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German Pages 422 Year 2010
Stephan Schmid Finalursachen in der frühen Neuzeit
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 99
De Gruyter
Finalursachen in der frühen Neuzeit Eine Untersuchung der Transformation teleologischer Erklärungen von
Stephan Schmid
De Gruyter
ISBN 978-3-11-024665-0 e-ISBN 978-3-11-024666-7 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Schmid, Stephan. Finalursachen in der frühen Neuzeit : eine Untersuchung der Transformation teleologischer Erklärungen / von Stephan Schmid. p. cm. − (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142 ; Bd. 99) Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-024665-0 (hardcover : alk. paper) 1. Teleology − History. 2. Philosophy, Modern. I. Title. BD543.S34 2011 124.09−dc22 2010042721
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für A. & B. & L.
Vorwort Diese Arbeit handelt nicht nur von Zwecken, sondern diente ursprünglich selbst einem solchen: Sie wurde im Oktober 2009 als Dissertationsschrift an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht und im Februar 2010 erfolgreich verteidigt. Im Oktober desselben Jahres wurde sie mit dem Humboldt-Preis ausgezeichnet. Meine Hoffnung ist jedoch, dass diese Arbeit nach Erfüllung dieses persönlichen Zwecks der akademischen Qualifikation (zumindest in der hier vorliegenden, überarbeiteten und gestrafften Version) auch philosophischen Zwecken dienen kann. Besonders zwei liegen mir am Herzen. Der erste ist inhaltlicher Natur und besteht darin, dass ich den weit verbreiteten philosophie-historischen Gemeinplatz korrigieren möchte, dem zufolge naturteleologische Erklärungen erst in der frühen Neuzeit aufgrund der Ablehnung des aristotelischen Weltbildes problematisch wurden. Der zweite Zweck, den ich mit diesem Buch verfolge, ist methodischer Natur: Die hier behandelten historischen Autoren sollen in erster Linie als Philosophen ernst genommen werden, die mit nachvollziehbaren Gründen für ihre Thesen argumentieren. Entsprechend bemühe ich mich darum, ihre Ansichten in einem heute verständlichen Vokabular auf systematische Weise zu rekonstruieren, so dass sie sich auch einer nicht ausschließlich historisch interessierten Philosophin erschließen. Erst so können wir etwas genuin Philosophisches aus der Philosophiegeschichte lernen und das historische Wissen für aktuelle Debatten wach halten. Auch wenn ich mir diese Ziele dieser Arbeit selbst gesteckt habe, so ist mir doch jeder einzelne Schritt in die Richtung dieser Ziele nur möglich gewesen, weil ich in den vergangenen Jahren die bestmögliche Förderung und Unterstützung genossen habe: Nachdem mir schon in einer prägenden Gymnasialzeit und während meines Studiums als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie eine Menge Raum, Rat und Vertrauen für mein Nachdenken geschenkt wurde, konnte ich insbesondere die letzten drei Jahre in einem philosophischen und sozialen Umfeld verbringen, das man sich produktiver und anregender nicht wünschen kann. Als Stipendiat und Mitglied des Leibniz-Preis-Forschungsprojekts „Transformationen des Geistes – Philosophische Psychologie 1500-1750“ hatte ich an zahlreichen Workshops, Tagungen und Colloquien die Gelegenheit, eigene Arbeiten vorzustellen, über andere Arbeiten zu diskutieren
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Vorwort
und mit vielen Gästen, Mitarbeitern und Studierenden erhellende und stimulierende Gespräche zu führen. Davon habe ich ungemein profitiert und dafür möchte ich mich an dieser Stelle ganz offiziell und herzlich bedanken. Nicht zuletzt auch für das großzügige Stipendium, das es mir ermöglichte, mich ohne finanzielle Sorgen ganz auf die Philosophie einzulassen. Ohne die vielen Personen, die mich in den letzten Jahren auf so vielfältige Weise begleitet, unterstützt, motiviert und manchmal auch kritisiert haben, läge die vorliegende Arbeit schlicht nicht vor. Um erst gar niemanden zu vergessen, und weil mir diskrete Dankbarkeit mehr behagt als lange Listen, verzichte ich darauf, hier Namen zu nennen. Ich bin mir sicher, dass die hier Angesprochenen um ihr Angesprochensein wissen. – All ihnen sei in ihrer und für ihre Funktion als Freund, Familienmitglied, Kritiker, Betreuer, Gesprächspartner, Förderer, Korrekturleser und ab und an auch als Zerstreuer gedankt. Und darüber hinaus. Berlin im Oktober 2010
Stephan Schmid
Inhalt
Hinweise zur Übersetzung und Zitierweise............................................XII Zu den Übersetzungen......................................................................XII Zur Zitierweise .................................................................................XII Einleitung ................................................................................................1 Teleologische Erklärungen: Probleme und Unterscheidungen..............3 Herausforderungen der historischen Teleologiediskussion..................17 Methodische Vorbemerkung .............................................................27 Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache..............35 Thomas’ aristotelische Bewegungstheorie und Kausalitätskonzeption ........................................................................38 Finalursachen: ihr Primat und ihre Ubiquität ....................................46 Thomas’ dispositionale Kausalitätstheorie..........................................58 Dispositionen und Intentionalität......................................................68 Finalursachen, das Gute und die Modalität........................................77 Finalursachen und Erkenntnis ...........................................................91 Schlussbemerkungen........................................................................101 Kapitel II: Francisco Suárez und das Problem der Finalursache ............107 Die Influxus-Theorie und das Paradigma der Wirkverursachung......109 Das konkrete Kausalitätsverständnis und die Schöpfung ..................115 Finalursachen und die Theorie der motio metaphorica ......................121 Natur, Gott und Finalursachen........................................................136 Teleologie, Exemplar- und Finalursachen ........................................142 Theo-teleologische Probleme ...........................................................145 Schlussbemerkungen........................................................................157 Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse ............163 Die neue Physik und die Zurückweisung des Aristotelismus ............165 Descartes’ Kritik an Finalursachen ...................................................179
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Inhalt
Teleologie und Kausalanalyse...........................................................187 Dispositionen und Funktionen ........................................................198 Die immanente Funktionalität des menschlichen Körpers ...............206 Schlussbemerkungen........................................................................223 Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben ...........................229 Spinozas Kritik an den Finalursachen ..............................................232 Spinozas Handlungsteleologie..........................................................241 Der conatus und Descartes’ Naturphilosophie ..................................252 Spinozas Naturphilosophie ..............................................................265 Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie...................................277 Schlussbemerkungen........................................................................295 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache.........................................................................................301 Die mechanistische Physik und die Probleme der Bewegung und Einheit.............................................................................................303 Der Hylemorphismus und die Begründung der Physik ....................314 Aktivität und Finalursachen.............................................................323 Wirkursachen und Finalursachen.....................................................329 Finalursachen als Tätigkeitsdispositionen.........................................339 Finalursachen, Rationalität und Kontingenz ....................................347 Schlussbemerkungen........................................................................358 Schluss: Die Transformation naturteleologischer Erklärungen..............363 Anhang ................................................................................................385 Teleologie-konzeptionelle Positionen...............................................385 Die Intension und Extension naturteleologischer Erklärungen.........388 Literatur...............................................................................................389 Sigeln und Übersetzungen ...............................................................389 Literatur vor 1800 ...........................................................................392 Literatur nach 1800 .........................................................................393 Register................................................................................................405 Namensregister................................................................................405 Sachregister......................................................................................408
Hinweise zur Übersetzung und Zitierweise Zu den Übersetzungen Passagen aus der untersuchten Primärliteratur tauchen im Fließtext durchgängig in deutscher Übersetzung auf. Zitate aus der Sekundärliteratur sind nur übersetzt, falls sie direkt in den Fließtext eingebunden sind, und nicht in eingerücktem Format erscheinen. Die Übersetzungen der Sekundärliteratur stammen durchgängig von mir. Wo gute Übersetzungen der zitierten Primärliteratur verfügbar sind, habe ich diese größtenteils unter Anpassung an die neue Rechtschreibung übernommen. Modifikationen der Übersetzungen sind gekennzeichnet. Die Übersetzungen, an denen ich mich dabei orientiert habe, sind im Sigelnverzeichnis aufgeführt, das sich im Literaturverzeichnis findet. Wenn keine Übersetzungen genannt sind, stammen die Übersetzungen von mir. Da insbesondere die von mir verwendeten Texte von Thomas von Aquin nur unzureichend und die von Francisco Suárez gar nicht ins Deutsche übertragen worden sind, werde ich im Anschluss an Zitate dieser Autoren, die im Fließtext erscheinen, den lateinischen Originaltext in Fußnoten anführen. Bei den besser erschlossenen Autoren Descartes, Spinoza und Leibniz werde ich das aus Platzgründen nur in Ausnahmefällen tun. Das erscheint mir legitim, da ihre Texte weiter verbreitet und besser zugänglich sind. Auslassungen markiere ich mit Hilfe eckiger Klammern „[…]“, während ergänzte Passagen durch spitze Klammern „‹…›“ symbolisiert sind.
Zur Zitierweise Im Folgenden werde ich immer wieder auf klassische Texte Bezug nehmen. Um diese Bezüge so übersichtlich und ökonomisch wie möglich zu gestalten, arbeite ich mit Sigeln, die zu Beginn des Literaturverzeichnisses auf S. 389ff. aufgeführt sind. Im Übrigen zitiere ich moderne Autoren (die nach 1800 geboren sind) durch Nennung ihres Nachnamens verbunden mit der Jahreszahl, in dem ihr Text erschienen ist. Die genauen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Verweise auf ältere Autoren, die nicht zu den Protagonisten dieser
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Hinweise zur Übersetzung und Zitierweise
Studie gehören, weise ich im Allgemeinen mit Hilfe von Kurztiteln aus. Die genauen bibliographischen Angaben finden sich ebenfalls im Literaturverzeichnis.
Einleitung Immer wieder erklären wir Phänomene in Bezug auf Ziele oder Zwecke und halten dies für ebenso selbstverständlich wie unproblematisch. Warum putzt man sich vor dem Schlafengehen die Zähne? Um Karies zu verhindern. – Warum senkt die Notenbank in Wirtschaftskrisen die Zinsen? Um die Wirtschaft anzukurbeln. – Warum haben Wanderschuhe gestützte Fersen und gefurchte Sohlen? Damit Wanderer darin guten Halt finden. – Warum fliegen Störche im Herbst nach Afrika? Um dort zu überwintern und den kalten Temperaturen in Europa auszuweichen. – Warum haben Fische Kiemen? Damit sie Sauerstoff aus dem Wasser gewinnen können. Die Liste solcher Erklärungen könnte man leicht fortsetzen. Doch nicht beliebig weit. Irgendwann stieße man auf Phänomene, die im Rekurs auf Zwecke zu erklären, seltsam anmutet: Warum fällt ein Stein zu Boden, wenn man ihn fallen lässt? Um näher bei der Erde zu sein. – Warum ist das Meer salzig? Damit Makrelen und andere Salzwasserfische darin leben können. Hier scheinen Zweckerklärungen unangebracht. Diese Beobachtung provoziert die Frage, woran es genau liegt, dass wir es in Bezug auf einige Phänomene für angemessen halten, diese mit Hilfe eines Ziels oder Zwecks zu erklären, in Bezug auf andere hingegen nicht. Was haben die einen, was die andern nicht haben? Eine nahe liegende, aber kaum aufschlussreiche Antwort lautet: Ziele, Funktionen oder Zwecke. Nur weil Kiemen tatsächlich den Zweck oder die Funktion haben, Fischen den Sauerstoffgewinn zu ermöglichen, lässt sich ihre Existenz mit Rekurs auf diesen Zweck erklären. Genauso lässt sich die Zinssenkung der Notenbank durch die Angabe des Ziels der Konjunktursteigerung erklären, weil die Verantwortlichen die Zinssenkung genau zu diesem Zweck veranlassen. Das scheint in den letzten Fällen anders: Steine verfolgen keine Zwecke, wenn sie zu Boden fallen, sondern folgen dabei allein Naturgesetzen, und auch das Meer ist nicht aufgrund irgendwelcher dubiosen Zwecke salzig, sondern aufgrund des Umstandes, dass Steine Salze enthalten, die vom Wasser gelöst und ins Meer gespült werden. Allerdings erscheint es unbefriedigend, die Frage nach der Angemessenheit von Ziel- oder Zweckerklärungen in Bezug auf das Vorhandensein von Zielen und Zwecken zu beantworten. Damit wird das Problem nur verschoben. Nun stellt sich die Frage, woran es liegt, dass einige Phänomene im Gegensatz zu andern Ziele und Zwecke haben. Das Fehlen von
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Einleitung
Zwecken mit Rekurs darauf zu erklären, dass es unter Naturgesetze fällt – wie in der eben skizzierten Ausführung bezüglich des ziellosen Fallens von Steinen und des zwecklosen Salzgehalts der Meere –, erscheint kaum hilfreich, Schließlich ist es auch für Phänomene, die man mit Bezug auf Zwecke erklärt, eminent wichtig, dass sie unter Naturgesetze fallen: Damit Störche in den Süden fliegen können, müssen gewisse aerodynamische Gesetze gelten, und Zähneputzen wäre gar zwecklos, wenn es keine chemischen Regularitäten gäbe, aufgrund derer Zähne durch Zahnpasta von ihren Bakterien gereinigt werden könnten. Der erste Versuch, dem Problem von Zielen oder Zwecken auf negative Weise beizukommen – indem man sagt, warum etwas keine Zwecke hat –, ist somit gescheitert. Man könnte einen positiven Versuch wagen und argumentieren, Zielund Zweckerklärungen seien nur dort angemessen, wo Menschen gewisse Dinge aufgrund bestimmter Absichten und Überzeugungen tun. So putzt man sich nur deshalb die Zähne zur Kariesprophylaxe, weil man Zahnschmerzen vermeiden will und weiß, dass Zähneputzen ein adäquates Mittel dazu ist. Ganz ähnlich senken die Verantwortlichen der Notenbank in Wirtschaftskrisen nur deshalb die Zinsen, weil sie aufgrund anerkannter ökonomischer Theorien glauben, dass dies zum Wirtschaftsaufschwung führt, den sie für ein allgemeines Gut halten. Ziele und Zwecke sind diesem Vorschlag zufolge einfach die Absichten, die Menschen (oder allgemeiner: rationale Wesen) in ihren Tätigkeiten verfolgen. Das offensichtliche Problem dieses Vorschlags besteht darin, dass er nicht allen Fällen von Ziel- und Zweckerklärungen gerecht wird, die wir intuitiv für plausibel halten. So möchte man kaum behaupten, dass Störche bewusst und absichtlich im Herbst nach Süden ziehen, um dort zu überwintern. Das tun sie vielmehr instinktiv. Zudem fragt man sich, wessen Absichten wohl für die Funktionalität von Kiemen verantwortlich sein sollen. Es ist also letztlich ziemlich unklar, woran es genau liegt, dass uns in einigen Fällen Zweckerklärungen angebracht und legitim erscheinen, in andern jedoch nicht. Was zunächst so unproblematisch und selbstverständlich wirkte, erscheint plötzlich rätselhaft und verwirrend. Das ist das beste Anzeichen dafür, dass man auf ein philosophisches Problem gestoßen ist: Was meinen und tun wir eigentlich genau, wenn wir gewisse Dinge mit Bezug auf Ziele oder Zwecke erklären? Mit diesem Problem befasst sich diese Arbeit, und das macht sie zu einer philosophischen. Darüber hinaus hat diese Arbeit aber auch einen historischen Anspruch. Entsprechend geht es hier nicht darum, was wir – d.h. einigermaßen aufgeklärte Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts – unter Ziel- und Zweck-Erklärungen verstehen (sollten), sondern darum, was Thomas von Aquin (1225-1274), Francisco Suárez (1548–1617), René Descartes (1596-1650), Baruch de Spinoza (1632-1677) und Gott-
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fried Wilhelm Leibniz (1646-1716) unter solchen Erklärungen verstanden haben. Insofern es sich hier um eine philosophie-historische Arbeit handelt, sollen die angeführten Autoren so weit wie möglich als argumentierende Philosophen rekonstruiert und ernst genommen werden. Dafür ist es hilfreich, zunächst einige systematische Gedanken zu Zweckerklärungen anzustellen. Denn die Aussagen der hier untersuchten historischen Texte lassen sich nur dann als Antworten auf ein bestimmtes systematisches Problem verstehen und schätzen, wenn man einen Überblick über das Problem besitzt, ausgehend von dem man weiß, was überhaupt als Antwort auf dieses Problem zählen kann. Deshalb werde ich im ersten Abschnitt dieser Einleitung das Problem von Ziel- oder Zweckerklärungen genauer vorstellen, indem ich einige unterschiedliche systematische Antwortoptionen auf dieses Problem skizziere. Das dient gleichzeitig dazu, ein begriffliches Instrumentarium zu erarbeiten, mit dessen Hilfe ich in den folgenden Kapiteln die Theorien der jeweils behandelten Autoren rekonstruieren und evaluieren werde. Im zweiten Abschnitt gilt es dem historischen Anliegen dieser Arbeit Rechnung zu tragen, und auf einige geschichtliche Eigenheiten der hier behandelten Autoren aufmerksam zu machen. Da viele dieser Philosophen von (aristotelischen) Grundannahmen ausgegangen sind, die heute befremdlich wirken, ist es für das Verständnis ihrer Auffassung von Zweckerklärungen hilfreich, eine Reihe dieser Grundannahmen zu explizieren und auf Differenzen zu dem hinzuweisen, was heute viele für selbstverständlich halten. Bei dieser Gelegenheit werde ich zudem einen kurzen Überblick über die hier erarbeiteten Ergebnisse geben. Wie sich bereits vermuten lässt, wirft der philosophiehistorische Anspruch dieser Arbeit aber auch methodische Probleme auf: Ist die Absicht, den hier ausgewählten Autoren historisch gerecht zu werden, überhaupt damit vereinbar, ihre Ansichten vor dem Hintergrund zeitgenössischer analytischer Philosophie zu rekonstruieren? Warum konzentriere ich mich gerade auf die eben vorgestellten fünf Autoren, und nicht auf andere? Und was ist letztlich überhaupt Ziel und Zweck dieser Arbeit? Diese Probleme sind ernst zu nehmen und anzugehen. Das werde ich im dritten und letzten Abschnitt dieser Einleitung tun.
Teleologische Erklärungen: Probleme und Unterscheidungen Was sind Ziel- und Zweckerklärungen genau? Und wie funktionieren sie? Um mögliche Antworten auf diese Fragen herauszuarbeiten, lohnt es sich, die obigen Beispiele nochmals aufzunehmen:
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Einleitung
(1) Vor dem Schlafengehen putzt man sich die Zähne, um Karies zu verhindern. (2) Die Notenbank senkt in Wirtschaftskrisen die Zinsen, um die Wirtschaft anzukurbeln. (3) Wanderschuhe haben gestützte Fersen und gefurchte Sohlen, damit Wanderer darin guten Halt finden. (4) Störche fliegen im Herbst nach Afrika, um dort zu überwintern und den kalten Temperaturen in Europa auszuweichen. (5) Fische haben Kiemen, damit sie Sauerstoff aus dem Wasser gewinnen können. (6) Steine fallen zu Boden, um näher bei der Erde zu sein. (7) Das Meer ist salzig, damit Makrelen und andere Salzwasserfische darin leben können. Diese Beispiele lassen sich bezüglich mehrerer Hinsichten klassifizieren. Zunächst fällt auf, dass in den Sätzen (1) bis (7) Phänomene aus drei verschiedenen Bereichen erklärt werden. So handeln die ersten drei Beispiele von Fällen, an denen rationale Personen beteiligt sind, die über kognitive Vermögen verfügen, während die Beispiele (4) und (5) Lebendiges und die Sätze (6) und (7) gar schlicht Materielles zum Gegenstand haben. Darüber hinaus lassen sich die erklärten Phänomene aus den verschiedenen Bereichen in zwei Arten unterteilen: In den Beispielen (1), (2), (4) und (6) werden Tätigkeiten oder Prozesse erklärt, wogegen die Beispiele (3), (5) und (7) von Merkmalen oder Beschaffenheiten von Dingen handeln.1 Schließlich sticht hervor, dass sich die obigen Beispielsätze auf zwei Sorten von Zielen oder Zwecken beziehen. So sind die in (1), (4) und (5) angeführten Ziele oder Zwecke Ziele der infrage stehenden Dinge selbst, während das in (3) klarerweise nicht der Fall ist: Die gestützten Fersen und gefurchten Sohlen dienen nicht dem Wanderschuh selbst, sondern dem Wanderer, der sie trägt. Dagegen dient etwa die in (5) angesprochene Sauerstoffversorgung, zu der Kiemen beitragen, dem Fisch, der Kiemen hat, und damit letztlich auch den Kiemen selbst, die diese Funktion ausüben. Diese verschiedenen Klassifikationsmöglichkeiten von Zweckerklärungen provoziert die Frage, wie sich diese unterschiedlichen Fälle zuein-
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Man könnte versuchen, ausgehend von diesen beiden Phänomentypen eine terminologische Unterscheidung zwischen den Wörtern „Ziel“ und „Zweck“ vorzunehmen, und argumentieren, dass Zwecke Einrichtungen zukommen – und zwar genau dann, wenn sie zweckmäßig eingerichtet sind –, und Ziele in Tätigkeiten verfolgt werden. Da wir aber häufig auch anders sprechen (und etwa sagen, es sei zwecklos oder zweckmäßig, gewisse Dinge zu tun), werde ich nicht für eine solche Unterscheidung plädieren, sondern von Fall zu Fall deutlich machen, worum es mir geht.
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ander verhalten: Funktionieren Zweckerklärungen in allen Fällen prinzipiell gleich, oder muss hier differenziert werden? Sind einige der unterschiedenen Fälle gegenüber den anderen vorrangig – etwa in dem Sinne, dass die einen auf die anderen zurückgeführt werden können? Gehen wir zunächst auf die Beobachtung ein, dass prinzipiell zwei Arten von Phänomenen – nämlich Merkmale und Tätigkeiten – Gegenstand von Zweckerklärungen sein können. Genießt hier eine Art von Phänomen einen Vorrang gegenüber der anderen? Beide möglichen Optionen scheinen plausibel: Man könnte etwa sagen, dass Merkmale nur insofern zweckmäßig sind, als sie zu zweckmäßigen Tätigkeiten befähigen; oder aber gerade umgekehrt, dass es nur dann zweckmäßige Tätigkeiten geben kann, wenn die Dinge über Merkmale verfügen, die ihnen die Ausübung dieser Tätigkeiten erlauben. Die Zweckmäßigkeit von Merkmalen und Tätigkeiten erscheinen damit in einem engen Wechselverhältnis zu stehen, so dass es müßig erscheint, sich für die Priorität des einen vor dem andern entscheiden zu wollen. Vielmehr scheint es sich hier um zwei Seiten einer Medaille zu handeln: Zweckmäßige Tätigkeiten kann es nur geben, wenn diese aufgrund irgendwelcher Merkmale oder Beschaffenheiten von Dingen auch ausgeübt werden können, und zweckmäßige Merkmale sind nur insofern zweckmäßig, als sie zur Ausübung zweckmäßiger Tätigkeiten beitragen. Auch wenn sich mit dieser Überlegung keine Priorität zwischen zweckmäßigen Tätigkeiten und Merkmalen ausmachen lässt, wirft sie doch Licht auf die Art von Merkmalen, die mit Bezug auf Zwecke erklärt werden können: Insofern Merkmale nur dann mit Bezug auf Zwecke erklärt werden können, als sie zu gewissen Tätigkeiten befähigen, können nur so genannte dispositionale Merkmale als zweckmäßig beurteilt werden. Das sind solche, die einen kausalen Beitrag zu der Ausübung einer Tätigkeit leisten können. Es wird deshalb kaum verwundern, dass wir im Laufe dieser Studie immer wieder auf Dispositionen treffen werden. Kommen wir nun zum ersten beobachteten Unterschied zwischen den angeführten Beispielen, demzufolge die verschiedenen Sätze von disparaten Bereichen handeln. Sind die Zweckerklärungen dieser verschiedenen Bereiche einheitlich zu verstehen? In der zeitgenössischen Debatte haben eine Reihe von Autoren dafür plädiert, sorgfältig zwischen den Fällen zu unterscheiden, bei denen offensichtlich Absichten rationaler Personen involviert sind (wie in den Fällen (1) und (2)), und solchen, bei denen das nicht der Fall ist (wie in den Beispielen (4) und (6)).2 So erfolge die teleo-
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Vgl. Toepfer 2004, 4f., 425-427, Sehon 2005, 151-153, und von Wright 1971, 83-89. Von den hier behandelten Autoren ist Suárez am deutlichsten für eine solche Unterscheidung eingetreten, wie im Kapitel II deutlich werden wird. E. Mayr
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Einleitung
logische Erklärung intentionaler Handlungen aufgrund von Rationalitätserwägungen, in denen Wertvorstellungen, allgemeine Charakterzüge und damit verbundene Absichten der handelnden Personen eine entscheidende Rolle spielten. Dagegen beruhe die teleologische Beschreibung natürlicher Phänomene (je nach Theorie) auf holistischen Selbstorganisationsund/oder evolutionsbiologisch spezifizierbaren Prozessen.3 Diese Differenzierung zwischen verschiedenen Zweckerklärungen geht in der Literatur leider mit einer terminologischen Schwierigkeit einher, die es hier zu klären gilt, um nicht über unnötige sprachliche Hürden zu stolpern. Nachdem festgestellt wurde, dass nicht alle Sätze, welche wie die obigen Beispiele die grammatikalische Form von Finalsätzen aufweisen, auf die gleiche Weise zu analysieren sind, gehen viele Autoren dazu über, Sätze der einen Analyse mit dem Prädikat „teleologisch“ vor den anderen auszuzeichnen. Aber leider nicht einheitlich. So meinen etwa Scott Sehon und Georg-Henrik von Wright, echte teleologische Erklärungen fänden sich nur in Handlungserklärungen, während Toepfer anführt, ‚Teleologie’ bezeichne ursprünglich die Lehre der Naturzwecke, und habe deshalb nichts mit Handlungsintentionalität zu tun.4 Diese terminologischen Schwierigkeiten, die sich um den Begriff der Teleologie ranken, sind zwar bedauerlich oder gar ärgerlich, aber aufgrund der Entstehungsgeschichte dieses Begriffs nicht weiter erstaunlich: Obschon man mindestens seit Platon über teleologische Erklärungen und Redeweisen nachgedacht hat, taucht das philosophische Kunstwort „Teleologie“ als Bezeichnung für die Lehre dieser Zwecke verhältnismäßig spät auf. Erst 1728 schuf Christian Wolff diesen Namen zur Bezeichnung jenes Teils der Naturphilosophie, der sich mit der Untersuchung natürlicher Zwecke befasst.5 Doch Wolff systematisierte die Naturphilosophie nicht nur, sondern vertrat selbst substantielle naturphilosophische Thesen. Insbesondere in dem Bereich, den er Teleologie nannte. Hier meinte er, die Naturzwecke, welche die Teleologie untersuche, seien nichts anderes als Gottes Absichten.6 Beim Wort-
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1992, 121f. und 124-135, meint sogar, man solle verschiedene Formen der Naturteleologie unterscheiden. Einen Überblick über die verschiedenen Theorien funktionaler oder teleologischer Erklärungen in der Biologie geben Godfrey-Smith 1994 und Buller 1998; eine umfassende Diskussion liefert Toepfer 2004, 108-319. Für Belege siehe Anm. 2. Wolff schreibt in seiner Philosophia rationalis sive Logica, I.3, §85, 38: „philosophiae naturalis pars quae finis rerum explicat, nomine adhuc destituta, etsi amplissima sit et utilitissima. Dici posset Teleologia.“ Einen Überblick über die Begriffsgeschichte des Teleologiebegriffs gibt Busche 1998. In Vernünftige Gedanken von den Absichten der natürlichen Dinge (1726), I §1, 1f., meint Wolff: „Gleichwie die Absicht überhaupt alles dasjenige genennet wird,
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schöpfer der Teleologie fallen so Naturzwecke und göttliche Absichten zusammen. Mit dieser Theorie schloss sich Wolff einer Konzeption von Zweckerklärungen an, die in der frühen Neuzeit vorherrschend war. Dank dieses vielleicht etwas unglücklichen historisch kontingenten Umstandes können sich heute nun sowohl jene auf Wolff berufen, die unter teleologischen Erklärungen allein solche verstehen wollen, die sich auf Absichten beziehen, als auch jene, die meinen, echte Teleologie gäbe es nur im Bereich natürlicher Phänomene. Die Begriffsgeschichte des Ausdrucks „Teleologie“ macht auch verständlich, warum dieser Ausdruck in der zeitgenössischen Philosophie der Biologie ein Reizwort ist.7 Da Wolff als Erfinder der „Teleologie“ diesen Ausdruck mit einem traditionell theistischen Verständnis von (natürlicher) Zweckmäßigkeit verband, ist dieser Ausdruck oft religiös konnotiert. Aus diesem Grund halten es einige für problematisch, wenn man Erklärungen einer aufgeklärt säkularen Wissenschaft, in denen Funktionen und Zwecke eine entscheidende Rolle spielen, ernsthaft teleologisch nennt, obwohl man sich dabei in keiner Weise auf Gottes Absichten bezieht.8 Angesichts dieses terminologischen Minenfelds scheint es unangebracht, den richtigen Gebrauch des Wortes „Teleologie“ herausstellen zu wollen. Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich deshalb zumindest die Regeln explizieren, nach denen ich in dieser Arbeit die Worte „Teleologie“ und „teleologisch“ verwende. Das Adjektiv „teleologisch“ wende ich im Folgenden primär auf Sätze an, die eine finale grammatische Struktur aufweisen, in denen also typischerweise Finalsätze vorkommen, die mit Konjunktionen wie „damit“, „um … zu“, „um … willen“ usw. eingeleitet werden, und in denen auf Ziele und Zwecke Bezug genommen wird. Dabei setze ich voraus, dass wir ein hinreichend klares (zumindest implizites) Verständnis davon haben, was Ziele und Zwecke sind. Dieses Verständnis zeigt sich insbesondere in unserer Kompetenz, zwischen Final- und Konsekutivsätzen zu unterscheiden. In Konsekutivsätzen werden
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was ein vernünftiges und freies Wesen durch dasjenige, was es will oder begehret, zu erhalten gedenket, so können wir auch durch die Absicht der natürlichen Dinge nichts anders als dasjenige verstehen, was Gott dadurch zu erhalten gedacht, indem er sie hervorzubringen beschlossen.“ Vgl. etwa Mayr 1992, 122. Dies hat zu erbitterten Debatten geführt, die aber kaum über einen Streit um Worte hinausgehen. Vgl. dazu etwa die Lennox-Ghiselin-Debatte darüber, ob Darwin die natürliche Teleologie nun rehabilitiert oder ihr endgültig den Garaus gemacht hätte, in Lennox 1993 und 1994 sowie Ghiselin 1994. Um solchen säkularen Sorgen vorzubeugen, hat Ernst Mayr vorgeschlagen, funktionale Erklärungen in der Biologie nicht länger als teleologisch, sondern als „teleonomisch“ zu bezeichnen (siehe z.B. Mayr 1992, 126-130).
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Einleitung
(kausale) Folgen von Tätigkeiten oder Merkmale ausgedrückt, in Finalsätzen deren Ziele oder Zwecke. Das lässt sich am besten anhand zweier Beispielsätze veranschaulichen: (O1) Die Großmutter stürzt die Treppe herunter, so dass sie sich das Bein bricht. (O2) Die Großmutter stürzt die Treppe herunter, damit sie sich das Bein bricht. Der erste Satz (O1) drückt einen konsekutiven Zusammenhang aus: Er beschreibt eine kausale Folge eines Geschehens. Die Großmutter, um die es hier geht, ist zu bemitleiden. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei (O2) um einen teleologischen Satz in dem Sinne, in dem ich das Wort „teleologisch“ hier verstanden wissen möchte: Er handelt von dem Ziel oder Zweck eines Geschehens. Die Großmutter, um die es hier geht, ist weniger zu bemitleiden als vielmehr für ihren raffinierten Versicherungsbetrug zu bewundern oder zu verurteilen. Der Unterschied zwischen Konsekutivsätzen im Stil von (O1) und teleologischen Sätzen im Stil von (O2) lässt sich auch anhand ihrer verschiedenen Wahrheitsbedingungen verdeutlichen. Der Satz (O2) kann im Gegensatz zu (O1) auch dann wahr sein, wenn die betreffende Großmutter ihr Bein nie im Leben bricht. Teleologische Sätze zeichnen sich also insbesondere dadurch aus, dass ihre Wahrheit nicht davon abhängt, ob die Ziele und Zwecke, von denen sie handeln, auch realisiert werden.9 Dies hängt damit zusammen, dass teleologische Sätze anders als konsekutive Aussagen keinen rein deskriptiven Gehalt haben, der sich allein mit einem Verweis auf den faktischen Verlauf der Welt angeben lässt. Teleologische Urteile treffen nämlich nicht bloß deskriptive Aussagen darüber, was der Fall ist, sondern in gewisser Weise auch normative Behauptungen über das, was der Fall sein soll. Wenn sich die Oma, wie in (O2) beschrieben, die Treppe hinunter stürzt, um sich das Bein zu brechen, dann sollte diese Aktion auch ihren Beinbruch zur Folge haben, wie auch (1) das Zähneputzen vor Karies schützen sollte, (2) die Zinssenkung die Konjunktur ankurbeln und (5) Kiemen Fischen den Sauerstoffgewinn ermöglichen sollten – auch wenn das de facto nicht im-
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Diesem Kriterium genügen auch die Beispiele (4) und (5), weshalb es sich um teleologische Sätze handelt: Dass Störche im Herbst nach Afrika fliegen, um dort zu überwintern, ist damit kompatibel, dass die Störche – aufgrund von Wirbelstürmen vielleicht – nie in Afrika ankommen und dort überwintern; und wenn Kiemen den Zweck haben, Fischen den Sauerstoffgewinn zu ermöglichen, garantiert das nicht, dass sie das immer tun: In Kohlenmonoxid gesättigtem Wasser etwa tun sie das nicht.
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mer der Fall ist. Genau das bringen wir zum Ausdruck, wenn wir darauf hinweisen, dass sich diese Tätigkeiten um dieser Folgen willen vollziehen. So viel zu dem Kernanwendungsbereich des Wortes „teleologisch“, wie ich es im Folgenden verwenden möchte. Je nachdem, ob in teleologischen Sätzen Dinge beschrieben oder erklärt werden, werde ich auch von teleologischen Beschreibungen oder Erklärungen sprechen; und die in solchen Sätzen ausgedrückten Zusammenhänge als teleologisch bezeichnen. Im engen Sinn verhält sich das Wort „Teleologie“ zum Wort „teleologisch“ genauso wie das Wort „Röte“ sich zum Wort „rot“ verhält. Im weiteren Sinne verwende ich den Ausdruck „Teleologie“ aber auch als Bezeichnung für die Reflexion oder Theorie über teleologische Sätze und deren Gemeinsamkeiten. Man könnte um der Klarheit willen und etwas gekünstelt auch von „Teleolologie“ sprechen – doch das hier ist kein Jodelkurs. Ich verwende das Wort „teleologisch“ also sehr allgemein; insbesondere allgemeiner, als es etwa Toepfer und Sehon tun.10 Das scheint mir gerechtfertigt, weil ein solch allgemeines Teleologieverständnis mit unterschiedlichen Theorien über teleologische Sätze (im eben spezifizierten Sinn) vereinbar ist, und ich es für wichtig erachte, über einen Begriff zu verfügen, der alle Sätze der Form (1) bis (7) umfasst und gegenüber einer genauen philosophischen Analyse dieser Sätze neutral ist. Denn erst vor dem Hintergrund eines solch allgemeinen Teleologieverständnisses lassen sich unterschiedliche Vorschläge zum Umgang mit Sätzen der Form (1) bis (7) als Vorschläge zu einem einheitlichen Teleologieproblem verstehen und schätzen. Insbesondere kann man nur auf Basis eines allgemeinen Teleologieverständnisses die Frage, ob alle teleologischen Sätze prinzipiell gleich zu analysieren sind, als Frage der Teleologie im weiten Sinn verstehen. (Toepfer und Sehon haben sich im Gegensatz dazu bereits definitorisch auf die Position festgelegt, dass Sätze der Form (1) bis (3) anders zu analysieren sind als die restlichen Sätze meiner Liste. Das macht sie in gewisser Weise blind für philosophisch interessante Alternativen). Nach diesen terminologischen Klärungen gilt es wieder zu meinen sieben Beispielsätzen zurück zu kehren. Wir sind dabei stecken geblieben, dass man dafür argumentieren kann, dass man zwischen einer Handlungsteleologie und einer Naturteleologie unterscheiden muss. In der Analyse handlungsteleologischer Sätze der Form (1), (2) oder (3) sind Absichten rationaler Akteure unverzichtbar, während man naturteleologische Sätze der Form (4) und (5) ohne Bezug auf Absichten erläutern sollte. Wie der kleine Exkurs auf Christian Wolffs Teleologieverständnis gezeigt hat, kann man diesbezüglich aber auch anderer Meinung sein. Man kann auch die
____________ 10 Siehe Anm. 2.
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Einleitung
Theorie vertreten, dass sich alle teleologischen Sätze prinzipiell gleich analysieren lassen. Von dieser Position gibt es wiederum zwei Spielarten. Eine könnte man intentionalistisch, die andere naturalistisch nennen. Die intentionalistische Position verfolgt eine top-down Strategie: Sie hält handlungsteleologische Sätze im Stile von (1) und (3) für zentral und versucht in Analogie dazu, naturteleologische Sätze der Form (4) und (5) zu erläutern, indem sie etwa die Zwecke natürlicher Gegenstände auf die Absichten eines übernatürlichen Gottes zurückführt. Wie kaum verwundern wird, vertreten die meisten hier behandelten Autoren als überzeugte christliche Theisten eine solche Position.11 Im Gegensatz dazu verfolgt eine naturalistische Position eine bottom-up Strategie: Sie geht von naturteleologischen Sätzen der Form (4), (5) und vielleicht sogar (6) aus, und versucht auf deren Grundlage handlungsteleologische Urteile als besonders elaborierte Spezialfälle naturteleologischer Sätze auszuweisen.12 Diese Position erscheint mir systematisch gesehen besonders interessant. Leider vernachlässigen die meisten hier besprochenen Autoren diese Möglichkeit, weil sie naturteleologische Phänomene im Einklang mit ihren christlichen Überzeugungen in einen übergeordneten theistischen Rahmen einbetten und dabei der Handlungsteleologie Gottes ein Primat beimessen. Damit werden handlungsteleologische Sätze unabhängig von naturteleologischen Sätzen verständlich, aber nicht umgekehrt. An den Sätzen (1) bis (7) fiel auf, dass die Ziele oder Zwecke, mit Bezug auf die Phänomene erklärt werden, von verschiedener Art sind: So ist in Beispiel (3) der Zweck, mit Hilfe dessen man die Beschaffenheit des Wanderschuhs erklärt, kein Zweck des Wanderschuhs selbst – sondern etwas, das dem Wanderer dient. Damit ist der Zweck, dem Wanderer festen Halt zu verleihen, dem Wanderschuh in gewisser Weise äußerlich. Anders verhält es sich bei den Kiemen des Fisches, die mit Bezug auf Sauerstoffversorgung erklärt werden: Die Sauerstoffversorgung kommt dem Fisch und damit den Kiemen selbst zu gute. Es hat sich eingebürgert, diese Unterscheidung mit dem Begriffspaar intrinsisch-extrinsisch zu belegen.
____________ 11 Die große Ausnahme dazu ist Spinoza, der die anthropomorphistische Vorstellung eines nach Zielen handelnden Gottes für verfehlt hält. Auch Suárez vertritt hier eine sehr differenzierte Position, wie in Kapitel II deutlich wird. 12 In der neueren Debatte finden sich zwei Varianten dieses naturalistischen Rekonstruktionsversuchs: R. Millikan 1984 versucht ausgehend von einer evolutionsbiologisch verstandenen Naturteleologie mentale Zustände wie Überzeugungen und Absichten zu erklären, die dann wiederum für Handlungserklärungen herangezogen werden können. Dagegen möchte M. Thompson 2008 Sätze über menschliche Handlungen als Sätze über die menschliche Lebensform verstehen, die ihrerseits Spezialfälle von Sätzen über Lebendiges sind.
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Ein Zweck von x heißt also genau dann intrinsisch, wenn dieser Zweck x selbst zugute kommt, andernfalls heißt er extrinsisch. Leider wird diese Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Zwecken häufig nicht sorgfältig genug von einer anderen Unterscheidung getrennt. So wie ich die Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Zwecken eingeführt habe, handelt sie von dem Skopus der Zweckmäßigkeit – und betrifft die Frage, wofür ein bestimmter Zweck zweckmäßig ist. Alternativ kann man sich auch für den Ursprung der Zweckmäßigkeit interessieren und fragen, woher die Zweckmäßigkeit eines bestimmten Zweckes stammt. Hier bieten sich ebenfalls prinzipiell zwei Antworten an: Entweder die Zweckmäßigkeit eines Zwecks kann auf weitere Zwecke zurückgeführt werden oder nicht. Im ersten Fall handelt es sich um eine Form derivativer Zweckmäßigkeit, im zweiten um eine Form originärer oder immanenter Zweckmäßigkeit. Zweckmäßigkeiten von Artefakten – wie jene unseres Wanderschuhs – sind unumstrittene Fälle derivativer Zweckmäßigkeit. Ein Wanderschuh hat nur deshalb die Funktion oder den Zweck, uns beim Wandern Halt zu verleihen, weil man ihn zu diesem Zweck entworfen und produziert hat. Dagegen ist die Zielgerichtetheit der Handlungen jener, die diesen Wanderschuh herstellen, originär oder immanent. Dass eine Wanderschuhherstellung dem Zweck dient, einen Wanderschuh zu fabrizieren, liegt einfach daran, dass es sich dabei eben um eine Wanderschuhherstellung handelt. Die Unterscheidung zwischen derivativen und immanenten Zwecken ist berechtigt und wichtig, sollte aber nicht mit der zwischen intrinsischen und extrinsischen Zwecken verwechselt werden.13 Schließlich antworten die beiden Unterscheidungen auf verschiedene Probleme, so dass man sich Kombinationen zwischen ihnen vorstellen kann. So liefern aufrichtige, altruistische Handlungen etwa Beispiele immanent extrinsischer Zweckmäßigkeit, da die Zweckmäßigkeit altruistischer Handlungen (qua Handlungen) primitiv ist und sie (qua altruistisch) auf das Wohl von andern abzielen. Und wenn man sich – wie die meisten der hier behandelten Autoren – Lebewesen als göttliche Geschöpfe vorstellt, lassen sich ihre Vitalfunktionen als intrinsisch derivativ zweckmäßig verstehen: intrinsisch, weil
____________ 13 So unterscheidet P. McLaughlin 2001, 143ff., zwischen einer internen und einer externen Teleologie, die über weite Teile die Frage nach dem Ursprung der Zweckmäßigkeit betrifft, hin und wieder aber auch auf die Frage nach dem Begünstigten antworten sollte (siehe etwa 149). Eine ähnliche Ambiguität prägt M. Oslers Unterscheidung zwischen immanenten und externen Finalursachen (vgl. Osler 1996 und 2001).
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sie den Lebwesen selbst dienen, und derivativ, weil sie ihnen nicht ursprünglich, sondern nur dank Gottes Einrichtung zukommen.14 Bislang habe ich die teleologischen Beispielsätze (1) bis (7) unreflektiert als teleologische Erklärungen bezeichnet und stets von Ziel- oder Zweckerklärungen gesprochen. Ob ich das zu Recht getan habe, ist in der Literatur jedoch umstritten. Verschiedene Autoren haben nämlich argumentiert, dass teleologische Aussagen bestimmte Phänomene nicht im strengen Sinne erklären, sondern diese konstituieren:15 „Schlagworthaft kann man sagen, die teleologische Beurteilung leistet keine Gegenstandsbestimmung oder -erklärung, sondern eine (besondere) Gegenstandserzeugung oder -erschließung.“16 Ich werde diese Auffassung der Teleologie im Folgenden konstitutive Teleologiekonzeption nennen. Dieser Konzeption zufolge erklären die Sätze (1) bis (5) streng genommen nichts. Vielmehr beschreiben sie Phänomene auf eine Art und Weise, die diese Phänomene erst zu den Phänomenen macht, die sie sind, und erzeugen oder erschließen sie entsprechend. Das heißt konkret: In (5) wird nicht erklärt, warum Fische Kiemen haben, sondern es wird gesagt, was Kiemen sind – nämlich Organe, die Fischen den Sauerstoffgewinn ermöglichen sollten. Ganz ähnlich erklärt auch (3) nichts, sondern sagt schlicht, wodurch sich Sohlen und Fersenstützen als solche auszeichnen – und zwar dadurch, dass sie dem Wanderer einen sicheren Halt gewährleisten sollen. Entsprechendes gilt auch von den anderen Beispielen. (4) sagt, was der herbstliche Storchenflug ist (der Auftakt zu ihrer Überwinterung); in (1) lernt man, was abendliches Zähneputzen ist (ein Beitrag zur Kariesprophylaxe), und in (2) erfährt man, was Zinssenkungen sind (Maßnahmen der Nationalbank zur Konjunktursteigerung). Teleologische Sätze erklären die Dinge, von denen sie handeln, nicht im strengen Sinne, sondern charakterisieren sie als funktionale Entitäten. Sie beschreiben sie als Dinge, deren Identität
____________ 14 P. McLaughlin 2001, 143-145, hat argumentiert, theistische Erklärungsmodelle könnten der internen Zweckmäßigkeit der Dinge nicht Rechnung tragen. Was das bedeutet, hängt natürlich davon ab, was „interne Zwecke“ sind (vgl. Anm. 13). Ich werde aber ausführen, dass man (auf der Grundlage hinreichend abenteuerlicher Annahmen) sowohl intrinsische als auch immanente Zwecke von Dingen mit Bezug auf Gott erklären kann. 15 Ein historisch prominenter Vertreter dieser Position ist Kant, der in seiner Kritik der Urteilskraft argumentierte, der Zweckbegriff sei ein konstitutiver Begriff der reflektierenden Urteilskraft, der es überhaupt erst möglich mache, etwas als lebendig zu beschreiben (siehe KdU II §§64-66). Auch Aristoteles’ Teleologieverständnis wurde in diesem konstitutiven Sinne interpretiert (vgl. etwa Wieland 1969, 266-277, und Cartwright 1986, 202f.). In jüngerer Zeit hat Toepfer 2004, 345-422, für eine solche Position argumentiert. 16 Toepfer 2004, 335.
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davon abhängt, was sie (typischerweise) tun oder welche Wirkungen sie (normalerweise) nach sich ziehen. Die konstitutive Teleologiekonzeption wirft ein neues Licht auf die obigen Beispiele. Angesichts der Art und Weise, wie ich die Beispielsätze (1) bis (7) oben eingeführt habe, wirkt sie allerdings unangemessen und irritierend. So scheint es eine unbestreitbare Tatsache, dass wir gewisse Fragen ganz natürlich mit Rekurs auf Ziele oder Zwecke beantworten, und diese Antworten für befriedigend halten. Entsprechend geben wir auch nicht nur teleologische Beschreibungen, sondern eben auch Erklärungen. Diesem Problem lässt sich ausweichen, wenn man darauf hinweist, dass in der obigen Charakterisierung der konstitutiven Teleologiekonzeption ein unnötig enger Erklärungsbegriff in Anschlag gebracht wurde.17 Schließlich lassen sich auch Sätze (1) bis (5) auf der Grundlage eines konstitutiven Teleologieverständnisses als Erklärung begreifen. Es handelt sich dabei nur nicht um eine Erklärung der Existenz eines Phänomens, sondern um eine seiner Essenz oder Identität. Oder anhand obiger Beispiele: Es wird nicht in erster Linie erklärt, warum Fische Kiemen haben und Menschen Zähne putzen und Zinsen senken, sondern, was Kiemen sind, und was es heißt, sich die Zähne zu putzen und Zinsen zu senken. Das mag immer noch unplausibel erscheinen, da es zumindest in Bezug auf die handlungsteleologischen Sätze (1) bis (3) offensichtlich erscheint, dass diese Sätze (wenigstens auch) erklären, warum Menschen Zähne putzen, Notenbanken Zinsen senken und Wanderschuhe gut besohlt sind. Um diesem Einwand zu entgehen, müsste man argumentieren, dass in diesen Fällen diese beiden Erklärungsformen zusammenfallen; dass man also charakteristischerweise erklärt, warum jemand etwas tut, indem man dieses Tun in einen weiteren Kontext stellt und damit genauer bestimmt, was diese Person tut.18 Oder wieder mit Bezug auf die bekannten Beispiele: Man versteht, warum sich Menschen die Zähne putzen und Notenbanken in Wirtschaftskrisen die Zinsen senken, wenn man weiß, dass Zähneputzen eine Form der Kariesprophylaxe und Zinssenkungen Maßnahmen zur Konjunktursteigerung sind. Natürlich kann man mit der Analyse von Handlungserklärungen, wie sie im Rahmen eines konstitutiven Teleologieverständnisses geliefert wird, noch immer unzufrieden sein. Dies könnte einen dazu veranlassen, die konstitutive Teleologiekonzeption aufzugeben und stattdessen dafür zu
____________ 17 Das räumt auch Toepfer 2004, 347, ein, wenn er sagt, dass „eine Erklärung aufgrund einer teleologischen Beurteilung auch Zuschreibungserklärung genannt werden ‹kann›: Nicht das Vorhandensein, sondern die besondere Rolle eines Teils in einem Ganzen wird durch sie erklärt.“ 18 Dafür hat etwa prominent Anscombe 1957, §16 und §23, plädiert.
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plädieren, was ich – aus Gründen, die bald deutlich werden – ätiologisches Teleologieverständnis nennen möchte.19 Nach dieser Auffassung geben teleologische Sätze vornehmlich über die Existenz von Merkmalen und Tätigkeiten Aufschluss, und nicht primär über deren Essenz oder Identität. In den Beispielen (1) und (2) wird somit erklärt, warum es in Abendstunden zu Zähneputzaktionen und in Wirtschaftskrisen zu Zinssenkungen kommt. Sätze (3) und (5) geben Auskunft darüber, warum Wanderschuhe und Fische ihre bestimmten Merkmale aufweisen. Insofern teleologische Erklärungen gemäß dem ätiologischen Verständnis die Existenz von Einrichtungen, Beschaffenheiten oder Tätigkeiten erklären, weisen sie einen kausalen Charakter auf: Sie geben die genetischen Ursachen für diese Phänomene an.20 Das rechtfertigt auch den Namen „ätiologisch“, der auf das griechische Wort „aitía“ für „Ursache“ zurückgeht. Entsprechend sind teleologische Erklärungen dieser Auffassung zufolge eng mit bestimmten kausalen Prozessen verbunden. Handlungsteleologische Erklärungen lassen sich etwa als Fälle mentaler Verursachung verstehen, in denen Handlungen (wie Zähneputzen) durch Absichten und Überzeugungen von Personen verursacht werden. Ebenso kann man die naturteleologische Erklärbarkeit von Kiemen auf den Selektions- und Mutationsprozess zurückführen, in dem Kiemen entstanden und aufgrund ihres Beitrags zur Sauerstoffaufnahme erhalten worden sind, oder auf einen göttlichen Schöpfungsprozess. Während teleologische Erklärungen dem ätiologischen Verständnis zufolge eher einen kausalen Charakter haben, weisen sie dem konstitutiven Verständnis nach eher einen mereologischen Charakter auf:21 Ein Phänomen der konstitutiven Teleologiekonzeption nach teleo-
____________ 19 Ein solches wird in der zeitgenössischen Debatte etwa von Millikan 1984, Neander 1991a und 1991b vertreten. 20 Das setzt natürlich voraus, dass die Begriffe der Existenz und Kausalität in einem engen Verhältnis stehen. Dafür kann ich hier nicht argumentieren. Allerdings betonen dies sowohl hier behandelte Autoren (wie etwa Thomas in ScG I §16¶5) als auch zeitgenössische Philosophen (wie etwa Armstrong 1997, 41f.). 21 Ich bleibe hier bewusst vage: Die Kennzeichnungen ‚kausal’ und ‚mereologisch’ dürfen weder allzu strikt noch als einander ausschließend verstanden werden. So ist es einerseits umstritten, ob Prozesse mentaler Verursachung, dieselbe kausaltheoretische Analyse haben, wie Kausalverhältnisse zwischen kollidierenden Billardkugeln (vgl. etwa Dretske 1988, 37-50). Zudem sind auch Selektion und Mutation, auf die sich darwinsche Evolutionstheorien berufen, stochastische Phänomene, und nicht unbedingt Kausalprozesse im strikten Sinne. Andererseits steht der mereologische Charakter konstitutiv teleologischer Erklärungen nicht im Gegensatz zu einer kausalen Struktur dieser Phänomene, sondern setzt sie sogar voraus: Damit Zähneputzen Teil einer Kariesprophylaxe ist, sollte es den Schutz der Zähne auch bewirken (siehe dazu besonders Toepfer 2004, 375).
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logisch zu erklären, heißt, dieses Phänomen als Teil einer größeren Einheit auszuweisen, zu der es (typischerweise) einen ganz bestimmten Beitrag leistet. So wird beispielsweise die Zinssenkung der Notenbank als Teil ihres Maßnahmenpaktes zur Wirtschaftshilfe beschrieben,22 und die Kiemen als Teile des Fisches, die zu seiner Sauerstoffaufnahme und dadurch zu seinem Fortbestand beitragen.23 Aufgrund des kausalen Charakters ätiologisch konzipierter teleologischer Erklärungen neigen einige Philosophen dazu, solche Erklärungen als besondere Formen von Kausalerklärungen zu verstehen.24 Je nach theoretischem Hintergrund ist dies begrüßenswert oder problematisch. Eine Reihe zeitgenössischer Autoren hält dies für erfreulich, weil man hofft, durch die Rückführung der Teleologie auf Kausalität etwas mysteriös Anmutendes anhand etwas Wohlbekanntem und scheinbar Unproblematischem erklären zu können. Für die hier untersuchten Autoren, die sich an Aristoteles orientieren, stellte die Affinität der Kausalität zur ätiologisch verstandenen Teleologie jedoch ein Problem dar. Da Aristoteles zwischen vier Arten von Ursachen unterschied, wollten die in seiner Tradition stehenden Philosophen Zwecke in Gestalt so genannter Finalursachen als Ursachen sui generis von Wirkursachen unterscheiden. Aufgrund eines gewandelten Kausalitätsverständnisses neigten spätscholastische Autoren zu einer ätiologischen Teleologiekonzeption, was es ihnen erschwerte, an einer klaren Unterscheidung zwischen Teleologie und Kausalität festzuhalten. So sah sich Suárez etwa vor folgende Herausforderung gestellt: Einerseits war er durch seine aristotelische Tradition angehalten, Zwecke als Finalursachen strikt von Wirkursachen zu unterscheiden. Andererseits neigte er bereits zu einem modernen Ursachenverständnis, demzufolge etwas nur dann eine Ursache ist, wenn es auch eine Wirkung hervorbringt. Dies zwang ihn dazu, nach einem genuinen Einfluss von Zwecken zu suchen, der – obwohl eben beeinflussend – nicht wirkkausal zu verstehen ist. Suárez schlug vor, diesen genuin teleologischen Einfluss von Zwecken in ihrer motivationalen Kraft zu verorten. Damit können Ziele oder Zwecke deshalb für teleologische Erklärungen herangezogen werden, weil sie rationale Akteu-
____________ 22 Siehe zu dieser mereologischen Analyse teleologischer Handlungserklärung Anscombe 1957, §23. 23 Ein holistisch-mereologisches Verständnis naturteleologischer Erklärungen schlägt Weber 2005, 197-200, vor. Siehe auch Toepfer 2004, 361-364. 24 So hat etwa Davidson 1963 in seinem für die kausale Handlungstheorie einflussreichen Aufsatz dafür plädiert, Handlungserklärungen als kausale Erklärungen zu verstehen; und Sehon 2005, 152f., lehnt es aus gerade dem Grund ab, naturteleologische Erklärungen als genuin teleologische Erklärungen zu verstehen, weil sie sich vermittels der Evolutionstheorie auf kausale Prozesse reduzieren ließen.
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re, die diese Ziele als Ziele erkennen, motivieren. Sie bringen jene so dazu, etwas zu tun, ohne dass sie dies in wirkkausaler Weise täten. Ziele und Zwecke beeinflussen nicht in Form von Ursachen, sondern in Gestalt von Gründen. Auch Leibniz wird sich später dieser Lösung anschließen. Es ist damit höchste Zeit, genauer auf die Besonderheiten der hier diskutierten historischen Philosophen einzugehen. Des besseren Überblicks wegen lohnt es sich jedoch, die in diesem Abschnitt herausgearbeiteten Unterscheidungen und damit verbundenen Teleologiekonzeptionen noch einmal in komprimierter Form aufzuführen. Ich möchte allerdings betonen, dass die hier vorgeschlagenen Klassifikationskriterien keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ihr Wert und ihre Berechtigung bestehen allein darin, dass sich mit ihrer Hilfe verschiedene Aspekte teleologischer Sätze besser auseinanderhalten lassen, was es auch ermöglicht, die unterschiedlichen Einstellungen, die man bezüglich ihrer Analyse einnehmen kann, schärfer zu trennen und adäquater zu diskutieren.
1. Sind die Ziele oder Zwecke, mit Bezug auf die man ein Phänomen erklärt, Ziele oder Zwecke für das erklärte Phänomen selbst? Ja, es handelt sich um einen intrinsischen Zweck. (Intrinsische Teleologie)
Nein, es handelt sich um einen extrinsischen Zweck. (Extrinsische Teleologie)
2. Sind die Ziele oder Zwecke, mit Bezug auf die man ein Phänomen erklärt, in dem erklärten Phänomen selbst begründet? Ja, es handelt sich um einen dem Phänomen immanenten Zweck. (Immanente Teleologie)
Nein, es handelt sich um einen derivativen Zweck des Phänomens. (Derivative Teleologie)
Herausforderungen der historischen Teleologiediskussion
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3. Muss eine Analyse teleologischer Sätze prinzipiell zwischen solchen unterscheiden, die von rationalen Wesen handeln, und solchen, die das nicht tun? Ja.
Nein, i) weil die Analyse der teleologischen Sätze, die von rationalen Wesen handeln, auf die Analyse derjenigen teleologischen Sätze zurückgeführt werden kann, die das nicht tun. (Naturalismus) ii) weil die Analyse der teleologischen Sätze, welche von arationalen Wesen oder Dingen handeln, auf die Analyse derjenigen teleologischen Sätze zurückgeführt werden kann, die rationale Handlungen betreffen. (Intentionalismus)
4. Was wird mit Hilfe teleologischer Sätze primär erklärt? Die Existenz von Tätigkeiten oder Merkmalen von Dingen. (Ätiologische Teleologie)
Die Essenz von Tätigkeiten oder Merkmalen von Dingen. (Konstitutive Teleologie)
Dabei lassen sich teleologische Erklärungen i) auf kausale Erklärungen reduzieren; ii) nicht auf kausale Erklärungen reduzieren.
Herausforderungen der historischen Teleologiediskussion In meiner bisherigen Diskussion der teleologischen Sätze (1) bis (7) sind die Beispiele (6) und (7), die von der nicht-lebendigen Natur handeln, lediglich als Negativbeispiele aufgetreten. Sie sollten offensichtlich falsche teleologische Urteile illustrieren. Tatsächlich sind mir in der gegenwärtigen Debatte keine Positionen bekannt, die Aussagen über bloß physikali-
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sche Gegenstände wie Steine teleologisch rekonstruieren möchten.25 Es ist jedoch eine besondere Herausforderung für diese Arbeit, dass nicht alle hier untersuchten Autoren, solche Sätze für offensichtlich falsch hielten. Ganz im Gegenteil einige waren explizit der Ansicht, dass z.B. Feuer darauf abziele, Feuer zu erzeugen, oder Wasser danach strebe, unten zu sein. Darüber hinaus vertraten viele die These, das gesamte Universum sei zweckmäßig ein- und letztlich sogar auf Gott und das Wohl des Menschen ausgerichtet. Dies ist aus mindestens zwei Gründen herausfordernd. Erstens zeigt sich dadurch, wie sehr sich das im Mittelalter und in der frühen Neuzeit vorherrschende Weltbild von unserem heutigen unterscheidet. Dies könnte einen zweifeln lassen, ob man solche Aussagen tatsächlich systematisch ernst nehmen kann, oder ob man sie einfach als Ausdruck einer mittlerweile überwundenen Weltsicht und als historische Kuriosität hinnehmen sollte. Zweitens wird deutlich, dass die hier untersuchten historischen Diskussionen rund um das Problem der Naturteleologie insgesamt anders gelagert sind, als wir sie seit Kants Kritik der Urteilskraft zu führen gewohnt sind: Spätestens seit diesem Werk verbindet man das Problem der Naturteleologie primär mit einem Spezialproblem der Philosophie der Biologie oder des Lebendigen. Auch wenn in der aristotelischen Diskussion über die Naturteleologie Überlegungen zum Lebendigen eine paradigmatische und zentrale Rolle spielten, gingen zumindest die hier behandelten aristotelischen Autoren immer davon aus, dass sich auch das Verhalten der (nota bene nicht lebendigen) vier Elemente Wasser, Erde, Feuer und Luft teleologisch erklären lässt. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen trotz des systematischen Anspruchs dieser Arbeit die zeitgenössischen Diskussionen zur Naturteleologie in der Philosophie der Biologie über weite Strecken in den Hintergrund treten. Diese befassen sich schlicht nicht mit denselben Problemen wie die untersuchten historischen Autoren. Stattdessen gilt es die historische Teleologiedebatte innerhalb des systematischen Kontextes zu rekonstruieren, in dem die hier diskutierten Autoren über teleologische Erklärungen sprachen. Das führt unmittelbar zu einer weiteren Schwierigkeit, die sich dieser Arbeit stellt: Die hier untersuchten Philosophen sprachen nicht in Begriffen der Teleologie über teleologische Erklärungen. Das philosophische Kunstwort „Teleologie“ trat schließlich – wie im letzten
____________ 25 Eine Ausnahme ist vielleicht die Debatte, die unter dem Stichwort „formale Teleologie“ geführt wird. Dabei geht es um die Zulässigkeit einer teleologischen Deutung extremaler Prinzipien in der Physik (vgl. dazu Stöltzner 2005). Aber auch hier stehen nicht einzelne physikalische Prozesse, sondern der Charakter von Naturgesetzen zur Debatte. Als Vertreter eines teleologischen Verständnisses von Naturgesetzen werden wir in Kapitel V Leibniz kennenlernen.
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Abschnitt ausgeführt – erst 1728 zum ersten Mal auf. Das sind 12 Jahre nach Leibniz’ und 454 Jahre nach Thomas’ Tod. Entsprechend kommt in den hier besprochenen historischen Texten auch dann das Wort „Teleologie“ nicht vor, wenn sich diese Texte mit dem Problem teleologischer Erklärungen befassen. Ich habe bereits ein Kriterium vorgeschlagen, anhand dessen sich entscheiden lässt, wann in den untersuchten Texten von der Teleologie die Rede ist – und zwar, wenn darin Sätze auftreten, die eine finale grammatikalische Struktur aufweisen oder von Zielen oder Zwecken (fines), dem Ende von Prozessen (terminus) oder Funktionen (operatio, usus) handeln. Glücklicherweise verfügen die in dieser Arbeit besprochenen Autoren aber auch über einen eigenen philosophischen Fachbegriff, mit dem sie explanatorisch relevante Ziele und Zwecke bezeichnen, nämlich den der Finalursache (causa finalis). Unter methodischen Gesichtspunkten ist der Begriff der Finalursache für diese Arbeit ein Segen: Er erlaubt es, die historischen Diskussionen zur Teleologie einfach und unproblematisch zu identifizieren. Aus systematischen Erwägungen hingegen erscheint er zunächst eher als Fluch. Denn wenn man von dem Ursachenverständnis ausgeht, das in einschlägigen Texten der zeitgenössischen Kausalitätsdebatte unterstellt wird, handelt es sich bei dem Begriff der Final- oder Zweckursache geradezu um einen selbstwidersprüchlichen Begriff. Dort liest man nämlich immer wieder, eine Ursache sei das, was etwas hervorbringe oder geschehen mache, und Kausalität sei nichts anderes als die Relation zwischen Ursache und Wirkung.26 Nun würde aber kaum jemand behaupten wollen, dass Zwecke die Phänomene, die sie erklären, selbst hervorbringen oder bewirken. Ganz im Gegenteil: Bestenfalls verhält es sich gerade umgekehrt, und die Phänomene, die durch Zwecke erklärt werden, bringen diese Zwecke hervor. Wenn z.B. eine Person die Zähne putzt, so kann man dieses Verhalten dadurch erklären, dass man sagt, sie putze sich die Zähne, um Karies vorzubeugen. Aber natürlich bewirkt die Kariesprophylaxe nicht, dass diese Person ihre Zähne putzt – dies tut höchstens ihre Absicht, Karies vorzubeugen. Vielmehr ist zu hoffen, dass ihr Zähneputzen bewirkt, dass sie keine Karies bekommt. In dem Sinne, in dem man in heutigen philosophischen Debatten meist von Ursachen spricht, erscheint es problematisch, explanatorisch relevante Ziele oder Zwecke als Ursachen zu bezeichnen. Wenn es die hier besprochenen Autoren für unproblematisch erachten, von „Finalursachen“ zu sprechen, ist zu vermuten, dass das heute wie
____________ 26 So schreibt Sanford 1995, 79, Verursachung sei „[m]aking something happen, allowing or enabling something to happen, or preventing something from happening.“ Siehe auch Salmon 2002 und Keil 2000, 152.
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selbstverständlich in Anschlag gebrachte Verständnis der Kausalität als einer Relation zwischen zwei Ereignissen nicht die einzig mögliche Auffassung ist, die man gegenüber Ursachen einnehmen kann. Es handelt sich vielmehr um eine sehr prominente Sichtweise, die sich paradigmatisch bei David Hume findet, auf den sich ein Großteil der gegenwärtigen Kausalitätstheoretiker auch bezieht.27 Dieser Hume’anischen Kausalitätskonzeption ging historisch jedoch ein anderes Ursachenverständnis voraus, das man ‚aristotelisch’ nennen könnte. Nach dieser Konzeption, die sich vor allem auf Aristoteles’ Ausführungen in der Physik (II.3, 194b23-35) stützt, gibt es neben Wirkursachen auch drei weitere Ursachen, nämlich Material-, Form- und Finalursachen.28 Es ist dieses Ursachenverständnis, an das die Autoren der frühen Neuzeit anschließen, wenn sie sich in Begriffen der Finalursache mit dem Problem teleologischer Erklärungen auseinander gesetzt haben. Entgegen dem ersten Anschein erweisen sich „Finalursachen“ also nicht nur aus methodischen Gründen als segensreich für das Projekt dieser Arbeit. Auch in exegetisch-systematischer Hinsicht stellt sich dieser Ausdruck als unentbehrlich heraus, weil er es erlaubt, den genauen systematischen Ort der historischen Debatten zum Problem der Naturteleologie auszumachen. Dieser liegt primär im Bereich der aristotelischen Naturphilosophie, in deren Tradition der Begriff der Finalursache ursprünglich geprägt wurde.29 Die Einsicht, dass in Begriffen von Finalursachen expli-
____________ 27 Hume führt seine Überlegungen zur Kausalität vor allem im Treatise of Human Nature, 1.3.3f.; 12 und 14, und im Enquiry concerning Human Understanding VII aus. Neben den oben angesprochenen Kausalitätstheoretikern, die von Hume inspiriert sind, mehren sich seit den 1980er Jahren Stimmen in dieser Debatte, die man als neo-aristotelisch bezeichnen könnte, insofern sie für Verursachung nicht länger den Gesetzesbegriff für zentral erachten, sondern den der Disposition von Einzeldingen. 28 Man könnte denken, dass Hume von den vier aristotelischen Ursachen nur noch eine dieser Ursachen – nämlich die Wirkursache – als Ursache akzeptiert hätte. Das kann aber nicht stimmen. Wie ich in Kapitel I ausführen werde, muss die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre im Rahmen eines ganz bestimmten Erklärungsprojekts verstanden werden. Die vier aristotelischen Ursachen sind nur im Paket – als Bestandteile dieses Projekts – zu haben. Wenn nun ein Autor nur noch mit einer dieser vier Ursachen auszukommen meint, so zeigt sich dadurch, dass er das spezifische Erklärungsprojekt aufgegeben hat, durch das und in dem die aristotelischen Ursachen bestimmt sind. Damit kommt er dann auch nicht mehr mit bloß einer der vier aristotelischen Ursachen aus. Vielmehr hat er aufgehört, das Wort „Ursache“ aristotelisch zu verstehen. Vgl. dazu Hennig 2009b. 29 Wie Johnson 2005, 42-44, ausführt, hat Aristoteles selbst nie von Finalursachen (oder auch Wirk-, Material- oder Formalursachen) gesprochen, sondern einfach von dem „Um-willen“ (dem „Ursprung der Bewegung“, der „Materie“ und der
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zierte Teleologie aufs Engste mit der aristotelischen Naturphilosophie verbunden sind, motiviert zudem den besonderen Fokus meiner historischen Untersuchung zum Teleologieverständnis: Gegeben der Umstand, dass sich eine Reihe von Autoren im 17. Jahrhundert ausdrücklich von der aristotelischen Metaphysik und Naturphilosophie abgewendet haben, erscheint es besonders spannend, das Teleologieverständnis dieser Autoren genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn wenn das traditionelle Teleologieverständnis aufgrund seiner Verbindung zu dem Begriff der Finalursache gleichsam analytisch mit dem Aristotelismus verbunden ist, lässt sich vermuten, dass anti-aristotelische Philosophen der frühen Neuzeit dieses Verständnis maßgeblich modifizieren mussten. Nun ist diese Vermutung derart nahe liegend, dass es sich dabei geradezu um einen philosophie-historischen Gemeinplatz handelt.30 Doch wie die meisten Gemeinplätze hat auch die These, dass sich in der frühen Neuzeit das Teleologieverständnis geändert hat, entscheidende Mängel. Erstens ist sie so allgemein, dass sie kaum informativ ist. Man möchte genauer wissen, was – wenn überhaupt – sich im frühneuzeitlichen Teleologieverständnis verändert hat. Zweitens wird die These der frühneuzeitlichen Transformation der Teleologie auch selten anhand einer detaillierten exegetischen Analyse der entsprechenden frühneuzeitlichen Texte begründet. Das wird besonders deutlich, wenn man sich die zahlreichen Bekenntnisse zu diesem Gemeinplatz etwas genauer anschaut. Dabei zeigt sich nämlich, dass verschiedene Philosophiehistoriker diese Transformation ganz verschieden einschätzen. Die meisten behaupten – gerne mit Bezug auf Francis Bacon und Baruch de Spinoza –, frühneuzeitliche Philosophen hätten (natur-)teleologische Erklärungen insgesamt abgelehnt.31 Dass diese pauschale Einschätzung nicht haltbar ist, hat bereits die jüngere Forschung anhand sorgfältiger Untersuchungen zum Teleologieverständnis einzelner frühneuzeitlicher Autoren gezeigt. So hat etwa Don Garrett argumentiert, dass Spinoza trotz seiner polemischen Kritik am Begriff der Finalursache eine Teleologiekonzeption vertritt, die derjenigen von Aristoteles nicht unähnlich sei,32 und Allison Simmons und Lisa Shapiro mach-
____________ „Form“). Die adjektivischen Ausdrücke „final“, „effizient“, „material“ und „formal“ in diesem Kontext seien auf die Scholastik zurückzuführen. 30 Entsprechend häufig findet sich die Aussage, dass sich mit der so genannten wissenschaftlichen Revolution in der frühen Neuzeit die Wertschätzung und das Verständnis teleologischer Erklärungen maßgeblich verändert hat. Vgl. u.a. Wieland 1969, 255, McLaughlin 2001, 20f., Toepfer 2004, 8, Spaemann und Löw 2005, 81-93, Hennig 2006, 296. 31 Vgl. etwa Clark 1995, §13, Schmitt 1983, 5, Spaemann und Löw 2005, 82-88. 32 Garrett 1999. Mit dieser Interpretation werde ich mich ausführlich in Kapitel IV befassen.
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ten auf Descartes’ teleologisch konzipierte Wahrnehmungs- und Emotionstheorie aufmerksam.33 Margaret Osler stellte zudem fest, dass sich längst nicht bei allen mechanistischen Philosophen – ja nicht einmal bei Bacon – eine generelle und unqualifizierte Ablehnung teleologischer Erklärungen beobachten lässt.34 Statt die Teleologie generell abzulehnen, hätten die mechanistischen Philosophen diese vielmehr transformiert, indem sie die Naturteleologie nicht länger als immanentes Merkmal von Dingen erachteten, die diesen Dingen aufgrund ihrer Form zukommt, sondern als ein ihnen äußerliches Merkmal ansahen, das in Gottes Absichten begründet liegt. Leider konzentriert sich Osler in ihren Untersuchungen frühneuzeitlicher Teleologiekonzeptionen aber hauptsächlich auf empiristisch orientierte Philosophen wie Gassendi und Boyle und vernachlässigt so eine Auseinandersetzung mit rationalistisch gesinnten Philosophen. Darüber hinaus versäumt sie es, ihre Transformationsthese anhand einer detaillierten Analyse scholastischer Texte zu belegen. Zur Stützung der Behauptung, dass es erst im Rahmen der mechanistischen Philosophie zu dieser Transformation von einem intrinsischen zu einem extrinsischen Verständnis der Naturteleologie kam, wäre dies allerdings wichtig. Auch wenn in den letzten Jahren also einige Arbeiten zur Teleologiekonzeption in der frühen Neuzeit erschienen sind, ist ihr Fokus historisch oder thematisch zu eng gefasst, um eine adäquate Einschätzung und Präzisierung des philosophie-historischen Gemeinplatzes zu ermöglichen, dass es im frühneuzeitlichen Verständnis der Teleologie zu einer Transformation gekommen ist. Das möchte ich mit der vorliegenden Arbeit in Bezug auf Thomas, Suárez, Descartes, Spinoza und Leibniz ändern, indem ich deren Teleologiekonzeptionen möglichst textnah rekonstruiere. Ausgehend davon lässt sich die allgemeine Transformationsthese hoffentlich etwas adäquater einschätzen und präzisieren. Dabei werde ich wie folgt vorgehen: In Kapitel I werde ich anhand von Thomas von Aquin in das klassisch scholastische Verständnis teleologischer Erklärungen einführen. Dieses bildet den Hintergrund der Teleologiekonzeptionen der späteren Autoren, die sie häufig in Begriffen der Finalursache explizierten. Dabei steht die Frage im Zentrum, warum es Thomas – anders als die meisten zeitgenössischen Autoren – für unproblematisch hielt, auch die nicht-lebendige Natur teleologisch zu erklären. Wie ich ausführen werde, ist dies auf seine aristotelische Kausalitätstheorie zurückzuführen. Diese Kausalitätskonzeption unterscheidet sich in einigen Punkten von den heute weit verbreiteten
____________ 33 Simmons 2001 und Shapiro 2003. Mehr dazu in Kapitel III. 34 So in Osler 1996 und Osler 2001. Auf diese beiden Aufsätze stützen sich auch die folgenden Ausführungen.
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Hume’anischen Theorien. So ist es für diese Theorie unter anderem entscheidend, dass Substanzen – und nicht wie bei Hume Ereignisse – als Ursachen anzusehen sind. Zudem stehen dieser Theorie zufolge Ursache und Wirkung nicht in einem kontingenten, sondern in einem metaphysisch notwendigen Zusammenhang. Ich werde diese Theorie im Rückgriff auf die zeitgenössische Debatte über Dispositionen als dispositionale Theorie der Kausalität rekonstruieren. Einer solchen Kausalitätstheorie zufolge verdanken Dinge ihre kausale Wirksamkeit ihren dispositionalen Eigenschaften, die sie zu ganz bestimmten Wirkungen befähigen. Ein solches Kausalitätsverständnis legt deshalb eine teleologische Auffassung von Kausalprozessen nahe, weil Dispositionen in gewisser Weise final charakterisierte Entitäten sind, insofern ihre Identität von ihren möglichen Manifestationen abhängt. So ist etwas z.B. genau dann brennbar, giftig oder explosiv, wenn es unter ganz bestimmten Bedingungen eben brennt, zu Vergiftungen führt oder explodiert. Mithin lassen sich auch teleologische Aussagen über das Verhalten von Elementen – wie etwa die, dass Feuer darauf abzielt, Feuer zu erzeugen – als Aussagen über deren dispositionale Eigenschaften verstehen. Rekonstruiert man Thomas’ Teleologiekonzeption, wie eben skizziert, weitgehend naturphilosophisch auf der Grundlage seiner dispositionalen Kausalitätstheorie, möchte man ihm ein naturalistisch konstitutives Teleologieverständnis im oben explizierten Sinne zusprechen. Es scheint, als gehe Thomas davon aus, dass teleologische Sätze in erster Linie die dispositionalen Essenzen von Dingen beschreiben, die dafür verantwortlich sind, dass sich diese Dinge so verhalten, wie sie sich verhalten. Doch dieser Schein trügt. Denn Thomas verstand sich nicht primär als Naturphilosoph, sondern als christlicher Theologe.35 Als solcher bettete er seine naturphilosophisch rekonstruierbare Teleologie in ein übergeordnetes christliches Weltbild ein, in dem Gott nach neo-platonischem Vorbild als Schöpfer und Lenker dieser Welt eine herausragende Rolle spielt. Als Brückenprinzip für die Einbettung der aristotelischen Teleologie in einen christlichen Gesamtzusammenhang diente ihm die so genannte cognitioBedingung, der zufolge ein Ziel nur dann zur Finalursache werden kann, wenn es auch als solches erkannt wird. Diese Bedingung, die sich bei Aristoteles noch nicht findet, ändert für sein Teleologieverständnis so ziemlich alles. Ziele und Zwecke können nur noch dann als erklärungsrelevant bzw. als Finalursachen angesehen werden, wenn ein rationales Wesen diese Ziele erkennt und entsprechend danach handelt. Entsprechend ist jede Form der Teleologie nach dem Paradigma der Handlungsteleologie als Ausdruck von Absichten zu verstehen, und arationalen Dingen kommt
____________ 35 Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Thomas siehe Jordan 1993.
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nur noch deshalb ein teleologisches Streben zu, weil sie von Gott auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet worden sind. Anhand der im letzten Abschnitt entwickelten Terminologie vertritt Thomas also eine intentionalistisch ätiologische Teleologiekonzeption. Daran werden bis auf Spinoza und in Teilen Suárez die späteren hier untersuchten Autoren, ob Aristoteles freundlich oder nicht, nichts mehr ändern. Die große Transformation des Teleologieverständnisses, von der man vermuten wollte, sie träte erst in den anti-aristotelischen Theorien der frühen Neuzeit auf, hat in Tat und Wahrheit bereits viel früher begonnen, und zwar als man begann, die aristotelische Naturphilosophie mit einer monotheistischen und heilsgeschichtlichen Kosmologie zu verbinden.36 In der Untersuchung von Francisco Suárez’ Ausführungen zur Finalursache, die er rund 340 Jahre nach Thomas angestellt hat, wird sich in Kapitel II zeigen, dass das durch Thomas’ cognitio-Bedingung induzierte psychologische Finalursachenverständnis selbst in der aristotelischscholastischen Tradition nicht folgenlos geblieben ist: Für Suárez spielen Finalursachen nur noch in handlungspsychologischen Kontexten eine Rolle. Für ihn sind Finalursachen jene Ziele oder Zwecke, die endliche rationale Akteure zu ihren Entscheidungen bewegen. Da natürliche Gegenstände nicht erkennen können und Gott als vollkommenes Wesen keinen Einflüssen – auch keinen final-kausalen – unterliegt, spielen Finalursachen auch nur bei der Analyse handlungsteleologischer Sätze, die von endlichen Akteuren handeln, eine Rolle. Teleologische Sätze über Gottes schöpferisches Tun werden mit Bezug auf die reflexive Struktur seiner Schöpfung expliziert, während teleologische Beschreibungen natürlicher Prozesse auf der Grundlage dispositionaler Essenzen und Gottes Exemplarursachen – das sind die intentionalen Wirkursachen, die der Schöpfung zugrunde liegen – analysiert werden. Bei keinem der anschließend behandelten Autoren findet sich das Maß an Präzision wieder, das Suárez in seiner Diskussion teleologischer Erklärungen an den Tag legt. Das ist wohl dem Umstand geschuldet, dass sich diese Philosophen nicht mehr einfach einer etablierten Tradition folgten, die über eine eigene Fachterminologie verfügte, deren inferenzielles Potenzial in zahlreichen Summen, Quaestionen und Disputationen
____________ 36 Vgl. dazu auch Spaemann & Löw 2005, 78f. Freilich bemühen sich bereits die Autoren des arabisch islamischen Mittelalters, über die Aristoteles’ Texte zur Naturphilosophie und Metaphysik im 12. Jh. ihren Weg nach Europa fanden, um eine solche Verbindung. So findet sich etwa die für die intentionalistisch ätiologische Teleologiekonzeption maßgebliche cognitio-Bedingung bereits in Avicennas Metaphysik IV.5, 429. Vgl. zur Transformation von Aristoteles’ Teleologieverständnis durch die griechischen, arabischen und lateinischen Kommentatoren besonders Johnson 2005, 16-23.
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bereits exploriert wurde. Descartes, Spinoza und Leibniz waren vielmehr darum bemüht, der scholastischen Philosophie insgesamt eine neue Sicht der Dinge gegenüber zu stellen. Dieses groß angelegte und ambitionierte Unternehmen kostete sie so viel Arbeit, dass ihnen kaum Kapazitäten blieben, ihre dabei in Anschlag gebrachten Erklärungsformen auch explizit zu reflektieren. Das gilt insbesondere für ihr Teleologieverständnis, zu dem sie sich nur sehr spärlich äußern. Aus diesem Grund müssen ihre genauen Teleologie-Positionen auf der Basis ihres Gesamtprojekts und ihrer wenigen Aussagen zu Finalursachen erschlossen werden. Das verlangt nach einer Menge an Rekonstruktionsarbeit und führt zu entsprechend umfangreichen Kapiteln. Wie in Kapitel III deutlich wird, ist Descartes mit seinen Aussagen zu teleologischen Erklärungen so geizig, dass es schwierig ist, ihm eindeutig eine der oben charakterisierten Teleologie-Positionen zuzuordnen. Fest steht nur, dass für ihn teleologische Erklärungen letztlich auf Absichten zurückführbar sein müssen; er also ein intentionalistisch ätiologisches Teleologieverständnis vertritt. Ob Handlungen dabei wie bei Hume in erster Linie kausal zu verstehen sind oder ob er wie Leibniz oder Suárez eine teleologische Handlungstheorie sui generis vertritt, nach welcher der Einfluss von Handlungsgründen nicht im strengen Sinne kausal verstanden werden darf, bleibt unbestimmt. Nichtsdestotrotz ist die Untersuchung von Descartes’ Umgang mit naturteleologischen Erklärungen aufschlussreich. Weil er es aus theologischen Gründen für ausgeschlossen hält, dass wir Gottes Ziele erkennen können, muss er auch teleologische Erklärungen natürlicher Phänomene zurückweisen. Da wir aber Lebendiges ständig in teleologischen Begriffen beschreiben und Descartes an dieser Beschreibungsweise festhalten will, muss er eine Analyse dieser Beschreibung finden, die sich nicht auf (göttliche) Absichten bezieht. Das tut er, indem er – ganz ähnlich wie zeitgenössische Vertreter einer kausalanalytischen Funktionstheorie – funktionale Charakterisierungen natürlicher Phänomene nicht länger als Finalsätze, sondern als Konsekutivsätze analysiert, die über die kausalen Rollen der dadurch charakterisierten Phänomene Aufschluss geben. Ein ähnliches Projekt der Umdeutung teleologischer Sätze lässt sich bei Spinoza ausmachen, wie ich in Kapitel IV ausführen werde. Spinoza schließt sich Suárez’ Kausalitätsverständnis an, demzufolge sich nur Wirkursachen streng genommen als Ursachen qualifizieren. Entsprechend lehnt er den Begriff der Finalursache als selbstwidersprüchlich ab. Das führt ihn zu einer generellen Ablehnung teleologischer Erklärungen. Da es allerdings kaum möglich scheint, menschliche Handlungen als Handlungen nicht teleologisch zu beschreiben, Spinoza aber den Bezug auf Finalursachen für inkohärent hält, muss er eine Analyse teleologischer Sätze anbieten, die
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sich nicht auf Zwecke oder Ziele beruft. Das tut er im Rahmen seiner conatus-Theorie, indem er teleologische Aussagen über das Verhalten von Dingen auf ein ihnen eigentümliches Streben zurückführt, das in ihrer Essenz begründet liegt. Damit bekennt sich Spinoza als einziger der hier untersuchten Autoren zu einem durchgehend naturalistisch konstitutiven Teleologieverständnis, das ohne Rekurs auf psychologisch verstandene Finalursachen, sondern allein mit Essenzen auskommt. Allerdings lehnt er es – wie einige zeitgenössische Vertreter eines solchen Teleologieverständnisses – ab, derart verstandene teleologische Sätze, weiter als genuin explanatorisch zu betrachten. Teleologischen Sätzen die Erklärungskraft abzusprechen, ist für Leibniz undenkbar. Nach ihm kann man prinzipiell alles mit Rekurs auf Finalursachen erklären. Diese Erklärungsform ist nach ihm aber strikt von einer kausalen zu unterscheiden. Wie ich in Kapitel V argumentieren werde, plädiert Leibniz im Rahmen seines konziliatorischen Programms, den Aristotelismus mit der mechanistischen Philosophie zu versöhnen, für eine intentionalistisch ätiologische Teleologiekonzeption. Demnach sind alle teleologischen Erklärungen nach dem Modell intentionaler Handlungserklärungen zu verstehen. Damit schließt sich Leibniz Suárez’ Analyse der Handlungsteleologie an. Er geht aber gleichzeitig über Suárez hinaus, weil er meint, auch teleologische Sätze über das Tun Gottes und das Verhalten arationaler Entitäten auf eben diese Weise analysieren zu können. Das legt ihn jedoch auf zwei Thesen fest, die Suárez abgelehnt hat. Zum einen muss er im Gegensatz zu Suárez ein intellektualistisches Gottesverständnis – und nicht etwa ein voluntaristisches – voraussetzen. Gemäß diesem Verständnis widerspricht es der Allmacht Gottes nicht, wenn man sagt, Gott sei in seinem Tun durch die Erkenntnis des Wahren und Guten eingeschränkt. Mithin lässt sich auch behaupten, Gottes Tätigkeit sei auf die Ziele zurückzuführen, die Gott als gut erkennt. Zum andern geht Leibniz davon aus, dass auch arationale Substanzen – wie Tier-Seelen oder einfache Monaden – über repräsentationale Zustände verfügen, im Rekurs auf deren Gehalt sich das Verhalten dieser Substanzen teleologisch erklären lässt. Damit akzeptiert Leibniz die Konsequenzen der cognitio-Bedingung, nach der nur das Verhalten jener Wesen finalursächlich erklärt werden kann, die diese Ziele auch erkennen können, und gesteht kurzerhand allen Entitäten repräsentationale Fähigkeiten zu. So viel zu den Eigenheiten der hier besprochenen Teleologiekonzeptionen, die ich in den folgenden Kapiteln nach und nach herausarbeiten werde. Die Frage, wie auf Basis dieser Ergebnisse der philosophiehistorische Gemeinplatz über die frühneuzeitliche Transformation der Teleologie zu bewerten und unter Umständen zu korrigieren ist, werde ich im Schluss aufnehmen. Abschließend gilt es nun die methodischen Prob-
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leme anzugehen, die sich meiner breit angelegten philosophie-historischen Untersuchung stellen.
