruppenangebot STEP-BY-STEP

Einleitung von spezifischen Transfers (z. B. Familienzusammenführung)

Psychosoziale Betreuung Weiterbetreuung

Vertiefte Diagnostik in der psychosomatischen Sprechstunde: –– Experte in der Einrichtung ȘȘ Ausfüllen des RHS-15 durch den therapeutischen Experten sowie durch beteiligte Sozialarbeiter

Wöchentliche Fallbesprechungen

Traumabehandlung Patenschaften

Eventuell ­medizinische Abklärung in der Einrichtung oder in Kliniken

Medizinisch-psychiatrische Behandlung

Zusammenarbeit mit Pro Familia

Abbildung 1: Modell zur Früherkennung von traumatisierten Geflüchteten und ihrer medizinischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Betreuung

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Das Projekt STEP-BY-STEP Im Rahmen des Modellprojektes STEP-BY-STEP werden die Menschen von Anfang an bei ihren traumatischen Erfahrungen abgeholt. Es wird versucht, ihnen durch verlässliche zwischenmenschliche Erfahrungen und eine stabile Umgebung eine erste Sicherheit zurückzugegeben. Das Sigmund-Freud-Institut und die Goethe-Universität Frankfurt begannen die Durchführung des Pilotprojekts in der Erstaufnahmeeinrichtung in Darmstadt im Februar 2016, um traumatisierten Geflüchteten im Sinne von FIRST STEPS frühe Hilfe zu garantieren und sorgfältig SECOND STEPS nach ihrer Überweisung in längerfristige Unterkünfte einzuleiten. Die Angebote von STEPBY-STEP dienen dazu – in enger Kooperation mit den Fachleuten vor Ort –, zu dem Versuch beizutragen, den Geflüchteten sichere Orientierungen, einen ersten Halt und verlässliche Beziehungserfahrungen zu ermöglichen, um Desintegration und Retraumatisierungen entgegenzuwirken. Die Einrichtung in Darmstadt, das sogenannte Michaelisdorf, versucht den Geflüchteten Sicherheit und Schutz zu bieten. Dem Gefühl der Entwurzelung, der Einsamkeit, von Ohnmacht und Unsicherheit wird aktiv entgegengewirkt, da sich Erfahrungen, die (unbewusst) an traumatische Erfahrungen erinnern, besonders dazu eignen, die Traumatisierungen zu reaktivieren: Albträume, Flashbacks oder die Überflutung von Angst und Panik sind einige der möglichen Folgen. Daher sind Alltagsstrukturen und empathische, verlässliche Beziehungen für ankommende Geflüchtete entscheidend: Wie in einem Dorf wird versucht in der Erstaufnahmeeinrichtung ein erstes Gefühl der Gemeinschaft, eines ersten Ankommens und Aufgehobenseins zu vermitteln, was, wie viele Studien zeigen, die Gefahr von Reaktivierungen bzw. Retraumatisierungen vermindert und sich bestenfalls als hilfreich für die spätere Integrationsbereitschaft der Flüchtlinge erweist (vgl. u. a. Grinberg u. Grinberg, 2010). Konkret wird versucht, das soziale Miteinander zu stärken, indem alle Bewohnerinnen und Bewohner (jeden Alters) des Michaelisdorfes pro Tag ein (ca. zweistündiges) Angebot erhalten, in dem sie aktiv gefördert werden (»etwas bekommen«) und weitere zwei

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Stunden eine Eigenaktivität entfalten können, indem persönlich eine Tätigkeit für das Dorf ausgeführt wird (»etwas geben«). Das Betreuungsteam vor Ort vermittelt daher den Neuankommenden möglichst bald, wie wichtig eine aktive Gestaltung des Alltags in der Einrichtung für die psychische und psychosoziale Befindlichkeit und die spätere Integration ist, auch wenn die Bewohner/-innen nicht lange in der Ersteinrichtung bleiben möchten bzw. sollten. Um besonderen Schutz anzubieten, werden allein reisende Frauen und junge Familien in einer separaten Unterkunft (dem sogenannten Frauen- und Familienhaus) im Michaelisdorf untergebracht. In Absprache mit dem Sozialministerium wurden folgende Ziele des Projekts festgelegt: 1. »Unterstützung der (psychosozialen) Integration von Familien sowie die Förderung der (frühen) Entwicklung und des Wohlbefindens von Kindern 2. Stärkung der resilienten Fähigkeiten von Kindern und Eltern 3. Verhinderung von Rückzug aus der Dorfgemeinschaft von Familien oder einzelnen Menschen durch Förderung der Teilhabe an der Gesellschaft mit spezifischer Unterstützung der (inneren und äußeren) Verbindung zur Herkunftskultur 4. Psychische und psychosoziale Betreuung von traumatisierten Familien mit dem Ziel der Bearbeitung von Akuttraumatisierungen und der Abmilderung der transgenerativen Weitergabe von Traumatisierungen 5. Hilfestellungen bei der Vernetzung von psychosozialen und institutionellen Unterstützungen von Familien »at risk«, sowohl in der Erstaufnahmeeinrichtung wie auch nach dem Transfer in längerfristige Unterbringungen (für besonders vulnerable Familien im Raum Darmstadt). 6. Förderung und Optimierung der Kooperationen und der Kommunikationsstruktur der im Michaelisdorf arbeitenden professionellen Teams und der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer 7. Gestaltung von kinderfreundlichen Räumen in der Einrichtung, damit die Kinder und Jugendlichen sich angenommen und aufgehoben fühlen 8. Vielfältige und anregende Angebote für Kinder und Jugendliche und Motivation zur Partizipation

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Gerade für Kinder und Jugendliche ist es wichtig, dass sie auch schon die Erstaufnahmeeinrichtung als einen kinderfreundlichen Ort erleben. Sie sollen sich dort sicher fühlen und ihre Fähigkeiten einbringen. Ein solcher Ort muss gestaltet werden, und zwar durch Bildungs- und Freizeitangebote, durch Mitgestaltungsmöglichkeiten und durch Erwachsene, die aufgeschlossen sind. Das Projekt, an dem Studierende beteiligt sind, zielt auch darauf, möglichst Studierende von sozialen Berufen und junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gut für die Arbeit mit geflüchteten Kindern, Jugendlichen und Familien zu befähigen« (zit. nach dem internen Hand-Out des Ministeriums, Februar 2016 bzw. Sigmund-FreudInstitut, o. J., Internetquelle). Wie formuliert besteht STEP-BY-STEP aus einer Reihe psychoanalytischer und pädagogischer Angebote. Diese werden im Folgenden genauer beschrieben.

Angebote von STEP-BY-STEP 4 Psychoanalytische Abklärungen und Kriseninterventionen für traumatisierte Geflüchtete im Rahmen der medizinischen Versorgung – Therapeutische/Psychosomatische Sprechstunde Medizinische und zahnärztliche Sprechstunden sowie die Beratungszeiten von pro familia werden durch (niedrigschwellige) psychoanalytische und psychosomatische Sprechstunden und Kriseninterventionen ergänzt. Erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des SFI (M. Leuzinger-Bohleber, N. Pfenning-Meerkötter u. a.) bieten eine zweistündige Sprechstunde pro Woche zur Früherkennung schwerer Traumatisierungen bzw. Kriseninterventionen an. Die professionellen Teams vor Ort, die Ehrenamtlichen und Angehörigen der Verwaltung wurden darin geschult, traumatisierte 4 Projektmitarbeiter/-innen: T. Degen, H. Witzel, U. Baumann, A. Starck, T. Dietz, R. Müller, D. Cornel, R. Eskelinen, A. Stähle, M. L. Teising, P. Rachel, M. Firmenich, M. S. Löhlein, M. Raghis, A. Ramadan, T. Freidrichs, P. Stier, L. Kraukau, S. Kurth, L. Bauer, P. Gerber.

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Kinder und Erwachsene zu erkennen. Falls sie im Alltag im Michaelisdorf entsprechende Beobachtungen machen, legen sie ein Informationsblatt mit einigen Informationen zu diesen Personen in ein besonderes Fach für die Sprechstunde. Zusammen mit der dafür verantwortlichen Mitarbeiterin des Sozialteams (M. Tahiri) werden die einzelnen Personen aufgesucht und – falls sie dazu bereit sind – für die Sprechstunde angemeldet. Die Interviews in der Sprechstunde dienen der Früherkennung schwerer Traumatisierung und der ersten Kriseninterventionen im Michaelis­dorf selbst, im Sinne von FIRST STEPS. Sie bieten demnach eine fundierte psychoanalytische Abklärung und eine Art Notfallhilfe vor Ort. Weiterhin bilden sie die Basis um intensivere, längerfristige, medizinische, psychotherapeutische und sozialpädagogische Unterstützungen für die Betroffenen im Sinne von SECOND STEPS anzubieten, sobald sie im Raum Darmstadt dauerhaft untergebracht werden (vgl. Abbildung 1, S. 359). Fallbeispiel 1 Einige der Geflüchteten befinden sich in lebensbedrohlichen Situationen. So zum Beispiel Frau B., die allein aus Somalia flüchtete. In Libyen lernte sie einen Mann kennen und heiratete ihn, auch in der Hoffnung, dass er sie auf der Flucht beschützen werde. – In einer anderen Erstaufnahmeeinrichtung kam es zu schwerer Gewalt zwischen dem Paar: Der Ehemann versuchte Frau B. zu erwürgen. Daher wurde sie ins Michaelisdorf gebracht. Sie ist im vierten Monat schwanger und stark untergewichtig. Im Gespräch beklagt sie sich, dass ihr das Essen im Michaelisdorf nicht bekomme. Mehrere Male wurde sie ohnmächtig und als Notfall in eine Klinik gebracht. Doch immer wieder verliert sie an Gewicht und ist in einem bedrohlichen Zustand. Ohne Wissen des Sozialteams suchte sie Zuflucht bei einer Cousine in einem anderen Bundesland, die ihr somalisches Essen kochte, sodass sie einige Kilo zunahm. Zusammen mit der Ärztin im Michaelisdorf wird versucht, einen medizinisch indizierten Transfer zu ihrer Cousine zu bewirken, um sie als Erstes aus dem bedrohlichen körperlichen Zustand herauszuführen. In weiteren Schritten soll daraufhin der lokale sozialpsychiatrische Dienst eingeschaltet werden sowie eine weitere Betreuung von Frau B. während ihrer Schwangerschaft ermöglicht werden.