Methodische Vorbemerkung Diese Arbeit handelt von der Geschichte teleologischer Erklärungen; sie erzählt keine teleologische Geschichte dieser Erklärungen. Genauso wenig findet man auf den folgenden Seiten eine historiographische Gesamtdarstellung des Teleologieverständnisses von 1225-1716. Ziel und Zweck dieser Arbeit ist vielmehr eine systematisch informierte Rekonstruktion und ein kritischer Vergleich der spezifischen Auffassungen naturteleologischer Erklärungen, die sich exemplarisch in den Texten von Thomas von Aquin, Francisco Suárez, René Descartes, Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz finden. Nach den systematischen Überlegungen des ersten Abschnitts dieser Einleitung sollte jedoch klar sein, dass mich mein Interesse an der Analyse naturteleologischer Erklärungen nicht unbedingt davon befreit, die handlungsteleologischen Ansichten dieser Autoren unter die Lupe zu nehmen. Insbesondere bei Autoren, die ein intentionalistisches Teleologieverständnis vertreten, ist eine Beschränkung auf naturteleologische Erklärungen allein nicht möglich, da einer solchen Konzeption zufolge teleologische Erklärungen in Analogie zu oder mit Bezug auf Handlungserklärungen rekonstruiert werden müssen. Auch wenn mein Projekt in Anspruch und Anliegen eingeschränkt ist, wirft es mindestens zwei methodische Fragen auf: Warum konzentriere ich mich gerade auf die genannten fünf Autoren, und nicht auf andere? Und wie gedenke ich dem philosophie-historischen Anspruch dieser Arbeit gerecht zu werden, der darin besteht, der Philosophie wie der Historie gleichermaßen Rechnung zu tragen? Auf diese beiden Fragen möchte ich zum Abschluss dieser Einleitung eingehen. Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage nach der Transformation teleologischer Erklärungen in der frühen Neuzeit. Dabei soll der im letzten Abschnitt vorgestellte philosophie-historische Gemeinplatz kritisch geprüft werden, gemäß dem es mit der Ablösung eines aristotelischen durch ein cartesisches Weltbild zu einer zunehmenden Skepsis gegenüber (natur)teleologischen Erklärungen gekommen sei. Damit ist klar, dass Descartes erstens in eine solche Studie gehört und zweitens von Autoren vor und nach ihm flankiert werden sollte. Unbestimmt bleibt nur noch, welche Autoren das sein sollten. Hier hilft die Überlegung weiter, dass man Veränderungen anhand von Vergleichen feststellt. Es sollte sich also um Autoren handeln, die sich gut mit Descartes vergleichen lassen; und dafür eignen sich besonders solche, die in einer gewissen verbindenden Tradition
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zueinander stehen und in dieser Tradition aufeinander reagieren. Auch wenn in den letzten Jahren nachgewiesen wurde, dass Descartes’ Ansichten durch scotistisches37 und ockhamistisches38 Gedankengut geprägt wurden, das Descartes durch das Studium von Textbüchern kennen lernte, hat sich Descartes auch mit Thomas auseinandergesetzt.39 Zudem war auch Leibniz ein großer Kenner von Thomas von Aquin, und wie sich herausstellen wird, nimmt er bezüglich teleologischer Erklärungen eine Position ein, die derjenigen von Thomas ziemlich ähnlich ist. Darüber hinaus genoss Thomas aufgrund kirchenpolitischer Entscheide in der frühen Neuzeit eine große Autorität und bildete eine Art allgegenwärtigen Hintergrund, mit dem sich die frühneuzeitlichen Autoren implizit oder explizit auseinandersetzten. Nachdem Thomas’ Erklärung der Transsubstantiation während des Abendmahls im Konzil von Trient (1545-1563) kanonisiert und er 1597 zum Kirchenlehrer (doctor ecclesiae) der katholischen Kirche ernannt worden ist, kam es nämlich zu einem regelrechten Wiederaufleben des Thomismus in der frühen Neuzeit.40 Das macht Thomas zu einem geeigneten Kandidaten für jenen Autor, mit dem eine Geschichte über die Transformation teleologischer Erklärungen in der frühen Neuzeit beginnen sollte. Den größten Teil der Kenntnis der aristotelischen Naturphilosophie, in der die Rede von Finalursachen ihren ursprünglichen Ort hat, dürften die hier behandelten mechanistischen Autoren jedoch in ihrer akademischen Ausbildung anhand von Lehr- und Textbüchern erworben haben. Solche Bücher entstanden ab Mitte des 16. Jh.s mit dem Ziel, zentrale Thesen der aristotelischen Philosophie in knapper und systematischer Form aufzubereiten. Ein besonders einflussreiches Werk dieser Sorte sind
____________ 37 Vgl. zum Verhältnis von Descartes mit den Scotisten auch Ariew 1999, 39-57. Zudem weist Perler 1996, 100-112, nach, dass Descartes’ Rede von objektiver Existenzweise, die in seiner Ideentheorie eine zentrale Rolle spielt, auf Johannes Duns Scotus zurückgeht 38 Wie etwa Des Chene 1996, 109-112, ausführt, kam Ockham Descartes’ Identifikation der Form eines materiellen Gegenstands mit seiner Gestalt (figura) teilweise sehr nahe; zudem ging Ockham wie Descartes davon aus, dass die Bedeutung der mentalen Begriffe oder Ideen gegenüber derjenigen von gesprochenen Sätzen prioritär sei (vgl. Perler 1996, 248). 39 Zumindest handelt die einzige Aussage, die wir von Descartes über seine Lektüre scholastischer Autoren haben, von Thomas von Aquin (sie findet sich in seinem Brief an Mersenne vom 25. 12. 1639, AT II 630). 40 Wichtig für das Wiederaufleben des Thomismus in der frühen Neuzeit dürfte auch Cajetans Kommentar zu Thomas’ Summa Theologiae gewesen sein, der 1540f. in Lyon erschien. Vgl. dazu und für weitere Ausführungen zum Thomismus in der frühen Neuzeit Cessario 2003, 67-81.
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die 1597 erschienenen Disputationes Metaphysicae des spanischen Jesuiten Francisco Suárez.41 Sowohl Spinoza als auch Leibniz kannten dieses Werk aus erster Hand,42 und auch die Lehrbücher, anhand derer Descartes in La Flèche in die aristotelische Naturphilosophie eingeführt wurde, stammten von spanischen Spätscholastikern, die wie Suárez in Salamanca und Coimbra forschten und lehrten.43 Darüber hinaus bietet sich die Wahl von Suárez auch aus systematischen Gründen an: Im Gegensatz zu Thomas, der einen so genannten Intellektualismus vertritt, wonach der Wille dem Intellekt unterworfen ist, geht Suárez von einem voluntaristischen Bild aus, demzufolge der Wille unabhängig von dem Entscheiden kann, was der Intellekt als gut erkennt. Diesem Bild wird sich Descartes anschließen, während sich Leibniz an Thomas’ intellektualistischem Bild orientiert. Aus diesen Gründen werde ich mich im Kapitel II dieser Arbeit mit Suárez’ Konzeption von Finalursachen auseinandersetzen. Dies erlaubt es nicht nur, die Form aristotelischer Philosophie vorzustellen, gegen die sich die Kritik der mechanistischen Philosophen hauptsächlich richtete und vor deren Hintergrund sich diese Kritik erst angemessen rekonstruieren lässt. Die Untersuchung von Suárez zeigt im Kontrast zu Thomas’ Position auch, dass sich das Verständnis teleologischer Erklärungen bereits innerhalb der aristotelisch-scholastischen Tradition maßgeblich verändert hat und die Scholastik, die durch die nouvelle science verabschiedet wurde, keineswegs eine einheitliche und homogene Theorie war. So viel zu den hier behandelten Vorgängern Descartes. Warum greife ich von den vielen Nachfolgern Descartes’ nun gerade Spinoza und Leibniz heraus? Diese Autoren bieten sich für meine Untersuchung an, weil sie beide von Descartes ausgehen, seine Weltauffassung aber auf je unterschiedliche Weisen weiter entwickeln – auch in Bezug auf Finalursachen: Während Spinoza die Annahme von Finalursachen für schlechthin absurd
____________ 41 Berühmt ist das Votum Heideggers 1926, 22: „In der scholastischen Prägung geht die griechische Ontologie im wesentlichen auf dem Weg über die Disputationes metaphysicae des Suarez in die ‚Metaphysik’ und Transzendentalphilosophie der Neuzeit über und bestimmt noch die Fundamente und Ziele der ‚Logik’ Hegels.“ Vgl. zur großen Einfluss- und Rezeptionsgeschichte von Suárez ausführlich Grabmann 1926 und Mora 1953. 42 So führen etwa Lennon 2005, 27, und Viljanen 2008, 416, aus, Spinoza hätte Suárez wahrscheinlich aus erster Hand gekannt, und von Leibniz ist die Äußerung bekannt, dass er als Jugendlicher dieses Werk „wie einen Roman“ verschlungen hätte (siehe dazu Doyle 1995, 14 Anm. 82). 43 R. Ariew 1999, 39, vermutet zusammen mit E. Gilson: „Suárez’s Disputationes Metaphysicae was the handbook in metaphysics for Descartes’ teachers“. In seinen 4. Erwiderungen, 213 AT VII 235, zitiert Descartes zudem aus Suárez’ Disputationes Metaphysicae 9 §2 ¶4.
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hält, argumentiert Leibniz im Rahmen seiner Versöhnung von Aristotelismus und Mechanismus für eine Rehabilitation der Finalursachen. Im Anschluss an Descartes’ Zurückweisung der traditionellen Scholastik nehmen Spinoza und Leibniz damit zwei Extrempositionen bezüglich des Verständnisses teleologischer Erklärungen ein. Das macht sie für eine Untersuchung der Transformation der Naturteleologie in der frühen Neuzeit besonders interessant. Darüber hinaus bietet es sich an, die frühneuzeitliche Transformation teleologischer Erklärungen anhand der rationalistischen Philosophen Spinoza und Leibniz zu studieren, weil diese in Margaret Oslers Arbeiten zu diesem Thema bisher zu kurz gekommen sind. Obschon die Transformation teleologischer Erklärungen dieser Zeit berechtigterweise auch anhand anderer Autoren untersucht werden könnte, so machen diese Überlegungen hoffentlich deutlich, dass die Auswahl von Thomas, Suárez, Descartes, Spinoza und Leibniz dem Zweck dieser Arbeit angemessen ist. Es gilt nun die zweite methodische Frage in Angriff zu nehmen, wie ich dem philosophie-historischen Anspruch meiner Arbeit nachkommen möchte. Das philosophische Anliegen dieser Arbeit besteht darin, dass die untersuchten Autoren als Philosophen ernst genommen werden sollen, die für eine ganz bestimmte Auffassung teleologischer Erklärungen argumentieren. Diese Argumente gilt es auf den folgenden Seiten vorzustellen und vor allem verständlich zu machen. Dabei werde ich mich nicht scheuen, Vergleiche mit zeitgenössischen Debatten der Teleologiediskussion anzustellen, und mich des Vokabulars der gegenwärtigen analytischen Philosophie zu bedienen, wenn mir das angemessen erscheint, um gewisse Subtilitäten der rekonstruierten Argumente herauszustellen. Gegen ein solches Vorgehen wurde und wird immer wieder der Einwand erhoben, es sei anachronistisch, weil es die Kategorien des heutigen Denkens gleichsam den Überlegungen historischer Positionen überstülpe, und einen blind für deren Eigenheiten mache. Das philosophische Anliegen dieser Arbeit scheint so mit ihrem historischen zu konfligieren. Dieser pauschale Anachronismus-Einwand gegen eine systematisch informierte Philosophiegeschichtsschreibung scheint mir allerdings das Kind mit dem Bade auszuschütten. Nur weil eine solche Zugangsweise zu historischen Texten anachronistische und damit historisch inadäquate Lesarten generieren kann, heißt dies nicht, dass sie solche generieren muss. Um genau diesem unliebsamen Ergebnis vorzubeugen, gilt es die Anwendung des zeitgenössischen Vokabulars stets in der exegetischen Detailarbeit im Rückgang auf die historischen Texte zu rechtfertigen. Genau das werde ich im Folgenden tun, indem ich in den nächsten Kapiteln die jeweiligen Konzeptionen teleologischer Erklärungen, die sich bei den verschiedenen Autoren finden lassen, sehr eng an den Äußerungen dieser Autoren rekonstruiere. Dies hat zur Folge, dass die Kapitel keine einheitliche Struktur
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aufweisen, sondern sich stark an den Interessen und Schwerpunkten der behandelten Philosophen orientieren. Damit sich die unterschiedlichen Positionen zu (natur-) teleologischen Erklärungen, die sich bei Thomas, Suárez, Descartes, Spinoza und Leibniz finden, trotzdem in eine systematische Beziehung setzen lassen, werde ich am Ende jedes Kapitels die erarbeiteten Ergebnisse zusammenfassen und die jeweiligen Positionen gemäß den allgemeinen systematischen Leitfragen, die ich im ersten Abschnitt dieser Einleitung entwickelt habe, bestimmen. Während meine Rekonstruktionen der jeweiligen Teleologiekonzeptionen also aus Gründen exegetischer Adäquatheit eng an die Äußerungen und Interessen der jeweiligen Autoren gehalten und daher höchst individuell sind, haben die Schlussabschnitte die Funktion, deren Ergebnisse für eine systematische Bewertung und einen allgemeinen Vergleich aufzubereiten. Zum besseren Überblick habe ich zudem alle in den einzelnen Kapiteln erarbeiteten systematischen Ergebnisse im Anhang schematisch zusammengefasst. Dies macht hoffentlich deutlich, warum ich denke, dass das historische mit dem philosophischen Anliegen dieser Arbeit vereinbar ist. Tatsächlich aber möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, systematisch informierte Philosophiegeschichtsschreibung sei nicht nur möglich, sondern auch von genuin philosophischem Interesse – und zwar mindestens in dreifacher Hinsicht: Zum einen kann die Beschäftigung mit historischen Positionen der Philosophie systematisch interessante Argumente zu Tage fördern, die in heutigen Debatten noch genauso relevant und gültig sind. Alternativ kann es auch interessant sein zu sehen, wo frühere Philosophen Fehler gemacht haben, und dabei ein Gespür für philosophische Fallen zu entwickeln. Es ist also immer möglich, von der philosophischen Tradition etwas (im positiven oder negativen Sinne) zu lernen und bei der Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte philosophische Wahrheiten zu entdecken.44 In diesem Sinne glaube ich auch, dass man bei der Untersuchung der hier behandelten Autoren systematisch interessante Optionen im Umgang mit teleologischen Erklärungen kennen lernen kann. Auch wenn unbestreitbar ist, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie diese Art von systematischer Einsicht ermöglichen kann, erscheint sich mir ihr philosophischer Wert nicht darin zu erschöpfen. Die Theorien der Alten sollten nicht nur als philosophischen Steinbruch für unser heutiges philosophisches Geschäft angesehen werden. Im Gegenteil. Dieser Zugang zur Geschichte birgt die Gefahr, andere Aspekte, die man in der Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte ler-
____________ 44 Diesen Wert sieht vor allem Jonathan Bennett 2001, 3-6, in der Philosophiegeschichte.
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nen kann, zu übersehen. Wie Daniel Garber zu Recht gegen ein exklusives Philosophiegeschichtsverständnis der oben skizzierten Sorte einwandte, setzt man bei dieser Herangehensweise voraus, die behandelten Autoren seien an genau denselben ewigen Fragen interessiert, die uns auch heute umtreiben.45 Manchmal besteht der besondere Reiz der Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte aber gerade darin, dass sie einem zeigt, dass man die Dinge auch ganz anders sehen kann, als man sie heute zu sehen gewohnt ist. Und dass man entsprechend ganz andere Fragen und Probleme für virulent hält, als man es heute tut. Dies kann uns in gewisser Weise von einer „Tyrannei der Gegenwart“ kurieren, wie es Garber ausgedrückt hat:46 Zum einen lehrt uns die Kenntnis ganz anderer Weltsichten, dass unsere heute für richtig und rational erachteten Positionen nicht alternativlos sind, und zum zweiten ermahnt uns dies, dass unser heutiges Philosophieren genauso ein Produkt historisch kontingenter Entwicklungen ist, wie es die untersuchten historischen Positionen zuweilen sind, und einer zukünftigen Betrachterin vielleicht ähnlich kurios erscheinen werden, wie es uns heute seltsam erscheint, wenn scholastische Autoren allen Ernstes behaupteten, Feuer brenne, um weiteres Feuer zu erzeugen. Das führt mich zu der dritten Hinsicht, in welcher der philosophiehistorischen Beschäftigung meines Erachtens ein genuin philosophischer Wert zukommt. Indem man sich mit der Geschichte der Philosophie auseinandersetzt, sieht man, dass auch das zeitgenössische philosophische Nachdenken in einer Tradition steht. Dabei erweisen sich unsere philosophischen Probleme und Begriffe, mit denen wir sie zu stellen, klären oder gar zu lösen versuchen, nicht selten als historisch gewachsene Geschöpfe. Dies kann helfen, die gegenwärtigen Debatten und die darin vorkommenden Begriffe besser zu verstehen.47 Gerade im Zusammenhang mit dem Begriff der Teleologie lässt sich dies besonders deutlich illustrieren: Vieles, was uns heute im Zusammenhang mit der Teleologie problematisch erscheint, hat seinen Ursprung in der mechanistischen Naturphilosophie der frühen Neuzeit, auf die unser modernes naturwissenschaftliches Weltbild in weiten Teilen zurückgeht. Denn gerade wenn man wie in dieser Zeit üblich einerseits ein rein intentionalistisches Teleologieverständnis vertritt, dem zufolge teleologische Erklärungen in Absichten begründet sein müssen, und andererseits davon ausgeht, dass sich natürliche Prozesse ohne
____________ 45 Garber 2001b. 46 Garber 2005, 145. 47 Etwas überspitzt ausgedrückt, könnte man sagen, dass einen die Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Begriffe hilft, diese Begriffe, und damit letztlich sich selbst besser zu verstehen. Ein solches Philosophiegeschichtsverständnis schlägt Hampe 2007, 13-21, vor.
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Rekurs auf Absichten vollständig kausal erklären lassen, wird rätselhaft, welchen Platz naturteleologische Erklärungen innerhalb einer säkularisierten Weltsicht überhaupt noch einnehmen können. Dieses Rätsel, mit dem sich heutige Philosophinnen und Philosophen der Biologie herumschlagen, ist also keineswegs als Rätsel vom Himmel gefallen, sondern hat seine Wurzeln in einer ganz bestimmten historischen Transformation der Teleologiekonzeption. Nicht zuletzt deshalb gilt es diese Geschichte in den folgenden Kapiteln genauer zu beleuchten.
Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache Wenn sich scholastische Autoren wie auch ihre späteren frühneuzeitlichen Kritiker über teleologische Zusammenhänge Gedanken machten, so taten sie dies meist in Begriffen von Finalursachen. Auf der Grundlage eines heute weit verbreiteten Ursacheverständnisses erscheint es zunächst seltsam, wenn man erklärende Zwecke als Ursachen bezeichnet. Seit Hume haben wir uns daran gewöhnt, dass Ursachen in erster Linie Ereignisse sind, die andere Ereignisse hervorbringen, die man dann als „Wirkungen“ bezeichnet.1 Hingegen möchte man nicht sagen, dass Zwecke die Dinge, die man durch sie erklärt, hervorbringen: Wenn man einen Kuchen bäckt, um eine Freundin zu ihrem Geburtstag zu überraschen, dann verursacht die Überraschung selbst dieses Kuchenbacken nicht im eigentlichen Sinne. (Dies tut höchstens die Absicht, die Freundin zu überraschen.) Entsprechend irritiert es, wenn man explanatorische Zwecke „Ursachen“ nennt. Dass viele Autoren vor Hume eine solche Redeweise für unproblematisch hielten, deutet darauf hin, dass diese Autoren ein anderes Kausalitätsverständnis an den Tag legten, als es viele zeitgenössische Philosophen in Anlehnung an Hume tun. Dieses Kausalitätsverständnis, das ich aufgrund seiner Wurzeln in Aristoteles’ Werken als aristotelisch bezeichnen werde, möchte ich in diesem Kapitel vorstellen. Zudem gilt es zu rekonstruieren, was dieser aristotelischen Kausalitätskonzeption zufolge genau eine Finalursache ist, und wie dieser Tradition nach teleologische Erklärungen zu verstehen sind. Diese Rekonstruktion werde ich anhand von Thomas von Aquin vornehmen. Dafür spricht nicht nur, dass Thomas sowohl für die gesamte Spätscholastik als auch – verstärkt durch die kirchliche Kanonisierung seiner Werke – für die anti-aristotelischen Autoren in vielen Fragen eine wichtige Autorität war, mit der man sich auseinanderzusetzen hatte. Dafür spricht auch ein methodisch-therapeutischer Grund: Da heute ein Hu-
____________ 1
Der locus classicus dieses (Hume’anischen) Kausalitätsverständnisses findet sich in Humes Enquiry Concerning Human Understanding, Section VII.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
me’anisches Ursachenverständnis vorherrscht, auf dessen Basis die Rede von Finalursachen fast selbstwidersprüchlich anmutet, gilt es sich gleichsam von dieser Kausalitätsvorstellung zu kurieren, wenn das Verständnis dieser Autoren nicht durch anachronistische Vorurteile eingeschränkt werden soll. Dafür erscheint kaum etwas geeigneter als eine Beschäftigung mit Thomas’ Ursachenlehre. Denn Thomas vertritt eine Reihe von Thesen, die vor einem Hume’anischen Hintergrund schlicht absurd anmuten. Will man sich ernsthaft auf Thomas’ Kausalitätstheorie einlassen, ist man deshalb geradezu gezwungen, sich von Humes Kausalitätskonzeption zu lösen. Es sind vor allem zwei Thesen, die Thomas im Rahmen seiner Kausalitätstheorie vorbringt, die vor dem Hintergrund eines Hume’anischen Ursachenverständnisses mehr als verwunderlich erscheinen. Die eine These drückt Thomas mit dem Slogan aus, dass „alles Tätige um eines Ziels willen tätig ist“.2 Man könnte dies die These der Ubiquität von Finalursachen – kurz: (U) – nennen und wie folgt ausformulieren: (U)
Alle Tätigkeiten vollziehen sich um eines Ziels willen bzw. haben eine Finalursache.
Diese These ist für eine Hume’anische Kausalitätstheoretikerin deshalb schwer verständlich, weil sie es ihr verunmöglicht, Thomas’ Rede von Finalursachen innerhalb ihrer eigenen Theorie Sinn abzugewinnen. So besteht ein einfacher Versuch, der Rede von Finalursachen Hume’anisch gerecht zu werden, darin, dass man diese Ursachen als eine spezielle Sorte von Wirkursachen – nämlich als mentale Wirkursachen versteht. Dies liegt bei der Erklärung menschlicher Handlungen ja auch nahe: Statt zu sagen, jemand backe einen Kuchen, um seine Freundin zu überraschen, lässt sich auch behaupten, er backe, weil er seine Freundin überraschen will (und meint, einen Kuchen zu backen sei dafür ein geeignetes Mittel). Die Finalursache seines Tuns erweist sich dabei als Kombination zweier harmloser mentaler Zustände – nämlich sein Wunsch, die Freundin zu überraschen, und die Überzeugung, diesem Wunsch durch das Backen eines Kuchens nachzukommen –, die gemeinsam bewirken, dass jener einen Kuchen bäckt. Will man Thomas allerdings mit guten exegetischen Gründen keinen Panpsychismus unterstellen und behaupten, er sei der Auffassung gewesen, alle bewegenden, verändernden oder eben tätigen
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In ScG III, §2 ¶6, schreibt Thomas: „omne agens agit propter finem.“
Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
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Dinge verfügten über Wünsche und Überzeugungen,3 so erweist sich der Hume’anische Versuch, Finalursachen als mentale Wirkursachen zu verstehen, als eine Sackgasse. Die zweite These, die einem Hume’anischen Kausalitätstheoretiker bizarr vorkommen mag, ist Thomas’ These des Primats der Finalursache, die besagt, dass „das Ziel die Ursache der Ursachen ist“.4 Man könnte sie folgendermaßen ausbuchstabieren: (PF)
Die Finalursache hat einen Vorrang vor allen anderen Ursachen, insofern es ohne Finalursache überhaupt keine Ursachen gäbe.
Für einen Kausalitätstheoretiker Hume’anischer Provenienz muss eine Ursache per definitionem immer eine Wirkung haben, und in diesem Sinne eine Wirkursache sein. Entsprechend ist es für ihn schon unverständlich, dass es Ursachen – wie etwa die Finalursache – gibt, die charakteristischerweise keine Wirkung haben. Umso irritierender muss es deshalb sein, wenn jemand mit (PF) behauptet, dass gerade eine solche Ursache dafür verantwortlich sei, dass es überhaupt Ursachen und damit Wirkursachen gäbe. Der Hume’anischen Vorstellung zufolge verhält es sich schließlich gerade umgekehrt: Solange ein Ziel oder ein Zweck nichts bewirkt, haben wir keinen Grund, dieses Ziel eine Ursache zu nennen. Thomas, so scheint es zumindest, stellt mit seiner These (PF) das Hume’anische Kausalitätsverständnis geradewegs auf den Kopf. In diesem Kapitel möchte ich deshalb klären, was Thomas zufolge eine Ursache im Allgemeinen ist, was insbesondere Finalursachen sind, und inwiefern sie teleologische Erklärungen ermöglichen. In diesem Zusammenhang gilt es weiter die Frage zu beantworten, warum Thomas die Thesen der Ubiquität der Finalursachen (U) und des Primats der Finalursache (PF) für wahr hält.
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Für Thomas ist klar, dass nur Lebewesen über eine Seele verfügen. Wie er ausführt, handelt es sich dabei um ihr distinktives Merkmal: „Aber allen lebendigen Dingen ist die Seele gemeinsam: darin kommen nämlich alle Lebewesen überein.“ (Sent. De Animna §1 ¶1). Zudem verfügt nur eine Teilklasse von Lebewesen – nämlich Menschen – über einen Intellekt oder denkende Seele, welche diese Lebewesen erst zum Denken befähigt. „finis est causa causarum“ (DPN §4.35). Aristoteles argumentiert nicht für ein hierarchisches Verhältnis der vier Ursachen, merkt aber in De partibus animalium I.1, 639b14, an, dass der Zweck als erste Ursache bezeichnet würde. Aber bereits Avicenna hat in seiner Metaphysik IV.5, 430, die Thomas gut kannte, für (PF) argumentiert.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
Thomas’ aristotelische Bewegungstheorie und Kausalitätskonzeption Die Rede von Finalursachen geht auf Aristoteles’ Vier-Ursachen-Lehre zurück, die er prominent in seiner Physik entwickelt. Die Physik ist nach Aristoteles die Wissenschaft, die sich mit den natürlichen Dingen und deren Veränderungen befasst.5 Als Wissenschaft beschreibt sie die natürlichen Gegenstände und deren Veränderungen jedoch nicht nur, sondern erklärt sie.6 Das tut sie mit Hilfe vierer verschiedener Ursachen. Auch Thomas von Aquin entwickelt in seiner frühen Schrift De Principiis Naturae seine Ursachenlehre im Rahmen seiner stark an Aristoteles angelehnten Naturphilosophie. Um Thomas’ Ursachenverständnis zu klären, gilt es in diesem Abschnitt deshalb, seine aristotelische Physikkonzeption vor Augen zu führen, und herauszuarbeiten, welche Rolle Ursachen im Rahmen seines naturphilosophischen Unternehmens spielen. Insofern sich die aristotelische Physik oder Naturphilosophie mit den natürlichen Dingen und deren Veränderungen befasst, sollte sie insbesondere klären, was eine Veränderung ist. Die aristotelische Antwort auf diese Frage wird am besten verständlich, wenn man zunächst von der etwas banal anmutenden Feststellung ausgeht, dass es nur dann Veränderungen gibt, wenn sich gewisse Dinge verändern. Veränderungen setzen voraus, dass es etwas gibt, das sich verändert. Im Aristotelismus beliebte Beispiele dafür sind der bleiche Sokrates, der von der Sonne gebräunt wird und anschließend nicht mehr bleich ist, Steine und Mörtel, die durch einen Baumeister zu einem Haus zusammengefügt werden, ein Stück Holz, das verbrennt, ein Mensch, der etwas lernt und dadurch Wissen erwirbt, oder ein Same, aus dem eine Pflanze wächst. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass sich Veränderungen typischerweise an Dingen wie an Sokrates, Steinen und Mörtel, an einem Stück Holz, einem Menschen oder an einer Pflanze vollziehen. Wie trivial diese Feststellung auch sein mag, mit ihr sind hartnäckige ontologische Schwierigkeiten verbunden: Wenn Veränderungsprozesse immer an Dingen stattfinden, die den Veränderungen gleichsam unterliegen, was ist es dann, das diesen Dingen ihre Identität durch den Wandel garantiert und wie sind im Extremfall Veränderungs-
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Physik III.1, 200b9-15, und Metaphysik VI.I, 1026a19-23. Dass sich eine Wissenschaft darum bemüht, die Dinge zu erklären, und in diesem Sinne von den Ursachen der Dinge handelt, führt Aristoteles dezidiert in den wissenschaftstheoretischen Überlegungen in seinen Analytica Posteriora I.2, 71b9-11, aus. Vgl. auch Metaphysik II.1, 994a18-31, und Physik II.3, 194b16-20.
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prozesse zu beschreiben, bei denen die daran beteiligten Dinge ihre Existenz (und damit Identität) verlieren oder gewinnen? Man denke nur an das Verbrennen von Holz oder an die Entstehung eines Lebewesens. Die Untersuchung der Frage, was es heißt, dass sich etwas verändert, erhält so unmittelbar eine ontologische Dimension. Sie ist eng mit der Frage verknüpft, was ein Ding überhaupt ist, damit es sich verändern kann. Diesen ontologischen Fragen versucht Thomas im Anschluss an Aristoteles mit zwei Unterscheidungen nachzukommen. Einer ontologischen Unterscheidung zwischen Form und Materie und einer modalen Unterscheidung zwischen Potenz (potentia) und Akt (actus) resp. Möglichkeit und Wirklichkeit. Der modalen Unterscheidung zufolge können Dinge auf zwei Weisen existieren. Einmal der Möglichkeit oder der Potenz nach, oder aber der Wirklichkeit oder dem Akt nach.7 Ein Haus z.B. existiert im Stein und Mörtel nur möglicherweise oder potentiell. Wenn die Steine und der Mörtel jedoch richtig verbunden werden, entsteht daraus ein wirkliches Haus, das aktuell existiert. Mit Hilfe dieser Unterscheidung lässt sich ein Wandel als Übergang zwischen diesen beiden Seinsweisen erklären: Wenn aus Steinen und Mörtel ein Haus entsteht, dann wird aus etwas, das nur potentiell ein Haus war, etwas, das wirklich ein Haus ist. Die modale Unterscheidung von Akt und Potenz löst jedoch noch nicht alle ontologischen Probleme der Veränderung. Wie bereits deutlich geworden ist, kann es nur dann Veränderungen geben, wenn es etwas gibt, das sich verändert. Um diese einer Veränderung unterliegenden Dinge genauer zu bestimmen, lohnt es sich zunächst zwischen zwei Arten von Veränderungen zu unterscheiden: zwischen qualifizierten Veränderungen einerseits und unqualifizierten Veränderungen andererseits. In einer qualifizierten Veränderung ändert ein als so und so bestimmtes Ding seine Beschaffenheit. So handelt es sich beim ersten obigen Beispiel um eine qualifizierte Veränderung: Wenn sich Sokrates bräunt, dann wird aus dem bleichen oder als bleich qualifizierten Sokrates ein gebräunter oder als gebräunt qualifizierter Sokrates. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den letzten der oben genannten Beispiele um unqualifizierte Veränderungen: Hier ändert nichts, was es schon gibt, seine Beschaffenheit, sondern etwas entsteht schlechthin. Wenn Sokrates gezeugt wird, so erhält Sokrates dabei keine Qualifikation, sondern Sokrates selbst entsteht unqualifiziert.8
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Siehe dazu DPN §1.2f. Thomas bezeichnet die unqualifizierte Veränderung als ‚einfaches Entstehen’ (generatio simpliciter) und die qualifizierte Veränderung als ‚Entstehen in gewisser Hinsicht’ (generatio secundum quid); siehe DPN §1.49f.
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Wie Thomas ausführt, unterliegt einer qualifizierten Veränderung ein bestimmtes Subjekt. Dieses Subjekt einer Veränderung – wie etwa der sich bräunende Sokrates – existiert unabhängig von seinen Qualifikationen oder „Akzidenzien“, wie Thomas sagt, die sich im Zuge der Veränderung ändern. Zudem ist das Subjekt für die Existenz seiner Akzidenzien verantwortlich. Gäbe es keinen Sokrates, so gäbe es auch sein Bleich- resp. Gebräuntsein nicht. Anders verhält es sich bei einer unqualifizierten Veränderung. Hier gibt es kein bestimmtes Subjekt, das der Veränderung unterliegt, sondern lediglich Materie. Im Gegensatz zu einem Subjekt, das unabhängig von seinen jeweiligen Akzidenzen existieren kann, existiert die Materie aber nicht unabhängig von dem, was es zu dem macht, was sie in den verschiedenen Stadien einer substantiellen Veränderung ist, und das ist ihre jeweilige (substantielle) Form.9 So entsteht ein konkreter Mensch wie Sokrates nach Thomas aus Sperma und Menstruationsblut, die, wenn sie zusammenkommen, die substantielle Form eines Menschen annehmen, und dabei ihre ursprünglichen Substantialformen des Samens und Bluts verlieren.10 Thomas ergänzt seine modale Unterscheidung zwischen Akt und Potenz also mit zwei ontologischen Unterscheidungen: zum einen mit der zwischen (substantieller) Form und Materie, und zum andern mit der zwischen Akzidenz oder akzidenteller Form und Subjekt. Auch mit Hilfe dieser Unterscheidungspaare lassen sich Veränderungen beschreiben. Substantielle oder unqualifizierte Veränderungen sind solche, in denen Materie eine neue substantielle Form aufnimmt, und akzidentelle oder qualifizierte Veränderungen sind solche, in denen ein Subjekt ein neues Akzidens annimmt. Da sich eine Veränderung auch durch das Begriffspaar AktPotenz beschreiben lässt, liegt es nahe, die ontologische Unterscheidung zwischen Form und Materie mit der modalen zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zu verbinden. Genau das macht Thomas, wenn er schreibt, dass wie „alles, was in Potenz ist, Materie genannt werden kann, so kann alles, von dem etwas Sein hat […] Form genannt werden“.11 Die Assoziation der Potenz mit der Materie und des Akts mit der Form leuchtet auch
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All dies führt Thomas in DPN §1.20-35 aus. Hier wird auch deutlich, dass es für Thomas streng genommen keine reine oder nackte Materie gibt. Materie ist für ihn etwas rein Potenzielles. Vgl. auch STh. I q. 66 art. 2 corp. 10 Siehe dazu DPN §1.9-11. Eine Darstellung und Diskussion von Thomas’ Embryologie gibt Heaney 1992. 11 „Sicut autem omne quod est in potentia potest dici materia, ita omne a quo aliquid habet esse […] potest dici forma“ (DPN §1.36-38).
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anhand des obigen Beispiels ein: Steine und Mörtel sind für sich genommen noch kein wirkliches Haus, sondern erst ein Haus der Potenz nach oder das Material, aus dem ein Haus gebaut werden kann. Damit aus Steinen und Mörtel ein aktuelles Haus wird, müssen die Steine und der Mörtel in die richtige Form gebracht werden – und in der Tat ist ein Haus nichts anderes als Steine und Mörtel, die zusammen eine ganz bestimmte Form aufweisen. Die Form eines Hauses ist somit dafür verantwortlich, dass aus einer geeigneten Materie ein aktuelles Haus wird. „Und da die Form das aktuelle Sein hervorbringt, deshalb wird von der Form gesagt, sie sei Akt.“12 Form und Materie sind nach Thomas also wesentliche Bestandteile eines Veränderungsprozesses, weshalb er sie als Prinzipien der Natur bezeichnet: als das, von dem eine natürliche Veränderung ausgeht.13 Wie Thomas jedoch bemerkt, reichen die Prinzipien Form und Materie nicht aus, um Veränderung vollständig zu erklären. „Was nämlich in Potenz ist, kann sich nicht selbst in den Akt überführen. Das Kupfer etwa, das der Potenz nach ein Bild ist, macht sich nicht selbst zum Bild, sondern es bedarf dazu eines Tätigen, der die Form des Bildes aus der Potenz in den Akt überführt. […] Es muss also außer Materie und Form noch ein Prinzip geben, das tätig ist, und von dem man sagt, es sei bewirkend oder bewegend oder handelnd oder das, von dem die Bewegung ihren Ausgang nimmt.“14 Dieses tätige Prinzip ist die Wirkursache. Sie bewirkt, dass sich etwas verändert, d.h. dass ein gewisser Zustand von einer bloßen Potenz in einen Akt übergeht. Mit Verweis auf Aristoteles’ zweites Buch der Metaphysik (994b13-14) führt Thomas nun aus, dass eine Wirkursache nicht einfach so tätig sein könne, da „alles, was tätig ist, nur dadurch tätig ist,
____________ 12 „Et quia forma facit esse in actu, ideo forma dicitur esse actus.“ (DPN §1.42f.) 13 Vgl. DPN §3.67-69. Neben Form und Materie nennt Thomas auch die Privation als Veränderungsprinzip. Denn nicht jede beliebige Materie kann in jede beliebige Form gebracht werden. Aus Steinen und Mörtel lässt sich vielleicht ein Haus bauen, aber Steine und Mörtel sind nicht dazu geeignet, einen Menschen zu machen (dazu bedarf es nach dem beliebten aristotelischen Beispiel vielmehr Knochen und Fleisch). Eine bestimmte Materie muss für eine Form also auf eine bestimmte Weise geeignet oder empfänglich sein. Diese Empfänglichkeit für eine Form beschreibt Thomas mit dem Begriff der Privation. (Vgl. DPN §2.1-69) 14 „Quod enim est in potentia non potest se reducere ad adctum, sicut cuprum quod est potentia ydolum non facit se ydolum, sed indiget operante qui formam ydoli extrahat de potentia in actum. [...] Oportet ergo preter materiam et formam esse aliquod principium quod agat, et hoc dicitur esse efficiens, vel movens, vel agens, vel unde est principium motus.“ (DPN §3.3-15)
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dass es etwas anzielt.“ Aus diesem Grund muss neben den Prinzipien der Form, Materie und Wirkursache „noch ein anderes viertes ‹Prinzip› gegeben sein, das nämlich, was vom Tätigen intendiert wird; und das nennt man Ziel.“15 Damit ist die Liste der Prinzipien der Natur oder der natürlichen Ursachen vollständig. An einem Wandel sind Material-, Wirk-, Formal- und Finalursachen beteiligt. Das, was einer Veränderung zugrunde liegt und den Rahmen möglicher Veränderungen überhaupt erst vorgibt, wird durch Form und Materie, die Form- und Materialursache festgelegt. Das, was für die gezielte Aktivierung und das Andauern einer Veränderung verantwortlich ist, wird durch die Wirk- und Finalursache beschrieben. Mit diesem an die vier Ursachen gekoppelten Verständnis von Veränderungen schließt sich Thomas Aristoteles’ Physikkonzeption an. Dieser analysierte Bewegung oder Veränderung (in griechischen Texten steht der Ausdruck ‚kinésis’, in lateinischen ‚motus’) ganz allgemein als Aktualisierung einer Potenzialität und schrieb in seiner Physik (III, 201a10-11): „Bewegung ist die Wirklichkeit dessen, was der Möglichkeit nach existiert, insofern es der Möglichkeit nach existiert.“ Während viele frühneuzeitliche Autoren in ihrer polemischen Absetzung vom Aristotelismus diese Definition als Beleg für scholastischen Obskurantismus zitierten, meinte Thomas, dass Aristoteles Bewegung damit „höchst adäquat“ definiert hätte.16 Die Angemessenheit von Aristoteles’ Bewegungsverständnis, so führt Thomas an, ließe sich besonders gut am Beispiel einer qualitativen Veränderung (einer so genannten alteratio) illustrieren: Wenn nämlich Wasser nur der Möglichkeit nach heiß ist, hat es sich noch nicht verändert. Wenn es aber bereits erhitzt ist, dann ist die Veränderung des Erwär-
____________ 15 „Et quia, ut dicit Aristotiles in II Metaphysice, omne quod agit, non agit nisi intendendo aliquid, oportet esse aliud quartum, id scilicet quod intenditur ab operante: et hoc dicitur finis.“ (DPN §3.16-19) 16 In Phys. III, §2 ¶3. Als Gründe für die Adäquatheit dieser Definition fügt er an, dass (i) in dieser Bewegungsdefinition selbst keine Ausdrücke vorkommen, die selbst wieder Formen von Bewegungen wären (wie etwa der Ausdruck ‚Übergang’ (translatio)), und somit nicht zirkulär sei, dass (ii) in dieser Definition nicht auf zeitliche Begriffe Bezug genommen wird, was es verunmöglichen würde, Zeit über den Begriff der Bewegung zu definieren, wie dies in der aristotelischen Tradition üblich war, und dass (iii) diese Definition Aristoteles’ Definitionstheorie genüge, da eine Definition immer über ein genus und eine differentia specifica gegeben werden müsse, und die Begriffe des Akts und der Potenz selbst in einem solchen Verhältnis stehen würden (Thomas spielt hier auf Aristoteles’ Metaphysik VII.12, 1038a4-8, an, wo er das Verhältnis von genus und differentia specifica als hylemorphistisches Form-Materie-Verhältnis beschreibt).
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mens beendet. Doch wenn etwas schon an der Hitze partizipiert, obschon unvollkommen, dann verändert es sich zur Hitze. Denn das, was allmählich heiß wird, partizipiert mehr und mehr an der Hitze. Daher ist dieser unvollständige Akt der Hitze selbst, der im Erhitzbaren existiert, die Veränderung; jedoch nicht insofern es nur ein Akt ist, sondern insofern es als etwas, das sich bereits im Akt befindet, auf einen weiteren Akt ausgerichtet ist […]. Zudem gehört eine Ausrichtung auf einen weiteren Akt zu dem, was der Möglichkeit nach in ihm existiert.17
Wenn sich eine Menge an Wasser erwärmt, handelt es sich um aktuelles Wasser, das der Möglichkeit nach heiß ist, insofern es der Möglichkeit nach heiß ist. Dabei erfüllt die spezifizierende „insofern“-Klausel zwei Funktionen. Erstens gibt sie an, welche Potenzialität des verändernden Gegenstandes für die zu beschreibende Veränderung relevant ist – hier ist es das Vermögen des Wassers heiß zu sein, und nicht etwa die des Salzlösens. Zweitens sichert diese Klausel, dass der verändernde Gegenstand auch tatsächlich noch das Vermögen hat sich zu verändern. Erwärmendes Wasser ist also immer noch der Möglichkeit nach, und noch nicht wirklich heiß. Ansonsten wäre der Erwärmungsprozess ja bereits abgeschlossen.18 Mit Hilfe der assoziierten Begriffspaare Akt-Potenz und Form-Materie lässt sich also jede Veränderungen vollständig als Aktualisierung einer Form in einer Materie beschreiben, die eine gewisse Potenz aufweist. Es ist genau innerhalb dieses begrifflichen Rahmens, in dem sich auch verstehen lässt, was es für Thomas heißt, eine Ursache zu sein: Anders als nach ei-
____________ 17 „Cum enim aqua est solum in potentia calida, nondum movetur: cum vero est iam calefacta, terminatus est motus calefactionis: cum vero iam participat aliquid de calore sed imperfecte, tunc movetur ad calorem; nam quod calefit, paulatim participat calorem magis ac magis. Ipse igitur actus imperfectus caloris in calefactibili existens, est motus: non quidem secundum id quod actu tantum est, sed secundum quod iam in actu existens habet ordinem in ulteriorem actum […]. Ordo autem ad ulteriorem actum competit existenti in potentia ad ipsum.“ (In Phys. III, §2 ¶3) 18 Hier mag man fragen, wie innerhalb dieses Modells dem Phänomen der Ortsbewegung Rechnung getragen wird. In der Metaphysik IX.8, 1050b21f., führt Aristoteles jedoch eine „Materie des Woher und Wohin“ („ąȹȲ ȷ ąȹɅ ȽȹѠȽȹȾ 4ȵȱ“) ein, in Bezug auf deren Vermögen auch die Ortsbewegung der Gestirne als Aktualisierung beschrieben werden kann. Es fällt jedoch auf, dass die aristotelische Theorie der Bewegung oder Veränderung vor allem mit Bezug auf Alterationsprozesse einleuchtet, während sie mit Rekurs auf das Phänomen der Ortsbewegung einigermaßen künstlich wirkt – obwohl Aristoteles (in Physik 8.VII, 260a20-261a28) gerade diese Form der Bewegung als prioritär gegenüber allen anderen Formen der Bewegung ansieht.
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nem Hume’anischen Ursachenverständnis ist eine Ursache Thomas’ aristotelischer Kausalitätskonzeption zufolge nicht bloß etwas, das eine Wirkung hervorbringt, sondern ganz allgemein das, was an einem als Aktualisierung einer Form verstandenen Veränderungsprozess beteiligt ist. Und da an einem solchen Prozess mehrere Faktoren – und zwar Materie, Form, Tätiges und Ziel – beteiligt sind, gibt es auch nicht nur eine Art der Ursache, sondern eben deren vier. Daraus ergeben sich mindestens zwei Eigenheiten, durch die sich aristotelische Ursachen fundamental von Hume’anisch konzipierten Ursachen unterscheiden. Zum einen ist das aristotelische Kausalitätsverständnis eng mit einem ganz bestimmten ontologischen Rahmen verbunden. Was die vier aristotelischen Ursachen sind, lässt sich nur vor dem Hintergrund des Hylemorphismus, d.h. der Auffassung, die Dinge der Welt seien letztlich aus Materie (griechisch hýle) und Form (griechisch morphé) zusammengesetzt, erläutern. Denn nur innerhalb eines solch hylemorphistischen Rahmens lässt sich eine Veränderung als Aktualisierung einer Form verstehen. Die Einbettung der aristotelischen Ursachenlehre in den Hylemorphismus tangiert unmittelbar den ontologischen Charakter der vier Ursachen. Während Hume und viele Kausalitätstheoretiker nach ihm Ursachen als Ereignisse bestimmen und Ursachen damit – im Fachjargon der modernen analytischen Ontologie gesprochen – zur ontologischen Kategorie der Okkurenten zählen, spielt diese Kategorie im Hylemorphismus nur eine ontologisch derivative Rolle.19 Sowohl für Aristoteles als auch für Thomas besteht die Welt letztlich aus Substanzen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie gegenteilige Bestimmungen aufnehmen und zugleich ihre Identität bewahren können. Als solche sind Substanzen keine zeitlich ausgedehnten Entitäten, sondern sie sind in jedem Augenblick ihrer Existenz vollständig da. Folglich gehören sie zur ontologischen Kategorie der Kontinuanten. Auch wenn Substanzen in Veränderungsprozesse eingehen können und dabei manchmal etwas tun und manchmal etwas erleiden, so gehen all die an einem solchen Prozess beteiligten Faktoren letztlich auf diese Substanzen und deren ontologischen Bestandteile der Form und Materie zurück. Entsprechend handelt es sich auch bei den vier aristotelischen Ursachen lediglich um bestimmte Aspekte der an einer Veränderung
____________ 19 So kennt zwar Aristoteles das Tun und das Erleiden als Kategorien, betont (in Cat. 5, 2b4-6) aber, dass alle Entitäten in ihrer Existenz letztlich von der Existenz der Substanzen, d.h. der Entitäten seiner ersten Kategorie abhängen. Tun und Erleiden gibt es also nur, insofern Substanzen etwas tun und erleiden, wie es auch Qualitäten nur insofern gibt, als Substanzen auf eine bestimmte Weise beschaffen sind.
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beteiligten Substanzen: Material- und Formursache sind jene Aspekte einer sich verändernden Substanz, in Bezug auf die sich beschreiben lässt, was sich genau zu was verändert, während eine Wirkursache eine Substanz ist, die etwas tut, und damit einen Veränderungsprozess auslöst und in Gang hält, und dabei auf ein ganz bestimmtes Ziel ausgerichtet ist. Als Beispiele für Wirkursachen nennt Thomas daher gerne den Baumeister, der ein Haus baut,20 den Arzt, der heilt,21 oder Gott, der die Welt erschaffen hat und in Existenz erhält.22 All dies sind Substanzen, die aufgrund ihrer substantiellen Formen über ganz bestimmte Vermögen verfügen, das es ihnen erlaubt entsprechende Wirkungen auszuüben.23 Auch dieses Ziel einer Veränderung ist, wie Thomas’ Beispiele nahe legen, ontologisch besehen nichts anderes als eine bestimmte Form, um deren Aktualisierung willen eine Wirkursache tätig ist: Das Ziel der Bildung einer Statue ist eine Statue, d.h. die spezifische Form, die der Künstler dabei dem Kupfer verpasst.24 Das Ziel des heilenden Arztes ist die Gesundheit, die vorliegt, wenn sein Patient wieder in Form ist. Ursachen sind für Thomas also anders als für Hume keine bloßen Ereignisse, sondern stets Substanzen oder bestimmte Aspekte von ihnen. Damit zeigt sich insbesondere bezüglich der Wirkkausalität, dass Thomas von einem substanz- oder akteurskausalen, und nicht wie Hume von einem ereigniskausalen Verständnis der Verursachung ausgeht. Zum andern fällt auf, dass die aristotelische Ursachenlehre auch strukturell mit einem anderen Projekt befasst ist als eine Hume’anische Ursachenanalyse. So bemühen sich Kausalitätstheoretiker in der Nachfolge Humes hauptsächlich um die Beschreibung eines Zusammenhangs zwischen zwei verschiedenen Ereignissen, und versuchen dabei die Frage zu
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Siehe z.B. DPN §2.13. Vgl. etwa DPN §4.23f. So z.B. in STh. I q. 44 art. 2 corp. und wiederholt in ScG III §§ 64-67. In STh. I q. 3. art. 2 corp., meint Thomas etwa: „jedes Tätige ist durch seine Form tätig, daher ist die Weise, in der etwas mit einer Form verbunden ist, die Weise, in der es tätig ist; unumquodque agens agit per suam formam, unde secundum quod aliquid se habet ad suam formam, sic se habet ad hoc quod sit agens.“ 24 In der oben zitierten Passage spricht Thomas interessanterweise nicht davon, dass die Wirkursache – oder hier der Künstler – dem Kupfer die Bildform aufdrückt, sondern aus ihm „herauszieht“ („extrahat“ DPN §3.7). Damit betont Thomas, dass der Künstler nichts komplett Neues zum Kupfer hinzufügt, wenn er daraus eine Statue bildet, sondern nur verwirklicht – in die Wirklichkeit herauszieht –, was potentiell im Kupfer schon angelegt ist.
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klären, wie dieser Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen beschaffen sein muss, damit sich das eine Ereignis als Ursache des anderen auszeichnet. Im Gegensatz dazu handeln die vier aristotelischen Ursachen (zumindest im naturphilosophischen Kontext) nur von einem Veränderungsprozess. Entsprechend geht es der aristotelischen Ursachenlehre auch nicht darum, das Verhältnis zwischen mehreren Ereignissen zu klären, sondern vielmehr um die Erklärung eines einzelnen Ereignisses mit Hilfe der vier daran beteiligten Faktoren: der Materie, der Form, der Wirkursache und dem Ziel. 25
Finalursachen: ihr Primat und ihre Ubiquität Auch wenn sich im letzten Abschnitt Thomas’ aristotelisches Kausalitätsverständnis von der heute vorherrschenden Hume’schen Ursachenkonzeption abgrenzen ließ, ist damit für das bessere Verständnis von Finalursachen noch nicht viel gewonnen. Es mag ja einleuchten im Rahmen einer hylemorphistischen Ontologie zusätzlich zur Wirkursache auch Materie und Form als wichtige Faktoren eines Veränderungsprozesses aufzuführen, und damit als Ursachen zu bezeichnen. Aber warum muss man auch Ziele in diese Liste aufnehmen? Warum ist Thomas so überzeugt davon, dass sich Veränderungen nur dann adäquat beschreiben oder erklären lassen, wenn man auf ein Ziel oder einen Zweck zurückgreift? Wie im letzten Abschnitt gesehen, argumentiert Thomas in zwei Schritten für die Annahme von Finalursachen. In einem ersten Schritt führt er aus, es gäbe keine Veränderung ohne Wirkursache: „Was nämlich in Potenz ist, kann sich nicht selbst in den Akt überführen, so wie das Kupfer, das der Potenz nach ein Bild ist, sich nicht selbst zum Bild macht, sondern eines Tätigen bedarf, das die Form des Bildes aus der Potenz in den Akt holt.“26 Thomas scheint dabei von einer Art Kausalprinzip auszugehen, demzufolge es für jede Veränderung eine Wirkursache gibt.27 Aber
____________ 25 Auf diesen Unterschied haben sowohl Hoffman 2008, 399, als auch Hennig 2009b, 152f., hingewiesen. 26 „Quod enim est in potentia non potest se reducere ad adctum, sicut cuprum quod est potentia ydolum non facit se ydolum, sed indiget operante qui formam ydoli extrahat de potentia in actum. “ (DPN §3.3-7) 27 In ScG II §15 ¶6 schreibt Thomas etwa: „Alles, was sein und nicht sein kann, hat eine Ursache; Omne quod est possibile esse et non esse, habet causam aliquam“. Man könnte auch argumentieren, dass Thomas für die Begründung der These,
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mit welchem Recht tut er das? Angesichts seines Verweises auf das Kupfer, das sich nicht von selbst in eine Statue verwandelt, könnte man zunächst denken, Thomas halte das Kausalprinzip schlicht für eine empirische These. Doch dieser erste Eindruck erweist sich als unangebracht. Denn Thomas begründet genau besehen seine allgemeine Aussage, dass sich das, was in Potenz sei, nicht selbst in den Akt überführen könne, nicht mit seinem Verweis auf den Fall des Kupfers, das sich nicht selbst in eine Statue verwandelt. Das zeigt sich darin, dass Thomas die Beschreibung dieses Falls mit der Vergleichspartikel „so wie“ (sicut) an seine allgemeine These anschließt. Damit macht er deutlich, dass das Kupferbeispiel sein Kausalprinzip lediglich illustriert. Das ist auch gut so: Denn als Begründung für eine allgemeine empirische These wäre der Verweis auf nur ein einziges empirisches Faktum höchst unzureichend. Im ersten Moment scheint Thomas so allerdings nicht viel besser dazustehen. Anstelle einer schlecht begründeten empirischen These scheint er nun einfach eine schlechthin unbegründete metaphysische These zu vertreten. Doch auch wenn Thomas an dieser Stelle keine explizite Begründung für sein Kausalprinzip gibt, lässt sich eine solche leicht nachreichen. Dafür lohnt es sich zu fragen, was der Fall sein könnte, wenn das Kausalprinzip nicht gelten würde, und sich Vermögen ganz ohne Wirkursachen beliebig aktualisieren oder nicht aktualisieren könnten: Kupferportionen würden vielleicht spontan zu Statuen oder Raumschiffen, Bäume zu Saunen und das Meer könnte mitten in der Nacht zu kochen beginnen. Grundsätzlich könnte aus so ziemlich allem alles entstehen, oder auch nicht – je nachdem, wie es eben kommt. Das Verstörende an einer solch chaotischen Welt liegt darin, dass sich in dieser Welt nichts erklären oder verstehen ließe. Alles wäre völlig beliebig, und es gäbe nicht die geringste Möglichkeit, sich auch nur ansatzweise in dieser unberechenbaren Welt zurechtzufinden. Thomas’ Kausalprinzip, nach dem jede Veränderung einer Wirkursache bedarf, beugt so einer derart chaotischen und letztlich unverständlichen Welt vor. Es garantiert, dass sich Veränderungen prinzipiell erklären lassen. Was der Potenz nach heiß, eine Sauna oder ein Raumschiff ist, wird nicht einfach so tatsächlich heiß, zu einer wirklichen Sauna oder einem Raumschiff, sondern nur wenn es einen Grund dafür gibt, der darin besteht, dass eine
____________ dass sich Potenzen nicht spontan aktualisieren, nicht auf das Kausalprinzip rekurrieren müsse, sondern sich allein auf passives Potenz-Verständnis berufen könne. Hierzu ist anzumerken, dass erstens für Thomas nicht alle Potenzen passiv sind, und dass zweitens das Kausalprinzip (als Variante des Prinzips des zureichenden Grundes) einen tieferen Grund dafür liefert, warum sich Potenzen nicht ohne Wirkursachen aktualisieren können.
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geeignete Wirkursache auf die entsprechenden passiven Vermögen einwirkt. Thomas’ Kausalprinzip scheint damit in dem Gedanken begründet zu liegen, dass im Prinzip alles erklärt werden kann, und dass nichts einfach so oder grundlos geschieht.28 Der späteste in dieser Studie untersuchte Autor, Gottfried Wilhelm Leibniz, hat diesen Gedanken für ein allgemeines Denkprinzip gehalten und es Prinzip des zureichenden Grundes genannt. Wie sich im Folgenden herausstellen wird, haben sich alle hier behandelten Autoren von diesem Gedanken in der einen oder anderen Weise beeinflussen lassen. Aber kommen wir zurück zu Thomas’ Argument für die Annahme von Finalursachen. Bisher haben wir den ersten Schritt dieses Arguments – Thomas’ Kausalprinzip – kennen gelernt, demzufolge jede Veränderung eine Wirkursache hat. Darauf aufbauend schließt nun Thomas in einem zweiten Schritt, dass auch jede Veränderung eine Finalursache haben müsse, weil „alles, was tätig ist, nur dadurch tätig ist, dass es etwas anzielt“.29 Dieser Schritt beruht auf einer These, die man Finalitätsthese (F) nennen und wie folgt ausformulieren könnte: (F)
Jedes Tätige oder jede Wirkursache x zielt auf ein y ab.30
Warum hält Thomas diese These für wahr? Warum meint er, dass jede Wirkursache etwas anzielen muss und in diesem Sinne eine Finalursache hat? Leider ist Thomas’ Begründung dafür an dieser Stelle nicht sehr aufschlussreich: Er begründet seine Aussage lediglich mit einem Autoritätsargument, indem er auf das verweist, was Aristoteles im zweiten Buch seiner Metaphysik sagt. Nun reicht dieser Verweis an dieser Stelle allerdings nicht aus, um für die ganze Begründungslast aufzukommen, die Thomas angesichts seiner These (F) zu tragen hat. Aristoteles schreibt an der entsprechenden Stelle: Und doch würde niemand etwas zu tun unternehmen, wenn er nicht zu einem Ende kommen wollte; und wer so handelte, der besäße keine Vernunft; denn der Vernünftige handelt immer nach einem Weswegen […].31
____________ 28 Zu Thomas’ Verteidigung des Prinzips des zureichenden Grundes siehe Pruss 2006, 26-28; 209-230, und Nowacki 1998. Im Folgenden beziehe ich mich immer wieder mit dem Akronym „PZG“ auf dieses Prinzip. 29 „omne quod agit, non agit nisi intendendo aliquid“ (DPN §3.17). 30 Diese These drückt Thomas bisweilen auch in seinem Slogan aus „Omne agens agit propter finem“ (ScG III §2 ¶6). Eine Diskussion dieser These mit einer Aufarbeitung der älteren Forschung dazu gibt Klubertanz 1959.
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Anders als Thomas behauptet Aristoteles an dieser Stelle nicht, dass alles um eines Zieles willen tätig ist, sondern nur, dass alle vernünftigen Wesen um eines Zieles willen tätig sind. Will Thomas keine unbegründeten Thesen vertreten, stehen ihm prinzipiell zwei Möglichkeiten offen: Erstens könnte er seine These (F) so abschwächen, dass sie sich durch Aristoteles’ Aussage vollständig rechtfertigen ließe. Etwa indem er sich auf eine weniger starke These (F’) zurückzieht, der zufolge nur alle vernünftig Tätigen um eines Zieles willen tätig sind. Dies hätte allerdings zur Folge, dass nicht alle Veränderungen Finalursachen haben, sondern nur Handlungen rationaler Akteure. Thomas könnte zweitens aber auch weiterhin an der starken These (F) festhalten, müsste dann aber eine eigenständige Begründung dafür nachliefern. Dass Thomas nur die zweite Option offen steht, zeigt sich in folgender Passage: Und man muss wissen, dass jedes Tätige, das natürliche wie das willentlich Tätige, ein Ziel anstrebt. Daraus folgt jedoch nicht, dass jedes Tätige das Ziel erkenne oder über das Ziel nachdenke. Das Ziel nämlich zu erkennen, ist bei den Tätigen notwendig, deren Handlungen nicht determiniert sind, sondern sich zu Gegensätzlichem verhalten; so wie es bei den freiwillig Tätigen der Fall ist. Aber in den von Natur aus Tätigen sind die Tätigkeiten determiniert, deshalb ist es nicht notwendig, das, was auf das Ziel hinführt, auszuwählen.32
Rationale oder willentlich Tätige unterscheiden sich nach Thomas nicht dadurch von nicht-rationalen oder natürlichen Tätigen, dass nur erstere in ihrem Tun auf etwas abzielen. Alles Tätige oder Wirkende zielt auf etwas ab. Der Unterschied zwischen ihnen besteht vielmehr darin, dass willentlich Tätige im Gegensatz zu natürlich Tätigen ihr Ziel selbst auswählen, bestimmen oder determinieren und sich in diesem Sinne auch „zu Gegensätzlichem verhalten“ können. Aus diesem Grund müssen sie ihr Ziel auch erkennen können. Dies beides ist natürlich Tätigen nicht möglich, aber für sie auch nicht nötig. Ihr Tun ist determiniert. Bei ihnen steht von
____________ 31 „ȴȫɅȽȹȳ ȹ3ȲȯȻ ʳȷ ȭɀȯȳȺɄȼȯȳȯȷ ȹ3Ȯ ȷ ąȺȪȽȽȯȳȷ ȶ ȶɃȵȵɂȷ ą ąɃȺȫȻ ˆȸȯȳȷ· ȹ3Ȯ’ ʳȷ ȯȱ ȷȹ8Ȼ ȷ ȽȹȻ ȹ9ȼȳȷ· ˀȷȯȴȫ ȭȪȺ ȽȳȷȹȻ ʱȯ ąȺȪȽȽȯȳ * ȭȯ ȷȹ8ȷ ʿɀɂȷ […].“ (Metaphysik II, 994b13-16) 32 „Et sciendum, quod omne agens tam naturale quam voluntarium intendit finem, non tamen sequitur quod omne agens cognoscat finem, vel deliberet de fine. Cognoscere enim finem est necessarium in his quorum actiones non sunt determinatae, sed se habent ad opposita, sicut se habent agentia voluntaria; et ideo oportet quod cognoscant finem per quem suas actiones determinent. Sed in agentibus naturalibus sunt actiones determinatae: unde non est necessarium eligere ea quae sunt ad finem.“ (DPN §3.19-30)
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vornherein fest, was aus ihren Tätigkeiten resultiert oder worauf ihre Tätigkeiten abzielen. In dieser Passage legt sich Thomas nicht nur zweifelsfrei auf die starke These (F) fest. Mit seiner Rede von Determination liefert er gleichzeitig einen Hinweis darauf, wie er diese These genau verstanden haben möchte. Dass alles Tätige um eines Zieles willen tätig ist, soll offensichtlich nichts anderes heißen, als dass alles Tätige auf eine ganz bestimmte Wirkung hin ausgerichtet ist. Demnach besagt auch (F) lediglich, dass eine Wirkursache eine bestimmte Wirkung hat und diese Wirkung in diesem Sinne anzielt. Entsprechend ist Thomas’ kontrovers anmutende These (F) mit der viel harmloser erscheinenden Determiniertheitsthese (D) äquivalent:33 (D)
Jedes Tätige oder jede Wirkursache x hat eine bestimmte Wirkung y.
Diese These macht auf den ersten Blick einen geradezu banalen Eindruck. Das könnte einen zögern lassen, Thomas tatsächlich zu unterstellen, er halte (F) und (D) für äquivalent. Schließlich ist gemäß einer hermeneutischen Maxime immer davon auszugehen, der Interpretierte wolle einem etwas Informatives sagen.34 Doch was die einen als Trivialität abtun, das halten andere für eine große metaphysische These. Und genauso scheint es hier zu sein. Denn (D) kann auch als These verstanden werden, die über die Identität von Wirkursachen Auskunft gibt. Als solche beantwortet sie die Frage, was etwas zu einer bestimmten Wirkursache macht. Die Antwort, die (D) auf diese metaphysische Frage liefert, ist die, dass etwas zu einer bestimmten Wirkursache wird, wenn es typischerweise eine bestimmte Wirkung hervorruft oder eben auf eine bestimmte Wirkung abzielt. Ein Arzt ist insofern ein Arzt, als er darauf abzielt, seine Patienten zu heilen. Feuer ist insofern die Wirkursache eines Brandes, als es typischerweise Brände hervorruft; und ein Olivenbaum kann insofern Wirkursache eines Olivenbaumes genannt werden, als er dazu bestimmt ist, Olivenbäume zu erzeugen. Thomas’ Determiniertheitsthese (D) ist demnach alles andere als trivial. Sie besagt, dass die Identität einer Wirkursache durch ihre spezifische Wirkung festgelegt ist. Dass Thomas diese These (D) und
____________ 33 Thomas schreibt (in ScG III §2 ¶8): „Daher strebt jedes Tätige eine bestimmte Wirkung an, die sein Ziel genannt wird; Omne igitur agens tendit ad aliquem determinatum effectum, quod dicitur finis eius.“ Wie sich noch zeigen wird, muss (D) hier jedoch in einem ganz spezifischen Sinn verstanden werden. 34 Diese Gesprächsmaxime wurde prominent von P. Grice 1975, 45f., herausgearbeitet und analysiert.
Finalursachen: ihr Primat und ihre Ubiquität
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damit auch die Finalitätsthese (F) in diesem metaphysischen Sinne versteht, muss man allerdings nicht allein aufgrund von Interpretationsmaximen annehmen. Dies bestätigt sich auch darin, dass Thomas die Thesen (D) und (F) genau in diesem metaphysischen Sinne in Anschlag bringt, um für seine These des Primats der Finalursache (PF) zu argumentieren, die wir zu Beginn dieses Kapitels bereits kennen gelernt haben. Thomas begründet und formuliert seine These wie folgt: Das Ziel aber heißt Ursache für das Wirkende, da es nicht tätig würde ohne das Erstreben des Zieles. […] Das Ziel ist jedoch nicht Ursache von jenem, das wirkend ist, sondern es ist die Ursache, dass das Wirkende wirkend sei. […] Deshalb ist das Ziel Ursache der Wirkkausalität, weil es bewirkt, dass das Wirkende wirkend sei. In ähnlicher Weise macht das Ziel die Materie zur Materie und die Form zur Form, da die Materie die Form nicht aufnähme ohne Vermittlung durch das Ziel, und die Form die Materie nicht vollendete, wenn nicht durch das Ziel. Deshalb heißt es, das Ziel sei die Ursache der Ursachen, weil es in allen Ursachen Ursache der Ursächlichkeit ist.35
Der Finalursache kommt deshalb ein Primat vor den anderen Ursachen zu, weil das Ziel „in allen Ursachen Ursache der Ursächlichkeit“ ist. Nach Thomas kann das Ziel insofern als Ursache aller anderen Ursachen verstanden werden, als Material-, Form- und Wirkursachen überhaupt keine Ursachen wären, wenn es kein Ziel gäbe. Dies führt Thomas hier mit Rückgriff auf seine Finalitätsthese (F) exemplarisch am Beispiel der Wirkursache aus. Wie er betont, ist das Ziel nicht insofern die Ursache der Wirkursache, als es die Wirkursache hervorbringt. Es ist nicht die „Ursache von jenem, das wirkend ist“. Vielmehr ist das Ziel dafür verantwortlich, dass eine Wirkursache überhaupt etwas hervorbringt, wirkend ist und damit zu einer Wirkursache wird. In dem Sinne, dass „es bewirkt, dass das Wirkende wirkend sei“, ist „das Ziel Ursache der Wirkkausalität“. Etwas wird also nur dadurch wirkend oder zu einer Wirkursache, dass es auf eine bestimmte Wirkung abzielt. Würde etwas nicht auf eine bestimmte Wirkursache abzielen und wäre es in diesem Sinne nicht auf eine bestimmte Wirkung festgelegt, so wäre dieses etwas selbst keine bestimmte, und da-
____________ 35 „[S]ed finis dicitur causa efficientis, cum non operetur nisi per intentionem finis. Unde efficiens est causa illius quod est finis. […] Finis autem non est causa illius quod est efficiens, sed est causa ut efficiens sit efficiens. […] Unde finis est causa causalitatis efficientis, quia facit efficiens esse efficiens: similiter facit materiam esse materiam, et formam esse formam, cum materia non suscipiat formam nisi per finem, et forma non perficiat materiam nisi per finem. Unde dicitur quod finis est causa causarum, quia est causa causalitatis in omnibus causis.“ (DPN §4.18-36)
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
mit überhaupt keine Wirkursache. Das Ziel legt also die Identität einer Wirkursache fest, da nur im Rekurs auf ein Ziel bestimmt ist, ob eine gewisse Substanz überhaupt eine Wirkursache ist, und um was für eine Wirkursache es sich dabei gegebenenfalls handelt.36 Damit wird nicht nur deutlich, dass Thomas’ These des Primats der Finalursache (PF) eine metaphysische Aussage über die Individuation von Ursachen macht. Es zeigt sich auch, dass die ihr zugrunde liegende Finalitätsthese (F) ebenfalls in einem metaphysischen Sinne verstanden werden muss. Als These, die über die Identität von Wirkursachen Aufschluss gibt. Vor dem Hintergrund des individuationstheoretischen Verständnisses von Thomas’ Thesen (F) und (D) leuchtet unmittelbar ein, inwiefern die Finalursache ein Primat gegenüber der Wirkursache einnimmt: Die Finalursache ist für die Spezifikation einer Wirkursache als Wirkursache verantwortlich und macht sie in diesem Sinne erst zu einer Wirkursache.37 Doch Thomas’ These (PF) ist allgemeiner. Sie besagt, dass die Finalursache die Ursache aller Ursachen ist. Inwiefern ist die Finalursache also auch die Ursache der Material- oder der Formalursache? Thomas’ Antwort darauf fällt denkbar knapp aus. Er sagt lediglich: „In ähnlicher Weise macht das Ziel die Materie zur Materie und die Form zur Form, da die Materie die Form nicht aufnähme ohne Vermittlung durch das Ziel, und die Form die Materie nicht vollendete, wenn nicht durch das Ziel.“38 Wie ist angesichts dieser Antwort also das Primat der Finalursache vor der Material- und Formursache zu verstehen? Auf diese Frage bieten sich zwei Antworten an. Zunächst könnte man sich an Thomas’ abschließender Zusammenfassung seines Arguments für die These des Primats der Finalursachen orientieren. Dort schreibt er, dass „das Ziel die Ursache aller Ursachen ist, weil
____________ 36 Diese Begründung der Finalitätsthese findet sich auch in Pasnau 2002, 203, und in Hoffmann 2009, 298. 37 Dass die Finalursache nach Thomas ein bestimmendes Vermögen hat, zeigt sich auch indirekt, wenn Thomas der Wirkursache eben dieses Vermögen abspricht: Das Wirkende ist „die Ursache von jenem, das Ziel ist – damit Gesundheit werde –, trotzdem verursacht die Wirkursache nicht, dass das Ziel Ziel sei.“ (DPN §4.19-21). Auch wenn das Wirkende das Ziel hervorbringt, bestimmt es das Ziel nicht als Ziel. 38 „[S]imiliter facit materiam esse materiam, et formam esse formam, cum materia non suscipiat formam nisi per finem, et forma non perficiat materiam nisi per finem.“ (DPN §4.31-34)
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es in allen Ursachen Ursache der Ursächlichkeit ist.“39 Eine auf den ersten Blick einleuchtende Interpretation dieser Passage hat John Carriero vorgeschlagen: Aquinas explains that ‚the end is the cause of causes, inasmuch as it is the causality of all causes’ […]. By this he means that, absent the direction of the end, the agent’s actions would be underdetermined (and so could not make potential perfection actual), matter would not receive form, and form would not perfect matter[.] (Carriero 2005, 113)
Ausgehend davon, dass die Finalursache die Ursache der Wirkursache ist, lässt sich also ganz einfach auch das Primat der Finalursache vor der Material- und Formursache begründen. Wie anhand der kurzen Diskussion von Thomas’ Kausalprinzip bereits deutlich geworden ist, vollzieht sich eine Veränderung – aufgefasst als Aktualisierung einer Form in einer spezifischen Materie – nicht von selbst. „Was nämlich in Potenz ist, kann sich nicht selbst in den Akt überführen […] ‹und› auch die Form könnte sich nicht selbst aus der Potenz in den Akt überführen“.40 Damit eine Veränderung tatsächlich stattfindet, bedarf es deshalb einer Wirkursache, welche die Aktualisierung einer Form auslöst. Entsprechend ist eine Wirkursache auch dafür verantwortlich, dass Materie und Form zu Material- und Formursachen werden. Und zwar in dem Sinne, dass es ohne Wirkursache zu gar keinem Veränderungsprozess käme, in den Materie und Form überhaupt als Ursachen eingehen könnten. Da aber eine Wirkursache ohne Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel gar nicht wirksam wäre, ist die Finalursache mittelbar auch für die Ursächlichkeit der Material- und Formursachen verantwortlich. Aus diesem Grund ist die Finalursache auch die Ursache der Material- und Formursache. Materie und Form hätten ohne die Einwirkung einer bestimmten, d.h. zielgerichteten, Wirkursache gar keine Gelegenheit Ursachen zu werden.41
____________ 39 „[F]inis est causa causarum, quia est causa causalitatis in omnibus causis.“ (DPN §4.35) 40 „Quod enim est in potentia, non potest se reducere ad actum […] [f]orma etiam non extraheret se de potentia in actum“ (DPN §3.3-7). 41 Für diese Deutung spricht, dass Thomas in der ScG III §17 ¶9, schreibt: „Vom Tätigen aber wird die Materie in den Akt der Form überführt; daher wird die Materie aktual die Materie dieses Dinges und in ähnlicher Weise die Form Form dieses Dinges durch die Tätigkeit des Tätigen und folglich durch das Ziel; Ex agente autem materia in actum formae reducitur: unde materia fit actu huius rei materia, et similiter forma huius rei forma, per actionem agentis, et per consequens per finem.“ Vgl. für diese Interpretation auch Carriero 2005, 110-114.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
Gegen diese Deutung lassen sich jedoch sogleich zwei Einwände vorbringen. Zum einen scheint sie ein rein passives Formverständnis vorauszusetzen, demzufolge Formen zu ihrer Aktualisierung immer einer Wirkursache bedürfen, und sich nicht selbst aktualisieren können. Wie Thomas aber schreibt, fallen in manchen Prozessen, die daran beteiligten Wirkursachen, Ziele und Formen zusammen: Und man muss wissen, dass die drei Ursachen in eins fallen können, d.h. die Form, das Ziel und das Wirkende, wie anhand der Entstehung des Feuers deutlich wird: Das Feuer erzeugt nämlich Feuer, also ist das Feuer die Wirkursache, insofern es erzeugt; und wiederum ist das Feuer Form, insofern es macht, dass das, was zuerst der Potenz nach war, im Akt existiert; und wiederum ist es das Ziel, insofern es vom Tätigen intendiert ist und insofern in ihm die Operationen des Tätigen selbst enden.42
Da eine Form auch zu einer Wirkursache werden kann, ist eine Form nicht als etwas rein Passives zu verstehen, sondern eben auch als etwas Aktives, das selbst etwas bewirken kann. Dieser Einwand lässt sich aber einfach zurückweisen: Selbst wenn Formen nicht einfach passive Entitäten sein sollten, sondern ganz im Gegenteil häufig aktiv Veränderungsprozesse hervorrufen, so tun sie dies nicht länger in der Funktion einer Formalursache, sondern in der Funktion einer Wirkursache. Die obige Passage zeigt ganz deutlich, dass Ursachen für Thomas nicht einfach ontologisch als diese oder jene Entitäten charakterisiert sind, sondern als verschiedene Hinsichten oder Aspekte von Entitäten. Entsprechend kann ein und dasselbe Ding – wie etwa Feuer –, in einer Hinsicht als Wirkursache, in einer anderen als Formalursache und in einer dritten sogar als Finalursache eines Prozesses beschrieben werden. Nur wenn man wie Carriero in Einklang mit Thomas’ Kausalprinzip betont, dass eine Potenz zur Aktualisierung ihrer Form einer Wirkursache bedarf, heißt dies nicht, dass diese Aktualisierung nicht selbst wieder von einer Form ausgehen kann – die dann aber in der Rolle einer Wirkursache auftritt. Der zweite Einwand gegen diese Interpretation wiegt schwerer: Es fällt auf, dass Carriero das Primat der Finalursache vor der Material- und Formalursache mittelbar über die Wirkursache erklärt. Die Finalursache, so lautet sein Vorschlag, ist deshalb gegenüber der Material- und Formalursa-
____________ 42 „Et est sciendum quod tres causae possunt incidere in unum, scilicet forma, finis, et efficiens: sicut patet in generatione ignis. Ignis enim generat ignem, ergo ignis est causa efficiens inquantum generat; et iterum ignis est forma inquantum facit esse actu quod prius erat potentia; et iterum est, finis inquantum est intentum ab agente et inquantum terminantur ad ipsum operationes ipsius agentis.“ (DPN §4.95-103)
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che prioritär, weil die Wirkursache gegenüber ihrer Ursächlichkeit prioritär sei, und wir bereits wissen, dass die Finalursache gegenüber der Wirkursache prioritär ist. Damit ist sowohl ein systematisches als auch ein exegetisches Problem verbunden: In systematischer Hinsicht beruht Carrieros Interpretationsvorschlag auf einer Äquivokation von „prioritär“. So ist die Wirkursache in einem anderen Sinne gegenüber Material- und Formursachen prioritär als die Finalursache gegenüber der Wirkursache prioritär ist. Die Wirkursache ist insofern gegenüber Material- und Formursachen prioritär, als Materie und Form einfach keine Gelegenheit hätten, in Veränderungsprozesse einzugehen und damit Ursachen zu werden, wenn es keine Wirkursachen gäbe, die diese Prozesse auslösten. Der hier verwendete Prioritätsbegriff ist in gewisser Weise ein kausaler: Wenn es keine Wirkursache gäbe, die etwas täte, dann würde auch mit der Materie und der Form nichts passieren. Im Gegensatz dazu ist eine Finalursache gegenüber der Wirkursache in einem metaphysischen Sinne prioritär: Ohne Ziel wäre eine Wirkursache unbestimmt, und damit gar keine (bestimmte) Wirkursache. Da hier also zwei Prioritätsbegriffe im Spiel sind, ist unklar, in welchem Sinne die Finalursache gegenüber der Material- und Formursache prioritär sein soll. Fest steht nur, dass die Finalursache gegenüber der Material- und Formursache in einem anderen Sinne prioritär sein müsste, als sie es gegenüber der Wirkursache ist. Das führt unmittelbar zu dem exegetischen Problem, dem sich Carrieros Vorschlag aussetzt. So schreibt Thomas, nachdem er für die Priorität der Finalursache gegenüber der Wirkursache argumentiert hat, dass das Ziel „in ähnlicher Weise […] die Materie zur Materie und die Form zur Form“ mache, in der es die Wirkursache zur Wirkursache macht.43 Das deutet darauf hin, dass Thomas meint, das Ziel sei in demselben Sinne für die Identität der an einer Veränderung beteiligten Materie und Form verantwortlich, wie es für die Identität der daran beteiligten Wirkursache ist. Dem trägt Carrieros Interpretation nicht Rechnung: Zum einen ist unklar, inwiefern das Ziel seinem Vorschlag zufolge die Materie zur Materie und die Form zur Form macht, zum andern bleibt dunkel, worin eigentlich die Ähnlichkeit zwischen der Art und Weise bestehen sollte, in der das Ziel Ursache der Wirkursache und Ursache der Material- und Formursache ist.
____________ 43 An anderer Stelle (In Phys. II §15 ¶5) meint Thomas: Das „Ziel ist nicht so beschaffen, wie es ist, weil die Materie so beschaffen ist, sondern vielmehr ist die Materie so beschaffen, wie sie es ist, weil das Ziel so beschaffen ist.“
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Angesichts dieser Probleme von Carrieros Interpretation bietet es sich an, nach einer anderen Erklärung zu suchen, die verständlich macht, inwiefern die Finalursache Ursache der Material- und Formursache ist. Wie gesehen, ist die Finalursache deshalb die Ursache der Wirkursache, weil eine Wirkursache ohne Ziel oder bestimmte Wirkung keine bestimmte Wirkursache und damit überhaupt keine Wirkursache wäre. Die Finalursache ist also insofern die Ursache der Wirkursache als sie für die Spezifikation dieser Wirkursache als Wirkursache verantwortlich ist und damit die Wirkursache zur Wirkursache macht. Wenn nun Thomas schreibt, dass das Ziel „in ähnlicher Weise […] die Materie zur Materie und die Form zur Form“ macht, kann das so verstanden werden, dass die Finalursache auch die Materie und die Form spezifiziert und in dem Sinne die Ursache der Material- und Formursache ist. Aber in welcher Weise könnte die Finalursache die Materie und Form einer Veränderung spezifizieren? Erinnert man sich an Thomas’ aristotelisches Veränderungsverständnis, lässt sich diese Frage einfach beantworten. Wenn Veränderungen Aktualisierungen von Formen sind, so haben Veränderungen ein natürliches Ende oder Ziel, bei dessen Erreichen sie abgeschlossen sind. Dieses Ziel besteht in der vollständig aktualisierten Form, als deren Aktualisierung die Veränderung bestimmt ist. Daher fällt auch die Formursache eines natürlichen Veränderungsprozesses immer mit dem Ziel oder Ende dieses Prozesses zusammen.44 Schließlich ist der Prozess ja genau dann abgeschlossen, wenn die Form – als deren Aktualisierung er bestimmt ist – vollständig aktualisiert ist. Damit, so zeigt sich nun, kann die an einer Veränderung beteiligte Form(-ursache) nur mit Blick auf das Ende oder Ziel dieser Veränderung bestimmt werden. Entsprechend ist die Finalursache eines Prozesses auf dieselbe Weise für die Identität der an diesem Prozess beteiligten Formursache verantwortlich, wie sie es für die daran beteiligte Wirkursache ist. Analoges gilt auch für die einer Veränderung zugrunde liegende Materialursache: Auch sie kann nur mit Bezug auf das Ende dieser Veränderung spezifiziert werden, da nur im Bezug auf dieses Ende bestimmt ist, welche Potenzialität in dieser Veränderung überhaupt relevant ist. Wenn z.B. der Künstler aus einem Stück Kupfer eine Statue macht, so ist es für diesen Prozess gleichgültig, dass das Kupfer das Vermögen hat, Strom zu leiten. Hauptsache es ist formbar und glänzt. Anders verhielte es sich, wenn man aus demselben Stück Kupfer elektrische Leitungen machen
____________ 44 „Man muss aber wissen, dass das Ziel mit der Form in eins fällt, denn jenes, was die Form des Gewordenen ist, ist das Ziel des Werdens.“ (DPN §4.114-116) Eine weitere Belegstelle dafür bietet die oben zitierte Passage aus DPN §4.95-103.
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wollte. Das zeigt, dass die relevanten materialen Eigenschaften von Dingen, die in einen Prozess eingehen, nur im Hinblick auf das Ende dieses Prozesses bestimmt werden können. Entsprechend ist die Finalursache auch für die Spezifikation der an einer Veränderung beteiligten Materialursache verantwortlich. Ausgehend von Thomas’ Aussage, das Ziel sei „in ähnlicher Weise“ wie bei der Wirkursache die Ursache der Material- und Formursache – nämlich insofern sie „die Materie zur Materie und die Form zur Form“ mache –, lässt sich also das Primat der Finalursache vor der Material- und Formursache darauf zurückführen, dass sich diese Ursachen erst im Rekurs auf die Finalursache bestimmen lassen.45 Vor diesem Hintergrund lassen sich nun bereits eine Reihe der Fragen beantworten, die ich in diesem Kapitel aufgeworfen habe: So fragte ich zu Beginn dieses Abschnitts, warum sich Thomas gezwungen sieht, Finalursachen in seine Liste der an einer Veränderung beteiligten Faktoren aufzunehmen. Dies lässt sich nun beantworten. Zum einen sind Veränderungen – verstanden als Aktualisierungen von Formen – final charakterisierte Entitäten: Was für eine Veränderung eine gegebene Veränderung ist, hängt davon ab, welche Form in dieser Veränderung aktualisiert wird, und das heißt, was das Ziel oder Ende dieser Veränderung ist, bei dessen Erlangung sie abgeschlossen ist. Zum andern ist auch die Identität der Wirkursachen, die diese Veränderungen auslösen, davon abhängig, auf welche Wirkungen sie festgelegt sind; und das heißt für Thomas: auf welche Wirkungen diese Wirkursachen abzielen. Da dieses Ziel für die Identität eines Veränderungsprozesses sowie für die ihn auslösende Wirkursache verantwortlich ist, muss es in die Liste der Faktoren, von denen Veränderungen abhängen, aufgenommen und entsprechend als Ursache gezählt werden. Darüber hinaus lassen sich auch die zu Beginn dieses Kapitels aufgeworfenen Fragen nach Thomas’ Thesen des Primats der Finalursache (PF) und der Ubiquität der Finalursache (U) beantworten. Die These (PF) hält Thomas für wahr, weil Veränderungen seinem hylemorphistischen Verständnis zufolge final charakterisierte Entitäten sind, und sich folglich auch die Bestandteile dieser Veränderungen wie die Wirk-, Material- und Formursache nur im Hinblick auf das Ende dieser Veränderung als deren Bestandteile bestimmt werden können. Substanzen sind nur insofern Teil eines Prozesses, als sie zum Abschluss dieses Prozesses beitragen. Das erklärt auch, warum Thomas die These (U) vertritt und meint, alle Tätigkeiten müssten sich um eines Ziels willen vollziehen. Die Ziele, auf die
____________ 45 Eine ähnliche Interpretation schlägt Pasnau 2002, 21f., vor.
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einzelne Tätigkeiten ausgerichtet sind, verleihen ihnen ihre spezifische Identität. Eine Tätigkeit, die nicht auf ein Ziel ausgerichtet wäre, wäre keine bestimmte, und damit überhaupt keine Tätigkeit. Deshalb müssen sich alle Tätigkeiten – insofern sie die Tätigkeiten sind, die sie sind – um eines Zieles willen vollziehen.
Thomas’ dispositionale Kausalitätstheorie Die obige Analyse von Thomas’ Thesen des Primats und der Ubiquität der Finalursache mag irritieren. Denn beide diese Thesen sind in gegenwärtigen philosophischen Kausalitätsdebatten denkbar unpopulär: Kaum jemand würde behaupten, dass sich ohne Verweis auf Ziele keine Veränderungsprozesse beschreiben ließen, und dass sich jeder natürliche Veränderungsprozess um eines Zieles willen vollzieht.46 Andererseits erscheint Thomas’ Determiniertheitsthese (D), wonach jede (Wirk-)Ursache eine bestimmte Wirkung hat, derart trivial, dass sie kaum jemand bestreiten würde. Insbesondere kausale Deterministen, die behaupten, jedes Geschehen in dieser Welt sei durch seine vorhergehenden Ereignisse kausal determiniert, dürften mit (D) keine Probleme haben. Aber gerade jene würden wohl kaum gerne behaupten wollen, dass Kausalprozesse daher teleologisch zu verstehen sind und zielgerichtet verlaufen. Umso erstaunlicher ist es, dass Thomas seine Finalitätsthese (F), der zufolge jede Wirkursache auf eine bestimmte Wirkung abzielt, im Sinne seiner unkontrovers anmutenden These (D) versteht, und anschließend ausgehend von (F) für seine beiden kontrovers erscheinenden Thesen (PF) und (U) argumentiert. Das riecht zunächst nach einem philosophischen Taschenspielertrick: Thomas tut so, als vertrete er zwei gewichtige Thesen über einen zielgerichteten und zweckhaften Verlauf der Welt, obwohl sich dahinter tatsächlich nur eine etwas prätentiöse Formulierung der trivialen These (D) verbirgt, wonach jede Wirkursache eine bestimmte Wirkung hat. Wie allerdings ein Blick in andere Passagen von Thomas’ Werk zeigt, tut Thomas nicht nur so, als ob er kontroverse Thesen über die Zweckmäßigkeit des Weltverlaufs vertreten würde. Er tut es tatsächlich: Das wird besonders deutlich, wenn Thomas aus seiner These der Ubiquität der Finalursache darauf schließt, „dass jedes Tätige um eines Guten willen tätig
____________ 46 Natürlich gibt es Ausnahmen. Dazu gehören Philosophen, die auf der Grundlage transzendentalphilosophischer Überlegungen Aristoteles’ hylemorphistische Bewegungstheorie rehabilitieren wollen. So etwa Rödl 2005 und Hennig 2009b.
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ist“,47 anschließend zu der These übergeht, „dass alles auf ein Ziel hingeordnet ist, nämlich Gott“,48 und endlich behauptet, die gesamte Einrichtung des Weltverlaufs sei auf den Menschen ausgerichtet.49 Insofern diese alles andere als trivialen Behauptungen auf Thomas’ Thesen (PF) und (U) beruhen, können diese beiden Thesen nicht den unkontroversen Sinn haben, den man ihnen ausgehend von der These (D) zunächst zuzuschreiben geneigt ist. Damit weicht der Verdacht des Taschenspielertricks dem der Äquivokation. Wenn Thomas in einem Argument mit einer unkontroversen These beginnt, aber mit einer höchst kontroversen These aufhört, so muss sich irgendwo auf dem Weg eine kontroverse These eingeschlichen haben – und das vermutlich, indem Thomas eine These, die er nur in einem unkontroversen Sinne begründet hat, zur Begründung einer stärkeren These plötzlich in einem kontroversen Sinne verwendet. Mit Bezug auf Thomas’ Argument für seine umstrittenen Thesen (PF) und (U) lässt sich dieser Verdacht leicht konkretisieren: So scheint die Finalitätsthese (F), wenn sie als Äquivalent zur Determiniertheitsthese (D) begründet wird, eine schwächere These zu sein als die Finalitätsbehauptung, die Thomas braucht, um
____________ 47 „Quod omne agens agit propter bonum“ (ScG III §3 tit.). Thomas führt dazu neun Argumente an. Eines macht besonders deutlich, dass er das Ziel oder die Finalursache, von der in seinen Thesen (U) und (PF) die Rede ist, in einem kontroversen, normativen Sinn versteht. Er schreibt: „Das Ziel ist das, worin das Streben des Tätigen oder die Bewegung und dessen, was bewegt wird, zur Ruhe kommt. Es gehört aber zur Definition des Guten, dass es das Streben begrenzt. Denn ‚das Gute ist das, wonach alles strebt’ [Aristoteles, EN I.1, 1094a]. Also findet jede Tätigkeit und Bewegung um eines Guten willen statt.“ (ScG III §3 ¶3) 48 „Quod omnia ordinantur in unum finem, qui est Deus“ (ScG III §17 tit.). Auch dafür führt Thomas eine Reihe von Argumenten an. Eines davon schließt explizit an seine Thesen (PF) und (U) an: „Das Ziel hat unter den anderen Ursachen ein Primat, und ihm verdanken alle anderen Ursachen, dass sie aktuell Ursachen sind: denn das Tätige ist nur um eines Zieles willen tätig, wie gezeigt wurde. […] Auch ist das spätere Ziel Ursache dafür, dass das vorausgehende Ziel als Ziel erstrebt wird: nur um des letzten Zieles willen wird etwas zu einem nächststehenden Ziel bewegt. Das letzte Ziel ist also erste Ursache von allem. Notwendig kommt aber die erste Ursache von allem dem ersten Seienden, d.h. Gott, zu, wie oben gezeigt wurde. Daher ist Gott das letzte Ziel von allem.“ (ScG III §17 ¶9) 49 So schließt Thomas seine Überlegungen zur Frage, wie die Dinge auf ihre Ziele hingeordnet seien, mit den Worten: „Wenn also die Bewegung des Himmels selbst auf die Zeugung hingeordnet ist; wenn diese ganze Zeugung aber auf den Menschen als letztes Ziel dieser Gattung hingeordnet ist, so ist es offensichtlich, dass das Ziel der Himmelsbewegung auf den Menschen als das letzte Ziel in der Gattung des Zeugbaren und Beweglichen hingeordnet ist.“ (ScG III §22 ¶9)
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
eine kontroverse Behauptung über den zweckmäßigen Verlauf der Welt zu rechtfertigen. Um Thomas von diesem Verdacht zu befreien, gilt es zu zeigen, dass seine Determiniertheitsthese (D) doch nicht so unkontrovers ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint, und als solche auch für eine Begründung der kontroverseren Finalitätsthese herangezogen werden kann, aus der weitere kontroverse Thesen abgeleitet werden können. Zudem gilt es, Thomas’ kontroverse Determiniertheitsthese (D) selbst zu begründen. Kehren wir dafür zu dieser These zurück: (D)
Jedes Tätige oder jede Wirkursache x hat eine bestimmte Wirkung y.
Im letzten Abschnitt habe ich dafür plädiert, diese These nicht als bloße Trivialität abzutun, sondern als eine metaphysische These zu verstehen, die über die Identität von Wirkursachen Auskunft gibt. Aber natürlich wird eine These allein dadurch, dass man sie zu einer metaphysischen erklärt, nicht automatisch weniger trivial. Wie sich mittlerweile herausgestellt hat, argumentiert Thomas ausgehend von (D) – oder ihrem Äquivalent (F) – für eine zweckmäßige Weltordnung, was tatsächlich auf einen nicht-trivialen Gehalt dieser These hindeutet. Nur, worin könnte der bestehen? Aufschluss darüber gewinnt man, wenn man sich zunächst fragt, ob jemand die These (D) sinnvollerweise bestreiten könnte. Auf diese Frage bieten sich zu Recht zwei gegenteilige Antworten an: Einerseits könnte man argumentieren, (D) sei nicht sinnvollerweise bestreitbar, da x ja nur dadurch eine Wirkursache sei, dass x eine bestimmte Wirkung – etwa y – habe. Ein x als Wirkursache zu bezeichnen, ohne dass dieses x auch eine bestimmte Wirkung hat, käme schließlich einem Missbrauch an Wörtern gleich: Etwas, das keine Wirkung hat, ist schlicht keine Wirkursache. Andererseits lässt sich aber auch anführen, (D) sei sehr wohl bestreitbar, da eine bestimmte Wirkursache x nicht unbedingt die bestimmte Wirkung y hervorbringen müsse. Es könnte ja auch sein, dass x die Wirkung z oder überhaupt keine Wirkung hervorbrächte. So kann ja – einem beliebten aristotelischen Beispiel zufolge50 – auch ein Musiker einmal auf das Musizieren verzichten und stattdessen ein Haus bauen. Damit zeigt sich doch, dass der Musiker gerade nicht auf eine bestimmte Wirkung – wie etwa das Musizieren – festgelegt ist.
____________ 50 Thomas selbst greift in Anlehnung an Aristoteles auf dieses Beispiel zurück, wenn er zwischen eigentlichen Ursachen (causae per se) und akzidentellen Ursachen (causae per accidens) unterscheidet. Siehe In Met. V §3 ¶12.
Thomas’ dispositionale Kausalitätstheorie
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Ein genauer Blick auf diese beiden verschiedenen Antworten zeigt, dass die These (D) tatsächlich ambig ist, und einmal in einem starken und einmal in einem schwachen Sinne verstanden werden kann. So argumentiert die erste Antwort, x könne unmöglich eine Wirkursache sein, wenn x überhaupt keine Wirkung hat; während die zweite Antwort anmerkt, eine spezifische Wirkursache x sei durch nichts in der Welt darauf festgelegt, ausgerechnet ein gewisses y hervorzubringen. Die erste Antwort legt den Ausdruck „eine bestimmte Wirkursache y“ in (D) also in einem unbestimmten Sinne aus – und liest sie entsprechend mit der Betonung auf den unbestimmten Artikel „eine“. Dieses schwache Verständnis von (D) lässt sich somit wie folgt ausbuchstabieren: (D–)
Jedes Tätige oder jede Wirkursache x hat irgendeine bestimmte Wirkung y.
Im Gegensatz dazu geht eine Vertreterin der zweiten Antwort von einer starken Lesart von (D) aus und liest „eine bestimmte Wirkursache y“ streng qualifizierend mit der Betonung auf „bestimmte“. Ihre Deutung lässt sich wie folgt ausdrücken: (D+)
Jedes Tätige oder jede Wirkursache x hat eine ganz bestimmte Wirkung y.
Das zeigt, dass Thomas’ These (D) nur dann eine interessante, weil auch bestreitbare, metaphysische Behauptung macht, wenn man sie als eine streng qualifizierende Aussage im Sinne von (D+) versteht. Dieser starken Lesart zufolge macht Thomas nämlich nicht nur die triviale Behauptung, dass Ursachen irgendwelche Wirkungen haben, sondern er stellt mit (D+) die viel kontroversere These auf, dass jede Ursache eine ihr eigentümliche Wirkung aufweist. Dass Thomas seine These (D) tatsächlich in diesem stärkeren Sinn von (D+) versteht, ergibt sich auch aus einer anderen Stelle, in der er für die seiner Ansicht nach mit (D) äquivalenten Finalitätsthese (F) argumentiert. Dort schreibt er: Jedes Tätige ist entweder aufgrund seiner Natur oder aufgrund seines Verstandes tätig. Über die aufgrund des Verstandes Tätigen gibt es keinen Zweifel, dass sie um eines Zieles willen tätig sind; denn sie sind tätig, indem sie vorher im Verstand das erfassen, was sie durch ihre Tätigkeit erreichen, und aus einem solchen Vorhererfassen heraus sind sie tätig. Das bedeutet nämlich, aufgrund seines Verstandes tätig zu sein. Wie aber im vorher erfassenden Verstand eine vollständige Ähnlichkeit mit der Wirkung besteht, die durch die Tätigkeiten des Einsehenden erreicht wird, so besteht im natürlich Tätigen eine Ähnlichkeit mit der natürlichen Wirkung im voraus, von der aus die Tätigkeit auf diese Wirkung festgelegt wird; denn das Feuer erzeugt Feuer und der Ölbaum einen Ölbaum. Wie also das verständig Tätige durch seine Tätigkeit nach einem bestimmten Ziel
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strebt, so auch das aufgrund seiner Natur Tätige. Also ist jedes Tätige um eines Zieles willen tätig.51
Im Gegensatz zur oben diskutierten Passage aus De principiis naturae begründet Thomas hier seine Finalitätsthese nicht im Rekurs auf (D). Er rechtfertigt seine These (F), wonach jede Wirkursache auf eine bestimmte Wirkung abzielt, hier vielmehr dadurch, dass er von Handlungen rationaler Akteure als einem unbestreitbaren Fall zielgerichteter Tätigkeit ausgeht, und diesen anschließend verallgemeinert. Wie er ausführt, hängt die Zielgerichtetheit einer rationalen Handlung davon ab, dass sie im Hinblick auf ein ganz gewisses Ziel, das ihr Akteur erkennt, ausgeführt wird. Nach Thomas’ Erkenntnistheorie erkennt eine Person einen Gegenstand genau dann, wenn ihr Intellekt dem zu erkennenden Gegenstand vollkommen ähnlich oder mit ihm identisch ist. Wie dies genau gemeint ist, wird weiter unten zu klären sein. Wichtig ist hier nur, dass zielgerichtetes Handeln aus Erkenntnis letztlich auf einer Art von Ähnlichkeit (similitudo) beruht. Nun ist ‚Ähnlichkeit’ für Thomas ein technischer Ausdruck. Wie er an anderer Stelle ausführt, sind sich zwei Dinge genau dann ähnlich, wenn sie dieselbe Form teilen.52 Doch genau diese Ähnlichkeit, so meint Thomas hier, fände sich zwischen den Wirkursachen und ihren Wirkungen, denn „das Tätige bringt ein ihm Ähnliches hervor“.53 Das zeigt sich z.B. darin, dass ein Ölbaum ein Ölbaum und Feuer Feuer erzeugt.54 Aus diesem
____________ 51 „Omne agens vel agit per naturam, vel per intellectum. De agentibus autem per intellectum non est dubium quin agant propter finem: agunt enim praeconcipientes in intellectu id quod per actionem consequuntur, et ex tali praeconceptione agunt; hoc enim est agere per intellectum. Sicut autem in intellectu praeconcipiente existit tota similitudo effectus ad quem per actiones intelligentis pervenitur, ita in agente naturali praeexistit similitudo naturalis effectus, ex qua actio ad hunc effectum determinatur: nam ignis generat ignem, et oliva olivam. Sicut igitur agens per intellectum tendit in finem determinatum per suam actionem, ita agens per naturam. Omne igitur agens agit propter finem.“ (ScG III §2 ¶6). Vgl. auch ScG II §47 ¶4, als Parallelstelle. 52 So schreibt Thomas, „similitudo attendatur secundum convenientiam vel communicationem in forma – die Ähnlichkeit ist gemäß einer Übereinstimmung oder Übereinkunft mit der Form zu beachten“ (STh., I q. 4 art. 3 corp.). Vgl. auch Perler 2002, 55-60. 53 „[A]gens enim agit sibi simile“ (ScG III §19 ¶4). 54 Ausgehend von dieser Stelle kommt Klubertanz 1959, 116f. zum Schluss, dass Thomas’ Finalitätsthese nicht allein a priori, sondern auch empirisch begründet sei. Dies bestreite ich mit demselben Argument, mit dem ich im letzten Abschnitt eine empirische Deutung von (D) zurückgewiesen habe: Als allgemeine metaphy-
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Grund lassen sich alle wirkkausalen Beziehungen mit Hilfe des Begriffs der Ähnlichkeit beschreiben. Da aber Thomas gerade die Ähnlichkeit im unproblematischen Fall zielgerichteter Tätigkeit als das identifiziert hat, was diese Tätigkeit zu einer zielgerichteten Tätigkeit macht, sind schlechthin alle Tätigkeiten, insofern sie sich durch den Begriff der Ähnlichkeit charakterisieren lassen, als zielgerichtete Tätigkeiten aufzufassen. Deshalb ist alles Tätige um eines Zieles willen tätig. Wie in dieser Rekonstruktion deutlich wird, begründet Thomas hier die Finalitätsthese mit dem Verweis auf das, was man als Ähnlichkeits- oder Similitätsthese wie folgt ausformulieren könnte: (S)
Eine Wirkursache x ist ihrer Wirkung y ähnlich.
Diese alternative Begründung der Finalitätsthese gibt im Kontrast zu Thomas’ Begründung der Finalitätsthese in De principiis naturae weiteren Aufschluss über die dort verwendete Determiniertheitsthese (D), in Bezug auf die noch mindestens zwei Fragen offen sind: So ist erstens unklar, ob es sich bei (D) um eine These handelt, die in einem schwachen oder in einem starken Sinne verstanden werden muss, und zweitens sagt (D) nichts darüber aus, worin diese Bestimmtheit genau besteht, von der (D) behauptet, sie käme der Wirkung einer Wirkursache zu. In beiden Punkten hilft Thomas’ Ähnlichkeitsthese (S) weiter. In Bezug auf die zweite Unklarheit zeigt sich, dass die Wirkung einer Wirkursache dadurch bestimmt ist, dass sie ihrer Ursache ähnlich ist. Insofern diese ‚Ähnlichkeit’ ein Thomasischer Fachbegriff ist, der die „Übereinstimmung oder Übereinkunft mit der Form“ bezeichnet,55 lichtet sich auch die erste Unklarheit und es wird deutlich, dass (D) tatsächlich im starken Sinne von (D+) gelesen werden muss. Das heißt jede Ursache weist eine ganz bestimmte, und nicht bloß irgendeine Wirkung auf. Denn (S) zufolge, sind sich Ursache und Wirkung ähnlich, stimmen also in ihrer Form überein oder haben dieselbe Form. Anhand von Thomas’ beiden Kausalitätsthesen (D) und (S) wird sogleich ein weiterer wichtiger Unterschied sichtbar, der zwischen Humes und Thomas’ Kausalitätsauffassung besteht. So hat Hume an einer für die gegenwärtige Kausalitätsdebatte zentralen Stelle dafür argumentiert, dass das Wissen über die Relation zwischen Ursache und Wirkung „in keinem Fall durch apriorische Überlegungen erlangt wird, sondern gänzlich aus der
____________ sische Thesen sind sie nicht empirisch begründbar. Der Verweis auf die Fälle des Feuers und des Ölbaums illustrieren seine These, sie begründen sie nicht. 55 Vgl. Anm. 52.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
Erfahrung stammt, wenn wir herausfinden, dass bestimmte Gegenstände konstant miteinander verbunden sind.“56 Hume meint weiter: Adam, obschon angenommen, seine rationalen Fähigkeiten seien zuallererst gänzlich vollkommen gewesen, hätte nicht von der Flüssigkeit und Durchsichtigkeit des Wassers darauf schließen können, dass es ihn ertränken, oder von dem Licht und der Wärme des Feuers, dass es ihn verzehren würde. Kein Gegenstand enthüllt durch die Qualitäten, die den Sinnen erscheinen, jemals die Ursachen, die ihn hervorbrachten, oder die Wirkungen, die aus ihm entstehen werden […].57
Nach Hume ist es also ein rein empirisches und damit kontingentes Faktum, dass Wasser Menschen ertränken und Feuer Menschen verbrennen kann.58 Es gibt nichts im Begriff des Wassers oder Feuers, aufgrund dessen festgelegt wäre, dass dieses unter geeigneten Umständen zum Ertrinken, jenes zum Brand führt. Entsprechend kann aufgrund apriorischer Überlegungen allein auch niemals erkannt werden, was für Ursachen oder Wirkungen ein gewisses Ding hat. Dem würde Thomas auf der Grundlage seiner Thesen (D) und (S) vehement widersprechen. Für ihn ist es gerade nicht kontingent, dass Feuer Feuer erzeugt, und Wasser die für das Überleben notwendige Luft verdrängen kann.59 Denn die Formen des Feuers und des Wassers legen eindeutig fest, dass Feuer andere aufgrund ihrer Form brennbaren Substanzen in Brand versetzen kann, und Wasser das Vermögen hat, Elemente wie Feuer und Luft, die ihm aufgrund ihrer elementaren Formen entgegengesetzt sind, in tieferen Regionen, wo Wasser seinen natürlichen Ort hat, zu verdrängen. Sofern die Identität einer Substanz von ihrer Form abhängt,
____________ 56 David Hume: Enquiry Concerning Human Understanding IV, 109. 57 David Hume: Enquiry Concerning Human Understanding IV, 109f. 58 Der exegetischen Fairness halber ist zu betonen, dass man Hume an dieser Stelle auch epistemisch lesen könnte. Man könnte argumentieren, Hume stelle nicht die metaphysische Behauptung auf, dass kausale Relationen kontingent sind, sondern lediglich, dass wir ihre Notwendigkeit nicht erkennen können. Ich operiere hier mit der starken, metaphysischen Lesart, weil erstens viele Hume’anische Kausalitätstheoretiker eine solche These vertreten, und zweitens weil so der Kontrast zu Thomas möglichst groß ist, wodurch sich Thomas’ Eigenheit besser herausstellen lässt. 59 Nach Thomas handelt es sich bei Wasser neben Feuer, Erde und Luft um eines der vier Elemente. Luft ist dabei durch Trockenheit und Kälte, Wasser durch Feuchte und Kälte charakterisiert. Da Feuchte das konträre Gegenteil zur Trockenheit ist, sind sich diese beiden Elemente entgegengesetzt, so dass das Wasser, dessen natürlicher Ort unten ist, die lebenswichtige Luft typischerweise verdrängt, wenn man ins Wasser taucht. Vgl. zu Thomas’ Elementenlehre Bobik 1998.
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und diese Form bestimmt, was diese Substanz bewirken kann, hängt ihre Identität auch von ihrem kausalen Vermögen ab. Entsprechend gehören die kausalen Dispositionen zur Essenz eines Dinges, wie Thomas betont, wenn er schreibt, dass „das natürlich Tätige durch die Form tätig ist, die es zu dem macht, was es ist“.60 Damit ist es für Thomas sowohl begrifflich als auch metaphysisch unmöglich, dass Feuer selbst unter idealen Umständen brennbares Material nicht in Brand setzte: Etwas, das brennbares Material nicht entzünden kann, das hat nicht die Form des Feuers und ist damit überhaupt kein Feuer. Folglich ist es für Feuer und Wasser notwendig, dass sie die Wirkungen hervorbringen, die sie typischerweise hervorbringen. „Denn Wasser kann nur sein, wenn es die Form des Wassers hat, und Feuer kann nur sein, wenn es die Form des Feuers hat.“61 Deshalb könnte auch Adam, wenn er die Begriffe des Feuers und des Wassers vollständig erfasste – und d.h. für Thomas: ihre Formen in seinem Intellekt auf intentionale Weise aufnähme –, mit Hilfe apriorischer Überlegungen erschließen, welche Wirkungen von Wasser und Feuer ausgehen. Damit wird deutlich, dass Thomas eine dispositionale Theorie der Kausalität vertritt: Einzelne Substanzen verfügen über spezifische Dispositionen oder Vermögen, durch die festgelegt ist, wie sich diese Substanzen verhalten – und zwar im aktiven wie im passiven Sinne. „Es gibt nämlich“, so meint Thomas, „in den Geschöpfen zwei Vermögen: ein passives und ein aktives.“62 „Wie das passive Vermögen aus dem folgt, was der Möglichkeit nach existiert, so folgt das aktive Vermögen aus dem, was der Wirklichkeit nach ist: Denn jedes Seiende ist tätig, weil es in einem Akt ist, aber es erleidet deshalb, weil es in Potenz ist.“63 Für die aktiven Vermögen sind die Formen verantwortlich, indem sie gewisse Eigenschaften dieser Substanzen wirklich und damit wirkend machen.64 Wie Thomas in
____________ 60 „agens per naturam agit per formam per quam est, quae unius tantum est una“ (STh., I q. 47 art. 1 ad1). 61 „nam non potest esse aqua nisi habeat formam aquae, nec potest esse ignis nisi habeat formam ignis.“ (ScG III §5 ¶6) 62 „Est enim in creatura duplex potentia, scilicet activa et passiva.“ (STh. I q. 9 art. 2 corp.) 63 „Sicut potentia passiva sequitur ens in potentia, ita potentia activa sequitur ens in actu: unumquodque enim ex hoc agit quod est actu, patitur vero ex hoc quod est potentia. Sed Deo convenit esse actu. Igitur convenit sibi potentia activa.“ (ScG II §7 ¶3) 64 Dieses etymologischen Zusammenhangs zwischen ‚Wirklichsein’ (actus) und ‚Wirken’ (agere) bedient sich auch Thomas immer wieder – etwa, wenn er schreibt: „Unumquodque agit secundum quod est actu.“ (ScG I §16 ¶5)
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seinen Thesen (D) und (S) festhält, befähigen Formen ihre Substanzen also zu gewissen Wirkungen. Das passive Vermögen einer Substanz ist durch das bestimmt, was an dieser Substanz aktualisiert werden kann – was ihr also der Möglichkeit nach zukommt. Daher ist das passive Vermögen einer Substanz durch ihre Materie bestimmt. „Denn die Materie ist das, was der Möglichkeit nach ist.“65 Die materielle Beschaffenheit von Substanzen legt damit fest, welchen Veränderungen diese Substanzen unterliegen können, und entsprechend gegenüber der Einwirkung welcher Formen sie empfänglich sind. Welche aktiven und passiven Dispositionen eine Substanz hat, ist nach Thomas von ihrer substantiellen Form abhängig, die für die Identität dieser Substanzen verantwortlich ist.66 Entsprechend kommen die durch die substantielle Form bestimmten Vermögen von Substanzen, diesen Substanzen essentieller- und folglich auch notwendigerweise zu. Und genau deshalb gilt für Thomas – ganz im Gegensatz zu Hume – die Determiniertheitsthese (D) auch in ihrer starken Lesart (D+): Bezüglich jeder Substanz steht aufgrund ihrer substantiellen Form, die sie mit ihren spezifischen Dispositionen ausstattet, fest, wie sich diese Substanz in Veränderungsprozessen verhält und welche Wirkungen sie unter geeigneten Umständen hervorbringt. Thomas’ Determiniertheitsthese ist als Ausdruck einer essentialistisch dispositionalen Kausalitätstheorie also weit weniger trivial, als es zunächst erscheinen mochte. Sie setzt voraus, dass Dinge Essenzen haben, die sie sowohl mit aktiven als auch mit passiven kausalen Vermögen oder Dispositionen ausstatten. Daher ist es zum einen metaphysisch notwendig – und eben gerade nicht kontingent, wie Hume behauptet –, dass gewisse Substanzen im Normalfall bestimmte Wirkungen hervorbringen, und zum andern epistemisch möglich, allein aufgrund der Erkenntnis der Essenz eines Dinges a priori zu wissen, wie sich dieses Ding in verschiedenen Situationen typischerweise verhält.67
____________ 65 „Quia materia id quod est, in potentia est.“ (ScG I §17 ¶2) 66 Das macht Thomas in STh. I q.48 art. 4 corp. besonders mit Bezug auf die Elemente deutlich. 67 Als Begründungsaufsatz gegenwärtiger dispositionaler Kausalitätstheorien gilt Sydney Shoemakers Aufsatz „Causality and Properties“, in dem Shoemaker die These vertritt, die Identität von Eigenschaften hinge davon ab, zu welchen kausalen Vermögen eines Dinges diese Eigenschaften beitrügen (1980, 256). Shoemaker ist sich der starken modalen Konsequenzen, die sich aus seiner dispositionalen Eigenschaftsanalyse für die Kausalität ergeben, im Klaren: „This has a very strong consequence, namely that causal necessity is just a special case of logical necessity. If the introduction into certain circumstances of a thing having certain properties
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Nachdem sich Thomas’ Determiniertheitsthese genauer explizieren ließ, gilt es nun die zu Beginn dieses Abschnitts formulierten Aufgaben aufzunehmen. Erstens heißt es zu klären, ob und gegebenenfalls wie sich eine ontologisch schwerwiegende essentialistisch dispositionale Kausalitätstheorie, wie sie sich hinter Thomas’ These (D) verbirgt, rechtfertigen lässt; und zweitens muss untersucht werden, inwiefern es eine dispositionale Kausalitätsauffassung erlaubt, die Wirkungen von Ursachen tatsächlich als Ziele zu bezeichnen, wie es Thomas im Rahmen seiner Finalitätsthese (F) tut. Die erste dieser Aufgaben soll noch in diesem Abschnitt gelöst werden. Mit der zweiten werde ich mich im nächsten Abschnitt befassen. Leider rechtfertigt Thomas seine hinter (D) stehende dispositionale Kausalitätstheorie nicht direkt. Allerdings gibt er für die seiner Ansicht nach mit (D) äquivalenten These (F) eine Begründung, die einen Hinweis darauf liefert, warum er eine dispositionale Kausalitätstheorie einer Hume’schen Kausalitätsauffassung vorzieht. So führt er aus, „dass alles Tätige um eines Zieles willen tätig ist, da dies andernfalls nicht eher aus einer Tätigkeit eines Tätigen folgen würde als jenes, es sei denn aus Zufall.“68 Diese Begründung ist deshalb interessant, weil Hume genau diese Folgerung, dass es sich bei der Relation zwischen Ursache und Wirkung um eine kontingente Relation handelt, akzeptiert, und behauptet, „dass Ursachen und Wirkungen nicht durch die Vernunft entdeckbar sind, sondern durch Erfahrung“.69 Was für Thomas eine reductio der Ablehnung einer dispositionalen Kausalitätstheorie ist, das ist für Hume eine unbestreitbare Tatsache: „Der Geist kann unmöglicherweise die Wirkung in der vermeintlichen Ursache finden, selbst durch die genauste Prüfung und Untersuchung. Denn die Wirkung ist gänzlich verschieden von ihrer Ursache
____________ causally necessitates the occurrence of certain effects, then it is impossible, logically impossible, that such an introduction could fail to have such an effect, and so logically necessary that it has it.“ (Shoemaker 1980, 261) Auch wenn Shoemaker in diesem Punkt mit Thomas einig ist, halte ich seine These systematisch gesehen für zu stark: In Anlehnung an Kripkes Einsicht, dass man zwischen metaphysisch notwendigen und apriorischen Wahrheiten unterscheiden sollte, hielte ich es für angemessener zu behaupten, dass in dispositionalen Eigenschaften verankerte Kausalrelationen (wie die Identität von Wasser und H2O) zwar metaphysisch notwendig, trotzdem nicht a priori erkennbar sind. Als Autor vor Kripke stand Thomas diese Differenzierung natürlich nicht zur Verfügung; Shoemaker 1998 hat sie nachträglich auch noch getroffen. 68 „quod omne agens agit propter finem, alioquin ex actione agentis non magis sequeretur hoc quam illud, nisi a casu.“ (STh. I q. 44 art. 4 corp.) 69 David Hume: Enquiry Concerning Human Understanding IV, 110.
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und kann folglich niemals in ihr entdeckt werden […] und das erste Auffinden oder Erfassen von ihr, a priori, muss gänzlich arbiträr sein.“70 Der große Unterschied zwischen Hume und Thomas scheint also darin zu bestehen, dass Hume im Gegensatz zu Thomas kein Problem damit hat, dass es gänzlich kontingent ist, welche Wirkung auf welche Ursache folgt, und dass es keinen besseren Grund dafür gibt, dass sich Billardkugeln bewegen, wenn sie gestoßen werden, als den, dass man eben in der Erfahrung feststellt, dass es sich so verhält. Welche Wirkung eine spezifische Ursache hervorbringt, ist damit schlicht eine nackte, nicht weiter begründbare Tatsache. Doch solche Tatsachen wirken auf einen Philosophen, der sich durch das Prinzip des zureichenden Grundes angezogen fühlt, verstörend. Nicht weiter erklärbare Tatsachen erscheinen beliebig, entziehen sich einem tieferen Verständnis und müssen daher jemandem, der nach einem solchen sucht, absurd erscheinen. Entsprechend handelt es sich dann bei der Rückführung einer These auf eine Zufallsbehauptung um eine reductio ad absurdum. Das legt nahe, dass Thomas aufgrund seiner Überzeugung, dass alles verständlich oder erklärbar sein muss, zu einer essentialistisch dispositionalen Kausalitätstheorie neigt, da gerade eine solche Theorie einem derart allgemeinen Erklärungsbedürfnis in geradezu idealer Weise nachkommt. Wenn die Essenzen der Dinge nämlich durch ihre kausalen Dispositionen festgelegt sind, so lässt sich jede Frage der Form „Warum hat a b verursacht?“ mit dem Verweis darauf beantworten, dass es zur Essenz von a gehört, b zu verursachen, weshalb a nicht a wäre, wenn es nicht b verursachte. Mit anderen Worten sind vor dem Hintergrund einer essentialistisch dispositionalen Kausalitätstheorie alle wahren Kausalaussagen der Form „a verursacht b“ analytisch wahr – wahr aufgrund ihrer Bedeutung, da der Begriff von a bereits einschließt, dass a das Vermögen oder die Disposition hat b hervorzubringen.71 Mehr kann sich einer, der für alles eine Erklärung sucht, kaum wünschen.
Dispositionen und Intentionalität Thomas von Aquins essentialistisch dispositionale Kausalitätstheorie, die sich hinter seiner Determiniertheitsthese (D) verbirgt, ist alles andere als trivial, und geht weit über das hinaus, was Hume je behauptet hätte. So-
____________ 70 David Hume: Enquiry Concerning Human Understanding IV, 111. 71 Ganz analog begründet auch Michael Della Rocca 2003, warum Spinoza kausale Abhängigkeiten immer auch als begriffliche Abhängigkeiten versteht.
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fern die Wirkungen von Dingen durch deren Essenzen festgelegt sind, erweisen sich Kausalrelationen zum einen als metaphysisch notwendig, und zum andern als etwas, das zumindest prinzipiell a priori erkannt werden kann. Doch Thomas lässt die Sache nicht bei diesen schon reichlich radikal anmutenden Thesen bewenden. Wie sich bereits zeigte, geht er noch einen Schritt weiter und liefert eine teleologische Analyse seiner dispositionalen Kausalitätstheorie. Es gilt nun zu klären, warum er seine Determiniertheitsthese (D) für äquivalent mit der Finalitätsthese (F) hält, und mit welchem Recht er dies tut. Im letzten Abschnitt habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass Thomas aus der Finalitätsthese die theo-teleologische Behauptung folgert, dass jedes (tätige) Ding auf Gott hingeordnet ist. Dies weist bereits darauf hin, dass Thomas’ Finalitäts- und entsprechend seine Determiniertheitsthese fest in ein theologisches Weltbild eingebettet und letztlich nicht unabhängig davon zu verstehen sind. Das könnte einen dazu verleiten, die teleologische Deutung, die Thomas seiner Determiniertheitsthese (D) gibt, insofern er sie für äquivalent mit der Finalitätsthese (F) erachtet, sogleich mit Bezug auf diesen theologischen Rahmen zu erläutern. Diesen Weg will ich hier jedoch nicht gehen. Würde man nämlich die Thesen (F) und (D) von Anfang an als genuin theologische Thesen verstehen, wäre man erstens blind für die Art und Weise, wie Thomas seine theoteleologische These aus ursprünglich naturphilosophisch begründeten Thesen gewinnen zu können meinte, und man geriete zweitens in Gefahr, jene philosophisch interessanten Aspekte von Thomas’ Kausalitätstheorie zu übersehen, die Thomas dazu veranlassten, sie in einen übergeordneten theologischen Rahmen zu integrieren. Aus diesen Gründen werde ich weiterhin versuchen, Thomas’ teleologische Deutung der Determiniertheitsthese so weit wie möglich allein auf der Basis naturphilosophischer Überlegungen zu rekonstruieren und plausibilisieren. Es ist allerdings wichtig zu beachten, dass die rein naturphilosophische Rekonstruktion von Thomas’ Thesen (F) und (D) nicht hinreicht, um Thomas’ tatsächliches Verständnis dieser Thesen zu explizieren. Diese Rekonstruktion soll lediglich verständlich machen, warum sich Thomas dazu gezwungen sah, seine Finalitätsthese und damit einhergehende Kausalitätstheorie in einem theologischen Weltbild zu verankern, und sie soll verdeutlichen, wie sich diese theologische Einbettung auf seine Teleologiekonzeption auswirkte. Um Thomas’ teleologisches Verständnis seiner Determiniertheitsthese naturphilosophisch zu rekonstruieren, lohnt es sich, auf eine weitere Eigenheit von Thomas’ Determiniertheitsthese (D) hinzuweisen, die man vor dem Hintergrund eines Hume’anischen Ursachenverständnisses leicht übersieht. Wenn Thomas in (D) behauptet, jede Wirkursache hätte eine bestimmte Wirkung, so stellt er damit wohl eine Determiniertheits-, aber
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keinesfalls eine Determinismusbehauptung auf. Will heißen: Wenn ein Tätiges x aufgrund seiner Form dazu bestimmt ist, die bestimmte Wirkung y hervorzubringen, folgt daraus nicht, dass x in jedem Fall ein y hervorbringt. Schließlich kann immer etwas dazwischen kommen, was x daran hindert, ein y hervorzubringen. Thomas schreibt: Es ist nicht wahr, dass – gegeben irgendeine Ursache – die Wirkung notwendigerweise gegeben ist. Denn es gibt einige Ursachen, die nicht aus Notwendigkeit auf ihre Wirkungen ausgerichtet sind, sondern in den meisten Fällen, und die beizeiten zum kleinen Teil fehl gehen. Doch solche Ursachen gehen nur zum kleinen Teil fehl aufgrund einer verhindernden Ursache […].72
Diese Passage macht deutlich, dass Thomas seine Determiniertheitsthese nicht so verstanden wissen möchte, dass sie eine deterministische Aussage trifft, der zufolge es ausgeschlossen wäre, dass eine bestimmte Wirkursache ihre Wirkung per Zufall nicht hervorbringt, oder dass es überhaupt kontingente Ereignisse gibt.73 Entsprechend ist These (D) auch nicht als empirisch-deskriptiver Allsatz folgender Form aufzufassen: (D*)
z (z ist eine Wirkursache des Typs x o z bringt eine Wirkung des Typs y hervor)
Denn damit wäre es gerade nicht mehr möglich, dass es eine bestimmte Wirkursache des Typs x einmal verfehlte, eine Wirkung des Typs y hervorzubringen. Thomas möchte mit seiner These (D) lediglich die weniger strikte Behauptung aufstellen, dass jede Wirkursache des Typs x im Normalfall oder typischerweise eine Wirkung des Typs y hervorbringt – und nicht, dass sie dies in jedem Fall oder unter allem Umständen tut.74 Unter
____________ 72 „[N]on est verum quod, posita quacumque causa, necesse sit effectum poni. Sunt enim quaedam causae quae ordinantur ad suos effectus non ex necessitate, sed ut in pluribus, quae quandoque deficiunt in minori parte. Sed quia huiusmodi causae non deficiunt in minori parte, nisi propter aliquam causam impedientem […]. “ (STh. I q. 115 art. 6 corp.) 73 Woraus sich für Thomas natürlich automatisch das Problem ergibt, wie der allwissende Gott von zukünftig kontingenten Einzeldingen Gewissheit haben kann. Er diskutiert das Problem ausführlich in ScG I §67. 74 Dass (D) selbst keine deterministische Aussage macht, schließt allerdings nicht aus, dass Thomas letztlich nicht doch eine Form von Determinismus vertritt. Schließlich könnten die Umstände, welche eine bestimmte Ursache an der Hervorbringung ihrer bestimmten Wirkung hindern, selbst wieder notwendig sein, so dass vor dem Hintergrund einer umfassenderen Perspektive das scheinbar zufällige Scheitern dieser Ursache selbst wieder notwendig war. Dass Thomas in der Tat eine solche Position vertritt, liegt nicht nur aus dem systematischen Gesichtspunkt nahe, dass er als Sympathisant des Prinzips des zureichenden Grundes
Dispositionen und Intentionalität
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Rückgriff auf die bislang gewonnenen Erkenntnisse von Thomas’ Kausalitätskonzeption lässt sich (D) am besten folgendermaßen reformulieren: (D’)
x ist eine Wirkursache des Typs X l x hat die Disposition, die Wirkung y des Typs Y hervorzubringen
Dass Thomas seine Determiniertheitsthese tatsächlich im Sinne von (D’) versteht, ergibt sich aus folgenden drei Eigenheiten, die sich an Thomas’ These (D) in den vergangenen Abschnitten feststellen ließen: Erstens trifft (D’) – im Sinne von (D+) – eine qualifizierende Aussage über Wirkursachen. Dem trägt (D’) dadurch Rechnung, dass darin explizit von einer Wirkursache x die Rede ist, die dadurch charakterisiert ist, dass sie unter einen bestimmten Typ X fällt. Zweitens geht Thomas davon aus, dass die Identität einer Wirkursache davon abhängt, welche Wirkungen dieses Ding hervorbringen kann. Dafür, dass x eine Wirkursache des Typs X, und nicht des Typs X* ist, ist es wesentlich, dass x im Normalfall Wirkungen des Typs Y hervorbringt. Das spiegelt sich in (D’) in der Verwendung des Bikonditionals (‚l’) wider. Drittens möchte Thomas (D) nicht als eine empirisch-deskriptive All-Aussage im Sinne von (D*) verstehen, sondern weniger strikt als Behauptung darüber, was eine Wirkursache eines bestimmten Typs im Normalfall oder typischerweise tut. Diesem Umstand kommt (D’) nach, indem darin nichts darüber gesagt wird, was eine bestimmte Wirkursache faktisch tut, sondern, über welche Dispositionen diese Wirkursache verfügt. Wer von einer Substanz nämlich behauptet, sie sei explosiv, ätzend oder halluzinogen, der macht damit noch keine Aussage darüber, was diese Substanz faktisch tut. Er sagt lediglich, was diese Substanz unter geeigneten Umständen tut; nämlich: explodieren, Gewebe zerstören oder Rauschzustände erzeugen. Entsprechend ist es auch nicht ausgeschlossen, dass explosive Substanzen einmal nicht explodieren – etwa, wenn sie durch ein Sprengstoff-Kommando entschärft werden –, ätzende Substanzen Gewebe nicht zerstören – etwa, wenn das Gewebe chemisch behandelt ist – oder halluzinogene Substanzen keinen Rausch erzeugen – wenn sie z.B. bereits vor der Entfaltung ihrer Wirkung ausge-
____________ Schwierigkeiten mit der Akzeptanz echter Zufälle haben könnte. Er selbst scheint sich darauf festzulegen, wenn er (in ScG I §67 ¶4) schreibt: „Wie aus einer notwendigen Ursache die Wirkung mit Gewissheit folgt, so aus der vollständigen, kontingenten Ursache, falls sie nicht verhindert wird. Da aber Gott alles erkennt […], kennt er nicht nur die Ursachen der kontingenten Dinge, sondern auch das, wodurch sie verhindert werden können. Daher weiß er mit Gewissheit, ob die kontingenten Dinge sein oder nicht sein werden.“
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schieden werden. Mit der Zuschreibung dispositionaler Eigenschaften sagt man nur, was diese Substanzen unter geeigneten Umständen tun.75 Dieses Charakteristikum dispositionaler Eigenschaften gibt nun darüber Aufschluss, warum Thomas seine Determiniertheitsthese – die im Sinne von (D’) verstanden ja explizit auf Dispositionen Bezug nimmt – für äquivalent mit der Finalitätsthese (F) erachtet. Der Umstand, dass dispositionale Eigenschaften auf die soeben umschriebene spezifische Weise auf gewisse Wirkungen oder Manifestationen ausgerichtet sind, lässt sich auch dadurch ausdrücken, dass solche Eigenschaften auf diese Wirkungen oder Manifestationen abzielen: Was brennt, das zielt genau in dem Sinne darauf ab, etwas anderes in Brand zu versetzen, in dem es dies tatsächlich auch tut, wenn die Umstände dafür geeignet sind und nichts dazwischen kommt. Ganz ähnlich lässt sich die Dispositionalität der Eigenschaft explosiv zu sein, dadurch charakterisieren, dass man sagt, das Ding, dem diese Eigenschaft zukomme, ziele vermöge dieser Eigenschaft darauf ab, unter den geeigneten Unständen zu explodieren. Nun mag man einwenden, es sei eine Sache, dass man so reden kann. Aber es ist eine ganz andere Frage, ob man auch so reden sollte, ob diese Rede also sinnvoll und gerechtfertigt, oder nicht vielmehr irreführend ist. Letzteres scheint die Beschreibung von Dispositionen als Eigenschaften, vermöge derer Dinge auf bestimmte Wirkungen abzielen, auf den ersten Blick tatsächlich zu sein. Denn diese Rede wirkt unangemessen anthropomorphistisch, da sie suggeriert, Ursachen wären eine Art intentionaler Agenten, die sich vermöge ihrer dispositionalen Eigenschaften auf ganz bestimmte Wirkungen beziehen. Fasst man die spezifische Ausrichtung von Dispositionen auf ihre Wirkung also in dem Sinne teleologisch auf, wie es die These (F) vor-
____________ 75 Dies hat einige empiristische Philosophen des 20. Jh. zur Behauptung veranlasst, dispositionale Prädikate wie etwa ‚x ist explosiv’ ließen sich im Rahmen so genannter konditionaler Analysen durch hypothetische Aussagen der Form ‚Wenn sich x in Bedingungen C befindet, dann explodiert x’ zu interpretieren. (Ein prominenter Vertreter dieser These war G. Ryle 1949, 163-166). Wie allerdings Martin 1994 überzeugend gezeigt hat, sind solche konditionalen Analysen zum Scheitern verurteilt, da sich nie solche Bedingungen C finden lassen, unter denen sich eine bestimmte Disposition immer manifestiert, weil es stets sein könnte, dass etwas dazwischen kommt, was die Manifestation einer Disposition verhindert. Die geeigneten Umstände, unter denen sich eine gewisse Disposition manifestiert, lassen sich im Allgemeinen daher nur als solche beschreiben, unter denen sich diese Disposition manifestiert. Damit lässt sich eine dispositionale Eigenschaft nicht zirkelfrei durch ihre Manifestationsbedingungen analysieren.
Dispositionen und Intentionalität
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schlägt, so scheint dies vorauszusetzen, dass man sie auch als eine intentionale Ausrichtung auffasst. Nun wurde bereits oben deutlich, dass Thomas dies nicht für weiter bedenklich hält. So meint er etwa, man müsse zum Beweis von (F) zeigen, dass „alles Tätige in seiner Tätigkeit irgendein Ziel intendiert.“76 Was natürlich Tätige von rational Tätigen unterscheidet, ist demnach nicht die Finalität oder Intentionalität ihrer Tätigkeiten. Die ist bei beiden durch ihre Form gegeben. Was rationale von arationalen Tätigen unterscheidet, ist vielmehr der Umstand, dass erstere im Gegensatz zu Letzteren auf der Grundlage erkannter Formen tätig sind, die sie selbständig festlegen können.77 Entsprechend muss sich Thomas – im Rahmen seiner Theorie – auch keinen Anthropomorphismus vorwerfen lassen, nur weil er die spezifische Ausrichtung von Dispositionen als eine Form der Intentionalität versteht und mit (F) behauptet, Dinge zielten kraft ihrer Dispositionen auf bestimmte Wirkungen ab. Denn Intentionalität alleine ist für ihn kein Merkmal rationaler (und damit menschlicher) Handlungen, sondern ein wesentliches Merkmal jeglicher Tätigkeit. Diese Rettung vor einem Anthropomorphismusvorwurf scheint jedoch allzu teuer erkauft: Sie gelingt nur zu dem Preis, dass man die Intentionalität als Merkmal des Rationalen (oder Mentalen) aufgibt, und behauptet, auch natürlich Tätige verfügten dank ihrer dispositionalen Eigenschaften über eine Form der Intentionalität. Folgt man der in der heutigen Intentionalitätsdebatte einflussreichen These Brentanos, wonach sich mentale Zustände wesentlich dadurch auszeichnen, dass sie sich auf etwas beziehen oder eben intentional sind,78 muss Thomas’ Ansicht in diesem Punkt als völlig verfehlt gelten. Doch obschon von vielen geteilt,
____________ 76 „Ostendendum est igitur primo, quod omne agens in agendo intendit aliquem finem.“ (ScG III §2 ¶1) Ähnlich auch STh. q. 22. art 2 corp. 77 Vgl. dazu besonders ScG II §47 ¶4. Als weiteren Unterschied fügt Thomas (etwa in STh. I-II, q. 6, art. 1, corp.) an, dass rational Tätige freiwillig tätig sind, und damit nach ihren eigenen Zielen handeln können, die sie sich selbst geben, während nicht-freiwillig Tätige durch andere Tätige auf bestimmte Wirkungen oder Ziele festgelegt werden. Zudem ist zu beachten, dass die Tätigkeit kognitiver Wesen von Formen ausgeht, die in diesen Wesen auf eine ganz besondere Weise – nämlich auf eine geistige, und nicht auf eine natürliche Weise – existieren. (Vgl. etwa Sent. De an. II §24 ¶3 und STh. I q. 78, art. 3, corp.; für eine Diskussion siehe Perler 2002, 33-42.) Damit verfügen rationale Wesen über eine Art der kognitiven Intentionalität, die über eine rein dispositionale Intentionalität natürlicher Gegenstände hinausgeht. 78 Siehe Brentano 1874, Bd. 1, 124f.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
ist Brentanos These über das essentielle Merkmal mentaler Zustände nicht unumstritten. So hat etwa John Searle dafür argumentiert, Intentionalität sei zwar hinreichend dafür, dass ein Zustand geistig ist, keinesfalls aber notwendig. Auch Gefühle wie Schmerzen oder Stimmungen wie Niedergeschlagenheit seien mentale Phänomene, obwohl sie sich auf nichts beziehen und in diesem Sinne kein intentionales Objekt haben.79 Und ein paar Jahre später haben Charles Burton Martin und Karl Pfeiffer sogar behauptet, dass Intentionalität – zumindest in der Art und Weise, wie sie von Brentano, Searle und anderen charakterisiert wird80 – nicht einmal ein hinreichendes Kriterium für geistige Zustände darstellt, da auch physische Dispositionen in diesem Sinne intentional seien. Mit Hilfe einer Reihe von Beispielen legten sie nahe, dass „die Charakterisierungen der Intentionalität […] alles betreffen (Mentales oder Physisches), was kausale Dispositionen hat.“81 Auf der Grundlage dieses Ergebnisses meinte Ullin T. Place – und ähnlich auch George Molnar – schließlich, dass „Intentionalität nicht das Merkmal des Mentalen, sondern des Dispositionalen ist.“82 Doch genau das, so wurde deutlich, scheint auch Thomas im Rahmen seiner dispositionalen Kausalitätstheorie anzunehmen, wenn er seine Determiniertheitsthese (D) im Sinne der Finalitätsthese (F) versteht und behauptet, jedes Tätige intendiere eine bestimmte Wirkung. Leider rechtfertigt Thomas nicht, warum man die dispositionale Ausrichtung eines Dinges auf eine bestimmte Wirkung, in dem intentionalen Sinne verstehen kann, in dem man auch die Ausrichtung eines rationalen Akteurs auf
____________ 79 Siehe dazu Searle 1983, 1f. 80 Martin & Pfeiffer 1986 diskutieren explizit die Intentionalitätskriterien, die von R. Chisholm, G. Lycan, G.E.M. Anscombe und J. Searle vorgeschlagen wurden. 81 Martin & Pfeiffer 1986, 551. 82 Place 1996, 92. Damit zieht Place aus den Ergebnissen von Martin und Pfeiffer eine andere Konsequenz, als sie selbst es tun. Jene (1986, 551) schreiben nämlich: „Somewhat ironically, if we were to leave our discussion at this point, someone might interpret it as an argument for panpsychism […]. For some this may be a happy result – for us it is a reductio ad absurdum and an invitation to look elsewhere for an account of the intentional.“ Martin und Pfeiffer wollen also daran festhalten, dass sich Mentales durch Intentionalität auszeichnet, fühlen sich aufgrund ihres Ergebnisses aber dazu genötigt, Intentionalität nicht als ein bloßes Ausgerichtetsein zu charakterisieren, wie es die von ihnen diskutierten Autoren getan haben. Place hingegen hält daran fest, dass Intentionalität genau durch die Charakteristika bestimmt sei, welche die entsprechenden Autoren vorgeschlagen haben, und folgert daraus, dass es kein Merkmal des Mentalen sein könne. In jüngerer Zeit hat auch Molnar 2003, 60-81, dafür argumentiert, dass Vermögen (powers) intentionale Phänomene sind.
Dispositionen und Intentionalität
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das Ziel, um dessentwillen er tätig ist, versteht. Um diese Rechtfertigung nachzureichen, lohnt es sich deshalb, kurz auf zwei Intentionalitätskriterien einzugehen, die sowohl Thomas als auch moderne Philosophen zu vertreten scheinen, und denen physische Dispositionen genauso genügen: In Anlehnung an Brentano führt Roderick Chisholm aus, dass sich intentionale Zustände dadurch auszeichnen, dass ihre Bezugsobjekte unabhängig von der tatsächlichen Existenz dieser Objekte existieren.83 Daher bezieht sich ein intentionaler Zustand auch dann auf einen Gegenstand, wenn dieser Gegenstand in der Außenwelt tatsächlich nicht existiert. Entsprechend darf daraus, dass intentionale Zustände von etwas handeln, nicht gefolgert werden, dass dieses etwas auch tatsächlich existiert oder nicht existiert. Dies, so argumentieren Martin, Pfeiffer und Place, verhält sich bei Dispositionen ebenso:84 Wenn etwas explosiv ist, dann kann daraus nicht geschlossen werden, dass dieses Ding auch tatsächlich explodiert oder nicht explodiert. In diesem Sinne bezieht sich auch die Eigenschaft der Explosivität eines Dinges auf dessen Explosion und die Explosion existiert in ganz ähnlicher Weise in der Eigenschaft der Explosivität, wie auch das Bezugsobjekt eines Gedankens in diesem Gedanken existiert.85 Zum andern hat Anscombe darauf aufmerksam gemacht, dass intentionale Zustände unbestimmt sein können: Die Beschreibung, so führt sie aus, „unter der du intendierst, was du tust, kann vage, unbestimmt sein. (Du beabsichtigst, das Buch ordentlich auf den Tisch abzulegen, aber du beabsichtigst nicht, es an irgendeiner besonderen Stelle des Tisches abzulegen – obwohl du es an irgendeiner besonderen Stelle ablegst).“86 Intentionale Zustände können also auch dann von etwas Bestimmtem handeln, wenn das, von dem sie handeln, nicht vollständig bestimmt ist. So handelt
____________ 83 Siehe Chisholm 1957, 170f. Brentano (1874, Bd. 1, 124f.) spricht daher in Anlehnung an die scholastische Tradition auch von der „intentionalen Inexistenz“ des Bezugsobjekts im intentionalen Zustand. Auch wenn das Bezugsobjekt eines intentionalen Zustandes nicht unbedingt außerhalb dieses Zustands existieren muss, so existiert er doch zumindest in diesem Zustand. Zum scholastischen Ursprung dieser Redeweise siehe Hedwig 1978. 84 Siehe Place 1996, 104, und Martin & Pfeiffer 1986, 532. 85 Ganz ähnlich wie Brentano analysiert auch Thomas die Intentionalität eines Gedankens durch eine besondere (intentionale) Existenzweise, in der eine Form im Intellekt existieren kann (siehe dazu ausführlich Perler 2002, 42-61). Wie sich im letzten Abschnitt dieses Kapitels zeigen wird, führt Thomas letztlich auch die dispositionale Intentionalität von Dispositionen auf eine Form kognitiver Intentionalität zurück. 86 Anscombe 1965, 159.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
etwa der Gedanke von einer bestimmten Wanderung auch davon, dass diese Wanderung eine bestimmte Zeit in Anspruch nimmt, da sich jede Wanderung in der Zeit vollzieht. Aber dieser Gedanke handelt nur in unbestimmter Weise von der Dauer dieser Wanderung, obwohl natürlich jede bestimmte Wanderung auch eine bestimmte Zeit dauert. Diese Unbestimmtheit unserer Erkenntnis betont auch Thomas: Da unser Intellekt nur die Formen der Dinge ohne deren Materie aufnimmt, und Formen allgemein sind, ist zunächst auch jede Erkenntnis allgemein oder unbestimmt. Das hat zur Folge, dass wir z.B. nur einen Menschen im Allgemeinen direkt erfassen können, nicht aber einen bestimmten Menschen – wie etwa Sokrates.87 In ähnlicher Weise unbestimmt sind auch Dispositionen: Wenn eine Substanz explosiv ist, so heißt das, dass sie zu einem ganz spezifischen Zeitpunkt und Ort tatsächlich explodieren kann. Aber die Explosivität dieser Substanz lässt völlig unbestimmt, an welchem Ort und zu welchem Zeitpunkt diese Substanz explodiert – oder ob sie überhaupt je explodiert. In diesem Sinne beziehen sich auch Dispositionen auf unbestimmte Weise auf ihre Manifestationen.88 Die Ausrichtung von Dispositionen auf ihre Manifestationen weist erstaunlicherweise also zwei Eigenheiten auf, die paradigmatischerweise auch intentionalen Zuständen wie Gedanken und Wünschen zukommen. Zum einen besteht die dispositionale Ausrichtung auf Manifestationen ganz unabhängig davon, ob diese Manifestationen je existieren, und zum zweiten ist sie in charakteristischer Weise unbestimmt: Dispositionen beziehen sich auf ihren Manifestationstyp – ganz ungeachtet, wie oder ob dieser Typ konkret instantiiert wird. Damit erscheint es zumindest nicht völlig unplausibel, die spezifische Ausrichtung von Dispositionen auf ihre Wir-
____________ 87 Vgl. dazu etwa STh. I q. 86 art.1 corp. Hier löst Thomas auch das daraus entstehende Problem, dass wir in vielen Fällen auch eine Erkenntnis von Einzeldingen haben. Dazu sind wir in indirekter Weise in der Lage, indem wir auf die partikulären sinnlichen Eindrücke – die so genannten Phantasma – reflektierten, die über einen kausalen Prozess mit dem partikulären Bezugsobjekt (wie etwa Sokrates) verbunden sind. Vgl. dazu Pasnau 2002, 284-295. Auf das Problem wie Gott, der als immaterielles Wesen über keine materiellen Phantasma verfügt, Einzeldinge erkennen kann, geht Thomas in ScG I §50 ein, wo er die Lösung vorschlägt, dass Gott die Einzeldinge anhand ihrer eigentümlichen Akzidenzien erkennt. 88 Siehe Place 1996, 104, und Martin & Pfeiffer 1986, 534.
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kungen als intentional, und diese Wirkungen als Finalursachen zu bezeichnen, wie es Thomas tut.89
Finalursachen, das Gute und die Modalität Im letzten Abschnitt habe ich dafür argumentiert, dass Dispositionen über eine ganz spezifische Form der Ausrichtung verfügen, die man disposititionale Intentionalität nennen könnte. Diese Eigenheit von Dispositionen rechtfertigt Thomas darin, die spezifische Ausrichtung einer Wirkursache auf ihre Wirkung, die ihr kraft ihrer dispositionalen Eigenschaften zukommt, im Sinne der Finalitätsthese (F) als eine Form des Intendierens oder Abzielens zu verstehen. Aber reicht die dispositionale Intentionalität, über die Thomas’ Wirkursachen verfügen, für die Begründung einer derart starken Finalitätsthese aus, die Thomas in Anspruch nimmt, wenn er ausgehend von ihr für die überaus kontroversen Thesen argumentiert, dass alles um eines Guten willen tätig und letztlich auf Gott und das Wohl der Menschen ausgerichtet ist, wie zu Beginn des vorletzten Abschnitts deutlich wurde? Nun ist es ein langer argumentativer Weg von der Finalitätsthese (F) zu einer theo-teleologischen Behauptung über die zweckmäßige Einrichtung des Kosmos, und es wäre vermessen, der These (F) die gesamte Rechtfertigungslast für diesen langen Beweisgang aufbürden zu wollen. Wie sich noch zeigen wird, sind spätestens die Behauptungen, dass alles auf Gott und zum Wohl des Menschen ausgerichtet ist, nicht mehr auf ein
____________ 89 Wenn ich hier dafür argumentiere, dass es gewisse Analogien zwischen der Ausrichtung dispositionaler und jener intentionaler Zustände gibt, um damit nahe zu legen, dass es nicht gänzlich unverständlich ist, die Aktualisierung von Dispositionen in intentionalem Vokabular zu beschreiben, heißt das nicht, dass ich glaube, dass Dispositionen tatsächlich intentionale Zustände sind. Denn neben diesen beiden Analogien gibt es auch eine Reihe an Disanalogien zwischen diesen beiden Arten von Zuständen. So können intentionale Zustände z.B. von Widersprüchlichem handeln, aber keine Disposition hat „widersprüchliche Manifestationen“; intentionale Zustände haben häufig einen propositionalen Inhalt, Dispositionen nicht; und intentionale Zustände sind referentiell opak, Dispositionen nicht (wenn etwas die Disposition hat, unter gewissen Bedingungen rot zu werden, und Rot meine Lieblingsfarbe ist, so hat das Ding ipso facto die Disposition, unter gewissen Bedingungen meine Lieblingsfarbe anzunehmen). Vgl. zu einer ähnlich kritischen Einschätzung der Intentionalität von Dispositionen auch Borghini 2009.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
rein naturphilosophisches Verständnis von (F) zurückführbar, sondern beruhen auf mindestens einer entscheidenden Zusatzprämisse. Interessanterweise gilt das für Thomas’ Ansicht, dass alles um eines Guten willen tätig ist, jedoch nicht. Vielmehr meint er, „dass das Ziel jedes beliebigen Dinges das Gute ist“,90 und geht so von einem sehr engen Zusammenhang zwischen den Prädikaten ‚x ist gut’ und ‚x ist ein Ziel’ aus. Thomas behauptet sogar, das Gute habe die Definition (ratio) des Zieles, „weil das gut ist, auf was alle hinstreben“, und hält es daher für „offensichtlich, dass das Gut die Definition des Ziels trägt.“91 Nimmt man diese Stelle ernst, so geht Thomas nicht nur von einer Koextensionalität zwischen den Eigenschaften des Gut- und des Zielseins aus, sondern er hält diese Prädikate ‚x ist gut’ und ‚x ist ein Ziel’ sogar für synonym. Diese Ansicht ist vor dem Hintergrund der Allgemeinheit von Thomas’ Finalitätsthese (F) besonders brisant. Wenn ein Ziel immer ein Gut ist, so ergibt sich aus (F) unmittelbar die bereits erwähnte These, dass alles um eines Guten willen tätig ist. Das aber heißt, dass alles einer normativen Beurteilung unterliegt; insbesondere auch die unbelebte Natur. Dies wirkt zunächst alles andere als plausibel – nicht einmal mit Bezug auf Thomas’ eigene Beispiele. Betrachten wir etwa den Fall des Feuers. Feuer hat aufgrund seiner spezifischen Form das Vermögen oder die Disposition, Feuer hervorzubringen. Nach den Ergebnissen des letzten Abschnittes lässt sich dies dadurch ausdrücken, dass man sagt, Feuer intendiere (im dispositionalen Sinne) weiteres Feuer zu erzeugen. Aber warum sollte man deshalb auch sagen können, es sei gut für das Feuer, Feuer zu erzeugen? Dass Feuer typischerweise Feuer erzeugt, hat doch nichts mit normativen Kategorien zu tun – so ist man geneigt zu sagen –, sondern ist eben einfach so: Das ist es, was Feuer tut und was Feuer zu Feuer macht. Warum überdies noch behaupten, Feuer soll Feuer erzeugen? Das eben formulierte Unverständnis gegenüber der normativen Beurteilung der Natur ist in der gegenwärtigen Philosophie (nicht zu unrecht) weit verbreitet. Interessanterweise steht auch dieses Unverständnis in einer Tradition, die eng mit Hume verbunden ist. Hume hat nämlich an prominenter Stelle dagegen argumentiert, dass man von deskriptiven Sätzen, die beschreiben, was der Fall ist, unvermittelt auf normative Sätze schließen dürfe, die Aussagen darüber treffen, was der Fall sein soll.92 Dieser
____________ 90 „Quod finis ciuslibet rei est bonum“ (ScG III §16 tit.). 91 „quod, cum bonum sit quod omnia appetunt, hoc autem habet rationem finis; manifestum est quod bonum rationem finis importat.“ (STh. I q. 5. art. 4 corp.) 92 Siehe Hume Treatise, 3.1.1, 302.
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unzulässige Übergang wird in der zeitgenössischen Debatte „naturalistischer Fehlschluss“ genannt. Diese Kritik setzt natürlich voraus, dass es einen relativ klaren Unterschied zwischen deskriptiven und normativen Sätzen gibt; also solchen, die das Sein der Dinge beschreiben, und solchen, die ein Sollen ausdrücken.93 Schließlich ist es nur dann sinnvoll zu sagen, man dürfe nicht von deskriptiven auf normative Sätze schließen, wenn sich diese Sätze auch tatsächlich voneinander unterscheiden. Nun scheint Thomas im Rahmen seiner so genannten Transzendentalienlehre jedoch genau diesen Unterschied zu leugnen. Ein genauerer Blick auf sein Argument gegen eine strikte Trennung zwischen dem, was existiert, und dem, was gut ist, hilft, besser zu verstehen, warum es Thomas für sinnvoll hält, dass Feuer nicht nur Feuer erzeugt, sondern Feuer erzeugen soll. Das Gute und das Seiende sind der Sache nach dasselbe, und unterscheiden sich nur dem Begriff nach. Das wird so deutlich: Der Begriff des Guten besteht nämlich in dem, dass etwas erstrebenswert ist, weshalb der Philosoph in der Ethik I sagt: „Gut ist, was alle erstreben.“ Es ist aber offensichtlich, dass jedes in der Hinsicht erstrebenswert ist, als es vollkommen ist; denn alles erstrebt seine Vollkommenheit. Jedes Ding ist aber nur insoweit vollkommen, als es im Akt ist, weshalb offensichtlich ist, dass etwas insoweit gut ist, als es seiend ist, denn das Sein ist die Aktualität aller Dinge, wie aus dem obigen deutlich wird. Daher ist es offensichtlich, dass das Gute und das Seiende der Sache nach dasselbe sind. Allerdings prädiziert man von dem Guten den Begriff des Erstrebenswerten, was man beim Seienden nicht tut.94
Was ist oder existiert, ist allein dadurch schon gut. Wie Thomas in diesem Argument ausführt, liegt dies daran, dass etwas nur insofern existiert, als es auch wirklich ist – und das heißt Thomas’ Hylemorphismus zufolge: inso-
____________ 93 Dass diese Grenze häufig weniger scharf ist, als man zunächst vermuten möchte, wurde in den letzten Jahren anhand der Debatte über so genannte thick normative concepts deutlich. Beispiele für solche Begriffe sind etwa „vulgär“, „unhöflich“, „besonnen“ und „grausam“. Anders als Wörter wie rein normative Prädikate wie „gut“ oder „schlecht“ bewerten sie etwas nicht nur, sondern beschreiben es zugleich. Vgl. dazu Williams 1985, 140. 94 „[B]onum et ens sunt idem secundum rem, sed differunt secundum rationem tantum. Quod sic patet. Ratio enim boni in hoc consistit, quod aliquid sit appetibile, unde philosophus, in I Ethic., dicit quod bonum est quod omnia appetunt. Manifestum est autem quod unumquodque est appetibile secundum quod est perfectum, nam omnia appetunt suam perfectionem. Intantum est autem perfectum unumquodque, inquantum est actu, unde manifestum est quod intantum est aliquid bonum, inquantum est ens, esse enim est actualitas omnis rei, ut ex superioribus patet. Unde manifestum est quod bonum et ens sunt idem secundum rem, sed bonum dicit rationem appetibilis, quam non dicit ens.“ (STh. I q. 5 art. 1 corp.)
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fern es auch aktual ist und damit über eine ganz bestimmte Form verfügt. Wenn etwas jedoch eine bestimmte Form aufweist, so verfügt es bereits dadurch über ein gewisses Maß an Vollkommenheit (perfectio). Denn insofern dieses Ding seine Form bereits hat, wurde in ihm diese Form aktualisiert oder verwirklicht, was heißt, dass ein Aktualisierungsprozess in diesem Ding seinen Abschluss gefunden hat (perfectum est) – nämlich genau die Aktualisierung der Form, durch die das existente Ding wirklich ist. Ein über eine Form verfügendes Ding ist also insofern vollkommen, als es mit seiner spezifischen Form einen Kulminations- oder Endpunkt einer Veränderung – aristotelisch verstanden als Aktualisierung einer Form – darstellt. Und insofern es dies tut, war es bereits etwas, das Gegenstand eines Strebens war; und zwar genau desjenigen Strebens, das zu seiner Wirklichkeit geführt hat. Das aber zeigt, dass es erstrebenswert ist – andernfalls wäre es ja nicht erstrebt worden. Mithin fällt es unter den Begriff des Guten, den Thomas mit Rekurs auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik I.1 (1094a2-3) über den der Erstrebenswertigkeit definiert. Thomas’ hier explizierte These, dass alles Seiende gut ist, trifft eine Aussage über das Seiende als solches, und keine über das Seiende, insofern es unter eine bestimmte Kategorie fällt. Thomas macht also keine Aussage über spezifische Kategorien des Seienden wie Substanzen, Quantitäten, Qualitäten, Lagen usw., sondern er stellt eine These darüber auf, was dem Seienden bereits insofern zukommt, als es Seiendes ist; d.h. ganz unabhängig davon, welcher Kategorie es zugeordnet wird. Damit übersteigt oder transzendiert seine Behauptung, alles Seiende sei gut, die Bestimmung des Seienden, insofern es unter eine der zehn Kategorien fällt. Aus diesem Grund gehört diese Behauptung zu Thesen jener Art, die bereits im Mittelalter als „transzendental“ bezeichnet wurden, und ist damit Teil der so genannten „Transzendentalienlehre“. Auf diese Lehre werden wir im Zusammenhang mit Suárez noch einmal stoßen. Obwohl ich hier nicht weiter auf Thomas’ Transzendentalienlehre eingehen kann,95 ergibt sich bereits aus dem soeben besprochenen Argument ein Hinweis zur Beantwortung der Frage, warum Thomas meint, es sei gut, wenn ein natürliches Ding seine Dispositionen manifestiere. Denn wenn sich die Disposition einer Substanz manifestiert, so aktualisiert sich dadurch ein Vermögen dieser Sache und findet darin seine Vollendung. Wenn eine Substanz ihre spezifisch dispositionale Eigenschaft aktualisieren kann, ist das deshalb gut für sie, weil sie sich dadurch in gewisser Weise selbst verwirklichen kann. Indem z.B. Feuer sein natürliches Vermögen,
____________ 95 Siehe dazu Aertsen 1996.
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Feuer zu entfachen, ausübt, aktualisiert es seine Potenz und vervollkommnet dadurch sein Wesen, das eben darin besteht, Feuer zu erzeugen. Damit kommt das Feuer seinem spezifischen Gut nach, wenn es weiteres Feuer entfacht. Entsprechend bringt das Feuer auch nicht einfach nur Feuer hervor, sondern es soll dies auch tun, da es für Feuer eben gut ist, Feuer zu erzeugen. Vor dem Hintergrund seiner Transzendentalienlehre wird deutlicher, weshalb Thomas das zielgerichtete Streben, das Substanzen aufgrund ihrer dispositionalen Eigenschaften aufweisen, einer normativen Beurteilung unterzieht. Da die Dispositionen auf ihre Manifestationen oder Verwirklichungen abzielen, und Aktualität oder Sein der Transzendentalienlehre zufolge etwas Gutes ist, folgt unmittelbar, dass auch natürliche Dispositionen auf ein Gut abzielen, auf das sie entsprechend abzielen sollen. Allerdings wirkt Thomas’ Transzendentalienlehre aus zeitgenössischer Perspektive derart befremdlich, dass die damit verbundene normative Bestimmung dispositionaler Ausrichtung dadurch kaum plausibler wird. Ja, Thomas’ Identifikation von Seiendem und Gutem scheint den Begriff des Guten derart zu verallgemeinern, dass man fürchten muss, der Gehalt dieses Begriffs würde dadurch so sehr ausgedünnt, dass er uns kaum noch etwas sagen kann. Damit wird auch fraglich, inwiefern Thomas’ normative Beschreibung der dispositionalen Ausrichtung überhaupt noch bedeutsam ist – wenn doch sowieso alles, was existiert, irgendwie gut ist. Es gilt daher noch genauer zu bestimmen, worin die besondere Pointe von Thomas’ normativem Verständnis der Finalitätsthese besteht. Die normative Redeweise davon, dass es für das Feuer gut ist, Feuer zu erzeugen, und dass es dies deshalb auch tun soll, klingt deshalb befremdlich, weil sie unmittelbar moralische Assoziationen weckt. Man denkt sogleich, Thomas nähme damit gegenüber dem Feuer und seinen Dispositionen genau dieselbe Haltung ein, wie er es gegenüber einer Person und ihren Tugenden tut: Er lobt sie, wenn sie ihnen nachkommt, und tadelt sie, wenn nicht. Dies aber erscheint geradezu grotesk. Außerhalb eines animistischen Weltbildes ist es nicht sinnvoll, Feuer für seine Wirkungen zu loben oder zu tadeln. Wie jedoch schon bekannt ist, geht Thomas nicht von einem solchen Weltbild aus. Entsprechend meint er auch nicht, natürlich Tätige könnten einer moralischen Beurteilung unterzogen werden. Nur rationale Wesen, die über einen Intellekt und einen (freien) Willen verfügen, können gemäß Thomas moralische Fehler begehen und entspre-
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
chend zur Verantwortung gezogen werden.96 Obwohl Tätigkeiten natürlich Tätiger also einer allgemeinen normativen Beurteilung unterliegen – und es entsprechend sinnvoll ist zu sagen, es sei gut für das Feuer, Feuer zu entfachen –, handelt es sich dabei nicht um eine moralische Normativität. Wenn Thomas meint, dass alles Seiende gut ist, scheint er zunächst nicht mehr behaupten zu wollen, als dass alles Seiende bewertet werden kann, ohne dass es sich dabei automatisch um eine moralische Bewertung handelt. Das zieht natürlich die Frage nach sich, um welche Art der Bewertung es sich stattdessen handelt. Aufschluss darüber gewinnt man, wenn man sich an Thomas’ oben rekonstruiertes Argument für das Gutsein alles Seienden erinnert. Eine entscheidende Voraussetzung dieses Arguments ist die hylemorphistische These, dass alles, was existiert, wirklich oder aktual ist und damit über eine bestimmte Form verfügt. Insofern nun alles Seiende eine bestimmte Form hat, ist es auch eine bestimmte Form von Seiendem: Es ist kraft seiner Form ein ganz bestimmtes Etwas (etwas, das zu einer ganz bestimmten Art gehört) und folglich ein Exemplar einer bestimmten Art. Als solches kann es dann auch bewertet werden – und zwar als gutes oder weniger gutes Exemplar seiner Art. Entsprechend lässt sich die Rede davon, dass es für Feuer gut ist, weiteres Feuer zu erzeugen, auch so verstehen, dass sich Feuer nur dann als gutes Feuer auszeichnet, wenn es erfolgreich andere brennbare Materialien in Brand versetzt. Ansonsten handelt es sich um ein nur schlecht brennendes Feuer. Wenn also die Tätigkeiten natürlicher Dinge einer Bewertung unterstehen, so nur deshalb, weil ihr Vermögen, diese Tätigkeiten auszuüben oder zu erleiden von ihrer bestimmten Form abhängt, und diese Form sie zu Exemplaren einer bestimmten Art macht, als die sie anschließend bewertet werden können.97 Übertragen auf Thomas essentialistisch dispositionale
____________ 96 So betont Thomas (in STh I-II q. 18 art. 6 corp.), dass „die äußeren Handlungen nur dann unter die Bestimmung des Moralischen fallen, wenn sie willentliche sind; neque actus exteriores haben rationem moralitatis nisi inquantum sunt voluntarii.“ 97 Man könnte fragen, weshalb (substantielle) Formen oder Essenzen von Dingen als Normen fungieren können, d.h. als Standards, in Relation zu welchen man Dinge einer (normativen) Bewertung unterziehen kann. Schließlich ist nicht jeder Standard, mit Bezug auf den man Dinge bewerten kann, ein normativer Standard. Man kann deutsche Männer mit Bezug auf die Durchschnittsgröße von 1,78 m als über- oder unterdurchschnittlich groß bewerten, obwohl es sich bei dieser Bewertung nicht um eine normative Bewertung handelt. Mit deutschen Männern, die größer oder kleiner als 1,78 m sind, ist nichts nicht in Ordnung. Auf diese Frage dürfte Thomas mit seiner Transzendentalienlehre antworten: Da
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Kausalitätstheorie, in der seine Finalitätsthese verankert ist, heißt das: Für eine Substanz ist es deshalb gut, wenn sie ihr Vermögen realisieren und dadurch die Wirkungen, auf die sie naturgemäß abzielt, verwirklichen kann, weil sie sich dadurch als gute Substanz ihrer Art auszeichnet. Damit lässt sich nun auch dem oben angeführten Vorbehalt gegen Thomas’ normatives Verständnis von (F) entgegentreten. Warum, so habe ich oben suggestiv gefragt, reicht es nicht aus, dass Feuer typischerweise Feuer erzeugt; warum soll es dies darüber hinaus auch noch tun? Wie sich zeigte, überschätzt ein solcher Vorbehalt die Stärke der normativen Beurteilung, der Thomas dispositionale Eigenschaften unterzieht. Denn das Sollen, dem eine Substanz in der Ausübung ihrer Dispositionen unterliegt, ist nicht stärker als das, was dem Vorbehalt zufolge bereits ausreicht: Es ist ein Ausdruck davon, dass Feuer typischerweise Feuer erzeugt. Feuer soll genau (und nur) in dem Sinne Feuer erzeugen, als es eine Substanz eines ganz bestimmten Typs ist, und als solche im Normalfall auch Feuer entfacht.98 Die Normativität von Thomas’ Finalitätsthese (F) ergibt sich also schlicht aus der Annahme, dass Substanzen ihre spezifischen Wirkungen oder Ziele (kraft ihrer Dispositionen) typischerweise oder im Normalfall hervorbringen. Damit zeigt sich einmal mehr, dass man Thomas’ Determiniertheitsthese (D), die ja mit der normativen These (F) äquivalent ist, keinesfalls als ein empiristisch gedeuteter Allsatz – im Sinne von (D*) – verstehen darf. Die Wirkungen, zu denen einzelne Tätige determiniert sind, sind nicht solche, die sie lediglich immer oder in statistisch signifikanter Weise ausführen, sondern solche, die sie aufgrund ihrer Form im Normalfall an den Tag legen. Dies führt zu einer letzten Eigenheit von
____________ die Form, das ist, was den Dingen ihre Existenz verleiht, und alles, was ist, bereits insofern gut ist, als es existiert, liefert die Form einen normativen Standard. Obschon diese Antwort, das Problem löst, ist sie ontologisch kostspielig (sie beruht auf der Annahme, dass Dinge objektiverweise normative Eigenschaften haben), was sie aus systematischen Gesichtspunkten unattraktiv machen könnte. 98 Die Rede von ‚Normalfall’ ist in diesem Zusammenhang also nicht in einem statistischen, sondern in einem normativen Sinne zu verstehen. Der Normalfall besteht darin, wenn das geschieht, was typischerweise geschieht. D.h. wenn eine Substanz die Vermögen aktualisiert, aufgrund derer sie die Substanz ist, die sie ist. (Dieser Normalitätsbegriff ist deswegen nicht statistisch (sondern essentialistisch), weil der Normalfall nicht das sein muss, was statistisch gesehen am häufigsten geschieht. Normal für ein Ding ist das, was aufgrund seiner Essenz geschieht. Auf einen derart normativen Essenzbegriff werden wir bei Spinoza noch einmal stoßen.) Allerdings verbindet Thomas seinen normativen Normalitätsbegriff mit einem statistischen, wenn er schreibt: „Die Dinge nämlich, die sich zum kleineren Teil ereignen, nennt man Glück oder Zufall“ (ScG III §74 ¶2).