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Fallbeispiel 2 Ebenfalls in einem extrem belasteten Zustand befindet sich Frau C. Sie ist im achten Monat schwanger und hat schwere Komplikationen, die eine Frühgeburt befürchten lassen. Vom medizinischen Team hatte ich (M. L.-B.) die Information erhalten, dass drei ihrer kleinen Kinder auf der Überfahrt nach Lampedusa ertrunken seien. Frau C. überlebte als Einzige. Sie befindet sich offensichtlich in einem psychischen Schockzustand und kann nicht über ihre Erfahrungen berichten. Stattdessen erzählt sie immer und immer wieder, dass sie sich große Sorgen um ihre 16-jährige Tochter macht, die zusammen mit ihrem Mann und drei weiteren Kindern nach Griechenland geflohen sei. Sie sei aus der Einrichtung ausgebrochen und habe sich allein auf den Weg nach Deutschland gemacht. Eher nebenbei erwähnt sie einen Namen einer Cousine. Ich frage nach und erfahre, dass sie eine Verwandte in Nordhessen hat, die schon lange in Deutschland wohnt. Wir rufen sie an und können bewirken, dass die Cousine Frau C. besucht. Sie erklärt sich bereit, Frau C. bei sich aufzunehmen und während der Geburt zu begleiten. Erfreulicherweise kann eine formale Möglichkeit für einen zeitnahen Transfer gefunden werden, sodass Frau C. im Krankenhaus in der Nähe ihrer Cousine entbinden kann. STEP-BY-STEP bietet der Familie an, sie psychotherapeutisch und medizinisch weiterzubetreuen.

Wöchentliche Fallbesprechungen für das Betreuerteam im Michaelisdorf Die konkrete Arbeit mit Geflüchteten sowie die sich ständig ändernde institutionelle Situation bringen die Sozialbetreuung an die persönlichen Belastungsgrenzen. Wöchentliche Supervision für das gesamte Team erweist sich als ausgesprochen hilfreich, zum einen, um der drohenden Überforderung entgegenzuwirken, und zum anderen, um den professionellen Informationsfluss zu verbessern. Fallbeispiel 3 In einer Fallbesprechung, in der etwa zehn Mitglieder des Sozialteams, des medizinischen Teams und der Verwaltung anwesend sind, geht es um Herrn X. Die folgenden Informationen wurden gemeinsam zusammengetragen:

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In einer psychosomatischen Sprechstunde wurde ein Jugendlicher aus Afghanistan vorgestellt, weil er in »alle möglichen Konflikte im Dorf« verwickelt sei. Oft verliere er die Kontrolle und »raste aus«. Mithilfe eines Übersetzers erzählt Herr X., dass er aus einer Stadt in Afghanistan fliehen musste, weil er sich in ein Mädchen verliebt hatte und sich mit ihr heimlich traf. Daraufhin wollte ihn die Familie des Mädchens, Anhänger der Taliban, umbringen. Er sei Hals über Kopf ganz allein geflohen und über die Balkanroute nach Deutschland gelangt. Auf Nachfrage erzählt er, dass er nie zur Schule gegangen sei, sondern in einer Autowerkstatt gearbeitet habe. Er wisse nicht genau, wie alt er sei. Er habe seine Mutter angerufen. Sie habe nach der Anzahl ihrer Schwangerschaften rekapituliert, dass er erst 16 Jahre alt sei. Offensichtlich leidet Herr X. sehr unter seiner Einsamkeit. Viele Konflikte im Michaelisdorf scheinen damit in Zusammenhang zu stehen: Er sucht Kontakt, kann sich kaum verbal ausdrücken und verhält sich ungeschickt. Kommt es zu Konflikten, kann er seine Affekte und Impulse schlecht kontrollieren und verwickelt sich daher oft in körperliche Auseinandersetzungen. Zusammen mit dem Sozialteam versuchten wir, ihm nahe zu bringen, dass er sich an das Sozialteam wenden soll, sobald es zu Konflikten kommt, statt sich körperlich zur Wehr zu setzen. Der Leiter des Sozialteams setzte sich dafür ein, einen Platz in einer betreuten Einrichtung für Jugendliche zu finden. Zwei Tage später kam es zu einer weiteren Eskalation. Eine Mutter beschuldigte Herrn X., er habe ihren achtjährigen Sohn in der Toilette sexuell belästigt. In Panik flüchtete Herr X. aus der Einrichtung. Er wurde von der Polizei aufgegriffen und kam in Untersuchungshaft. In der Fallbesprechung entsteht eine große Betroffenheit. Alle befürchten, dass Herr X. mit aggressiv-destruktivem Verhalten auf das Eingeschlossensein reagieren werde und damit riskiere, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Einige der Mitarbeiterinnen berichten von einer Anhörung der Mutter beim Jugendamt, in der sich herausstellte, dass der Verdacht des sexuellen Übergriffs durch Herrn X. nicht erhärtet werden konnte. Eine Mitarbeiterin erklärt sich bereit, in der Einrichtung anzurufen und sich nach Herrn X. zu erkundigen. Zudem werde sie eine Bekannte befragen, die in dieser Institution arbeite, da allen Anwesenden juristische Informationen fehlen, um die Situation von Herrn X. realistisch einzuschätzen. In der darauffolgenden Fallsupervision stellt sich heraus, dass es für Herrn X. eine wichtige Erfahrung war, dass sich das Sozialteam des Michaelisdorfes nach ihm erkundigte und er »nicht einfach vergessen wurde«.

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Zudem können die Einschätzungen des Sozialteams im Jugendstrafvollzug eventuell berücksichtigt werden, sodass es im besten Fall gelingt, Herrn X. in eine betreute Einrichtung für Minderjährige zu überweisen.

Psychoanalytische Teamsupervision für die Mitglieder des Sozial- und des medizinischen Teams Außer den wöchentlichen Fallbesprechungen erhalten die Mitglieder des Sozial- und des medizinischen Teams eine Teamsupervision, die von erfahrenen Supervisoren angeboten wird. Diese Supervisoren sind nicht Mitglieder des STEP-BY-STEP-Projekts und ermöglichen daher einen unabhängigen Blick von außen auf Teamkonflikte sowie auf die Auswirkungen des STEP-BY-STEP-Projekts auf den konkreten Arbeitsalltag im Michaelisdorf.

Psychoanalytisch orientierte ERSTE-SCHRITTE-Gruppen für Schwangere und Frauen mit Babys bzw. Kleinkindern Eine zweistündige, wöchentliche Gruppe für Schwangere und Mütter mit Kleinkindern bietet einen Raum, in dem aktuelle Themen der frühen Elternschaft unter Migrationsbedingungen besprochen sowie Mutter-Kind-Interaktionen professionell und kultursensitiv gefördert werden (vgl. Zusammenfassung des ERSTE-SCHRITTEProjekts). Geeignete Frauen aus dem Kreis der Geflüchteten werden motiviert als »Ko-Betreuerinnen« an den Gruppen teilzunehmen (»etwas geben«). Fallbeispiel 4 In die ERSTE-SCHRITTE-Gruppe werden unter anderem Mütter übermittelt, die sich stark zurückgezogen haben und in der Psychosomatischen Sprechstunde betreut werden. In diesem Rahmen können sie mit anderen Müttern in Kontakt kommen und Unterstützung erfahren. Frauen, die in der Gruppe auffällig sind oder starke Sorgen bezüglich ihrer Kinder äußern, werden außerdem an die Sprechstunde überwiesen. So konnte eine schwangere Frau im achten Monat, deren Mann in Griechenland festsitzt und die ihr erstes Kind allein gebären sollte, nach einem starken Rückzug

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Unterstützung von den anderen Müttern in der Gruppe erfahren. Frau M. hat sich zurückgezogen und ist meist in ihrem Zimmer. Sie wirkt oft sehr traurig, weint viel und macht sich große Sorgen um ihren Mann und die bevorstehende Geburt. Sie klagt über Kopfschmerzen und Schmerzen im Bauch. In der medizinischen Abklärung stellt sich heraus, dass Frau M. ein Myom hat, aufgrund dessen ein Kaiserschnitt zur Entbindung nötig wird. Frau M. hat große Angst vor diesem Eingriff. In der Gruppe kann sie sich jedoch immer mehr öffnen und tritt mit vielen Frauen in Kontakt, mit denen sie sich anfreundet. Manchmal bekommt sie auch während der Gruppe starke Schmerzen und zieht sich dann in eine Ecke des Raumes zurück, bis es ihr wieder besser geht und sie zurück zur Gruppe kommen kann. Durch das Engagement der Psychosomatischen Sprechstunde bzw. des Teams im Michaelisdorf kann Frau M. noch vor der Entbindung in eine andere Stadt zu ihrer Schwester verlegt werden und dort zumindest gemeinsam mit der Schwester den Eingriff vornehmen lassen.