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Thomas’ Finalursachenverständnis, auf die es noch kurz einzugehen gilt, bevor ich im letzten Abschnitt den weiteren Folgerungen nachgehe, die Thomas aus seiner Finalitätsthese (F) zieht. Insofern Thomas’ Determiniertheitsthese (D) resp. (D’) nicht im Sinne von (D*) eine Determinismusbehauptung aufstellt, ist sie mit der Annahme eines kontingenten Weltverlaufs kompatibel: Wenn ein Tätiges im Sinne von (D) auf eine bestimmte Wirkung festgelegt ist, d.h. im Sinne von (D’) die Disposition hat, diese Wirkung hervorzurufen, so ist damit nicht gesagt, dass dieses Tätige seine Wirkung notwendigerweise hervorbringen muss und es also ausgeschlossen wäre, dass ein Tätiges bei der Hervorbringung seiner Wirkungen nie scheiterte. Es kann immer etwas dazwischen kommen, was das Tätige an der Aktualisierung seiner Disposition hindert. (D) macht lediglich eine Aussage über den Normalfall. Dass seine Kausalitätstheorie dank ihrer Verankerung in final charakterisierten Dispositionen Raum für diese Art der Kontingenz lässt, hält Thomas – wie überdies auch Aristoteles99 – für einen Vorteil seiner Theorie gegenüber atomistischen Kausalitätstheorien, wie sie besonders von Epikureern vertreten worden sind. Genau deren deterministisches Weltbild könne nämlich vermieden werden, wenn man die Determiniertheitsthese (D) im teleologischen Sinne von (F) versteht: „Dadurch wird der Irrtum der alten Naturphilosophen ausgeschlossen, die, indem sie den Dingen die Finalursachen gänzlich entzogen, behaupteten, alles geschehe mit aus der Materie entspringender Notwendigkeit.“100 Allerdings scheint der Umstand, dass Thomas mit Hilfe seiner Finalitätsthese die Möglichkeit kontingenter Ereignisse einräumen möchte, in einer gewissen Spannung damit zu stehen, dass er diese Finalitätsthese an anderen Stellen vermittels einer reductio ad absurdum begründet. Wenn man verneinen würde, dass Dinge um eines Zieles willen geschehen, liefe dies darauf hinaus – so sahen wir Thomas oben argumentieren –, dass alles bloß zufällig geschehen würde, was letztlich absurd wäre. Thomas weist seiner These (F) also zwei argumentative Aufgaben zu, von denen zunächst nicht klar ist, ob sie überhaupt miteinander vereinbar sind: Zum einen soll (F) garantieren, dass es kontingente Ereignisse gibt, zum andern soll (F) aber auch ausschließen, dass alles zufällig ist. Wie aber sollte (F) das Phänomen der Zufälligkeit zugleich ermöglichen wie auch verhindern können? Um diese Frage zu
____________ 99 Siehe Physik II.8 198b10-199a7. 100 „Per hoc autem excluditur antiquorum naturalium error; qui ponebant omnia fieri ex necessitate materiae, causam finalem a rebus penitus subtrahentes.“ (ScG III §2 ¶10)
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beantworten, gilt es zunächst zu klären, was für eine Form des Zufalls hier überhaupt zur Debatte steht. Wie Thomas ausführt, ergeben sich Zufälle aus Interferenzen verschiedener Ursachen: Nimmt man aber eine Diversität von Ursachen an, so muss die eine einmal mit der anderen zusammentreffen, wodurch sie in der Hervorbringung ihrer Wirkung gehindert oder gefördert wird. Aber aus dem Zusammentreffen zweier oder mehrer Ursachen geschieht es, dass sich etwas zufällig ereignet, wobei ein nicht erstrebtes Ziel aus dem Zusammentreffen mit einer Ursache hervorgeht: So wie es sich deshalb ereignete, dass jener seinen Schuldner fand, als er zum Markt ging, um etwas zu kaufen, weil auch der Schuldner zum Markt ging.101
Wie hier deutlich wird, ist ein zufälliges Ereignis durch zwei Merkmale charakterisiert: Zum einen ist ein solches Ereignis ein Produkt mehrerer Ursachen, die miteinander interferieren. Zum andern ergibt sich die Zufälligkeit eines Ereignisses deshalb aus dem Zusammentreffen mehrer Ursachen, weil daraus „ein nicht erstrebtes Ziel […] hervorgeht.“ Dies soll Thomas’ Beispiel illustrieren: Wenn Schuldner und Gläubiger einander auf dem Markt begegnen, so tun sie das deswegen zufälligerweise, weil keiner beabsichtigt, den anderen dort zu treffen: Beide gingen zum Markt, um einzukaufen, und nicht, um sich dort zu treffen. „Daraus aber“, so führt Thomas an anderer Stelle an, „dass ein um eines Ziels willen Tätiges von dem abweicht, was es erstrebt, folgt, dass etwas zufällig geschieht.“102 Da jedoch auch ein zufälliges Ereignis (seinem ersten Merkmal entsprechend) ein Produkt von Ursachen ist, vollzieht sich auch ein zufälliges Ereignis in gewisser Weise notwendig: Gegeben, dass sowohl Gläubiger und Schuldner an jenem Tag zur gleichen Zeit zum Markt gingen, mussten sie aufeinander treffen.103 Wenn etwas zufällig ist, heißt das für Tho-
____________ 101 „Supposita autem causarum diversitate, oportet unam alteri quandoque concurrere per quam impediatur, vel iuvetur, ad suum effectum producendum. Ex concursu autem duarum vel plurium causarum contingit aliquid casualiter evenire, dum finis non intentus ex concursu alicuius causae provenit: sicut inventio debitoris ab eo qui ibat ad forum causa emendi aliquid, provenit ex hoc quod debitor etiam ad forum ivit.“ ScG III §74 ¶4. 102 „Ex hoc autem quod aliquod agens propter finem deficit ab eo quod intendit, sequitur aliqua casu contingere.“ (ScG III § 74 ¶3) 103 Wie in Anm. 74 gesehen, argumentiert Thomas auf der Grundlage dieses Umstands dafür, dass Gott auch von kontingenten Sacheverhalten Gewissheit haben kann. Wenn auch gewisse Ereignisse aus der Perspektive der Einzeldinge zufällig erscheinen, so sind sie es nicht aus der Perpektive dessen, der alle Einzeldinge überblickt und angeordnet hat: „So wurde z.B. auch das Treffen zweier Sklaven, obwohl es ihnen zufällig erscheint, vollständig von ihrem Meister vorhergesehen,
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mas also nicht automatisch, dass es deshalb nicht in einem gewissen Sinne notwendig sei.104 Im Gegenteil: Es ist notwendig, aber es handelt sich dabei genau um die „aus der Materie entspringende Notwendigkeit“, auf die Thomas zufolge die Atomisten alles Geschehen zurückführen wollen.105 Diese Notwendigkeit könnte man blind nennen, da sie nicht durch eine eigene Form gesteuert wird und in diesem Sinn allein der Materie entspringt. Insofern kontingente Ereignisse durch etwas hervorgebracht werden, das keine genuin eigene Form hat, die für dessen Wirkungen verantwortlich ist, haben sie auch keine eigentliche, sondern nur eine akzidentelle Ursache: Nun ist offensichtlich, dass eine Ursache, welche die Tätigkeit einer Ursache behindert, die darauf ausgerichtet ist, ihre Wirkung in den meisten Fällen hervorzubringen, manchmal mit dieser Ursache zufälligerweise zusammentrifft, weshalb das Zusammentreffen dieser Ursachen, insofern es akzidentell ist, keine Ursache hat. Folglich kann das, was aus diesem Zusammentreffen der Ursachen hervorgeht, nicht auf irgendeine vorher existierende Ursache zurückgeführt werden, aus der sie notwendigerweise folgt.106
Was aus einer Interferenz mehrer Ursachen hervorgeht, hat keine einzelne Ursache mit einer spezifischen Form, die für dessen Entstehung verantwortlich wäre. Daher ist es auch kein Produkt einer Ursache, die darauf abgezielt oder (in einem dispositionalen Sinne) intendiert hätte, dieses Ding hervorzubringen. Es handelt sich lediglich um eine nicht erstrebte
____________ der sie absichtlich losgeschickt hat, damit sie sich an einem Ort treffen, ohne dass der eine von dem anderen weiß“ (STh. I q. 22 art. 2 ad. 1). 104 Thomas neigt also dazu, Kontingenz als ein epistemisches Phänomen zu erfassen: Wenn wir wie Gott alle Ursachen kennen würden, könnten wir sehen, dass alles so kommt, wie es kommen musste. Mit Spinoza und Leibniz werden wir zwei verschiedene Möglichkeiten kennen lernen, wie mit dieser Ansicht umgegangen werden kann: Spinoza zieht aus dem Umstand, dass prinzipiell alles durch Ursachen festgelegt ist, den radikalen Schluss, dass letztlich alles notwendig geschieht, während Leibniz darauf beharrt, es mache einen Unterschied, ob ein Sachverhalt notwendig, oder durch vorgängige Ursachen determiniert sei. Letzteres sei mit dessen Kontingenz verträglich. 105 Vgl. dazu auch STh. I q. 22 art. 2 ad. 3, und ScG II §40 ¶3, (meine Hervorhebung): „agens enim agit sibi simile secundum formam; et si aliquando hoc deficiat, hoc est a casu propter materiam.“ 106 „Manifestum est autem quod causa impediens actionem alicuius causae ordinatae ad suum effectum ut in pluribus, concurrit ei interdum per accidens, unde talis concursus non habet causam, inquantum est per accidens. Et propter hoc, id quod ex tali concursu sequitur, non reducitur in aliquam causam praeexistentem, ex qua ex necessitate sequatur.“ (STh. I q. 115, art. 6. corp.)
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Folge eines Zusammentreffens verschiedener Ursachen. Deshalb ist es zufällig oder kontingent. Im Gegensatz dazu ist etwas, das aus einem erfolgreichen natürlichen Prozess resultiert, nicht zufällig, weil es von seiner Ursache kraft seiner bestimmten Form (dispositional) intendiert wurde. Als solches ist es ein Endprodukt eines natürlichen Prozesses und verfügt entsprechend über eine eigentliche Ursache (causa per se). Damit wird deutlich, inwiefern Thomas mit seiner Finalitätsthese die doppelte Aufgabe meistern möchte, einerseits eine rein zufällige und damit chaotische und letztlich unverständliche Welt auszuschließen, andererseits aber auch die Kontingenz gegen die atomistische Annahme einer allein durch „materielle Notwendigkeit“ bestimmten Welt zu verteidigen. Der zweiten Aufgabe kommt Thomas nach, indem er die Möglichkeit zulässt, dass verschiedene Ursachen in der Aktualisierung ihrer spezifischen Dispositionen interferieren, was zu Ergebnissen führen kann, die auf keine an diesem Prozess beteiligte Ursache allein zurückgeführt werden können. Als solche sind diese Produkte zufällig oder kontingent, weil sie keine eigentliche Ursache haben, die ihre Hervorbringung (dispositional) intendierte. Der ersten Aufgabe wird Thomas gerecht, insofern seine These (F) garantiert, dass alles vermöge seiner spezifischen Disposition tätig ist, mit Bezug auf die sich erklären lässt, wie sich die Dinge im Normalfall verhalten. Wie Thomas im letzten Satz der eben zitierten Passage andeutet, folgen die entsprechenden Wirkungen im Normalfall auch mit Notwendigkeit aus ihren spezifischen, vorhergehenden Ursachen. Insofern Finalursachen oder das, worauf Substanzen aufgrund ihrer Dispositionen ausgerichtet sind, das Verhalten von Substanzen determinieren, gehen auch Finalursachen mit einer Art von Notwendigkeit einher. Diese unterscheidet sich aber von der „materiellen Notwendigkeit“ der Atomisten. Thomas unterscheidet diese zwei Arten der Notwendigkeit wie folgt: Es ist zu beachten, dass es zwei Arten der Notwendigkeit gibt, und zwar die absolute und die bedingte Notwendigkeit. Die absolute Notwendigkeit ist die, welche von früheren Ursachen auf dem Weg des Hervorbringens ausgeht, das sind: Materie und Bewirkendes. So entsteht die Notwendigkeit des Todes aus der Materie und der Disposition der gegensätzlichen Bestandteile; und diese heißt ‚absolut’, weil sie kein Hindernis hat, man nennt sie auch Notwendigkeit der Materie. Die bedingte Notwendigkeit hingegen geht von den späteren Ursachen bezüglich des Hervorbringens aus, d.h. von der Form und dem Ziel. So wie wir sagen, es sei notwendig, dass es eine Empfängnis gibt, wenn ein Mensch entstehen soll. Dies ist eine bedingte Notwendigkeit, weil es nicht einfach notwendig ist, dass diese
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Frau schwanger wird, sondern nur unter der Bedingung, dass ein Mensch entstehen soll. Und diese nennt man Notwendigkeit des Ziels.107
Die absolute Notwendigkeit ist mit Wirk- und Materialursachen assoziiert, die in der Ordnung des Entstehens früher sind als Form- und Finalursachen. Im Gegensatz dazu geht von Final- und Formursachen, die der Vollkommenheit nach gegenüber Wirk- und Materialursachen prioritär sind, eine bedingte oder hypothetische Notwendigkeit aus.108 Wenn man etwas mit Bezug auf Form- und Finalursachen erklärt, gibt man damit nicht die (allein hinreichenden) Bedingungen an, unter denen der zu erklärende Sachverhalt oder das zu erklärende Ereignis eintreten musste: Erklärt man z.B. die Explosion eines Atomreaktors anhand der Explosivität der darin installierten Brennstäbe und dem Ausfall des Kühlsystems, machen diese Faktoren, die in den Dispositionen der an diesem Ereignis beteiligten Substanzen bestehen, allein nicht notwendig, dass die Explosion eintrat. Schließlich hätte in jedem Moment etwas dazwischen kommen können, was den Verlauf der Geschehnisse verändert und damit die Explosion verhindert hätte. So hätte etwa ein Sicherheitssystem die nuklearen Reaktionen im Atomreaktor zeitweilig unterbrechen, oder ein Notkühlkreislauf hätte den Reaktor ausreichend kühlen können. Entsprechend sind final- und formalursächliche Erklärungen nicht absolut oder bedingungslos gültig: Sie operieren stets unter der Voraussetzung, dass sich die
____________ 107 „Et notandum quod duplex est necessitas: scilicet necessitas absoluta et necessitas conditionalis. Necessitas quidem absoluta est quae procedit a causis prioribus in viam generationis, quae sunt materia et efficiens: sicut necessitas mortis quae provenit ex materia et ex dispositione contrariorum componentium; et haec dicitur absoluta quia non habet impedimentum. Haec etiam dicitur necessitas materiae. Necessitas autem conditionalis procedit a causis posterioribus in generatione, scilicet a forma et fine: sicut dicimus quod necessarium est esse conceptionem, si debeat generari homo; et ista est conditionalis, quia hanc mulierem concipere non est necessarium simpliciter, sed sub conditione, si debeat generari homo. Et haec dicitur necessitas finis.“ (DPN §4.79-94) 108 Zu diesen verschiedenen Formen der Priorität von Material- und Wirkursachen einerseits und Formal- und Finalursachen andererseits schreibt Thomas: „Die Materie ist zwar dem Entstehen und der Zeit nach früher als die Form; denn das, dem etwas hinzukommt, ist früher als das, was hinzukommt. Aber die Form ist der Vollkommenheit nach früher als die Materie, da die Materie nur durch die Form ein vollständiges Sein hat. Ähnlich ist das Wirkende dem Entstehen und der Zeit nach früher als das Ziel, da von dem Wirkenden die Bewegung zum Ziel ausgeht. Aber das Ziel ist früher als das Wirkende, insofern es in der Substanz und Vollständigkeit wirkt, weil die Tätigkeit des Wirkenden nur durch das Ziel erfüllt wird.“ (DPN §4.66-75)
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Dinge so verhalten, wie sie sich typischerweise oder im Normalfall verhalten. Daher sind die im Rekurs auf Final- und Formalursachen erklärten Ereignisse oder Sachverhalte aufgrund dieser Ursachen auch lediglich hypothetisch notwendig.109 Anders verhält es sich, wenn man ein ganz konkretes Ereignis – wie etwa die Explosion des Atomreaktors von Tschernobyl am 26. April 1986 um 1.23 Uhr – erklärt. Dabei nimmt man nämlich auf ganz bestimmte Material- und Wirkursachen Bezug, die an diesem Vorfall beteiligt waren. Angesichts der genauen Anzahl reagierender Brennstäbe und nach der Ausschaltung sämtlicher Sicherheitssysteme konnte eine Explosion in dem konkreten Umstand tatsächlich nicht verhindert werden und war entsprechend absolut notwendig. Dies macht Thomas’ Unterscheidung zwischen absoluter und bedingter Notwendigkeit und deren Assoziation mit Material- und Wirkursachen einerseits sowie Formal- und Finalursachen andererseits verständlich. Es stellt aber gleichzeitig sein Beharren auf der Annahme von Final- und Formalursachen und der durch diese Ursachen induzierten hypothetischen Notwendigkeit in Frage. Schließlich lassen sich alle konkreten Ereignisse mit Hilfe ihrer spezifischen Material- und Wirkursachen vollständig erklären; und dies erst noch mit absoluter Notwendigkeit. Warum also Formalund Finalursachen annehmen? Einen Grund dafür haben wir bereits kennengelernt: Thomas möchte mit Rekurs auf Formal- und Finalursachen einen (begrifflichen) Raum für Kontingenz schaffen; denn was es heißt, dass etwas zufälligerweise geschieht, lässt sich nach Thomas nur mit Rekurs auf einen Normalfall spezifizieren, in Abweichung zu dem etwas überhaupt erst als zufällig charakterisiert werden kann. In einer Welt, in
____________ 109 Es scheint, als würde meine Erläuterung der hypothetischen Notwendigkeit – als notwendig unter der Voraussetzung des Normalfalls – nicht gut zu Thomas’ Beispiel passen. Dass es eine Empfängnis geben muss, wenn ein Mensch entstehen soll, scheint zunächst ein anderer Fall zu sein, als dass die Fabrikhalle aufgrund einer glühenden Zigarette explodieren muss, wenn Normalbedingungen herrschen. Unterscheiden sich die Fälle nicht dadurch, dass erstens in Thomas’ Beispiel der hypothetisch notwendige Sachverhalt im Gegensatz zu meinem Beispiel keine kausale Binnenstruktur aufweist, und dass zweitens die Voraussetzung, die für die hypothetische Notwendigkeit verantwortlich ist, in Thomas’ Beispiel im Gegensatz zu meinem eine normative ist? Ich denke, dass es sich hier nicht um echte Disanalogien handelt: Erstens ist auch die Empfängnis (conceptio) ein kausaler Vorgang mit einer kausalen Binnenstruktur (die Befruchtung einer Eizelle aufgrund des Eindringens eines Spermiums). Zweitens ist auch der Normalfall, unter dem die Explosion hypothetisch notwendig ist, wie oben gesehen, keine faktische, sondern eine normative Bedingung.
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der sich alles nur aufgrund faktisch vorliegender Material- und Wirkursachen beschreiben ließe, fehlte ein solcher Standard, in Abhängigkeit zu dem man etwas als zufällig bestimmen könnte. Entsprechend ist alles (oder nichts) zufällig. Das führt zu einem zweiten Grund, warum Thomas so überzeugt an Final- und Formursachen und deren hypothetischer Notwendigkeit festhält. Wie mehrfach deutlich wurde, hält Thomas die Rede von Material- und Wirkursachen ohne Rekurs auf Formal- und Finalursachen streng genommen für unmöglich: Worin das an einer Veränderung beteiligte Material besteht, ist durch die Form festegelegt, die dieses Material im Verlauf dieses Prozess im Normalfall annimmt, und ebenso ist die Identität einer Wirkursache von der Wirkung abhängig, die sie typischerweise hervorbringt. Was Material- und Wirkursachen sind, wird also erst mit Bezug auf die ihnen entsprechenden Form- und Finalursachen verständlich. Ganz ähnlich ist auch die absolute Notwendigkeit der Materialund Wirkursache nur mit Bezug auf die hypothetische Notwendigkeit der Finalursache verständlich. Thomas schreibt: Denn das, was notwendig ist, wird von der Materie bereitgestellt, während das Ziel den Grund für die Notwendigkeit bereitstellt. Wir sagen nämlich nicht, dass es ein solches Ziel geben muss, weil die Materie so beschaffen ist. Vielmehr sagen wir umgekehrt, dass, weil das Ziel und die zukünftige Form so beschaffen sind, die Materie so beschaffen sein muss. Und so besteht die Notwendigkeit in der Materie, aber der Grund für die Notwendigkeit besteht im Ziel.110
Finalursachen, die spezifizieren, was gewisse Wirkursachen im Normalfall hervorbringen, und entsprechend darüber Aufschluss geben, welche Form in einer gewissen an einer Veränderung beteiligten Materie aktualisiert wird, haben einen explanatorischen Vorrang gegenüber Material- und Wirkursachen, weil diese erst mit Bezug auf Finalursachen als die Materie und Wirkursache ihres bestimmten Typs identifiziert werden können. Daher ist auch die Notwendigkeit dieser Ursachen nur vor dem Hintergrund von Finalursachen verständlich. Denn erst der Bezug auf eine Finalursache erklärt, warum dieses Material nur jene Eigenschaften annehmen kann, und jene Wirkursache genau diese Wirkungen hervorbringt. Somit geben Finalursachen den Grund dafür an, warum Materie und Wirkursachen mit jenen Notwendigkeiten einhergehen, mit denen sie de facto einhergehen.
____________ 110 „[Q]uia id quod necessarium est, ponitur ex parte materiae; sed ex parte finis ponitur ratio necessitatis. Non enim dicimus quod necessarium sit esse talem finem, quia materia talis est; sed potius e converso, quia finis et forma talis futura est, necesse est materiam talem esse. Et sic necessitas ponitur ad materiam, sed ratio necessitatis ad finem.“ (In Phys. II §15 ¶4)
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Finalursachen und Erkenntnis Soweit ließen sich Thomas’ Thesen über das Primat und die Ubiquität der Finalursachen (PF) und (U) allein auf der naturphilosophischen Grundlage seiner aristotelischen Veränderungstheorie verstehen. Seine damit verbundene teleologische oder intentionale Auffassung der Finalitätsthese ließ sich dabei auf seine dispositionale Kausalitätstheorie zurückführen, der zufolge alle Kausalprozesse in dispositionalen Eigenschaften von Substanzen verankert sind. Finalursachen sind dabei die möglichen Manifestationen dieser Dispositionen, in Bezug auf welche diese Dispositionen charakterisiert werden, und auf die sie sich in gewisser Weise beziehen. Auch der normative Aspekt seiner Finalitätsthese (F), wonach alles Tätige um eines Guten willen tätig ist, ließ sich vor dem Hintergrund seiner Transzendentalienlehre verständlich machen. Gemäß dieser Lehre handelt es sich bei jedem (aktualen) Sein um etwas Gutes, weshalb auch die Manifestation oder die Aktualisierung einer essentiellen Disposition für Substanzen gut ist. Überdies weisen finalursächliche Beschreibungen substantieller Tätigkeiten, die auf die dispositionalen Ausrichtungen dieser Substanzen Bezug nehmen, einen normativen Charakter auf, weil sie stets davon ausgehen, dass das, was diese Substanzen typischerweise oder im Normalfall tun, gut für sie ist. Dies erlaubt es Thomas, auf der Grundlage von Finalursachen einen Begriff der Kontingenz zu etablieren, der mit seinem Anspruch an die Verständlichkeit der Welt vereinbar ist: Auch wenn seinem Kausalprinzip entsprechend alles eine Ursache hat, verfügt nicht alles über eine eigentliche Ursache (causa per se): Es gibt auch Dinge, die nur eine akzidentelle Ursache (causa per accidens) haben, die sich aus der Interferenz verschiedener Kausalprozesse ergibt. Aufgrund solcher Interferenzen kommt es manchmal vor, dass Ursachen nicht länger das hervorbringen, was sie typischerweise oder im Normalfall hervorbringen, und zufälligerweise etwas anderes bewirken. Mithin lassen sich kontingente Sachverhalte als Produkte untypisch verlaufender Prozesse charakterisieren. Wie oben allerdings bereits deutlich wurde, behauptet Thomas nicht nur, dass jedes Tätige um eines Guten willen tätig ist, sondern auch, dass letztlich alles auf Gott abzielt und dem Wohl der Menschheit dient. Ja, Thomas bettet seine Finalitätsthese in eine allgemeine theologische Theorie über die göttliche Vorsehung (providentia) ein, der zufolge alles Geschehen dieser Welt der weisen Lenkung Gottes untersteht.111 Diese weiteren Behauptungen, die Thomas rund um seine Finalitätsthese (F)
____________ 111 Vgl. dazu besonders ScG III §64 und STh. I q. 103-116.
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errichtet, lassen sich nicht weiter allein durch seine dispositionale Kausalitätstheorie begründen. Um ein vollständiges Verständnis von Thomas’ Konzeption von Finalursachen zu gewinnen, gilt es daher zu untersuchen, aus welchen Gründen sich Thomas ausgehend von (F) zu diesen weiteren Behauptungen berechtigt sieht. Ein entscheidender Schritt zu Thomas’ theologischem Verständnis seiner Finalitätsthese stellt seine so genannte cognitio-Bedingung dar, die er wie folgt ausformuliert: (CB)
„Damit etwas um eines Ziels willen geschieht, ist Wissen notwendig.“112
Dieser These zufolge ist auch die spezifische Intentionalität von Dispositionen (vermöge derer sie sich auf ihre Manifestationen beziehen) letztlich auf eine Form kognitiver Intentionalität, wie sie erkennende Wesen aufweisen, zurückzuführen. Anders als Place und Molnar vertritt Thomas also durchaus die These, dass nur mentale Zustände intentional sein können, und lehnt es folglich ab, dass es im strengen Sinne nicht-kognitive oder nicht-mentale Formen der Intentionalität gibt. Vor dem Hintergrund von Thomas’ These der Ubiquität der Finalursache (U) wirkt dieser Zug zunächst irritierend. Man stellt sich nun nämlich unmittelbar die Frage, ob sich Thomas damit nicht automatisch auf einen unplausiblen Animismus verpflichtet. Dieses drohende Problem gibt Thomas die willkommene Gelegenheit, auf Gott zu rekurrieren, um dieser unplausiblen Konsequenz zu entgehen: Die natürliche Notwendigkeit, die in jenen Dingen innewohnt, die auf eines festgelegt sind, ist eine gewisse Einprägung Gottes, der zum Ziel hinlenkt; wie die Notwendigkeit, mit welcher sich der Pfeil bewegt, um auf eine bestimmte Zielscheibe hinzustreben, eine Einprägung des Schützen ist, und nicht des Pfeils. Sie unterscheiden sich jedoch darin, dass das, was die Geschöpfe von Gott empfangen, deren Natur ist, während das, was den natürlichen Dingen vom Menschen eingeprägt wird, wider deren Natur ist und als Gewalt gilt. Wie daher die Notwendigkeit der Gewalt in der Bewegung des Pfeils die Lenkung des Schützen be-
____________ 112 „[A]utem quod fiat aliquid propter finem, requiritur cognitio finis aliqualis“ (STh. I-II, q. 6, art. 1, corp.) Wie seine These (PF) geht auch diese These über Aristoteles hinaus, der in seiner Physik (II.8 199b27-32) explizit schreibt, dass es für Finalursachen nicht notwendig des Wissens bedarf. Hingegen findet sich auch diese These bereits in Avicennas Metaphysik IV.5, 429. Es fällt jedoch auf, dass Thomas in seiner stark an Aristoteles’ orientierten Frühschrift De principiis naturae (§3.37-41) die cognitio-Bedingung noch nicht stellte: „Und so erhellt aus einer Stelle des Größeren, dass das natürlich Tätige das Ziel ohne Überlegung intendieren kann: und dieses Intendieren ist nichts anderes als die natürliche Neigung zu etwas zu haben.“
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weist, so beweist die Notwendigkeit der Natur eines Geschöpfes die Lenkung der göttlichen Vorsehung.113
Die Tätigkeit eines natürlich tätigen Dings ist gemäß seiner Form oder Natur nur auf eine bestimmte Wirkung festgelegt, die es in der Folge stets herbeizuführen strebt. Da sich ein natürliches Ding aufgrund seines mangelnden Erkenntnisvermögens nicht selbst auf dieses Ziel ausrichten kann, ist Gott für seine spezifische Ausrichtung verantwortlich. Als kognitives Wesen kann er dessen Ziel erfassen und es entsprechend darauf ausrichten. Thomas dient die cognitio-Bedingung (CB) somit mindestens zwei theologischen Anliegen: Erstens kann er auf ihrer Grundlage einen physicoteleologischen Gottesbeweis führen, in dem vom Streben natürlicher Einzeldinge auf einen intelligenten Urheber ihres Strebens geschlossen wird.114 Denn nur wenn es eine Bedingung für Os Streben nach Z ist, dass O über eine Erkenntnis von Z verfügen muss, kann daraus, dass (i) O Z anstrebt und (ii) O über keine kognitiven Vermögen verfügt, geschlossen werden, dass ein anderes erkenntnisbegabtes Wesen (wie etwa Gott) O auf sein Ziel Z hin ausgerichtet haben und folglich existieren muss. Zweitens kann Thomas ausgehend von der cognitio-Bedingung (CB) für die christliche Vorsehungslehre argumentieren, nach der Gott in seiner weisen Einrichtung der Welt die spezifischen Tätigkeiten der verschiedenen Dinge aufeinander abgestimmt und damit in einen zweckmäßigen Zusammenhang gestellt hat. Damit sind nicht nur die einzelnen Tätigkeiten von Substanzen final erklärbar, sondern der gesamte Kosmos weist aufgrund Gottes Einrichtung eine sinnvolle, teleologische Ordnung auf, der zufolge letztlich alles auf Gott hin ausgerichtet ist und danach strebt, Gott ähnlich zu werden.115 Während man mit naturphilosophischen Mitteln höchstens dafür argumentieren kann, dass die Tätigkeiten von Substanzen eine intrinsische teleologische Struktur aufweisen, kann Thomas ausgehend von der Annahme eines ordnenden Schöpfers also auch für deren extrinsische
____________ 113 „[D]icendum quod necessitas naturalis inhaerens rebus quae determinantur ad unum, est impressio quaedam Dei dirigentis ad finem, sicut necessitas qua sagitta agitur ut ad certum signum tendat, est impressio sagittantis, et non sagittae. Sed in hoc differt, quia id quod creaturae a Deo recipiunt, est earum natura; quod autem ab homine rebus naturalibus imprimitur praeter earum naturam, ad violentiam pertinet. Unde sicut necessitas violentiae in motu sagittae demonstrat sagittantis directionem; ita necessitas naturalis creaturarum demonstrat divinae providentiae gubernationem.“ (STh. I q. 103 art.1 ad 3) 114 So argumentiert Thomas in seinem fünften Gottesbeweis in STh. I q. 2 art. 3 corp. 115 Das führt Thomas ausführlich in ScG III §§17-21 aus.
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teleologische Struktur in einer geordneten Welt argumentieren.116 Es zeigt sich also, dass Thomas’ cognitio-Bedingung für die Anwendbarkeit von Finalursachen theologisch motiviert ist. Die Forderung, dass etwas nur dann ein gewisses Ziel erstreben kann, wenn es dieses Ziel auch erkennt, bietet Thomas gleichsam das Sprungbrett, um ausgehend von der aristotelischen Naturphilosophie für eine christliche kosmologische Ordnung zu argumentieren. Neben diesen theologischen Motiven dürfte Thomas über mindestens zwei philosophisch-systematische Gründe verfügt haben, die ihn zur Postulierung der cognitio-Bedingung (CB) bewogen. Der erste ist begrifflicher Natur und hat damit zu tun, dass sich Finalursachen als Ursachen verstehen lassen müssen. Der zweite Grund dürfte aus Thomas’ Sympathie mit dem Prinzip des zureichenden Grundes (kurz: PZG) entspringen, das erfordert, dass es für alles – und somit insbesondere für die dispositionale Intentionalität von Dispositionen – eine Erklärung gibt. Kommen wir zunächst zur begrifflichen Schwierigkeit, die sich angesichts der Rede von Finalursachen stellt. In welchem Sinn von Ursache, so kann man sich fragen, lässt sich ein explanatorisch relevantes Ziel oder ein Zweck als „Ursache“ bezeichnen? Weiter oben habe ich dafür plädiert, den aristotelischen Ursachenbegriff möglichst weit zu fassen – als Bezeichnung für einen Faktor, auf den man sich beziehen muss, um eine Veränderung vollständig beschreiben oder erklären zu können. In diesem Sinne lassen sich dann auch Ziele oder Zwecke als Ursachen ansprechen, weil sie die zu erklärenden Veränderungen überhaupt erst identifizieren und damit einer Erklärung zugänglich machen. Allerdings stellt sich diesem sehr weiten Ursacheverständnis ein Problem, mit dem sich auch Thomas herumgeschlagen hat. In seiner Beschreibung der für einen natürlichen Prozess relevanten Faktoren führt Aristoteles nämlich neben den vier Ursachen ein weiteres Prinzip an: die Privation.117 Die Privation ist ein Mangel, der für die Möglichkeit der Formaufnahme von entscheidender Bedeutung ist. Denn etwas kann nur dann eine Form aufnehmen, wenn es dieser Form beraubt ist und prinzipiell zu der Art von Ding gehört, die diese Form
____________ 116 Kant nennt diese beiden Formen der (intrinsischen bzw. extrinsischen) Teleologie in der Kritik der Urteilskraft II §63, A 275-280, „innere“ resp. „relative Zweckmäßigkeit“. In dieser Terminologie gesprochen, kann Thomas also erst mit Rekurs auf die cognitio-Bedingung und den Schöpfergott für eine objektive relative Zweckmäßigkeit der Welt argumentieren. 117 Siehe Aristoteles Physik I.7, 190b17-191a22, Metaphysik XII.4, 1070b18, und Anm. 13. Aristoteles’ griechischer Ausdruck dafür war „stéresis“, der mit dem „privatio“ übersetzt wurde.
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aufnehmen kann: So kann etwas z.B. nur dann die Form des Feuers aufnehmen und anfangen zu brennen, wenn es brennbar ist, und in diesem Sinne noch des Feuers ermangelt. Deswegen können etwa Glasfasern, aber auch bereits lodernde Feuer nicht mehr anfangen zu brennen: Beide haben keine Privation des Feuers – Glasfasern können gar nicht brennen und in diesem Sinne des Feuers gar nicht ermangeln, und das lodernde Feuer brennt schon, und ermangelt dadurch des Feuers ebenfalls nicht (mehr).118 Obwohl die Privation ein entscheidendes Prinzip der aristotelischen Veränderung ist, zählt sie Aristoteles nicht zu den Ursachen. Das provoziert natürlich die Frage, weshalb er dies nicht tut. Diese Frage versucht Thomas auf typisch scholastische Weise zu beantworten: mit einer Unterscheidung. Jede Ursache kann nämlich Prinzip genannt werden und jedes Prinzip Ursache. Aber trotzdem scheint die Ursache dem Prinzip im allgemeinen Verständnis etwas hinzuzufügen. Denn das, was das Erste ist – ob ein späteres Sein daraus folgt, oder nicht –, kann Prinzip genannt werden. […] Aber Ursache nennt man allein jenes Erste, woraus das Sein eines Späteren folgt; und daher sagt man, eine Ursache sei das, aus dessen Sein ein anderes folgt; und daher kann man jenes Erste, von dem das Sein einer Veränderung ausgeht, nicht per se Ursache nennen, sondern bloß Prinzip. Deswegen wird die Privation zu den Prinzipien, und nicht zu den Ursachen gezählt.119
Gemäß dieser Unterscheidung ist der Ursachebegriff ein anspruchsvollerer als der des Prinzips. Damit sich etwas als echte Ursache qualifiziert, muss es (i) das Erste in einer Veränderung sein, und (ii) muss daraus die Existenz eines anderen folgen. Damit lässt sich auch erklären, warum Aritoteles die Privation trotz ihrer Relevanz für Veränderungen nicht zu den vier Ursachen zählt: Weil die Privation lediglich eine Form des Nicht-Seins ist, kann keine Existenz aus ihr folgen, weshalb sie Bedingung (ii) nicht genügt sich entsprechend nicht als Ursache qualifiziert. Doch wie hilfreich Thomas’ obige Explikation des Ursachenbegriffs auch ist, um zu erklären, warum die Privation nicht als Ursache gezählt
____________ 118 Thomas diskutiert das Prinzip der Privation ausführlich in DPN §2.1-89. 119 „Omnis enim causa potest dici principium, et omne principium causa. Sed tamen causa videtur addere supra principium communiter dictum, quia id quod est primum, sive consequatur esse posterius sive non, potest dici principium. […] Sed causa solum dicitur de illo primo ex quo consequitur esse posterioris: unde dicitur quod causa est ex cuius esse sequitur aliud. Et ideo illud primum a quo incipit esse motus, non potest dici causa per se etsi dicatur principium: et propter hoc privatio ponitur inter principia, et non inter causas, quia privatio est id a quo incipit generatio.“ (DPN §3.65-83)
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wird, sie droht im Gegenzug die Finalursache als Ursache zu disqualifizieren. Denn das Ziel ist ja gerade nicht das Erste, sondern (bestenfalls) das Letzte eines Prozesses. Inwiefern kann also das Ziel dennoch als Ursache verstanden werden? Zur Lösung dieses Problems kommt Thomas die cognitio-Bedingung (CB) wie gerufen. Auf ihrer Grundlage kann er einfach sagen, „dass das Ziel, obwohl es das Letzte in der Ausführung ist, es dennoch das Erste in der Intention des Tätigen ist. Deshalb fällt es unter die Bestimmung einer Ursache.“120 Insofern Finalursachen erkannt werden müssen, ist sichergestellt, dass explanatorisch relevante Ziele – zumindest in erkannter Form – immer schon vor dem zu erklärenden Veränderungsprozess vorliegen, und sich entsprechend zu Recht als Finalursachen bezeichnen lassen. Die Annahme der cognitio-Bedingung dient überdies – zumindest prima facie – einem weiteren philosophischen Anliegen von Thomas, das ihm aus seiner Affinität zum Prinzip des zureichenden Grundes erwächst, dem zufolge es für alles eine Erklärung geben muss. Thomas hatte dieses Prinzip bereits in Anschlag gebracht, um für die Finalitätsthese (F) zu argumentieren, wonach jede Ursache auf die Hervorbringung ihrer bestimmten Wirkung abzielt. Würde eine Ursache nämlich nicht auf die Hervorbringung ihrer spezifischen Wirkung abzielen, so wäre schlicht unerklärlich, warum es sich bei der Folge einer Ursache auch tatsächlich um deren Wirkung, und nicht um eine rein zufällige Folge dieser Ursache handelt. Damit trägt Thomas’ Finalitätsthese, hinter der sich wie oben gesehen ein dispositionales Kausalitätsverständnis verbirgt, nicht zuletzt dem PZG Rechnung: Wenn eine Ursache ihre spezifische Wirkung hervorbringt, so tut sie das nicht zufällig, sondern deshalb, weil sie aufgrund ihrer Dispositionen auf ihre Wirkung bezogen ist und damit über eine eigenartige Form dispositionaler Intentionalität verfügt. Nun ist man auf der Basis des PZG jedoch versucht, auch diesen Umstand noch einmal zu hinterfragen und zu erklären. Wie kommt es, dass natürliche Substanzen über ihre eigenartige Form dispositionaler Intentionalität verfügen, die es ihnen ermöglicht, ganz bestimmte Wirkungen hervorzubringen? Auf diese Frage lässt sich mit Bezug auf die cognitioBedingung eine einfache Antwort geben: Natürliche Substanzen verfügen
____________ 120 „quod finis, etsi sit postremus in executione, est tamen primus in intentione agentis. Et hoc modo habet rationem causae.“ (STh. II-I, q. 1 art. 1 ad 1) In DPN §4.66-75, (zitiert in Anm. 108) reagierte Thomas auf dieses Problem, indem er zwischen zwei Ordnungen unterschied – zwischen der Ordnung des Entstehens und der Ordnung der Vollkommenheit – und argumentierte, Ziel und Form seien der Vollkommenheit (und nicht der Zeit) nach früher als das, was sie erklären.
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deshalb über eine dispositionale Intentionalität, weil sie von einem intelligenten Wesen, das ihre Ziele erkennt, auf diese Ziele hin ausgerichtet worden ist. Entsprechend ist die dispositionale Intentionalität von Substanzen in der kognitiven Intentionalität ihres Urhebers begründet.121 Insofern Thomas’ Postulation der cognitio-Bedingung sowohl seinen theologischen als auch begrifflichen und explanatorischen Motiven dient, fügt sie sich geradezu ideal und natürlich in sein Theoriegebäude ein. Trotzdem führt sie zu einer Reihe von Spannungen und Problemen, welche die weitere Geschichte teleologischer Erklärungen nachhaltig prägen werden. Auf zwei dieser Problemkomplexe möchte ich zum Abschluss dieses Abschnittes hinweisen. Zum einen führt die cognitio-Bedingung, nach der nur erkannte Ziele Finalursachen sein können, zu einem psychologischen Verständnis von Finalursachen, das unmittelbar zwei Probleme nach sich zieht. Erstens droht damit nicht mehr das Ziel selbst die Finalursache einer Tätigkeit zu sein, sondern das von einem Tätigen in seiner Erkenntnis repräsentierte Ziel. Nicht die tatsächlichen Ziele von Tätigkeiten sind die Finalursachen dieser Tätigkeiten, sondern die Repräsentationen dieser Ziele. Zweitens fragt man sich, ob Finalursachen als repräsentierte Ziele wirklich Ursachen sui generis sind, und nicht besser als mentale Wirkursachen verstanden werden sollten, die eine Handlung auf wirkkausale Weise auslösen. Die erste Frage, ob das Ziel selbst oder die Repräsentation des Ziels als Finalursache verstanden werden sollte, wurde bereits in der Scholastik ausführlich diskutiert.122 Thomas selbst kann für dieses Problem im Rahmen seiner Erkenntnistheorie eine elegante Lösung anbieten. Genau wie seine Kausalitätstheorie ist auch seine Erkenntnistheorie tief in seine hylemorphistische Metaphysik eingebettet. Auf der Grundlage des Hylemorphismus behauptet Thomas nun, dass ein Geist ein gewisses Ding genau dann erkennt, wenn der Geist dieselbe Form aufweist wie dieses Ding.123 Ein Erkenntnisprozess ist für Thomas deshalb immer ein Assimilationsprozess, bei dem der Geist die Form eines Gegenstandes aufnimmt.124 Wenn ich z.B. einen roten Apfel erkenne, nimmt mein Geist
____________ 121 Wie sich in Kapitel V zeigt, wird auch Leibniz die dispositionale Intentionalität von Substanzen auf eine Form kognitiver Intentionalität zurückführen, dafür aber allen Substanzen repräsentationale Fähigkeiten zusprechen. 122 Dieser Diskussion geht Pasnau 2001 ausführlich nach. 123 Für eine ausführliche Diskussion der Intentionalitätstheorie bei Thomas vgl. Perler 2002, Teil I. 124 Wie Thomas betont, handelt es sich bei dieser Aufnahme der Form jedoch um eine spezielle – er sagt: geistige – Formaufnahme. Denn wenn ich einen Apfel er-
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
die Form der Röte und die Form des Apfels auf und gleicht sich dadurch dem roten Apfel an. Gelingt es meinem Geist, sich der Form des roten Apfels vollständig anzugleichen, ist mein Geist formal identisch mit dem roten Apfel. In diesem Fall ist die Form des roten Apfels in meinem Geist instantiiert und ich habe eine wahre Erkenntnis des roten Apfels, weil Gegenstand und Intellekt übereinstimmen.125 Auf Basis dieser Theorie kann Thomas also durchaus weiterhin behaupten, das Ziel selbst sei die Finalursache einer Handlung, und nicht bloß eine Repräsentation dieses Ziels. Thomas’ assimilationistische Erkenntnistheorie garantiert nämlich, dass das Ziel einer Handlung und die Erkenntnis dieses Ziels (formal) identisch sind.126 Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass Thomas’ Rede davon, dass trotz der cognitio-Bedingung das Ziel selbst die Finalursache einer Handlung ist, und nicht einfach eine Vorstellung dieses Ziels, nur so lange aufrecht erhalten werden kann, wie man an seiner tief im Hylemorphismus verwurzelten assimilationistischen Erkenntnistheorie festhält. Entsprechend ist zu erwarten, dass Finalursachen zunehmend für Inhalte mentaler Zustände gehalten werden, je weiter man sich von Thomas’ assimilationistischer Erkenntnistheorie entfernt. Dies gilt es in den folgenden Kapiteln genauer zu prüfen. Das zweite aus dem psychologischen Finalursachenverständnis erwachsende Problem, nach dem es zweifelhaft ist, ob eine Finalursache überhaupt als Ursache sui generis gezählt werden kann, stellt sich nach dem oben skizzierten Ursachenverständnis von Thomas umso dringender. Wie sich dabei zeigte, muss eine Ursache für Thomas nicht nur das Erste einer Veränderung sein (i); aus einer Ursache muss (ii) auch die Existenz eines anderen folgen. Damit fragt man sich natürlich, wessen Existenz aus
____________ kenne und dessen Form aufnehme, werde ich ja nicht selbst zu einem Apfel, sondern ich bleibe ein Mensch. Das deutet darauf hin, dass ich die Form des Apfels in meinem Intellekt nicht auf natürliche, sondern lediglich auf geistige Weise aufnehme. Vgl. dazu Anm. 77. 125 Thomas’ Formulierung dieses Sachverhaltes lautet „adaequatio intellectus et rei“ (De Verit. q. 1 art. 1 corp.). Diese Formulierung wird häufig als Urformel der Korrespondenztheorie der Wahrheit zitiert. Ihre Einbettung in den hylemorphistischen Kontext zeigt jedoch, dass es sich dabei nicht ausschließlich um eine wahrheits-, sondern auch um eine erkenntnistheoretische These handelt. 126 Hier könnte man noch immer einwenden, dass streng genommen nicht das Ziel selbst als Form-Materie-Verbund in der Erkenntnis des Handelnden ist, sondern lediglich die Form des Ziels. Das stimmt, aber da die Form des Ziels das Ziel zum Ziel macht ist es in gewisser Weise tatsächlich das Ziel selbst, das im Intellekt vorhanden ist.
Finalursachen und Erkenntnis
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einer Finalursache folgt. Gibt man auf diese Frage die nahe liegende Antwort, dass aus der Finalursache oder dem repräsentierten Ziel die Existenz der zu erklärenden Tätigkeit folge, so läuft man damit Gefahr, dass man damit die Finalursache nicht mehr strikt von einer Wirkursache unterscheiden kann. Das gedachte Ziel scheint einfach das zu sein, was in der Funktion einer Wirkursache die zu erklärende Tätigkeit hervorbringt. Damit wäre die Finalursache schlicht eine intentionale Wirkursache, deren Status als Ursache sui generis sich nur noch schwer aufrechterhalten ließe. Daher lohnt es sich also die Frage, wessen Existenz aus einer Finalursache folgt, anders zu beantworten. Alternativ könnte man sagen, dass aus der Finalursache nicht die Existenz der Tätigkeit folgt – denn die folgt bereits aus der Wirkursache –, sondern die der Intention oder Ausrichtung eines Tätigen. So genügt eine Finalursache deshalb der Bedingung (ii), weil aus ihr folgt, dass ein Akteur auf eine bestimmte Tätigkeit, und nicht vielmehr auf eine ganz andere abzielt. Aber wie elegant eine solche Antwort auch sein mag, vor dem Hintergrund des durch die cognitio-Bedingung induzierten psychologischen Finalursachenverständnisses stellt sich doch die Frage, ob diese Ausrichtung eines Tätigen auf ein bestimmtes Ziel nicht selbst als psychologischer Kausalprozess verstanden werden muss, weshalb das erkannte Ziel streng genommen in diesem Ausrichtungsprozess eine wirkursächliche Rolle spielt.127 Auch das gefährdet den unabhängigen kausalen Status de Ziels. Zum andern läuft Thomas’ cognitio-Bedingung der aristotelischen Annahme einer immanenten Naturteleologie zuwider. Wenn natürliche Substanzen aufgrund ihrer mangelnden kognitiven Fähigkeiten von Gott auf ihre Ziele festgelegt werden müssen, so verfügen sie eben dadurch nur noch über eine Form derivativer Teleologie. So erläutert Thomas die teleologische Ausrichtung natürlicher Substanzen ja in Analogie zur Zielgerichtetheit des Pfeils, die ihm aufgrund des intelligenten Schützen zukommt, der ihn in Erkenntnis der Zielscheibe auf diese ausrichtet. Und gerade mit Bezug auf den Pfeil möchte man ja behaupten, dass ihm seine Ausrichtung auf die Zielscheibe gerade nicht immanent zukommt, son-
____________ 127 Diese Frage stellt sich besonders drängend vor dem Hintergrund von Thomas’ Handlungspsychologie. Wie er nämlich ausführt, bestimmt der Intellekt, der etwas als gut erkennt, das Willensvermögen zur Wahl dieses Guts – und zwar auf wirkkausale Weise. Damit dürfte die Finalursache nichts anderes sein als das durch den Intellekt erkannte Gut, das verursacht, dass der Wille dieses Gut auch wählt. Sie wäre somit insbesondere eine ausgezeichnete Wirkursache in einem psychologischen Deliberations- und Entscheidungsprozess. Vgl. dazu Donogan 1982.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
dern nur derivativ aufgrund der externen Einwirkung des Schützen. Wie Artefakte ihre Finalität ihren Erschaffern verdanken, so scheint vor dem Hintergrund der cognitio-Bedingung auch die Finalität natürlicher Dinge ihrem göttlichen Erschaffer geschuldet.128 Damit unterminiert die cognitioBedingung die immanente Teleologie natürlicher Substanzen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass Thomas trotz seiner Preisgabe der immanenten Naturteleologie zumindest prima facie weiterhin an der Annahme der intrinsischen Naturteleologie festhalten kann.129 Auch wenn das teleologische Streben natürlicher Substanzen nicht in diesen Substanzen selbst begründet liegt, so können sie in diesem Streben doch Zielen und Zwecken nachgehen, die ihnen selbst zugute kommen. Genau darauf macht Thomas im Anschluss an seinen Vergleich der göttlichen Ausrichtung natürlicher Substanzen mit der eines Schützen aufmerksam, indem er auf eine Disanalogie zwischen diesen beiden Fällen hinweist: „Sie unterscheiden sich jedoch darin, dass das, was die Geschöpfe von Gott empfangen, deren Natur ist, während das, was den natürlichen Dingen vom Menschen eingeprägt wird, wider deren Natur ist und als Gewalt gilt.“130 Im Fall der Ausrichtung des Pfeils oktroyiert der Schütze dem Pfeil seine persönlichen Ziele und tut ihm damit gleichsam Gewalt an. Schließlich ist es für den Pfeil als solchen nicht gut zur Zielscheibe zu fliegen. Das ist es höchstens für den Schützen, der sich damit vielleicht Ruhm und Ehre erwerben kann. Anders verhält es sich, wenn Gott die natürlichen Substanzen auf Ziele ausrichtet. Gott richtet diese nämlich nicht primär auf seine eigenen Ziele aus – also darauf, was für ihn selbst gut wäre. Vielmehr richtet er sie auf die Ziele aus, die ihrer Natur entsprechen, die also für die natürlichen Substanzen selbst gut sind. Deshalb tut Gott den natürlichen Substanzen auch keine Gewalt an, wenn er sie auf ihre Ziele festlegt. Auch wenn sich Thomas mit der Einführung der cognitio-Bedingung die Berechtigung zu einer immanenten Naturteleologie verspielt, ist nicht
____________ 128 Thomas sagt selbst, dass „die ganze irrationale Natur im Vergleich zu Gott wie ein Instrument zu dem ersten Handelnden“ ist (STh. I-II q.1 art.2 corp.), und analogisiert damit das Verhältnis von Gott zur Schöpfung zu unserem Verhältnis zu Artefakten. Während Artefakte ihre teleologische oder funktionale Bestimmung durch uns erhalten, erhält die Schöpfung ihre teleologische Ausrichtung durch Gott. 129 Wie ich im Schlusskapitel ausführen werde, ist die Sache doch problematischer, als ich sie hier präsentiere. 130 „Sed in hoc differt, quia id quod creaturae a Deo recipiunt, est earum natura; quod autem ab homine rebus naturalibus imprimitur praeter earum naturam, ad violentiam pertinet.“ (STh. I q. 103 art.1 ad 3)
Schlussbemerkungen
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immer klar, ob er sich dessen selbst bewusst war. So führt er etwa in De Veritate (q. 1 art. 5 ad 15) den Satz „Feuer strebt nach oben“ als Beispiel für eine essentielle Prädikation an, was nur der Fall sein kann, wenn Feuer seiner Natur gemäß nach oben strebt und ihm dieses Streben immanenterweise zukommt. Würde Thomas jedoch ernsthaft daran festhalten wollen, dass die teleologische Ausrichtung den natürlichen Substanzen sowohl immanent als Gott geschuldet ist, würde er sich in ein Problem verstricken, das sich als Dilemma formulieren lässt: Entweder ein Ding verfügt über immanente Ziele oder nicht. Wenn ihm immanente Ziele zukommen, dann wohl in dem Sinne, dass sie – wie Thomas schreibt – seiner Natur gemäß sind. In diesem Fall ist es aber kaum mehr sinnvoll, davon zu sprechen, dass Gott es auf dieses Ziel ausrichtet. Denn wenn dieses Ding bereits aufgrund seiner Natur über Ziele verfügt, braucht es nicht mehr von Gott darauf festgelegt zu werden; ja Gott könnte es nicht einmal auf ein anderes Ziel hin ausrichten, ohne dabei die Identität dieses Dings zu verändern. Verfügen die natürlichen Substanzen über keine immanenten Ziele, kann sie Gott zwar auf irgendwelche Ziele hin ausrichten, aber diese sind eben dadurch derivativ.131 Leider löst Thomas dieses Dilemma nicht auf. Thomas’ cognitio-Bedingung führt damit erstens dazu, dass sich natürliche Phänomene nicht mehr direkt mit Bezug auf Finalursachen erklären lassen, und zweitens, dass der intrinsische Status der Finalität des Verhaltens natürlicher Agenten problematisch wird.
Schlussbemerkungen Finalursachen haben ihren natürlichen theoretischen Ort innerhalb der hylemorphistischen Naturphilosophie, in der eine Veränderung als Aktualisierung einer Form beschrieben wird und damit automatisch ein Ziel oder ein natürliches Ende aufweist – und zwar die vollständige Aktualisierung derjenigen Form, als deren Aktualisierung die Veränderung bestimmt ist. Eine aristotelische Veränderung (ein motus) besteht aus einer
____________ 131 Die einzige Möglichkeit, mit der Thomas diesem Problem entgehen könnte, bestünde darin zu argumentieren, dass Gott die Natur und damit die immanenten Zwecke eines Dinges festlegen kann. Dies hieße aber, die These aufzugeben, dass Gott in seinem Tun durch metaphysische Notwendigkeiten eingeschränkt ist (da metaphysische Notwendigkeiten durch die Essenzen der Dinge konstituiert werden). Wie Kapitel II zeigen wird, hat Suárez dies für absurd befunden, während Descartes, so zeigt sich in Kapitel III, diesen Schritt vollzogen hat.
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
Substanz, die aufgrund ihrer materiellen Eigenschaften einerseits und der Einwirkung einer Wirkursache andererseits eine ganz bestimmte Form aktualisiert. Entsprechend muss man für eine vollständige Beschreibung eines solchen motus auf jene vier Erklärungsfaktoren zurückgreifen, die Aristoteles als Ursachen bezeichnet hat: (1) auf die Materialursache oder die materiale Beschaffenheit dieser Substanz, kraft derer sie sich so verändern kann, wie sie es tut, (2) auf die Formursache oder Form, die aktualisiert wird, (3) auf die Wirkursache, die diese Veränderung auslöst, und (4) auf die Finalursache, mit Bezug auf die bestimmt wird, wann die Veränderung abschlossen ist. Diese vier Ursachen sind nicht primär ontologisch charakterisierte Entitäten, sondern können – wie im Fall von Form-, Wirk- und Finalursachen – zusammenfallen. Es handelt sich dabei lediglich um Aspekte von Substanzen und Veränderungen, mit Bezug auf die Veränderungen erklärt werden können. Wie Thomas mit seiner These (PF) des Primats der Finalursache behauptet, kommt der Finalursache unter diesen vier Ursachen ein Vorrang zu: Sie ist die Ursache der Ursachen. Wie ich argumentiert habe, ist dies so zu verstehen, dass es ohne Finalursachen gar keine Wirk-, Material- und Formursachen gäbe. Denn dafür, dass es Ursachen oder Erklärungsfaktoren für Veränderungen gibt, muss es erst einmal Veränderungen geben. Nun sind hylemorphistisch verstandene Veränderungen aber final charakterisierte Entitäten: Sie sind durch die Aktualisierung der Form bestimmt, mit deren vollständiger Aktualisierung der Prozess abgeschlossen ist. Entsprechend lassen sich sowohl eine spezifische Veränderung als auch die für sie verantwortlichen Faktoren erst mit Rekurs auf die Finalursache bestimmen, die Aufschluss über die Identität des Veränderungsprozesses gibt. Insbesondere gilt deshalb auch, dass sich alle Veränderungen oder Prozesse um eines Zieles willen vollziehen, wie Thomas in seiner These (U) der Ubiquität der Finalursache behauptet. Da die Identität von Veränderungen von ihren Finalursachen abhängt, gäbe es ohne Finalursachen keine bestimmten und damit überhaupt keine Veränderungen. In einem besonders engen Verhältnis stehen Final- und Wirkursachen miteinander.132 Das macht Thomas besonders mit seiner Finalitätsthese (F) deutlich, der zufolge jedes Tätige oder jede Wirkursache um eines
____________ 132 Thomas klassifiziert Wirk- und Finalursachen zusammen als „äußere ‹Ursachen›, weil sie außerhalb des Dinges sind“. Dagegen „nennt man Materie und Form innere Ursachen eines Dinges, weil sie das Ding konstituierende Teile sind.“ (DPN §3.48-51) Diese Klassifikation von Wirk- und Finalursachen als äußere Ursachen einerseits und Materie und Form als innere Ursachen andererseits wird auch Suárez beibehalten, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird.
Schlussbemerkungen
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Zieles willen tätig ist. Bei dieser These handelt es sich zunächst einfach um einen Spezialfall der allgemeinen These (PF), nach der die Identität jeder Ursache vom Ziel des Prozesses abhängt, in das sie eingeht und auf das sie in diesem Sinne bezogen ist. Wie sich aber herausstellte, ist diese These auch Ausdruck einer essentialistisch dispositionalen Kausalitätstheorie. Dieser Theorie gemäß sind Wirkursachen als Substanzen zu verstehen, die vermöge ihrer (substantiellen) Form über ganz bestimmte Dispositionen verfügen, kraft derer sie bestimmte Dinge bewirken und erleiden können. Dank dieser Dispositionen beziehen sich Wirkursachen in gewissem Sinne auf ihre möglichen Wirkungen, und streben danach, diese Wirkungen hervorzubringen. Das bringt Thomas dadurch zum Ausdruck, dass er sagt, Tätige seien um ihrer Wirkung willen tätig. Eine solche Kausalitätstheorie unterscheidet sich in mindestens vier Punkten von der heute sehr verbreiteten Hume’anischen Kausalitätskonzeption: Erstens handelt es sich um eine Form der Substanzkausalität, und nicht um eine Ereigniskausalität wie bei Hume. Zweitens sind Ursache und Wirkung auf eine nichtkontingente Weise miteinander verbunden: Wer eine Ursache und deren dispositionale Eigenschaften kennt (dank derer sie überhaupt eine Ursache ist), der kann daraus ableiten, welche Wirkungen diese Ursache hervorbringen kann. Drittens sind Thomas’ Aussagen über Ursachen und deren Wirkungen nicht als induktiv gerechtfertigte Allsätze zu verstehen. Diese Aussagen handeln vielmehr von dem, was eine Ursache typischerweise oder im Normalfall tut (und wird allein durch das Erfassen der Essenz einer Substanz – und nicht etwa induktiv – erkannt). Viertens, und mit dem letzten Punkt verbunden, weist diese Kausalitätstheorie eine normative Dimension auf, insofern ihr zufolge Ursachen auch bewertet werden können, je nachdem wie erfolgreich sich ihre Dispositionen manifestieren. Darüber hinaus eröffnet das normative Verständnis der Finalitätsthese (F) Thomas auch die Möglichkeit trotz seines Festhaltens am Kausalprinzip dafür zu argumentieren, dass es kontingente Sachverhalte gibt: Dass gewisse Ursachen im Normalfall gewisse Wirkungen hervorbringen, heißt gerade nicht, dass sie es immer tun. Im Gegenteil, manchmal gehen Ursachen fehl, und die Dinge kommen aufgrund interferierender Kausalprozesse anders, als sie kommen sollten. Es wurde allerdings deutlich, dass Thomas diese hylemorphistische Kausalitätstheorie mit Hilfe des Postulats der cognitio-Bedingung in einen christlichen Kontext einbettet. Dieser Bedingung zufolge kann etwas nur dann, um eines Zieles willen tätig sein, wenn es ein Wissen um dieses Ziel gibt. Diese Forderung fungiert damit gleichsam als Scharnier, mit Hilfe dessen Thomas die Welt der aristotelischen Physik in einen schöpfungstheologischen Rahmen heben und die hylemorphistische Naturphilosophie für seine theologischen Zwecke fruchtbar machen kann. Denn nach
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Kapitel I: Thomas von Aquin und das Primat der Finalursache
der cognitio-Bedingung ist jede Form der dispositionalen Intentionalität allein auf der Grundlage von kognitiver Intentionalität zu verstehen – auch jene, vermöge derer arational Tätige um eines Zieles willen tätig sind. Damit dient die cognitio-Bedingung unmittelbar zwei von Thomas’ theologischen Interessen. Zum einen erlaubt sie ihm die Führung eines physiko-theologischen Gottesbeweises, da er aus der zielgerichteten Wirksamkeit der Dinge, wie sie die aristotelische Naturphilosophie beschreibt, auf die Existenz eines intelligenten Schöpfers schließen kann. Zum andern kann Thomas ausgehend von dieser Gewissheit um einen ordnenden Schöpfer im Rahmen seiner Vorsehungslehre für eine teleologische Struktur des Kosmos argumentieren, in dem die Tätigkeiten von Substanzen auch untereinander abgestimmt sind, und nicht bloß über eine intrinsische teleologische Struktur verfügen. Trotz dieser theologischen Vorzüge geht die Annahme der cognitioBedingung mit mindestens drei philosophischen Problemen einher: Erstens verliert Thomas die Möglichkeit, einer immanenten Naturteleologie Rechnung zu tragen, wenn die teleologische Ausrichtung arationaler Substanzen auf Gottes Einrichtung zurückgeführt werden muss. Überdies führt die cognitio-Bedingung zu einem psychologischen Verständnis von Finalursachen, das zwei weitere Probleme nach sich zieht. Man muss sich nun zweitens fragen, ob das Ziel als solches eine Finalursache ist, oder ob nicht vielmehr eine mentale Repräsentation des Ziels diese Rolle übernimmt. Drittens wird unklar, inwieweit eine derart psychologische Finalursache tatsächlich noch eine Ursache sui generis ist, und nicht vielmehr einfach eine mentale Wirkursache. Wie sich in den nächsten Kapiteln zeigen wird, sind mit diesen Problemen schon alle Schwierigkeiten gegeben, mit denen sich die Autoren nach Thomas in ihrem Umgang mit teleologischen Erklärungen auseinanderzusetzen haben. Es ist also genau diese Einbettung des Aristotelismus in den theologischen Gesamtrahmen, die Thomas mit Hilfe seiner Forderung der cognitio-Bedingung vollzieht, welche jene Probleme erzeugt, im Lichte derer finalursächliche Erklärungen natürlicher Prozesse zunehmend für problematisch erachtet werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich abschließend auch Thomas’ Teleologiekonzeption gemäß den in der Einleitung entwickelten Systematisierungsfragen klassifizieren. Diese erfährt durch Thomas’ Einführung der cognitio-Bedingung eine entscheidende Wende. Gemäß der hier entwickelten naturphilosophischen Rekonstruktion von Finalursachen lag nämlich zunächst ein naturalistisches und konstitutives Teleologieverständnis nahe, dem zufolge zielgerichtete Prozesse Ausdruck dispositionaler Eigenschaften von Substanzen sind, die in Bezug auf rationale wie auf arationale Agenten genau gleich als Ausdruck spezifischer Vermögen zu analysieren sind und die schließlich über die Identität oder Essenz dieser Substanzen Aufschluss
Schlussbemerkungen
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geben. Dieses naturalistische Teleologieverständnis erscheint mir aus philosophischen Gründen besonders attraktiv, weil es ermöglichte, Handlungen rationaler Wesen schlicht als Ausdruck bestimmter rationaler Vermögen zu verstehen, ohne dabei auf innere, repräsentierende Zustände verweisen zu müssen. Ja, die Rede von solchen inneren repräsentierenden Zuständen könnte vielleicht sogar mit Rekurs auf die besonderen Fähigkeiten rationaler Substanzen expliziert werden, und müsste nicht als unerklärter Erklärer fungieren.133 Damit ließe sich unter Umständen sogar das häufig rätselhaft anmutende Phänomen der kognitiven Intentionalität als eine besondere Form der in der gesamten Natur verbreiteten dispositionalen Intentionalität verstehen.134 Doch Thomas wählt genau den umgekehrten Weg. Mit seiner cognitio-Bedingung fordert er, dass die dispositionale Intentionalität von Substanzen in einem Wissen um diese Ausrichtung und damit in einer Form kognitiver Intentionalität begründet sein muss. Dieser Zug zieht nicht nur eine Priorisierung des Begriffs der kognitiven Intentionalität nach sich, die es unter Umständen schwierig macht, diesen Begriff weiter zu explizieren. Darüber hinaus führt er zu einer Reihe oben skizzierter philosophischer Folgeprobleme. Aufgrund der cognitio-Bedingung sind teleologische Beschreibungen und Erklärungen letztlich immer in intentionalen Handlungen begründet, die von einem wissenden Akteur ausgehen. Thomas’ Teleologieverständnis entpuppt sich damit als intentionalistisch und ätiologisch: Intentionalistisch ist es, weil teleologische Aussagen mitteloder unmittelbar mit Bezug auf intentionale Handlungen, die auf dem Wissen eines Akteurs beruhen, analysiert werden müssen. Daher kann das teleologische Streben natürlichen Substanzen nur noch in einem derivativen Sinne zukommen. Zudem führt Thomas’ intentionalistische Teleologiekonzeption zu einem psychologischen Finalursachenverständnis. Das erlaubt es, Finalursachen für genetische Erklärungen der Handlungen rationaler Personen und deren Produkte heranzuziehen. Thomas’ Auffassung der Teleologie erweist sich damit auch als ätiologisch: Mit Hilfe von Finalursachen lässt sich nicht nur explizieren, was jemand tut, sondern auch, warum jemand etwas tut, und warum gewisse Dinge so existieren, wie sie existieren.
____________ 133 Einen solchen Vorschlag hat W. Sellars in seinem so genannten Myth of Jones unterbreitet, in dem er ausführt, dass repräsentierende, innere Episoden als theoretische Entitäten verstanden werden können, die gewisse Verhaltensdispositionen erklären sollen; vgl. Sellars 1956, 186-189. 134 Diesen Vorschlag hat in jüngster Zeit C. B. Martin 2007 ausgearbeitet.
Francisco Suárez und das Problem der Finalursache Mitte des 16. Jahrhunderts ging eine Reformwelle durch die Universitäten Spaniens: Nach den Beschlüssen des Tridentischen Konzils von 1545 bis 1563 sollten die christlichen Glaubenssätze wieder vermehrt auf der Grundlage der aristotelischen Metaphysik begründet werden, wie dies Thomas von Aquin schon rund 300 Jahre früher versuchte. Um die christliche Lehre möglichst fruchtbar mit der aristotelischen verbinden zu können, sollten die damaligen Studenten schon beim Eintritt in ihr Theologiestudium mit der aristotelischen Metaphysik vertraut sein. Deswegen mussten sie schon ihm Rahmen der so genannten Artes Liberales in aristotelischer Metaphysik unterrichtet werden. Diese Umstrukturierung des philosophischen Lehrplans an Spaniens Universitäten führte zu einem akuten Bedarf an systematischen Werken über die aristotelische Metaphysik. Ein besonders einflussreiches Werk dieser Art schrieb Francisco Suárez (1548-1617), das er 1597 unter dem Titel Disputationes Metaphysicae veröffentlichte. Darin versuchte er in 54 Disputationen sämtliche klassischen Themen der Metaphysik in systematischer Form aufzuarbeiten und darzustellen.1 Dieses Buch wurde im 17. Jahrhundert rege rezipiert und avancierte schnell zu einer Art Cambridge Companion to Metaphysics der frühen Neuzeit.2 Damit wurde Suárez auch zu einem wichtigen – wenn auch häufig negativen – Bezugspunkt der so genannt neuen Philosophie. Es ist nachgewiesen, dass sowohl Descartes als auch Spinoza und Leibniz direkt oder indirekt mit Suárez’ Lehren vertraut waren.3 In diesen Disputationes Metaphysicae findet sich auch eine ausführliche kausalitätstheoretische Untersuchung. Diese Untersuchung nimmt 15
____________ 1
2 3
Vgl. zum institutionsgeschichtlichen Hintergrund von Suárez’ Disputationes Metaphysicae Lohr 1988, 608-617. Ich werde Verweise auf dieses Werk im Folgenden mit dem Sigel „DM“ angeben, und zwar in der Form DM x§y¶z, wobei x die Nummer der Disputation, y die Sektion und z den Paragraphen dieser Sektion in der Ausgabe im Band 26 der Opera Omnia von 1866 bezeichnet. Vgl. zu Suárez’ Rezeptionsgeschichte Grabmann 1926, Mora 1953 und knapp Honnefelder 1990, 200-205. Vgl. etwa Doyle 1998; die scholastischen Hintergründe von Descartes hat besonders ausführlich Ariew 1999 aufgearbeitet. Die ausführlichste Studie zu den scholastischen Einflüssen Spinozas bietet noch immer Freudenthal 1887.
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Kapitel II: Francisco Suárez und das Problem der Finalursache
Disputationen ein (DM 12-27). Nach einer allgemeinen Diskussion des Ursachenbegriffs (in DM 12) behandelt Suárez der Reihe nach die vier klassischen Ursachen: die Materialursache (DM 13-14), die Formursache (DM 15-16), die Wirkursache (DM 17-22) und die Finalursache (DM 23-24). Unter die Abhandlung über die Wirkursachen fällt auch die Diskussion von Gottes Erschaffung (DM 20) und Bewahrung der Welt (DM 21). Die Untersuchung der vier klassischen Ursachen ergänzt Suárez mit einer Disputation über die so genannte causa exemplaris, die zum Tragen kommt, wenn Gott die Welt nach seinen Ideen erschafft (DM 25). Suárez rundet seine Untersuchung der Kausalität schließlich mit zwei Disputationen ab, die dem Vergleich der verschiedenen Ursachen gewidmet ist (DM 26-27). Suárez’ umfangreiche und detaillierte Auseinandersetzung mit der Ursachenlehre macht ihn für eine Analyse des Teleologieverständnisses in der frühen Neuzeit besonders interessant. Einerseits dient eine Rekonstruktion von Suárez’ Ansichten aufgrund seines großen Einflusses dazu, den kausalitätstheoretischen Hintergrund vorzustellen, vor dem Descartes, Spinoza und Leibniz ihre Kritik bzw. Rehabilitation von Finalursachen formulierten. Andererseits gerät mit Suárez ein spätscholastischer Autor ins Blickfeld, an dessen Beispiel deutlich wird, dass es die Scholastik als einheitliche philosophische Position (zumindest bezüglich teleologischer Erklärungen) nicht gab. Wie sich im Folgenden zeigen wird, vertritt Suárez in der Kausalitätstheorie eine Reihe von Thesen, die dem in der gegenwärtigen Philosophie verbreiteten Hume’anischen Kausalitätsverständnis näher sind als jenem von Thomas, das wir im letzten Kapitel kennen gelernt haben. In diesem Kapitel werde ich deshalb Suárez’ Kausalitätstheorie und die damit verbundene Auffassung der Finalursache rekonstruieren und diskutieren sowie auf eine Reihe von Problemen eingehen, die sich aus seinem Verständnis von Finalursachen ergeben. Es geht mir dabei um eine immanente Diskussion von Suárez’ Kausalitätstheorie, die zum einen im Kontrast zu Thomas’ Position verdeutlichen soll, wie sehr sich der Kausalitätsbegriff schon innerhalb der Scholastik verändert hat, und zum andern darlegen soll, wovon die Theoretiker der frühen Neuzeit bei ihrer Teleologiekritik ausgingen. Deshalb verzichte ich auf eine historische Rekonstruktion des Kausalitätsbegriffs in den rund 300 Jahren zwischen Thomas und Suárez.4
____________ 4
Interessierte seien aber an folgende Literatur verwiesen: Gilson 1962, Carraud 2003, 7-102. Schlaglichter auf wichtige Entwicklungen in der Diskussion von Finalursachen zwischen Thomas und Suárez werfen Pasnau 2001 und (vor allem mit Bezug auf Ockham) McCord Adams 1998.
Die Influxus-Theorie und das Paradigma der Wirkverursachung
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Die Influxus-Theorie und das Paradigma der Wirkverursachung Bereits im letzten Kapitel wurde deutlich, dass Thomas bei der Formulierung der Vier-Ursachen-Lehre darum bemüht ist, Ursachen von Prinzipien abzugrenzen. Dieses Bemühen hat seinen Grund darin, dass es sich bei der Privation nach Aristoteles zwar um ein Prinzip der Natur handelt, nicht aber um eine Ursache. Dieser Ausschluss der Privation aus der Liste der Ursachen bedarf natürlich einer Rechtfertigung. Wie oben gesehen, kommt Thomas diesem Desiderat dadurch nach, dass er eine Ursache als solches Prinzip oder Erstes bestimmt, „aus dem das Sein eines Späteren folgt. Deshalb sagt man, Ursache sei das, aus dessen Sein ein anderes folgt.“5 Während ein Prinzip also ganz allgemein das ist, von dem eine Veränderung ausgeht, ist eine Ursache in einem stärkeren Sinne für diese Veränderung verantwortlich, da aus ihr das Sein eines Späteren folgt. Das erklärt den Ausschluss der Privation aus der Liste der vier Ursachen: „Deshalb wird die Privation zu den Prinzipien gezählt und nicht zu den Ursachen, weil die Privation das ist, wovon das Werden ausgeht“,6 aber nicht, was dieses Werden gleichsam ins Sein ruft. An dieser Bestimmung der Ursache als das, von dem das Sein eines Späteren folgt, knüpft Francisco Suárez in seiner Abhandlung über die Ursachen an. Suárez eröffnet seine ausgedehnte Untersuchung der Kausalität nämlich mit der Frage, ob es eine allgemeine Definition einer Ursache gibt – ein Charakteristikum, das alle und nur die vier klassischen Ursachen teilen und sie folglich zu Ursachen macht. Auf dem Weg zur Definition eines allgemeinen Ursachenbegriffs grenzt Suárez den Begriff der Ursache ebenfalls von dem des Prinzips ab und kommt zum Schluss, dass „‚Prinzip’ ein weiterer ‹Begriff› sei als ‚Ursache’“, da „man auch das Prinzip nennt, das nicht eigentlich in etwas anderes einfließt, Ursache aber weniger.“7 Im Gegensatz zu einem Prinzip fließt eine Ursache also in ihre Wirkung ein. Da ein Prinzip das nicht unbedingt tut, muss ein Prinzip im Gegensatz zu einer Ursache auch nichts Reales, sondern kann lediglich ein Gedanken-
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„Sed causa solum dicitur de illo primo ex quo consequitur esse posterioris: unde dicitur quod causa est ex cuius esse sequitur aliud.“ (DPN §3.76-79). Für das ganze Zitat siehe Kapitel I, S. 95. „[P]ropter hoc privatio ponitur inter principia, et non inter causas, quia privatio est id a quo incipit generatio.“ (DPN §3.81-83). „Principium latius patet quam causa. […] Nam principium dicitur etiam de eo qui proprie non influit in alium, causa vero minime.“ (DM 12§1¶25)
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Kapitel II: Francisco Suárez und das Problem der Finalursache
ding (ens rationis) – wie eine Privation – sein.8 Mit dem Begriff des Einfließens („influere“) hat Suárez also ein Kriterium gefunden, mit dessen Hilfe sich Ursachen von Prinzipien unterscheiden lassen. Aber nicht nur das. Suárez meint, dass sich mit Hilfe dieses Begriffs sogar bestimmen lässt, was Material-, Form-, Wirk- und Finalursachen alle zu Ursachen macht. Dies sei, so lautet Suárez’ Influxus-Theorie der Kausalität, ihr Vermögen, Sein einzuflößen: Eine Ursache ist ein Prinzip, das wesentlich Sein in ein anderes einflößt. […] Durch jene Ausdrücke „wesentlich einflößend“, wird die Privation ausgeschlossen und alle akzidentellen Ursachen, die an sich nicht Sein in etwas anderes übertragen oder einflößen. Jenes Wort „einflößen“ ist jedoch nicht strikt zu verstehen, wie man es speziell der Wirkursache zuzuschreiben pflegt, sondern allgemeiner, so wie es gleichbedeutend ist mit „einem anderen Ding Sein geben oder kommunizieren“.9
Mit dieser allgemeinen Definition des Ursachenbegriffs geht Suárez in mindestens zwei Hinsichten über Thomas hinaus:10 Zum einen macht Suárez den Umstand, dass eine Ursache für die Existenz eines Dinges verantwortlich ist, schlicht zum Definiens einer Ursache, während Thomas damit lediglich Ursachen von Prinzipien unterscheiden wollte. Zum andern bedient sich Suárez in der Ausbuchstabierung seines Ursachenkriteriums nicht einfach wie Thomas des neutralen Begriffs des Folgens, sondern er bezeichnet das charakteristische Vermögen von Ursachen als eine Art des existentiellen Einflusses.11 Damit lehnt sich Suárez einem emanationstheoretischen Ursachenverständnis an, das im Gegensatz zu Thomas’ Ursa-
____________ 8
„Ebenso kommt es, dass ein Prinzip nicht nur mit den realen Dingen, sondern auch mit den geistigen Dingen oder der Privation zusammenfällt, so aber nicht die Ursache.“ (ebd.) 9 „Causa est principium per se influens esse in aliud; […] Per illam autem particulam, per se influens, excluditur privatio, et omnis causa per accidens, quae per se non conferunt aut influunt esse in aliud. Sumendum est autem verbum illud influit non stricte, ut attribui specialiter solet causae efficienti, sed generalius prout aequivalet verbo dandi vel communicandi esse alteri.“ (DM 12§2¶4) 10 Und überdies auch über Aristoteles, der betonte, dass „Ursache in mehreren Bedeutungen ausgesagt wird“ (Met. V.2, 1013b4), und damit keine Anstalten traf, einen univoken Begriffskern seiner Ursachen herauszuarbeiten. Vgl. auch Phys. II.3, 195a3-5. 11 Zur Formulierung seiner Influxus-Theorie strapaziert Suárez sogar die lateinische Sprache: „influere“ ist – wie das deutsche Wort „einfließen“ – ein intransitives Verb. Daher ist die Formel „aliquid influit esse in aliquem“ grammatikalisch streng genommen inkorrekt. Das hat später Leibniz verärgert (siehe GP IV, 498, 520, 554).
Die Influxus-Theorie und das Paradigma der Wirkverursachung
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chenverständnis12 weniger aristotelischen denn (neo-)platonischen Ursprungs ist.13 Wie sich in den folgenden Kapiteln noch zeigen wird, werden sich Spinoza und Leibniz einem solch emanativen Kausalitätsverständnis anschließen.14 Was Suárez zu diesem emanationstheoretischen Kausalitätsverständnis bewogen haben mag, wird im nächsten Abschnitt (zumindest ansatzweise) zu klären sein. Zunächst gilt es auf ein Problem aufmerksam zu machen, das sich unmittelbar aus Suárez’ Influxus-Theorie der Kausalität zu ergeben droht und dem vorzubeugen Suárez bestrebt ist. Wie dieser selbst bemerkt, birgt seine Definition der Ursache die Gefahr, dass sie so eng gelesen werden könnte, dass ihr nur noch die Wirkursache genügt. Damit ließen sich Materie, Form und Ziel nicht mehr als Ursachen im eigentlichen Sinne bezeichnen, und der Verursachungsbegriff würde de facto auf den der Wirkursache eingeschränkt.15 Deshalb betont Suárez unmittelbar, dass „Sein einflößen“ allgemeiner im Sinne von „Sein geben“ verstanden werden muss. Suárez’ beschwichtigende Präzisierung, dass seine Influxus-Theorie nicht zu eng aufgefasst werden dürfe, ändert allerdings nichts daran, dass sich gemäß seiner Kausalitätsdefinition die Wirkursache als paradigmatische Art der Ursache vor allen anderen klassischen aristotelischen Ursachen auszeichnet. Denn „die ganze Definition der Ursache stimmt am
____________ 12 Es ist aber bemerkenswert, dass Thomas’ Theorie der Schöpfung ebenfalls platonisch geprägt ist, und er Gottes Schöpfung als Emanation beschreibt (so etwa in STh. I q. 45 art. 1). Wie ich im nächsten Abschnitt argumentieren werde, lässt sich Suárez’ emanationstheoretisches Kausalitätsverständnis darauf zurückführen, dass sein univoker Verursachungsbegriff auch Gottes Schöpfungsakt umfassen sollte. 13 Eine Darstellung der neo-platonischen Ursprünge der Influxus-Theorie und ihre scholastischen Adaptionen gibt O’Neill 1993, 32-40. (Sie argumentiert allerdings, dass Suárez’ Rede von einem Einfluss nicht für bare Münze zu nehmen sei, weil er noch immer an einem Akt-Potenz-Modell der Kausalität festgehalten hätte. Darauf ist zu entgegnen, dass Suárez seine emanationstheoretischen Vorstellungen der Verursachung in das aristotelische Akt-Potenz-Modell integriert. Das wird besonders deutlich, wenn Suárez in DM 18§3¶4 ausführt, substantielle Formen besäßen eine Kraft, aus der ihre Propria flössen.) 14 Dafür, dass Spinozas Ursachenverständnis emanationstheoretische Züge aufweist, hat in jüngster Zeit Lin 2003, 31-33, argumentiert; dass Spinozas Kausalitätstheorie derjenigen von Suárez sehr ähnlich ist, weist Viljanen 2008a nach. Dass Leibniz von einem emanationstheoretischen Modell der Verursachung ausgeht, zeigt Jolley 1998. Flage & Bonnen 1997 meinen, dass auch Descartes’ Ursachenbegriff emanative Züge aufweist. 15 Dass es sich letztlich tatsächlich so verhält, wurde in jüngerer Forschung von Carraud 2003 und Olivo 1997 behauptet. Dass sich diese Einschätzung nicht halten lässt, werde ich weiter unten am Beispiel der Finalursache ausführen.
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Kapitel II: Francisco Suárez und das Problem der Finalursache
eigentlichsten mit der Wirkursache überein.“16 Dass Suárez ganz generell von einem wirkkausalen Ursachenverständnis ausgeht, schlägt sich zudem sprachlich wie auch in seinen Untersuchungsinteressen nieder. Anders als Thomas, der in der Regel einfach von den verschiedenen Ursachen (causae) spricht, und es für ausreichend erachtet anzugeben, worin diese Ursachen bestehen, ist Suárez an den verschiedenen Formen der Verursachung (causatio) interessiert, die von den unterschiedlichen Ursachen ausgehen.17 Auf der Grundlage seiner Influxus-Theorie nimmt Suárez also an, dass jede Ursache einen spezifischen Einfluss ausübt und damit in gewisser Weise aktiv ist. Entsprechend ist für ihn – anders als für Thomas – über eine Ursache noch nicht alles gesagt, wenn man angibt, welche Aspekte eines Prozesses oder einer Veränderung diese Ursache erklärt. Eine Ursache zu verstehen, heißt für Suárez vielmehr, angeben zu können, worin der spezifische Einfluss dieser Ursache besteht – inwiefern sie eine Form der Kausalität ausübt (causalitatem exercet) und was ihre charakteristische Verursachung (causatio) ist.18 Angesichts dieses wirkkausalen Kausalitätsverständnisses erstaunt es kaum, dass es Suárez einige Mühe kostet zu zeigen, dass sich auch die anderen klassischen Ursachen wie Materie, Form und Ziel überhaupt noch als Ursachen qualifizieren. Dafür muss nämlich nachgewiesen werden, dass sie alle auf ihre Art Sein einflößen. Materie und Form können einer Sache insofern Sein geben, als sie die Sache konstituieren: Die Materie ist nämlich gleichsam eine gewisse Grundlegung oder das Fundament des Seins ‹einer Sache› selbst. Die Form aber vollendet dieses und vervollständigt es; […] Ebenso werden sie zu den intrinsischen Prinzipien der natürlichen Dinge gezählt, oder vielmehr sind jene beiden so viel wie die natürlichen Dinge konstituierenden Prinzipien. Sie sind also Prinzipien an sich, da sie höchst notwendig und essentiell sind und in der Weise Sein geben, in der es erklärt worden ist. Es sind also eigentliche Ursachen.19
____________ 16 „tota definitio causae propriissime convenit efficienti.“ (DM 12§3¶3) Vgl. auch DM 17§1¶3, wo Suárez explizit die These des Primats der Finalursache referiert, abschließend aber betont, dass dennoch die Wirkursache das Prinzip sei, von dem in erster Linie die Aktivität ausgeht. 17 Dass nach dem klassisch aristotelischen Ursachenverständnis nur die causa efficiens mit einer causatio einhergeht, weil eben nur die Wirkursache eine Wirkung hervorbringt, zeigt überzeugend Hennig 2009b, 153f. 18 Siehe etwa DM 12§2¶1, 12§3¶3, 12§3¶9 und 12§3¶17 19 „[M]ateria enim est quasi inchoatio quaedam vel fundamentum ipsius ‹rei› esse; forma vero illud consummat et complet; […] Item haec numerantur inter principia intrinseca rei naturalis, vel potius illa duo tantum sunt principia constituentia rem naturalem; sunt autem principia per se, cum sint maxime
Die Influxus-Theorie und das Paradigma der Wirkverursachung
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Materie und Form verleihen einem Ding Sein, insofern sie seine konstituierenden Bestandteile sind. Sie sind damit eine Art innere Ursache eines Dinges.20 Dennoch flößen Materie und Form nicht in der Weise Sein ein, wie dies die Wirkursache tut, „weil das Sein der Wirkung verschieden ist vom Sein der Wirkursache“.21 Da eine Wirkursache von ihrer Wirkung verschieden ist, kann es hier zu einem echten Einfluss kommen. Dies verhält sich bei der Materie und Form als inneren Ursachen anders. Sie flößen höchstens im übertragenen Sinne Sein ein und sind damit streng genommen nur in analoger Weise22 Ursachen: Denn die Wirkursache flößt am eigentlichsten Sein ein. Materie und Form aber flößen nicht so sehr eigentlich Sein ein, als sie jenes vielmehr selbst bilden, und deshalb scheint es dieser Überlegung zufolge, dass der Name „Ursache“ zuerst von der Wirkursache ausgesagt und auf die Materie aber oder die Form durch eine Verhältnismäßigkeit übertragen wird. Deshalb scheint es, obwohl jene beiden Ursachen eigentlich wesentliche Bestandteile und intrinsische Prinzipien natürlicher Dinge sind, dass jene aber nur in analoger Weise Ursachen genannt werden, obwohl ihnen schon gemäß dem allgemeinen Gebrauch, jener Name „Ursache“ zugeteilt werden muss.23
Während unter Suárez’ Influxus-Theorie der Kausalität schon der kausale Status der Materie und der Form problematisch wird und Materie und
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necessaria et essentialia, et dant esse eo modo quo explicatum est; sunt ergo propriae causae.“ (ebd.) Mit der Bestimmung von Form und Materie als innere Ursachen schließt sich Suárez einer Klassifikation an, die bereits Thomas getroffen hat. Vgl. dazu Kapitel I, Anm. 132. „quod esse effectus distinctum est ab esse efficientis“ (ebd.) Das Verhältnis der Analogie wurde im Mittelalter ausgehend von Boethius’ Kommentar zu Aristoteles’ Kategorien I.1-2 als Spezialform einer Äquivokation – als so genannt absichtliche Äquivokation (aequivocum a consilio) – diskutiert. Absichtliche Äquivokationen treten dort auf, wo zwei (der Art oder Gattung nach) verschiedene Dinge unter denselben Begriff subsumiert werden. Ein Ding x ist einem andern Ding y genau dann analog, wenn x weder numerisch, noch der Art oder Gattung nach mit y identisch ist, und x dennoch aufgrund irgendeiner anderen Beziehung zu y unter denselben Begriff subsumiert werden kann. (Beispiele dafür sind ein echter und ein gemalter Mensch, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit beide „Mensch“ genannt werden können.) Vgl. insbesondere zur Analogie des Seienden bei Suárez Ashworth 1995. „Nam efficiens propriissime influit esse; materia autem et forma non tam proprie influunt esse quam componunt illud per seipsas, et ideo secundum hanc rationem videtur nomen causae primo dictum de efficienti; ad materiam autem vel formam esse translatum per quamdam proportionalitatem. Unde, licet illae duae causae sint proprie partes essentiales et principia intrinseca rei naturalis, causae vero dictae videntur per dictam analogiam, licet iam secundum communem usum simpliciter sit illis tribuendum nomen causae.“ (D 27§1¶10)
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Form nur noch in analoger Weise als Ursachen aufgefasst werden können, so scheinen sich Ziele vollständig als Ursachen zu disqualifizieren. Wie Suárez sagt, kann es in Bezug auf die Ursächlichkeit des Ziels einigen Zweifel geben, „da in diesem kein reales Sein vorausgesetzt wird, durch das es verursachen könnte“.24 Ein Ziel, in Bezug auf das wir die Tätigkeit einer Substanz erklären, muss ja nicht immer existieren. Wenn eine Tätigkeit scheitert oder abbricht, wird ihr Ziel gerade nicht realisiert, und dem Ziel kommt folglich kein reales Sein zu, obwohl die Tätigkeit mit Bezug auf dieses Ziel beschrieben oder erklärt wird. Wie also soll ein solches Ziel – das nicht einmal wirklich existiert – einen wirklichen Einfluss ausüben können? Trotz dieser sich abzeichnenden Schwierigkeit ist Suárez als Autor, der sich in die Tradition von Thomas stellt, darum bemüht, den kausalen Status des Ziels zu bewahren. In Anlehnung an Thomas hält er daran fest, dass das Ziel das Tätige zum Tätigsein antreibt, und argumentiert, dass dem Ziel im Geist auch reales Sein zukommt. Insofern das Ziel dafür sorgt, dass das Tätige eine Wirkung überhaupt anstrebt, flößt es der Wirkung Sein ein.25 Als solches könne die Finalursache im Einklang mit Thomas von Aquin auch als „erste unter allen Ursachen“ bestimmt werden.26 Auch wenn Suárez der thomistischen These des Primats der Finalursachen zustimmen möchte, der zufolge das Ziel die Ursache aller Ursachen ist, muss er vor dem Hintergrund seiner Kausalitätsdefinition doch zugestehen, dass „der Einfluss der Finalursache sehr obskur ist“.27 Bevor ich jedoch darauf eingehe, wie Suárez im Rahmen seiner Influxus-Theorie der Kausalität dem kausalen Status des Ziels gerecht zu werden versucht, möchte ich im nächsten Abschnitt zunächst der Frage nachgehen, was Suárez überhaupt zu einer derartigen Kausalitätstheorie treibt, die den Begriff einer Finalursache so problematisch werden lässt.
____________ 24 „De fine vero potest esse nonulla dubitandi ratio, quia nullum esse reale in eo praesupponitur, quo causare possit“ (D 12 §3¶3). 25 „Man kann nun kurz sagen, dass das Ziel, obwohl es später in der Ausführung ist, dennoch das Erste in der Intention ‹ist› und unter diesem Aspekt tatsächlich unter den Begriff des Prinzips fällt. Denn es ist das Erste, weil es das Tätige zum Tätigsein antreibt oder bewegt. Es ist aber kein fiktives Prinzip, sondern tatsächlich und wirklich, weil es wirklich antreibt und bewegt.“ (DM 12 §3¶3) 26 „Das Ziel ist nämlich ein wesentliches und extrinsisches Prinzip und im Verursachen früher als das Wirkende; denn das Wirkende handelt nicht, wenn es nicht von einem Ziel bewegt wird, und deshalb pflegt man zu sagen, dass die Zielursache die erste unter allen Ursachen ist.“ (DM 17§1¶3) 27 „influxus causae finalis valde obscurus est“ (DM 17§1¶3).
Das konkrete Kausalitätsverständnis und die Schöpfung
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Das konkrete Kausalitätsverständnis und die Schöpfung Suárez versucht mit Hilfe seiner Influxus-Theorie der Kausalität eine allgemeine Definition der Verursachung anzubieten. Dieser Theorie zufolge ist es das Vermögen, Sein einzuflößen, was eine Ursache zu einer Ursache macht und sie von anderen Prinzipien, wie z.B. der Privation, unterscheidet. Aus systematischer Perspektive erscheint Suárez’ Bemühen um eine allgemeinen Definition der Ursache nicht nur deshalb erhellend, weil damit Ursachen von anderen Prinzipien unterschieden werden können, sondern auch deswegen, weil erst auf der Grundlage eines univoken Kerns des Kausalitätsbegriffs die verschiedenen Ursachen-Typen als Typen von Ursachen systematisch diskutiert werden können.28 Umso erstaunlicher ist es aber, wenn deutlich wird, dass Suárez’ allgemeine Definition der Ursache als etwas, das einem anderen Ding Sein einflößt, so eng ist, dass ihr streng genommen nur noch eine der vier klassischen Ursachen – nämlich die Wirkursache – genügt und von allen anderen Ursachen einigermaßen rätselhaft ist, inwiefern sie überhaupt noch als Ursachen verstanden werden können. Wie kommt es dazu, dass Suárez ein derart wirkkausales Kausalitätsverständnis an den Tag legt, demzufolge jede Ursache einen ganz konkreten Einfluss haben muss? Um diese Frage adäquat zu beantworten, müsste man eine umfangreiche historische Untersuchung der Veränderung des Kausalitätsbegriffs vorlegen.29 Das will und kann ich hier nicht leisten. Stattdessen möchte ich auf ein besonderes Untersuchungsinteresse der Scholastik aufmerksam machen, und argumentieren, dass Suárez’ wirkkausales oder emanatives Ursachenverständnis vor diesem Hintergrund weniger verblüffend und unvermittelt erscheint, als es im Vergleich zum orthodoxen Aristotelismus zunächst anmuten mag. Die klassisch aristotelische Ursachenlehre, so ist im letzten Kapitel anhand von Thomas’ Ausführungen deutlich geworden, hat ihren festen Sitz in der aristotelischen Veränderungstheorie. Ursachen erwiesen sich dabei hauptsächlich als explanatorisch relevante Faktoren, im Rückgriff auf die verschiedene Aspekte einer aristotelisch konzipierten motio erklärt werden
____________ 28 In DM 12§3¶14 schreibt Suárez denn auch explizit, „dass der Name ‚Ursache’ keine bloße Äquivokation ist, da es nicht nur ein Name ist, sondern auch irgendein Begriff, der den Namen gemeinsam ist.“ 29 Meines Wissens liegt eine solche umfangreiche Studie auch noch nicht vor. Aspekte dieser Geschichte sind lediglich von verschiedenen Autoren unter verschiedenen Gesichtspunkten mit methodisch unterschiedlichen Ansätzen partiell aufgearbeitet worden. Siehe etwa Gilson 1958, 1962, Hulswit 2002, 1-45, Carraud 2003, Pasnau 2004, Joy 2006, Schnepf 2001 und 2006 und Hennig 2009b.
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Kapitel II: Francisco Suárez und das Problem der Finalursache
können. So verstanden sind Ursachen in erster Linie Erklärungsprinzipien: Formen erklären die Einheit und Identität von Substanzen, Materie deren Individualität und konkrete materielle Beschaffenheit, Finalursachen spezifizieren die Art von Prozessen, in die Substanzen bei ihren Veränderungen involviert sind und geben über die charakteristischen Ausrichtungen von Wirkursachen Aufschluss, während Wirkursachen erklären, was diese Veränderungen auslöst. Allerdings ist mit dieser groben Bestimmung klassisch aristotelischer Ursachen als Erklärungsprinzipien noch nicht viel gewonnen. Es stellen sich nämlich sofort die Fragen, was für Erklärungen mit Verweis auf diese Ursachen geliefert werden können, und wie diese Erklärungen genau funktionieren: Inwiefern erklärt die Form einer Substanz deren Einheit und Identität, und wie erklärt der Rekurs auf ein Ziel die spezifische Ausrichtung einer Wirkursache? Besonders mit Bezug auf Form- und Finalursachen lassen sich diese Fragen nach der spezifischen Erklärungsleistung der verschiedenen Ursachen ganz unterschiedlich beantworten: Einerseits könnte man anführen, Formen und Finalursachen seien abstrakte, ontologische Prinzipien, welche die Identität von Substanzen oder Veränderungen dadurch garantieren, dass sie schlicht die Essenzen (oder das ‚Was-sein’) von Einzeldingen oder Verläufen sind.30 Andererseits könnte man antworten, Formen seien interne Instanzen von Substanzen, die diese wie eine Art Bindekraft zusammenhalten, während Finalursachen Wirkursachen buchstäblich zu ihren jeweiligen Tätigkeiten veranlassen. Diese beiden Antworten auf die Frage nach der spezifischen Erklärungsleistung von Form- und Finalursachen beruhen auf jeweils verschiedenen Auffassungen darüber, was Form- und Finalursachen sind. Gemäß der ersten Antwort handelt es sich dabei um abstrakte ontologische Prinzipien, während sie der zweiten Antwort zufolge als konkretere Entitäten zu verstehen sind, die eine Art kausalen Einfluss ausüben. Im letzten Kapitel hat sich gezeigt, dass bereits Thomas von Aquin zu einer konkreten Konzeption von Form- und Finalursachen neigt: So betonte er immer wieder, dass einzelne Substanzen vermöge ihrer Form tätig sind und dass „das natürlich Tätige durch die Form tätig ist, die es zu dem macht, was es ist“.31 An anderer Stelle behauptet Thomas sogar, substantielle Formen brächten ihre eigenen Akzidenzien genauso hervor wie Feuer die Wärme.32 Dass Thomas auch Finalursachen in einem konkreten Sinne
____________ 30 Hennig 2009b, Kapitel I, entwickelt eine solche abstrakt, ontologische Interpretation der aristotelischen Ursachen. 31 „agens per naturam agit per formam per quam est, quae unius tantum est una“ (STh., I q. 47 art. 1 ad1). 32 In De ent., §6.53-57, schreibt Thomas: „[S]o wie das Feuer, das an der Spitze der Wärme steht, die Ursache der Wärme in den warmen Dingen ist, […] muss die
Das konkrete Kausalitätsverständnis und die Schöpfung
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versteht, zeigt sich in seiner Forderung der cognitio-Bedingung. Wären Finalursachen schlicht abstrakte ontologische Prinzipien, anhand derer wir Prozesse und Wirkursachen identifizieren müssen, gäbe es keinen Grund zu verlangen, dass das, was wir nur im Rekurs auf ein solches Ziel charakterisieren können, auch ein Wissen um dieses Ziel haben muss. Eine solche Forderung drängt sich erst dann auf, wenn man davon ausgeht, dass das Ziel etwas Tätiges in einem konkreteren (oder eben kausalen) Sinne zu seinem Tun veranlasst. Dass sich auch Suárez mit seiner Influxus-Theorie der Kausalität diesem konkreten Ursachenverständnis anschließt, zeigt sich darin, dass er sich explizit gegen ein rein explanatorisches Ursachenverständnis wendet, demzufolge Ursachen schlicht abstrakte Erklärungsprinzipien sind, deren Eigenheit allein darin besteht, dass man mit Bezug auf sie gewisse Fragen beantworten kann. Das tut er, indem er die Definition einer Ursache als Antwort auf eine Weswegen-Frage als unzureichend zurückweist: Als erste Definition pflegt man daher diese zu tradieren: „Die Ursache ist das, was der Frage genügt, durch die gefragt wird, weswegen etwas besteht oder geschieht.“ […] ‚Ursache sein’ bedeutet also das zu sein, was einer Weswegen-Frage genügt. Daher steht fest, dass die Rede von „weswegen“ nicht in jener speziellen Weise aufgefasst werden kann, mit der man es von der Finalursache zu sagen pflegt, sondern allgemeiner, sodass sie alle ‹Ursachen› umfasst. Diese Definition erklärt aber so ziemlich keine Sache. Denn es ist ebenso obskur, was jenes Wort „weswegen“ bedeutet. Wenn es nämlich recht aufgefasst wird, bedeutet es nur das Verhältnis der Finalursache und selbst jenes erklärt es nicht genügend, wie wir später sehen werden. Wenn ‹das Wort „weswegen“› aber breiter aufgefasst wird, dann umfasst es verschiedene Weisen, die mit den Formeln „woraus“, „wodurch“ oder „von wo etwas ist“ bezeichnet werden. Daher wird nur ein allgemeiner Name aufgeführt, der allgemeine Begriff ‹der Ursache› jedoch nicht erklärt. Ich füge hinzu, dass jene allgemeine Formel in dieser Allgemeinheit sogar Prinzipien umfassen kann, die keine Ursachen sind[.]33
____________ Substanz […] die Ursache der Akzidenzien sein“. Damit bereitet Thomas bereits jene Tradition vor, in der Spinoza und Leibniz rund 400 Jahre später ganz selbstverständlich sagen können, dass Substanzen ihre Modi hervorbringen (was jedem Aristoteliker die Haare zu Berge stehen lassen würde: Substanzen und Modi stehen in einem Verhältnis der Inhärenz, aber sicher nicht in einem der Verursachung.) Vgl. zum konkreten Kausalitätsverständnis bei Thomas auch Olshewsky 1980. 33 „Prima igitur definitio haec tradi solet: Causa est id per quod satisfit interrogationi qua inquiritur propter quid aliquid sit seu fiat. […] [S]ignificat ergo causam esse id per quod satisfit quaestioni propter quid. Unde constat dictionem propter quid non sumi illo speciali modo quo solet dici de causa finali, sed generalius ut comprehendat omnes. Haec vero definitio nihil fere rem declarat; nam aeque obscurum est quid significet illud verbum propter quid, nam si recte sumatur, solum significat habitudinem causae finalis et illam ipsam non satis declarat, ut
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Ursachen als Antworten auf Warum- oder Weswegen-Fragen zu charakterisieren, ist nicht hinreichend, um zu erklären, was Ursachen ausmacht. Auch andere Prinzipien als Ursachen können angeführt werden, um Warum-Fragen zu beantworten. Das illustriert Suárez an einem theologischen Beispiel:34 Wenn Christus sagt: „Ich lebe wegen des Vaters“ (Joh. 6,57), so führt Suárez an, würde hier mit dem Wort „wegen“ keine Ursache bezeichnet, sondern lediglich ein Prinzip. Gemeint ist hier wohl, dass es zwar korrekt ist, wenn Jesus behauptet, er würde wegen seines Vaters (d.i. Gott) leben, obwohl zwischen Jesus und Gott im strengen Sinne kein kausales Verhältnis, sondern eines der Identität besteht: Der Trinitätslehre zufolge ist Jesus mit Gott identisch. Gott flößt Jesus in keiner Weise Sein ein, denn Jesus ist Gott, der Mensch geworden ist.35 Ursachen sind damit mehr als bloße Erkenntnisgründe, sondern robuste Entitäten, mit Verweis auf die wir zwar gewisse Dinge erklären können, aber deren Wesen sich nicht allein in ihrer Erklärungskraft erschöpft. Wie ist also zu erklären, dass Thomas und noch viel deutlicher Suárez mit seiner Influxus-Theorie trotz Orientierung an Aristoteles36 zu einem konkreten Kausalitätsverständnis neigen und dieses mit der emanationstheoretischen Vorstellung verbinden, dass Wirkungen aus ihren Ursachen fließen und so einen konkreten kausalen Einfluss ausüben? Wie prominenterweise Etienne Gilson ausführte,37 dürfte dafür – wie auch für das zunehmend psychologische Finalursachenverständnis – der schöpfungstheologische Hintergrund dieser Autoren eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Während Aristoteles nämlich davon ausging, dass die Welt ewig ist,38 und damit lediglich erklären musste, warum sich die Dinge in dieser ewigen Welt so verändern, wie sie es tun, glaubten die islamischchristlichen Autoren des Mittelalters an einen Schöpfergott, der die Welt in einer creatio ex nihilo aus dem Nichts hervorbringt und sie seither in
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postea videbimus. Si vero sumatur fusius, comprehendit varios modos qui illis vocibus significantur, ex quo, per quid, a quo aliquid est; unde solum imponitur nomen commune, non tamen explicatur communis ratio. Addo illam vocem in ea generalitate etiam posse comprehendere principia quae non sunt causae[.]“ (D 12§2¶2) Siehe DM 12§2¶2. Siehe dazu auch Schnepf 2001, 29, und Schnepf 2006, 242f. Allerdings schwankt bereits Aristoteles zwischen einer konkreteren und abstrakteren Konzeption seiner Ursachen, obwohl Neo-Aristoteliker aus nachvollziehbaren, systematischen Gründen dazu neigen, Aristoteles’ Aussagen als abstraktontologische zu deuten. Darauf hat etwa K. Fine 1994, 19, hingewiesen. Siehe Gilson 1958 und Gilson 1962. Das schließt Aristoteles aus der Notwendigkeit der Existenz des ersten Bewegers in der Physik VIII.6.
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einer andauernden creatio continua in Existenz hält.39 Damit versuchten diese Autoren mit Rekurs auf Gott die Frage zu beantworten, warum überhaupt etwas existiert (und nicht vielmehr nichts), die sich für Aristoteles in dieser Weise gar nicht gestellt hatte. Wenn sich nun aber die Existenz der Welt mit Bezug auf Gott erklären lässt, heißt das in aristotelischen Kategorien gesprochen, dass Gott als Wirkursache dieser Welt aufgefasst werden können muss. Da der Schöpfergott jedoch eine creatio ex nihilo vornimmt, ist er eine Wirkursache mit einem ganz besonderen Vermögen, über das keine klassisch aristotelische Wirkursache verfügen musste: Gott ist eine Wirkursache, die das Vermögen hat, etwas Neues aus dem Nichts hervorzubringen oder ins Sein zu rufen. Entsprechend mussten die scholastischen Autoren die klassische Wirkursache als Bewegungsursache, die lediglich eine Veränderung initiiert, zu einer Art Produktivursache umdeuten, die buchstäblich etwas Neues erzeugen kann.40 Angesichts des Umstandes, dass Gott als Ursache der Welt verstanden werden können muss, der die Welt aus dem Nichts hervorbringt, erstaunt es kaum, dass Suárez, der nach einem allgemeinen Kernbegriff der Kausalität sucht, der auch der kreativen Tätigkeit Gottes gerecht werden soll, dieses Vermögen, etwas hervorzubringen, als Kausalitätskriterium bestimmt. Damit ist sogar definitorisch sichergestellt, dass Gott unter den Begriff der Ursache fällt und dass man die Schöpfung als WirkVerursachung verstehen kann. Suárez’ Influxus-Theorie der Kausalität kommt so seinem christlich-theologischen Interesse nach, Gottes Schöpfung als eine Form der Verursachung beschreiben zu können.41 Wie drastisch sich diese neue Erklärungsaufgabe des Ursachenbegriffs auf das Kausalitätsverständnis auswirkte, zeigt sich bei Suárez nicht nur in seiner Influxus-Theorie, die geradezu dafür geschaffen ist, Schöpfung als Verursachung zu verstehen. Wie ein Blick auf seine kausalitätstheoretischen Disputationen (DM 12-27) nahe legt, gewann der Ursachenbegriff mit seiner neuen Aufgabe, über die Frage nach der Existenz von Dingen Aufschluss zu geben, insgesamt einen neuen Status. So schließt sich Suá-
____________ 39 Dieses Thema bespricht Suárez nach seiner Diskussion der Wirkursache ausführlich in den Disputationen 20 und 21. 40 Gilson 1958 meint deshalb, dass die aristotelische ‚cause motrice’ zu einer ‚cause productrice’ wurde. Auch Carraud 2003, 77, schreibt, dass über die ‚Theologisierung’ der Bewegungsursache bei Thomas die Kausalität Einzug in die Metaphysik gehalten habe. 41 Das erklärt nicht zuletzt auch, warum Suárez’ Ursachenbegriff platonische, emanationstheoretische Elemente aufweist: Es war in der Scholastik durchaus üblich, die Schöpfung als eine Art Emanation zu konzipieren (vgl. dazu Anm. 12.). Auch Schnepf 2001, 19 und 35, und 2006, 247ff., betont, dass Suárez mit seiner allgemeinen Kausalitätstheorie der Schöpfung Rechnung tragen wollte.
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rez’ Untersuchung der Ursachen der Bestimmung der Disziplin der Metaphysik (DM 1), der Untersuchung der Begriffe des Seienden (DM 2-3), der Einheit (DM 4-7), der Wahrheit (DM 8-9) und des Guten (DM 1011) an. Ihr selbst folgt die Unterscheidung in endliches und unendliches Seiendes (DM 28), nach der in den weiteren Disputationen sukzessive die aristotelischen Kategorien wie die Substanz, Qualität, Quantität, Relation usw. diskutiert werden. Bereits diese Position der kausalitätstheoretischen Untersuchung in seinen Disputationes Metaphysicae macht deutlich, dass Kausalität für Suárez wie das Eine, Wahre und Gute eine so genannte Transzendentalie ist, d.h. ein Charakteristikum des Seienden, das ihm unabhängig von den Kategorien zukommt, und in diesem Sinne die aristotelischen Kategorien übersteigt (transcendit).42 Kausalität ist somit eine Eigenheit von Dingen, die ihnen bereits insofern zukommt, als sie existieren, und nicht erst insofern sie unter eine spezifische Kategorie fallen. Deshalb wird die Kausalität auch noch vor den Kategorien und der Unterscheidung zwischen endlichen und unendlichen Entitäten besprochen. Dass der Kausalität dieser transzendentale Status zukommt, ist vor dem schöpfungstheologischen Hintergrund nicht weiter verwunderlich. Schließlich gilt damit ja für jedes existierende Ding, dass es eine Ursache oder eine Wirkung ist.43 Somit „ist die Kausalität gleichsam sogar die Eigenheit des Seienden als solchen, denn es gibt kein Seiendes, das nicht Teil irgendeines Kausalverhältnisses ist.“44 Entsprechend kann der Ursachenbegriff wie die Transzendentalbegriffe des Einen, Wahren und Guten zur Explikation dessen dienen, was es heißt zu existieren. Wenn Suárez im Rahmen seiner Influxus-Theorie also behauptet, Ursachen zeichneten sich dadurch aus, dass sie das Vermögen haben, Sein einzuflößen, zeugt dies von einem konkreten, emanationstheoretischen Kausalitätsverständnis, das auf den ersten Blick nicht mehr viel mit der klassischen aristotelischen Ursachenlehre zu tun hat. Mittlerweile ist hoffentlich deutlich geworden, dass sich Suárez damit aber in eine mindestens schon bei Thomas angelegte Tradition einreiht. Es ist die christliche Tradition, die Gottes Schöpfung als eine Art der Emanation konzipiert, in der Gott kraft seiner unendlichen Essenz als Wirkursache fungiert und in der man mit Rekurs auf Ursachen erklären will, warum überhaupt etwas exis-
____________ 42 Siehe zu Suárez’ Transzendentalienlehre L. Honnefelder 1990, 200-246, der sie in die scotistische Tradition stellt, und R. Darge 2004, 390-405, der auf thomistische Züge aufmerksam macht. 43 Schnepf 2006, 237-239, sowie Schnepf 2001, 34, spricht deshalb auch von einem disjunktiven Transzendentalbegriff. 44 „causalitas est veluti proprietas quaedam entis ut sic; nullum est enim ens quod aliquam rationem causae non participet.“ (DM 12 praef)
Finalursachen und die Theorie der motio metaphorica
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tiert, und nicht vielmehr nichts. Dadurch wird dem Ursachenbegriff eine Erklärungsaufgabe aufgebürdet, die ihm Aristoteles beimaß. Eine Aufgabe, die geradezu nach einer emanationstheoretischen Erweiterung dieses Begriffs verlangt, wie sie Suárez in seiner Influxus-Theorie expliziert. Wie sich allerdings herausgestellt hat, avanciert damit auch die Wirkursache zur paradigmatischen Ursache, während der kausale Status der Form-, Material- und Finalursache problematisch wird. Form- und Materialursachen können nur noch als Ursachen in analogem Sinne verstanden werden, da sie nicht etwas im strengen Sinne hervorbringen – wie dies eine Ursache definitionsgemäß tun müsste –, sondern lediglich Dinge konstituieren. Wie ein Ziel eine Ursache und damit etwas in spezifischer Weise hervorbringen kann, hat selbst Suárez für rätselhaft oder gar obskur befunden. Wie er die Finalursache als genuin eigenen Ursachen-Typ zu retten versucht, wird in den nächsten Abschnitten zu untersuchen sein.
Finalursachen und die Theorie der motio metaphorica Auf der Grundlage von Suárez’ Influxus-Theorie erscheint der kausale Status von Zielen problematisch oder gar obskur. Um das Ziel dennoch als Ursache verstehen zu können, muss gezeigt werden, dass es eine der Finalursache entsprechende Verursachung gibt. Zur Klärung der Frage nach dem kausalen Status von Zielen geht Suárez streng systematisch vor. Er will die Frage schrittweise angehen, indem er strikt zwischen drei Sorten von Tätigen unterscheidet, in Bezug auf die sie jeweils einzeln zu beantworten ist: Wir wollen drei Tätigkeiten um eines Ziels willen unterscheiden. Zuerst und zuoberst ist das ungeschaffene geistig Tätige, das allein Gott ist. Zweitens und in mittlerer Stellung sind die geschaffenen geistig Tätigen, unter welchen uns Menschen besser bekannt sind, weshalb wir immer von ihnen sprechen werden, obwohl dieselbe Theorie bezüglich der intelligenten Geschöpfe besteht. Drittens und an unterster Stelle sind die natürlich Tätigen oder diejenigen, die keinen Intellekt haben, obwohl es unter ihnen etliche Unterschiede zwischen denen gibt, die Sinne und Streben haben, und den übrigen, die wir an ihrem Ort behandeln werden.45
____________ 45 „[D]istinguamus tria agentia propter finem. Primum et supremum est intellectuale agens increatum, quod est solus Deus. In secundo ac medio ordine sunt agentia intellectualia creata, inter quae nobis notiores sunt homines, et ideo de illis semper loquemur, quamvis eadem ratio sit de intelligentiis creatis. In tertio et infimo ordine sunt agentia naturalia seu intellectu carentia, quamvis inter ea nonnulla sit differentia eorum quae sensum et appetitum habent et reliquorum, quam etiam suo loco indicabimus.“ (DM 23§1¶8)
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Das Phänomen der Finalursache muss also in drei Fällen untersucht werden: (a) in Bezug auf Gott, (b) in Bezug auf rationale Akteure und (c) in Bezug auf natürlich Tätige. Damit unterteilt Suárez die allgemeine Teleologiediskussion in die drei Bereiche der kosmischen oder göttlichen Teleologie, der Handlungsteleologie und der Naturteleologie. Auch wenn die finale Verursachung auf der Grundlage der Influxus-Theorie der Kausalität „obskur“ sein mag, so scheint sie doch im Bereich (b) der Handlungsteleologie am wenigsten problematisch. Suárez wählt deshalb auch diesen Bereich als Ausgangspunkt seiner Untersuchung der finalen Kausalität. Schließlich ist die finale Verursachung „in Bezug auf die geschaffenen geistig Tätigen besser bekannt und hat gewissermaßen einen größeren, eigentümlichen und besonderen Sinn. Deshalb werden wir insbesondere in Bezug auf jene die Kausalität des Zieles darlegen und uns mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen, die sich in Bezug auf diese ‹Form der Kausalität› ergeben.“46 Der eigentümliche und besondere Ort finaler Kausalität liegt also in der Tätigkeit geschaffener rationaler Akteure. Finale Verursachung liegt dann vor, wenn Menschen gewisse Dinge um anderer Dinge willen tun. Aber allein in dem Umstand, dass Menschen etwas um eines Ziels willen tun, kann diese Form der Verursachung nicht bestehen, „denn durch jene Worte ‚das, um dessentwillen’ wird nicht so sehr die Kausalität des Ziels erklärt, als eine gewisse Benennung ‹angegeben›, die sich in dem Ziel selbst daraus ergibt, dass etwas anderes auf dieses hin angeordnet ist.“47 Dadurch, dass Menschen um eines Zieles willen tätig sind, ist das Problem finaler Verursachung zwar benannt, aber nicht erklärt. Das Phänomen der finalen Verursachung ist gemäß Suárez’ Influxus-Theorie erst geklärt, wenn gezeigt wird, worin der spezifische Einfluss des Ziels besteht. Dafür muss genau lokalisiert werden, wo das Ziel bei der Entstehung einer menschlichen Handlung eine Rolle spielt. Damit verlagert sich die Diskussion der finalen Kausalität in einen handlungspsychologischen Kontext. In der Handlungspsychologie der Scholastik wurde das Entstehen einer menschlichen Handlung hauptsächlich durch das Zusammenspiel zweier Vermögen erklärt: des Intellekts und des Willens. In einem Akt des Intellekts wird ein gewisses Ziel für gut und erreichbar befunden. Darauf-
____________ 46 „Causalitas ergo finis […] in creatis agentibus intellectualibus nobis notior est, et maiorem quamdam proprietatem et specialem modum habet, et ideo in illis peculiariter declarabimus hanc causalitatem finis et expediemus difficultates circa eam insurgentes“ (DM 23§1¶8). 47 „nam per illa verba, id cuius gratia, non tam declaratur causalitas finis quam denominatio quaedam resultans in ipso fine ex eo quod aliud ad ipsum ordinetur“ (DM 23§4¶3).
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hin wird der Wille aktiv, der dieses Ziel auswählt und den Intellekt dazu antreibt, sich für die Erlangung des ausgewählten Ziels das passendste Mittel zu eruieren. Sobald der Intellekt seine Überlegung abgeschlossen hat, wird der Wille das Mittel auswählen, das der Intellekt als das geeignetste beurteilt hat, und damit die Handlung verursachen.48 Wenn nun das Ziel eine echte Ursache ist und somit einen Einfluss hat, wird dieser irgendwo in dem eben beschriebenen Prozess zu finden sein, der zu einer menschlichen Handlung führt. Als erste Möglichkeit, die spezifische Kausalität der Finalursache zu explizieren, diskutiert Suárez den Vorschlag, dass die finale Verursachung „nichts anderes sei, als eine Tätigkeit oder eine Wirkung, die wegen eines Ziels oder um eines Zieles willen geschieht.“49 Wie kaum erstaunt, weist er diesen Vorschlag umgehend als uninformativ zurück.50 Als zweite Möglichkeit, die Frage nach der Eigentümlichkeit der finalen Verursachung zu beantworten, stellt Suárez eine Position vor, die besagt, dass der spezifische Einfluss der Finalursache in einer metaphorischen Bewegung (motio metaphorica) besteht und „dass diese Bewegung derartig sei, dass sie aus sich dem durch den Willen ausgelösten Akt vorangeht“.51 Diesem Vorschlag zufolge handelt es sich bei der finalen Verursachung also um eine Bewegung, die vor dem Willensakt stattfindet, der sich anschließend selbst auf das Ziel ausrichtet. Diesen Vorschlag weist Suárez aber zurück, da unklar ist, wo diese Bewegung vor dem Willensakt zu lokalisieren ist, „weil sich diese Kausalität weder im Bereich des Vermögens selbst befinden kann, da es sich selbst noch nicht auf andere Weise verhält, sondern unverändert bleibt, noch im Bereich des Akts des Willens selbst, weil es jenen noch nicht gibt.“52 Nach der scholastischen Auffassung, die wir bereits bei Thomas kennen gelernt haben, besteht eine Bewegung schließlich in der Aktualisierung eines Vermögens. Da es der Wille ist, der sich wesentlich auf ein Ziel ausrichtet, eine solche Ausrichtung sich aber nur in einer Bewegung oder Aktualisierung des Willens vollzieht, ist es schlechthin rätsel-
____________ 48 Eine wichtige Grundlage der scholastischen Handlungspsychologie, wie sie hier geschildert wurde, findet sich in Thomas’ STh. I-II, qq.1-17. Für eine konzise Darstellung dieser Theorie vgl. Donogan 1982. 49 „nihil aliud esse nisi quod actio vel effectus fiat propter finem seu gratia finis.“ (DM 23§4¶2) 50 Völlig trocken bemerkt Suárez in DM 23§4¶3: „Diese Ansicht hat eine große Schwierigkeit darin, dass sie die Sache nicht erklärt“. 51 „dicit enim hanc motionem talem esse ut ex se antecedat actum a voluntate elicitum“ (DM 23§4¶4). 52 „cum neque illa causalitas versari possit circa ipsam potentiam, cum ipsa nondum aliter se habeat sed immutata maneat, neque circa actum ipsius voluntatis, cum ille nondum sit.“ (DM 23§4¶5)
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haft, worin diese Bewegung der finalen Verursachung bestehen soll, solange der Wille als bloßes Vermögen unverändert bleibt und noch nicht aktualisiert oder im Akt ist. Bereits in dieser Kritik wird deutlich, wo Suárez die finale Verursachung verorten möchte: im Willensakt selbst. Die finale Kausalität besteht diesem Vorschlag zufolge in einer metaphorischen Bewegung (motio metaphorica) des Willens. Er stellt sie als dritte Position vor: Es besteht also die dritte Auffassung, die auch feststellt, dass die Kausalität des Ziels in der metaphorischen Bewegung besteht. Sie fügt allerdings hinzu, dass eine solche Bewegung nicht im zweiten Akt ist, außer wenn der Wille sich im zweiten Akt bewegt und wenn sie so in die Sache gesetzt wird, dass sie nichts Verschiedenes vom Akt des Willens selbst ist. Aber wie wir oben sagten, dass ein und dieselbe Tätigkeit die Kausalität des Tätigen ist, sofern sie von ihm ausgeht, aber seine Kausalität gemäß seiner Form ist, insofern sie in der Materie inhäriert, so sagen ‹die Vertreter dieser Auffassung›, dass ein und dieselbe Willenshandlung durch das Ziel und durch den Willen selbst verursacht werde, und insofern sie [i] vom Willen ausgeht, sei sie eine wirkende Kausalität, sofern sie aber [ii] vom Ziel ausgeht, sei sie eine finale Kausalität. Und auf diese erste Weise [i] ist sie eine reale und eigentliche Bewegung, weil eine solche Tätigkeit von einer Potenz als ein eigentliches physikalisches Prinzip herrührt. Auf die zweite Weise [ii] aber ist sie eine metaphorische Bewegung, da sie ja von einem Objekt herrührt, das den Willen anlockt und zu sich zieht.53
Suárez’ Charakterisierung seiner eigenen Ansicht ist sehr dicht und auf den ersten Blick nur schwer verständlich. Sie bedarf daher einer eingehenden Erläuterung.54 Zunächst ist festzustellen, dass die finale Kausalität Suárez zufolge in einer Bewegung oder motio besteht. Dies leuchtet ein, wenn man sich klar macht, dass die Ausrichtung des Willens als eine Aktualisierung des Willens und damit als eine motio im klassischen Sinne verstanden werden kann. Wenn ich z.B. ein Eis essen will, dann will ich etwas, was ich zuvor – als ich noch kein Eis essen wollte –, nicht aktual, sondern nur der Möglichkeit nach wollte. Die Ausrichtung des Willens auf ein Ziel ist
____________ 53 „Est ergo tertia sententia, quae constituit etiam hanc finis causalitatem in motione metaphorica. Addit vero huiusmodi motionem non poni in actu secundo nisi quando voluntas in actu secundo movetur, et quando sic ponitur in re, non esse aliquid distinctum ab ipsomet actu voluntatis. Sed sicut supra dicebamus unam et eamdem actionem, prout fluit ab agente, esse causalitatem eius, ut vero inest materiae, esse etiam causalitatem eius circa formam, ita aiunt unam et eamdem actionem voluntatis causari a fine et a voluntate ipsa, et [i] prout est a voluntate esse causalitatem effectivam, [ii] prout vero est a fine esse causalitatem finalem, et priori ratione [i] esse motionem realem ac propriam, quia talis actio manat a potentia ut a proprio principio physico, posteriori autem ratione [ii] esse motionem metaphoricam, quia manat ab obiecto alliciente et trahente ad se voluntatem.“ (DM 23§4¶8) 54 Eine solche – versehen mit historischen Bezügen – gibt auch J. Seiler 1936, 47-50.
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so eine Aktualisierung eines Vermögens oder eben eine motio. An dieser Stelle könnte man natürlich unmittelbar einwenden, dass diese Ausrichtung des Willens auf ein Ziel bereits vom Willen selbst wirkverursacht wird und deshalb nicht zusätzlich einer finalen Verursachung durch ein Ziel bedarf. Um diesem Einwand zu entgehen, nennt Suárez die finale Kausalität auch keine wirkliche und eigentliche Bewegung, sondern eine metaphorische Bewegung: Die Aktualisierung des Willens, seine Ausrichtung auf ein Ziel hin, kann nämlich nicht nur als effiziente Wirkung des Willens aufgefasst, sondern kann auch metaphorisch in Bezug auf ein Ziel beschrieben werden. Die finale Verursachung besteht dann in nichts anderem als meinem Willensakt, insofern er als durch ein Ziel angelockt oder angezogen beschrieben wird. Dass man die Ausrichtung des Willens auf ein Ziel metaphorisch als Resultat eines anlockenden oder anziehenden Einflusses dieses Ziels auffassen kann, versucht Suárez in der obigen Passage mit Hilfe eines Vergleichs der kausalen Analyse einer Tätigkeit auf der Basis der Materie und Form zu plausibilisieren. Auch eine Tätigkeit (actio) könne nämlich auf zweifache Weise beschrieben werden. Zum einen mit Bezug auf den Tätigen, von dem die Tätigkeit ausgeht. Dabei wird der Tätige als Wirkursache und damit als echte oder reale Ursache beschrieben. Zum andern kann dieselbe Tätigkeit auch mit Bezug auf ihre materiellen Bestandteile beschrieben werden, da sich eine Tätigkeit oder eine Veränderung immer auf der Grundlage einer Materie vollziehen muss, an der sich eine Form aktualisiert. In diesem Sinne „inhäriert“ die Tätigkeit in einer Materie, wie Suárez meint. Wählt man diese zweite Beschreibungsweise, so nimmt man darin nicht auf echte oder reale Ursachen Bezug, sondern nur auf Materie und Form als Ursachen im analogen Sinne. Ganz ähnlich wie nun eine Tätigkeit im Rekurs auf eine echte Ursache, aber auch im Rekurs auf bloß analoge Ursachen beschrieben werden kann, so legt Suárez nahe, könne auch die Ausrichtung des Willens auf ein Ziel hin auf zweifache Weise aufgefasst werden: einmal als echte oder reale motio, und einmal als uneigentliche oder eben metaphorische Bewegung. Ersteres ist der Fall, wenn man die Ausrichtung des Willens als effizient kausal vom Willensvermögen ausgehend beschreibt, letzteres, wenn man sagt, der Wille würde vom Ziel angelockt. Auch wenn Suárez mit seiner Theorie der motio metaphorica einen Weg findet, die finale Kausalität zumindest im Bereich menschlicher Handlungen zu verorten, stellt sich doch die Frage, wie viel Suárez damit von einer Finalursache als einer Ursache sui generis retten kann. So beschreibt Suárez (i) den spezifischen Einfluss der Finalursache mit den kausativen Verben des Anlockens (allicere) und An-sich-ziehens (ad se trahere), die üblicherweise ein wirkkausales Tun einer Sache bezeichnen. Wenn
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man etwas an sich zieht, ist dies in der Regel eine nicht weniger effizient kausale Tätigkeit, als wenn man etwas von sich stößt. Damit scheint der final kausale Einfluss eines Ziels, der in seinem Anlocken besteht, nicht so genuin zu sein, wie uns Suárez glauben machen möchte. Vielmehr scheint auch der spezifische Einfluss des Zieles ein effizient kausaler zu sein – d.h. etwas, das ein Ziel als Finalursache tut. Damit scheint sich letztlich Suárez’ Finalursache als eine besondere Art der Wirkursache zu entpuppen und ihr Status als Ursache sui generis erscheint unhaltbar. Zudem (ii) lässt sich am kausalen Status von Zielen überhaupt zweifeln. Wenn Suárez die finale Verursachung des Ziels als metaphorische Bewegung der Wirkverursachung des Willens als eigentliche und reale Bewegung gegenüber stellt, ist damit implizit gesagt, dass die finale Verursachung gerade nichts Reales oder Eigentliches ist: Was wirklich und eigentlich geschieht, ist ein durch den Willen effizient verursachter Willensakt, in dem sich der Wille auf ein Ziel ausrichtet. Diese eigentliche Bewegung kann auch metaphorisch als Anziehung oder Anlockung eines Ziels beschrieben werden, aber damit wird nur in etwas blumiger Weise gesagt, dass sich der Wille auf ein Ziel ausrichtet. Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass Suárez hier eine Art final kausalen Epiphänomenalismus vertritt: Es gilt zwar, dass immer, wenn der Wille einen auf ein spezifisches Ziel ausgerichteten Willensakt auf wirkursächliche Weise hervorbringt, dieses Ziel den Willen anlockt, aber das Ziel kann diesen Willen nicht anlocken, ohne dass sich der Wille auf dieses Ziel ausrichten würde.55 Somit besteht der spezifisch final kausale Einfluss des Zieles nicht unabhängig von der effizient kausalen Ausrichtung des Willens auf dieses Ziel. Dieser ominöse finale Einfluss des Ziels scheint damit eine bloße Begleiterscheinung der wirkkausalen Willensausbildung zu sein. Der zweite Einwand (ii) ist somit stärker als der erste Vorbehalt (i). Denn anders als der erste stellt der zweite Vorwurf, Finalursachen seien mit ihrer metaphorischen Bewegung als Beiprodukt der realen Bewegung des Willens schlicht überflüssig, die Berechtigung der Annahme von Finalursachen überhaupt in Frage. Dagegen betrifft der erste Vorbehalt lediglich das Problem, ob sich Finalursachen mit gutem Recht als Ursachen eines eigenen Typs aufrechterhalten lassen. Da sich eine Auseinandersetzung mit dem schwächeren Vorwurf (i) erübrigt, wenn sich erhärten ließe, dass Suárez’ Annahme von Finalursachen tatsächlich unberechtigt ist, widme ich mich zuerst dem zweiten Einwand.
____________ 55 So schreibt Suárez in DM 23§3¶4: „Wenn aber die Tätigkeit aufhört, dann hört auch die finale Verursachung auf, denn wo es keine Wirkursache gibt, kann es auch keine Finalursache geben“.
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Angesichts der Beobachtung, dass der Einfluss der Finalursache für Suárez nicht in einer realen, sondern bloß in einer metaphorischen Bewegung besteht, erstaunt es nicht, dass einige Interpreten zum Schluss gekommen sind, Suárez hätte die Finalursache de facto abgeschafft.56 Schließlich legt der Umstand, dass die finale Verursachung des Ziels nicht unabhängig von der wirkkausalen Ausrichtung des Willens stattfinden kann, nahe, dass man alle Tätigkeiten rationaler Agenten vollständig beschreiben kann, ohne diese Prozesse gleichsam metaphorisch als finale Verursachungen zu beschreiben. Warum also spricht Suárez überhaupt noch von Finalursachen? Finalursachen als Epiphänomene der Willensausbildung scheinen nichts zu erklären und könnten damit genauso gut aus Suárez’ Ontologie gestrichen werden.57 Eine mögliche Antwort wäre, Suárez’ Festhalten an der Finalursache auf seinen Traditionalismus zurückzuführen: Als Denker der Scholastik fühlte sich Suárez der aristotelischen Tradition verpflichtet und hält deshalb selbst dann an den Grundbestandteilen ihrer Theorien fest, wenn er sie nicht mehr so richtig versteht. Eine solche Antwort wäre jedoch nicht nur philosophisch unbefriedigend, sondern würde auch Suárez’ eigenem Anspruch nicht gerecht, eine systematische Darstellung der Metaphysik zu verfassen, in der er unterschiedliche Positionen darstellt und evaluiert und letztlich nur an jenen Positionen festhält, die er selbst aufgrund rationaler Argumente für vertretbar erachtet.58 Wenn sich Suárez’ Doktrin der Finalursachen somit nicht einfach durch einen ausgeprägten Traditionalismus erklären lassen soll, muss es andere Gründe geben, die für Suárez’ Festhalten an Finalursachen mit ihrem spezifischen Einfluss sprechen. Wie ich argumentieren möchte, gibt es mindestens zwei systematische Gründe, die Suárez in seinem Festhalten an Finalursachen rechtfertigen: einen explanatorischen und einen phänomenologischen. Zunächst zum ersten: Was kann ein Verweis auf Ziele bezüglich der Willensausbildung erklären, was ein Rekurs auf das effizient kausale Willensvermögen nicht erklären kann? Ein Hinweis zur Beantwortung dieser
____________ 56 So z.B. Carraud 2003, 161, der von einer „réduction de la finalité à l’efficience“ spricht. Olivo 1997, 102, meint „que l’univocité des causes efficiente et finale […] en fait éclate[r] à l’unité.“ 57 Suárez’ jüngerer Zeitgenosse Rodrigo de Arriaga (1592-1667) hat diesen Schritt tatsächlich getan und dem Ziel den Status einer Ursache abgesprochen. Vgl. dazu Sprunk 1998. 58 So schreibt Suárez im Prooemium seiner Disputationes Metaphysicae: „Diese Prinzipien metaphysischer Wahrheiten hängen nämlich so mit den theologischen Schlüssen und Ansichten zusammen, dass notwendig auch das Wissen dieser überaus hinfällig wird, wenn das Wissen und die perfekte Erkenntnis jener aufgehoben wird.“
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Frage lässt sich einer Passage entnehmen, in der Suárez betont, dass die Finalursache in moralischen Angelegenheiten eine Vorrangstellung einnimmt. Suárez schreibt: In moralischen Angelegenheiten ist das Ziel nämlich gewissermaßen die ganze Ursache der Handlungen oder Wirkungen, nicht weil die anderen Ursachen ausgeschlossen werden, insofern sie physikalisch notwendig sind, sondern weil alle anderen ‹Ursachen› aus dem Ziel eine frühere Ursache oder einen Grund erhalten, als wenn sie eine erste Ursache hätten. Alle anderen aber sind solche Ursachen, die irgendeinen Grund des Verursachens haben. Daher kann das Ziel gewissermaßen die einzige Ursache genannt werden, weil es solch eine Ursache ist, die keine vorhergehende Ursache oder auch keinen früheren Grund des Verursachens hat.59
Die Vorrangstellung des Ziels im Bereich des Moralischen begründet Suárez hier damit, dass das Ziel bei einer Handlung die einzige Ursache sei, die selbst keiner weiteren Ursache mehr bedürfe. Dies lässt sich anhand eines Beispiels einer moralisch relevanten Handlung verdeutlichen. Stellen wir uns dazu etwa einen Dieb vor, der einen Passanten überfällt und ihn ausraubt, um sich zu bereichern. Der Grund für die Handlung des Diebes liegt also darin, dass er sich bereichern will oder dass es sein Ziel ist, sich zu bereichern. Alles, was der Dieb im Zuge dieser Handlung tut, untersteht diesem Ziel: das Auflauern des Passanten an der dunklen Straßenecke, das Anschleichen, seine Drohgebärde und seine Aufforderung an den Passanten, ihm seine Wertsachen auszuhändigen – all dies tut er, um sich zu bereichern. Damit unterstehen in diesem Szenario alle Ereignisse, die zum Überfall auf den Passanten führen, dem Ziel des Diebes, das sich hier als einzige Ursache qualifiziert, die selbst keine weitere Ursache hat. Aber warum ist das eine Eigenheit des moralischen Bereichs, wie Suárez meint? Das wird klar, wenn man sich vorstellt, dass das Ziel des Diebs nicht die erste Ursache seiner Handlung war, wenn unser Dieb etwa Opfer eines verschlagenen Neurowissenschaftlers geworden ist, der seinen Willensentschluss, sich an einem hilflosen Passanten zu bereichern, mittels eines Gehirn-Implantats hervorgerufen hat. In diesem Augenblick würden wir die Handlung des Diebes sofort entschuldigen: Er konnte ja nichts dafür, dass er dieses Ziel hatte, sondern es wurde ihm vielmehr vom bösen Neurowissenschaftler vorgegeben. Der Dieb war, weil sein Ziel nicht erste Ursache seiner Handlung war, nicht frei und damit auch nicht moralisch verantwortlich. Wir neigen also dazu, mit Bezug auf moralisch relevante Hand-
____________ 59 „In moralibus enim finis est quodammodo tota causa actionum seu effectuum, non quod aliae causae excludantur quatenus physice necesariae sunt, sed quod omnes aliae ex fine sumant quasi primam habea[n]t priorem causam vel rationem; omnes aut[em] aliae ita sunt causae ut habeant aliquam rationem causandi. Unde finis potest quodammodo dici sola causa, quia ita est causa ut non priorem causam vel saltem priorem rationem causandi[.]“ (DM 12§3¶8)
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lungen von einem freien Willen auszugehen, der sich dadurch als frei auszeichnet, dass er durch keine Ursache genötigt wird, sondern sich ganz von selbst auf ein bestimmtes Ziel ausrichtet. Zumindest ist Suárez offenbar der Auffassung, dass ein Wille nur dann frei sein kann, wenn er nicht kausal determiniert ist, sondern gleichsam von alleine – als eine Art unbewegter Beweger – eine Kausalkette lostritt.60 Suárez spricht in diesem Zusammenhang auch von einer immanenten Kausalität, die darin besteht, dass sich der Wille auf etwas ganz Bestimmtes ausrichtet, ohne dass er von einer anderen (Wirk-)Ursache zu dieser Ausrichtung bestimmt wurde. Das unterscheidet die immanente Kausalität rationaler Agenten von der so genannt transeunten Kausalität natürlich Tätiger: Natürlich Tätige sind in Kausalketten eingebunden, die gleichsam durch sie hindurchgehen (transire) und die stets von einer Ursache zu ihrem Wirken bestimmt werden müssen.61 Bei einer freien Entscheidung oder Willensausbildung handelt es sich dagegen um eine Form immanenter Verursachung: Wenn ein Handelnder seinen Willen ausbildet und dabei frei ist, so ist der Handelnde resp. sein Willensvermögen selbst Ursache dieses Willens und nichts außer ihm. Aus dieser immanent kausalen Auffassung des freien Willens ergibt sich jedoch sogleich ein notorisch schwieriges Problem: Wenn ein freier Wille nur dann frei ist, wenn er aus einem immanent kausalen Akt des Willensvermögens selbst hervorgeht, das Willensvermögen also buchstäblich erste Ursache ist, so droht dieser Willensentschluss unerklärbar zu werden. Schließlich würde jede Ursache, die man angeben könnte, um zu erklären, warum sich das Willensvermögen aktualisierte, dem Willen seine Freiheit rauben. Ein freier Wille, so scheint es, muss unbedingt frei sein: Er darf durch nichts bedingt werden, weil jede Bedingung, der dieser Wille unterliegen könnte, eine Freiheitsbeschränkung dieses Willens wäre. Leider stellt sich ein unbedingt freier Wille aber als unverständlich heraus: Wäre ein freier Willensentschluss tatsächlich durch nichts bedingt, könn-
____________ 60 So betont Suárez (etwa in DM 19§2¶18), dass der menschliche Wille ein aktives Vermögen ist, das seine Akte spontan vollziehen oder nicht vollziehen kann: „Das heißt, es gibt im Menschen irgendein aus eigener Kraft aktives und aufgrund seiner intrinsischen Natur freies Vermögen, nämlich ‹ein Vermögen›, das eine solche Herrschaft über seine Handlungen hat, dass es in seiner Macht steht, diese auszuführen und nicht auszuführen und folglich die eine oder die andere bzw. entgegen gesetzte Handlung auszulösen.“ 61 Vgl. zu Suárez’ Unterscheidung zwischen immanenter und transeunter Kausalität DM 18§10¶9 und Anm. 104. Diese Unterscheidung hat auch Chisholm 1964, 30, mit einem expliziten Verweis auf Suárez in seinem berühmten Aufsatz zur Akteurskausalität aufgenommen, in dem er das Problem der Willensfreiheit lösen möchte.
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ten wir ihn nicht einmal als Wille einer bestimmten Person verstehen, da er als ein solcher ja durch die spezifische Geschichte dieser Person bedingt wäre. Ein unbedingt freier Wille, so zeigt sich nun, würde zu einem gänzlich unbestimmten Willen, der gar nicht mehr als (bestimmter) Willen charakterisiert werden könnte. Auf den ersten Blick scheint sich ein akteurskausales Verständnis des freien Willens selbst zu untergaben, weil es eine Konzeption des freien Willens nach sich zieht, die sich als unverständlich entpuppt. Freiheit, so scheint es, wird hier zum Preis der Unverständlichkeit erkauft.62 Gegen diese Argumentation lässt sich jedoch unmittelbar einwenden, dass ein freier Wille, der von einer Person ausgeht, nicht – wie oben suggeriert – völlig unbedingt und damit unverständlich sein muss: Er muss lediglich auf die richtige Art bedingt sein. Und diese Art ist eine Bedingtheit durch Gründe, und nicht durch Ursachen.63 Das lässt sich wieder an einem Beispiel verdeutlichen. Stellen wir uns Eva vor, die sich dafür entscheidet, ihre ganzen Ersparnisse von ihrem Konto abzuheben, um sich damit ein ’round-the-world-ticket zu kaufen und ihren großen Traum einer Weltreise zu verwirklichen. Evas Wille, zur Bank zu gehen und ihr Geld abzuheben, wird dadurch, dass sie Gründe für ihren Willen angeben kann und dieser Wille durch ihre Gründe bedingt ist, nicht unfrei. Im Gegenteil, gerade ihre Fähigkeit, ihre Entscheidung zu begründen, würde uns dazu bringen, Evas Entscheidung als ihre freie Entscheidung zu akzeptieren. Anders verhielte es sich, wenn sich herausstellte, dass Eva gar nicht aus den Gründen gehandelt hat, die sie uns genannt hat, sondern dass wieder unser böser Neurowissenschaftler seine Hände im Spiel hatte und ihren Willen manipulierte. In diesem Fall würden wir Evas Willen zu Recht für unfrei halten, da er allein effizient kausal bedingt war. Ihr Wille war nicht durch Gründe bedingt, sondern allein durch (Wirk-)Ursachen, die ihr buchstäblich keine andere Wahl ließen. Der Verweis auf Handlungsgründe oder Ziele einer Person erlaubt es also – im Gegensatz zu einem Hinweis auf bloße Ursachen – eine freie Handlung zu erklären,
____________ 62 So argumentiert etwa Bieri 2001, dagegen Keil 2007. 63 Seit Davidsons berühmtem Aufsatz „Actions, Reasons, and Causes“ (1963) ist es zur philosophischen Mode geworden, Gründe selbst als (Wirk-)Ursachen zu verstehen. Daher könnte der von mir suggerierte Kontrast irritieren. Tatsächlich werde ich dafür argumentieren, dass Suárez Davidson widersprochen hätte, weil Handlungsgründe oder Ziele für ihn gerade keine Wirkursachen, sondern Finalursachen sind. In den folgenden zwei Absätzen geht es mir jedoch nur darum, auf einen intuitiv einleuchtenden Unterschied hinzuweisen, den auch Davidson nicht leugnen würde (vgl. etwa Davidson 1973, 74). Davidsonianer mögen daher das Wort „Ursache“ einfach durch den Ausdruck „nicht geeignet rationalisierbare Ursache“ ersetzen.
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ohne durch diese Erklärung gleichzeitig die Möglichkeit der Freiheit dieser Handlung zu bedrohen.64 Auf der Grundlage dieser Überlegungen lässt sich der Vorwurf an die akteurskausale Freiheitstheoretikerin, sie würde einen unbedingten und damit unverständlichen Freiheitsbegriff vertreten, erfolgreich zurückweisen. Freie Entscheidungen, so kann sie entgegnen, sind nicht in dem Sinne unbedingt, dass sie von nichts abhingen. Freie Entscheidungen hängen von den Zielen, Überlegungen und Gründen einer Person ab, die ihren Willen erklären und verständlich machen. Wichtig ist jedoch, dass es sich bei diesen Gründen, die einen Willen bedingen, nicht um Bedingungen handelt, die in der Weise von (Wirk-)Ursachen zwingend sind. Deshalb sind Ziele oder Handlungsgründe auch nicht freiheitsgefährdend, sondern ganz im Gegenteil: Sie sind notwendig dafür, dass Handelnde überhaupt einen bestimmten (d.h. auf ein bestimmtes Ziel ausgerichteten) Willen haben, der frei oder unfrei sein kann.65 Damit ergibt sich nun ganz automatisch eine Antwort auf die obige Frage, was Suárez’ Finalursachen erklären, so dass er an ihnen festhält, obwohl sie keine reale Bewegung bewirken, sondern lediglich mit der wirkkausalen Ausbildung des Willens einhergehen. Wie deutlich geworden ist, kann mit dem Rekurs auf Ziele einer Person erklärt werden, warum sie sich auf eine ganz bestimmte Weise entscheidet, ohne dass allein dadurch die Freiheit dieser Entscheidung in Frage gestellt würde. Wenn ich mich z.B. dafür entscheide, ein Eis zu essen, dann aktualisiert sich mein potentieller Wille zu dem wirklichen Willen, ein Eis zu essen. Diese Aktualisierung meines Willens geht Suárez zufolge von meinem Willensvermögen aus, das diese reale Bewegung immanent verursacht, und erfolgt damit spontan. Dennoch geschieht diese Aktualisierung nicht grundlos. Aber der einzige Grund, der sich für diese Aktualisierung angeben lässt, liegt im Gehalt des Willensaktes selbst, oder eben im Ziel: Dass ich Eis essen will, liegt einfach daran, dass ich Eis essen will.66 Somit kann Suárez an seinem akteurskausalen Verständnis des freien Willens festhalten und behaupten,
____________ 64 Den Zusammenhang zwischen Handlungsgründen und Zielen haben in systematischer Weise Schueler 2003 und Sehon 2005 herausgearbeitet. 65 Freilich sind damit noch nicht alle Probleme aus der Welt geschafft: Man kann sich etwa fragen, was denn die Gründe und Ziele dieser Person bestimmt, und ob nicht dabei wieder eine Form der effizienten Verursachung ins Spiel kommt. Wenigstens ein paar dieser Probleme werde ich weiter unten aufnehmen. 66 Manchmal will ich x auch deswegen, weil ich y will, und dieses vielleicht wieder, weil ich z will. Aber irgendwann bricht diese Kette ab und ich will ein Ding nur noch, weil ich es eben will. Wenn ich etwas aus freien Stücken will, so will ich das immer, weil ich ein ganz bestimmtes Ziel habe – also etwas Bestimmtes will. Deswegen lässt sich mein freier Wille immer im Rekurs auf ein Ziel erklären.
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der Willensakt würde immanent kausal durch ein (wirkkausal unbestimmtes) Willensvermögen hervorgebracht, ohne sich gleichzeitig dem Vorwurf auszusetzen, dieser gleichsam aus dem Nichts erzeugte Willensakt sei unverständlich. Im Rekurs auf Finalursachen kann Suárez nämlich erklären, warum sich ein spezifischer Willensakt ausbildet, ohne dass dadurch die Freiheit dieses Willens gefährdet würde, weil Finalursachen eben nicht in der Weise zwingend sind wie Wirkursachen.67 Aber ist Suárez’ Erklärung der Willensausbildung durch den Verweis auf ein Ziel befriedigend? Das Auftreten meines Willens, ein Eis zu essen, einfach dadurch zu erklären, dass man sagt, man wolle eben ein Eis essen, ist zirkulär und erscheint damit unzulässig. Dieser Verdacht ist sicher angebracht, und es gilt ihn genau zu prüfen, vor allem, weil die Probleme hier komplexer sind, als es auf den ersten Blick erscheint. Es muss nämlich sorgfältig zwischen zwei Fragen unterschieden werden, um anschließend zu untersuchen, ob sie beide durch einen Verweis auf das Ziel erklärt werden können: Nach Suárez ist mein Wille genau dann frei, wenn er (immanent) durch mein Willensvermögen hervorgebracht wurde. Hier lässt sich nun fragen, (a) warum mein Willensvermögen diesen und keinen anderen Willen hervorgebracht hat, und (b) warum mein Willensvermögen meinen Willen überhaupt oder gerade zu diesem Zeitpunkt, und nicht später hervorgebracht hat. Die Frage (a) lässt sich die Spezifitätsfrage, die Frage (b) die Datiertheitsfrage nennen.68 Wenden wir uns zunächst der Spezifitätsfrage zu. Mit einem Verweis auf das Ziel könnte man sie wie folgt beantworten: Mein Willensvermögen bringt diesen und nicht jenen Willen hervor, weil es in seiner metaphorischen Bewegung eben durch dieses und nicht jenes Ziel angelockt wird. Wie schon angedeutet, kann man gegenüber dieser Erklärung skeptisch sein. Erklärt sie überhaupt etwas? Den Willen, ein Eis zu essen, auszubilden, heißt nach Suárez’ Theorie der motio metaphorica nichts anderes, als dass mein Wille durch das Ziel, ein Eis zu essen, angelockt wird. Ist dies keine Pseudoerklärung? Dass ich ein Eis anstelle eines Apfels essen will, wird einfach dadurch erklärt, dass ich ein Eis, und eben keinen Apfel essen will. Das erklärt doch nichts, sondern wiederholt das Problem, mag man ungeduldig einwenden. Aber ist der Einwand berechtigt? Das ist eine subtile Frage, und die Intuitionen mögen hier divergieren. Aber ich denke, dass wir eine solche Erklärung durchaus stehen lassen können. Manchmal will man einfach ein Eis essen, ohne einen weiteren Grund dafür zu haben,
____________ 67 Darauf, dass Finalursachen eine besondere Modalität des Zwangs aufweisen, wird sich auch Leibniz berufen, wenn er mit ihrer Hilfe dem Problem des Nezessitarismus begegnen will, wie ich im Kapitel V ausführen werde. 68 Vgl. zum sog. Datiertheitseinwand gegen die Akteurskausalität Keil 2007, 98f.
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als dass man eben Lust auf dieses Eis hat und es essen will.69 Ziele und Zwecke von Handelnden können auch Selbstzwecke sein. In diesem Fall sind sie selbst erklärend. Es ist dann sinnlos zu fragen, warum eine Person das will, was sie will, weil es außer dem Grund, dass sie es will, keinen weiteren Grund gibt. Deshalb ist es manchmal auch legitim, einen Willen im Rekurs auf das Ziel, auf den dieser Wille ausgerichtet ist, zu erklären.70 Mit Verweis auf das Selbsterklärungspotenzial von Finalursachen lässt sich auch auf die Datiertheitsfrage reagieren: Ich will jetzt, und nicht erst in zwei Stunden ein Eis essen, weil ich eben jetzt ein Eis essen will. Dagegen mag man einwenden, dass dieser unmittelbare Wille besser durch einen akuten Sturz des Insulinspiegels zu erklären ist. Damit aber verließe man die Voraussetzung, unter der die Willensausbildung hier zur Debatte steht: Würde mein Willensvermögen nämlich durch einen Abfall der Insulinkonzentration dazu gebracht, meinen Willen, ein Eis zu essen, auszubilden, dann wäre diese Willensausbildung kein Ausdruck immanenter Kausalität mehr, mit der eine metaphorische Bewegung der Finalursache einhergeht. Wenn es tatsächlich mein freier Wille ist, jetzt ein Eis zu essen, dann müsste es den obigen Überlegungen zufolge ausreichend sein, diesen Willen durch eben mein Ziel zu begründen, jetzt ein Eis zu essen.71 Vor diesem Hintergrund zeigt sich meines Erachtens auch, dass Suárez mit seinem Festhalten an Finalursachen einem nicht zu leugnenden phänomenologischen Faktum Rechnung trägt, womit ich auf den zweiten oben erwähnten Punkt zu sprechen komme: Wenn wir uns nach einer Erwägung einer Reihe von Handlungsoptionen für eine bestimmte Option entscheiden, so tun wir das meist nicht grundlos, sondern gerade deswegen, weil uns die eine Option besonders verlockend und angebracht erscheint – und uns in eigenartiger Weise anzieht. Handlungsoptionen, die wir aus freien Stücken wählen, scheinen gleichsam mit einer motivationalen Kraft ausgestattet zu sein, die von ganz anderer Art als die kausale Kraft
____________ 69 Aristoteles argumentiert in der Nikomachischen Ethik, I 1094a1-22, sogar dafür, dass alle Handlungsziele in einem letzten Ziel münden, das um seiner selbst willen erstrebt wird. Demnach lässt sich ein bestimmter Willensakt vielleicht durch Rekurs auf einen weiteren ihm übergeordneten Wunsch erklären, aber irgendwann wird es keinen diesem Wunsch übergeordneten Wunsch mehr geben und wir müssen zugestehen, dass wir bei etwas angelangt sind, was eine Person um seiner selbst willen erstrebt. 70 Auch dass Handlungsziele selbst-erklärend sein können, wird Leibniz für seine Rehabilitation von Finalursachen fruchtbar machen, wie in Kapitel V deutlich werden wird. 71 Deshalb sagt Suárez – wie oben gesehen – in DM 12§3¶8 auch, dass die Finalursache eine Ursache ist, die „keine vorhergehende Ursache oder auch keinen früheren Grund des Verursachens hat.“
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von Wirkursachen ist. Und es ist häufig genau dieser besondere Reiz von Handlungsoptionen, mit Bezug auf den wir unsere freien Entscheidungen erklären. An dieser Stelle setzte der erste, oben formulierte Einwand (i) gegen Suárez’ Theorie von Finalursachen an: Ist der spezifische Einfluss, den Finalursachen nach Suárez ausüben, tatsächlich ein dezidiert nicht-effizient kausaler Einfluss? Schließlich deuten sowohl Suárez’ Beschreibung dieses Einflusses als eine Art des Anlockens und An-sich-ziehens als auch meine Rede einer „motivationalen Kraft“ darauf hin, dass es sich hier um ein effizient kausales psychologisches Geschehen handelt, das von Handlungsgründen oder so genannten Finalursachen ausgeht, die damit gerade in der Funktion von Wirkursachen auftreten. Suárez’ Finalursachen, so lässt sich der Einwand zuspitzen, sind deshalb als eine Form von Wirkursachen zu verstehen, weil sie etwas tun: Sie locken oder ziehen den Willen an sich. Leider geht Suárez selbst nicht auf genau diesen Einwand ein. Aber er befasst sich mit einem ähnlichen Problem, das bei seiner Zurückweisung behilflich sein kann. Suárez fragt sich nämlich, ob der Intellekt, der ein Ziel für gut oder erstrebenswert befindet, den Willen auf eine effizient kausale Weise dazu bestimmt, dieses Ziel auch zu wählen. Wie mittlerweile zu erwarten ist, fällt Suárez’ Antwort auf diese Frage entschieden negativ aus: Der Intellekt verursacht mit seinem Urteil die Wahl des Willens nicht, da dies seiner Freiheit widerstreben würde.72 Trotzdem möchte natürlich auch Suárez nicht behaupten, dass die Wahl des Willens völlig davon unabhängig sei, was der Intellekt als gut beurteilt.73 Insofern ist die Wahl des Willens in gewisser Weise vom Intellekt abhängig. Um die Freiheit des Willens nicht zu gefährden, darf diese Abhängigkeit jedoch keinesfalls als wirkkausale Abhängigkeit verstanden werden. Vielmehr meint Suárez: Obwohl ein Objekt den Willen nicht in dieser [d.h. in effizient kausaler] Weise bestimmt, kann es dennoch hinreichend dafür sein, dass es ihn so erregt und anlockt, dass der Wille durch seine eigene Freiheit zu diesem Objekt bestimmt oder zu jenem geführt wird. Denn wenn irgendein Aspekt des Guten im Objekt repräsentiert wird, reicht dieser Aspekt für sich aus, um den Willen zu bewegen. Daher ist die oben beschriebene Bestimmung nicht erforderlich, damit der Wille bewegt wird.74
____________ 72 Siehe DM 19§6¶¶1-6. 73 Vgl. zum Verhältnis von Intellekt und Wille bei Suárez auch J. Seiler 1936, 5863. 74 „Quamvis autem obiectum non sic determinet voluntatem, potest esse ita sufficiens ad excitandam et alliciendam illam ut ipsa sua libertate determinetur aut feratur in illud, quia si in obiecto repraesentatur aliqua ratio boni, illa est de se
Finalursachen und die Theorie der motio metaphorica
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Als aktives Vermögen bedarf der Wille keiner externen Wirkursache, um sich zu aktualisieren und sich auf ein bestimmtes Ziel hin auszurichten.75 Damit wirkt auch das Ziel oder das begehrenswerte Objekt, das den Willen anlockt oder erregt, nicht im wörtlichen – und d.h. im wirkkausalen Sinne – auf den Willen ein, was ja den obigen Ausführungen zufolge mit der Freiheit des Willens konfligieren würde. Entsprechend ist auch der spezifische Einfluss, den ein Ziel auf den Willen ausübt nicht als wirkkausaler Einfluss zu verstehen; genauso wenig, wie das Anlocken oder An-sichziehen des Willens ist eine eigentliche Tätigkeit des Ziels ist. Das Ziel bestimmt den Willen vielmehr einfach dadurch, dass es unter dem Aspekt des Guten erscheint.76 Folglich lockt das Ziel den Willen nicht an, indem es wie eine Wirkursache etwas tut, sondern einfach dadurch, dass es gut ist – oder zumindest für gut erachtet wird. Auch wenn Suárez den spezifischen Einfluss von Finalursachen mit Hilfe kausativer Verben (wie „anlocken“, „an sich ziehen“ oder „erregen“) beschreibt, darf dies also nicht so verstanden werden, dass er damit ausdrücken möchte, dass Finalursachen im wörtlichen Sinne etwas täten. Finalursachen beeinflussen den Willen nicht auf eine kausale Weise, indem sie auf den Willen einwirkten. Insofern Finalursachen den Willen einer Person einfach dadurch bestimmen, dass sie dieser Person als gut erscheinen, beeinflussen sie ihren Willen auf eine normativ-motivationale Weise. Mit Hilfe seiner Theorie der motio metaphorica versucht Suárez, die Ziele, in Bezug auf die wir menschliche Handlungen erklären, als genuine Ursachen herauszustellen, die seiner allgemeinen, Influxus-theoretischen Definition von Ursachen genügen. Ziele, um derentwillen Menschen tätig sind, verdienen es nach Suárez’ Ansicht deshalb als Finalursachen verstanden zu werden, weil sie einen eigentümlichen, motivierenden oder normativen Einfluss auf jene Personen ausüben, die sich aus freien Stücken für diese Ziele entscheiden. Das macht sie zu Ursachen sui generis. Einen solch final kausalen Einfluss entfalten Ziele jedoch nicht unabhängig davon, dass sich das aktive Willensvermögen spontan aktualisiert und sich damit in einer realen Bewegung befindet. Aber obwohl die finale Verursachung von
____________ sufficiens ad movendam voluntatem; ergo illa determinatio necessaria non est ut voluntas moveatur.“ (DM 19§6¶9) 75 Vgl. DM 19§2¶18. 76 Suárez stimmt mit „allen Doktoren“ überein, „dass Güte der nächste Aspekt ist, unter dem ein Ziel bewegt und dass jene die Finalursache auf diese Weise konstituiert, indem sie ihr sozusagen die Kraft zum Verursachen verleiht.“ (DM 23§5¶2). Seiler 1936, 27-32, diskutiert Suárez’ Bestimmung des Zwecks als etwas Gutes ausführlich.
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Handlungszielen ontologisch von der wirkkausalen Aktualisierung des Willens abhängt, lassen sich Finalursachen und deren genuin final kausaler Einfluss nicht auf Wirkursachen und deren Tätigkeiten reduzieren, wie man zunächst vermuten könnte – und wie dies in der jüngeren Forschung behauptet worden ist.77 Denn neben dem Umstand, dass Suárez mit seiner Annahme von Finalursachen als eigenständigen Ursachen dem phänomenologischen Faktum Rechnung tragen kann, dass Handlungsgründe eine andere Art von Zwang ausüben, als es (Wirk-)Ursachen tun, übernehmen Suárez’ Finalursachen im Rahmen seiner akteurskausalistischen oder immanenten Freiheitskonzeption eine Erklärungsaufgabe, die von Wirkursachen nicht geleistet werden könnte: Im Gegensatz zu einem Rekurs auf Wirkursachen erklärt ein Verweis auf Finalursachen die spontane und damit gerade nicht effizient kausal bedingte Ausbildung eines freien Willens, die andernfalls unverständlich bleiben müsste. Somit kann Suárez zumindest im Bereich geschaffener, rationaler Akteure an der Existenz von Finalursachen als Ursachen eines eigenen Typs festhalten. Wie es sich mit Bezug auf Gott und dem Bereich der natürlich Tätigen verhält, wird im nächsten Abschnitt zu klären sein.
Natur, Gott und Finalursachen Im Bereich (b) geschaffener, rationaler Akteure sind Ziele aufgrund einer motio metaphorica kausal wirksam: Finale Verursachung findet genau dann statt, wenn Menschen (oder rationale Lebewesen) einen spezifischen Willen ausbilden und damit ein Ziel anstreben. Diese Theorie lässt sich im Bereich (c) natürlich Tätiger, d.h. im Bereich fallender Steine, wachsender Bäume und Fliegen schnappender Frösche, nicht mehr anwenden, um Zweckerklärungen dieses Bereichs zu analysieren. Schließlich verfügen natürlich Tätige weder über einen Intellekt noch über einen Willen, mit dessen Hilfe sie sich auf Ziele ausrichten könnten. Wie also steht es um die Finalursachen in diesem Bereich? Bereits bei Thomas ist deutlich geworden, dass die Annahme von Finalursachen im Bereich natürlich Tätiger nicht ganz unproblematisch ist. Das hängt vor allem mit seiner cognitio-Bedingung zusammen, an der auch Suárez festhält, wie er unmissverständlich klar stellt: „Damit das Ziel verursacht, ist es gänzlich notwendig, dass es vorher erkannt worden ist.“78 Da natürliche Substanzen über kein Erkenntnisvermögen verfügen und infol-
____________ 77 Siehe Anm. 56. 78 „[U]t finis causet, necessarium omnino est ut praecognitus sit.“ (DM 23§7¶2)
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gedessen auch keine Ziele erkennen können, scheint es zunächst ausgeschlossen, dass man deren Tätigkeiten mit Hilfe von Finalursachen erklären kann. Wie im letzten Kapitel gesehen, bemühte sich Thomas, dieser unliebsamen Konsequenz zu entgehen, indem er auf den Schöpfergott rekurrierte, der natürlich Tätige auf ihre intrinsischen Ziele festgelegt hat. Da Gott selbstverständlich ein Wissen um die durch ihre Form festgelegten Ziele nicht-rationaler Tätigen hat, ist auch in diesem Bereich die cognitio-Bedingung erfüllt. Deshalb sind für Thomas auch die Tätigkeiten nicht-rationaler Substanzen mit Hilfe von Finalursachen erklärbar. Dieser Strategie, die zweckgerichtete Tätigkeit natürlich Tätiger über Gottes zweckmäßige Ausstattung der Schöpfung zu erklären, schließt sich grundsätzlich auch Suárez an. Allerdings zieht er daraus andere Konsequenzen für das Phänomen der finalen Verursachung im Bereich nicht-rational Tätiger als Thomas. Suárez schreibt: Trotzdem ist die richtige Weise über diese Angelegenheit zu sprechen die, dass die Tätigkeiten dieser natürlich Tätigen wegen eines Zieles bestehen und dass sie von einer Finalursache hervorgebracht worden sind. Nicht aber, sofern sie genau von den natürlich Tätigen herrühren, sondern sofern sie gleichzeitig vom ersten Tätigen ‹ausgehen›, der in allem und durch alles wirkt. Oder umgekehrt (und das gibt ungefähr dasselbe wieder), insofern die nächsten Tätigen selbst in der Ausrichtung und Intention des übergeordneten Tätigen vorhanden sind. Und deshalb sagt man, dass die natürlich Tätigen nicht so sehr wegen eines Zieles tätig sind, als dass sie vielmehr von einem übergeordneten Tätigen auf ein Ziel ausgerichtet werden.79
Suárez zweifelt nicht daran, dass die natürlich Tätigen um eines Zieles willen tätig sind. Dennoch möchte er sich damit gerade nicht auf die These festlegen, dass im Bereich natürlich Tätiger automatisch auch Finalursachen eine Rolle spielen. Schließlich sind es nicht die Ziele selbst, die für die teleologische Ausrichtung nicht-rationaler Substanzen verantwortlich sind, sondern Gott – der übergeordnete oder erste Tätige, von dem die natürlich Tätigen ausgehen. Streng genommen kommen deshalb im Bereich natürlich Tätiger keine Finalursachen zum Zuge: Und so kommt es, dass es bei diesen Tätigkeiten, sofern sie zu natürlich Tätigen gehören, keine eigentümliche Kausalität des Ziels gibt, sondern allein eine Disposition zu einem gewissen Ende. Insofern sie aber zu Gott gehören, gibt es in ihnen
____________ 79 „Nihilominus, proprius modus loquendi in hac materia est actiones horum agentium naturalium esse propter finem et esse effecta causae finalis. Non tamen ut praecise egrediuntur ab ipsis naturalibus agentibus, sed ut simul sunt a primo agente, quod in omnibus et per omnia operatur. Vel e converso (et fere in idem redit), prout ipsa proxima agentia substant directioni et intentioni superioris agentis. Et ideo ipsa agentia naturalia non tam dicuntur operari propter finem, quam dirigi in finem a superiori agente.“ (DM 23§10¶5)
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also eine Kausalität des Ziels, wie es sie in den anderen externen und transeunten Tätigkeiten Gottes gibt.80
Da Ziele im Bereich natürlich Tätiger keinen (final-)kausalen Einfluss ausüben, sind sie auch keine Finalursachen. Die Zweckmäßigkeit der Natur ist vielmehr ein Produkt von Gottes weiser Schöpfung. Ziele oder Finalursachen wirken nicht direkt auf die Natur ein, sondern höchstens indirekt, insofern sie von Gott in einer zweckmäßigen Ordnung geschaffen wurde.81 Suárez’ Verbannung der Finalursachen aus dem Bereich der Natur ist vor dem Hintergrund der Influxus-Theorie der Kausalität nur konsequent: Schließlich übt das Ziel dadurch, dass sich natürliche Dinge in einer zielgerichteten oder zweckmäßigen Weise bewegen, keinen Einfluss auf diese Dinge selbst aus. Ihre zweckmäßige Anordnung lässt sich allein durch die Zielgerichtetheit ihres Schöpfers erklären. Teleologische Prozesse in der Natur gründen somit in der göttlichen Teleologie. Damit ist die Frage nach den Finalursachen im Bereich (c) der Natur unmittelbar mit der Frage nach den Finalursachen in Bezug auf (a) Gott verbunden. Wie beantwortet Suárez diese Frage? Die spezifische Kausalität von Finalursachen im Bereich (b) der geschaffenen, rationalen Akteure besteht nach Suárez in einer motio metaphorica. Eine solche kann es in Gott nicht geben, da es in Gott als perfektem Wesen überhaupt keine Veränderung oder motio geben kann. Denn gäbe es in Gott Veränderung, dann hieße das auch, dass es in Gott Potentialitäten gäbe, die es noch zu aktualisieren gibt. Das aber widerspräche seiner Vollkommenheit.82 Insofern Gott nämlich perfekt ist, gibt es in ihm keine
____________ 80 „Atque ita fit ut in his actionibus, ut sunt a naturalibus agentibus, non sit propria causalitas finalis, sed solum habitudo ad certum terminum; ut vero sunt a Deo, ita sit in illis causalitas finalis sicut in aliis externis et transeuntibus actionibus Dei.“ (DM 23§10¶6) 81 Eine Ausnahme dazu sind die höheren Tiere (bruta), wie Suárez in DM 23§10¶14 knapp ausführt: Obwohl diese ihre Ziele (ohne Intellekt) nicht auf formale Weise erfassen, und mithin weder das Ziel als Ziel noch seine Zuträglichkeit erkennen können, seien sie aufgrund eines natürlichen Instinkts in der Lage, gewisse Objekte als ab- oder zuträglich zu beurteilen, woraufhin sie es mieden oder aufsuchten. Wie unbefriedigend diese Erklärung auch sein mag – man fragt sich etwa, in welchem Sinn ein Tier, das über keinen Intellekt verfügt, etwas tatsächlich als zuträglich beurteilen kann –, so klassisch ist sie, und wurde im Anschluss an eine Überlegung von Avicenna über die Furcht des Schafes vor dem Wolf in der Scholastik immer wieder angeführt. Siehe dazu etwa Hasse 2000 und Perler 2010. 82 Entsprechend argumentiert Suárez auch dafür, dass aus Gottes Vollkommenheit unmittelbar seine Unveränderbarkeit (immutibilitas) folge. So meint er in DM 30§8¶2 etwa: „Denn weil Gott aufgrund derselben Notwendigkeit, durch die er
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(passiven) Potenzen oder Privationen. In ihm ist alles aktualisiert und er ist mithin reiner Akt (actus purus).83 Demnach gibt es auch „im göttlichen Willen keine solche metaphorische Bewegung (motio metaphorica), sondern es gibt eine gewisse ausgezeichnete Weise des Liebens, die – so wie sie ohne Unterscheidung zwischen Akten oder Potenzen besteht – auch ohne jegliche wirkliche, sogar ohne metaphorische Bewegung besteht.“84 Wie Suárez meint, ist eine finale Verursachung im Bereich Gottes unmöglich, „weil der Akt des göttlichen Willens hinsichtlich seiner wesentlichen und notwendigen Entität keine echte Ursache irgendeiner Gattung haben kann. Denn als solcher ist er der Essenz nach ein Seiendes und gänzlich unabhängig.“85 Da Gott perfekt ist, kann nichts auf ihn einwirken – und so a fortiori auch kein Ziel. Wenn wir demnach davon sprechen, dass Gott wegen etwas tätig sei, so darf diese Rede nicht als Hinweis darauf verstanden werden, dass gewisse Ziele Gott auf eine final kausale Art und Weise beeinflussen würden. Suárez hält unmissverständlich fest, dass mit dieser Rede streng genommen „keine echte Ursache seiner Liebe bezeichnet wird, sondern […] nur eine Weise des göttlichen Willens.“86 Die teleologische Rede über Gott ist also nicht durch Finalursachen begründet, denn in Gott gibt es keine eigentliche finale Verursachung im Sinne einer motio metaphorica.87 Was aber meinen wir stattdessen, wenn
____________
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existiert, seine ganze Vollkommenheit des Seins hat, kann er in ihr keine Verminderung erleiden; und weil er in diesem Sein die Fülle aller Vollkommenheiten hat, kann er entsprechend auch kein Wachstum erfahren. Daher kann er weder eine Veränderung zur Vollkommenheit noch zum Verfall oder zur Verminderung seiner Vollkommenheit erleiden, d.h. gar keine.“ Damit befasst sich Suárez ausführlich in der gesamten dritten Sektion seiner 30. Disputation. Dem Argument, dass eine finalursächliche Erklärung von Gottes Tun dessen Vollkommenheit zuwider liefe, werden wir auch bei Spinoza in Kapitel IV wieder begegnen. „[I]n divina [autem] voluntate non est talis motio metaphorica, sed est eminens quaedam amandi ratio, quae, sicut est sine distinctione actuum vel potentiarum, ita etiam est sine ulla vera motione etiam metaphorica.“ (DM 23§9¶6) „[Secundo declaratur amplius,] quia actus divinae voluntatis, quoad entitatem sibi essentialem ac necessariam, non potest habere ullam veram causam in aliquo genere, quia ut sic est ens per essentiam et omnino independens.“ (DM 23§9¶4) „[N]am illa particula propter, quando Deus dicitur amare se vel alia propter bonitatem suam, non significat veram causam ipsius amoris, sed rationem tantum (ut dixi) voluntatis divinae.“ (DM 23§9¶7) Das zieht natürlich das Problem nach sich, inwiefern man angesichts von Gottes Unveränderbarkeit (die sich unmittelbar aus seiner Vollkommenheit ergibt; vgl. Anm. 82) Gott noch sinnvollerweise frei nennen kann. Aufgrund seiner Unveränderbarkeit scheint er seine Freiheit ja nie ausüben zu können. Suárez entgegnet (in DM 30§16¶32): „Ich antworte kurz, dass die Ausübung der Freiheit in Gott
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wir von Gott sagen, dass er um gewisser Ziele willen tätig ist – z.B. wenn wir sagen, dass Gott die Vögel mit Flügeln ausgestattet hat, damit sie fliegen können? Verfolgt Gott mit seinem Handeln etwa keine Ziele? Um diese Frage zu beantworten, führt Suárez eine weitere Form der Ursache ein: die Exemplarursache (causa exemplaris). Suárez knüpft dabei an die platonische Schöpfungstheorie an, der gemäß der Weltenschöpfer oder Demiurg die Welt nach gewissen Ideen erschafft. Diese Ideen sind nichts anderes als Entitäten in seinem Intellekt, die dem Schöpfer als Archetypen oder Exemplare für die von ihm geschaffenen Dinge dienen.88 So sagt Suárez: „ein Exemplar ist eine Form, welche die Wirkung aus der Intention des Tätigen, der sich auf ein Ziel festlegt, nachahmt.“89 Ideen bzw. Exemplare sind intellektuelle Formen, mit Hilfe derer sich rationale Wesen auf ihre Ziele oder Handlungen festlegen. Wenn ich z.B. einen Kuchen backe, dann geht meine Handlung darauf zurück, dass ich die Idee eines Kuchens habe, nach der ich meine weiteren Körperbewegungen koordiniere. Gelingt mir meine Handlung, dann habe ich einen tatsächlichen Kuchen – eine Wirkung, die meine Idee des Kuchens nachahmt. Insofern diese Idee meine Handlung verursacht, ist sie natürlich auch eine Ursache oder genauer eine Exemplarursache. Auch Gottes Handlungen gehen von Ideen aus. Sie dienen ihm als Archetypen der Schöpfung. Was aber ist eine Exemplarursache? Handelt es sich dabei um eine Ursache sui generis, die neben Material, Form, Final- und Wirkursache einen eigenen Ursachentyp bildet, oder ist sie auf eine der vier klassischen Ursachen reduzierbar? Mittlerweile sollte klar sein, dass die Exemplarursache keine Art der Finalursache sein kann. Denn Suárez ist bereit, Gottes Handeln mit Bezug auf Ideen oder Exemplarursachen zu erklären, während er es ablehnt, dasselbe mit Rekurs auf Finalursachen zu tun. Auch eine Reduktion auf die Materialursache weist Suárez unmittelbar zurück, „da ein Exemplar nichts Potentielles, sondern vielmehr etwas aktual Formales
____________ einmalig ist oder nur einmal stattfindet, freilich in Ewigkeit selbst, in der er zugleich alles außer sich in Erwägung zieht, und dass er ewig bei dem bleibt, zu dem er sich einmal frei entschieden hat. Es wird also die Folgerung abgelehnt, weil es mit einer solchen Ausübung nicht der Unveränderbarkeit widerspricht. Denn diese Ausübung ist so ewig wie die Unveränderbarkeit selbst“. 88 Obwohl sich scholastische Philosophen vor allem an Aristoteles orientierten, griffen sie im Anschluss an Augustin zur Beschreibung der Schöpfungslehre doch auf Elemente der platonischen Ideentheorie zurück. Ein wichtiger Bezugspunkt für die scholastische Ideentheorie war Thomas von Aquin (prominent in STh. I q. 15), auf den sich auch Suárez explizit bezieht. Vgl. zur Geschichte der Exemplarursache vor Suárez Renemann 2010, 17-100. 89 „Exemplar est forma quam effectus imitatur ex intentione agentis qui determinat sibi finem.“ (DM 25§1¶3)
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anzeigt“.90 Suárez lehnt es auch ab, die Exemplarursache als eine Formursache zu bestimmen, da die Form eine intrinsische Ursache von Gegenständen sei, eine Idee aber dem Handlungsprodukt vorausgehe und sich so als extrinsische Ursache auszeichne.91 Darüber hinaus möchte Suárez auch den klassischen Katalog der vier aristotelischen Ursachentypen nicht erweitern. Vielmehr bevorzugt er die Ansicht jener, „die verneinen, dass die Exemplarursache ein eigenes Genus der Ursachen konstituiert, sondern sagen, dass jene zur Wirkursache gehört.“92 Der Grund hierfür liegt in seinem effizient kausalen Handlungs- und Schöpfungsverständnis, dem gemäß ein rationaler Agent „durch den Intellekt und den Willen die Wirkursache der Dinge ist; denn der Intellekt und das Wissen verursachen nichts nach außen hin außer durch eine Idee; also wenn das Wissen ein Prinzip des Bewirkens nach außen hin ist, so ist es auch das Exemplar.“93 Exemplarursachen sind somit keine Ursachen sui generis, sondern mentale Wirkursachen, welche die Tätigkeiten rationaler Substanzen steuern. Im Rückgriff auf die Ideen oder Exemplarursachen lässt sich auch die teleologische Redeweise in Bezug auf Gott rekonstruieren.94 Wir müssen gar nicht leugnen, dass Gott mit seinen Handlungen Ziele verfolgt oder dass Gott die Vögel mit Flügeln ausgestattet hat, damit sie fliegen können. Wir müssen uns nur im Klaren darüber sein, dass wir damit nicht meinen, dass auf Gott irgendein Ziel einwirkt – denn das widerspräche Gottes Vollkommenheit. Der einzig richtige Sinn der Aussage, dass Gott um eines Zieles willen handelt, kann nur darin liegen, dass Gottes Handlungen von Ideen ausgehen, die sein Handeln lenken. Bei Gottes Handlungen sind keine Finalursachen im Spiel, sondern Exemplarursachen. Damit zeigt sich, dass sowohl im Bereich (c) des natürlich Tätigen als auch im Bereich (a) Gottes Finalursachen im strengen Sinne keine Rollen
____________ 90 „quia exemplar neque indicat potentiale quid, sed potius actuale formale“. (DM 25§2¶3) 91 Vgl. DM 25§2¶7. 92 „[Mihi tamen magis probate sententia eorum] qui negant exemplarem causam constituere proprium genus causae, sed illam pertinere dicunt ad causam efficientem.“ (DM 25§2¶8). 93 „[Et propter eamdem causam dicunt Theologi, Deum] esse causam efficientem rerum per intellectum et voluntatem; intellectus enim et scientia non causat ad extra nisi per ideam; ergo si scientia est principium efficiendi ad extra, etiam exemplar.“ (DM 25§2¶12) Dass dies nicht nur für Gott, sondern für alle rationalen Agenten gilt, zeigt sich in DM 25§2¶13. 94 Dass man die teleologische Redeweise auf der Basis von Exemplarursachen rekonstruieren kann, bereitet Suárez einige Schwierigkeiten, da er nun zeigen muss, dass die Exemplarursache keine Form der Finalursache ist. Vgl. DM 25§2¶¶2-3. Auf dieses Problem werde ich im nächsten Abschnitt noch genauer eingehen.