Psychoanalytische Malgruppen für Kinder Kindern mit besonderem Bedarf wird wöchentlich eine Malgruppe angeboten, die von einer erfahrenen Kinderanalytikerin mit Unterstützung von jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des SFI angeboten wird. Dort können sie ihre erlebten, belastenden oder eventuell traumatischen Erfahrungen gestalten und den professionell geschulten Mitarbeitern mitteilen. Viele Studien zeigen, dass es für die Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen hilfreich ist, wenn die Kinder mit dem Erlebten nicht allein bleiben, sondern in einem geschützten Rahmen dosiert davon erzählen können (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, 2009). Aus der Gruppe der geflüchteten Frauen werden »Ko-Leiterinnen« gesucht, die die Malarbeit unterstützen und eventuell dolmetschen (»etwas geben«). Fallbeispiel 5 Drei Geschwister einer afghanischen Familie kommen sehr regelmäßig in die Malgruppe. Beim Malen mit Wasserfarben drückt der älteste Junge (ca. 10 Jahre alt) mit dem Pinsel schwarze und orangene Kleckse auf sein Bild. Anschließend spritzt er viele kleine Punkte über das gesamte Bild. Nachdem die Farbe getrocknet ist, malt er eine afghanische Flagge mit

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Buntstiften an den Rand des Bildes. Das Bild zeigt die Explosion einer Bombe. Sein kleinerer Bruder (ca. 8 Jahre alt) formt einen Ball aus Knete. Er wirft den Ball immer wieder auf den Tisch und begleitet dies durch Geräusche einer fallenden Granate. Die kleine Schwester der beiden Jungen (ca. 6 Jahre alt) formt Knetfiguren, denen sie dann Gliedmaßen abreißt, während die Figuren hilferufend über den Tisch laufen. Die Familie hat einen Bombenangriff in Afghanistan hautnah miterlebt und die Kinder trugen teilweise schreckliche Vernarbungen davon. In der Gruppe konnten die Kinder ihre Erfahrungen auf diese Art kommunizieren. In den Zeichnungen kann der Junge in kindlicher Sprache seine erlittenen Traumatisierungen kommunizieren und der erfahrenen Kindertherapeutin mitteilten, dass er auch nach dem Michaelisdorf langfristige psychotherapeutische Begleitung brauchen wird.

Getrennt voneinander stattfindende, psychoanalytisch orientierte Gruppen für Mädchen und Jungen Hierbei handelt es sich um drei psychoanalytisch orientierte Gruppen (für Mädchen, für Jungen, gemischt), die insbesondere auf die Interessenlage der Jugendlichen eingehen. Zusätzliche Angebote können je nachdem auch für besonders belastete Jugendliche bereitgestellt werden. Neben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des SFI werden auch geeignete Väter und Mütter im Dorf gesucht, die bei der Gestaltung der Angebote helfen. Fallbeispiel 6 Im Jugendtreff wird gekickert, Dart und FIFA (Videospiel) gespielt, Deutsch gelernt und miteinander geredet. Auch die Gestaltung des Raumes haben die Jugendlichen selbst übernommen. Nachdem die Wände gestrichen waren, wurden Leinwände und Spraydosen zur Verfügung gestellt. Die Jugendlichen sprühten eine deutsche und eine syrische Flagge. Dies hatte zur Folge, dass in der nächsten Woche keine afghanischen Jugendlichen in den Treff kamen. Daraufhin wurde besprochen, die Flaggen von der Wand abzunehmen und stattdessen Bilder von den Jugendlichen, die am Jugendtreff teilnehmen, zu machen und im Raum aufzuhängen. Dadurch sollte die Individualität jedes Teilnehmers und jeder Teilnehmerin deutlich gemacht und hervorgehoben werden. Sie enthielten eine Botschaft: In

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Deutschland sind Geflüchtete aus ganz verschiedenen Ländern und Kulturen willkommen und können schon im Michaelisdorf lernen, miteinander freundschaftlich umzugehen. So entwickeln sich Freundschaften zwischen den Individuen A und B, obschon sie aus ganz anderen Kulturen kommen. Dies ist ein Beispiel einer beginnenden Integration in Deutschland.

Abendprogramme für Erwachsene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des SFI sowie weiterer Institutionen im Michaelisdorf bieten zusammen Abendprogramme zu unterschiedlichen Themen an. Diese dienen vor allem der Vermittlung kulturspezifischer Besonderheiten des Gastlandes (z. B. Wertesysteme in Deutschland und in westlichen Demokratien, Erziehungsstile, Bildungssystem in Deutschland, Frauenrollen, Reflexion religiöser Vielfalt u. Ä.). Dies geschieht über Filme, Gespräche und im Kontakt und Austausch. Dabei wird Vertrauen geschaffen. Und aus Gesprächen zwischen »Tür und Angel« können sich ernsthafte Gespräche über Gewalt und andere Themen des Zusammenlebens entwickeln. Fallbeispiel 7 Im Rahmen des Abendprogramms wurde gemeinsam mit den Bewohnern des Michaelisdorfes ein Gartenprojekt ins Leben gerufen, sodass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gruppe um die Gestaltung des Geländes sowie das Anlegen und Pflegen von Beeten kümmern. Ein Teilnehmer der Gruppe, der gutes Englisch spricht, hat sich bereit erklärt, bei der Übersetzung des Stunden- und Lageplans des Michaelisdorfes zu helfen. Auch in dieser Gruppe fallen manchmal Personen auf, die sich zurückziehen und zunehmend passiver werden. Ein Mann, der allein aus Afghanistan mit seinem neunjährigen Sohn geflohen war, war zunächst sehr engagiert und brachte sich viel in die Gruppe und die Gemeinschaft in der Einrichtung ein. Nach einer Weile wurde er immer stiller, passiver und depressiver. Er selbst war von den Taliban gefoltert worden, ihm fehlen drei Finger. Sein Sohn schreit jede Nacht und hat schreckliche Albträume. Von der Mutter des Jungen und weiteren Geschwistern wurden die beiden auf der Flucht getrennt. Nach einer Krisenintervention in der Psycho­

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somatischen Sprechstunde konnten der Vater und der Sohn nach Frankfurt transferiert werden. Der Junge kann nun in die Schule gehen und hat eine Therapie begonnen.

Kindergruppen und Gestaltung von »Child Friendly Spaces« Die pädagogischen Angebote für Kinder des Teams der GoetheUniversität (Leitung: Sabine Andresen) zwischen fünf und zwölf Jahren orientieren sich an den international erprobten Leitlinien zur Gestaltung und Etablierung sogenannter »Child Friendly Spaces (CFS)« und verschränken diese mit den Prinzipien der sozialpädagogischen Kinder- und Jugendarbeit und der langen Tradition der aufsuchenden Sozialarbeit. Kinder haben ein »Recht auf den heutigen Tag« und benötigen von Anfang an anregende Angebote, zugewandte Erwachsene und sichere Räume. Die Angebote orientieren sich erstens an den Bedürfnissen und Interessen der Kinder (Partizipation), zweitens sind sie integrierend und drittens bieten sie vielfältige Lerngelegenheiten.

Wissenschaftliche Begleitung Das Pilotprojekt wird wissenschaftlich begleitet. Dabei geht es auch um die Frage, wie sich die Struktur und die Angebote auf andere Einrichtungen übertragen lassen. Die wissenschaftliche Begleitung orientiert sich an dem Vorgehen einer formativen Evaluation. Zentral sind die genaue Dokumentation der Maßnahmen, ihrer Nutzung und »Wirkung«. Zudem soll, in Zusammenarbeit mit dem Sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die Kurzund Langzeitwirkung von STEP-BY-STEP für die Integration der Stichprobe besonders vulnerabler Geflüchteter, die im Michaelisdorf untergebracht wurden, mit anderen Stichproben von Geflüchteten verglichen werden.