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spielen. Ziele verursachen in diesen beiden Bereichen nichts. Die teleologische Rede in Bezug auf Gott und die Natur, lässt sich somit auch nicht auf Finalursachen zurückführen, sondern beruht allein auf Exemplar- oder mentalen Wirkursachen. Wenn Vögel Flügel haben, damit sie fliegen können, dann ist das nicht deshalb wahr, weil die Fähigkeit des Fliegens (auf finale Weise) verursacht, dass Vögel Flügel haben, sondern einfach deswegen, weil Gott Vögel nach seiner Idee von fliegenden Wesen so geschaffen hat, dass sie fliegen können und sie deshalb mit Flügeln ausgestattet hat.
Teleologie, Exemplar- und Finalursachen Suárez’ Influxus-Theorie der Kausalität stellt die Auffassung von Zielen als Ursachen stark in Frage. Wenn ‚Verursachen’ soviel heißt wie ‚Sein einflößen’, sind Wirkursachen in paradigmatischer Weise Ursachen. Das Wort „Ursache“ wird rhetorisch gesprochen schlicht zu einer Antonomasie für „Wirkursache“.95 Damit scheint es bereits definitorisch ausgeschlossen, dass das Ziel eine eigene Art von Ursache sein kann. Allerdings versucht Suárez zumindest im Bereich geschaffener, rationaler Akteure mit Hilfe seiner Theorie der motio metaphorica an einem genuin kausalen Einfluss von Zielen festzuhalten. Da diese Theorie aber nicht auf die Bereiche Gottes (a) und arationaler Substanzen (c) anwendbar ist, lässt sich auch das Verhalten dieser Substanzen nicht länger als Ausdruck einer finalen Verursachung verstehen. Dennoch möchte Suárez auch in diesen Bereichen an unserer teleologischen Redeweise festhalten. Es kann richtig sein, sowohl das Verhalten natürlich Tätiger als auch Gottes Handlungen teleologisch zu beschreiben und zu sagen, dass sie gewisse Dinge um anderer Dinge willen tun. Da es in diesen Bereichen jedoch keine Finalursachen gibt, kann ihre Angemessenheit allerdings nicht von Finalursachen abhängen. Damit trennt sich für Suárez die göttliche und natürliche Teleologie von Finalursachen.96 Wenn es wahr sein sollte, dass es regnet, damit das Korn wachsen kann, dann nicht deshalb, weil das Wachsen des Korns in einem final-kausalen Akt sui generis auf den Regen einwirkt, sondern einfach deswegen, weil es Gott auf der Grundlage seiner Idee eines Ökosystems so
____________ 95 So betont Suárez selbst: „Man pflegt den Namen ‚Ursache’ manchmal per Antonomasie oder sogar in seiner Hauptbedeutung für die Wirkursache aufzufassen.“ (DM 12§3¶6) 96 In Kapitel IV werden wir Spinoza in gewisser Weise als Nachfolger von Suárez kennen lernen: Er weist die Annahme von Finalursachen als selbstwidersprüchlich zurück und versucht stattdessen (wie Suárez mit Bezug auf natürliche Substanzen auch), der Teleologie von Dingen aufgrund ihrer Essenzen gerecht zu werden.
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eingerichtet hat, dass der Regen das Wachsen des Korns ermöglicht. Der kausale Prozess, der dieser teleologischen Redeweise zugrunde liegt, ist also kein genuin final-kausaler, sondern ein wirkkausaler. Sowohl die zweckmäßige Einrichtung der Welt als auch die zielgerichteten Handlungen Gottes verdanken sich nicht dem Einfluss von Zielen, sondern dem Wirken von Exemplarursachen oder Ideen, d.h. mentalen Wirkursachen Gottes. Aus dieser Möglichkeit der Rekonstruktion der teleologischen Redeweise ohne Rückgriff auf Finalursachen ergibt sich für Suárez allerdings ein systematisches Problem. Es stellt sich nämlich die Frage, warum Suárez überhaupt noch die Existenz von Finalursachen postuliert. Da auch endliche rationale Substanzen auf der Grundlage von Ideen oder Exemplarursachen tätig sind,97 könnte man vermuten, dass sich deren zielgerichtetes Verhalten ebenfalls nur mit Hilfe von Exemplarursachen erklären lassen sollte. Warum also hält Suárez an einer scheinbar explanatorisch wertlosen Finalursache sui generis fest, deren Einfluss überdies noch obskur ist? Darauf lässt sich […] antworten, dass das Ziel nicht zum Tätigen ausgerichtet ist, insofern es das am ehesten Geeignete zum Wirken bestimmt, sondern jenem so Bestimmten vielmehr unterliegt und es bewegt, damit es tätig ist. Und tatsächlich unterliegt das Exemplar nicht vollständig dem Bestimmten hinsichtlich seiner eigentümlichen – d.h. der kunstgemäßen oder intellektuellen – Weise des Tätigseins. Deshalb ist das Ziel als solches auf Wirkungen ausgerichtet gemäß einer gewissen eigentümlichen Weise der Abhängigkeit, die sie von jenem haben, insofern sie wegen ihm bestehen. Das Exemplar aber hat kein eigentümliches Verhältnis per se zur Wirkung, außer nur insofern es die Tätigkeit des Tätigen lenkt oder bestimmt.98
Suárez’ Antwort ist auf den ersten Blick nur schwer verständlich. Man könnte sie aber wie folgt erläutern: Der Grund dafür, dass Finalursachen nicht zugunsten von Exemplar- oder mentalen Wirkursachen aufgegeben werden können, liegt nach Suárez darin, dass das Ziel in der Erklärung einer rationalen Handlung eine andere Rolle spielt als die Exemplarursache. Während das Ziel einen Handelnden durch seine spezifische motiva-
____________ 97 Das führt Suárez in DM 25§1¶¶17-18 aus. Dies spielt insbesondere in Suárez’ Theorie der Produktion von Kunstwerken eine wichtige Rolle, die Renemann 2004 herausgearbeitet hat. Vgl. auch Renemann 2010, 151. 98 „Respondetur […], quia finis non comparatur ad agens, ut constituens illum proxime aptum ad agendum, sed potius supponit illud ita constitutum, et movet ut agat; at vero exemplar non supponit complete constitutum quoad suum peculiarem modum agendi, nimirum artificialem seu intellectualem. Deinde finis ut sic comparatur ad effectus secundum quemdam peculiarem modum dependentiae quem ab illo habent, quatenus propter illum sunt; exemplar autem non habet peculiarem habitudinem per se ad effectum, nisi solum quatenus dirigit vel determinat actionem agentis.“ (DM 25§2¶14)
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tionale Kraft zu seiner Handlung bewegt und damit erklärt, warum ein Akteur eine spezifische Handlung vollzieht, besteht die Funktion der Exemplarursache darin, die Tätigkeit des Tätigen zu lenken oder zu bestimmen. In diesem Sinne ist die Exemplarursache dafür verantwortlich, wie eine spezifische Handlung ausgeführt wird. Das lässt sich anhand eines Beispiels verdeutlichen. Eine Absolventin einer Bildhauerschule hat während ihrer Ausbildung viele verschiedene Statuen kennen gelernt und dementsprechend viele Ideen oder Exemplare von Statuen erworben. Das heißt natürlich nicht, dass sie nach ihrer Ausbildung ständig all ihre mentalen Exemplare oder Ideen von Statuen verwirklicht. Damit die Bildhauerin tatsächlich tätig wird und eines ihrer Exemplare realisiert, muss sie sich vielmehr für eines ihrer Exemplare entscheiden. Wenn sie dies tut, dann richtet sie ihren Willen auf eine ganz bestimmte Statue aus. In dem Moment wird unsere Bildhauerin auf eine spezifisch final-kausale Weise von der Idee eben dieser Statue angelockt, wodurch diese Statue zum Ziel ihres Tuns wird und sie zum Tätigsein bewegt. Die Idee der Statue lenkt und bestimmt die Bildhauerin in ihrem Tun also erst, nachdem sie sich für jene entschieden hat. Exemplare alleine tun nichts. Damit sie etwas tun – nämlich die Handlungen rationaler Akteure lenken –, müssen sich die Akteure zunächst für ein Exemplar entscheiden und entsprechend ihren Willen auf die Realisation eines Exemplars ausrichten. Bei dieser Ausrichtung des Willens auf ein Ziel handelt es sich um eine motio metaphorica und damit um jene eigentümliche Abhängigkeit, von der Suárez in der obigen Passage spricht. Damit ist klar, warum Suárez im Bereich rationaler Agenten an der Finalursache als Ursache sui generis festhält: Die spezifische Erklärungsleistung von Finalursachen kann nicht von Exemplarursachen übernommen werden, wie oben vermutet. Exemplarursachen alleine erklären zwar, was und wie Menschen tun, wenn sie etwas tun. Sie erklären aber nicht, warum Menschen überhaupt etwas tun. Das hängt nämlich davon ab, wofür sich Menschen entscheiden oder auf welches Ziel sich Menschen ausrichten. Diese Ausrichtung des Willens, die dafür verantwortlich ist, dass Menschen überhaupt etwas tun, geht als motio realis vom Willensvermögen oder als motio metaphorica von einer Finalursache aus – nicht aber von der Exemplarursache.99 Dies verhält sich bei Gott anders. Da er ein perfektes und damit unveränderliches Wesen ist, vollzieht sich sein Willensakt nicht in einer mo-
____________ 99 Wie Renemann 2010, 131, ausführt, besteht ein weiterer Unterschied zwischen Exemplar- und Finalursachen darin, dass Ziele ihre Wirkungen unter dem Aspekt des moralisch Guten hervorbringen, nicht aber die Ideen: Diese lenken die Ausführungen des Künstlers lediglich gemäß den Maßstäben der Kunstfertigkeit.
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tio, auch nicht in einer metaphorischen. „Die Ausübung“ von Gottes freiem Willen, so führt Suárez aus, „ist so ewig wie die Unveränderbarkeit selbst; und obwohl alles gleichzeitig stattfindet, geht die freie Bestimmung selbst in der begrifflichen Ordnung doch voraus, und aufgrund derselben begrifflichen Ordnung geht die Indifferenz des Willens – oder besser: des göttlichen Wollens – der freien Bestimmung selbst voraus.“100 In Gott finden Erkenntnis, Abwägung verschiedener Handlungsoptionen und die Entscheidung für eine dieser Optionen alle gleichzeitig statt und stehen lediglich in einem begrifflichen, nicht aber in einem kausalen und damit insbesondere final-kausalen Zusammenhang. Mithin gibt es nichts in Gott, was mit Hilfe von Finalursachen erklärt werden könnte. „Denn Gott hat keine Finalursache“.101 Es bleibt also dabei: In Bezug auf Gott und natürlich Tätige gibt es keine finale Verursachung. Dennoch kann die teleologische Rede in diesen Bereichen ohne Rekurs auf Finalursachen mit einem Hinweis auf Exemplar- oder mentale Wirkursachen rekonstruiert werden. Der einzige Bereich, in dem sich in korrekter Weise von finaler Verursachung sprechen lässt, ist der Bereich geschaffener, rationaler Agenten, da man ihre Willensausbildung metaphorisch als Anziehung des Willens durch ein Ziel beschreiben kann. Finale Verursachung erweist sich somit für Suárez als ein irreduzibles Epiphänomen der Willensausbildung rationaler Akteure.
Theo-teleologische Probleme Exemplarursachen geben Suárez die theoretischen Ressourcen an die Hand, natürliche Phänomene und Gottes Schöpfung teleologisch zu erklären, ohne dabei auf Finalursachen rekurrieren zu müssen. Das erspart ihm mindestens zwei Probleme: Erstens kann er sich damit dem psychologischen Finalursachenverständnis seiner Tradition anschließen und im Einklang mit Thomas’ cognitio-Bedingung behaupten, Ziele könnten nur dann zu Finalursachen werden, wenn sie erkannt werden. Denn insofern zweckmäßige Zusammenhänge in der Natur mit Hilfe von Exemplarursachen – und das heißt: mit Hilfe der Formen der Gegenstände in Gottes Geist – erklärt werden können, müssen in diesem Bereich gerade keine Finalursachen und folglich auch keine absurden Erkenntnisfähigkeiten der
____________ 100 „[T]am perpetuus est hic usus sicut ipsa immutabilitas, et, quamvis simul duratione sint, ipsa tamen determinatio libera ordine rationis antecedit et ipsam determinationem liberam antecedit eodem rationis ordine indifferentia voluntatis, seu potius volitionis divinae.“ (DM 30§16¶32) Siehe auch Anm. 82 und 87. 101 „[Q]uia Deus non habet causam finalem“ (DM 30§16¶35).
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teleologisch erklärten Dinge postuliert werden. Zweitens vermeidet Suárez damit nach eigener Einschätzung das theologische Problem, dass ein finalursächlicher Einfluss in Gott seiner Vollkommenheit und damit verbundenen Unveränderbarkeit widerstreben würde. Leider wirft Suárez’ Strategie, teleologischen Erklärungen im Bereich Gottes und natürlicher Tätigkeiten ohne Finalursachen nach zu kommen, aber auch eine Reihe von Problemen auf. (1) Erstens enthält sie eine Spannung, über die ich bisher großzügig hinweggegangen bin. Wie nämlich ein genauer Blick auf Suárez’ Versuch, die Zielgerichtetheit natürlicher Tätigkeiten auf Gottes Einrichtung zurückzuführen, zeigt, spricht Suárez auch in diesem Kontext von Finalursachen. So schreibt er explizit, es sei richtig anzunehmen, „dass die Tätigkeiten natürlich Tätiger wegen eines Zieles bestehen und dass sie von einer Finalursache hervorgebracht worden sind“, und präzisiert: „Nicht aber, sofern sie genau von den natürlich Tätigen herrühren, sondern sofern sie gleichzeitig vom ersten Tätigen ‹ausgehen›, der in allem und durch alles wirkt.“102 Suárez geht also entgegen meiner obigen Rekonstruktion davon aus, dass die Tätigkeiten natürlicher Substanzen aufgrund von Finalursachen – nämlich Gottes Finalursachen – eine teleologische Struktur aufweisen. Angesichts seiner Argumente, dass Gott aufgrund seiner Vollkommenheit keiner finalen Verursachung unterliegen könne, irritiert diese These. Wie soll die Zweckmäßigkeit natürlicher Prozesse Gottes Finalursachen geschuldet sein, wenn Gott gar keine Finalursachen hat? (2) Hier schließt sich ein zweites Problem an, das wir bereits bei Thomas angetroffen haben. Selbst wenn man nämlich die Zweckmäßigkeit natürlicher Dinge mit Rekurs auf Gottes Finalursachen erklären können sollte, stellt sich die Frage, inwiefern eine solche Erklärung der immanenten Teleologie dieser Dinge gerecht würde. Denn wenn die Zwecke natürlicher Dinge von den Absichten Gottes abhängen, scheinen diese Zwecke diesen Dingen genauso äußerlich zu sein, wie die Zwecke von uns erschaffener Artefakte jenen äußerlich sind. Das macht eine theologische Begründung intrinsischer Teleologie prima facie unbefriedigend. (3) Drittens erweist sich auch Suárez’ Ablehnung der Annahme echter Finalursachen in Bezug auf Gott als problematisch. Denn wie im letzten Abschnitt gesehen, stellen sich Finalursachen zur Erklärung menschlicher Handlungen deshalb als unverzichtbar – und nicht etwa durch Exemplarursachen ersetzbar – heraus, weil nur mit Hilfe von Finalursachen erklärt werden kann, warum sich Menschen aus freien Stücken zu diesen, und nicht vielmehr zu jenen Handlungen entscheiden. Da nun Suárez im Einklang mit der christlichen Tradition auch Gott als ein freies Wesen konzi-
____________ 102 DM 23§10¶5, meine Hervorhebung; für den lateinischen Text siehe Anm. 79.
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piert, das sich freiwillig zu seiner Schöpfung entscheidet, stellt sich unmittelbar die Frage, warum diese Schöpfung nicht ebenfalls mit Rekurs auf Finalursachen erklärt werden können sollte. Schließlich läge es doch nahe, Gottes Entscheidung für die Schöpfung dieser Welt damit zu erklären, dass er die Erschaffung dieser Welt attraktiver oder besser fand als die Realisierung anderer möglicher Welten oder auch gar keiner Schöpfung. Warum hält Suárez diese Erklärung für unzulässig? Und wie lässt sich Gottes freie Bestimmung zum Schöpfungsakt stattdessen erklären? (Ad 1) Kommen wir zunächst zur Frage, wie sich Suárez’ Zurückführung natürlicher Zweckmäßigkeiten auf göttliche Finalursachen mit seiner Ablehnung von Finalursachen im Bereich Gottes verträgt. Man möchte dieses Problem vielleicht wegerklären, indem man Suárez’ Rede von Gottes Finalursachen in dieser Passage für nicht ganz wörtlich deklariert: Suárez denke hier eigentlich an die Exemplarursachen, mit Bezug auf die Gottes zielgerichtetes Tun erklärt werden kann. Doch dieser Ausweg erscheint mir unbefriedigend. Zum einen weil die Sektion über Finalursachen im Bereich des Natürlichen unmittelbar auf die Sektion der Finalursachen im Bereich Gottes folgt, weshalb Suárez die Schwierigkeiten, die sich mit der Rede von göttlichen Finalursachen verbinden, vor Augen gehabt und sie deshalb nicht einfach leichtsinnig verwendet haben dürfte. Zum anderen weil Suárez die Rückführung natürlicher Teleologie auf göttliche Finalursachen wiederholt, wie ein zweiter Blick auf die oben bereits zitierte Passage verrät: Und so kommt es, dass es bei diesen Tätigkeiten, sofern sie zu natürlich Tätigen gehören, keine eigentümliche Kausalität des Ziels gibt, sondern allein eine Disposition zu einem gewissen Ende. Insofern sie aber zu Gott gehören, so gibt es in ihnen eine Kausalität des Ziels, wie es sie in den anderen externen und transeunten Tätigkeiten Gottes gibt.103
Auch hier verweist Suárez explizit auf eine Kausalität des Ziels, die in Gottes Tätigkeiten zu finden sei. Gleichzeitig qualifiziert er diese Tätigkeit aber auch als extern und transeunt, was als Hinweis auf eine Lösung des oben geschilderten Problems dienen kann. Denn damit lässt sich argumentieren, dass lediglich die internen und immanenten Akte Gottes – wie seine Willensentschlüsse und Entscheidungen – keiner Finalursache unterlägen, nicht aber seine externen und transeunten Tätigkeiten.104 Und genau das sagt Suárez:
____________ 103 DM 23§10¶6; vgl. Anm. 80. 104 Suárez charakterisiert transeunte und immanente Tätigkeiten in DM 43§2¶1 wie folgt: „An dieser Stelle nennen wir jene Tätigkeit transeunt, welche die Wirkung außerhalb des Tätigen selbst hat, sei sie selbst sogar außerhalb ‹des Tätigen›, oder nicht […]. Umgekehrt aber nennen wir jene Tätigkeit immanent, die keine
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Obwohl die Finalursache ihre Wirkungen nicht eigentlich verursacht, wenn nicht vermittels eines Tätigen, den sie zum Tätigsein bewegt und anzieht, ist es dafür, dass das Ziel eine eigentliche Ursache der Wirkung eines Tätigen ist, trotzdem nicht notwendig, dass es vorher im Tätigen selbst irgendeine eigentümliche Kausalität gibt. Denn dies trifft zwar in Bezug auf geschaffene geistig Tätige zu, insofern sie sich unmittelbar selbst durch eine reale Bewegung und eigentümliche Kausalität zum Tätigsein oder Lieben bewegen oder hinwenden. Aber dennoch ist dies für den ungeschaffen geistig Tätigen nicht notwendig, weil dieser sich ohne Selbst-Bewegung oder reales Hinzufügen, ohne Abhängigkeit oder Kausalität auf einfachste und hervorragendste Weise zum freien Lieben und Tätigsein hinwendet oder (sozusagen) bestimmt.105
In rationalen Geschöpfen brauchen Finalursachen für ihren eigentlichen Einfluss eine Art Katalysator; und der besteht im Willen des Tätigen, den sie anziehen. In Bezug auf Gottes Tätigkeiten sei dies nicht notwendig. Denn Gott bestimmt sich ganz allein, „ohne Abhängigkeit oder Kausalität auf einfachste und hervorragendste Weise zum freien Lieben und Tätigsein“. Allerdings fragt man sich nun, was Finalursachen hier überhaupt noch für eine Rolle spielen sollen. Schließlich gehen Gottes Tätigkeiten ja gerade nicht auf einen Einfluss von Finalursachen zurück, sondern sind schlicht Ausdruck seiner freien Liebe. Worin besteht denn diese eigentümliche finale Kausalität, die es mit Bezug auf Gottes externe Tätigkeiten geben soll? Suárez schreibt: Die Kausalität des Ziels von Gott hinsichtlich der Wirkungen nach außen besteht darin, dass Gott in der Schau und Liebe seiner Güte, die Wirkungen außerhalb von sich hervorbringt. Daher hängt die Tätigkeit selbst, die nach außen stattfindet, wesentlich von Gott ab: Zum einen in der Hinsicht des Wirkenden, zum andern auch in der Hinsicht des Ziels, weil sie auf Gott als Allmächtigen und höchst Guten Rücksicht nimmt, der aufgrund seiner Güte würdig ist, dass alles auf ihn selbst als Ziel hingeordnet ist, und sich selbst auf erwähnte herausragende Weise dazu hinneigt, dem anderen seine Güte um ihrer selbst willen mitzuteilen.106
____________ Wirkung außerhalb des Tätigen hat, von der unkontrovers ist, dass sie im Tätigen selbst stattfindet.“ 105 „[L]icet causa finalis non causet proprie effectus suos nisi quodammodo medio agente quod movet et allicit ad operandum, tamen, ut finis sit propria causa effectus agentis, necessarium non est ut prius habeat in ipso agente aliquam causalitatem propriam. Nam, licet hoc contingat in agentibus intellectualibus creatis, eo quod immediate ipsa se movent seu applicant ad operandum vel amandum per aliquam realem motionem et propriam causalitatem, tamen, in agente intellectuali increato id non est necessarium, quia sine ulla sui mutatione vel reali additione, dependentia aut causalitate, simplicissimo et eminentissimo modo sese applicat (ut ita dicam) seu determinat ad libere amandum et operandum.“ (DM 23§9¶9) 106 „Consistit autem causalitas finalis Dei respectu effectuum ad extra in hoc quod Deus, intuitu et amore suae bonitatis, effectus extra se producit; unde, ipsamet
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Gottes externe Tätigkeiten wie seine Erschaffung und Bewahrung der Welt haben deshalb eine Finalursache, weil sie Ausdruck einer reflexiven Tätigkeit sind: Gott bringt seine Wirkungen außerhalb von sich durch die Schau und Liebe seiner eigenen Güte hervor. Da nun Gottes externe Tätigkeiten daraus hervorgehen, dass Gott sich in seiner Liebe auf sich selbst bezieht, zielen auch diese Tätigkeiten wieder auf Gott selbst ab. Damit ist Gott sowohl die Wirk- als auch die Finalursache dieser Tätigkeiten. Mithin weisen die natürlichen Veränderungen deshalb eine teleologische Struktur auf, weil sie letztlich auf den gütigen Gott hingeordnet sind, der sie in einem reflexiven Akt in der Schau und Liebe seiner Güte hervorgebracht hat und in Existenz bewahrt. „Und deshalb sagt man, dass die natürlich Tätigen nicht so sehr wegen eines Zieles tätig sind, als dass sie vielmehr von einem übergeordnet Tätigen auf ein Ziel ausgerichtet werden.“107 (Ad 2) Dies führt geradewegs zum zweiten oben aufgeworfenen Problem. Denn wenn die Teleologie im Bereich des Natürlichen allein darauf zurückgeht, dass eben dieser Bereich das Produkt einer externen Tätigkeit Gottes ist, als deren Finalursache selbst wieder Gott fungiert, dann ist diese natürliche Teleologie allein in einer teleologischen Ordnung des gesamten Kosmos begründet. Folglich können einzelne natürliche Geschehnisse nur insoweit als zweckmäßig beschrieben werden, als sie Teil einer zweckmäßig eingerichteten Schöpfung sind. Mithin scheint es, als wäre ihnen jede Teleologie äußerlich und als entbehrten sie nicht nur einer immanenten, sondern auch einer intrinsischen Teleologie. Dieses Ergebnis wäre für Suárez’ aristotelische Bewegungskonzeption jedoch verheerend. Denn wie im letzten Kapitel gesehen, sind aristotelische Bewegungen oder Tätigkeiten final charakterisiert: Jede Bewegung hat, insofern sie die Bewegung ist, die sie ist, ein natürliches Ende – d.h. etwas, in Bezug auf das sie als abgeschlossen oder abgebrochen beurteilt werden kann. Und dieses natürliche Ende kommt ihr immanent zu; es macht sie gleichsam zu der Bewegung, die sie ist. Wie Suárez unmissverständlich klar stellt, schließt auch er sich diesem Bewegungsverständnis an, und betont, dass Tätigkeiten final charakterisierte Entitäten sind:
____________ operatio quam ad extra habet, essentialiter pendet a Deo tum in ratione efficientis, tum etiam in ratione finis, quia respicit Deum et ut omnipotentem et ut summe bonum, qui ratione suae bonitatis, et dignus est ut omnia ad ipsum ut ad finem ordinentur, et seipsum dicto eminenti modo inclinat ad communicandam aliis suam bonitatem propter ipsam.“ (DM 23§9¶9) 107 „Et ideo ipsa agentia naturalia non tam dicuntur operari propter finem, quam dirigi in finem a superiori agente.“ (DM 23§10¶5)
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Ich sage nämlich über die intrinsische Bestimmung der Tätigkeit als solcher und das Sein jeder Tätigkeit, dass sie ein intrinsisches Ende hat, zu dem sie hinstrebt, als das, was durch sie selbst produziert werden muss, und folglich dass ‹ihr› essentieller und vollständiger Begriff die transzendentale Ausrichtung zu einem derartigen Ende beinhaltet.108
Da auch natürliche Tätigkeiten oder Prozesse Tätigkeiten sind, müssen sie essentieller Weise ein eigenes oder intrinsisches Ende haben, in Bezug auf das ihr Verlauf als erfolgreich oder gescheitert beurteilt werden kann. Aber das bestreitet Suárez auch gar nicht. So meint er, dass es von den Tätigkeiten natürlicher Substanzen „mehr als gewiss und klar sei, dass gewisse Tätigkeiten nicht zufällig und kontingent ausgeführt werden, sondern dass ein jedes natürlich Tätige aus der Neigung seiner eigenen Natur eine bestimmte Funktion und Funktionsweise hat, und ein gewisses Ende, zu dem es durch seine Funktion hinstrebt.“109 Doch da eben diese Neigung oder Disposition natürlich Tätiger, ganz bestimmte Tätigkeiten zu vollziehen, allein aus deren eigener Natur folgt, handelt es sich um nichts, was auf Finalursachen zurückginge. „Und so kommt es, dass es bei diesen Tätigkeiten, sofern sie zu natürlich Tätigen gehören, keine eigentümliche Kausalität des Ziels gibt, sondern allein eine Disposition zu einem gewissen Ende.“110 Da die immanente Ausrichtung natürlicher Substanzen und deren Tätigkeiten auf ein spezifisches Ende ihrer Natur oder Essenz geschuldet ist, muss diese Ausrichtung nicht mit Hilfe von Finalursachen erklärt werden. Suárez verzichtet also darauf, die immanente Teleologie natürlicher Tätigkeiten mit Bezug auf Finalursachen zu erklären. Dass Substanzen dazu neigen, ganz bestimmte Tätigkeiten mit einem ganz spezifischen Ende zu vollziehen, ist einfach ein Ausdruck ihrer Essenz oder Natur. Entsprechend verstrickt sich Suárez auch nicht in das Problem, in das wir im letzten Kapitel Thomas von Aquin sich verfangen sahen. Da Thomas die finale Ausrichtung von Substanzen in Begriffen der Finalursache verstehen wollte, gleichzeitig aber von der cognitio-Bedingung ausging und meinte, dass etwas nur dann um eines Zieles willen tätig sein könne, wenn es eine Er-
____________ 108 „Dico enim de ratione intrinseca actionis ut sic et omnis actionis esse ut habeat intrinsecum terminum ad quem tendat, ut producendum per ipsam, et consequenter in essentiali et completo conceptu actionis includi transcendentalem respectum ad huiusmodi terminum.“ (DM 43§2¶16) 109 „De quibus praeterea certum et clarum est non casu aut contingenter certas actiones operari, sed unumquodque agens naturale ex propensione propriae naturae habere definitam operationem, et operandi modum, ac certum terminum in quem per suam operationem tendit.“ (DM 23§10¶3) 110 „Atque ita fit ut in his actionibus, ut sunt a naturalibus agentibus, non sit propria causalitas finalis, sed solum habitudo ad certum terminum“. (DM 23§10¶6)
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kenntnis dieses Zieles hat, musste er argumentieren, dass Gott die einzelnen Substanzen auf ihre intrinsischen Ziele festlegt. Damit verspielte er sich die Option, die Naturteleologie als immanente oder nicht-derivative zu verstehen. Wenn Thomas an anderen Stellen doch behauptet, dass diese intrinsischen Zwecke den natürlichen Substanzen wesentlich zukommen – wohl aus dem Grund, dass unklar ist, woran außer der Essenz eines Dinges es liegen könnte, dass ein Zweck ein eigener ist –, so droht er sich damit in einen Widerspruch zu verfangen: Vor dem Hintergrund der intellektualistischen Annahme, dass Gott die Essenzen der Dinge lediglich erkennen und nicht eigens bestimmen kann, ist nämlich die Rede davon, dass Gott die Essenz oder Natur der Dinge auf etwas festlegt, schlicht unsinnig. Auch Suárez teilt er Thomas’ Annahme, dass Gott durch die notwendigen Wahrheiten gebunden ist, also die ewigen und notwendig wahren Sätze lediglich erkennt, und diese nicht willkürlich erschafft.111 So schreibt er über notwendige Sätze: Wiederum sind jene Sätze auch nicht war, weil sie von Gott erkannt werden, sondern sie werden vielmehr deshalb von Gott erkannt, weil sie wahr sind, andernfalls könnte man keinen Grund angeben, warum Gott erkennen würde, dass sie wahr sind. Denn wenn ihre Wahrheit aus Gott käme, so geschähe dies durch den Willen Gottes, weshalb sie nicht mit Notwendigkeit kämen, sondern willkürlich.112
Da diese Wahrheiten auf Verbindungen zwischen Essenzen bestehen, kann Gott also auch nicht die Essenzen der Dinge bestimmen oder festlegen. Damit ist die immanente Teleologie natürlicher Dinge auch nicht dadurch bedroht, dass Gott diese Dinge gemäß einer Idee oder Exemplarursache so geschaffen hat, dass sie eine immanente Neigung oder Disposition zu einem gewissen Ende aufweisen. Denn nur dadurch, dass er sie aufgrund
____________ 111 Über die Frage nach dem Status der ewigen Wahrheiten in Suárez gibt es eine rege Forschungsdebatte. So hat etwa N. Wells 1981a und 1981b die konzeptualistische Position vertreten, wonach die ewige Wahrheit essentieller Aussagen in Gottes Geist begründet seien, während A. Maurer 1970 und J. P. Doyle 1967 für eine realistische Interpretation plädierten, der zufolge ihre Wahrheit der von Gott unabhängig existierenden Essenzen geschuldet sei. Wie A. D. Karofsky 2001 allerdings überzeugend ausführt, sind beide diese Deutungen nicht haltbar, da Suárez eine Mittelposition des göttlichen Realismus vertritt, nach der die Essenzen der Dinge in der Essenz Gottes begründet sind. 112 „Rursus neque illae enuntiationes sunt verae quia cognoscuntur a Deo, sed potius ideo cognoscuntur quia verae sunt, alioqui nulla reddi posset ratio cur Deus necessario cognosceret illas esse veras; nam, si ab ipso Deo proveniret earum veritas, id fieret media voluntate Dei; unde non ex necessitate proveniret, sed voluntarie.“ (DM 31§12¶40) Dem Gedanken, dass Ergebnisse einer freien Wahl nicht als notwendig angesehen werden können, werden wir bei Leibniz in Kapitel V wieder begegnen.
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eines Exemplars so geschaffen hat, dass sie eine immanente Ausrichtung auf ein gewisses Ziel aufweisen, hat er sie nicht auf dieses Ende festgelegt. Wie Suárez am Beispiel des Exemplars des Menschen klar stellt, müssen sich Gottes Ideen von Objekten nämlich nach den essentiellen oder notwendigen Eigenheiten dieser Objekte richten, und nicht umgekehrt. Denn für das göttliche Exemplar selbst ist es notwendig, den Menschen als rationales Lebewesen zu repräsentieren, und es könnte jenen nicht mit einer anderen Essenz repräsentieren, was allein daher rührt, dass der Mensch keine andere Essenz haben kann, denn gerade das, was eine andere Essenz hat, ist schon kein Mensch mehr. Daher stammt diese Notwendigkeit aus dem Objekt selbst, und nicht aus dem göttlichen Exemplar.113
Anders als Thomas führt Suárez die intrinsische Teleologie natürlicher Dinge ausschließlich auf deren Natur oder Essenz zurück. Das erspart ihm den Bezug auf Finalursachen, was ihn vor dem Hintergrund der cognitioBedingung vor dem Problem bewahrt, in das Thomas zu schlittern droht, wenn er sich auf die Behauptung festlegt, Gott habe die Essenzen dieser Ding im Wissen um ihre Ziele auf eben diese ausgerichtet. Mithin vermeidet er auch Thomas’ Schwierigkeit mit der immanenten Teleologie natürlicher Dinge: Da Feuer eine immanente Disposition zum Brennen hat und Flügel die immanente Funktion des Fliegens haben, könnte nicht einmal Gott ein Feuer wollen, das kein Vermögen zur Entzündung brennbarer Materialen hat, bzw. Flügel, die nicht die Funktion haben, dem Vogel das Fliegen zu ermöglichen. Gott kann nicht bestimmen, welche Essenzen die Dinge haben. Er kann höchstens auswählen, welche der vielen möglichen Dinge tatsächlich existieren sollen. (Ad 3) Das führt sogleich zum dritten Problem. Weshalb sind Finalursachen angesichts des Umstandes, dass sich Gott für die Erschaffung einiger möglicher Dinge auf Kosten anderer entscheiden muss, tatsächlich verzichtbar? Was spricht dagegen, Gottes Entscheidung zur Realisierung dieser Exemplare im Gegensatz zu andern, ebenfalls realisierbaren Exemplaren nicht genau gleich zu erklären, wie ich im letzten Abschnitt die freie Entscheidung der Bildhauerin für ihre Statue erklärt habe? Warum kann man nicht einfach darauf verweisen, dass Gott einige der möglichen Dinge schlicht attraktiver oder besser erscheinen als andere? Die Antwort auf diese Fragen ist bereits hinlänglich bekannt. Sie lässt sich nur wiederholen: Nach Suárez ist eine finalursächliche Erklärung der göttlichen Entschei-
____________ 113 „Nam ipsummet divinum exemplar habuit hanc necessitatem repraesentandi hominem animal rationale, nec potuit illum alterius essentiae repraesentare, quod non aliunde provenit nisi quia non potest homo esse alterius essentiae, nam, hoc ipso quod sit res alterius essentiae, iam non est homo; ergo ex obiecto ipso et non ex exemplari divino provenit haec necessitas […].“(DM 31§12¶46)
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dung zur Schöpfung nicht möglich, weil ein echter Einfluss der Finalursache in einer motio metaphorica besteht, die immer mit der realen Ausbildung des Willens einhergeht, die es in Gott als perfektem Wesen gerade nicht geben kann. Das macht zwar Suárez’ Ablehnung, Gottes Entscheidung zur Schöpfung mit Hilfe von Finalursachen zu erklären, verständlich. Gleichzeitig fragt man sich aber, inwiefern Suárez überhaupt noch daran festhalten kann, dass sich Gott als vollkommenes und damit unveränderliches Wesen für etwas entscheiden kann. Ist das nicht geradezu inkonsistent? Schon im letzten Abschnitt haben wir Suárez’ Lösung dieses Problems kennen gelernt. Die Ausübung der göttlichen Freiheit sei deshalb mit seiner Unveränderbarkeit kompatibel, weil diese Ausübung genauso ewig sei wie seine Unveränderbarkeit selbst. Doch ist diese Lösung befriedigend? Es mag ja sein, dass sich Gott gleichsam immer schon entschieden hat. Aber wenn Gott in seiner Entscheidung tatsächlich frei ist, dann sollte – wie Suárez selbst betont – zumindest in der „begrifflichen Ordnung […] die Indifferenz des Willens – oder besser: des göttlichen Wollens – der freien Bestimmung selbst voraus‹gehen›.“114 Allerdings scheint genau diese Forderung nicht erfüllbar. Es erscheint nämlich begrifflich ausgeschlossen, dass ein unveränderliches Wesen von einem indifferenten zu einem bestimmten Willen übergehen kann, ohne dabei einen Übergang oder eine Veränderung zu vollziehen. Wie also ist Gottes freies Entscheidungsvermögen mit seiner Vollkommenheit in Einklang zu bringen? Genau diese Frage untersucht Suárez in der Sektion 9 seiner 30. Disputation ausführlich. Er kommt dabei aber zu einem eher ernüchternden Ergebnis: Aus dem, was bezüglich dieser Meinungen gesagt worden ist, ist (wie ich meine) hinreichend klar, wie groß die Schwierigkeit dieser Frage ist, und dass es einfacher ist, jeden beliebigen Teil ‹von ihr› anzufechten, als irgendeinen gut zu verteidigen oder zu erklären. Deswegen scheue ich mich nicht einzugestehen, dass mir nichts einfällt, was mich befriedigt, außer dass in solchen Angelegenheiten nur dies von Gott zu glauben ist, was seiner unaussprechlichen Vollkommenheit am meisten angemessen ist und was aller Unvollkommenheit fremd ist, auch wenn wir nicht nachvollziehen können, wie dies Gott angemessen ist.115
____________ 114 Vgl. DM 30§16¶32; der lateinische Text ist in Anm. 100 zitiert. 115 „Ex his quae circa has opiniones dicta sunt satis (ut opinor) declaratum est quanta sit huius quaestionis difficultas, faciliusque esse quamlibet eius partem impugnare quam aliquam probe defendere aut explicare. Quapropter non vereor confiteri nihil me invenire quod mihi satisfaciat, nisi hoc solum, in huiusmodi rebus id de Deo esse credendum quod ineffabili eius perfectioni magis sit consentaneum quodque ab omni imperfectione alienum sit, etiamsi modum quo id Deo conveniat non assequamur […].“ (DM 30§9¶35)
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Dass Gott frei ist und entsprechend seine Freiheit auch ausübt und sich aus freien Stücken für seine Taten entscheidet, ist nicht nur aus der heiligen Schrift bezeugt – wie Suárez (in DM 30§9¶4) mit Verweis auf zahlreiche Bibelstellen belegt –, sondern ergibt sich schon daraus, dass es sich bei dem freien Entscheidungsvermögen um eine Perfektion handelt, die Gott als vollkommenem Wesen nicht fehlen darf.116 Entsprechend ist davon auszugehen, dass Gottes Freiheit seiner „unaussprechlichen Vollkommenheit am meisten angemessen ist […], auch wenn wir nicht nachvollziehen können, wie“. An späterer Stelle meint Suárez sogar, es handle sich hier um ein „Mysterium“.117 Dieses Mysterium besteht darin, dass der göttliche Wille auf der einen Seite als Vermögen Gottes, der reiner Akt (actus purus) ist, immer schon realisiert ist, es auf der anderen Seite aber „dennoch in seiner Hand liegt, durch diesen Akt irgendein Objekt, das ihn bestimmen kann, zu wollen oder nicht zu wollen“.118 So etwas wäre mit Bezug auf endliche Akteure unvorstellbar. Nicht aber mit Bezug auf Gott, wie Suárez ausführt. ‹Hier nämlich› ist zu verstehen, dass das göttliche Wollen, weil es weder eine informierende Form noch ein aktualisierender Akt, sondern reinster Akt ist, den Wollenden auf höhere Weise konstituiert und Objekte berührt ‹– und zwar› mit einer gewissen eminenten Macht, sekundäre Objekte zu berühren oder nicht zu berühren, ohne dass sich in seinem Akt keine Veränderung oder reale Hinzufügung ereignete.119
In Gott ist also alles ein bisschen anders. Aufgrund seiner Vollkommenheit und seiner alles überragenden Macht, ist es ihm möglich, seinen immer schon aktualisierten Willen an seiner Wirksamkeit zu hindern. Damit steht es ihm immer auch frei, ob er mit Hilfe seines Willens die zu erschaffenden Objekte auch berührt – und damit erschafft, oder eben nicht.120
____________ 116 „Man muss sagen, dass mit evidentem Grund bewiesen werden kann, dass Gott die Dinge außer sich, absolut und einfach gesprochen, auf freie Weise will, und dass die entgegengesetzte Ansicht – d.h. dass Gott mit Notwendigkeit der Natur außerhalb seiner handelt – nicht nur ein Fehler des Glaubens, sondern gegen die natürliche Vernunft ist.“ (DM 30§16¶25) 117 Siehe DM 30§9¶38. 118 „et nihilominus sit in manu eius velle aut non velle per illum actum aliquod obiectum ad quod potest terminari“ (DM 30§9¶38). 119 „[D]ivinum velle, quia non est forma informans, neque actus actuans, sed actus purissimus, altiori modo intelligendum est constituere volentem, et attingere obiecta cum eminenti quadam potestate ad attingendum vel non attingendum secundaria obiecta, nulla in ipso actu mutatione vel reali additione facta.“ (DM 30§9¶38) 120 Hier könnte man fragen, warum Suárez diese Objekte „sekundär“ nennt, und was entsprechend die primären Objekte seines Willens wären. Eine mögliche Antwort
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Wichtig ist jedoch, dass sich all das in Gott ohne zusätzlichen Akt, „keine Veränderung oder reale Hinzufügung“ ereignet. Gott ist reiner Akt und damit unveränderlich und ewig. Suárez zweifelt also nicht daran, dass sich Gott frei und ohne realen Akt für seine Schöpfung entscheidet, obschon er eingesteht, dass es zumindest für uns nicht nachvollziehbar ist, wie er dies tut. Entsprechend gibt es auch nichts an der bereits mehrfach getroffenen Feststellung zu rütteln, dass Gottes Entscheidung mit keiner realen Bewegung und folglich auch keiner metaphorischen einhergeht. Mithin lässt sich Gottes Entscheidung auch nicht durch Finalursachen erklären. Aber wie sonst? Da Gott frei ist, stellt sich automatisch die Frage, warum sich Gott so entschieden hat, wie er sich entschieden hat. Man fragt sich, „warum er diese Welt, und keine andere erschaffen hat; oder in dieser Größe, und nicht in einer größeren; oder jetzt, und nicht früher, wenn man annimmt, er hätte sie nicht von Ewigkeit her erschaffen, wie es der Glaube lehrt und wir genügend aus der Vernunft zu beweisen glauben“. Wie Suárez allerdings klar stellt, „kann von all diesen und ähnlichen Fällen keine Erklärung gegeben werden, wenn Gott mit Notwendigkeit gemäß seiner ganzen Macht tätig ist – es sei denn, man geht davon aus, dass diese Macht begrenzt und endlich ist, ‹und zwar› hinsichtlich ihrer möglichen Wirkungen in Bezug auf Mannigfaltigkeit, Größe und anderen Umständen.“121 Die Frage, warum Gott diese Welt, und keine andere erschaffen hat, lässt sich nach Suárez also nur erklären, wenn man unterstellt, dass Gottes Macht begrenzt ist, und behauptet, Gott könnte in Tat und Wahrheit gar keine andere Welt erschaffen.122 Das aber wäre für Suárez mit Gottes Allmacht unvereinbar.
____________ ergibt sich aus dem Umstand, dass Gottes Schöpfung nach Suárez, wie oben gesehen, gleichsam ein Beiprodukt seiner reflexiven Liebe ist. Mithin liegt die Interpretation nahe, dass Gott primär sich selbst will, und dabei indirekt oder sekundär, einige in seiner Essenz enthaltenen möglichen Dinge will. Dadurch dass er diese so genannt sekundären Objekte seines Willens durch diesen Willen berühren lässt, erschafft er sie. 121 „[I]nterrogando cur crearit hunc mundum et non alium, vel in hac quantitate et non maiori, vel nunc et non antea, supposito quod non produxit ab aeterno, ut fides docet et sufficienter probari credimus ratione, saltem quoad motum caeli et successiones generationum, ut in superioribus attigimus. Nam horum omnium et similium ratio reddi non potest, si Deus ex necessitate operatur secundum totam potentiam suam, nisi ponendo illam potentiam limitatam et finitam quoad effectus sibi possibiles, tam in multitudine quam in magnitudine et aliis circumstantiis.“ (DM 30§16¶27) 122 In der Tat übergeht Suárez hier eine systematische Position, die Spinoza später einnehmen wird: Sie besteht im Nezessitarismus, d.h. in der Annahme, dass es nur eine mögliche Welt gibt. Unter dieser Voraussetzung muss sich Gott nicht
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Hier ist man versucht, noch einmal die Ziele ins Spiel zu bringen. Könnte man Gottes Wahl dieser Welt nicht mit einem Verweis darauf erklären, dass diese Welt besonders gut ist, und dass sich Gott in seiner Allgüte aufgrund ihrer Güte für diese Welt entschieden hat? Man müsste ja nicht behaupten, dass Gottes erkannte Güte dieser Welt auch eine Finalursache im strengen Sinne sei. D.h. etwas, deren Einfluss mit einer realen Bewegung einhergehen muss. Man könnte ja in Anlehnung an Suárez obige Umschreibung der göttlichen Freiheit einfach sagen, die Erkenntnis der Güte dieser Welt veranlasse Gott zu seiner Wahl, ohne dass sich dabei in ihm eine Veränderung oder reale Hinzufügung ereignete. Dagegen sprechen nach Suárez leider zwei Gründe. Zum einen setzt diese Lösung voraus, dass Gott in seinem Wollen durch die Erkenntnis des Guten bestimmt wird. Das lehnt Suárez entschieden ab: Der göttliche Wille wird nicht vom göttlichen Intellekt dazu bestimmt, die erschaffenen Objekte zu wollen. – Daher sagen wir bezüglich dieser Bestimmung, dass es unmöglich ist, dass der göttliche Wille vom Intellekt dazu bestimmt wird, die besonderen erschaffenen Objekte zu wollen. Das wird erstens durch einen Grund bewiesen, der meines Erachtens äußerst effektiv ist: Denn dies widerspricht der freien Bestimmung des göttlichen Willens, weil das Urteil des Intellekts, das dem Willen vorangeht, natürlich, und nicht frei ist. Wenn es also unmöglich ist, dass der Wille, nachdem das Urteil festgelegt worden ist, diesem nicht folgt und, ihm folgend, nicht bestimmt wird, dann gibt es also nirgendwo eine Ausübung der Freiheit, sondern alles folgt durch eine natürliche Bestimmung aus Notwendigkeit.123
Wäre der göttliche Wille durch die Erkenntnis des Guten bestimmt, liefe dies Gottes Freiheit zuwider. Gott könnte sich dann nicht gegen das Urteil seines Intellekts entscheiden und wäre genötigt ihm Folge zu leisten. Doch Suárez verwirft den Vorschlag, Gottes Wahl dieser Welt mit Bezug auf seine Güte zu erklären, auch aus einem weiteren Grund:
____________ entscheiden. Aber natürlich führt diese Lösung das Problem mit sich, dass sich Gott unter dieser Voraussetzung gar nicht entscheiden kann, was Suárez als inkompatibel mit seiner Freiheit erachtet. Wie wir sehen werden, entgeht Spinoza diesem Problem, indem er die Auffassung ablehnt, Freiheit setze die Existenz alternativer Möglichkeiten voraus, sondern meint, es reiche für die Freiheit einer Tätigkeit eines Dinges aus, wenn sie einzig aus diesem Ding hervorgeht. 123 „Voluntas divina non determinatur a divino intellectu ad creata obiecta volenda. – De hac igitur determinatione loquendo, dicimus impossibile esse voluntatem divinam determinari ab intellectu ad talia obiecta creata volenda. Probatur primo ratione iudicio meo efficacissima, quia hoc repugnat liberae determinationi voluntatis divinae, nam iudicium intellectus, quod voluntatem antecedit, naturale est et non liberum; ergo si, posito iudicio, voluntas non potest non sequi illud et determinari sequundo illud, ergo nullibi est exercitium libertatis, sed per naturalem determinationem omnia ex necessitate consequuntur.“ (DM 30§16¶46)
Schlussbemerkungen
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Warum nämlich oder woher weist ‹der Wille Gottes› eine solche Bestimmung auf? Du sagst, er hätte sie aus dem Ziel – z.B. weil eine solche Bewegung zur Güte des Universums beiträgt, das Gott anstrebt. Doch im Gegenteil, denn von diesem Ziel selbst möchte ich fragen, warum der göttliche Wille bestimmt sei mit Notwendigkeit dieses Universum und dessen Güte zu wollen, wenn die Macht Gottes nicht dadurch begrenzt ist, sondern ein anderes Universum, auf ähnliche oder perfektere Weise machen könnte. Ferner in diesem selben Universum könnte die göttliche Weisheit andere Weisen ausdenken, die Himmelsbewegungen zusammenzustellen, mit größerer oder geringerer Geschwindigkeit, aus der sich eine genau gleich nützliche Proportion zur Erhaltung des Universums ergäbe wie jene, die man nun im Himmel entdeckt. Daher ist jene Weise der Bestimmung des göttlichen Willens ganz und gar irrational.124
Nach Suárez ist es auch deshalb nicht möglich, Gottes Entscheidung zur Erschaffung dieser Welt mit einem Verweis auf deren Güte zu erklären, weil eine solche Erklärung nicht hinreichend ist. Dass diese Welt besonders gut ist, erklärt noch nicht, warum Gott sich für diese, und keine andere Welt entschieden hat. Gott hätte schließlich auf anderem Wege eine genauso perfekte Welt erschaffen können. Anders als Leibniz geht Suárez also nicht davon aus, dass es eine eindeutig festgelegte, beste aller möglichen Welten gibt. Damit bleibt Gottes Entscheidung für diese Welt letztlich auch „ganz und gar irrational.“
Schlussbemerkungen Die traditionelle Strategie, teleologische Erklärungen mit Hilfe von Finalursachen zu explizieren, wird bei Francisco Suárez, so ist in diesem Kapitel hoffentlich deutlich geworden, problematisch. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Suárez von einem konkreten Ursachenverständnis ausgeht, das zudem mit platonischen, emanationstheoretischen Elementen versetzt ist. Wie er im Rahmen seiner Influxus-Theorie der Kausalität ausführt, besteht das eigentümliche Charakteristikum von Ursachen darin, dass sie das Vermögen haben, Sein in etwas einzuflößen. Dieses – im Vergleich zu
____________ 124 „Cur enim, aut unde ‹voluntas Dei› talem determinationem habet? Dices habere illam ex fine, verbi gratia, quia talis motus expedit ad bonum universi, quod Deus intendit. Sed contra, nam de hoc ipso fine inquiram cur voluntas divina sit determinata ad volendum ex necessitate hoc universum et bonum eius, cum potentia Dei non sit ad hoc limitata, sed possit aliud universum, vel simile vel perfectius efficere. Deinde, in hoc eodem universo posset divina sapientia alios modos invenire componendi motus caelorum cum maiori vel minori velocitate, ex qua consurgeret proportio aeque utilis ad conservationem universi, ac est illa quae nunc in caelis reperitur; est igitur ille modus determinationis divinae prorsus irrationalis.“ (DM 30§16¶29)
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Kapitel II: Francisco Suárez und das Problem der Finalursache
Aristoteles’ Ursachenkonzeption enge – Kausalitätsverständnis ließ sich dadurch erklären, dass Suárez einerseits einen prinzipiellen Unterschied zwischen bloßen Erklärungsprinzipien und Ursachen etablieren will, der erklärt, warum Aristoteles insbesondere die Privation nicht in seine Liste der Ursachen aufgenommen hat; und andererseits an einem Ursachenverständnis interessiert ist, unter das sich auch Gottes creatio ex nihilo subsumieren lässt. Beiden Desiderata sieht Suárez durch seine Influxus-Theorie Genüge getan. Allerdings kostet es ihn vor dem Hintergrund dieser Kausalitätskonzeption einiges an Anstrengung, der Rede von Finalursachen überhaupt noch einen Sinn abzugewinnen. Streng genommen qualifiziert sich seiner Influxus-Theorie zufolge nämlich nur noch die Wirkursache als Ursache im eigentlichen Sinne. Die anderen drei aristotelischen Ursachen können nur mit einigem theoretischen Aufwand überhaupt noch als Ursachen verstanden werden. So sind Material- und Formursachen nur Ursachen im analogen Sinn, insofern sie die Gegenstände ausmachen und damit ihr Sein konstituieren. Damit sich auch Ziele als genuine Ursachen auszeichnen, müssen sie einen eigentümlichen Einfluss ausüben. Ein solcher Einfluss von Zielen lässt sich nach Suárez jedoch nur noch im Bereich geschaffener, rationaler Akteure feststellen. Und zwar in den Fällen, in denen diese Akteure auf der Basis der Erkenntnis gewisser Ziele ihren Willen auf diese Ziele hin ausrichten. Denn wenn sich endliche, rationale Akteure frei für etwas entscheiden und ihren Willen spontan auf ein bestimmtes Handlungsziel ausrichten, vollzieht sich in diesem Willen eine klassische Bewegung oder motio: Das Willensvermögen aktualisiert sich in einem Willensakt, der sich auf ein ganz bestimmtes Objekt richtet. Diese reale Bewegung, die allein vom aktiven Willensvermögen ausgeht, das als Wirkursache dieser Aktualisierung fungiert, lässt sich nun auch als so genannte motio metaphorica beschreiben: Als eine Bewegung des Willensvermögens, die dadurch zu erklären ist, dass der Wille von einem für gut erachteten Ziel angelockt oder angezogen wird. Die spezifische, von einem Ziel ausgehende finale Verursachung geht so mit der durch den Willen effizient verursachten Willensausbildung einher, die als metaphorische Bewegung aufgefasst werden kann. Entsprechend lassen sich Ziele endlicher, rationaler Akteure deshalb als Finalursachen verstehen, weil sie als etwas aufgefasst werden können, das den Willen anlocken und anziehen und damit einem Willensakt auf eine genuin eigene Weise Sein einflößen kann. Mit seiner Theorie der motio metaphorica gelingt es Suárez also, die Rede von Finalursachen zumindest in Zusammenhang mit der Erklärung menschlicher Handlungen zu rechtfertigen. Denn obwohl die final-kausale Anziehung des Willens ontologisch von dessen effizient-kausaler Ausbildung abhängt, ist der Verweis auf Finalursachen insofern explanatorisch
Schlussbemerkungen
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relevant, als damit freie Willensentscheidungen erklärt werden können, die mit Rekurs auf das aktive Willensvermögen allein unverständlich blieben. Schließlich lässt sich die freie Aktualisierung des Willens aufgrund seiner Freiheit nach Suárez’ akteurskausalistischer Freiheitskonzeption gerade nicht mit Bezug auf effizient-kausal bestimmende Faktoren erklären. Zudem trägt Suárez’ Annahme eines genuin final-kausalen Einflusses von Zielen dem phänomenologischen Faktum Rechnung, dass als gut erachtete Gründe oder Handlungsziele eine eigenartige motivationale Kraft ausüben, die sich fundamental von der effizient-kausalen Kraft von Wirkursachen unterscheidet. Wie sich allerdings zeigte, lässt sich diese Theorie der motio metaphorica weder zur Erklärung natürlicher Tätigkeiten noch zur Beschreibung von Gottes Tun in Anschlag bringen. Denn in beiden diesen Fällen gibt es keine motio, die sich als motio metaphorica beschreiben ließe: Arational Tätige – von den Elementen bis zu den Tieren – verfügen weder über einen Intellekt, mit dessen Hilfe sie ihre Ziele als Ziele erkennen könnten, noch über einen Willen, den sie in freier Weise auf diese Ziele in einer metaphorischen Bewegung ausrichten könnten. In Gott dagegen, der über Intellekt und Willen verfügt, gibt es aufgrund seiner Vollkommenheit keine motio, da in ihm als actus purus alle Vermögen stets aktualisiert sind, und folglich nicht aktualisiert werden können. Damit gibt es im Bereich Gottes und natürlich Tätiger auch keine Finalursachen im strikten Sinn. Dennoch lässt sich ihr Tun teleologisch als zielgerichtetes Tun verstehen: So haben natürlich Tätige zum einen aufgrund ihrer Natur oder Essenz eine spezifische Neigung oder Disposition zu ihren intrinsischen Zielen, weshalb ihre Tätigkeiten als defekt oder gescheitert eingestuft werden können, falls sie diese Ziele nicht erreichen. Zum andern wurden sie von Gott in seiner Schöpfung auch untereinander so aufeinander abgestimmt, dass sie sich in ihren Tätigkeiten letztlich auf Gott als höchstes Ziel verweisen und zur Vollkommenheit des Universums beitragen. Obschon diese extrinsische teleologische Ausrichtung der Schöpfung auf Gott zurückgeht, wurde Gott nicht durch einen final-kausalen Einfluss einer Finalursache zu dieser Ausrichtung bewogen. Diese teleologische Ausrichtung der Schöpfung, als deren Finalursache Gott fungiert, ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass Gott seine Schöpfung in und durch einen reflexiven Akt der Selbst-Liebe vollzieht. Damit zielt die Schöpfung einfach deshalb auf Gott, weil sie Ausdruck der göttlichen Liebe ist, in der sich Gott auf sich selbst bezieht. Überdies lässt sich die zweckmäßige Einrichtung der Natur und die zielgerichtete Schöpfungstätigkeit Gottes auch dadurch erklären, dass Gottes Tun von seinen Ideen ausgeht, die als so genannte Exemplarursachen der erschaffenen Dinge fungieren. Doch diese Exemplarursachen spielen als Formen im göttlichen Intellekt nicht die
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Kapitel II: Francisco Suárez und das Problem der Finalursache
Rolle von Finalursachen, sondern bilden eine Unterkategorie von Wirkursachen. Exemplarursachen steuern Gottes Schöpfungstätigkeit – wenn er sich erst einmal für ihre Realisierung entschieden hat – auf wirkkausale Weise. Damit entwickelt Suárez eine Strategie, auch jene Phänomene teleologisch zu erklären, zu deren Erklärung er aufgrund seines konkreten Ursachenverständnisses im Allgemeinen und seines psychologischen Finalursachenverständnisses im Besonderen nicht mehr auf Finalursachen zurückgreifen kann, wie es Thomas noch getan hat. Statt die Teleologie natürlicher und göttlicher Tätigkeiten mit Verweis auf Finalursachen zu erklären, greift Suárez vielmehr auf den Begriff der Natur oder Essenz zurück: Die Tätigkeiten natürlicher Substanzen sind deshalb immanent zielgerichtet, weil sie aufgrund ihrer Essenz eine natürliche Neigung zu gewissen Zielen aufweisen, und Gottes Schöpfung ist deshalb auf ihn selbst bezogen, weil sie Ausdruck seiner essentiellen Selbst-Liebe ist.125 Bei Suárez trennt sich in gewissen Bereichen also die Analyse teleologischer Beschreibungen oder Erklärungen von der Annahme von Finalursachen. An ihre Stelle treten Essenzen. Das werden wir bei Spinoza wieder finden. Wie ist vor diesem Hintergrund Suárez’ Teleologieverständnis anhand der in der Einleitung vorgestellten Unterscheidungen zu charakterisieren? Da Suárez sorgfältig zwischen der Analyse der Teleologie natürlicher Prozesse zum Ersten, intentionaler Handlungen endlicher Akteure zum Zweiten und Gottes Tun zum Dritten unterscheidet, kann ihm kein einheitliches Teleologieverständnis unterstellt werden. Unsere teleologische Rede über diese Phänomenbereiche ist nämlich jeweils unterschiedlich zu analysieren. Kommen wir zuerst zu den Tätigkeiten natürlicher Substanzen. Hier ist zwischen ihrer intrinsisch teleologischen Bestimmung einerseits
____________ 125 Das wirft für Suárez allerdings sogleich das Problem auf, wie der Umstand, dass sich Gott wesentlich liebt und sich folglich lieben muss, mit seiner Freiheit vereinbar ist. Darauf entgegnet Suárez, dass die Freiheit, nicht in der essentiellen Weise zu lieben, wie es Gott tut, eine Unvollkommenheit darstellen würde. Er schreibt: „Die Freiheit hat aber nicht immer etwas mit Vollkommenheit zu tun, sondern ist der Fähigkeit des Objektes entsprechend, wie wir sofort sehen werden. Es wird also die höchste Vollkommenheit sein, das höchst gute und notwendige Objekt mit höchster Notwendigkeit zu lieben. Und umgekehrt wäre die Freiheit bei einer solchen Liebe eine große Unvollkommenheit, weil es die Möglichkeit, jene ‹Freiheit› zu entbehren in sich schlösse, denn wir reden spezifisch von der Freiheit der Indifferenz, die der Notwendigkeit entgegen steht. Hinzu kommt, dass die Notwendigkeit dieser Liebe nicht kausal ist (wie man sagen könnte) oder aus einer Ursache, sondern formal. Denn wie Gott nicht aus einer Ursache notwendig existiert, sondern formal und aus sich, so ist diese Liebe auf dieselbe Weise notwendig, weil sie auch essentieller Weise Gott ist, und selbst aus der Essenz Gottes stammt – gemäß diesem: Gott ist Liebe.“ (DM 30§16¶17)
Schlussbemerkungen
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und ihrer Einbettung in eine kosmisch teleologische Ordnung andererseits zu unterscheiden. Erstere kommt ihnen immanent zu, weil sie auf ihre Natur zurückgeht. Insofern diese teleologische Ausrichtung natürlicher Substanzen etwas ist, das ihnen allein aufgrund ihrer Essenz zukommt, gibt diese Ausrichtung Aufschluss über ihr Wesen. Daher ist die intrinsische Teleologie, die natürliche Substanzen aufweisen, für diese konstitutiv. Anders verhält es sich mit der Zweckmäßigkeit, die Substanzen und ihre spezifischen Tätigkeiten zeigen, weil sie Teil einer auf Gott hin ausgerichteten Schöpfung sind. Diese Ausrichtung ist in der Tätigkeit Gottes begründet und damit derivativ. Zudem ist sie Ausdruck davon, dass Gott in seiner Schöpfung einen besonderen Plan verfolgt hat und ist so von Gottes Intentionen abhängig. Da sich mit Verweis darauf, dass die Dinge im Universum auf Gott hin ausgerichtet sind, erklären lässt, warum diese Dinge in dieser Ordnung existieren, handelt es sich bei der kosmischen Teleologie um eine ätiologische. Sie ist aber in der wirkursächlichen Schöpfertätigkeit Gottes begründet und erweist sich so als eine Form der Kausalerklärung Nur die Teleologie von Handlungen endlicher Akteure analysiert Suárez mit Bezug auf Finalursachen. Sie betrifft vorrangig die Teleologie menschlicher Handlungen, und erst in zweiter Linie die von Artefakten. Überdies erklärt der Verweis auf Handlungsziele, warum sich eine gewisse Person für eine spezifische Handlung entscheidet, und entpuppt sich damit als ätiologische Form der Teleologie. Jedoch geht diese Form der Teleologie auf einen genuinen final-kausalen Einfluss einer Finalursache zurück und erklärt damit das Zustandekommen der Willensausbildung in rationalen Geschöpfen auf nicht-effizient-kausale Weise. Im Gegensatz dazu ist die teleologische Struktur von Gottes Tun in seiner eigentümlichen Weise des Liebens begründet. Diese Selbst-Liebe kommt Gott wesentlich, und das heißt: aufgrund seiner Essenz zu. Mithin handelt es sich auch hier um eine Form der konstitutiven Teleologie.
René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse Der aristotelisch-scholastische Begriff des motus ist bekanntlich weit: Er umfasst nicht nur die Ortsbewegung (translatio), sondern auch andere Veränderungsphänomene wie die qualitative Veränderung eines Dinges (alteratio), die substantielle Veränderung wie das Entstehen und Vergehen eines Dinges (generatio et corruptio) und das Wachstum und das Kleinerwerden eines Dinges (augmentatio et diminuitio). Damit der Begriff des motus all diesen verschiedenen Veränderungsphänomenen gerecht werden kann, muss er entsprechend allgemein charakterisiert werden. Aristoteles schlug vor, Veränderung als eine Aktualisierung einer Potenzialität zu verstehen. Seine klassische Definition in der Physik (III.1 201a10-11) lautete: „Bewegung ist der Akt von dem, was dem Vermögen nach ist, insofern es dem Vermögen nach ist.“1 Diese Definition wurde von den anti-aristotelischen Denkern der frühen Neuzeit immer wieder als Paradebeispiel für scholastische Obskurität und Unverständlichkeit zitiert.2 Auch Descartes fragte in rhetorischer Polemik: Machen die Scholastiker „nicht wirklich den Eindruck als murmelten sie Zaubersprüche, die eine geheime, für das menschliche Erkenntnisvermögen unfassbare Kraft haben, wenn sie sagen, dass die Bewegung – etwas, das doch jeder kennt – die Wirklichkeit des dem Vermögen nach Seienden sei, insofern es dem Vermögen nach ist?“3 Doch wie dunkel diese Definition auch sein mag, ihre
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„ȮȳȺȱȶɃȷȹȾ Ȯ ȴȫȲ’ ˀȴȫȼȽȹȷ ȭɃȷȹȻ Ƚȹ8 ȶ ȷ ȷȽȯȵȯɀȯɅˤ Ƚȹ8 Ȯ ȮȾȷȪȶȯȳ, ˂ Ƚȹ8 ȮȾȷȪȶȯȳ ,ȷȽȹȻ ȷȽȯȵɃɀȯȳȫ, ˘ Ƚȹȳȹ8Ƚȹȷ, ȴɅȷȱȼɅȻ ȼȽȳȷ“. Diese Definition war Gegenstand zahlreicher scholastischer Diskussionen. In der lateinischen Übersetzung von William von Moerbeke (auf die Thomas zurückgriff) lautete Aristoteles’ Definition: „Potentia existentis entelechia secundum quod huiusmodi est, motus est.“ Suárez schrieb: „Motus est actus entis in potentia, quatenus in potentia.“ (DM 49§2¶2) Vgl. zu den scholastischen Bewegunsgdiskussionen Des Chene 1996, 24-34. So etwa J. Nicole und A. Arnauld in ihrer Logique II xvi, 166, oder P. Gassendi in seinen Exercitationes (1ex6a5, Opera III 134b). Regulae ad directionem ingenii (= Regulae) R12 §23, AT X 426. In der französischen verfassten Schrift Le Monde (Kapitel 7, AT XI 39) zitiert Descartes die scholastische Bewegungsdefinition in Latein und kommentiert, ihre Worte seien ihm so dunkel, dass er sie nicht interpretieren könne und sie deshalb unübersetzt stehen lassen müsse.
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Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse
Allgemeinheit erlaubt es, jede Form der Veränderung zu erfassen. Scheinbar völlig heterogene Prozesse wie die Entwicklung einer Raupe zu einem Schmetterling, das Erwärmen einer gewissen Menge von Wasser oder eine Lawine können nach dieser Definition als motus verstanden werden: In all diesen Fällen handelt es sich um eine Wirklichkeit oder wirkliche Qualität (d.h. um eine Metamorphose, eine Erwärmung oder ein Herunterstürzen) eines Dinges, das ein bestimmtes Vermögen aufweist (nämlich das Vermögen ein Schmetterling zu sein, warm zu werden oder herunterzustürzen), insofern es dieses Vermögen besitzt (und noch nicht wirklich ein Schmetterling, heiß oder heruntergestürzt ist). Diese weite Bewegungsauffassung beruht auf dem Begriffspaar der Verwirklichung und des Vermögens, des Akts und der Potenz. Damit ist die aristotelische Bewegungskonzeption automatisch an einen hylemorphistischen Rahmen gebunden, der garantiert, dass Dinge aufgrund ihrer Materie und Form mit Vermögen oder Potenzen ausgestattet sind, die sich unter bestimmten Umständen auf eine ganz bestimmte Weise aktualisieren. Denn nur so ist Veränderung als Aktualisierung überhaupt möglich. In diesen hylemorphistischen Erklärungsrahmen ist auch die klassische Lehre der vier Ursachen eingebettet. So erwiesen sich die verschiedenen Ursachen in Kapitel I einfach als die Bestandteile, die herangezogen werden müssen, um einen klassischen motus zu erklären. Eine Wirkursache erklärt, wovon die Veränderung eines Dinges ausgeht, Material- und Formursachen erklären, warum sich ein Ding so verändert, wie es sich verändert, und Finalursachen erklären, warum Veränderungen so verlaufen, wie sie verlaufen, auf welche Zustände Veränderungen hin tendieren und wann sie abgeschlossen sind. René Descartes hat sich weitgehend4 vom aristotelischen Hylemorphismus verabschiedet und sich dezidiert für eine mechanistische Naturphilosophie ausgesprochen. Im Gegensatz zu den Aristotelikern wollte Descartes im Rahmen seines Mechanismus Bewegung allein als Ortsbewegung verstehen, zu deren Erklärung man keine hylemorphistischen Prinzipien wie Form und Materie annehmen muss, sondern die allein geometrisch als Lageveränderung eines Körpers relativ zu seinen benachbarten Körpern aufgefasst werden kann. Mit der Zurückweisung des Hylemorphismus und der aristotelischen Bewegungskonzeption gerät natürlich automatisch die traditionelle Vier-Ursachen-Lehre ins Wanken. In der Tat
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In der Descartes-Forschung ist es umstritten, ob Descartes jede Form des Hylemorphismus ablehnt, oder ob er die Körper-Geist-Einheit als hylemorphistische Materie-Form-Einheit versteht. Für Letzteres hat vor allem Hoffman 1986 argumentiert; dagegen Rozemond 1998, 137-171.Weiter unten werde ich noch genauer darauf eingehen.
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ging Descartes davon aus, dass Ursachen prinzipiell im Sinne von Wirkursache zu verstehen seien.5 Angesichts eines solch eingeschränkten Ursachenverständnisses und der Ablehnung des Hylemorphismus erstaunt es daher auch nicht, dass Descartes „die Untersuchung der Finalursachen gänzlich aus unserer Philosophie verbannen“ will.6 Aber wie trägt Descartes den Phänomenen Rechnung, die wir üblicherweise teleologisch beschreiben? Auf welche Weise meint Descartes insbesondere biologischen Prozessen wie Wachstum oder das Zusammenspiel von Organen in Organismen erklären zu können, wenn er die Untersuchung von Finalursachen zurückweist? Diese Fragen möchte ich in diesem Kapitel beantworten. Dafür lohnt es sich herauszuarbeiten, warum und in welcher Weise Descartes den Aristotelismus zurückweist, und wie seine Kritik an der Untersuchung von Finalursachen mit dieser Zurückweisung zusammenhängt. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich genauer bestimmen, in welchen Bereichen für Descartes ein Erklärungsvakuum entsteht, das ihn dazu zwingt, auf alternative Strategien zurückzugreifen, um diesen neu entstandenen Erklärungsdesideraten ohne Rekurs auf Finalursachen nachzukommen.
Die neue Physik und die Zurückweisung des Aristotelismus Die Jahre 1606 bis 1614 hat Descartes im Jesuitenkolleg in La Flèche verbracht und darin eine traditionell scholastische Ausbildung genossen.7 Diese Bekanntschaft mit der aristotelischen Naturphilosophie prägte ihn sein Leben lang, obwohl (oder gerade weil) er sie für unbefriedigend hielt: Am Ende seiner Schulzeit, so berichtet Descartes, „fand ich mich in so viele Zweifel und Irrtümer verwickelt, dass ich aus dem Bestreben mich zu unterrichten, keinen Nutzen zu haben schien, als den, mehr und mehr Unwissenheit entdeckt zu haben. […] Deshalb gab ich die wissenschaftlichen Studien ganz auf, sobald mir das Alter es erlaubte, die Bindung an
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Das zeigt sich schon darin, dass Descartes sein universales Kausalitätsaxiom allein für Wirkursachen formuliert (vgl. Meditationes de prima philosophia (= Meditationes) III §14. AT VII 40f.). Zu Descartes’ Beschränkung des Kausalitätsbegriffs und seinem Umgang mit den anderen aristotelischen Ursachen (wie Form- und Finalursache) siehe Schmaltz 2008, 59-64. Principia Philosophiae (= Prinzipien) I § 28, AT IXb 37; Übersetzung leicht geändert. In der lateinischen Fassung (AT VIIIa 15) spricht Descartes an dieser Stelle jedoch nicht von Finalursachen, sondern nur von den Zielen Gottes. Eine kompakte Darstellung von Descartes’ Ausbildung in La Flèche gibt Gaukroger 1995, 38-67.
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meine Erzieher zu verlassen.“8 Descartes wandte sich in der Folge der mechanistischen Physik zu, die im Gegensatz zur aristotelischen Naturphilosophie physikalische Probleme mit Hilfe mathematischer Methoden anging. In dieser mechanistischen Physik fand Descartes die Form gewisser Erkenntnis, die er in den scholastischen Theorien vermisste. Entsprechend bemühte er sich den Rest seines Lebens darum, neben einer metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fundierung der mechanistischen Prinzipien, alle Phänomene der materiellen Welt auf der Grundlage dieser Prinzipen zu erklären.9 In der Ausarbeitung seiner mechanistischen Physikkonzeption machte Descartes keine großen Anstrengungen, die aristotelische Naturphilosophie inhärent, d.h. auf der Grundlage ihrer eigenen Prämissen, zu kritisieren. Er bemühte sich vielmehr darum, eine Alternative zum Aristotelismus auszuarbeiten, die aufgrund ihrer Stringenz und Erklärungsleistung als Gesamtsystem überzeugen konnte.10 Descartes’ Kritik an der aristotelischen Naturphilosophie beläuft sich daher auch meist darauf, dass er die Vorzüge seiner eigenen Theorie gegenüber der aristotelischen anpreist. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Theorie kritisiert Descartes die Theorien der Scholastik auf hauptsächlich drei Ebenen: auf einer methodischen, einer evaluativen und einer inhaltlichen. In methodischer Hinsicht bemängelt Descartes die exegetische Ausrichtung der scholastischen Naturphilosophie: Wenn man Wissen über die Beschaffenheit natürlicher Phänomene erwerben will, helfe es wenig, die Bücher der Alten zu lesen und deren Ansichten zu rekonstruieren. Es gelte vielmehr, mittels der eigenen Vernunft und im Rückgang auf die Erfahrung die Phänomene selbst zu untersuchen.11 Die scholastischen Autoritäten sind somit nicht bedingungslos anzuerkennen. Ihnen gilt nur soweit
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Discours de la méthode (= Discours) I §6 und §14, 13 und 21; AT VI 4f. und 9f. Diesem Programm folgt Descartes in seinen Prinzipien der Philosophie: Ausgehend von metaphysischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen im ersten Teil, wo die materielle und die immaterielle Substanz als ontologisch verschiedene Bereiche ausgewiesen werden, entwickelt Descartes im zweiten Teil die (mechanistischen) Bewegungsprinzipien der körperlichen Dinge, auf deren Grundlage im dritten Teil eine Astronomie etabliert und die Natur des Lichtes erläutert wird. Im vierten Teil werden irdische Phänomene im weitesten Sinne (worunter nicht nur physikalische Phänomene im heutigen Sinne fallen, sondern auch geologische, meteorologische, klimatologische, chemische, biologische und physiologische Phänomene) erklärt. 10 Entsprechend meint Descartes in seinem Brief an Mersenne vom 11.11.1640, AT III 231f., die gesamte aristotelische Naturphilosophie könne durch eine einfache Zurückweisung ihres hylemorphistischen Fundaments widerlegt werden. 11 Regulae R3 §2, AT X 367; R5 §1, AT X 380; Discours VI §7, AT VI 72f. Siehe zur Funktion der Erfahrung bei Descartes Garber 1993.
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zu folgen, als ihre Thesen durch das natürliche Licht der Vernunft nachvollzogen werden können.12 Dieser methodischen Kritik fügt Descartes immer wieder eine evaluative hinzu. Der Erkenntnisgewinn scholastischer Diskussionen, so meint Descartes, ist nur ungenügend. Damit erweist sich die Scholastik als steril oder unfruchtbar: In ihr findet kein echter wissenschaftlicher Fortschritt statt, sondern sie verliert sich im Treffen subtiler Unterscheidungen, die häufig mit Streitigkeiten über die richtige Auslegung ihrer Autoritäten verbunden sind.13 Besonders die aristotelische Syllogistik rügt Descartes immer wieder für ihre Unfruchtbarkeit. Diese Lehre helfe vielleicht, das Wissen, das man bereits besitzt, zu ordnen oder zu systematisieren, aber sie verschafft einem keine neuen Erkenntnisse.14 Diese beiden Kritikpunkte hängen eng miteinander zusammen, da sie auf einer ganz bestimmten Wissenschaftskonzeption beruhen. Die Kritik der Methode oder der Ergebnisse einer Wissenschaft hängt nämlich davon ab, was als spezifische Aufgabe dieser Wissenschaft betrachtet wird. Denn erst auf der Basis einer solchen Aufgabe kann man in evaluativer Hinsicht bestimmen, wie gut diese Wissenschaft ihre Aufgaben erfüllt, und in methodischer Hinsicht die Angemessenheit der Mittel einschätzen, derer sich diese Wissenschaft zur Erfüllung dieser Aufgabe bedient. Nach Descartes besteht eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft (unter anderen) darin, Erkenntnisse von lebenspraktischer Relevanz zu liefern.15 Wissenschaftli-
____________ 12 Für eine Diskussion von Descartes’ Umgang mit Autoritäten vgl. Des Chene 2007, 18f. 13 In seinem Brief an Picot, AT IXb 18f., schreibt Descartes: Man „kann die Falschheit der aristotelischen Prinzipien gar nicht besser beweisen, als indem man darauf aufmerksam macht, dass man mit ihnen in all den Jahrhunderten, während derer man ihnen gefolgt ist, keine Fortschritte zu machen gewusst hat.“ Siehe auch Discours I §12, AT VI 8, oder Discours VI §2, AT VI 61f., wo Descartes meint, die Scholastik bringe keine lebenspraktischen Ergebnisse hervor. 14 Die aristotelische Syllogistik ist somit kein ‚Werkzeug’ (Organon) zum Gewinn von Erkenntnis, wie die Scholastiker behaupteten. Sie ist lediglich eine gute Denkübung (Regulae, R2 §3, AT X 363f.), die – da sie nur bereits vorhandenes Wissen organisiert, und kein neues Wissen hervorbringt – in die Rhetorik gehört (Regulae, R10 §5; AT X 406). Vgl. auch Brief an Picot, AT IXb 13, und Discours II §6, AT VI 17. 15 Vgl. etwa Discours VI §2, 115; AT VI 61f., und Frans Burmans Notizen zu dem Gespräch mit Descartes vom 16.4.1648, AT V 165. Trotzdem ist Descartes kein Pragmatist avant la lettre: Die Erschließung lebenspraktischer Einsichten ist nicht die einzige Aufgabe der Wissenschaft. Ihre Hauptaufgabe bleibt die Erforschung der Wahrheit, indem sie uns gewisse und untrügliche Erkenntnis verschafft (vgl. etwa Regulae, R1 §1, AT X 359ff., oder Brief an Picot, AT IXb 4). Eine ausführliche Darstellung von Descartes’ Wissenschaftskonzeption gibt Clark 1994.