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Abschließende Bemerkungen Im Rahmen des Modellprojekts STEP-BY-STEP werden Geflüchtete und vor allem diejenigen, die Traumatisierungen erfahren haben, von Anfang an betreut. In enger Zusammenarbeit mit den professionellen und ehrenamtlichen Teams in der Erstaufnahmeeinrichtung Michaelisdorf wird versucht, den Geflüchteten durch eine stabile Umgebung sowie verlässliche, zwischenmenschliche Erfahrungen eine erste Sicherheit und Schutz zu bieten, um die Gefahr von Reaktivierungen bzw. Retraumatisierungen zu vermindern. Dies erweist sich sowohl für die psychische und psychosoziale Situation der Geflüchteten in der Erstaufnahmeeinrichtung als auch für ihre spätere Integrationsbereitschaft im Gastland nachweislich als hilfreich. Wie im ersten Zwischenbericht nach sechs Monaten der Durchführung erläutert wird, wurde STEP-BY-STEP von den Geflüchteten und den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Michaelisdorf gut angenommen. Die einzelnen Angebote basieren einerseits auf der psychoanalytischen und psychiatrischen Traumaforschung und andererseits auf sozialpädagogischen Konzepten zur Betreuung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Sie erweisen sich als geeignet, die Geflüchteten zu unterstützen, und wurden gut im Alltag umgesetzt. Im vorherigen Bericht wurden die einzelnen Angebote illustriert und ausgeführt, in welcher Weise sie an die spezifischen Bedürfnisse der Geflüchteten angepasst wurden. Folgende Konzepte, Erfahrungen und Ergebnisse von STEP-BYSTEP bewähren sich und könnten auf andere Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete übernommen werden: a) die enge und gut strukturierte Zusammenarbeit von psychotherapeutischen, medizinischen, sozial- und erziehungswissenschaftlichen Expertinnen und Experten aus den lokalen Netzwerken mit den professionellen und ehrenamtlichen Teams in der Erstaufnahmeeinrichtung; b) das Schaffen sicherer und verlässlicher Alltagsstrukturen durch transparente Information zu Abläufen und Angeboten für Geflüchtete (»Wochenplan«), die ihnen gleich im ersten Gespräch nach ihrer Ankunft vermittelt werden; c) gemeinsam mit den Teams vor Ort wird in STEP-BY-STEP versucht, zu einer Atmosphäre der zwischenmenschlichen Begeg-

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nungen beizutragen sowie der Einfühlung in das »Nichtvorstellbare, was Menschen Menschen antun können«; d) das Angebot alternativer Beziehungserfahrungen, die die Resilienz der Flüchtlinge stärken; wöchentliche Fallbesprechungen, Teamsupervisionen der verschiedenen professionellen Gruppen und Ehrenamtlichen sowie Fortbildungen erweisen sich als unverzichtbar, um alle Ziele von STEP-BY-STEP zu erreichen; e) die Haltung des »Gebens und Nehmens«: Jeder Geflüchtete jeden Alters soll im Michaelisdorf täglich mindestens zwei Stunden »etwas bekommen«, aber auch selbst mindestens zwei Stunden der Gemeinschaft »etwas geben«. Dies hat sich als wichtig erwiesen, den Geflüchteten aus der Passivität eine Erfahrung des aktiven Handelns zurückzugeben. Darüber hinaus gewinnen sie ansatzweise ihre menschliche Würde wieder, wenn sie in ihrem spezifischen Flüchtlingsschicksal, aber auch in ihren Persönlichkeitsmerkmalen und -fähigkeiten anerkannt werden und diese zum Beispiel als Übersetzer/-innen, Erzieher/-innen, Handwerker/-innen, Künstler/-innen etc. in die Gemeinschaft im Michaelisdorf einbringen können; f) Zusammenarbeit der professionellen Teams und (lokalen) psychotherapeutischen Traumaexpertinnen und -experten, um im Rahmen wöchentlicher Sprechstunden ein Erstscreening für besonders Traumatisierte durchzuführen, damit man ihnen – im Sinne von FIRST STEPS – schon in der Erstaufnahmeeinrichtung jene Akuthilfe zukommen lassen kann, die sie benötigen. Daraufhin werden SECOND STEPS eingeleitet, um längerfristige fachliche Hilfe nach dem Transfer in feste Unterkünfte in der Nähe der Ersteinrichtungen zu ermöglichen; g) Patenschaften, supervidiert durch ausgewiesene Experten und Expertinnen im Umfeld der Ersteinrichtung (wie die Evangelische Hochschule in Darmstadt); dabei begleiten zum Beispiel Studierende besonders vulnerable Geflüchtete im Übergang von der Erstaufnahmeeinrichtung zu langfristigen Unterkünften. h) Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern von lokalen Institutionen (Fachhochschule Darmstadt, Sigmund-Freud-Institut, GoetheUniversität Frankfurt), um die Angebote in den Erstaufnahmeeinrichtungen wissenschaftlich zu evaluieren.

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Die Konzepte, Beobachtungen und empirischen Ergebnisse von STEP-BY-STEP werden im Schlussbericht an das Hessische Ministerium für Soziales und Integration ausführlich diskutiert.

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Ilka Lennertz

Intergenerationales Trauma und Wege der Erfahrungsverarbeitung bei Flüchtlingskindern Children are not resilient, children are malleable. Perry, Pollard, Blakley, Baker u. Vigilante (1995) Ich begann mein Leben in Freiheit mit einem Körpergewicht von 28 Kilo. Ist das möglich? Klein (2003)

Die beiden vorangestellten Zitate sollen auf die Gratwanderung hinweisen, auf die sich dieser Beitrag möglicherweise begibt. Das Thema ist die Erfahrungsverarbeitung von Flüchtlingskindern. Ich werde mich auf eine eigene Untersuchung zu bosnischen Flüchtlingskindern – die meisten von mir interviewten Familien stammten aus Srebrenica – beziehen (Lennertz, 2011), aber auch auf aktuelle Beispiele und drängende Fragen, die mir zurzeit im Flüchtlings­ bereich begegnen. Kinder reagieren ganz verschieden auf das Erleben von Krieg, Verfolgung und Flucht und oft ist es nicht einfach, einen Eindruck davon zu bekommen, wie sich die Folgen eines elterlichen Traumas oder einer intergenerationalen Traumatisierung zeigen, wenn sowohl das Kind als auch seine Eltern von traumato­genen Erlebnissen betroffen sind. Mögliche Folgen unterscheiden sich bei Kindern abhängig von Alter und Entwicklungsstand. Mitunter zeigen sich die psychischen Folgen erst nach Jahren. Leuzinger-­ Bohleber (2003) spricht im Zusammenhang mit Analysen ehemaliger Kriegskinder vom »langen Schatten«, den Krieg, Flucht und Verfolgung auf die nächsten Generationen werfen. Häufig sind es bindungsrelevante Situationen, wie ein Verlust oder aber auch eine Heirat, die Geburt eines Kindes oder Enkels, die etwas aufbrechen lassen und dann – vielleicht überraschend – psychische Reaktionen auf früh erlebte Traumatisierungen hervorrufen (Leuzinger-Bohleber, 2003; Brähler, Decker u. Radebold, 2003). Suzanne Kaplan (in diesem Buch, S. 87 ff.) berichtet, wie die von ihr interviewten Child Survivors, obwohl schon im fortgeschrittenen Lebensalter und ohne danach gefragt worden zu sein, von allein Bezug nahmen auf die Themen Schwangerschaft, Geburt und eigener Kinderwunsch und

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ihre massiven Verfolgungserlebnisse mit der sehr viel später im Leben getroffenen Entscheidung für oder gegen eigene Kinder in unmittelbaren Zusammenhang brachten. Schon 1943 kamen Anna Freud und Dorothy Burlingham in »War and children« aufgrund zahlreicher Fallstudien zu dem Schluss, dass der Krieg erst dann für Kinder etwas bedeute, wenn er die »ersten Gefühlsbindungen der Kinder an ihre Angehörigen erschüttert« (Freud u. Burlingham, 1971, S. 29 f.). Da sich Auswirkungen einer »erschütterten« Bindung über die gesamte Lebensspanne ziehen können, halte ich die zurzeit immer wieder zu beobachtende Verwendung des Resilienzbegriffs im Zusammenhang mit Flüchtlingskindern für schwierig. Ich spreche im Weiteren bei einigen Fallbeispielen auch von Pseudo-Resilienz, denn oft wirken Flüchtlingskinder zunächst sehr gut angepasst. Man benötigt einen Zugang zu den unbewussten Prozessen, um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie die Kinder mit dem Erlebten umgehen, auch wenn sie keine unmittelbaren Symptome entwickeln. Die »Absage«, die der neurowissenschaftlich orientierte Psychiater Bruce Perry an die Verwendung des Resilienzbegriffs im Kindesalter erteilt (Perry, Pollard, Blakley, Baker u. Vigilante, 1995), entspricht damit weitgehend meinen Schlussfolgerungen. Hillel Klein erlaube ich mir zu zitieren, weil sein bekanntes Buch »Überleben und Versuche der Wiederbelebung« zu psychoanalytischen Studien mit Überlebenden der Shoah sehr konsequent vermittelt, dass Trauma immer subjektiv ist. Klein (2003) spricht sich generell dagegen aus, von einer Erfahrung auf ein Trauma zu schließen, da dies die Subjektivität der Betroffenen entwürdige. Die Frage »Ist das möglich?« lässt sich sowohl in Hinblick darauf verstehen, was ihm widerfahren ist – Undenkbares und Unbeschreibbares –, als auch auf eine mögliche »Wiederherstellung«. Diese stellt sich für jeden einzelnen Betroffenen und ist immer individuell – ein Aspekt, der im Traumadiskurs schnell unterzugehen droht. Wenn ich also im Folgenden betone, dass sich bei vielen Kindern auch jenseits offensichtlicher psychischer Symptome Traumafolgen zeigen, soll dies keinesfalls den – zurzeit ebenfalls zum Teil in den Medien verbreiteten und populären – Eindruck vermitteln, »alle Flüchtlinge seien traumatisiert«. In der aktuellen Situation besteht bei denjenigen, die mit Flüchtlingskindern arbeiten, oft ein großer Druck, möglichst schnell ein-

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schätzen zu wollen, ob beispielsweise ein Kind traumatisiert ist, gegebenenfalls besonderer Unterstützung bedarf, oder ob die oft bei Flüchtlingskindern zu beobachtende schnelle und erstaunliche Anpassungsleistung tatsächlich für eine gute Bewältigung spricht. Manchmal sind die psychischen Folgen eines Traumas offensichtlich, auch für die Betroffen. Oft wird es aber Zeit erfordern, bis der je individuelle Weg der Erfahrungsverarbeitung verstanden werden kann. Screenings beispielweise greifen dann schnell zu kurz oder können einen falschen Eindruck vermitteln. Sie spiegeln nur eine Momentaufnahme wider; ob sich nach einer Extrembelastung oder Traumatisierung psychische Folgen entwickeln oder nicht, hängt aber – wie Keilson (1979) mit seiner Studie zur sequenziellen Traumatisierung zeigte – entscheidend von der psychosozialen Umwelt im Aufnahmeland ab.

Die langen Schatten: Wie überträgt sich Trauma? Beispiele aus einer qualitativen Untersuchung mit bosnischen Flüchtlingskindern Sogenannte »man-made disaster« haben jeweils ihre Spezifik und in vielerlei Hinsicht kann die Situation der in den 1990er Jahren aus Bosnien geflüchteten Menschen mit den Menschen, die zurzeit flüchten, nicht verglichen werden.1 Wenn man allerdings schon über viele Jahre mit geflüchteten Menschen arbeitet, wird man auch immer wieder Ähnlichkeiten feststellen, vor allem was die Situation im Exil betrifft. Diese ist oft gekennzeichnet durch hohe Unsicherheit und einer Art »verordneter Passivität«, was die Bewältigung erschwert und oft mit neuen Belastungen verknüpft ist. Auch sehen wir Phänomene wie inter- oder transgenerationale Traumatisierungen in ganz verschiedenen Kontexten. Ich möchte im Folgenden drei unterschiedliche Wege der Erfahrungsverarbeitung bei Flüchtlingskindern differenzieren, die im engen Zusam1 Ein Teil der »damaligen« Flüchtlinge erlebt sich heute wieder als Flüchtling, da nach vielen Jahren des Aufenthaltes in Deutschland nun die Rückkehr gefordert wird.

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menhang damit stehen, wie es ihren Eltern möglich war, mit der eigenen Traumatisierung umzugehen.2 Mehrheitlich habe ich, wie bereits angedeutet, Kinder getroffen, deren Entwicklung ich zum Unterschungszeitpunkt »pseudo-resilient« genannt habe. Sie verfügten über viele Stärken, waren sehr gut angepasst, wiesen zugleich jedoch traumakompensatorische Bewältigungsmuster oder eine Verknüpfung der eigenen Identitätsbildung mit der frühen Traumatisierung auf, was sie vulnerabel im Umgang mit möglichen weiteren Belastungen im späteren Entwicklungsverlauf machen kann, aber nicht muss. Bei einigen wenigen Kindern zeigten sich deutlich Anpassungsschwierigkeiten, die jedoch in der Familie verleugnet oder vernachlässigt wurden, und bei ganz wenigen Kindern zeigten sich entweder keine Anpassungsschwierigkeiten, oder diese wurden beachtet und die Eltern konnten gewissermaßen »aushalten«, dass die Kinder Belastungssymptome zeigten, sodass sich für diese Kinder eher Bewältigungsmöglichkeiten zu ergeben schienen.

Exemplarische Beispiele für verleugnete oder vernachlässigte Traumafolgen Selma interviewte ich zum ersten Mal, als sie sieben Jahre alt war und seit zwei Jahren in Deutschland lebte. Bei Selma fiel auf, dass sie zwar viel spielte, aber sehr wenig sprach. Als ich mit ihr gemeinsam durch das Wohnheim ging, kam es zu einer für mich seltsamen Szene, weil mehrere Kinder »um uns herumsprangen« und einige davon sangen: »Dein Bruder ist tot in Bosny-Land, in Bosny-Land!«. Letzteres klang wie »Disneyland« und sie sangen mit einer typischen Kindermelodie, die vielleicht lustig, aber auch nach Auslachen klang. Selma selbst reagierte darauf nicht weiter, aber ich traute meinen Ohren kaum. Nachdem ich mit ihr gesprochen hatte, sprach ich auch mit ihrer Mutter, die ihrerseits kein älteres, verstorbenes Kind erwähnte. Dies machte mich im Verlauf des Interviews zunehmend nervös, weil ich nun nicht wusste, ob ich die singenden Kinder richtig verstanden hatte oder nicht. Oder ob sie sich vielleicht gar nicht auf Selma bezogen hatten. Ich blieb allein mit dem »komischen Gesang«. Als Selmas 2 Zur empirischen Herleitung siehe Lennertz, 2011.

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Mutter, die insgesamt ebenfalls nicht viel sprach, daraufhin berichtete, dass ihr Mann seit dem Massaker von Srebrenica als vermisst gelte, hatte ich Gelegenheit zu fragen, ob sie weitere Verwandte verloren hatte, und erfuhr, dass tatsächlich ein älterer Bruder von Selma im Jugendalter vermutlich ebenfalls in Srebrenica getötet worden war. Selma sei ihr jüngstes Kind, sie habe noch zwei ältere Töchter. Die nächste Begegnung fand viele Jahre später statt, als Selma 13 Jahre alt war. Bei ihr zeigten sich zu diesem Zeitpunkt deutliche Hinweise auf internalisierende Verhaltensschwierigkeiten, depressive Symptome und soziales Rückzugsverhalten. Sie hatte Probleme in der Schule, ein von mir durchgeführtes Bindungsinterview wurde als extrem bindungsvermeidend klassifiziert, und es ergab sich das Bild, dass sie sich subjektiv als kaum emotional unterstützt erlebte. In den mit der Mutter und einer älteren Schwester geführten Gesprächen wirkte Selma wie »abgeschrieben« im Vergleich zu ihren erfolgreicheren älteren Schwestern. Eine der Schwestern war bei dem Gespräch dabei und sie amüsierte sich geradezu darüber, wie unwissend (»dumm«) Selma über Bosnien sei und das sie »das alles« gar nicht kenne. Selma sei dafür mit fünf Jahren auch noch viel zu jung gewesen. Selma blieb offenbar ausgeschlossen in Bezug auf sämtliche Informationen, die Bosnien, den Krieg und die Flucht betrafen. Sie schien weitgehend ahnungslos bezüglich ihrer Familiengeschichte aufzuwachsen, wusste beispielsweise weder etwas über ihren als vermisst geltenden Vater noch etwas über den Bruder. Auch konnte sie, als sie ihre Großeltern erwähnte, mir nicht sagen, ob dies die Eltern ihres Vaters oder ihrer Mutter seien. Selmas Mutter, die einerseits zu den Gesprächen mit mir bereit war, andererseits dann kaum etwas sagen wollte, erzählte, dass sie möglichst jede Auseinandersetzung mit ihrer Lebenssituation und ihrer Biografie zu vermeiden versuche. Angesichts der von ihr erlebten Gräueltaten ist ihre Vermeidung nachvollziehbar, ihre jüngste Tochter jedoch bleibt mit ihren »Lücken« und Ahnungen – und vielleicht auch mit dem irritierenden »Lied« – allein. Auch ihre vorhandenen psychischen Probleme konnten in der Familie zum damaligen Zeitpunkt nicht wahrgenommen werden.

Die Annahme, ein Kind sei noch zu klein, um von Krieg und Flucht betroffen zu sein, ist nach wie vor sehr verbreitet. Oft ist sie verknüpft mit einer Hoffnung der Eltern, die Kinder seien zumindest unbeschadet, oder sie entspringt, wie es wahrscheinlich bei Selmas

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Mutter der Fall war, dem Wunsch, alles vergessen zu dürfen. In einer anderen Familie mit einem Kind, das eine manifeste psychische Symptomatik aufwies, die zunächst unbehandelt blieb, zeigte sich nicht wie bei Selma zu wenig, sondern umgekehrt zu viel Kommunikation. Nermin war zum Interviewzeitpunkt elf Jahre alt und hatte viele Ängste sowie Verhaltensschwierigkeiten im externalisierenden Bereich, mit verweigernden und leicht aggressiven Anteilen, was seinen Schulbesuch erschwerte. In seiner Familie fehlte eine adäquate Grenzziehung, vor allem zwischen ihm und seiner Mutter. Im Gegensatz zu Selmas Mutter redete die Mutter von Nermin sehr viel, sehr schnell, oft sehr aufgeregt und inkohärent und mit hoher aggressiver Anspannung. Nermins Mutter berichtete, dass bei ihr eine Traumafolgestörung diagnostiziert worden sei, sie sich jedoch nicht behandeln ließe, da sie zu viel Angst davor habe. Die Diagnose sei im Rahmen einer Begutachtung gestellt worden, welche notwendig war, um eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen zu können.3 Die Begutachtungssituation habe sie als sehr belastend erlebt. Es sei schrecklich gewesen, so viele Fragen gestellt zu bekommen. Sie könne sich deshalb auch nicht vorstellen, in einer Therapie darüber zu sprechen. Gruppengespräche, die ihr auch angeboten worden waren, in denen sie dann aber auch die Geschichte von anderen würde hören müssen, hielte sie gar nicht aus. Nermins Familie war aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert worden, sie erlebten zudem die Belagerung von Sarajevo. Die Flucht aus der belagerten Stadt, in der der Vater auch kämpfte, gelang getrennt. Die Eltern verloren dadurch viele Monate den Kontakt zueinander, auch schienen zuvor zwischen den Eltern Konflikte über die Art und den Zeitpunkt der Flucht bestanden zu haben. In den Gesprächen mit den Eltern war sehr bemerkenswert, dass beide über diese dramatische Zeit berichteten, aber hierzu zwei verschiedene Versionen erzählten. Es gab zwei »Familienerzählungen«, was die Zeit des Krieges und der Flucht betraf. Vonseiten der Mutter gab es Vorwürfe an den Mann, der ihrer Meinung nach mehr hätte unternehmen können, um sie und den damals einjährigen Nermin

3 Die Aufenthaltsgenehmigung wurde im Fall dieser Familie über Jahre ausgeschlagen. Alle von mir interviewten Familien verfügten nach acht bis zehn Jahren in Deutschland höchstens über eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung.