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che Erkenntnis sollte letztlich auch dazu dienen, dass wir unser Leben angenehmer gestalten können – z.B. dadurch, dass wir medizinische Fortschritte erzielen, Maschinen bauen oder eine Ethik entwickeln können.16 Und genau diese Aufgabe erfüllt die scholastische Philosophie in Descartes’ Augen nicht: Ihre Debatten sind in dem Sinne steril, dass sie keine lebenspraktisch relevante Erkenntnisse zutage fördern, und ihre exegetische Methode ist dafür auch gar nicht geeignet. Descartes’ methodische und evaluative Kritik am Aristotelismus beruht also auf seiner Ansicht darüber, wozu Wissenschaft gut ist. Vor dem Hintergrund seiner mechanistischen Naturauffassung hat Descartes die Scholastik auch in inhaltlicher Hinsicht kritisiert, indem er ihr Naivität und Verworrenheit vorwarf. Die Naturphilosophie der Scholastik sei naiv, insofern sie mit der Annahme sinnlicher Qualitäten wie Farben, Wärme oder Geräuschen lediglich die common sense Sicht ausarbeite, zu der wir von Kind an natürlicherweise neigen.17 Sie geht damit unkritisch davon aus, die Welt sei im Großen und Ganzen genauso beschaffen, wie wir sie mittels unserer Sinne wahrnehmen. Dieser Naivitätsvorwurf an die Scholastik ist zunächst methodologisch oder erkenntnistheoretisch zu verstehen: Um eine adäquate Beschreibung der Natur zu geben, sollte man nicht einfach unkritisch annehmen, die Welt sei genauso beschaffen, wie wir sie mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen. Wie Descartes allerdings argumentiert, mündet dieses methodologische Problem unmittelbar in ein ontologisches: Die mittels sinnlicher Erfahrung erworbenen Ideen, auf denen unsere naive Weltsicht beruht, sind nach Descartes wesentlich obskur und verworren. Sie repräsentieren die Gegenstände nicht so, wie sie an sich beschaffen sind, sondern nur so, wie sie uns aufgrund unserer spezifischen Sinnesorgane erscheinen. Descartes’ Ansicht nach sind extra-mentale Gegenstände an sich weder farbig noch laut, feucht oder warm. Diese sinnlichen Eigenschaften kommen ihnen nur zu, insofern wir sie vermittels unserer Sinne wahrnehmen. Zu dieser sinnlichen Wahrnehmung sind wir nur fähig, weil unser Geist mit einem Körper vereint ist und so vermittels der Sinnesorgane mit den Wahrnehmungsgegenständen in kausalem Kontakt steht.18 Aber genau deshalb sind
____________ 16 Siehe Brief an Picot, AT IXb 15. 17 Descartes erzählt in diesem Zusammenhang immer wieder genealogische Geschichten über die Entstehung der scholastischen Ansichten. So z.B. in Prinzipien, I §66, 71 und 73, 6. Erwiderung, AT VII 438, sowie in La Description du corps humaine (= La Description), AT XI 224. Vgl. zu diesem Kritikpunkt auch Garber 1992, 102. 18 Descartes vertritt eine dispositionale Theorie sinnlicher Qualitäten: Solche Qualitäten existieren nicht an sich, sondern sie supervenieren gleichsam über bestimm-
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die durch Wahrnehmung gewonnen Ideen für Descartes auch wesentlich verworren: In sinnlichen Ideen lässt sich prinzipiell nicht eruieren, welche ihrer Bestandteile dem wahrgenommenen Körper selbst zuzuschreiben sind, und welche nur meinem eigenen Körper zukommen und die mein Geist nur deshalb wahrnimmt, weil er mit meinem Körper verbunden ist. Damit beruhen sinnliche Ideen auf einer Vermengung von Körper und Geist.19 Entsprechend gehen Ideen, die auf der Grundlage der naiven Weltauffassung konstruiert werden, auf eine Vermischung der Ideen des Körpers und der Seele zurück. Descartes’ Einschätzung zufolge sind die zentralen Begriffe der aristotelischen Naturphilosophie – wie die Begriffe der realen Qualität oder der substantiellen Form – von genau diesem Problem betroffen: Sie sind verworren, weil sie auf einer Vermengung der Idee des Geistes und des Körpers beruhen, da sie der kindlich-naiven Weltauffassung sinnlicher Ideen entstammen, die aufgrund ihres Ursprungs in der Körper-Geist-Einheit wesentlich verworren sind. Descartes schreibt: Die frühsten Urteile, die wir in unserer Kindheit und später in der gebräuchlichen Philosophie machten, haben uns daran gewöhnt, dem Körper viele Dinge zuzuschreiben, die nur zur Seele gehören, und der Seele viele Dinge zuzuschreiben, die nur zum Körper gehören. So vermischen Leute üblicherweise die beiden Ideen des Körpers und der Seele, wenn sie die Ideen realer Qualitäten und substantieller Formen konstruieren, die meiner Meinung nach beide ganz und gar zurückgewiesen werden sollten. (Brief an de Launay vom 22.7.1641(?), AT III 420)
Als reale Qualitäten wurden in der Spätscholastik solche Akzidenzien bezeichnet, die anders als ‚normale’ Qualitäten auch unabhängig von einer Substanz existieren können. Insofern sie unabhängig existieren können, gleichen sie Dingen (lat. res) und heißen real.20 Die substantiellen Formen
____________ ten geometrischen Eigenschaften von Körpern, insofern uns diese geometrischen Eigenschaften vermittels unserer Wahrnehmungsorgane als farbig, feucht, laut usw. erscheinen. Vgl. dazu Perler 2007. 19 Das führt auch Gueroult 1953, 134-156 aus. Folgerichtig bemerkt er, sinnliche Ideen seien für Descartes wesentlich verworren, da sie allein aus der Vereinigung des Körpers mit dem Geist entstehen. Ihre Verworrenheit ist so auch nicht einfach auf einen Mangel unseres Verstandes zurückzuführen (wie etwa bei Leibniz; siehe ebd. 135). 20 Scholastiker haben reale Qualitäten oder Akzidenzien zur Lösung des Transsubstanziationsproblems postuliert. Auf ihrer Grundlage argumentierten sie, beim Abendmahl könnten die sinnlichen Qualitäten der Hostie auch dann weiter existieren, wenn ihre Substanz – das Brot – durch ein Wunder durch den Leib Christi ausgetauscht würde. Die realen Qualitäten, gegen die sich Descartes wendet, sind also nicht einfach sekundäre Qualitäten, die Aristoteliker fälschlicherweise für ‚real qualities’ im Sinne Lockes hielten, d.h. Qualitäten, die wie primäre Qua-
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haben wir bei Thomas schon kennen gelernt: Sie machen zusammen mit Materie Substanzen aus und sind dafür verantwortlich, um was für eine Art Substanz es sich dabei handelt (um einen Tiger, einen Menschen oder einfach um Wasser oder Erde), und über welche Dispositionen oder Fähigkeiten diese Substanzen verfügen, was wiederum erklärt, warum sie sich auf ihre spezifische Weise bewegen oder verändern. Wie Descartes immer wieder betont, kann er natürliche Phänomene jedoch problemlos erklären, ohne sinnliche Qualitäten, reale Akzidenzien oder substantielle Formen anzunehmen.21 Vor dem Hintergrund seiner Theorie erweist sich die Annahme solcher Entitäten schlicht als überflüssig. Aber warum sind die Ideen realer Qualitäten und substantieller Formen auf eine Vermengung der Idee des Körpers und des Geistes zurückzuführen und damit verworren, wie Descartes in der obigen Passage behauptet?22 Antwort darauf ergibt sich aus einer Stelle, an der sich Descartes über die aristotelische Qualität der Schwere auslässt: Dachte ich mir z.B. die Schwere als eine reale Qualität, die den massiven Körpern innewohnt und mit ihnen verbunden ist, so dachte ich sie, obschon ich sie als Qualität bezeichnete, sofern ich sie auf die Körper bezog, denen sie innewohnte, trotzdem als eine Substanz, da ich hinzufügte, dass sie real sei, ebenso wie ein Gewand, an sich betrachtet eine Substanz, obgleich auf den damit bekleideten Menschen bezogen eine Qualität ist – und wie auch der Geist, obgleich in Wahrheit eine Substanz, nichtsdestoweniger eine Qualität des Körpers, mit dem er verbunden ist genannt werden kann. Und wenngleich ich mir vorstellte, dass die Schwere durch den ganzen schweren Körper verbreitet sei, so schrieb ich dennoch nicht jene selbige Ausdehnung zu, welche die Natur des Körpers ausmacht; denn die wahre Ausdehnung des Körpers ist derart, dass sie jede Durchdringlichkeit des Körpers ausschließt, wohl aber dachte ich, dass ebensoviel Schwere in einer Masse Goldes oder eines anderen Metalls von ein Fuß Länge enthalten sei, wie in einem Stück Holz von zehn Fuß Länge, ja ich urteilte, dass ebendieselbe Schwere sich ganz in einen mathematischen Punkt zusammenziehen könne: Und selbst wenn
____________ litäten wirklich existieren, wie einige Descartes-Interpreten suggerieren (so z.B. Hatfield 2003, 291-296), sondern Akzidenzien, die wie res, unabhängig existieren können. Descartes hielt den Begriff einer realen Qualität für widersprüchlich, da nur Substanzen unabhängig existieren könnten, und reale Qualitäten oder Akzidenzien somit gerade keine Qualitäten, sondern Substanzen seien (siehe etwa 6. Erwiderung, AT VII 434). Eine Darstellung der Theorie realer Qualitäten und Descartes’ Kritik gibt Menn 1995. 21 Vgl. etwa Le Monde V, AT XI 25f. und VI, AT XI 33ff oder Les Météores, AT VI 234-239, und Brief an Regius vom Januar 1642, AT III 492. In den Prinzipien IV §198, AT XIIIa 322, schreibt Descartes umgekehrt, substantielle Formen und reale Qualitäten seien vor dem Hintergrund seiner mechanistischen Naturphilosophie unverständlich. 22 Eine ausführliche Antwort auf genau diese Frage entwickelt Garber 2001b, 266270.
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die Schwere von gleicher Ausdehnung mit dem Körper war, so sah ich, dass sie ihre ganze Kraft in jedem seiner Teile ausüben konnte […]. Ebenso denke ich mir jetzt in der Tat den Geist mit dem Körper gleich ausgedehnt, indem ich ihn als Ganzes im Ganzen und als ganz in jedem Teile vorhanden denke. Indessen erhellt ganz besonders eben hieraus, dass jene Idee der Schwere zum Teil der entnommen ist, die ich vom Geiste habe, weil ich glaubte, dass die Schwere die Körper nach dem Mittelpunkt der Erde ziehe, ganz wie wenn sie eine Art Erkenntnis von diesem in sich enthielte; denn sicherlich scheint es nicht möglich, dass dies ohne Erkenntnis geschieht, eine Erkenntnis aber kann es nirgendwo anders geben als in einem Geist. Trotzdem schrieb ich noch einiges andere der Schwere zu, was nicht in derselben Weise vom Geiste gelten kann, so, dass sie teilbar, messbar usw. sei. (6. Erwiderung, 382f.; AT VII 441f.; Übersetzung leicht modifiziert)
So wie Descartes die reale Qualität der Schwere versteht, weist sie eine Reihe von Charakteristika auf, die seiner Theorie zufolge nur dem Geist zukommen: Erstens kann eine reale Qualität wie ein Gewand unabhängig von ihrem Träger existieren und ist somit weniger ein Akzidenz als vielmehr eine Substanz. Genauso verhält es sich mit dem cartesischen Geist: Obwohl er während meines Lebens mit meinem Körper verbunden ist, kann er nach dem Tod unabhängig von ihm weiter existieren, und erweist sich somit als ontologisch unabhängige Entität oder eigenständige Substanz aus.23 Zweitens ist die reale Qualität der Schwere holomer in einem Körper verbreitet: Sie existiert in jedem seiner Teile ganz. Genauso ist meine Seele in meinem Körper verbreitet, was sich darin zeigt, dass ich all meine Körperteile bewegen und wahrnehmen kann.24 Drittens ist die reale Qualität der Schwere dafür verantwortlich, dass Körper zielgerichtet zum Mittelpunkt der Erde streben. Auch in diesem Punkt gleicht sie meinem Geist, der es mir ermöglicht, mich zielgerichtet zu bewegen, weil er meinen Körper entsprechend seinem Wissen, das er vom Ziel hat, steuern kann. Die Idee einer realen Qualität ist also deshalb Produkt einer Vermengung der Idee des Körpers und des Geistes, weil ihr einerseits typisch körperliche Eigenschaften wie Mess- und Teilbarkeit, andererseits aber auch typisch mentale Eigenschaften wie Substantialität, holomere Verbreitung und Fähigkeit zur zielgerichteten Bewegung zukommen. Ähnlich verhält es sich Descartes zufolge mit der substantiellen Form von Gegens-
____________ 23 Diese Analogie zwischen realen Qualitäten und der Seele oder dem Geist zieht Descartes auch im Brief an Mersenne vom 26.4.1643, AT III 648. 24 M. Wilson 1996, 213f., hält diese Analogie für unangebracht, da die Seele nicht holomer mit dem Körper verbunden sei, sondern allein über einen spezifischen Ort, nämlich die Zirbeldrüse. Hoffman 1986, 356f., wies diesen Vorwurf als unhaltbar zurück, da man zwischen der Frage, nach dem Ort der Seele und der Frage nach dem Ort ihrer Vermögen unterscheiden müsse. Damit lässt sich unproblematisch behaupten, die Seele sei als Ganze in jedem Teil des Körpers vorhanden, obwohl sie ihre Kräfte nur an einer spezifischen Körperstelle ausübt.
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tänden, auf deren Grundlage scholastische Philosophen ihre Bewegungen erklärten. Auch dies sei letztlich eine Form von Animismus, zu dem wir von Kind an neigen: Seit der Kindheit haben wir aber durch Erfahrung festgestellt, dass sich viele körperliche Bewegungen in Übereinstimmung mit dem Willen ereignen, bei dem es sich um ein Vermögen der Seele handelt. Dies hat uns zu der Meinung gebracht, dass die Seele das Prinzip ist, das für jede körperliche Bewegung verantwortlich ist. Unsere Unkenntnis der Anatomie und der Mechanik spielte ebenfalls eine große Rolle hier. Denn da wir unsere Betrachtung auf das Äußere des menschlichen Körpers gerichtet haben, haben wir uns niemals vorgestellt, dass er in sich genügend Organe oder Mechanismen hat, um sich auf all die verschiedenen Weisen, die wir beobachten, aus eigenem Antrieb zu bewegen. Unser Fehler wurde durch unsere Überzeugung verstärkt, dass es innerhalb eines Leichnams keine Bewegung gibt, obwohl er dieselben Organe besitzt wie ein lebendiger Körper, und ihm lediglich eine Seele fehlt. (La Description, AT XI 224).
Auch wenn Aristoteliker nicht jede substantielle Form, sondern nur die substantielle Form eines Lebewesens Seele nannten, erklärten sie mit ihrer Hilfe doch die zielgerichtete Bewegung oder Aktivität der Dinge.25 Dies kann Descartes zufolge aber nur eine res cogitans erklären: Eine immaterielle Substanz, die aufgrund ihrer Kenntnis des Ziels ihren Körper auf eine ganz bestimmte Weise bewegen kann. Der in seinen Augen hoffnungslos naiven und fruchtlosen aristotelischen Naturphilosophie stellte Descartes eine mechanistische Physikkonzeption entgegen. Eine solche Form der Physik hatte sich bereits im späten 16. Jahrhundert herausgebildet.26 Sie zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie physikalische Phänomene mit Hilfe mathematischer Mittel zu beschreiben und erklären versuchte. Der mathematische Zugang zu physikalischen Problemen machte auf Descartes einen besonderen Eindruck, da sich für eine mathematisch betriebene Physik klare methodische Prinzipien aufstellen ließen, auf deren Grundlage unbezweifelbare und gewisse Erkenntnis gewonnen werden konnte, die allen unfruchtbaren Streitereien ein Ende setzt.27 In seiner mathematischen Physikkonzeption ging Des-
____________ 25 Die spätscholastischen Debatten über die Seele als paradigmatische substantielle Form, mit denen Descartes vertraut gewesen sein dürfte, skizziert Des Chene 2000, 76-81. Siehe auch Des Chene 2007, 22. 26 Vgl. ausführlich zu Descartes’ Kritik an substantiellen Formen und zu ihrer Ablösung durch die mechanistische Naturphilosophie Hattab 2009. Einen Überblick über die Entstehung der mechanistischen Physik gibt Garber 2006. 27 Vgl. dazu Regulae R2 §§1-2 und 6; AT X 362f. und 366. Descartes kam hauptsächlich über I. Beeckmann zur mechanistischen Naturphilosophie – ein engagierter Hobby-Wissenschaftler und Mathematiker, den er 1618 (d.h. zwei Jahre nach Abschluss seiner Schulzeit in La Flèche) getroffen hatte. Siehe dazu ausführlich Gaukroger 1995, 68-103.
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cartes jedoch einen entscheidenden Schritt weiter als seine mechanistischen Zeitgenossen: Während für Galilei z.B. die Mathematik lediglich ein Modell darstellte, auf dessen Grundlage sich physikalische Probleme verstehen und lösen ließen,28 identifizierte Descartes die Objekte der Physik geradewegs mit den Objekten der Geometrie.29 Seiner Auffassung nach sind Körper vollständig und erschöpfend geometrisch beschreibbar. Ein zentrales Argument dafür findet sich in seiner Sechsten Meditation. Ausgehend von der unbestreitbaren Tatsache, dass wir ganz unwillkürlich Ideen von Körpern haben, fragt sich Descartes, ob es vielleicht gar keine Körper gibt, und Gott oder ein anderes Wesen ihm diese nur vortäuscht. Dies weist er entschieden zurück. ‹Wie könnte man von Gott denken,› dass er kein Betrüger wäre, wenn die Ideen von anderswoher als von den körperlichen Dingen ausgesandt würden. Und daher existieren körperliche Dinge. Sie existieren jedoch vielleicht nicht alle ganz so, wie ich sie mit dem Sinn erfasse, da ja dieses Erfassen der Sinne in vielen Fällen sehr dunkel und verworren ist; aber zumindest ist all jenes in ihnen, was ich klar und deutlich verstehe, d.h. alles, allgemein betrachtet, was im Objekt der reinen Mathematik enthalten ist. (Meditationes VI §10, AT VII 80)
Da wir aufgrund Gottes Güte sicher sein können, dass die Objekte der Ideen, die wir klar und deutlich erfassen, auch so existieren, wie wir sie erfassen, sind Körper wesentlich durch geometrische Eigenschaften charakterisiert, denn nur diese Eigenschaften von Körpern können wir den Überlegungen der Regulae und der Zweiten Meditation zufolge auch klar und deutlich erkennen. Es ist allerdings wichtig zu beachten, dass Descartes’ Argument nicht zeigt, dass Körper nur geometrische Eigenschaften aufweisen. Es zeigt lediglich, dass sie wenigstens solche Eigenschaften aufweisen. Vielleicht haben Körper auch nicht-geometrische Eigenschaften, die wir einfach nicht klar und deutlich erkennen können.30 Das mag so
____________ 28 So Gaukroger 1980, 97f. 29 Im Brief an Mersenne vom 27.7.1638, AT II 268, schreibt Descartes: „meine gesamte Physik ist nichts anderes als Geometrie.“ Gegenüber Burmann bemerkte Descartes, der einzige Unterschied zwischen der Mathematik und der Physik bestünde darin, dass die Gegenstände der Physik im Gegensatz zu denen der Mathematik nicht nur potential, sondern auch aktual existierten (AT V 160). Vgl. auch Meditationes VI §1, AT VII 71. Zu Descartes’ Projekt einer mathematischen Physik und dessen Begründung siehe Gaukroger 1980. 30 So auch Garber 1994, 297. Dies ist insbesondere gegen Gaukroger 1980, 123, einzuwenden, der meint, Descartes liefere in seinen Meditationen ein Argument dafür, dass Körper ausschließlich durch geometrisch beschreibbare Ausdehnung charakterisiert seien. Erstens legt sich Descartes in der obigen Passage nicht auf diese starke These fest, und zweitens sehe ich nicht, mit welchem Argument Descartes eine solch starke These begründen könnte.
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sein, aber das gehört zur conditio humana und damit müssen wir leben. „Denn es liegt in der Natur eines endlichen Verstandes, dass er vieles nicht versteht, und es liegt in der Natur eines geschaffenen Verstandes, dass er endlich ist.“31 Wichtig ist nur, dass wir uns so lange nicht über die Beschaffenheit der Körper irren können, als wir uns an dem orientieren, was wir klar und deutlich an ihnen erkennen, und das heißt: solange wir sie ausschließlich geometrisch beschreiben.32 Dank Gottes Güte können wir sicher sein, dass alles, was wir klar und deutlich erkennen, tatsächlich existiert. Da wir nur geometrische Eigenschaften von Körpern klar und deutlich erkennen können, heißt das aber auch, dass Körper – soweit wir ein untrügliches Wissen von ihnen haben können – allein und vollständig durch geometrische Eigenschaften charakterisiert sind.33 Entsprechend müssen wir in der Wissenschaft der Physik davon ausgehen, dass „die Natur der Materie oder des Körpers überhaupt nicht in Härte, Gewicht, Farbe oder einer anderen sinnlichen Eigenschaft besteht, sondern nur in seiner Ausdehnung in die Länge, Breite und Tiefe.“34 Physikalische Objekte oder Körper, die Gegenstand einer Physik mit
____________ 31 Meditationes IV §13, AT VII 60. 32 In den Regulae (R8 §8, AT X 400) räumt Descartes jedoch die Möglichkeit ein, dass „das Gesuchte alles Fassungsvermögen der menschlichen Erkenntniskraft übersteigt“: „Wenn in Magneten etwa irgendeine Gattung des Seins steckt und unser Verstand bisher keine erkannt hat, die ihr ähnlich wäre, so dürfen wir nicht hoffen, sie jemals durch schlussfolgerndes Denken zu entdecken, sondern dazu müssten wir mit einem neuen Sinn oder einem göttlichen Geiste ausgerüstet sein.“ (R14 §1, AT X 439) 33 Dies erklärt auch Descartes’ Ansicht, mit seiner Metaphysik die Physik fundiert zu haben (siehe Brief an Picot, AT IXb 14, oder an Mersenne vom Januar 1641, AT III 297): Die These, dass physikalische Objekte geometrische Objekte sind, wäre ohne die Theorie klarer und deutlicher Ideen und Gott als Wahrheitsgarant nicht haltbar. Einen weiteren Grund für Descartes’ Ansicht werden wir unten noch kennen lernen: Er liegt darin, dass Gott die Ursache für die Bewegung der Dinge ist. 34 Prinzipien II §4, AT VIIIa 42. Hier sind zwei Dinge bemerkenswert: Erstens stellt Descartes hier eine stärkere These auf, als ich sie ihm bisher zugeschrieben habe. Er spricht nicht davon, dass Körper wenigstens durch geometrische Eigenschaften charakterisiert sind und von uns nur in dieser Weise untrüglich erkannt werden können, sondern dass sie sich überdies ausschließlich durch solche Eigenschaften auszeichnen. Zweitens begründet Descartes diese These anders als in der Sechsten Meditation auf der Grundlage eines Abstraktionsarguments: Wir können von allen Eigenschaften außer der Ausdehnung eines Körpers (wie Farbe, Gewicht und Härte usw.) abstrahieren, ohne dabei aufzuhören an einen Körper zu denken. Dieses Argument weist jedoch zwei erhebliche Schwächen auf: Zum einen zeigt es nur, dass Körper mindestens geometrische Eigenschaften haben, und nicht, dass sie nur geometrische Eigenschaften haben (vgl. dazu Garber 1994,
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Wahrheitsanspruch werden können, sind damit vollständig geometrisch charakterisierbar. Infolgedessen muss die Physik als eine Form der Mathematik betrieben werden.35 Descartes’ geometrische Physikkonzeption wirkt sich unmittelbar auf seine Theorie der Bewegung aus. Sollte sein Physikverständnis adäquat sein, müssen auch alle Veränderungen, die Aristoteliker noch in vier grundverschiedene Typen unterteilten, rein geometrisch beschrieben werden können. Aber wie lassen sich qualitative Veränderungen, Entstehungsund Wachstumsprozesse in Begriffen der Geometrie verstehen? Diesem Problem kommt Descartes in zwei Schritten nach. In einem ersten Schritt argumentiert er dafür, dass sich jede dieser Veränderung als Ortsbewegung auffassen lässt. Denn was Aristoteliker als alteratio, generatio oder augmentatio von Körpern beschrieben, kann man allein auf der Grundlage der örtlichen Bewegung ihrer kleinen Bestandteile verstehen. So ist z.B. das Verbrennen von Holz nach Descartes nichts anderes als das Lösen kleiner Holzteile, die sich so schnell bewegen, dass sie uns heiß und hell erscheinen.36 Eine andere Bewegung als die Ortsbewegung, so meint Descartes, „kann ich mir nicht denken und deshalb in der natürlichen Welt nicht annehmen.“37 In einem zweiten Schritt muss die Ortsbewegung als ein
____________ 296). Zum andern leuchtet nicht ein, warum wir von der Härte, nicht aber von der Ausdehnung von Körper abstrahieren können sollten. Descartes schreibt: „[W]enn bei der Bewegung unserer Hände gegen einen Teil alle dort befindlichen Körper mit derselben Schnelligkeit zurückwichen, mit der jene sich vorwärts bewegen, so würden wir keine Härte fühlen, und trotzdem haben wir keinen Grund, anzunehmen, dass die Körper, weil sie sich so zurückziehen, deshalb dasjenige verlieren, was sie zu Körpern macht“ (ebd.). Damit könnte man ebenso gut behaupten, dass wir von der Ausdehnung eines Körpers abstrahieren können: Wenn nämlich Körper bei unserem Anblick immer so schnell zurückwichen, dass wir sie nicht mehr sähen, so würden wir keine Ausdehnung wahrnehmen, und haben trotzdem keinen Grund anzunehmen, dass die Körper, weil sie sich so zurückziehen, deshalb dasjenige verlieren, was sie zu Körpern macht (vgl. dazu Gaukroger 1980, 132). 35 In den 3. Erwiderungen (159; AT VII 176) gibt Descartes noch ein drittes Argument für die geometrische Natur von Körpern. Hier behauptet er, dass alle Prädikate, die wir Körpern zuschreiben, den Begriff der Ausdehnung enthielten und auf diesen zurückführbar seien. Eine Darstellung und Diskussion dieses Arguments liefert Garber 1994, 297f. 36 Siehe etwa Le Monde 2, AT XI 7f. Für eine Darstellung von Descartes’ mechanistischer Wachstumstheorie und Embryologie siehe Gaukroger 2000. 37 Prinzipien II §24, AT VIIIa 53; vgl. auch Prinzipien I §69. Bemerkenswert ist, dass auch Aristoteles der Ortsbewegung eine Vorrangstellung zu allen anderen Veränderungen eingeräumt hat (siehe Physik 8.VII, 260a20-261a28). Allerdings nicht, weil er alle Veränderungen auf Ortsbewegungen reduzieren wollte, son-
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rein geometrisches Phänomen beschrieben werden. Dafür gilt es zunächst unseren alltäglichen Begriff der Ortsbewegung von seinen nichtgeometrischen Aspekten zu befreien. Wie Descartes bemerkt, verstehen wir unter der Ortsbewegung „im gewöhnlichen Sinne nur eine Tätigkeit, wodurch ein Körper aus einem Ort an einen anderen übergeht.“38 Tätigkeiten sind aber mit einer Kraft oder einer Aktivität verbunden und somit nicht rein geometrisch in Begriffen von Abständen zwischen Punkten beschreibbar. Ein rein geometrischer Bewegungsbegriff muss deshalb vom Tätigkeitsbegriff gelöst werden. Dieser Schritt lässt sich nach Descartes einfach vollziehen, wenn wir einsehen, dass es sich bei einer als Tätigkeit verstandenen Bewegung um eine obskure Idee handelt, die wir bilden, weil wir unsere eigenen Ortsbewegungen als Handlungen oder Tätigkeiten erfahren, die von einem Willen ausgehen.39 Um vom alltäglichen Verständnis der Ortsbewegung zu ihrer wahren Konzeption zu gelangen, reicht es, wenn wir unsere (auf Sinneserfahrung und falschen Übertragungen beruhenden) Vorurteile ablegen und uns allein auf das stützen, was wir klar und deutlich erfassen können. Betrachten wir jedoch nicht nach der gewöhnlichen Auffassung, sondern der Wahrheit nach das, was unter Bewegung zu verstehen sei, um ihr eine bestimmte Natur zuzusprechen, so kann man sagen, sie sei die Überführung eines Teiles der Materie oder eines Körpers aus der Nachbarschaft der Körper, die ihn unmittelbar berühren, und die als ruhend angesehen werden, in die Nachbarschaft anderer. (Prinzipien II §25, AT VIIIa 53; Hervorhebung im Original)
Wenn z.B. eine Kugel von links nach rechts über einen Tisch rollt, dann besteht die Bewegung dieser Kugel allein darin, dass sich eine Portion Materie (aus der die Kugel besteht) anfänglich in der Nachbarschaft der linken Tischkante befindet und anschließend in die Nachbarschaft der rechten Tischkante überführt wird. Wie Descartes präzisiert, kommt diese Konzeption der Bewegung ohne Rekurs auf einen Tätigkeits- oder Kraftbegriff aus: „Ich sage ‚Überführung’ und nicht: die Kraft oder Tätigkeit, welche überführt, um zu zeigen, dass die Bewegung immer in der bewegten, nicht in der bewegenden Sache ist, welche man beide nicht sorgfältig
____________ dern, da er der Ansicht war, dass sich eine Form nur dann aktualisieren könne, wenn sie mit einer bereits aktualisierten Form in Kontakt stehe, was wiederum voraussetzt, dass sich diese aktualisierte Form räumlich in die Nachbarschaft der aktualisierenden Potenz bewegen kann. (Vgl. dazu Kapitel I, Anm. 18). 38 Prinzipien II §24, AT VIIIa 53. 39 Vgl. dazu Brief an Elisabeth vom 21.5.1643, AT III 667f. Wenn wir die Kausalität im Bereich der Körper als eine Form der Tätigkeit oder der Aktivität auffassen, machen wir uns genau des Animismus schuldig, den Descartes Aristotelikern vorwirft. Dieser Verdacht hat sich bis in die moderne Kausalitäts- und Wissenschaftstheorie gehalten; vgl. z.B. Quine 1992, 74f., und Stegmüller 1960, 166.
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genug unterscheidet“.40 Wenn Descartes die Bewegung eines Körpers als einen Zustand des bewegten Körpers, und nicht des bewegenden Körpers bezeichnet, betont er, dass man die Bewegung (eines bewegten Körpers) nicht mit ihrer Ursache verwechseln sollte, auf die Descartes erst an späterer Stelle (in den Prinzipien II §§36f.) eingehen wird.41 Die Bewegung eines Körpers ist daher nichts anderes als der bloße Ortswechsel dieses Körpers, der vollständig als Funktion seines Abstandes zu seiner Nachbarschaft, d.h. als geometrische Linie beschrieben werden kann.42 Die geometrische Physikkonzeption im Allgemeinen und die Geometrisierung des Bewegungsbegriffs im Besonderen ziehen für Descartes sowohl ontologische als auch methodische Vorteile nach sich. Anders als die klassisch-aristotelische motus-Konzeption ist sein geometrisches Bewegungs- und Körperverständnis nicht an eine verhältnismäßig reichhaltige hylemorphistische Ontologie gebunden: Seine physikalischen Erklärungen kommen ohne Begriffe der Kraft, des Vermögens, der Aktualisierung und der (substantiellen) Form aus. Zudem lassen sich auf der Grundlage eines geometrischen Bewegungsbegriffs physikalische Phänomene mit Hilfe mathematischer Methoden angehen. Nicht nur, weil sie sich (kontingenterweise) angemessen mathematisch modellieren lassen, sondern weil physikalische Phänomene geometrische Phänomene sind. Descartes’ Bewegungsbegriff unterscheidet sich in seiner Zugänglichkeit für mathematische Beschreibungen also fundamental von der scholastischen motus-Konzeption. Darüber hinaus kann Descartes auf der Grundlage seiner Bewegungskonzeption so etwas wie ein Trägheitsprinzip formulieren. Sein erstes Naturgesetz besagt, dass „jede Sache, sofern sie einfach und unteilbar ist, so viel von ihr selbst abhängt, stets in demselben Zustand verharrt und diesen nur infolge äußerer Ursachen verändert.“43 Dieses Gesetz führt Descartes auf die Unveränderlichkeit (immutibilitas) Gottes zurück: Da Gott perfekt und damit unveränderlich ist, dürfen wir ihm „nur solche Werke zusprechen […], die nicht die geringste Unbeständigkeit in ihm verraten.“ Deshalb müssen wir annehmen, dass er „auch beständig dassel-
____________ 40 Prinzipien II §25, AT VIIIa 54, Übersetzung leicht geändert. 41 Siehe dazu auch Garber 1990, 161f. 42 In Le Monde VII, AT XI 40, meint Descartes: „Ich kenne keine andere Bewegung, die einfacher zu erfassen ist, als die Linien der Geometer, nach der Körper von einer Stelle zur anderen passieren und nacheinander alle Räume dazwischen einnehmen.“ 43 Prinzipien II §37, AT VIIIa 62. Eine frühere Version dieses Gesetzes findet sich in Le Monde VII, AT XI 38.
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be Maß an Bewegung in dieser Materie aufrechterhält.“44 Diesem Trägheits- oder Bewegungserhaltungsgesetz45 zufolge ist es möglich, dass sich ein einmal in Bewegung gesetzter Körper unbeschränkt weiter bewegt, wenn er nur nicht von äußeren Ursachen an seiner Bewegung gehindert wird. Dies wäre im Rahmen der klassisch-aristotelischen Naturphilosophie schlicht undenkbar. Wenn Bewegung als Aktualisierung einer Form verstanden wird, dann hat jede Bewegung ein natürliches Ende – nämlich die vollständige Aktualisierung der Form. Es ist damit schon aus begrifflichen Gründen nicht möglich, dass eine Bewegung im Sinne eines motus unbeschränkt anhalten kann und nie zu einem Ende kommt.46 Dies kritisierte Descartes als inkohärent: Schließlich hat die Bewegung, von der sie [gemeint sind die Aristoteliker] sprechen, ihre sehr seltsame Natur darin, dass während alle anderen Dinge als Ziel ihre Perfektion haben und nur danach streben sich selbst zu erhalten, diese kein anderes Ende oder Ziel hat als die Ruhe, und entgegen allen Naturgesetzen danach strebt, sich selbst zu zerstören. (Le Monde VII, AT XI 40)
Von allen anderen Eigenschaften, Zuständen oder modi endlicher Dinge würden schließlich auch Aristoteliker nicht behaupten, sie vergingen spontan: Wenn etwa ein Stück irgendeiner Materie viereckig ist, so sind wir völlig davon überzeugt, dass es immer viereckig bleibt, wenn ihm nicht etwas von woanders zustößt, das seine Gestalt verändert. Wenn es ruht, so glauben wir nicht, dass es sich zu bewegen anfangen wird, wenn es nicht durch eine Ursache dazu angetrieben wird. Und es besteht nicht der geringste Grund, weswegen wir annehmen sollten, dass, wenn es sich bewegt, seine Bewegung von selbst, und ohne von einem anderen Ding behindert zu werden, unterbrochen werden wird. (Prinzipien II §37, AT VIIIa 62; meine Übersetzung)47
Was sich nach Descartes bewegt, das verharrt ohne Einfluss einer äußeren Ursache genauso in seinem Bewegungszustand, wie es in jedem anderen seiner Zustände verharrt, und strebt – anders als die Aristoteliker meinten – kein bestimmtes Ziel an.
____________ 44 Prinzipien II §36, AT VIIIa 61f. 45 Da Descartes noch über keinen Massebegriff verfügte, handelt es sich dabei auch noch nicht um das korrekte Trägheitsprinzip, dessen Entdeckung auf Newton zurückgeht, dem Descartes auch nicht zugestimmt hätte, da er bestritt, dass sich Körper externer Bewegungseinwirkung widersetzen (vgl. etwa sein Brief an Mersenne vom Dezember 1638, AT II 466f.). Für eine Diskussion dazu vgl. Gabbey 1971, 16-31, und Garber 1991, 253f. 46 So meinte etwa Thomas: „Daher ist es unmöglich, dass die Natur nach einer Bewegung um ihrer selbst willen strebt. Sie strebt also durch die Bewegung nach der Ruhe“ (ScG III §23¶6). 47 Siehe auch Brief an Mersenne vom 26.4.1643, AT III 649f.
Descartes’ Kritik an Finalursachen
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Descartes’ Kritik an Finalursachen Descartes’ Kritik an der hylemorphistischen Bewegungstheorie wirkt sich unmittelbar auf die Annahme von Finalursachen aus. Denn wenn die Veränderung eines Gegenstandes nicht mehr als Aktualisierung einer Form, sondern als örtliche Verschiebung seiner Bestandteile verstanden wird, scheint es keinen metaphysischen Grund mehr dafür zu geben, wann man eine Veränderung für abgeschlossen oder erfolgreich zu betrachten hat. Körper bewegen sich zwar im Raum und schlagen dabei bestimmte Richtungen ein, aber ihre Bewegungen haben kein Ziel in dem Sinne, dass es für sie einen Ort gäbe, zu dem sie sich eher hinbewegen sollten als zu einem anderen. Cartesische Veränderungen tragen ihr Ende nicht in der Weise in sich, wie es der aristotelische motus tut. Sie haben deshalb auch keine Finalursachen. Daher erstaunt es kaum, wenn Descartes behauptet, dass „diese ganze Gattung von Ursachen, die man üblicherweise dem Zweck entnimmt, in der Physik keinerlei Nutzen hat“.48 Auch wenn vor diesem Hintergrund sofort einleuchtet, dass Descartes mit den aristotelischen Finalursachen im Bereich der Physik nichts anfangen kann, lohnt es sich, seine Kritik an diesen Ursachen genauer zu untersuchen. Denn erst damit wird deutlich, was Descartes genau unter Finalursachen verstand, und welche Optionen ihm nach der Zurückweisung dieser Finalursachen offen blieben, um den natürlichen Phänomenen gerecht zu werden, die wir üblicherweise teleologisch beschreiben. Die erste Frage soll am Ende dieses Abschnitts geklärt werden. Mit der zweiten Frage werde ich mich im verbleibenden Teil dieses Kapitels befassen. Descartes’ Kritik an den Finalursachen setzt zunächst an einer Kritik der substantiellen Formen an. Und dies nicht ohne Grund: Wie sich in Kapitel I zeigte, sind die klassisch aristotelischen Finalursachen von Dingen und ihren Bewegungen durch ihre substantiellen Formen gegeben. Feuer zielt darauf ab, Feuer zu erzeugen, weil es zur Form des Feuers gehört, Feuer zu erzeugen. Wie im letzten Abschnitt allerdings deutlich wurde, wies Descartes die Annahme solcher Formen als (i) animistisch und (ii) überflüssig zurück: Sie sind Ausdruck eines naiven Animismus (i), da eine Form, um für das zielgerichtete Verhalten eines Dinges verantwortlich sein zu können, über eine Erkenntnis dieses Zieles verfügen muss; „denn sicherlich scheint es nicht möglich, dass dies ohne Erkenntnis geschieht, eine Erkenntnis aber kann es nirgendwo anders geben als in einem Geist.“49 Überflüssig sind solche Formen (ii), weil Descartes (zumindest
____________ 48 Meditationes IV §6, AT VII 55. 49 6. Erwiderung, 383; AT VII 442.
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Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse
nach seiner eigenen Einschätzung) in seiner Physik zentrale natürliche Phänomene „aus den allbekannten und von allen anerkannten Prinzipien, nämlich aus Gestalt, Größe, Lage und der Bewegung der materiellen Punkte hergeleitet“ hat, und es infolgedessen niemanden geben wird, „der sich nicht leicht davon überzeugen würde, dass in den Steinen oder Pflanzen keine so dunklen Kräfte vorhanden sind, keine so erstaunlichen Wunder der Sympathie oder Antipathie, nichts schließlich in der Natur insgesamt, das allein auf körperliche, bzw. des Verstandes und des Denkens entbehrende Ursachen zurückgeführt werden muss […], so dass es nicht nötig ist, ihnen irgendwelche anderen hinzuzufügen.“50 Insofern Finalursachen klassischerweise von den (substantiellen) Formen der Dinge abhängen, betreffen Descartes’ beide Kritikpunkte nicht nur die Annahme substantieller Formen, sondern auch die von Finalursachen: Zum einen macht man sich des Animismus schuldig, wenn man das Verhalten von Dingen mit Hilfe von Finalursachen erklärt, da man den damit erklärten Dingen zumindest implizit einen Geist unterstellt. Zum andern ist die Annahme von Finalursachen zur Erklärung natürlicher Phänomene überflüssig, da das Verhalten eines Dings allein und erschöpfend mit Bezug auf Wirkursachen erklärt werden kann. Untersuchen wir die beiden Argumente also etwas genauer. Descartes’ Animismusargument gegen die Annahme von Finalursachen in der Physik lässt sich wie folgt wiedergeben: Wer das Verhalten eines Dinges mit Bezug auf eine Finalursache erklärt, der muss annehmen, dieses Ding erkenne das entsprechende Ziel. Damit beruft man sich aber nicht mehr „allein auf körperliche, bzw. des Verstandes und des Denkens entbehrende Ursachen“, sondern nimmt zumindest implizit an, das entsprechende Objekt sei beseelt oder mit einem Geist ausgestattet, da es „eine Erkenntnis […] nirgendwo anders geben ‹kann› als in einem Geist.“ Finalursachen kann es also nur geben, wo es Wesen gibt, die diese Ziele erkennen können, und da nur rationale oder beseelte Wesen Ziele erkennen können, kann auch nur das Verhalten rationaler oder beseelter Agenten mit Bezug auf Finalursachen erklärt werden, weshalb Finalursachen in der Physik von gar keiner Bedeutung sind. Vor dem Hintergrund dessen, was wir bereits kennen gelernt haben, verwundert dieser Gedankengang kaum: Schon Thomas ging mit seiner cognitio-Bedingung davon aus, ein Ziel könne nur dann kausal wirksam und so zur eigentlichen Finalursache werden, wenn es erkannt wird. Und bereits Suárez zog daraus die Konsequenz, dass im strengen Sinne nur das Verhalten rationaler Wesen, die zu dieser Erkenntnis fähig sind, Finalursachen haben. So gesehen, schließt
____________ 50 Prinzipien IV §187, AT VIIIa 314f.; meine Übersetzung.
Descartes’ Kritik an Finalursachen
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Descartes mit seinem psychologischen Finalursachenverständnis an die Tradition der Scholastik an. Daneben lässt sich das so genannte Überflussargument rekonstruieren: Wenn Descartes – wie oben zitiert – ausführt, alle Phänomene „in der Natur insgesamt […] ‹könnten› allein auf körperliche, bzw. des Verstandes und des Denkens entbehrende Ursachen zurückgeführt werden“, zeigt sich darin, dass ein Rekurs auf Finalursachen unnötig und die Annahme von Finalursachen in der Physik überflüssig ist. Das Verhalten natürlicher Phänomene kann befriedigend durch körperliche (Wirk-)Ursachen erklärt werden, ohne zusätzlich auf Ziele Bezug nehmen zu müssen. Descartes geht sogar noch einen Schritt weiter. Es ist nicht nur so, dass man für die Erklärung einzelner physikalischer Prozesse nicht auf Finalursachen zurückgreifen muss. Sogar die gesamte Ordnung des Universums könne allein auf der Grundlage der Bewegungsgesetze erklärt werden: Denn Gott hat diese Gesetze auf so hervorragende Weise eingerichtet, dass selbst wenn wir annähmen, Er schaffe nicht mehr als was ich sagte, und selbst wenn Er ihm weder Ordnung noch Verhältnis auferlegte, sondern es als das verworrenste und verwirrteste Chaos bilden würde, das die Poeten beschreiben können: Sie wären hinreichend dafür, dass sich die Teile dieses Chaos selbst entwirren würden und sich in einer so guten Ordnung aufstellen würden, dass sie die Form einer sehr perfekten Welt hätten, in welcher man nicht nur Licht sehen könnte, sondern auch alle anderen Dinge, sowohl die allgemeinen und die einzelnen, die in der wahren Welt erscheinen. (Le Monde VI, AT XI 34f.)51
Die von Gott erlassenen mechanischen Naturgesetze sind so perfekt, dass dank ihnen selbst eine in ihrem Chaos überlassene Welt nach und nach in eine wohlgeordnete Welt überginge. Da die durch die Bewegungsgesetze regulierten Bestandteile rein mechanisch durch Stoß und Druck aufeinander einwirken, ist selbst die Ordnung des Universums wirkkausal erklärbar. Die Annahme von Finalursachen in der Physik ist damit schlicht überflüssig.52 Descartes’ rasche Zurückweisung der Finalursachen aus der Physik scheint allerdings verdächtig. Schließlich begründet er seine Aussage, die Ordnung der Welt ergebe sich allein aus ihren Bewegungsgesetzen damit, dass Gott sie „auf so hervorragende Weise eingerichtet“ hätte. Die Ordnung der Welt scheint so nicht rein wirkkausal erklärbar, sondern Gottes hervorragenden Bewegungsgesetzen geschuldet zu sein. Ist damit die Ordnung der Welt letztlich nicht doch durch eine Finalursache zu erklären –
____________ 51 Ganz ähnlich auch im Discours V §3, AT VI 45. 52 In gewisser Weise schummelt Descartes hier: Er kann (im besten Fall) nur zeigen, dass es sich so verhält, dass sich ausgehend von jeder beliebigen chaotischen Anfangsbedingung eine geordnete Welt entwickelt. Aber er kann nicht erklären, warum es sich so verhält. Vgl. zu dieser Erklärungslücke Short 2007, 117-128.
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Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse
und zwar durch Gottes Ziel, eine perfekte und geordnete Welt zu schaffen? Greift Descartes schließlich nicht trotzdem auf (Gottes) Finalursachen zurück? Descartes selbst bestreitet dies. Nachdem ihm Pierre Gassendi Ähnliches eingewandt hatte, schrieb er: Alles, was Du dann für die Finalursache beibringst, muss auf die wirkende Ursache bezogen werden; so ist es richtig, auf Grund der Zweckmäßigkeit der Teile in Pflanzen, in den Tieren usw. den wirkenden Gott zu bewundern und aus dem Einblick in die Werke zu erkennen und ihn als den Werkmeister zu preisen, aber nicht Vermutungen aufzustellen, zu welchem Zweck er jedes einzelne gemacht hat. Und mag auch in der Ethik, wo man oft mit Vermutungen operieren darf, es eine Tat der Frömmigkeit sein, Betrachtungen darüber anzustellen, welchen Zweck wir wohl erschließen können, den Gott sich bei der Lenkung des Alls zum Ziele gesetzt hätte; in der Naturwissenschaft, wo alles sich auf ganz feste Gründe stützen muss, ist es sicherlich unangebracht. Auch kann man sich nicht vorstellen, dass einige Zwecke Gottes mehr als andere offenkundig sind; denn alle sind in der unerforschlichen Tiefe seiner Weisheit verborgen. (5. Erwiderung, 343f.; AT VII 374f., Übersetzung geändert)53
Wenn wir in der Welt zweckmäßige Einrichtungen entdecken oder zu entdecken meinen, so kann uns das als Anlass dazu dienen, Gott als Urheber oder Wirkursache dieser Dinge zu bewundern. Das kann uns erbauen oder uns in unserer Frömmigkeit bestärken. Damit sind Mutmaßungen über Gottes Absichten oder Finalursachen im Bereich der Ethik oder des religiösen Lebens gerechtfertigt. Doch dies ändert nichts daran, dass Erwägungen der Finalursachen der Dinge grundsätzlich spekulativ sind und bleiben. Gottes Ziele sind unergründlich. Daher können wir angesichts eines uns zweckmäßig erscheinenden Zusammenhangs nie gewiss sein, ob sich dahinter tatsächlich eine Absicht Gottes verbirgt, und müssen deshalb aus methodischen Gründen in naturwissenschaftlichen Kontexten, wo es um das Erlangen gewisser Erkenntnis geht, auch ganz auf finalursächliche Erklärungen verzichten. Und tatsächlich behauptet Descartes in der zuvor zitierten Passage auch keinen finalen Zusammenhang zwischen Gottes hervorragenden Gesetzen und der Ordnung der Welt, sondern lediglich einen konsekutiven: Gott hat die Bewegungsgesetze so geschaffen, dass (si ... que) die Welt geordnet ist; sie sind „hinreichend“ (suffissantes) für ihre Ordnung. Auf diese Weise bleibt offen, was nach Descartes prinzipiell offen bleiben muss, nämlich ob Gott die Naturgesetze auf ihre Weise geschaffen hat, damit die Welt geordnet ist.54
____________ 53 Descartes reagiert hier auf Gassendis Einwand, dass Zweckbetrachtungen in der Natur nötig seien, um daraus auf Gottes Existenz und Perfektion schließen zu können (vgl. 5. Einwand, 283f.; AT VII 308f.). 54 Descartes begründet in besagter Passage die Ordnung der Welt streng genommen auch nicht im Rekurs auf Gottes hervorragende Gesetze. Da – wie Descartes’ ge-
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Descartes’ Reaktion auf Gassendi beruht auf seinem dritten Argument, das er immer wieder gegen die Annahme von Finalursachen in der Physik anführt, und das man Ignoranzargument nennen könnte. In einer besonders prägnanten Formulierung lautet es: „Wir wollen uns auch nicht dabei aufhalten, die Zwecke zu untersuchen, die Gott sich bei der Schaffung der Welt gesetzt hat, und wollen die Untersuchung der Zweckursachen gänzlich aus unserer Philosophie verbannen. Denn wir können uns nicht anmaßen, Gottes Absichten dabei zu wissen“.55 Wie Descartes an anderer Stelle ausführt, können wir uns deshalb nicht anmaßen, Gottes Absichten zu kennen, weil unsere „Natur sehr schwach und beschränkt ist, die Natur Gottes aber unermesslich, unfassbar und unendlich.“ Daraus folgt, dass Gott „zahlloser Dinge fähig ist, deren Ursachen ich nicht kenne“, weshalb „jene ganze Gattung von Ursachen, die man üblicherweise dem Zweck entnimmt, in der Physik keinerlei Nutzen hat; nicht ohne Leichtfertigkeit meine ich nämlich, dass ich die Ziele Gottes ausfindig machen kann.“56 Descartes’ Ignoranzargument lässt sich wie folgt rekonstruieren: (P1) Wir können nicht wissen, was Gott bei der Erschaffung der Dinge für Absichten oder Ziele verfolgte. (P2) Finalursachen sind Absichten oder Ziele, die Agenten in ihren Tätigkeiten verfolgen. (K1) Also: Wir können die Finalursachen der von Gott geschaffenen Dinge nicht erkennen. (K2) Also: Finalursächliche Erklärungen in der Physik sind prinzipiell ungewiss und daher von gar keiner Bedeutung. Geht man von der plausiblen Annahme aus, dass die Finalursachen von Dingen, die Finalursachen ihrer Konstruktion oder Erschaffung sind, und teilt man die in einem theistischen Weltbild unbestreitbare Ansicht, dass physikalische Gegenstände gottgeschaffen sind, ist das Argument gültig. Es stellt sich also die Frage nach der Wahrheit seiner Prämissen. (P2) ist zunächst nur Ausdruck eines psychologischen Finalursachenverständnisses, das sich bereits in Descartes’ Animismusargument, bei Suárez und in Thomas’ cognitio-Bedingung zeigte. Diese Prämisse drückt im Begriffssystem der Tradition Descartes’ also einfach einen begrifflichen Zusammenhang aus, und ist in diesem Sinne analytisch wahr. Aber wie verhält es sich
____________ naue Untersuchung dieser Gesetze zeigte – die Ordnung der Welt einfach aus diesen Gesetzen folgt, muss dieser Zusammenhang nicht mehr eigens begründet werden. Dieser Zusammenhang hat sich bereits gezeigt. Siehe dazu Anm. 52. 55 Prinzipien I § 28, AT IXb 37. 56 Meditationes IV §6, AT VII 55, Übersetzung leicht modifiziert.
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mit (P1)? Warum können wir prinzipiell Gottes Absichten nicht erkennen? Wie gesehen, begründet dies Descartes damit, dass unsere „Natur sehr schwach und beschränkt ist, die Natur Gottes aber unermesslich, unfassbar und unendlich.“ An anderer Stelle betont Descartes, dass die Schwach- und Beschränktheit unserer Natur Ausdruck unserer Endlichkeit ist.57 Unser prinzipielles Unvermögen, Gottes Absichten zu erkennen, ist also unserer Endlichkeit geschuldet, die es uns unmöglich macht, die Gründe eines unendlichen Wesens zu erfassen. Wie ein Blick auf Leibniz oder Thomas von Aquin zeigt, ist diese Ansicht jedoch alles andere als selbstverständlich. Als Vertreter einer intellektualistischen Position gingen diese Autoren davon aus, dass Gottes Absichten nicht unergründlich sind, sondern sich nach dem richten, was er mittels seines Intellekts als gut erkennt. Da rationale, endliche Wesen ebenfalls über einen Intellekt verfügen, sind auch sie prinzipiell in der Lage zu erkennen, was gut ist, und infolgedessen, was Gott wählt und beabsichtigt. Diesem intellektualistischen Bild stellte Descartes ausgehend von Überlegungen zur Willensfreiheit eine voluntaristische Position entgegen.58 Da dem Intellektualismus zufolge der Wille immer das wählen muss, was der Intellekt als gut erkennt, unterminiert dieser nach Ansicht eines Voluntaristen die Freiheit des Willens. Entsprechend darf ein freier Wille in der Ausübung seiner freien Wahl nicht durch den Intellekt determiniert werden, sondern muss aus reiner Indifferenz handeln. Das gilt insbesondere für den allmächtigen und damit im höchsten Maße freien Willen Gottes: Es wäre widersprechend anzunehmen, dass Gott nicht stets in Beziehung auf alles, was geschehen ist oder je geschehen wird, indifferent gewesen sei. Denn man kann sich kein Gutes oder Wahres, oder auch was man glauben, tun oder unterlassen muss, ausdenken dessen Idee im göttlichen Verstand gewesen ist, bevor sein Willen sich entschlossen hat, zu bewirken, dass es so wäre. […] Denn er hat z.B. nicht darum gewollt, dass die Welt in der Zeit geschaffen werde, weil er gesehen hat, dass es so besser sein werde, als wenn sie von Ewigkeit her geschaffen worden wäre; auch hat er nicht gewollt, dass die drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten seien, weil er erkannt hat, dass es nicht anders möglich wahr usw. Sondern ganz im Gegenteil: Weil er gewollt hat, dass die Welt in der Zeit geschaffen werde, darum ist es so besser, als wenn sie von Ewigkeit her geschaffen worden wäre, und weil er gewollt hat, dass die drei Dreieckswinkel notwendig gleich zwei Rechten sind, darum ist jetzt dies wahr und kann gar nicht anders sein und ebenso steht es in allen übrigen Fällen. (6. Erwiderung, 374; AT VII 431f.)
Um seine voluntaristische Auffassung eines bedingungslos oder absolut freien Willens aufrecht zu erhalten, zieht Descartes aus der Freiheit Gottes
____________ 57 Vgl. Meditationes III §§23-24, AT VII 45f. 58 Eine Diskussion von Descartes’ Voluntarismus bietet Menn 1998, 349-352.
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die radikale Konsequenz, dass Gott bei der Schöpfung durch nichts eingeschränkt war – weder durch das Gute noch durch das Wahre. Denn wäre Gott bei seiner Schöpfung durch begriffliche oder moralische Wahrheiten eingeschränkt, liefe das seiner Freiheit zuwider, da er in diesem Fall das Gute und das Wahre wählen müsste. Daher wählt Gott nicht, was gut und wahr ist, sondern die Dinge sind umgekehrt gut und wahr, weil sie Gott gewählt hat. Das mag unplausibel erscheinen, und man fragt sich, „wie Gott von Ewigkeit her hätte bewirken können, dass 2 · 4 = 8 und dergleichen nicht wahr gewesen wären.“ Und tatsächlich gesteht Descartes zu, dass „das von uns nicht erfasst werden kann.“59 Aber dafür gibt es eine einfache Erklärung: Als Gott die ewigen Wahrheiten oder Gesetze schuf, hat er diese in der Natur eingerichtet, „wie ein König seine Gesetze in seinem Königreich einrichtet. […] Sie sind alle unserem Geist angeboren, gerade wie ein König seine Gesetze in das Herz all seiner Untertanen einprägen würde, wenn er genügend Macht dazu hätte.“60 Angesichts der Tatsache, dass sich Gott nun einmal für die ewige Wahrheit ‚2 · 4 = 8’ entschieden und uns in der Folge diese Wahrheit in unseren Geist eingeprägt hat, ist völlig klar, dass wir uns jetzt nicht denken können, dass ‚2 · 4 ≠ 8’ wahr ist. Dies bringt uns zurück zum Ignoranzargument und seiner ersten Prämisse (P1), der zufolge wir als endliche Wesen Gottes Absichten nicht kennen können. Diese Prämisse beruht – wie inzwischen deutlich geworden ist – auf Descartes’ Voluntarismus: Gottes Absichten sind unergründlich, weil Gott in seiner Allmacht nicht an Rationalitätsgesetze gebunden ist, auf deren Grundlage wir seine Absichten erschließen könnten. Denn diese Rationalitätsgesetze oder ewigen Wahrheiten gelten erst, seit und weil sie Gott gewählt hat. Daher können sie auch nicht zur Beschreibung und Erklärung des ihnen vorausgehenden Schöpfungsaktes herangezogen werden.61 Descartes’ Ignoranzargument ist ein epistemisches Argument: Es sagt nicht, finalursächliche Erklärungen spielten in der Physik keine Rolle, weil die physikalischen Gegenstände keine Finalursachen hätten. Es besagt nur, dass wir diese Finalursachen nicht erkennen können. Doch der Volunta-
____________ 59 6. Erwiderung, 378; AT VII 436. 60 Brief an Mersenne vom 15.4.1630, AT I 145. 61 Vor diesem Hintergrund leuchtet auch ein, warum Descartes so genannte Schlüsse auf die beste Erklärung ablehnt, wie er dies z.B. am Ende seiner Prinzipien (IV §204, AT VIIIa 327) tut. Nicht nur Gottes Zwecke sind unergründlich, sondern auch seine Mittel, da ihm vor der Erschaffung der Naturgesetze und ewigen Wahrheiten prinzipiell alles offen stand – auch Mittel, die wir als endliche Wesen gar nicht begreifen können.
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rismus, auf dem dieses Argument beruht, erlaubt Descartes noch ein weiteres Argument gegen die Annahme von Finalursachen in der Physik. Dieses Argument ist im Gegensatz zum Ignoranzargument ein metaphysisches und man könnte es Voluntarismusargument nennen. Diesem Argument zufolge hat Gottes Schöpfung im strikten Sinne gar keine Finalursache: Denn wenn irgendein Grund zum Guten früher war als seine Vorausbestimmung, so hätte dieser ihn zu Schöpfung des Besten bestimmt. Doch gerade im Gegenteil! Weil er sich selbst bestimmt hat, das zu schaffen, was nun mehr existiert, deswegen ist es, wie in der Genesis steht „sehr gut“, d.h. der Grund für die Güte der Dinge hängt davon ab, dass er sie gerade so hat machen wollen. (6. Erwiderung, 377; AT VII 435f.)
Hätte Gottes Schöpfung eine Finalursache, so hieße das, Gottes Schöpfung sei um eines gewissen Zieles willen erfolgt, was wiederum voraussetzte, dass Gott dieses Ziel erkannt und als gut befunden hätte. Damit gäbe es ein Gut, das Gottes Schöpfungsakt vorausginge, und ihn darin bestimmen würde. Dies widerspräche jedoch Gottes voluntaristisch verstandener Freiheit. Deshalb kann es kein Gut oder Ziel geben, das Gottes Schöpfung vorgelagert wäre, und Gott kann daher im strikten Sinne gar keine Finalursache haben.62 Auch wenn sich dieses Voluntarismusargument gegen die Existenz von Finalursachen Gottes unmittelbar aus seiner voluntaristischen These von Gottes absoluter Freiheit ergibt, hat Descartes selbst dieses Argument meines Wissens an keiner Stelle explizit ausgeführt. Dennoch halte ich es aus mindestens zwei Gründen für erwähnenswert: Zum einen scheint mir Descartes aufgrund seines Voluntarismus schlicht auf dieses Argument verpflichtet. Zum anderen zeigt sich dadurch einmal mehr, wie nah Descartes’ Finalursachenverständnis zu dem von Suárez ist. Bereits oben wurde deutlich, dass Descartes mit Suárez ein psychologisches Finalursachenverständnis teilt, dem zufolge Finalursachen nur bei rationalen Agenten auftreten können, die aufgrund einer Kenntnis von Zielen handeln können. Vor dem Hintergrund seines Ignoranz- und Voluntarismusarguments zeigt sich nun, dass Descartes und Suárez auch darin übereinstimmen, dass im strikten Sinne nur menschliche Handlungen (d.h. Handlungen endlicher, rationaler Agenten) finalursächlich erklärt werden können: Natürliche oder physikalische Gegenstände verfügen über keinen Geist oder Intel-
____________ 62 Vgl. zu diesem Argument auch Simmons 2001, 65f. D.h. jedoch nicht, dass Gott überhaupt keine Absichten hätte (und damit nicht handeln würde). Gott hat nur keine seinen Handlungen vorausgehenden Absichten. Er verfügt nur über das, was J. Searle 1983, 113-122, „Handlungsabsichten“ genannt hat, welche die Erfüllungsbedingung der mit ihnen einhergehenden Handlungen spezifizieren.
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lekt, der ihnen die Erkenntnis von Zielen ermöglichen würde, und Gott kann aufgrund seiner Allmacht unmöglich durch Ziele oder Finalursachen beschränkt sein. Durch diese Zurückweisung der Finalursachen im Bereich Gottes und der Natur, musste Suárez eine neue Möglichkeit finden, um unsere teleologische Rede in diesen beiden Bereichen zu rechtfertigen. Dem kam Suárez dadurch nach, dass er die teleologische Ordnung der Natur auf Gottes Ideen oder Exemplarursachen zurückführte, die als intentionale Wirkursachen für die zweckmäßige Einrichtung der Schöpfung verantwortlich sind. Diesen Weg zur Begründung teleologischer Erklärungen hat Descartes nicht gewählt. Wahrscheinlich würde er aber den Verweis auf Gottes Ideen oder Exemplarursachen zur Rechtfertigung teleologischer Erklärungen ebenso ablehnen, wie er in seinem Ignoranzargument den Bezug auf Gottes Absichten abgelehnt hat: Da Gottes unendliches Wesen unergründlich ist, wäre eine Spekulation über Gottes Ideen genauso anmaßend wie über seine Absichten.63 Gelingt es Descartes dennoch, unserer teleologischen Rede über natürliche Gegenstände Rechnung zu tragen? Das will ich im nächsten Abschnitt untersuchen.
Teleologie und Kausalanalyse Vögel haben Flügel, um zu fliegen, Fische haben Kiemen, um zu atmen, Leoparden haben Beine, um zu rennen, und Herzen haben Herzklappen, um den Rückfluss des Blutes ins Herz zu verhindern. Zumindest die lebendige Natur scheint voll von Zweckmäßigkeiten. Ist dieser Eindruck unbegründet? Können wir uns nicht sicher sein, ob die Flügel der Vögel um ihrer Fähigkeit des Fliegens da sind, nur weil wir nicht wissen können, welche Absichten Gott bei der Erschaffung der Flügel verfolgt hat? Müssen wir nach Descartes all unsere teleologischen Aussagen über natürliche Phänomene für falsch oder zumindest für ungewiss erklären? Zumindest Gassendi scheint diese radikale Konsequenz aus Descartes’ These, dass Gottes Ziele unergründlich sind, gezogen und gleichzeitig für absurd erachtet zu haben: Doch da kein Sterblicher einsehen noch auch erklären kann, welche wirkende Ursache jene Klappen, die an der Mündungen der Herzkammern angebracht sind, bildet und anordnet in der Weise, die wir beobachten, was für Materie oder woher sie die Materie nimmt, aus der sie sie arbeitet, auf welche Weise sie sich zur
____________ 63 In der Tat betont Descartes im Brief an Mersenne vom 6.5.1630, AT I 149, dass bei Gott Wollen und Erkennen zusammenfallen. Entsprechend sind Gottes Absichten mit seinen Ideen identisch.
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Wirkung anschickt, welche Werkzeuge sie gebraucht oder auf welche Weise sie sie handhabt, was sie braucht, um sie in dieser Ausmessung, Struktur, Zugfestigkeit, Beweglichkeit, Größe, Form und Anordnung herzustellen – da, sage ich, kein Naturforscher dies und anderes zu durchschauen und zu erklären vermag, warum sollte er nicht wenigstens jene ganz hervorragende Zweckmäßigkeit und unaussprechliche Vorsehung bewundern, die solche Klappen so geeignet für den Gebrauch hergerichtet hat? Warum sollte man ihm nicht beipflichten, wenn er demzufolge zu der Erkenntnis kommt, man müsse notwendig irgendeine erste Ursache gelten lassen, die das und alles Übrige mit höchster Weisheit und in vollkommener Übereinstimmung mit seinen Zwecken angeordnet hat? (5. Einwand, 284f.; AT VII 309)
Herzklappen sind offensichtlich hervorragend für ihre Aufgabe als Ventile geeignet, die den Rückfluss des Blutes ins Herz verhindern. Dies können wir auch dann erkennen, wenn wir nicht genau verstehen, auf welche Weise die Herzklappen genau an die Mündungen der Herzkammern gekommen sind und was entsprechend die genaue (Wirk-)Ursache dafür ist, dass die Herzklappen an diesem Ort den Blutrückfluss verhindern. Ist es angesichts der offensichtlich zweckmäßigen Einrichtung der Herzklappen nicht sogar unvernünftig, nicht auf Gott als den weisen Urheber dieser Dinge zu schließen? Manifestieren sich in diesen Phänomenen nicht unmittelbar Gottes Absichten oder Finalursachen? Descartes’ Antwort auf diese Fragen kennen wir bereits: Nein, sie tun es nicht, weil Gottes Zwecke unergründlich sind. Aber verpflichtet diese Antwort Descartes darauf, den Herzklappen ihre Zweckmäßigkeit abzusprechen, obwohl uns „solche Klappen so geeignet für den Gebrauch“ erscheinen? Gassendi scheint diese Frage bejahen zu wollen. Die Begründung dazu lässt sich seiner rhetorischen Frage entnehmen, ob dem Naturforscher nicht beizupflichten sei, wenn er angesichts der manifesten Zweckmäßigkeit notwendig eine erste Ursache gelten lassen müsse, die dies mit höchster Weisheit angeordnet habe. Das hier angedeutete Argument lässt sich wie folgt ausbuchstabieren: (1) (2) (3) (4)
Wir erkennen, dass gewisse Dinge in der Natur zweckmäßig eingerichtet sind. Wir wissen, dass es einen Grund dafür geben muss, dass diese Dinge zweckmäßig eingerichtet sind. Wir wissen, dass der einzig mögliche Grund dafür darin besteht, dass diese Dinge von einer weisen ersten Ursache geschaffen wurden, die ihre zweckmäßige Einrichtung beabsichtigte. Also: Wir wissen, dass es eine weise erste Ursache gibt, die die zweckmäßige Anordnung der Dinge beabsichtigt und in der Folge erschaffen hat.
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Dieses Argument ist sicher gültig. Da Descartes (4) jedoch ablehnt, muss er mindestens eine der Prämissen (1), (2), (3) zurückweisen. Aber er muss sie nicht alle zurückweisen. Daher kann er getrost an der plausiblen These (1) festhalten, in der Natur gäbe es offensichtliche Zweckmäßigkeiten – wie z.B. die, dass Flügel dem Fliegen dienen. Er muss dann nur These (2) oder (3) zurückweisen. Allerdings ist Prämisse (2) jedoch nur schwer aufzugeben, da es sich um eine Instanz des Prinzips des zureichenden Grundes handelt. Diesem Prinzip zufolge muss es für alles, was es gibt, einen Grund geben, der erklärt, warum es existiert, und Descartes scheint sich in großen Teilen seines Werks auf genau dieses Prinzip festzulegen – auch wenn er bezüglich theologischer Fragen Ausnahmen zulässt.64 Unter Anwendung dieses Prinzips folgt (2) direkt aus (1): Denn wenn etwas zweckmäßig ist, dann muss es einen Grund dafür geben, warum es zweckmäßig ist, und dies müssen wir auch wissen, wenn wir wie Descartes wissen, dass das Prinzip des zureichenden Grundes gilt. Angesichts des Umstandes, dass Descartes von diesem Prinzip ausgeht und an (1) festhalten möchte, muss er auch (2) akzeptieren. Will Descartes also gleichzeitig entgegen (4) behaupten, dass wir Gottes Absichten nicht erkennen können, und dass es in der Natur erkennbare zweckmäßige Zusammenhänge gibt (1), bleibt ihm nichts anderes übrig als Prämisse (3) zu bestreiten, wonach der einzige Grund dafür, dass Dinge zweckmäßig eingerichtet sind, darin besteht, dass sie von Gott als solche beabsichtigt und geschaffen wurden. Nach seiner Kritik an Finalursachen stehen Descartes also zwei systematische Optionen offen: Einerseits kann er – wie von Gassendi implizit befürchtet – die Prämisse (1) ablehnen und dafür argumentieren, dass wir uns streng genommen ständig irren, wenn wir die Natur teleologisch beschreiben und z.B. denken, Herzklappen hätten den Zweck, den Rückfluss des Blutes zu verhindern.65 Andererseits kann er auch (3) zurückweisen und bestreiten, dass ein Rekurs auf Finalursachen oder Gottes Absichten die einzige Möglichkeit ist, unsere teleologischen Beschreibungen und Erklärungen zu rechtfertigen. Er müsste zeigen, dass man auch ohne Rückgriff auf Gottes Absichten erklären kann, dass z.B. Herzklappen die Funktion haben, den Rückfluss des Blutes zu verhindern. Dass Descartes
____________ 64 Vgl. etwa 2. Erwiderung, 122f. und 149; AT VII 135 und 164f., Schmaltz 2008, 74, und Broughton 2003, 156-158. 65 Wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird, ergreift Spinoza diese Option – zumindest, wenn die beschriebene Zweckmäßigkeit eine hinreichende Erklärung für etwas liefern soll.
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die zweite Option bevorzugt, zeigt sich, wenn man sich seine Ausführungen zum Blutkreislauf vergegenwärtigt.66 Die Untersuchung des Herzens und des Blutkreislaufs nimmt in Descartes’ Biologie67 eine entscheidende Rolle ein. Das Blut pumpende Herz fungiert in Descartes mechanistischer Theorie des Lebewesens nämlich als eine Art Motor und übernimmt damit eine der Funktionen, die in der klassisch aristotelischen Biologie der substantiellen Form des Lebewesens – seiner Seele – zugewiesen wurde.68 Mit Rekurs auf die (vegetative oder gar sensitive) Seele eines Lebewesens erklärten die Aristoteliker einerseits, warum ein Lebewesen seinen Stoffwechsel unterhalten und seine Wahrnehmungsfunktionen ausüben kann. Andererseits lieferte die Seele das ontologische Kriterium, kraft dessen sich ein Lebewesen als Lebewesen auszeichnet und sich von Nicht-Lebendigen unterscheidet.69 Diese strikte ontologische Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem gab Descartes mit seiner mechanistischen Konzeption der res extensa auf: Auch wenn Descartes zwischen einem Hund, einer Lilie und einem Rosenquarz unterscheiden kann, so sind diese Dinge lediglich graduell voneinander verschieden. Hunde mögen komplexer sein als Rosenquarze, aber im Grunde sind beide einfach ausgedehnte Körper, die als solche unter dieselben physikalisch-geometrischen Gesetze fallen.70 Die ontologische Homogenität von Hunden, Lilien und Rosenquarzen zieht für Descartes sogleich eine methodische nach sich. Da sie alle Entitäten derselben onto-
____________ 66 Beschreibungen des Blutkreislaufs gibt Descartes im Discours V, §§5-8, AT VI 47-55, im Traité de l’homme (= Traité), AT XI 123-129, in den Passions de l’âme (= Passions) §§7-9, AT XI 331-334, und in Description II, AT XI 228-245. 67 Das Wort „Biologie“ erscheint aus zwei Gründen problematisch: Erstens handelt es sich um einen Anachronismus, weil es die eigenständige Disziplin der modernen Biologie erst seit Anfang des 19. Jh.s gibt, und zweitens fällt für Descartes die Untersuchung von Lebewesen wie die Untersuchung aller anderen Körper in das Gebiet der Physik. Ich verwende das Wort hier also nicht, um eine methodisch klar umgrenzte Wissenschaft zu bezeichnen, sondern nur um über einen handlichen Begriff zu verfügen, mit dem ich mich einfach auf Descartes’ Überlegungen zur Erklärung und Beschreibung von Lebewesen beziehen kann. 68 So schreibt Descartes in seiner Description I, AT XI 226, bezüglich des lebendigen Körpers, dass „die Wärme im Herz wie die große Quelle oder das Prinzip aller Bewegungen in ihm ist“. Leider sagt Descartes meines Wissens nichts zum Stoffwechsel von Pflanzen. 69 Eine ausführliche Diskussion spätaristotelischer Erklärungen des Lebendigen gibt Des Chene 2000. 70 Nach Descartes sind Tiere deshalb einfach komplexe Maschinen (prägnant in AT II 39-41). Vgl. zur bête-machine These ausführlich Wild 2006, 135-210.
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logischen Kategorie sind – nämlich Körper71 –, müssen sie auch alle auf die prinzipiell gleiche Weise erklärt werden.72 Das heißt insbesondere, dass auch der Stoffwechsel und die Bewegungen eines Lebewesens auf der Grundlage derselben Gesetze zu erklären sind wie die Bewegungen unbelebter Materie. Genau diesem Desiderat kommt Descartes mit seiner Theorie des Herzens und Blutkreislaufs nach, da sie eine mechanistische Erklärung dessen liefert, was Lebewesen am Laufen hält. Descartes beginnt seine Untersuchung des Herzkreislaufs mit der Feststellung, dass das Herz warm ist. Diese Tatsache erklärt er damit, dass „diese Wärme keiner anderen Natur sei, als allgemein gerade diese, die durch die Mischung gewisser Flüssigkeiten oder durch einen Hefeteig verursacht wird“.73 Im Herzen findet also eine Art Gärungsprozess statt. Dieser ist als ein „Feuer ohne Licht“ zu verstehen, das sich rein mechanisch als Bewegung kleiner Teile erklären lässt.74 Dieser Gärungsprozess sorgt dafür, dass „es im Herzen immer wärmer als an jeder anderen Stelle des Körpers ist“. Nun ist diese Wärme nach Descartes auch fähig, „einen Tropfen Blut, wenn er in diese Kammern eintritt, sofort aufzublähen und auszudehnen, wie es im Allgemeinen alle Flüssigkeiten tun, wenn man sie Tropfen für Tropfen in ein Gefäß fallen lässt, das sehr heiß ist.“75 Damit lässt sich das Pumpen des Herzens auf einfache, mechanische Weise erklären: Wenn seine Kammern nicht mit Blut gefüllt sind, fließt dieses notwendigerweise aus der Hohlvene in die rechte und aus der venösen Arterie in die linke Herzkammer […]. Aber sobald auf diese Weise zwei Tropfen Blut eingetreten sind, einer in jede seiner Kammern, verdünnen und dehnen sich diese Tropfen aus […]. Dadurch schwillt das ganze Herz an, und das Blut drückt und schließt die fünf kleinen Türen in den Eingängen der beiden Gefäße, aus denen es kommt, und verhindert so, dass mehr Blut in das Herz hineinläuft; und indem es sich weitere mehr und mehr ausdehnt, drückt und öffnet es die sechs anderen kleinen
____________ 71 Streng genommen sind Körper natürlich keine ontologische Kategorie wie Modi oder Substanzen. Da es allerdings umstritten ist, ob Descartes einzelne Körper nun als Substanzen erachtet oder als Modi, möchte ich mich hier einer Festlegung enthalten. Ich werde darauf besonders im ersten Abschnitt des Kapitels zu Leibniz eingehen. Vgl. dazu auch Markie 1994. 72 „Von der Beschreibung der unbelebten Körper und der Pflanzen ging ich zu der der Tiere und insbesondere zu der der Menschen über“, schreibt Descartes über seinen wissenschaftlichen Werdegang im Discours V §4, AT VI 45, und fügt hinzu, dass idealerweise „darüber nach derselben Methode wie vom Übrigen zu sprechen“ sei. 73 Description II, AT XI 228. 74 Traité, AT XI 123. Eine mechanistische Analyse dieses es Feuers gibt Descartes in Le Monde II, AT XI 24 und in den Prinzpien IV §§80-92, AT VIIIa 249-257. 75 Discours V §5, AT VI 48f.
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Türen in den Eingängen der beiden Gefäße, durch die es hinausgeht, befinden, und bewirkt dadurch, dass sich alle Zweige der arteriellen Vene und die große Arterie fast im gleichen Moment wie das Herz aufblähen. Dieses zieht sich, wie auch die Arterien, danach sofort wieder zusammen, weil das eingetretene Blut dort abkühlt, ihre sechs Türen sich wieder schließen und die fünf der Hohlvene und der venösen Arterie sich wieder öffnen und den Weg für zwei andere Tropfen Blut freigeben, die genauso wie die vorhergehenden das Herz und die Arterien von neuem aufblähen. (Discours V §6, AT VI 49f.)
Das Blut, das ins Herz hineinströmt, dehnt sich Descartes’ Theorie zufolge durch die Gärungswärme im Herzen aus, öffnet dadurch die diversen Herzklappen, strömt in der Folge hinaus und macht damit Platz für die nächsten Tropfen Blut, die sogleich nach fließen, wodurch sich der gesamte Vorgang wiederholt. Damit etabliert sich ein selbst erhaltender Blutkreislauf, der den Organismus am Leben hält. Durch den Blutfluss werden kleine Teile an alle möglichen Orte des Körpers geführt, wo sie sich ablagern und so zum Wachstum oder Dickwerden des Körpers beitragen,76 oder sie werden zur Bildung der Verdauungssäfte und anderer Sekrete verwendet, die unser Körper laufend ausscheidet. Zudem produziert das Blut auch einen „gewissen sehr subtilen Wind oder vielmehr eine sehr lebhafte und sehr reine Flamme, die man Lebensgeister nennt.“77 Diese Lebensgeister sind materiell und bestehen aus den schnellsten und flüchtigsten Teilen des Blutes. Sie übermitteln durch die Nervenbahnen mechanische Impulse und tragen damit zur Steuerung der Ortbewegung eines Organismus bei. Damit kommt es jedoch zu einem ständigen Blutverlust, weshalb der Organismus dauernd des Nachschubs an Blut bedarf. Dazu verhelfen ihm die Verdauungsprozesse im Magen, in denen die aufgenommene Nahrung rein mechanisch in kleine Teile zerlegt wird und über die Leber als Blut in den Blutkreislauf gelangt.78 Auf der Grundlage der Theorie der Lebensgeister erklärt Descartes – wenn auch nur in höchst schematischer Weise – die Ortsbewegungen und die Wahrnehmungen eines Organismus. Nachdem sich diese Lebensgeister vom Blut abgesondert haben, treten sie in die Nervenbahnen ein, in denen „sie das Vermögen haben, die Gestalt der Muskeln zu ändern, in die diese Nerven eingelegt sind, und dadurch alle Glieder in Bewegung zu versetzen.“79 Die Organisation eines Lebewesens, so argumentiert Descartes, hätten wir uns ähnlich vorzustellen, wie jene hydraulischen Vorrichtungen der Grotten und Brunnen der königlichen Parkanlagen seiner Zeit.
____________ 76 77 78 79
Traité, AT XI 126. Traité, AT XI 129. Siehe dazu Traité, AT XI 121-123, und Description III, AT XI 245-252. Traité, AT XI 130.
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Tatsächlich kann man die Nerven der Maschine, die ich beschreibe mit den Maschinenröhren dieser Brunnen vergleichen; die Muskeln und ihre Sehnen mit den anderen verschiedenen Geräten und Federn, die dazu dienen, sie zu bewegen; seine Lebensgeister mit dem Wasser, das sie antreibt, von dem das Herz die Quelle ist und die Hohlräume des Gehirns mit den Kontrollschächten. Zudem sind die Atmung und die anderen solchen Aktivitäten, die für sie natürlich und gewöhnlich sind, und die vom Lauf der Geister abhängen, wie die Bewegungen einer gewöhnlichen Uhr oder Mühle, die durch den gewöhnlichen Lauf des Wassers in Gang gehalten werden können. Die äußeren Objekte, die schlicht durch ihre Anwesenheit auf die Sinnesorgane einwirken, und sie dadurch dazu bestimmen, sich auf mehrere verschiedene Weisen zu bewegen gemäß der Disposition der Teile seines Gehirns, gleichen den Besuchern, die – indem sie einige dieser Grotten dieser Brunnen eintreten, selbst und ohne daran zu denken die Bewegungen verursachen, die sich vor ihnen darbietet […]. (Traité, AT XI 130f.)
Auf der Grundlage seiner Theorie des Blutkreislaufs und der darauf aufbauenden Theorie der Lebensgeister kann Descartes also auf rein mechanistische Weise dem Phänomen des Lebens Rechnung tragen.80 Aber nicht nur das. Wie er betont, ist seine mechanistische Beschreibung des Körpers auch hinreichend, um sämtliche körperlichen Funktionen (fonctions) zu erklären: Ich möchte, dass Sie nach diesen Ausführungen bedenken, dass alle Funktionen, die ich dieser Maschine zugewiesen habe wie die Verdauung von Nahrung, das Schlagen des Herzens und der Arterien, die Ernährung und das Wachstum der Glieder, die Atmung, das Wachen und das Schlafen, die Aufnahme des Lichts, der Töne, der Gerüche, der Geschmäcke, der Wärme, und weiterer solcher Qualitäten in den Organen der äußeren Sinne, der Eindruck ihrer Ideen im Organ des Gemeinsinns und der Einbildungskraft, der Rücklass oder der Abdruck dieser Ideen im Gedächtnis, die inneren Bewegungen des Appetits und der Leidenschaften und schließlich die äußeren Bewegungen aller Glieder […]: Ich möchte, so sage ich, dass Sie beachten, dass die Funktionen dieser Maschine ganz natürlich allein aus der Disposition der Organe folgen, nicht weniger, als es die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten aus ihren Gewichten und Zahnrädern tun, so dass man wegen ihnen in ihr überhaupt keine weitere vegetative oder sensitive Seele annehmen muss, oder ein anderes Prinzip der Bewegung und des Lebens als ihr Blut und ihre Geister, die durch die Wärme des Feuers bewegt werden, das kontinuierlich in seinem Herz brennt und das von keiner anderen Natur ist als alle Feuer, die in unbeseelten Körpern sind. (Traité, AT XI 202)
Die Funktionen der Körperteile und Organe von Lebewesen, so macht Descartes hier deutlich, können auch ohne Finalursachen erklärt werden. Sie bestehen allein in den Dispositionen dieser Organe, d.h. schlicht in dem, was diese Organe als Teile eines Körpers tun. Die Funktion eines Organs ist nichts anderes als die kausale Rolle, die dieses Organ im gesam-
____________ 80 Eine detaillierte Beschreibung und Diskussion von Descartes’ Physiologie gibt Des Chene 2001, 13-52.
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ten Organismus spielt. Teleologische Aussagen über natürliche Phänomene sind daher auch einfach als Aussagen über die kausalen Rollen zu verstehen, die diese Phänomene innerhalb eines größeren Systems spielen: Das Herz schlägt, um Blut zu pumpen, weil das Schlagen des Herzens in einem Organismus das Pumpen des Bluts verursacht, und Vögel haben insofern Flügel um zu fliegen, als Flügel den Vögeln zur Fähigkeit des Fliegens verhelfen.81 Mit Hilfe dieser dispositionalen Theorie der Funktionen kann Descartes nun Gassendis Vorbehalt zerstreuen, den ich weiter oben als Argument rekonstruiert habe. Gassendi schien ausgehend davon, dass wir erkennen, dass natürliche Phänomene zweckmäßig oder funktional eingerichtet sind (dies war Prämisse (1)), darauf zu schließen, dass wir Gottes Absichten erkennen (dies entspricht der Konklusion (4)), weil es außer Gottes Absichten keinen anderen Grund für die Funktionalität der natürlichen Phänomene gäbe (so lautete Prämisse (3)). Wie Gassendi kann Descartes auch die plausible These (1) vertreten, wonach viele Dinge offensichtlich funktional oder zweckmäßig eingerichtet sind. Nur verpflichtet ihn dieses Zugeständnis nicht auf die Annahme (4), dass wir auch Gottes Absichten erkennen können. Denn die Funktionalität oder Zweckmäßigkeit, die wir in natürlichen Phänomenen entdecken, besteht in nichts anderem als in der kausalen Rolle, die diese Dinge innerhalb eines Systems spielen. Entsprechend erkennen wir diese Funktionen aufgrund einer einfachen kausalen Analyse der Bestandteile eines Systems, wenn wir untersuchen, welche spezifischen Wirkungen diese Teile innerhalb dieses Systems hervorbringen. Dazu müssen wir nicht auf Gottes Absichten zurückgreifen. Diese Antwort allein dürfte Gassendi allerdings kaum zufrieden gestellt haben. Natürlich, so hätte er wahrscheinlich eingeräumt, können Herzklappen nur die Funktion haben, den Rückfluss des Blutes zu verhindern, wenn sie auch die Disposition haben, das zu tun. Aber das ist trivial. Die Frage ist doch, wie Herzklappen diese Disposition erwerben: Wie kommt es dazu, dass Herzklappen genau in der Weise in einen Körper eingebettet sind, dass sie den Rückfluss des Blutes verhindern können? Ist der Organismus erst einmal da, ist klar, dass die Funktionen seiner Teile in ihren Dispositionen bestehen. Was mich interessiert, so könnte Gassendi fortfahren, ist die Frage, wie es überhaupt zu der Organisation dieser Teile kommt. Und von dieser Frage meine ich, dass sie nicht ohne
____________ 81 Siehe auch Simmons 2001, 73. Descartes vertritt demnach eine ähnliche Funktionstheorie, wie sie in jüngerer Zeit R. Cummins 1975, 765, vertreten hat: „To ascribe a function to something is to ascribe a capacity to it which is singled out by its role in an analysis of some capacity of a containing system.“
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Rekurs auf Gottes Absichten beantwortet werden kann: Herzklappen haben die Funktion, den Rückfluss des Blutes zu verhindern, weil sie das in einem Organismus typischerweise tun, und das können sie, weil Gott den Organismus in der Absicht so eingerichtet hat, dass Herzklappen den Rückfluss des Blutes verhindern können. Die Funktion eines Dinges erklärt also nicht nur, was ein Ding (normalerweise) tut, sondern vor allem, warum dieses Ding überhaupt existiert. Descartes’ kausalanalytisches Funktionsverständnis geht also bereits von der Existenz des komplexen Systems aus, dessen Bestandteile eine bestimmte kausale Rolle einnehmen, die sich als Funktionen beschreiben lassen. Wenn sich dieses komplexe System selbst nun ohne Rekurs auf Gottes Absichten erklären lassen sollte, dann sind auch die Funktionen seiner Teile ohne Bezug auf Gottes Absichten erklärbar. Descartes’ dispositionale Funktionsanalyse ist also erst der erste Schritt zur Elimination von Gottes Absichten aus unseren teleologischen Beschreibungen natürlicher Gegenstände. Dieser Schritt besteht darin, die Funktionen der einzelnen Organe auf ihre kausale Rolle innerhalb des gesamten Organismus zurückzuführen. Um jeden Bezug auf Gottes Absichten aus unserer teleologischen Rede über Natürliches auszuschließen, bedarf Descartes’ Funktionsanalyse noch eines zweiten Schritts: Er muss zeigen, dass auch die Einrichtung oder Organisation der Systeme, aufgrund derer Bestandteile eine spezifische kausale Rolle aufweisen, ohne Rekurs auf Gottes Absichten erklärt werden kann. Zu diesem zweiten Schritt war Descartes in seinen Frühschriften noch nicht fähig. Wie er selbst ausführt, besaß er zu dieser Zeit „noch nicht genügend Kenntnisse“, um über die Entstehung des Menschen „nach derselben Methode wie von dem übrigen zu sprechen“. Deshalb ging er in der Beschreibung der kausalen Rolle menschlicher Organe schlicht von der Annahme aus, dass „Gott den Körper eines Menschen sowohl hinsichtlich der Form seiner Glieder als auch hinsichtlich der inneren Gestaltung seiner Organe ganz ebenso wie einen der unsrigen gebildet habe“.82 Ausgehend davon konnte er zumindest dem oben charakterisierten ersten Schritt nachkommen und zeigen, dass die Funktionen des Körpers rein mechanistisch und ohne aristotelische Seele erklärt werden können. Was Descartes im Discours (1637) und im Traité de l’homme (16291633) aufgrund mangelnder anatomischer Kenntnisse noch nicht zustande brachte,83 das holte er in der Description du corps humaine (1647) nach. In
____________ 82 Discours V § 4, AT VI 45f. 83 Im Brief an Mersenne vom 20.2.1639, AT II 525, schrieb Descartes zwar bereits, er hätte herausgefunden, dass sich die anatomischen Phänomene nach denselben
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Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse
den Teilen IV und V dieser Schrift beschreibt er, wie sich ausgehend von gärendem Samenmaterial im Mutterleib und den dadurch ausgelösten Zirkulationsbewegungen auf rein mechanische Weise ein Fötus zu formieren beginnt, in dem sich nach und nach das Herz, das Gehirn, die Lungen, Arterien und Nervenbahnen ausbilden.84 Descartes’ schematische Darstellung der Entstehung eines Lebewesens beruft sich auf dieselben mechanischen Gesetze, auf die er sich auch in seinen physikalischen, astronomischen und optischen Schriften bezieht.85 Die Formation der Organe in Lebewesen erweist sich somit als blinder, mechanischer Prozess, der ausschließlich durch die allgemeinen Bewegungsgesetze erklärt werden kann, und an keiner Stelle eines Bezugs auf Gottes Absichten bedarf. Damit ist Descartes’ Elimination von Gottes Absichten aus der teleologischen Beschreibung natürlicher Gegenstände perfekt: In einem ersten Schritt führt er die Funktionen oder Zwecke der Organe auf ihre kausale Rollen innerhalb eines komplexen mechanischen Systems zurück, und weist in einem zweiten Schritt die Entstehung dieses komplexen Systems als einen rein mechanischen Prozess aus. Anders als Gassendi glaubt Descartes also, die teleologische oder funktionale Rede über natürliche Phänomene auch ohne Rekurs auf Finalursachen einfangen zu können. Dennoch ist wichtig festzuhalten, dass die Zwecke oder Funktionen, die Descartes Organen auf der Grundlage einer Analyse ihrer kausalen Rollen zuspricht, nicht genau dieselben Zwecke sein können, die ihnen Gassendi mit Rückgriff auf Gottes Absichten zusprechen will. Denn diese unterschiedlich konzipierten Zweck- oder Funktionsbegriffe beantworten je verschiedene Fragen: Die cartesische Funktion eines Dinges – d.h. die Disposition oder kausale Rolle eines Dings innerhalb eines komplexen Systems – erklärt, was dieses Ding (innerhalb seines Systems) tut. Demgegenüber erklärt die Gassendi’sche Funktion eines Dinges – d.h. das, wozu Gott dieses Ding beabsichtigt und geschaffen hat –, warum dieses Ding existiert. Das wird anhand eines einfachen Beispiels besonders deutlich:
____________ Prinzipien erklären ließe wie die Himmelskörper, aber zu diesem Zeitpunkt hat er noch nichts Derartiges publiziert. 84 Siehe Description IV-V, AT XI 252-286. Eine detaillierte Analyse und Diskussion von Descartes’ Embryologie und Entstehung von Lebewesen geben Gaukroger 2000, 389f., und Des Chene 2001, 32-52. 85 So greift Descartes in Description IV, AT XI 255, etwa explizit auf die Prinzipien, die Dioptrique und die Météores zurück. Carter 1991, 200-208, legt zudem überzeugend dar, dass Descartes von einer Analogie zwischen der Entstehung der physiologischen Strukturen im Körper und der Kosmologie des Universums ausgeht. (Mit diesem Vorgehen täuscht Descartes streng genommen wieder über eine Erklärungslücke hinweg; vgl. Anm. 52).