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zu finden. Auf ihrer sehr gefährlichen Flucht mit dem Baby kam es einmal an einer Straßensperre zu einer dramatischen Trennung von Mutter und Kind, bei der die Mutter dachte, ihren Sohn nie wieder zu sehen. In den Gesprächen mit der Mutter stach heraus, wie sie über ihren Sohn sprach. Sie bemerkte oft, dass er sehr ängstlich sei. Diese Angst bezeichnete sie als »nicht normal« und sie führte bei ihr zu sehr starkem Ärger über ihren Sohn. Sie berichtete zum Beispiel, dass er sich oft unaufgefordert um die jüngere Schwester kümmere, sie zum Beispiel beim Über-die-StraßeGehen, bei Rolltreppen oder im Schwimmbad immer sofort an die Hand nehme. Dies gehe soweit, dass sie ihm schon gesagt habe, es sei ihre Tochter und nicht seine. In einem weiteren Gespräch erzählte Nermins Mutter dann von ihren eigenen Ängsten. Sie formulierte unmittelbar ganz ähnliche Ängste, wie die, die sie für ihren Sohn beschrieb. Während sie sprach, betrat Nermin den Raum – er hörte deshalb kurz, was die Mutter sagte, und fragte sie daraufhin: »Sprichst du von mir oder sprichst du von dir?« Offenbar gab es bei beiden die gleichen Ängste, aber Nermins Mutter schien zu versuchen, ihre Ängste soweit wie möglich zu verleugnen und einen Teil davon psychisch bei ihrem Sohn »untergebracht« zu haben. Nermins Mutter verleugnete nicht, dass ihr Sohn viele Ängste hatte, aber sie versuchte zu verleugnen, dass diese zum Teil mit ihr bzw. mit gemeinsam Erlebtem verknüpft zu sein schienen. Durch Nermins Angst wurde sie permanent mit der – für sie unaushaltbaren – eigenen Angst konfrontiert, was bei ihr zu Ärger und Abwehr führte. Nermins Mutter stellte schließlich selbst einen Zusammenhang zwischen Nermins Angst und ihren Kriegserlebnissen her. Sie fragte mich, wie es denn sein könne, dass ihr Sohn etwas davon mitbekommen habe, er sei ja ein Baby gewesen. Dann berichtete sie, dass für sie die Probleme begannen, als er ein Baby war und sie ihn gestillt habe. Sie erzählte, wie sie versucht habe ihn zu stillen, aber die ganze Zeit in den Himmel habe schauen müssen aus Angst, dass wieder Bomben fallen könnten. Sie habe die Vorstellung gehabt, ihre Milch sei deshalb »schlecht« gewesen: »Ich glaube, dass es im Zusammenhang ist, weil ich ihn ja ein Jahr gestillt habe und während der Zeit Krieg war, und dass irgendwie dadurch meine ganzen Sorgen, alles, übertragen sind auf ihn. Ich denke, das hat was damit zu tun. Was, meinen Sie, hat sich übertragen? Vielleicht diese Angst oder diese Nervosität, die ich gefühlt habe?« »Wovor hatten Sie Angst?« »Ich weiß auch nicht ganz genau, vor allem hatte ich Angst. Vor allem. Ich kann nicht darüber reden, es gibt vieles und ich kann nicht darüber reden.«

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In der Vorstellung von Nermins Mutter übertrug sich etwas »Schlechtes« auf den Sohn, das zugleich nicht greifbar war und nicht verbalisiert werden konnte. In ihrer Vorstellung verknüpften sich das »Schlechte«, das der Krieg ihr zugemutet hat, und der Sohn untrennbar miteinander und das »Schlechte« wurde körperlich (stillen) auf ihn übertragen. Sie hatte damit eine Erklärung dafür, warum das Kind sich »nicht normal« entwickeln kann, und versuchte offenbar sämtliche von ihm geäußerten Ängste, auch ­altersangemessene, abzuwehren. Sie vermittelte ein sehr berührendes Bild von ihrer für sie »unmöglichen« und »nicht normalen« Stillsituation, nämlich Kriegsangriffen ausgesetzt zu sein, während sie versuchte, für ihren Säugling zu sorgen. Es mag darüber hinaus Verschiedenes zusammengekommen sein, was ihr den Übergang in die Mutterschaft erschwerte, aber es zeigt auch, dass nicht nur die Geburt des Kindes, sondern auch die »Geburt der Mutter« (Stern, 2006) erheblich beschädigt werden kann. Nermins Eltern ließen sich allerdings schließlich auf eine psychotherapeutische Behandlung des Sohnes ein, in die sie auch miteinbezogen wurden.

Exemplarische Beispiele für pseudo-resiliente Entwicklung Wie erwähnt betraf eine solche hohe Anpassungsleistung bei gleichzeitigen Hinweisen auf eine Traumatisierung den größten Teil der Kinder,4 und auch aktuell sehen wir sehr viele Kinder, die sich schnell und scheinbar »unproblematisch« anpassen. Genau wie Selma gehörte Sanin zu den Kindern, die ich einmal mit sieben Jahren und einmal im Alter von zwölf Jahren interviewte. Zu beiden Zeitpunkten zeigten sich bei Sanin keine Hinweise auf Symptome, mit zwölf war er ein guter Schüler, sehr höflich und spielte gern mit Freunden Fußball. Hinweise darauf, wie ihn vor allem der Verlust seines Vaters, der wie bei Selma seit dem Massaker von Srebrenica als vermisst galt, innerlich 4 Siehe auch Lennertz (2011) und Lennertz (2016) für weitere Fallbeispiele aus dieser Gruppe.

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stark beschäftigte, ergaben sich in projektiven Verfahren, die ich zu beiden Untersuchungspunkten einsetzte: Beide Male beschäftigte sich Sanin jeweils intensiv mit der vorgegebenen »Vaterfigur«, während die ebenfalls vorhandene »Mutterfigur« fast vollständig ausgeblendet wurde. Real wuchs er allein bei seiner schwer traumatisierten Mutter und ohne sich an seinen Vater bewusst erinnern zu können auf. In beiden projektiven Verfahren (verwendet wurden die »MacArthur Story Stem Battery« und der »Schwarzfuß-Test«) sollte Sanin Geschichten entwickeln, worauf er sich gut einließ. Thematisch kreisten seine Erzählungen mit sieben Jahren stark um das nicht vorgegebene Thema Verlieren, Suchen und Wiederfinden. Dies wiederholte er oft und häufig, jedoch »unproduktiv«, also ohne dass das Motiv in etwas anderes überführt werden konnte oder eine Lösung vorkam: Der in diesem Fall immer wieder verlorene Ball wurde gefunden, ging aber wieder verloren, wurde wieder gesucht, wiedergefunden, wieder verloren usw. Es schien, als könne er dieses Thema nicht loslassen und auch nicht bewältigen – der Ball blieb weder verschwunden noch blieb er da, nachdem er wiedergefunden war. An der Szene beteiligt waren nur die Vater- und die Sohnfigur, was darauf hinweist, dass er sich unbewusst mit tatsächlich Erlebtem – dem verschwundenen Vater (vgl. im Folgenden) – beschäftigte. Mit zwölf Jahren entwickelte Sanin ein Narrativ, in dem eine Familie von außen bedroht und dadurch getrennt wird. Das »Kind« der Familie versucht sich an dem Aggressor zu rächen, hat dafür aber gar keine adäquaten Mittel. Schließlich spielt es der »Täterfigur« einen harmlos – im Kontext der Geschichte hilflos und verzweifelt – wirkenden Streich und tut ihm Marmelade in den Schuh. Das Kind strengt sich sehr an, aber es hat keine Chance. In Sanins Geschichte gab es keine unterstützenden Erwachsenenfiguren – oder wenigstens, wie bei einigen Kindern, die tröstende Vorstellung einer übermächtigen Phantasiefigur, die retten könnte. Das Kind geht in die Parentifizierung, bleibt aber »wirkungslos«, es kann nichts wiedergutmachen. Es fiel zudem auf, wie bei vielen anderen Kindern dieser Stichprobe, dass die Themen Traurigkeit und Weinen von ihm in einem Bindungsinterview fast vollständig ausgeblendet wurden, er konnte sich nicht erinnern, geweint zu haben. Wenn er Kummer oder Ärger habe, ziehe er sich in sein Zimmer zurück. Auch der Verlust seines Vaters würde ihn nicht traurig machen, da er nie an ihn denke. In das Bild einer unsicher-vermeindenden Bindungsstrategie passte zudem die Idealisierung seiner Beziehung zur Mutter: So betonte er zwar, er fühle sich von seiner Mutter unterstützt, gleichzeitig fielen ihm hierfür aber keine konkreten Beispiele ein. Einmal,

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als er auf dem Schulweg beklaut wurde, wollte sie ihm anschließend helfen und begleitete ihn daraufhin zur Schule. Sanin nahm dies jedoch nicht als Unterstützung wahr: Sie habe ihm nicht helfen und ihn auch nicht trösten können, »sie hatte doch selbst Angst«. Die Mutter schien genauso hilflos zu sein, wie das Kind. Die Angst der Mutter ist auch eines der wenigen Gefühle, das er im Laufe des Interviews überhaupt erwähnt und auf das er sich mehrfach bezieht: Die Mutter habe Angst, er könne sich verletzen, deshalb darf er nicht in der Schulmannschaft Fußball spielen. Ebenso sei sie ungern allein, sodass er – nach seinen Schilderungen klaglos – zum Beispiel darauf verzichtet, bei Freunden zu übernachten. Auch mache sie sich große Sorgen, wenn er sich mal etwas verspäte. Sanins Mutter gab an, seit dem Krieg und der Flucht sehr belastet zu sein und viele seelische und körperliche Probleme zu haben. Sie berichtete, dass ihr Mann seit dem Massaker von Srebrenica als vermisst gelte. Sie sei allein mit Sanin, ihrem einzigen Kind, als er zwei Jahre alt war, zunächst innerhalb Bosniens geflohen. Dort lebten sie unter sehr schwierigen Umständen als Binnenflüchtlinge in einer überfüllten Unterkunft, es gab Granatenbeschuss und nur sehr wenig Lebensmittel. Viele weitere männliche Verwandte der Familie wurden seit Srebrenica vermisst. Eine Schwester der Mutter wurde von serbischen Kämpfern verschleppt und sie habe ihr nicht helfen können. Als Sanin jünger war, habe er sehr häufig nach seinem Vater gefragt. Er habe nicht verstanden, warum sie ihm nicht sagen konnte, was mit ihm passiert sei. Oft habe er ihr vorgeworfen, sie wisse etwas und wolle es ihm nicht sagen und sei dann sehr sauer auf sie gewesen.

In Familienkonstellationen wie diesen – der Vater vermisst, die Mütter selbst oft schwer traumatisiert – schien die bindungsvermeidende Strategie und die hohe Anpassungsleistung der Kinder eine erhebliche stabilisierende Funktion zu haben. Indem Kinder wie Sanin ihre Gefühle und mögliche Konflikte eher unterdrücken oder versuchen allein zu bewältigen, konfrontieren sie die Mütter nicht mit der Belastungs- oder der Trauersituation, in der sich beide befinden. Sanin selbst schützt sich, nicht erleben zu müssen, dass seine Mutter vermutlich überfordert wäre, wenn er seine tatsächliche Belastung zeigen würde. Aufgrund ihrer eigenen gravierenden Belastung kann die Mutter wiederum keinen ausreichend schützenden Raum für den Sohn herstellen, in dem vielleicht eine Kommunikation und Trauer über den Vater möglich gewesen wäre.

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Beispiele für einen reflektierenden Umgang mit Trauma Denis, ein 13-jähriger Junge, wuchs in einer ähnlichen Familienkonstellation auf wie Sanin, auch seine Familie kam aus Srebrenica und er lebte mit seiner Mutter und einer älteren Schwester in Deutschland. Er erlebte seine Mutter als sehr unterstützend und hatte eine sichere Bindungsstrategie, konnte sich trösten lassen und auch schwierige Emotionen zulassen. Auch er hatte gute Leistungen in der Schule und verfügte über Freunde. Über seinen Vater sagte er mir, dass dieser verstorben sei. Ihre Mutter habe seiner Schwester und ihm vom Krieg erzählt und mit ihnen gemeinsam eine Dokumentation darüber geschaut. Alle zusammen seien schon mal in Bosnien gewesen. Streit gebe es allerdings darüber, ob sie zurückkehren sollen. Im Interview mit der Mutter überraschte es mich dann, dass auch sie von Phantasien berichtete, ihr Mann könne noch leben, da er wie die meisten Opfer zu dem damaligen Zeitpunkt offiziell als vermisst galt. Sie habe aber schon lange beschlossen, ihren Kindern zu sagen, dass der Vater tot sei, da sie auch wisse, dass dies wahrscheinlicher sei. In den Gesprächen mit Denis wurde auch deutlich, dass seine ältere Schwester für ihn eine wichtige, Halt gebende Rolle spielte und dies ihm vermutlich den Umgang mit seiner Lebenssituation erleichterte. Ähnlich offen kommunizierten Katarinas Eltern mit ihren Kindern, obwohl sie beide auch schwer durch den Krieg betroffen waren. Der Vater war zum Kämpfen gezwungen worden, es gelang ihm zu desertieren, aber im Anschluss unternahm er einen Suizidversuch, der erst im letzten Moment von der Mutter verhindert werden konnte. Die elfjährige Katarina zeigte viele Trennungsängste, hatte auch deutlich ausgedrückte Angst um ihre Eltern, fühlte sich aber zugleich von ihnen emotional unterstützt. Sie ermutigten sie zum Beispiel, trotz ihrer Ängste mit auf Klassenfahrt zu gehen, und halfen ihr, dies zu schaffen. Katarina hatte auch das Bedürfnis, immer etwas zu essen und zu trinken nachts neben ihrem Bett zu haben, auch wenn sie dies normalerweise nie anrührte, da der befürchtete Hunger nachts nicht auftrat. Die Eltern ließen sich – offenbar halb lächelnd, halb schmerzlich – auf dieses Ritual ein und konnten so bei aller Schwere Halt gebend sein. Die Angst nachts Hunger leiden zu können, bezogen sie auf den real erlebten Hunger. Die Mutter drückte aus, dass es sie betrübe, zu

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wissen, dass das Kind nicht unbeschadet geblieben sei, sie musste dies jedoch nicht abwehren oder verleugnen.

Abschließende Bemerkungen Die Fallbeispiele zeigen, wie unterschiedlich Entwicklungswege bei intergenerationalen Traumatisierungen verlaufen können und in welch enger Verknüpfung die Reaktionen der Kinder mit der Art der innerfamiliären Kommunikation stehen. In der hier notwendigen Kürze könnten die Darstellungen geradezu »klischeehaft« wirken, nach meinem Eindruck bestätigt sich eher das, was auch aus den Untersuchungen zu Überlebenden der Shoah und ihren Kindern bekannt ist (Kestenberg, 1982; Wiseman et al., 2002). Weiterhin gab es bei den bosnischen Flüchtlingsfamilien viele Hinweise auf sequenzielle Traumatisierungsprozesse, auf die ich hier nicht näher eingehen konnte. Beide Familien, von denen ich zuletzt berichtet habe, waren tatsächlich stärker sozial integriert – über die Kirch­ gemeinde und durch Berufstätigkeit. Ein wichtiger Unterschied war auch, dass die Eltern, wenn auch begrenzt, eine eigene Perspektive für ihr Leben entwickeln konnten. Dies ist wichtig für sie selbst, aber auch dafür, dass sie trotz der widrigen Lebensumstände ihre Elternrolle beibehalten oder wiedergewinnen können und so Folgen für die Kinder zumindest abgemildert werden. Ob Flüchtlinge nach der Flucht eine eigene Lebensperspektive entwickeln können, hängt unmittelbar mit ihrer sozialen Situation im Aufnahmeland zusammen und der Frage, welche Chancen den geflüchteten Menschen gegeben werden. Zu Beginn meines Beitrags habe ich mich kritisch zur Verwendung des Resilienzbegriffs im Kindesalter geäußert, da dieser meines Erachtens dazu führen kann, Traumafolgen zu übersehen. Professionelle und ehrenamtliche Helfer sind oft nachvollziehbar fasziniert davon, wie schnell und gut sich Flüchtlingskinder anpassen können, es erscheint mir deshalb wichtig darauf hinzuweisen, dass ein Kind mitunter auch zu schnell oder zu stark in die Anpassung und in die Progression gehen kann und dadurch verletzlicher wird. Oder aber, dass sich die Folgen erst nach Jahren zeigen können. Ein Zu-

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gang zu solchen zunächst weniger sichtbaren Traumafolgen bei den Kindern waren bei meinen Falldarstellungen projektive Verfahren, ein Bindungsinterview und die Beachtung von Gegenübertragungsprozessen. Letztere können sich auch Helfende in unterschiedlichen Kontexten zunutze machen, um ein Gespür für mögliche Vulnerabilitäten bei Flüchtlingskindern zu bekommen. Darüber hinaus ist es nicht nur für Helfende, sondern auch für die Betroffenen wichtig zu wissen, dass auch nach vielen Jahren gelungener Anpassung die »langen Schatten« noch sichtbar werden können.

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Die Autorinnen und Autoren

Munise Agca, M. A. Erziehungswissenschaften der Inönü Universität (Türkei), pädagogische Fachkraft (HIPPY-Koordinatorin), ist seit 2012 Mitarbeiterin der Projekte ERSTE SCHRITTE und »Jasmin – zwischen Traum und Trauma«. Rose Ahlheim, Dr. phil., war zehn Jahre lang Sonderschullehrerin und ist seit 1981 als analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis niedergelassen. Sie war lange Zeit Dozentin und Supervisorin am Frankfurter Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (jetzt Anna-Freud-Institut), seit 2009 am IaKJP Esther Bick in Berlin. Veröffentlichungen zu Technik der Kinder- und Jugendlichenpsychoanalyse und zur begleitenden Arbeit mit den Eltern. Simon Arnold, Dipl.-Psych., hat in Konstanz, Paris und Beer Sheva Psychologie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie studiert und arbeitet am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt a. M. Seine Forschungsinteressen umfassen Fragen der Forensik, hier insbesondere das pathologische Brandstiften, die Geschichte der Psychiatrie, Neurologie und Psychoanalyse sowie die Verbindung von Kritischer Theorie und Psychoanalyse. Ulrich Bahrke, PD Dr. med., ist Psychoanalytiker (DPV/IPA) und Lehranalytiker (DGPT), Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie/Psychiatrie. Bis 2007 war er Oberarzt an der Klinik für Psychotherapie und Psycho­ somatik der Universität Halle-Wittenberg und ist seitdem am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M.; 2010–2015 als Leiter der Institutsambulanz und Klinischer Leiter der LAC-Depressionsstudie. Seit 2013 arbeitet er als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

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Die Autorinnen und Autoren

(FMH) auch in eigener psychotherapeutisch-psychoanalytischer Praxis in Zürich. Werner Bohleber, Dr. phil., ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt a. M. Er ist Lehranalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) und war 2000–2002 deren Vorsitzender. Seit 1988 arbeitet er in der Redaktion und seit 1997 als Herausgeber von »Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Geschichte der Psychoanalyse; Adoleszenz und Identität; psychoanalytische Erforschung der nationalsozialistischen Vergangenheit; Fremdenhass und Antisemitismus; Traumaforschung; Terrorismus. Claudia Burkhardt-Mußmann ist analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis. Seit 2007 ist sie verantwortlich für die Konzeptualisierung, Umsetzung und fachliche Leitung des Präventions- und Migrations-Projekts ERSTE SCHRITTE, seit 2014 hat sie die fachliche Leitung des Folgeprojekts »Jasmin – zwischen Traum und Trauma« zur Unterstützung früher Mutterschaft von Flüchtlingen. Mareike Ernst, M. Sc. Psych., ist Mitarbeiterin und Doktorandin in der LAC-Depressionsstudie und in der Studie »RISE Borderline« des Bereichs Neuropsychoanalyse am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. Tamara Fischmann, Prof. Dr. rer. med., Psychoanalytikerin (DPV/ IPA), ist Professorin für Klinische Psychologie an der International Psychoanalytic University Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. Sie ist Leitende Methodikerin der psychoanalytisch-empirischen Forschung und der Traumforschung. Verschiedene Publikationen zu interdisziplinärer Forschung, u. a. zu Bioethik, Traumforschung, AttachmentTheorie, ADHS und neurowissenschaftlicher Forschung sowie zu bildgebenden Verfahren. Korinna Fritzemeyer, Dipl.-Psych., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt  a. M., Promotions-

Die Autorinnen und Autoren

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stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung, Doktorandin im ERSTES­ CHRITTE-Projekt und befindet sich in Ausbildung zur psychoanalytischen Psychotherapeutin am Berliner Psychoanalytischen Institut (DPV). Kurt Grünberg, Dr. phil., Dipl.-Psych., Dipl.-Päd., Psychoanalytiker (DPV, IPA), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-FreudInstitut Frankfurt a. M. und niedergelassen in eigener Praxis, Gründungsmitglied des »Treffpunkts für Überlebende der Shoah« in Frankfurt a. M. Er war wissenschaftlicher Leiter des Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrums Frankfurt a. M. für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Publikationen im Forschungsschwerpunkt Transgenerationale Traumatradierung im postnationalsozialistischen Deutschland, Szenisches Erinnern der Shoah. Stephan Hau, Prof. Dr. phil., Psychoanalytiker (IPA, SPAF), ist Professor für Klinische Psychologie am Institut für Psychologie der Universität Stockholm. Bis 2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. Forschungsaktivitäten zu Migration und Trauma, experimenteller Traum- und Gedächtnisforschung, Psychotherapieforschung und zur Psychotherapieausbildung. Nora Hettich, M. Sc. Psych., studierte Psychologie in Freiburg, Berlin und Nimwegen. Sie arbeitete in einer Erstaufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Ausländer und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. Dort koordiniert sie das Projekt STEP-BY-STEP, das sich mit der Unterstützung von Geflüchteten in einer Erstaufnahmeeinrichtung beschäftigt, und ist Promovendin im Bereich Trauma, Flucht und Migration. Vladimir Jović, Dr. med., ist Psychiater, Psychoanalytiker und Menschenrechtsaktivist. Seit 1993 arbeitet er in und mit unterschiedlichen Institutionen für die psychosoziale Unterstützung von Flüchtlingen. Er gehörte zu den Gründern des International Aid Network (IAN), dessen ausführender Direktor er von 2006 bis 2010 war. Das IAN ist spezialisiert auf die psychosoziale Hilfe von hochvulnerablen Gruppen (Flüchtlinge, Folteropfer, HIV/AIDS-Erkrankte, psy-

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Die Autorinnen und Autoren

chisch Kranke und Menschen mit Entwicklungsstörungen). Er ist seit Jahren als Forscher aktiv und hat etliche Veröffentlichungen zum Thema Flucht und Migration. Lisa Kallenbach, Dipl.-Psych., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. und in Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin am Frankfurter Psychoanalytischen Institut e. V. Suzanne Kaplan, Ph.D., ist Psychologin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Stockholm, hat ein Doktorat in Erziehungswissenschaften und ist Forschungsbeauftragte beim Programm für Holocaust- und Genozidforschung an der Universität von Uppsala. Sie hat langjährige Erfahrung in der Erforschung extremer Traumata bei Kindern in Verbindung mit Völkermord. Johannes Kaufhold, Dipl.-Psych., ist niedergelassener Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt a. M. und Mitarbeiter in der LAC-Depressionsstudie am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. Sein Forschungsschwerpunkt ist Psychotherapieprozessforschung. Ilany Kogan, M. A., Ph. D., ist Lehranalytikerin der Israelischen Psychoanalytischen Gesellschaft, Supervisorin in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf, in der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP) und am Psychotherapeutischen Zentrum für Kinder- und Jugendliche in Bukarest sowie Supervisorin an der IPA Psychoanalytic Group in Istanbul. Sie hat intensive Forschungen zu den Nachkommen der Holocaust-Überlebenden betrieben. Sie ist weltweit als Vortragende, als Supervisorin und in der Ausbildung tätig und arbeitet in Tel Aviv in privater Praxis. Judith Lebiger-Vogel, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. und wissenschaftliche Projektleiterin im ERSTE-SCHRITTE-Projekt; zurzeit in psychoanalytischer Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut (DPV).

Die Autorinnen und Autoren

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Ilka Lennertz, Dr. phil., Psychologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik des Universitätsklinikums Dresden. Sie hat in psychoanalytischer Psychologie zur Erfahrungsverarbeitung bosnischer Flüchtlingskinder promoviert. Ein Fokus ihrer Arbeit liegt in der empirischen Bindungsforschung. Marianne Leuzinger-Bohleber, Prof. Dr. phil., Lehranalytikerin (DPV), war Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt a. M. und Professorin für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der klinischen und empirischen Forschung in der Psychoanalyse, der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie sowie zum interdisziplinären Dialog zwischen Psychoanalyse und den Nachbarwissenschaften (Cognitive Science, Neurowissenschaften, Literaturwissenschaften). Weiterhin war und ist sie verantwortlich für mehrere große Forschungsprojekte in den Feldern psychoanalytische Psychotherapieforschung und Frühprävention. Lea Lochmann, B. A. Erziehungswissenschaften, ist seit 2012 Mitarbeiterin der Projekte ERSTE SCHRITTE und »Jasmin – zwischen Traum und Trauma«. Zurzeit befindet sie sich im Masterstudiengang Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt a. M. Friedrich Markert, Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin sowie Psychoanalytiker (DPV, IPA) und Gruppenanalytiker (SGAZ, Zürich), niedergelassen in eigener Praxis, Gastwissenschaftler am SigmundFreud-Institut Frankfurt a. M. Von 2008 bis 2015 war er in der gruppenanalytischen Ausbildung chinesischer Kolleginnen und Kollegen am Shanghai Mental Health Center, China tätig. Patrick Meurs ist Professor an der University of Louvain/Leuven (KUL) sowie an der Odisee Highschool University of Brussels (HUB), Belgien. Er ist Ko-Autor des kultursensiblen Frühpräventionsprogramms FIRST STEPS für Familien mit Migrationshintergrund und ihre Kinder in Belgien. Er ist Klinischer Psychologe und psychoanalytischer Kindertherapeut mit Praxis im ambulanten The-

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Die Autorinnen und Autoren

rapiezentrum der Faculty of Psychology and Educational Sciences der KUL. Alexa Negele, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist Psychoanalytikerin (DPV/ IPA; DGPT), Psychologische Psychotherapeutin und Übersetzerin. Sie ist niedergelassen in eigener Praxis in Frankfurt a. M. und arbeitet seit 2010 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am SigmundFreud-Institut Frankfurt a. M. Constanze Rickmeyer, Dipl.-Psych., befindet sich in psychoanalytischer Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut (DPV). Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am SigmundFreud-Institut in Frankfurt a. M. und promoviert im Rahmen des ERSTE-SCHRITTE-Projekts. Mariam Tahiri, Dipl.-Pol., ist seit 2015 in der DRK-Erstaufnahmeeinrichtung Michalisdorf in Darmstadt im Bereich des Sozialdienstes tätig. Seit Juni 2016 ist sie Koordinatorin des Projektes STEP-BYSTEP und derzeit Promovendin im Fachbereich der Politikwissenschaft im Rahmen des STEP-BY-STEP-Projektes. Sverre Varvin, MD, PhD, ist Lehranalytiker und Supervisor der Norwegischen Psychoanalytischen Gesellschaft und hat eine Professur in Oslo und am Akershus University College.