Teleologie und Kausalanalyse
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Sowohl Gassendi als auch Descartes stimmten wohl dem teleologischen Satz (S) zu: (S)
‚Vögel haben Flügel, damit sie fliegen können’
Trotzdem würden sie (S) je unterschiedlich analysieren. Nach Descartes trifft (S) eine Aussage über die kausale Rolle von Flügeln und besagt, dass Vögel dank ihrer Flügel über die Fähigkeit des Fliegens verfügen. Im Gegensatz dazu bedeutet (S) Gassendi zufolge, dass Gott Vögeln ihre Flügel mit der Absicht gegeben hat, dass sie damit fliegen mögen. Aufgrund der unterschiedlichen Analyse von (S) wird in (S) je Verschiedenes erklärt: Nach Descartes erklärt (S), wozu Flügel dienen, d.h. zu was Flügel Vögel befähigen. Er würde (S) also mit Betonung auf ‚fliegen’ lesen: (SD)
‚Vögel haben Flügel, damit sie fliegen können’ – und nicht etwa, damit sie schwimmen können, denn mit Flügeln lässt sich nur schlecht schwimmen.
Ganz anders Gassendi. Ihm zufolge erklärt (S), weshalb Gott Vögel überhaupt mit Flügeln ausgestattet hat und Vögel nun Flügel haben. Er würde (S) mit Betonung auf ‚Flügel’ lesen: (SG)
‚Vögel haben Flügel, damit sie fliegen können’ – und nicht etwa Ohren, denn Ohren würden den Zweck des Fliegens nur schlecht erfüllen.86
In diesem Vergleich zeigt sich, dass Descartes’ kausalanalytisches Funktionsverständnis einen Zweckbegriff generiert, der sich im Gegensatz zu demjenigen, der aus Gassendis intentionalistischem Funktionsverständnis hervorgeht, nicht dazu eignet, die Existenz eines Dinges – oder eines seiner Merkmale – zu erklären, sondern allein dessen Disposition erläutert. Aber ist dies ein Mangel? Ist Descartes’ kausalanalytische Funktionskonzeption unangemessen, weil man auf ihrer Grundlage die Existenz eines Dings nicht durch seine Funktion erklären kann? Das würde Descartes entschieden ablehnen. Denn für ihn kann die Existenz eines Dinges nur kausal erklärt werden:87 „Das natürliche Licht lehrt uns aber in der Tat, dass es keine Sache gibt, bei der es nicht statthaft wäre zu fragen, warum sie exis-
____________ 86 Gassendi und Descartes sind also verschiedener Auffassung darüber, welcher Teilsatz in (S) das Explanandum und welcher das Explanans ist: Rein formal weist (S) die Form ‚P, damit Q’ auf. Nach Descartes erklärt P Q nach Gassendi erklärt Q P. 87 Nicht einmal Gott, der Ursache seiner selbst (causa sui) ist, ist davon ausgenommen (vgl. 1. Erwiderung, 97f.; AT VII 108f.). Dies kritiserten Caterus (84f.; AT VII 95) und Arnauld (190ff.; AT VII 210ff.). Siehe dazu Schmaltz 2008, 59f.
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Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse
tiert oder auch nach ihrer wirkenden Ursache zu fragen“.88 Und tatsächlich hat Descartes ja eine mechanistische Erklärung der Entstehung von Lebewesen und ihren Organen vorgeschlagen. Um die Existenz eines Organs zu erklären braucht man deshalb auch nicht auf seine Funktion zu verweisen, sondern allein auf seinen kausal beschreibbaren Entstehungsprozess.89 Dass man auf der Grundlage seines Zwecks oder seiner Funktion die Existenz eines Dinges nicht erklären kann, ist daher auch nicht weiter problematisch. Ganz im Gegenteil, es wäre problematisch, wenn man dies könnte, weil dies Descartes’ Grundüberzeugung zuwider liefe, dass die Existenz eines Dinges allein (wirk-)kausal erklärt werden kann. Auf der Grundlage der kausalen Analyse von Dingen gelingt es Descartes also einen Funktionsbegriff zu etablieren, der prima facie sowohl unserer alltäglichen teleologischen Beurteilung natürlicher Zusammenhänge gerecht wird als auch Gassendis Einwänden entgeht. Seiner Analyse zufolge besteht der Zweck oder die Funktion eines Dinges in der kausalen Rolle, die dieses Ding innerhalb eines Systems einnimmt, oder in der Disposition, die dieses Ding innerhalb dieses Systems aufweist. Da die Existenz eines Dinges bereits durch seine Wirkursachen erklärt wird, erklärt der Zweck eines Dinges nicht (noch einmal), warum dieses Ding da ist. Er erklärt vielmehr, was dieses Ding innerhalb seines Systems tut. Ob Descartes’ kausalanalytische Explikation eine geeignete Analyse teleologischer Beschreibungen oder Erklärungen ist, muss sich in der Konfrontation seines Vorschlags mit weiteren Einwänden erweisen. Das soll im nächsten Abschnitt geschehen.
Dispositionen und Funktionen Descartes’ kausalanalytische Auffassung natürlicher Zwecke oder Funktionen wurde in jüngerer Zeit von Robert Cummins vertreten. Wie auch
____________ 88 1. Erwiderung, 97; AT VII 109. 89 Dies betont auch Descartes’ moderner kausalanalytischer Nachfolger R. Cummins 1975, 746, der sich ebenfalls gegen die Auffassung wendet, Funktionszuschreibungen erklärten die Existenz eines Dinges oder Merkmals: „to explain in [sic!] the presence of a naturally occurring structure or physical process – to explain why it is there, why such a thing exists in the place (system, context) it does – this does require specifying factors that causally determine the appearance of that structure or process.“ Cummins 2002, 159f., gibt dafür sogar einen prinzipiellen Grund an: Wenn Funktionen die Existenz eines Dinges erklären sollen, dann brauche es einen ‚grounding process’, kraft dessen Funktionen für die Existenz eines Dinges verantwortlich sein können. „But the only grounding processes likely to satisfy render the appeal to functions utterly superfluous.“
Dispositionen und Funktionen
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Descartes geht Cummins davon aus, dass Funktionen von Dingen Dispositionen sind: „Wenn etwas als Pumpe in seinem System s funktioniert oder wenn die Funktion von etwas in einem System s zu pumpen ist, dann muss es auch fähig sein, in s zu pumpen.“ Aber natürlich, so betont er, gilt dies nicht umgekehrt: „Etwas kann fähig sein zu pumpen, obwohl es nicht (ein einziges Mal) als Pumpe funktioniert und obwohl Pumpen nicht seine Funktion ist.“90 – Man denke etwa an einen Baumstamm, der in ein Wasserloch gefallen ist, so dass man damit ganz einfach das Wasser aus dem Loch pumpen könnte, indem man diesen Baumstamm ins Loch drückt. Wie dieses Beispiel zeigt, ist nicht jede Disposition auch eine Funktion. Was muss also dazu kommen, damit sich eine Disposition als Funktion qualifiziert? Cummins Antwort, der sich auch Descartes anschließen würde, lautet, dass genau die Dispositionen Funktionen sind, von denen sich im Rahmen einer kausalen Analyse einer Tätigkeit eines Systems herausstellt, dass ihre Ausübung einen Beitrag zu eben dieser Tätigkeit leistet.91 Funktionszuschreibungen lassen sich somit immer nur vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten Kausalanalyse treffen, in der genau jene Wirkungen eines Dings als funktional ausgezeichnet werden, die zur Ausübung der gerade zu analysierenden Tätigkeit beitragen. Cummins betont deshalb, dass „Funktionszuschreibungen der Relativierung zu einer ‚funktionalen Tatsache’ über ein enthaltendes System bedürfen, d.h. zu einer Tatsache, dass eine gewisse Fähigkeit eines enthaltenden Systems annäherungsweise im Rekurs auf eine gewisse funktionale Analyse erklärt wird.“92 Was das bedeutet, lässt sich gut anhand eines konkreten Beispiels erläutern: Das Herz zieht sich in regelmäßigen Abständen zusammen und bringt dadurch eine Reihe von Wirkungen hervor. Die Kontraktion des Herzens bewirkt etwa, dass das Blut gepumpt wird, in der Folge zirkuliert und dadurch die Zellen mit Sauerstoff versorgt. Daneben verursacht sie aber auch regelmäßige Pulsschlag-Geräusche. Indem sich das Herz regelmäßig zusammen zieht, tut es also mindestens zwei Dinge: Es trägt zum einen zur Sauerstoffversorgung des Organismus bei und macht zum andern regelmäßige Pulsschlag-Geräusche. Dadurch manifestiert es zugleich zwei
____________ 90 Cummins 1975, 757; Übersetzung von mir. 91 „In the context of the analytical strategy, exercise of an analyzing capacity emerges as function“ (Cummins 1975, 762). Dass auch Descartes nicht beliebige Dispositionen als Funktionen auffasst, sondern nur die, die sich in der kausalen Analyse der Tätigkeiten eines Lebewesens als relevant erweisen, zeigt sich darin, dass er einzelnen Organen nur im Kontext einer kausalanalytischen Untersuchung der Tier-Maschine Funktionen zuweist. 92 Cummins 1975, 763; meine Übersetzung.
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Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse
Dispositionen. Einmal die Disposition, Blut zu pumpen und dadurch den Organismus mit Sauerstoff zu versorgen, und einmal die Disposition, rhythmische Geräusche zu machen. Welche dieser beiden Dispositionen erweist sich nun als die Funktion des Herzens? Diese Frage lässt sich auf der Grundlage eines kausalanalytischen Funktionsverständnisses, wie es Descartes und Cummins vorschlagen, nicht ohne Weiteres beantworten. Denn welche dieser beiden Dispositionen als Funktion des Herzens anzusehen ist, hängt davon ab, als Teil welches Systems dieses Herz betrachtet wird und welche Fähigkeit dieses Systems im Rekurs auf das kontrahierende Herz erklärt werden soll. Will ich etwa die Fähigkeit der SelbstErhaltung des Systems ‚Organismus’ erklären, so werde ich dem Herz die Funktion des Blutpumpens zu weisen. Dass es dabei auch noch Geräusche macht, spielt für die Analyse der Selbst-Erhaltung eines Organismus keine (kausale) Rolle. Geht es mir hingegen um die Analyse des beruhigenden Einflusses der Brust auf Säuglinge, wie dies im System ‚Mutter stillt Kind’ auftritt, so stellt sich dafür das rhythmische Geräusch des Herzschlags als entscheidend heraus. Relativ zu diesem Analyse-Unternehmen erweist sich deshalb auch das Geräusche-machen des Herzens als funktional, und nicht das Blutpumpen oder die Sauerstoffversorgung. Dies ist für die beruhigende Wirkung des Stillens auf Säuglinge nicht – oder zumindest nicht primär – relevant.93 Dass „Funktionszuschreibungen der Relativierung zu einer ‚funktionalen Tatsache’ über ein enthaltendes System bedürfen“, heißt also, dass aufgrund einer kausalanalytischen Funktionskonzeption Dingen ihre Funktion nicht absolut zugeschrieben werden kann, sondern nur relativ zu einem gewissen Analyse-Projekt. Damit liegen die Funktionen der Dinge nicht allein in den Dingen selbst, sondern auch in den Augen des Betrachters. Was den Dingen wirklich zukommt, sind gewisse Dispositionen. Ob diese Dispositionen nun zusätzlich funktional sind, hängt davon ab, ob sie für eine zu analysierende Fähigkeit oder Tätigkeit eines bestimmten Systems als relevant betrachtet werden. Ihre Funktionalität ist also allein den Erklärungsinteressen einer Naturwissenschaftlerin geschuldet, und liegt nicht in der Sache selbst begründet. Der kausalanalytische Funktionsbegriff erweist sich in diesem Sinn als ein anti-realistischer Funktionsbegriff.
____________ 93 Dass der regelmäßige Pulsschlag, den Säuglinge beim Gestillt-werden spüren, einen beruhigenden Einfluss auf sie hat, ist jedenfalls eine in Elternforen des Internets verbreitete Meinung. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, gibt es zur Untermauerung dieser Behauptung keine empirischen, psychologischen Studien. Ohne mich darauf verpflichten zu wollen, dass sich der Herzschlag der Mutter beim Stillen tatsächlich beruhigend auf den Säugling auswirkt, werde ich diese These in der Folge als Beispiel für eine Theorie anführen, im Rahmen derer sich die Geräuschproduktion des Herzens als funktional erweist.
Dispositionen und Funktionen
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Dies haben verschiedene Autoren bemängelt:94 Ist es nicht unplausibel anzunehmen, dass es von uns abhängt, ob Flügel die Funktion haben, den Vögeln das Fliegen zu ermöglichen? Um auf diesen Vorwurf angemessen reagieren zu können, gilt es ihn zunächst genauer zu verstehen. Dafür lohnt es sich, klar darüber zu werden, worin die anti-realistische Komponente des kausalanalytischen Funktionsbegriffs genau besteht, und was die konkreten Konsequenzen einer solchen anti-realistischen Funktionskonzeption sind. Wie bereits deutlich wurde, besteht die anti-realistische Komponente einer kausalanalytischen Funktionstheorie in der Auszeichnung einer Disposition als Funktion. Denn für diese Auszeichnung gibt es der kausalen Rollentheorie zufolge keinen anderen Grund, als dass sich eine Disposition immer nur in einer Kausalanalyse einer ganz bestimmten Fähigkeit eines ganz bestimmten Systems als funktional erweist, und es von unseren Erkenntnisinteressen abhängt, welche Fähigkeit welches Systems wir untersuchen. Worin bestehen nun die Konsequenzen dieser interessensrelativen – und in diesem Sinne anti-realistischen – Funktionsbestimmung? Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich, wenn man sich genauer überlegt, was wir eigentlich tun, wenn wir vor dem Hintergrund einer Kausalanalyse eine Disposition als Funktion auszeichnen. Was ändert sich, wenn man ausgehend von einer Untersuchung der Selbsterhaltung eines Organismus dem kontrahierenden Herz nicht nur die Disposition der Sauerstoffversorgung zuweist, sondern dies als seine Funktion bezeichnet? Die Antwort darauf ist offensichtlich. Indem wir ein Merkmal gegenüber einem andern als funktional auszeichnen, stufen wir es als wichtig oder relevant ein. Damit bewerten wir die als Funktion ausgezeichnete Disposition in gewisser Weise als gut – und zwar als gut für die Realisierung der in unserer Untersuchung zu analysierenden Fähigkeit. Erforschen wir die Fähigkeit zur Selbsterhaltung eines Organismus, erweist sich dafür nur die vom Herz bewirkte Blutzirkulation als gut, nicht aber das gleichermaßen durch den Herzschlag verursachte Geräusch. Funktionszuschreibungen, so wird hier deutlich, sind also in einem gewissen Sinne normative Zuschreibungen. Sie zeichnen etwas als gut aus und unterstellen dadurch, die als funktional ausgezeichnete Tätigkeiten oder Dispositionen einem gewissen Sollen. Hat sich (in der Kausalanalyse der Selbsterhaltung eines Organismus) herausgestellt, dass die vom kontrahierenden Herz bewirkte Blutzirkulation gut für die Selbsterhaltung ist, so lässt sich in der Folge behaupten, dass das
____________ 94 So wenden etwa Millikan 1989, 293f., und Neander 1991a, 181, ein, kausalanalytische Funktionen könnten so ziemlich allem zukommen, da sie maßgeblich von unseren Interessen abhängen. Damit sei „diese Theorie von Funktionen viel zu großzügig“ (Neander 2002, 104).
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Herz das Blut nicht einfach nur zum Zirkulieren bringt, sondern dass es dies auch tun soll – auch wenn es das einmal nicht (mehr) tut. In diesem Fall handelt es sich einfach um ein schlechtes Herz. Es ist kaputt oder dysfunktional, da es seiner Funktion nicht mehr nachkommt, die man ihm im Rahmen der kausalen Analyse der Selbsterhaltung eines Organismus zugeschrieben hat. Damit unterwerfen wir die als funktional ausgezeichnete Disposition gleichzeitig einem normativen Standard, in Bezug auf den die Manifestationen dieser als funktional charakterisierten Disposition als mehr oder weniger gut oder gar als dysfunktional eingestuft werden können. Wenn wir eine Disposition als Funktion auszeichnen, dann weisen wir ihr also einen normativen Status zu. Da der kausalanalytischen Funktionstheorie zufolge Dispositionen allerdings nicht an sich funktional sind, sondern von uns relativ zu einer unseren Forschungsinteressen folgenden Kausalanalyse als funktional eingestuft werden, kommt auch dieser normative Status Funktionen natürlicher Dinge nicht an sich zu. Das heißt konkret: Ob ein Herz Blut pumpen oder Geräusche machen soll, und ob mit dem Herz, etwas nicht in Ordnung ist, wenn es kein Blut pumpt oder keine Geräusche macht, hängt nicht vom Herz selbst ab, sondern von unseren Interessen. Wenn wir an der Selbsterhaltung des Organismus interessiert sind, dann soll das Herz Blut pumpen. Wie laut es dabei ist, spielt nur eine zweitrangige Rolle. Interessiert uns hingegen die beruhigende Wirkung des Stillens auf Säuglinge, so soll das Herz vor allem regelmäßige Geräusche machen. Dass kausalanalytisch konzipierte Funktionen interessensrelativ – und in diesem Sinne auch von uns, und nicht nur von der Beschaffenheit der Welt abhängig – sind, impliziert also nicht, dass die Fähigkeit der Vögel mit Hilfe ihrer Flügel zu fliegen irgendwie von uns abhängt; oder, noch schlimmer, dass wir annehmen müssten, die Vögel stürzten alle sofort ab, wenn wir uns nicht mehr für ihr Fliegen interessierten. Ihre Interessensrelativität impliziert vielmehr, dass der normative Maßstab, anhand dessen wir die Flügel von Vögeln bewerten und als funktional oder dysfunktional einstufen, von unseren Interessen abhängt. Nach der kausalanalytischen Funktionskonzeption lässt sich ein Satz der Form: ‚Das Objekt O hat die Funktion oder den Zweck zu )-en’, also in zwei Komponenten zergliedern: (i)
in eine realistische Komponente, wonach O )-t, oder O die Disposition hat zu )-en;
und (ii)
in eine anti-realistische Komponente, wonach O gemäß unseren Interessen )-en soll.
Dispositionen und Funktionen
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Entsprechend ist die kausalanalytische Funktionstheoretikerin keine AntiRealistin bezüglich der in einer Funktionszuschreibung involvierten Dispositionalität, sondern lediglich eine bezüglich ihrer Normativität. Denn es ist nur letztere die ihrer Theorie nach nicht in der Sache selbst liegt, sondern von unseren Interessen und Beschreibungen abhängt. Eine der kausalanalytischen Funktionstheorie angemessene Kritik wäre also die, dass sie der normativen Komponente des Funktionsbegriffs nur ungenügend Rechnung trägt.95 Wenn es wahr ist, dass Vögel Flügel haben, damit sie fliegen können, so könnte man gegen die kausale Rollentheorie einwenden, dann sollen Vögel mit Hilfe ihrer Flügel auch fliegen können – und zwar so, dass es ein Problem ihrer Flügel ist, wenn sie es nicht können, und nicht eines unserer frustrierten Interessen. Einige Philosophen haben diesen Einwand als irregeleitet zurückgewiesen, da er nach einer Art inner-natürlichen Normativität verlangt, die mit einer naturalistisch aufgeklärten Theoriebildung unvereinbar sei.96 Doch wie steht es mit Descartes? Hat er dieses Problem überhaupt gesehen, und wenn ja, wie ging er damit um? Interessanterweise war sich Descartes bewusst, dass seine kausale Rollentheorie allein – in der Terminologie meiner Einleitung gesprochen – keine immanenten Funktionen oder Zwecke generiert, die den Dingen an sich zukommen, sondern dass sich daraus allein derivative Zwecke ergeben. Das wird besonders deutlich, wenn Descartes über die Funktionen einer Uhr und die Wahrnehmungsfunktionen einer Körpermaschine spricht. Zwar kann ich mit Rücksicht auf den vorgesehenen Zweck [usus] der Uhr sagen, sie weiche von ihrer Natur ab, wenn sie die Stunden nicht richtig angibt; ganz ebenso könnte ich auch von der Maschine des menschlichen Körpers, wenn ich sie betrachte, als sie für die Bewegungen eingerichtet, die gewöhnlicherweise in ihr sind, meinen, sie irre von ihrer Natur ab, wenn die Kehle trocken ist, obwohl das Trinken der Erhaltung des Körpers nicht von Nutzen ist. […] Hier ist ‚Natur’ nämlich nur eine Benennung, die von meinem Denken abhängt, indem ich den kranken Menschen und die schlecht gefertigte Uhr mit der Vorstellung des gesunden Menschen und der guten Uhr vergleiche; den Dingen bleibt die Be-
____________ 95 Und genau dies wurde in der Literatur mehrfach getan. Siehe etwa Millikan 1989, Neander 1991a und Neander 2002. Allerdings werfen Millikan und Neander der kausalen Rollentheorie vor, sie käme der Normativität von Funktionen überhaupt nicht nach. Das verkennt die Lage: Auch Kausalanalytikern zufolge können als funktional eingestufte Dispositionen in der Ausübung ihrer Funktion bewertet werden. Der normative Maßstab für diese Bewertung liegt einfach nicht in den Dingen selbst, sondern hängt davon ab, was wir – hinsichtlich eines spezifischen Untersuchungsziels – als funktional charakterisieren. (Vgl. auch Hardcastle 2002, die auf der Grundlage einer kausalanalytischen Funktionstheorie versucht, der Normativität der Funktionen nachzukommen). 96 So etwa Davies 2000, 103f.
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nennung äußerlich. (Meditationes VI §17, AT VII 85; Übersetzung stark modifiziert)
Sowohl von einer Uhr, die nachgeht, als auch von einem wassersüchtigen Menschen sagen wir, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung oder sie funktionierten nicht richtig. Damit nehmen wir an, die beurteilte Uhr und der beurteilte Mensch unterlägen einer Norm, in Abhängigkeit zu der wir sie als normal, in Ordnung oder gut bzw. eben als abnormal oder schlecht bewerten können. Die Norm, anhand der wir diese Objekte als funktional bzw. dysfunktional einschätzen, können wir – so schlägt Descartes hier vor – als Natur dieser Objekte bezeichnen und entsprechend sagen, die betreffenden Objekte stimmten mit ihrer Natur überein bzw. wichen (deflectere) oder irrten (aberrare) gar von ihr ab. Aber was ist der ontologische Status dieser Norm oder Natur? Liegt sie in der Sache selbst, oder handelt es sich um etwas, was wir auf diese Dinge projizieren? Mit Bezug auf die Uhr und die menschliche Körpermaschine ist Descartes an dieser Stelle deutlich: Diese Natur kommt ihnen nicht an sich oder intrinsisch zu, sondern es handelt sich bloß um eine äußere Benennung (denominatio extrinseca),97 d.h. um eine Art selbst ausgedachtes Ideal, im Vergleich zu dem ich die falsch tickende Uhr und den wassersüchtigen Menschen als schlecht oder krank beurteile. Der Zweck oder die Norm dieser Dinge liegt nicht in ihnen selbst, sondern wir tragen ihn in der Beschreibung dieser Dinge an sie heran, weshalb sie ihnen nur in derivativer Weise zukommen. Wenn wir daher eine Uhr oder eine Körpermaschine als nicht in Ordnung beschreiben, wäre es irreführend zu meinen, etwas stimme mit ihnen selbst nicht. Das einzige, was hier nicht stimmt, ist vielleicht unsere Beschreibung dieser Dinge und die daran geknüpften Erwartungen. Denn eine Uhr, so führt Descartes aus, „folgt ebenso genau allen Naturgesetzen, ob sie nun schlecht gebaut ist und die Stunden nicht richtig anzeigt oder ob
____________ 97 Descartes verwendet hier einen scholastischen Fachterminus: Eine denominatio extrinseca eines Objekts ist eine Benennung einer extrinsischen Eigenschaft dieses Objekts, im Gegensatz zu einer denominatio intrinseca, die eine intrinsische Eigenschaft eines Objekts bezeichnet. Ein klassisches Beispiel einer extrinsischen Denomination ist etwa die Bestimmung der Sonne, als etwas, das von mir gesehen wird. Das Von-mir-gesehen-werden kommt der Sonne nicht an sich bzw. intrinsisch, sondern eben nur extrinsisch zu. Dagegen wäre die Bestimmung der Sonne als so und so groß, eine intrinsische Denomination der Sonne, da Größe der Sonne unabhängig von unserer Beschreibung oder unserer Relation zu ihr zukommt. Ein Diskussion dieser Unterscheidung, wie sie in der Spätscholastik verwendet wurde, gibt Doyle 1984 anhand von Suárez; für Descartes’ Umgang mit dieser Unterscheidung siehe seine 1. Erwiderung auf Caterus, 91-95; AT VII 101106.
Dispositionen und Funktionen
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sie in jeder Hinsicht dem Wunsch des Handwerkers entspricht“.98 Eine Uhr, die fehl geht, geht nicht an sich fehl, sondern nur in unseren Augen – und genauso verhält es sich mit der bloßen Körpermaschine. Sie folgt den mechanischen Naturgesetzen und weicht nicht von ihnen ab.99 Vor dem Hintergrund obiger Überlegungen zur kausalanalytischen Funktionstheorie überrascht Descartes’ Ansicht, natürliche Gegenstände seien nicht an sich funktional oder dysfunktional, kaum. Schließlich behauptet eine kausalanalytische Funktionstheorie ja gerade, dass wir natürlichen Dingen immer nur in Abhängigkeit zu einer Analyse einer Tätigkeit zuschreiben, die wir für besonders wichtig oder interessant erachten. Damit setzen auch wir die Maßstäbe der funktionalen Beurteilung, und finden sie nicht in der beurteilten Sache. Zudem ist die derivative Funktionalität natürlicher Gegenstände für Descartes auch aus theologischen Gründen wichtig. Denn wenn materielle Dinge über immanente Funktionalität verfügten, dann könnten sie auch tatsächlich, und nicht nur im Auge eines Betrachters, dysfunktional sein. Dies wäre mit der Güte oder Perfektion Gottes nur schwer vereinbar. Es stellte sich dann nämlich unmittelbar das Theodizee-Problem, wie es ein gütiger Gott zulassen kann, dass in seiner Schöpfung Fehler auftreten können, oder dass manchmal auch Dinge schief gehen. Dieses Theodizee-Problem löst sich ganz automatisch auf, wenn natürlichen Gegenständen keine immanente Funktionalität zukommt: Funktionieren Uhren und Körpermaschinen nicht mehr, dann tun sie das nur in unseren Augen. In Wirklichkeit haben weder Uhr noch Maschine ein Problem, denn sie folgen – wie immer – den Naturgesetzen. Damit ist Gott entschuldigt.100 Trotzdem wirkt Descartes’ Auffassung, dass Körper nur über derivative Zwecke verfügen, unplausibel. Wenn ein Wassersüchtiger zum Arzt geht und dieser nach seiner Untersuchung feststellt, dass er krank ist, so möchten wir schließlich sagen, dass der Wassersüchtige ein Problem hat, und nicht der Arzt, weil der arme Patient nicht in allen Stücken seinem Wunsch entspricht. Wie sich jedoch zeigt, möchte auch Descartes dies
____________ 98 Meditationes VI § 17, AT VII 84, Übersetzung geändert. 99 Für Descartes scheinen immanente und intrinsische Zwecke wie auch derivative und extrinsische Zwecke zusammenzufallen: Wenn er also meint, dass Dingen gewisse Zwecke gemäß einer intrinsischen Denomination zukommen, meint er erstens, dass sie ihnen an sich und damit immanent zukommen, und zweitens, dass diese Zwecke für diese Dinge zweckmäßig – also intrinsisch sind. 100 Dass es Descartes in seiner Behauptung, natürliche Gegenstände hätten keine immanenten Zwecke, auch um eine Erwiderung auf das Theodizee-Problem geht, ist klar, weil sich Descartes in diesen Passagen mit der Frage auseinandersetzt, wie „trotz der Güte Gottes […] man wohl sagen [kann], ein solcher Kranker irre, weil seine Natur verfälscht sei.“ Vgl. ausführlich dazu Gueroult 1953, 157-218.
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nicht behaupten. Auch er ist der Ansicht, die Wassersucht sei ein Problem für den Patienten, und nicht für den diagnostizierenden Arzt. Um dem nachzukommen, argumentiert er, dass dem Menschen – ganz im Gegensatz zu einer Uhr oder einer bloßen Körpermaschine – eine immanente Norm oder Natur zukommt, anhand derer sich die Vorgänge im menschlichen Körper ganz objektiv als funktional oder dysfunktional beurteilen lassen. So ist es zwar im Hinblick auf den an Wassersucht leidenden Körper nur eine extrinsische Benennung, wenn man dessen Natur beschädigt nennt, weil er eine trockene Kehle hat, ohne dass er ein Getränk braucht. Hinsichtlich des Zusammengesetzten aber, d.h. hinsichtlich des mit einem solchen Körper vereinigten Geistes, ist es dennoch keine reine Benennung, sondern ein wahrer Irrtum der Natur, dass er dann durstig ist, wenn ihm ein Getränk schaden würde. (Meditationes VI §18, AT VII 85; Übersetzung stark geändert)
Der Wassersüchtige hat – zumindest Descartes’ Beschreibung zufolge – ständig eine trockene Kehle und damit Durst, obwohl sein Körper schon längst über genügend Flüssigkeit verfügt. Im Hinblick auf die Körpermaschine des Wassersüchtigen verhält sich alles nach bester Ordnung. Denn es „ist leicht ersichtlich, dass der menschliche Körper, wenn er beispielsweise von Wassersucht befallen ist, natürlicherweise eben jene Trockenheit der Kehle erleidet, die dem Geist gewöhnlich eine Durstempfindung eingibt und die Nerven sowie die andern Körperteile so beeinflusst, dass jener Mensch den Trank nimmt, der die Krankheit steigert“.101 Daher ist die Bezeichnung der Körpermaschine des Wassersüchtigen als beschädigt auch bloß eine extrinsische Bezeichnung. In Wirklichkeit läuft nichts schief, nur anders. Hinsichtlich des ganzen Menschen oder des Körper-GeistKompositums hingegen handelt es sich bei der Dysfunktionalität des Wassersüchtigen nicht um eine reine Benennung, sondern um einen wahren Irrtum der Natur. Wenn der Arzt also bei einem Menschen Wassersucht diagnostiziert, so hat tatsächlich der Patient ein Problem, und nicht der Arzt. Warum Descartes trotz seiner kausalanalytischen Funktionskonzeption dem menschlichen Körper immanente und intrinsische Funktionen zusprechen kann, gilt es im nächsten Abschnitt zu klären.
Die immanente Funktionalität des menschlichen Körpers Descartes will dem Körper, insofern er mit einem Geist verbunden ist, auch immanente und intrinsische Funktionen oder Zwecke zuschreiben. Der menschliche Körper verfügt über nicht abgeleitete Zwecke, die ihm-
____________ 101 Meditationes VI § 17, AT VII 84.
Die immanente Funktionalität des menschlichen Körpers
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selbst dienen. Aber wie soll das gehen? Warum sollte der menschliche Körper plötzlich über immanente Funktionen verfügen, wenn er mit einer Seele oder einem Geist verbunden ist? Präziser gefragt: Warum erhält die bloße Disposition eines Bestandteils der Körpermaschine einen immanent normativen Status, sobald sie nicht mehr als Disposition eines Bestandteils der Körpermaschine, sondern als Disposition eines Bestandteils einer Körper-Geist-Einheit aufgefasst wird? Oder anhand Descartes’ Beispiel: Als Teil einer Körpermaschine und streng metaphysisch gesprochen hat ein niedriger Wasserstand im Körper bloß die Disposition, eine trockene Kehle und damit ein Durstgefühl zu verursachen. Er bewirkt als Teil der Körpermaschine ein Durstgefühl, ohne dass er dies in einem metaphysischen Sinne auch bewirken sollte. Verhält es sich einmal anders, und bewirkt – wie im Fall der Wassersucht – eine interferierende Ursache eine trockene Kehle, obwohl der Wasserstand im Körper hoch ist, so geschieht (aufgrund ungewöhnlicher Interferenzen) vielleicht etwas anderes als üblich, aber nichts Falsches. Ist der niedrige Wasserstand jedoch Teil einer Körper-Geist-Einheit, so hat er plötzlich die Funktion, ein Durstgefühl auszulösen, und soll dies tun. Entsprechend ist es dann auch gut, wenn er es tut, und schlecht, wenn er es einmal nicht tut, oder das Durstgefühl durch etwas anderes als dem niedrigen Wasserstand im Körper ausgelöst wird, wie im Fall der Wassersucht. Warum? Das erscheint mehr als rätselhaft: Ein Körper verfügt zunächst nur über derivative Funktionen, dann kommt ein Geist dazu und plötzlich weist er immanente Funktionen auf. Wie ist das zu erklären?102 Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, nochmals zur kausalanalytischen Funktionsbestimmung zurückzukehren: Nach der kausalanalytischen Theorie von Funktionen sind Funktionen Dispositionen, die kausal zur Ausübung einer Tätigkeit eines Systems beitragen, die wir untersuchen wollen. Die in einer Kausalanalyse bestimmte Funktion erhält ihre Funktionalität oder Zweckmäßigkeit dadurch, dass sie selbst einem gewissen Zweck dient – und zwar dem, zur Realisierung einer von uns untersuchten Disposition oder Tätigkeit eines Systems beizutragen. Doch dieser Zweck, dem unsere Funktion ihre Zweckmäßigkeit verdankt, ist in der Regel kein immanenter Zweck des untersuchten Systems, sondern ein Zweck unserer Untersuchung. Wir sind es, die das System ‚Organismus’ und seine Fähigkeit zur Selbsterhaltung analysieren wollen und im Zuge dessen der Kontraktion des Herzens die Funktion des Blutpumpens zuweisen, genauso, wie wir es sind, die alternativ den beruhigenden Einfluss
____________ 102 In jüngerer Zeit hat A. Simmons 2001 ausführlich aufgezeigt, dass Descartes insbesondere den Sinnen eine Form natürlicher Teleologie zuspricht. Leider versäumt sie es zu klären, woher diese Finalität der Sinne genau stammt.
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des Stillens auf Säuglinge untersuchen wollen und dabei der Kontraktion des Herzens die Funktion der Erzeugung rhythmischer Geräusche zuschreiben. Systeme haben keine Zwecke. Nur wir, die wir dieses Systeme untersuchen, haben Forschungsziele. Deshalb hängt die Funktionalität kausaler Rollen auch nur von unseren Zielen und Zwecken ab und ist ihnen äußerlich. Ließe sich allerdings zeigen, dass es ein System gibt, das einen immanenten Zweck aufweist, so wären dadurch alle Dispositionen dieses Systems, die kausal zur Ausübung dieses Zweckes beitragen, ebenfalls zweckmäßig – und zwar immanent zweckmäßig. Damit wären auch die Funktionen eines Systems, die durch eine kausale Analyse der immanent zweckmäßigen Tätigkeit oder Disposition dieses Systems ausgezeichnet würden, immanent funktional. Ihre Funktionalität verdankten diese Dispositionen dann nämlich nicht dem Umstand, dass sie zur Ausübung einer Tätigkeit beitragen, die nur wir aufgrund unserer Forschungsinteressen für zweckmäßig halten, sondern sie wäre dem Umstand geschuldet, dass sie einer Tätigkeit dienen, die für das System selbst zweckmäßig ist. Wenn Descartes also im Rahmen seiner kausalanalytischen Funktionskonzeption dazu übergehen will, innerhalb einer kausalen Analyse ausgezeichnete Funktionen als immanente Funktionen auszuweisen, dann muss er zeigen, dass die in seiner Kausalanalyse untersuchte Tätigkeit eines Systems für dieses System selbst zweckmäßig ist, und dass es sich dabei nicht bloß um eine beliebige Tätigkeit dieses Systems handelt, deren einzige Relevanz darin besteht, dass sich Descartes für sie interessiert, und insofern nur für Descartes’ Forschungsinteresse zweckmäßig ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun erklären, was oben noch rätselhaft erschien. Warum ist es hinsichtlich des bloßen Körpers nur eine extrinsische Benennung, wenn ich „dessen Natur verfälscht nenne, weil seine Kehle trocken ist, ohne dass er des Trankes bedarf“, während es hinsichtlich der Körper-Geist-Einheit „ein wirklicher Irrtum der Natur“ ist?103 Die korrekte Antwort müsste lauten: Weil die trockene Kehle dem Körper, der mit einem Geist verbunden ist, einen Flüssigkeitsmangel anzeigen sollte, da dies für die Körper-Geist-Einheit selbst zweckmäßig ist, während die trockene Kehle im bloßen Körper einfach häufig mit einem niedrigen Wasserstand in diesem Körper korreliert ist, ohne dass dies für den bloßen Körper selbst irgendwie zweckmäßig wäre. Und genau diese Antwort gibt Descartes auch. So weist er darauf hin, dass die Körper-Geist-Einheit eine funktionale Einheit ist, indem er betont, dass die Bewegungen im Gehirn und die damit korrelierten Empfindungen in unserem Geist gerade so aufeinander abgestimmt sind, dass eine Gehirnbewegung dem Geist „von
____________ 103 Meditationes VI §18, AT VII 85.
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allen Empfindungen, die sie dem Geist eingeben kann, gerade die eingibt, die im höchsten Grade und am häufigsten der Erhaltung des gesunden Menschen beiträgt.“ Mein Körper und Geist sind so auf eine Weise verbunden, die im höchsten Maße „der Erhaltung meines Körpers förderlich“ ist,104 und auch „die Sinneswahrnehmungen wurden mir eigentlich nur von der Natur gegeben, um dem Geist anzuzeigen, was dem Zusammengesetzten, von dem er ein Teil ist, zuträglich oder nicht zuträglich ist“.105 Körper und Geist sind in ihrer Einheit also so aufeinander bezogen, dass der Körper dem Geist die Informationen übermittelt, die es dem Geist erlauben, den Körper möglichst sicher und heil durch die Umwelt zu navigieren.106 Aufgrund der immanenten Funktionalität der Körper-Geist-Einheit sind auch die körperlichen Dispositionen, die dazu beitragen, dass diese Einheit erhalten bleibt, immanent funktional. Descartes führt die Funktionalität der Körperfunktionen somit auf die immanente Funktionalität der Körper-Geist-Einheit zurück, zu deren Erhaltung diese Funktionen dienen. Damit scheint er das Problem der immanenten Funktionalität der Körperfunktionen jedoch mehr zu verschieben als zu lösen. Denn warum, so fragt man sich, ist die Körper-Geist-Einheit eine immanent funktionale Einheit? Warum soll der Körper dem Geist gleichsam einen Sitz in der körperlichen Welt bereitstellen? Und warum soll sich der Geist im Gegenzug, um die Erhaltung seines Körpers sorgen? Leider geht Descartes nie explizit auf diese Frage ein. Dennoch lassen sich in seinen Texten mindestens drei mögliche Antworten ausmachen. Eine erste mögliche Antwort auf die Frage, warum die Körper-GeistEinheit eine immanent funktionale Einheit ist, lautet: Weil sie eine substantielle Einheit ist. So rät Descartes in seinem Brief vom Januar 1642 an Regius:
____________ 104 Meditationes VI § 22, AT VII 87, meine Übersetzung. 105 Meditationes VI §15, AT VII 83, Übersetzung stark modifiziert. 106 In der Sechsten Meditation (AT VII 87f.) nennt Descartes das Beispiel der Schmerzempfindung, die wir üblicherweise bei Verletzungen haben und die dazu dient, uns zu veranlassen, die Ursache dieser Verletzung nach Kräften zu beseitigen. Bezüglich Leidenschaften, die wie Sinnesempfindungen der Seele nur zukommen, insofern sie mit dem Körper verbunden ist, schreibt Descartes in den Passions §52, AT XI 372: „Auch besteht der Nutzen aller Leidenschaften allein darin, dass sie die Seele veranlassen, das zu wollen, was die Natur uns als nützlich angibt“, und hebt (in §137, AT XI 430) hervor, dass vor allen Emotionen „die Traurigkeit sogar in gewisser Weise an erster Stelle steht und notwendiger als die Freude, und der Hass als die Liebe, weil es eben mehr bedeutet, die Dinge, die schaden und zerstören können, abzuhalten, als solche zu erlangen, die eine Vervollkommnung unterstützen, ohne die man existieren kann.“
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Und immer wenn sich – im Privaten wie im Öffentlichen – die Gelegenheit bietet, so solltest Du erklären, dass Du glaubst, dass ein menschliches Wesen ein wahres ens per se ist, und kein ens per accidens, und dass der Geist und der Körper auf reale und substantielle Weise verbunden sind. Du musst sagen, dass sie nicht durch Position oder Disposition verbunden sind, wie Du es in Deiner letzten Schrift behauptest – denn das ist widerlegbar und meinem Urteil nach unwahr –, sondern durch einen wahren Modus der Einheit, wie es jedermann zugesteht […]. (AT III 493)
Ein ens per se unterscheidet sich der scholastischen Auffassung zufolge dadurch von einem bloßen ens per accidens, dass es sich dabei um eine echte, metaphysische Einheit handelt, und nicht einfach um einen willkürlich zusammengewürfeltes Aggregat. Klassischerweise bezeichnete man Substanzen als entia per se, da sie mit ihrer substantiellen Form über ein ontologisches Identitätsprinzip verfügen, das bloße entia per accidens wie Sandhaufen oder andere Kollektionen von Gegenständen nicht aufweisen: Einen Sandhaufen können wir vielleicht als Einheit betrachten, aber er verfügt nicht an sich über eine Einheit. Im Gegensatz dazu, seien Körper und Geist im Menschen nach Descartes nicht einfach akzidentell verbunden, sondern weisen eine wesentliche Einheit auf, weshalb die Seele oder der Geist auch als „substantielle Form des Menschen“ verstanden werden könne.107 Als substantielle Form garantiert der Geist oder die Seele dem menschlichen Körper seine diachrone Identität und sorgt dafür, dass der Körper trotz der steten Auswechslung seiner Bestandteile durch die Zeit derselbe Körper bleibt: Aber wenn wir von dem Körper eines Menschen sprechen, meinen wir nicht nur einen bestimmten Teil der Materie, noch einen, der eine bestimmte Größe hat, sondern allein die Materie, die zusammen mit der Seele dieses Menschen vereint ist; so dass wir, obwohl diese Materie sich verändert und seine Größe zu- oder abnimmt, immer glauben, es sei derselbe Körper – idem numero –, während er mit derselben Seele verbunden und substantiell vereint bleibt; und wir glauben, der Körper sei völlig ganz, während in ihm alle Dispositionen sind, die erforderlich sind, um diese Vereinigung zu bewahren. (Brief an Mesland vom 9.2.1645, AT IV 166)
Ein bloßer Körper unterliegt als Teil der res extensa den allgemeinen Bewegungsgesetzen und wird, wie Descartes ausführt, allein durch seine
____________ 107 So in seinem Brief an Regius vom Januar 1642, AT III 503 und 505. Zudem schreibt Descartes sowohl in seinen Regulae (AT X 411) als auch in den Prinzipien (AT VIII 315), dass die menschliche Seele den ganzen Körper „informiere“. Für die These, dass Descartes die Einheit von Körper und Geist hylemorphistisch konzipiert und die Seele als substantielle Form des Menschen versteht, hat ausführlich Hoffman 1986 argumentiert. In jüngerer Zeit auch Hennig 2009.
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Bewegungen individuiert.108 Damit qualifizieren sich all jene Partikel als Teil eines Körpers, die sich gemeinsam bewegen.109 Das ändert sich allerdings, wenn sich ein Körper mit einem Geist zu einer Körper-GeistEinheit verbindet. Als Teil einer solchen Einheit wird der bloße Körper zu einem menschlichen Körper und seine Identität hängt nicht mehr länger einfach von den Bewegungsgesetzen ab, sondern ist – wie in der eben zitierten Passage deutlich wird – der Seele geschuldet, mit der er vereinigt ist. Damit ist der menschliche Körper wesentlich ein Bestandteil der Körper-Geist-Einheit: Bestandteil einer Körper-Geist-Einheit zu sein, macht ihn zu dem menschlichen Körper, der er ist. Als ein solcher Körper, der wesentlich Teil einer solchen Einheit ist, soll er der Erhaltung dieser Einheit dienen. Denn täte er es nicht, so gefährdete er die Existenz dieser Einheit und damit gerade das, dem er seine Identität und also seine Existenz als menschlicher Körper verdankt.110 Ein menschlicher Körper, der nicht der Einheit dient, ist deshalb kein typischer oder normaler menschlicher Körper mehr. Die immanente Funktionalität der menschlichen Körperfunktionen ergibt sich also einfach daraus, dass der menschliche Körper wesentlich Teil einer substantiellen Körper-Geist-Einheit ist, damit in seiner Existenz als menschlicher Körper vom Bestehen dieser Vereinigung abhängt, und infolgedessen qua Bestandteil dieser Einheit dem Erhalt dieser Einheit dienen soll. Anders als einem bloßen Körper kommt dem menschlichen Körper dieses Sollen nicht nur derivativ zu. Denn die Dispositionen des menschlichen Körpers sollen nicht nur deshalb im Dienste der Körper-Geist-Einheit stehen, weil wir dies für ihn als wichtig oder zweckmäßig erachten. Vielmehr ist dies für den menschlichen Körper an sich wichtig oder zweckmäßig, weil seine Existenz als menschlicher Körper davon abhängt. Damit ist seine Disposition, zum Erhalt dieser Einheit beizutragen, auch immanent funktional: Sie kommt dem menschlichen Körper aufgrund seiner selbst zu.111
____________ 108 „[U]nter einem Körper oder einem Stück Materie verstehe ich alles, das zugleich übertragen wird, obwohl dieser selbst aus vielen Teilen bestehen kann, die je für sich andere Bewegungen vollführen.“ (Prinzipien II §25, AT VIIIa 53f.) 109 Diese Idee, Körper anhand ihrer Bewegung zu individuieren, wird, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, auch Spinoza übernehmen. 110 In seinem Brief an Mesland von 1645/46?, AT IV 346, schreibt Descartes, die numerische Identität des menschlichen Körpers hänge nicht „von der Materie, sondern von der Form ab, die seine Seele ist.“ 111 Demnach wäre die immanente Finalität des menschlichen Körpers einfach auf seine Vereinigung mit dem Geist zurück zuführen. So meint etwa Gueroult 1953, 177: „Aussi, ne prouve-t-on pas l’union substantielle par la finalité de mon corps, mais, inversement, prouve-t-on la finalité de mon corps par la démonstration qu’il est substantiellement uni à l’âme.“
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Eine solch hylemorphistisch anmutende Erklärung der intrinsischen Funktionalität oder Finalität des menschlichen Körpers ist, wie Jacques Laporte treffend festgestellt hat, traditionell aristotelischen Stils: Ein Ding aktualisiert und unterhält typischerweise die Form, der es unterliegt, und soll dies, insofern es dieser Form unterliegt und damit das Ding ist, das es ist, auch tun.112 Doch vertritt Descartes tatsächlich eine hylemorphistische Konzeption der immanenten Funktionalität der Körperfunktionen? Ist die Seele nach Descartes die substantielle Form des menschlichen Körpers in dem aristotelischen Sinn, der die immanente Funktionalität dieses Körpers erklären könnte? Daran lässt sich zweifeln.113 Denn in demselben Brief, in dem Descartes Regius erklärt, der Mensch als Körper-Geist-Einheit sei ein ens per se, schreibt er: Es kann eingewendet werden, dass es für den menschlichen Körper nicht akzidentell, sondern gerade seine Natur sei, dass er mit der Seele verbunden sein soll; denn, wenn ein Körper all die erforderlichen Dispositionen hat, um eine Seele zu empfangen, ohne die er kein menschlicher Körper ist, kann es nicht ohne Wunder geschehen, dass die Seele nicht mit ihm vereinigt wird. Und weiter, dass es für die Seele nicht akzidentell ist, mit dem Körper verbunden zu werden, sondern lediglich akzidentell für sie, dass sie nach dem Tod vom Körper getrennt ist. All dies sollte nicht in jeder Hinsicht abgelehnt werden, so dass die Theologen nicht wieder verärgert sind. Aber es muss dennoch erwidert werden, dass diese Dinge akzidentell genannt werden können. Denn wenn wir den Körper alleine betrachten, können wir einfach nichts in ihm erfassen, weshalb er verlange mit der Seele vereint zu sein; gerade wie wir nichts in der Seele erfassen können, weswegen sie mit dem Körper verbunden sein muss; und deshalb sagte ich ein bisschen früher ‚in gewissem Sinne’ akzidentell, aber nicht ‚absolut’ akzidentell. (Brief an Regius vom Januar 1642, AT III 460f.)
Die Position, die abzulehnen Theologen verärgern würde, ist eine typisch hylemorphistische Position, wie sie etwa von Thomas von Aquin vertreten
____________ 112 Siehe J. Laporte 1928, 395. Aus dieser Interpretation gewinnt Laporte 1928, 396, auch eine elegante Erklärung für Descartes’ Ansicht, dass wir in der Physik keine Finalursachen erkennen können. Denn physikalische Körper unterlägen – scholastisch gesprochen – der Form der Ausdehnung. Da diese Form unendlich ist, sei sie für uns nicht erkennbar. Und weil die Finalität der Dinge durch ihre Form festgelegt ist, könnten wir auch die Finalität der durch die unendliche Form der Ausdehnung festgelegten Körper nicht erkennen. 113 Aber nicht aus allen Gründen: Ein schlechter Einwand gegen die hylemorphistische Interpretation der Körper-Geist-Einheit wäre der Verweis auf Descartes’ Ablehnung substantieller Formen. Denn wie oben deutlich wurde, weist Descartes substantielle Formen als animistisch zurück. Somit versteht Descartes die substantiellen Formen der Aristoteliker gerade als seelenartige Entitäten, die in der Naturphilosophie nichts zu suchen haben. Dieser Animismusvorwurf trifft den Geist oder die menschliche Seele gerade nicht. Vgl. dazu Hoffman 1986, 349-352, aber auch Rozemond 1998, 151f.
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wurde. Dieser Position zufolge sind Körper und Geist nur unvollständige Substanzen, die erst gemeinsam ein einheitliches Ganzes, d.h. eine Substanz im vollen Sinne bilden. Es gehört damit zur Natur des Körpers mit einer Seele vereint zu sein, und umgekehrt.114 Daher ist es für Körper und Geist auch unnatürlich oder untypisch, wenn sie voneinander getrennt sind. Sie sollten naturgemäß vereint sein. Auch wenn Descartes dieser Position aus Gründen der Konfliktvermeidung nicht offen widersprechen möchte, stellt er doch klar, dass seiner Auffassung nach nichts in der Natur des Körper liegt, was darauf hindeutet, dass dieser Körper mit einem Geist vereint sein sollte, und umgekehrt. Körper und Geist können für Descartes unabhängig voneinander existieren und sind somit real voneinander verschieden. Insofern ist es für sie in gewissem Sinne akzidentell, wenn sie sich im Menschen miteinander vereinen. Erst in dem Moment, in dem der Körper mit einem Geist verbunden ist, und man Körper und Geist als Teile einer Körper-Geist-Einheit auffasst, sind sie nicht weiter akzidentell miteinander verbunden. „Geist und Körper sind“, so führt Descartes aus, also „unvollständige Substanzen, wenn sie auf den Menschen bezogen werden, den sie ausmachen; aber allein betrachtet, sind sie vollständig.“115 Dass der Körper mit dem Geist verbunden sein soll, liegt damit auch nicht in der Natur des Körpers und der Seele allein, sondern erst in der Natur eines mit einem Geist verbundenen Körpers resp. eines mit einem Körper vereinten Geistes. Dass Körper und Geist eine Einheit bilden und diese in der Folge bewahren sollen, kann also nicht an Körper und Geist allein liegen. Daher kann die Einheit von Körper und Geist allein – mag sie nun hylemorphistisch konzipiert sein oder nicht – nicht für die immanente Funktionalität der Körperfunktionen des in diese Einheit eingehenden Körpers verantwortlich sein. Körper und Geist bilden zwar eine funktionale Einheit, und sollen daher auch eine Einheit bilden und sie in der Folge bewahren, aber dieses Sollen kommt ihnen nicht von Anfang an zu, da weder Körper und Geist ihrer Natur gemäß miteinander vereint sein sollen. Erst nachdem Körper und Geist miteinander vereint sind, sollen der Körper als beseelter Körper und der Geist als verkörperter Geist zum Erhalt dieser Einheit beitragen.116 Damit ist die erste Antwort auf die Frage,
____________ 114 So schreibt Thomas, STh. I q. 76, art. 1 ad 6: „Es kommt der Seele an sich zu, mit dem Körper vereint zu sein, wie es dem leichten Körper an sich zukommt, oben zu sein.“ 115 4. Erwiderung, 202f.; AT VII 222. 116 Dieser Punkt ist trivial: Wenn Asmus und Brigitte ein Paar sind, dann ist es zwar wahr, dass es für Asmus als Freund von Brigitte und Brigitte als Freundin von Asmus essentiell ist, miteinander liiert zu sein. Aber es ist – romantische Schicksalstheorien beiseite – sowohl für Asmus als auch für Brigitte je alleine akzidentell,
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weshalb der Körper-Geist-Einheit eine immanente Funktionalität zukommt, zurück zu weisen: Es kann nicht allein daran liegen, dass der Körper auf mit dem Geist verbunden ist, denn diese Verbindung ist in gewissem Sinne akzidentell, und damit nichts, was ihm wesentlich zukommt. Wer oder was ist also ursprünglich dafür verantwortlich, dass Körper und Geist eine solche Einheit eingehen sollen? Man könnte versuchen, diese Frage mit Bezug auf Gott zu beantworten und sagen: Der Geist sei und solle deshalb mit einem Körper verbunden sein, weil Gott es so wollte. Entsprechend hat der Körper die immanente Funktion, dieser KörperGeist-Einheit zu dienen, weil Gott dies beabsichtigte und eingerichtet hat. Tatsächlich deutet Descartes diese Antwort an zahlreichen Stellen an. So betont er etwa, meine Natur, die sich irren kann, sei nichts anderes als das, „was Gott mir verliehen hat, insofern ich aus Geist und Körper bestehe“,117 und sieht darin ein Theodizee-Problem: Da meine von Gott verliehene immanent intrinsisch funktionale Natur (eben weil sie funktional ist) auch dysfunktional sein kann, so stellt sich unmittelbar die Frage, wie dies mit Gottes Güte zu vereinbaren ist. Diesem Problem kommt Descartes mit folgender Beobachtung bei: Schließlich bemerke ich, dass – da nun einmal jede einzelne der Bewegungen, die in dem Teil des Gehirns auftreten, der unmittelbar den Geist affiziert, ihm nur eine einzige Empfindung mitteilt – in dieser Angelegenheit nichts Besseres erdacht werden kann, als wenn sie diejenigen Empfindungen mitteilt, die von allen, die mitgeteilt werden können, am besten und am häufigsten zur Erhaltung eines gesunden Menschen führt. Ferner bemerke ich, dass die Erfahrung bezeugt, dass alle uns von der Natur verliehenen Empfindungen von dieser Art sind; und dass daher überhaupt nichts an ihnen gefunden werden kann, das nicht die Macht und Güte Gottes bezeugt. (Meditationes VI §22, AT VII 87, Übersetzung leicht modifiziert)
Indem Descartes aus dem Umstand, dass sich keine bessere Einrichtung ausdenken lässt, die für die Gesundheit des Menschen förderlicher wäre,
____________ dass sie miteinander liiert sind. Es gibt in ihnen nichts, was festlegen würde, dass sie ein Paar sein sollen. Genauso scheint es sich mit der Vereinigung von Körper und Geist bei Descartes zu verhalten. Wenn Descartes also sagt, es gehöre zur Natur des menschlichen oder beseelten Körpers mit dem Geist vereinigt zu sein, sagt er etwas ziemlich Triviales. Dies mag sich vielleicht anhören, wie eine steile, hylemorphistische These, bleibt aber weit dahinter zurück. Denn für eine hylemorphistische Auffassung der Körper-Geist-Einheit ist es entscheidend, dass gerade der Körper als Körper (und nicht nur als beseelter Körper) mit dem Geist vereint sein soll. Descartes’ hylemorphistisch anmutende Rede über die KörperGeist-Einheit scheint damit eher ein Lippenbekenntnis an die thomistischen Theologen denn Ausdruck einer interessanten hylemorphistischen These zu sein. So auch Rozemond 1998, 163f., und Lennon 1994. 117 Meditationes VI §15, AT VII 82.
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darauf schließt, dass Gott für diese Einrichtung keinen Tadel verdiene, sondern dass diese optimale Einrichtung vielmehr die Macht und Güte Gottes bewiese, macht er Gott moralisch für diese funktionale Einrichtung verantwortlich. Das aber setzt voraus, dass er Gott auch kausal für diese Einrichtung verantwortlich hält, denn nur, wer ein Werk erschaffen hat, verdient Lob oder Tadel für dieses Werk. Entsprechend scheint Descartes also die Ansicht zu vertreten, Gott habe Körper und Geist in der Absicht miteinander vereinigt, dass sie in einer Weise miteinander interagieren sollen, die der Gesundheit des ganzen Menschen in höchstem Maße förderlich ist. Damit läge die immanente Funktionalität der Körper-GeistEinheit letztlich in Gottes Zwecken begründet.118 Dieser Lesart steht allerdings die simple Frage entgegen, ob der Rekurs auf Gottes Absichten überhaupt die immanente Funktionalität der KörperGeist-Einheit erklären kann. Denn wenn diese Funktionalität allein Gottes Absichten geschuldet ist, dann scheint es, als ob sie der Körper-GeistEinheit gerade nicht immanent zukommt, sondern nur in Relation zu Gott – ganz ähnlich, wie Funktionen von Artefakten den Artefakten nur in den Augen ihrer Schöpfer und Verwender bestehen.119 Es stellt sich also der Verdacht ein, dass es sich bei der Funktion des Körpers (dem Geist ein möglichst funktionstüchtiges Vehikel bereitzustellen, mit dem er durch die materielle Welt navigieren kann) um eine extrinsische Denomination handelt, wenn ihm diese Funktion nur mit Rekurs auf Gottes Absichten zukommt. Diesen Verdacht kann Descartes auf der Grundlage seines Voluntarismus jedoch unmittelbar zurückweisen. Damit es überhaupt sinnvoll ist, Eigenschaften, die Dingen nur aufgrund Gottes Willen zukommen, als derivative Eigenschaften dieser Dinge zu bestimmen, müsste es auch Eigenschaften geben, die Dingen nicht nur deshalb zukommen, weil Gott wollte, dass sie ihnen zukommen. Natürliche Kandidaten für solche nicht-derivative Eigenschaften wären essentielle Eigenschaften. Wenn ein Kreis etwa wesentlich rund ist, so könnte man argumentieren, dann kommt ihm die Rundheit nicht nur insofern zu, als Gott will, dass er rund ist, sondern sie kommt ihm an sich zu: Einen nicht-runden Kreis gibt es
____________ 118 Vgl. auch Traité, AT XI 143f. Diese Interpretation haben in jüngerer Zeit Des Chene 2001, 116-152, und Hatfield 2008, 412, vertreten. Anhand des obigen Vergleichs der Körper-Geist-Einheit mit der Partnerschaft von Asmus und Brigitte (vgl. Anm. 116) hieße das: Asmus und Brigitte sollen nicht deshalb zusammen sein, weil dies in ihrer Natur liegt, sondern weil ein Patriarch Asmus und Brigitte miteinander verheiraten will. 119 Aus diesem Grund hat etwa P. McLaughlin 2001,143-145, behauptet, theistische Modell könnten nie der immanenten Funktionalität von Dingen gerecht werden, sondern generierten immer nur derivative Zwecke. Wie sich gleich zeigen wird, liegt McLaughlin damit falsch.
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nicht, und nicht einmal Gott könnte einen nicht-runden Kreis wollen, geschweige denn erschaffen. Wie oben gesehen, liefe eine solche Essenzkonzeption jedoch unmittelbar Descartes’ Voluntarismus zuwider: Gott will nicht deshalb, dass Kreise rund sind, weil Kreise wesentlich rund sind, und Gott Kreise gar nicht anders wollen kann, sondern Kreise sind umgekehrt gerade deshalb essentiellerweise rund, weil Gott wollte, dass sie rund sind.120 Damit kommen also selbst essentielle Eigenschaften Dingen nur insofern zu, als Gott wollte, dass diese Dinge diese Eigenschaften aufweisen, und es gibt keine Eigenschaften, die Dingen nicht nur insofern zukämen, als Gott wollte, dass sie ihnen zukommen. Daher ist es sinnlos, eine Eigenschaft derivativ zu nennen, nur weil sie einem Ding wegen Gott zukommt. Entsprechend handelt es sich bei der Funktionalität eines menschlichen Körpers, die ihm nur insofern zukommt, als Gott wollte, dass er mit einem Geist eine Einheit eingehe, auch nicht um eine bloß derivative Funktionalität. Mit Rekurs auf Gottes Absichten könnte Descartes also tatsächlich die immanente Funktionalität des Körpers begründen. Dennoch ist fragwürdig, ob ihm dieser Rekurs auch möglich ist, da er in seiner Erwiderung auf Gassendi ja dezidiert bestritten hat, dass wir Gottes Absichten erkennen können. Diesem Einwand könnte man entgegnen, Descartes hätte die Untersuchung von Finalursachen oder Gottes Absichten – wie oben gesehen – genau genommen nur aus der Naturphilosophie oder der Physik verbannt.121 Und tatsächlich gestand Descartes ja Gassendi gegenüber ein, es sei legitim, „in der Ethik, wo man oft mit Vermutungen operieren darf, […] Betrachtungen darüber anzustellen, welchen Zweck wir wohl erschließen können, den Gott sich bei der Lenkung des Alls zum Ziele gesetzt hätte“.122 Genauso legitim, so könnte man nun argumentieren, sei der Bezug auf Gottes Zwecke, wenn es um die Beschreibung und Erklärung des menschlichen Körpers geht. Denn der menschliche Körper ist als beseelter Körper kein eigentlicher Gegenstand der Physik oder Naturphilosophie, da in ihm auch Bewegungen stattfinden, die von der Seele ausgehen, und damit nicht nur anhand der physikalischen Bewegungsgesetze erklärt werden können.123
____________ 120 Siehe 6. Erwiderung, 377f.; AT VII 436, und oben S. 184. 121 Siehe etwa Meditationes IV §6, AT VII 55, und Prinzipien I §28, AT IXb 37. 122 5. Erwiderung, 344; AT VII 375. 123 Wie Garber 2001, 150-155; 165, überzeugend ausführt, fällt der menschliche Körper nicht allein unter die Naturgesetze, da seine Bewegungen auch auf unseren Geist zurückzuführen sind. Damit handelt es sich beim menschlichen Körper auch nicht um einen genuinen physikalischen Gegenstand.
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Dennoch mag dieser Vorschlag ad hoc erscheinen. Warum, so fragt man sich, können wir uns bei der Abstimmung von Körper und Geist sicher sein, dass sie Gottes Absichten entsprechen, während uns dieselbe Erkenntnis bei der ebenfalls zweckmäßig erscheinenden Einrichtung von nicht-menschlichen Lebewesen verschlossen bleibt?124 Die Gewissheit, dass der Mensch eine immanent funktionale Einheit ist, scheint angesichts des Umstandes, dass uns Gottes Absichten in allen anderen Bereichen verschlossen sind, eine unbegründete Ausnahme darzustellen.125 Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich zeigen, dass Descartes durchaus über theoretische Ressourcen verfügt, um dem Vorwurf, er würde die funktionale Körper-Geist-Einheit unbegründeterweise einen Sonderstatus zugestehen, zu begegnen. Der Mensch als Einheit von Körper und Geist genießt nach Descartes eine Sonderstellung. Aber er tut dies nicht unbegründeterweise. Wie er in einem berühmten Brief an Prinzessin Elisabeth ausführt, zählt der Begriff der Vereinigung von Körper und Geist nämlich neben den Begriffen einer immateriellen, denkenden Seele, und des geometrisch ausgedehnten Körpers zu den Grundbegriffen (notions primitives), „die sich jeweils auf eigene Weise, und nicht durch einen Vergleich miteinander erkennen lassen“.126 Als Grundbegriff ist uns der Begriff der Körper-Geist-Einheit schlicht angeboren,127 und lässt sich nicht in weitere begriffliche Bestandteile analysieren. Daher wird diese Vereinigung auch „nur auf dunkle Weise vom Intellekt allein, oder sogar vom Intellekt mit Unterstützung der Vorstellung erkannt, sehr klar aber von den Sinnen“.128 Denn Descartes glaubt nicht, „dass der menschliche Geist fähig ist, zugleich die Verschiedenheit von Seele und Körper und ihre Einheit sehr deutlich zu erfassen. Denn dafür ist es notwendig, sie als einzelnes Ding und als zwei Dinge zu erfas-
____________ 124 In seiner 5. Erwiderung, 344; AT VII 375, betont Descartes, dass man sich nicht vorstellen könne, dass „einige Zwecke mehr als andere offenkundig sind; denn alle sind in der unerforschlichen Tiefe seiner Weisheit in gleicher Weise verborgen.“ 125 Diesen Vorwurf hat prominenterweise Spinoza an Descartes gerichtet, indem er (in E 3praef, 219) schrieb, Descartes behandle die Emotionen des Menschen nicht als „natürliche Dinge, die den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen, sondern ‹als› Dinge, die außerhalb der Natur liegen“. Spinozas naturalistische Alternative zu Descartes werden wir zumindest teilweise im nächsten Kapitel kennen lernen. 126 Brief an Prinzessin Elisabeth vom 28.6.1643, AT III 691. Vgl. auch den Brief an Prinzessin Elisabeth vom 21.5.1643, AT III 665f. 127 Im Brief an Prinzessin Elisabeth vom 21.5.1643, AT III 666f., schreibt Descartes, dass unsere Seele „von Natur aus“ über diese Begriffe verfüge. 128 Brief an Prinzessin Elisabeth vom 28.6.1643, AT III 691f.
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sen; und das ist absurd.“129 Für Descartes ist damit ausgeschlossen, dass wir die Körper-Geist-Einheit auf streng wissenschaftliche Weise erklären können. „Vielmehr ist es allein im Verlauf des Lebens und der gewöhnlichen Gespräche, und in der Enthaltung von der Meditation und dem Studium der Dinge, die die Vorstellungskraft beanspruchen, indem man lernt, die Vereinigung von Körper und Geist zu erfassen.“130 Die Einheit von Körper und Geist bildet so schlicht ein unhintergehbares, phänomenologisches Faktum, ist als solches aber nicht gänzlich unbegründet. „Jeder spürt, dass er eine einzige Person ist mit Körper und Denken, die von Natur aus so verbunden sind, dass das Denken den Körper bewegen und die Dinge fühlen kann, die in ihm geschehen.“131 Selbst wenn man diese Körper-Geist-Einheit nicht weiter erklären kann, bleibt zu konstatieren, dass es diese Körper-Geist-Einheit gibt, und dass folglich Gott den Körper mit dem Geist vereinigt hat. Daraus folgt unmittelbar, dass Gott diese Vereinigung auch einrichten wollte, und mithin die Absicht hatte, den Körper mit dem Geist zu vereinigen. Daher stehen uns in diesem Punkt auch Gottes Absichten offen. Denn wenn Gott Körper und Geist nicht auf diese spezielle Weise hätte vereinigen wollen, dann hätte er es auch nicht getan. Dieses Argument reicht allerdings noch nicht aus, um die immanente Funktionalität der Körper Geist Einheit zu begründen. Aus dem phänomenologischen Faktum, dass im Menschen Körper und Geist eine Einheit bilden, in der Körper und Geist wechselseitig aufeinander einwirken können, folgt lediglich, dass Gott eine solche Einheit einrichten wollte, und nicht, dass er sie als immanent funktionale Einheit einrichten wollte. Dafür müsste zusätzlich gezeigt werden, dass ich die immanente Funktionalität dieser Einheit unmittelbar erfahre. Genau das tut Descartes jedoch im Rahmen seiner Emotionstheorie, die er in den Passions de l’âme entwickelt. In dieser Schrift geht Descartes genauer auf das Körper-Geist-Verhältnis ein und führt aus, dass körperliche und mentale Zustände oder Ereignisse eines Menschen nicht ein für allemal fest miteinander verbunden sind, sondern zu einem gewissen Grad unserer eigenen Macht unterliegen und von uns neu aufeinander abgestimmt werden können.132 Den Schlüssel
____________ 129 Brief an Prinzessin Elisabeth vom 28.6.1643, AT III 693. 130 Brief an Prinzessin Elisabeth vom 28.6.1643, AT III 692. 131 Brief an Prinzessin Elisabeth vom 28.6.1643, AT III 694. 132 Descartes’ therapeutische Theorie des Umgangs mit Emotionen beruht also nicht auf einem, wie von vielen Descartes Interpreten – wie etwa Wilson 1996, 207f., und Laywine 1999, 150 – angenommenem stabilen oder gar gesetzesartigen Verhältnis, sondern auf einem dynamischen Verhältnis, wofür ausführlich L. Shapiro 2003, 213-232, argumentiert hat.
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dazu sieht Descartes in der Möglichkeit der Ausbildung neuer Gewohnheiten: Es ist ferner nützlich zu wissen, dass, obwohl die Bewegungen der Drüse wie auch der Lebensgeister und des Gehirns, die der Seele bestimmte Objekte repräsentieren, natürlicherweise mit bestimmten Emotionen verbunden sind, die sie in ihr auslösen, sie dennoch durch Gewohnheit davon getrennt werden und mit anderen stark verschiedenen verbunden werden können […]. (Passions §50, AT XI 369)
Durch Gewohnheit [habitude] können wir die ursprünglich von Natur aus eingerichteten Korrelationen zwischen körperlichen Gehirnaktivitäten und mentalen Empfindungen neu miteinander verknüpfen und dabei gleichsam ‚rekalibrieren’. Descartes illustriert dies am Beispiel des Sprachverstehens: So zeigt die Erfahrung in Bezug auf Worte, dass diese in der Drüse Bewegungen hervorrufen, obwohl sie der Seele gemäß der Einrichtung der Natur nichts als ihren Klang repräsentieren, wenn sie von einer Stimme hervorgebracht werden, und dass man trotzdem durch Gewohnheit, die man erworben hat, an das zu denken, was sie bedeuten, sobald man ihren Klang gehört oder ihre Buchstaben gesehen hat, die Bedeutung statt der Gestalt der Buchstaben oder den Klang ihrer Silben begreift. (Passions §50, AT XI 369)
Haben wir eine Sprache erlernt, so haben wir damit eine Gewohnheit oder eine Fähigkeit erworben, die es uns ermöglicht, unmittelbar zu verstehen, was eine Person in dieser Sprache zu uns sagt. Das wird uns besonders deutlich, wenn wir Länder bereisen, deren Sprache wir nicht kennen: Auf dem großen Bazar in Istanbul nehme ich die Angebote der Händler – allein gemäß der Einrichtung meiner Natur – nur als Klangmuster wahr, während jene, die Türkisch sprechen, anlässlich derselben Sinnesreize diese Angebote unmittelbar verstehen. In einem Habitualisierungsprozess können also unsere mentalen Reaktionen neu auf gewisse sinnliche Reize abgestimmt und in diesem Sinne rekalibriert werden.133 Das Körper-GeistVerhältnis ist damit nicht einfach als statisches Verhältnis zu verstehen, das allein durch die Natur resp. Gott festgelegt ist und dem wir rein passiv unterliegen. Es erweist sich vielmehr als ein dynamisches Verhältnis, das wir durch Übung und Gewohnheit aktiv beeinflussen können.134
____________ 133 Der Gedanke, wir könnten unsere Emotionen neu auf bestimmte Szenarien abstimmen und in diesem Sinne rekalibrieren, spielt auch in gegenwärtigen Emotionstheorien eine zentrale Rolle. Vgl. Prinz 2004, 99. 134 Damit steht Descartes allerdings vor dem systematischen Interaktionsproblem, das Vertreter einer nomologischen Interpretation des Geist-Körper-Verhältnisses zu vermeiden suchten. Auch wenn Descartes’ Theorie natürlich systematisch überzeugender wäre, wenn sie kein Interaktionsproblem aufwerfen würde, zeigen obige Stellen doch, dass eine nomologische Interpretation exegetisch unangemes-
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Generell gilt, dass sich Leidenschaften „gemäß der Einrichtung der Natur alle auf den Körper beziehen und der Seele nur insofern gegeben werden, als sie mit diesem verbunden ist. Dabei besteht ihr natürlicher Nutzen darin, die Seele zu veranlassen, die Handlungen zu billigen und zu solchen beizutragen, die dem Körper dienen und ihn bewahren oder in irgendeiner Weise vervollkommnen.“135 Damit entsprechen sie voll und ganz den Interessen der Seele, die mit ihrem Körper verbunden sein will. „Aber wenn auch dieser Nutzen, den man von den Leidenschaften haben kann, äußerst natürlich ist […], ist er keineswegs immer gut, denn es gibt mehrere Dinge, die für den Körper schädlich sind, die aber zu Beginn keine Traurigkeit hervorrufen oder selbst Freude bereiten und andere, die nützlich sind, obgleich sie anfangs unangenehm sind.“136 Man denke nur an die berühmte bittere Medizin oder an die cholesterinreiche Sahnetorte. „Deshalb müssen wir uns der Erfahrung und der Vernunft bedienen, um das Gute vom Übel zu unterscheiden und in seinem richtigen Wert zu erkennen, und um nicht das eine für das andere zu nehmen und uns zu nichts im Übermaß hinreißen zu lassen.“137 Wenn sich zeigt, dass unsere Leidenschaften nicht dem dienen, was wir für gut erachten, dann müssen wir sie so korrigieren, dass sie wieder im Einklang mit unserem aufgeklärten Willen sind. Das können wir tun, indem wir uns – sofern möglich – vor einer überstürzten Handlung zurückhalten und stattdessen über den Wert dieser Leidenschaften nachdenken, um dadurch Raum für eine unserer Einschätzung angemessenere Emotion zu schaffen. Descartes erläutert dies am Beispiel der Furcht: Da mir aber scheint, dass diejenigen, die gewohnt sind, über ihre Handlungen nachzudenken, dies immer können, werden sie, wenn sie sich von Furcht ergriffen fühlen, sich bemühen, ihre Gedanken von der Erwägung der Gefahr abzuwenden und sich Gründe vorzustellen, warum es im Widerstand mehr Sicherheit und mehr Ehre als in der Flucht gibt. (Passions §211, AT XI 487)
Damit dient nicht nur die natürliche Einrichtung der Leidenschaften und der Sinnesempfindungen unserem Wohlergehen. Auch unsere habituelle Einrichtung von Emotionen, die wir durch Übung und Gewohnheit erwerben, erfolgt auf der Grundlage der Gründe, mit denen wir unsere Lei-
____________ sen ist. Dazu kommt, dass Descartes selbst betont, dass die kausale Interaktion zweier verschiedener Substanzen für ihn kein Problem darstellt (etwa in seinem Brief an Clerselier vom 12.1.1646, AT IXa 213). Wie Rozemond 1999, 444, ausführt, sei es insbesondere von Descartes’ Vorgängern sowieso für unproblematisch erachtet worden, dass Mentales auf Physisches einwirken könne. 135 Passions §137, AT XI 430. 136 Passions §138, AT XI 431. 137 Passions §138, AT XI 431.
Die immanente Funktionalität des menschlichen Körpers
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denschaften evaluieren und gegebenenfalls durch andere Emotionen korrigieren können, die unseren Vorstellungen darüber, was gut für uns ist, besser entsprechen. Descartes’ therapeutischer Vorschlag zum Umgang mit unseren Leidenschaften geht also davon aus, dass man seine Leidenschaften und Emotionen aktiv kontrollieren kann, „indem man sich übt, in sich die Bewegungen des Blutes und der Lebensgeister von den Gedanken, mit denen sie gewöhnlich verbunden sind, zu trennen“138 und anschließend neu aufeinander abzustimmen. Diese Einrichtung neuer Korrelationen zwischen mentalen und physikalischen Zuständen erfolgt auf der Grundlage dessen, was wir als gut für uns erfassen.139 Die Körper-Geist-Einheit, die wir im alltäglichen Leben erfahren, erweist sich so nicht bloß als interaktionistische Einheit, in der Körper und Geist irgendwie aufeinander einwirken. Insofern die körperlichen und mentalen Zustände dieser Einheit auf eine Weise miteinander korreliert sind, die der Erhaltung dieser Einheit dienen, und insofern wir mit Hilfe der Ausbildung neuer Gewohnheiten diese Korrelationen sogar nach dem, was wir für gut erachten, neu festlegen können, stellt sich diese Einheit vielmehr als teleologische oder immanent funktionale Einheit heraus.140 Damit erfahren wir die Vereinigung von Körper und Geist ganz selbstverständlich als immanent funktionale Einheit, für die wir sogar selber Verantwortung übernehmen und die wir in einem gewissen Rahmen gestalten können. Mithin erfahren wir an uns selbst, dass Gott Körper und Geist auf funktionale Weise miteinander vereint hat, und können folglich wissen, dass er die Körper-Geist-Einheit als immanent funktionale intendiert hat. Dass wir im Falle der Körper-Geist-Einheit wissen können, dass sie Gott als immanent funktionale beabsichtigt hat, ist somit alles andere als unbegründet. Dieses Wissen ist schlicht dadurch gerechtfertigt, dass wir uns als immanent funktionale Einheit erfahren, und folglich als solche von Gott geschaffen worden sein müssen. Auf der Grundlage der besonderen Phänomenologie, die wir als verkörperte Wesen haben, kann Descartes also durchaus begründen, warum
____________ 138 Passions §211, AT XI 486. 139 So meint auch Shapiro 2003, 233, „that it is our conception of our good that guides us in joining a physiological state to a thought different from that with which it was originally joined. […] That is, we come to institute new associations between bodily states and mental states just as we come to rethink our good.“ 140 Wie Gueroult 1953, 181f., ausführt, empfindet die Seele bei ihrer ersten Verbindung mit dem Körper Freude, und Descartes schreibt in seinem Brief an Chanut vom 1.2.1647, AT IV 604, über die Seele, dass „ihre erste Leidenschaft die Freude gewesen ist“. Das natürliche Wohlbefinden, das die Seele aufgrund der Vereinigung mit ihrem Körper erfährt, gibt ihr weitere phänomenologische Evidenz dafür, dass diese Vereinigung gut und in diesem Sinne funktional ist.
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Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse
wir wissen können, dass unser Geist auf immanent funktionale Weise mit unserem Körper verbunden ist. Doch eröffnet dieser Hinweis auf die Phänomenologie nicht Tür und Tor um für weitere Formen immanenter Naturteleologie zu argumentieren? Könnte etwa Gassendi in Anlehnung an seine „Phänomenologie“ nicht ganz analog argumentieren, ihm erscheine es unbezweifelbar, dass Fische Kiemen zum Atmen haben, und daraus folgern, dass Gott die Kiemen der Fische zum Atmen erschaffen haben müsse, und Kiemen also die immanente Funktion hätten, dem Fisch bei der Atmung zu dienen? Auch wenn dieser Verdacht nahe liegt, glaube ich nicht, dass er haltbar ist. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die beiden Fälle nämlich als weniger analog, als man zunächst vermuten könnte. Zum einen ist die Phänomenologie funktionaler Zusammenhänge in der Natur nach Descartes nicht in angeborenen Grundbegriffen begründet, wie es die Körper-Geist-Einheit ist. Damit können uns die funktionalen Zusammenhänge außerhalb unseres Körpers nie so unmittelbar gewahr werden, wie die der Vereinigung unseres Körpers mit unserem Geist, für die wir ja sogar Verantwortung übernehmen und nach unseren Vorstellungen des Guten zu einem gewissen Maß gestalten können. Zum andern unterscheiden sich funktionale Relationen in Körpern auch dadurch von der funktionalen Körper-Geist-Einheit, dass sich die Einrichtung der ersteren im Gegensatz zu jener der letzteren durch eine kausal-mechanistische Geschichte erklären lässt. Wie oben anhand von Descartes’ Embryologie deutlich wurde, versucht ja Descartes tatsächlich, die Anordnung organischer Teile in einem Lebewesen als Folge komplexer mechanischer Prozesse zu deuten. Wenn Korpuskeln in der richtigen Umgebung und angetrieben durch Gärungsprozesse gemäß den allgemeinen Bewegungsgesetzen umherwirbeln und sich gegenseitig behindern und verkeilen, so resultieren daraus nach und nach die organischen Strukturen eines Lebewesens. Entsprechend sollte auch der Umstand, dass Kiemen einen kausalen Beitrag zur Atmung des Fisches leisten und in diesem Sinne seiner Atmung dienen, mit Hilfe einer solchen mechanistischen Geschichte erklärt werden können: Nachdem sich Korpuskeln aufgrund mechanischer Prozesse einmal zu Kiemen formiert haben, und sie mit sauerstoffreichem Wasser in Kontakt stehen, handelt es sich um einen weiteren rein mechanischen Prozess, dass die Sauerstoffteilchen durch die engen Poren der Kiemen ins Blut des Fisches diffundieren. Doch genau eine solch mechanistische Geschichte lässt sich bezüglich der KörperGeist-Einheit nicht erzählen. Weder für ihre Genese noch für ihre Interaktion. Denn die Körper-Geist-Einheit entsteht nicht durch mechanische Prozesse, sondern dadurch, dass Gott den Körper mit einem Geist verbin-
Schlussbemerkungen
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det.141 Ebenso wenig darf die Interaktion zwischen Körper und Geist nach einem mechanistischen Modell der Bewegungsübertragung verstanden werden.142 Damit können wir einzig bei unserem eigenen Körper gewiss sein, dass er den immanenten Zweck hat, mit der Seele verbunden zu sein, und damit über immanente Funktionen verfügt. Dies erfahren wir im alltäglichen Lebensvollzug und können damit sicher sein, dass die KörperGeist-Einheit von Gott als immanent funktionale beabsichtigt und erschaffen worden ist.
Schlussbemerkungen Finalursachen, so sagt Descartes, haben in der Beschreibung und Erklärung natürlicher Phänomene nichts zu suchen. Wenn wir geneigt sind zu glauben, materielle oder natürliche Gegenstände verhielten sich in ihren Bewegungen zielgerichtet, so unterliegen wir jenen verworrenen Ideen, denen Descartes’ Diagnose zufolge bereits scholastische Naturphilosophen in ihrer Orientierung an sinnlichen Ideen verfallen sind: Wir vermengen Vermögen, die nur dem Geist zukommen, mit Eigenschaften von Körpern, indem wir Bewegungen natürlicher Gegenstände in Analogie dazu erklären, wie wir unsere eigenen Bewegungen erfahren – als Ausdruck eines auf ein spezifisches Ziel ausgerichteten Willens. Entsprechend weist Descartes die hylemorphistische Physik der Scholastik unter anderem als animistisch zurück. Ihre Formen, mit Bezug auf die sie die Einheit und Bewegungen natürlicher Phänomene beschreiben, entsprächen einer Art Seele, die (wie unsere Seele) Spezifisches begehren und erstreben könne. Da der klassischen Auffassung zufolge die Finalursachen der Dinge durch ihre Formen gegeben sind, fallen sie bei Descartes’ Zurückweisung der Formen gleich samt ihnen aus der physikalischen Welt. Körper bewegen sich aufgrund gewisser Einwirkungen anderer Körper nach allgemeinen Bewegungsgesetzen, ohne dabei ein bestimmtes Ziel anzustreben: Sie verharren einfach so lange in ihren Bewegungen, bis sie von einer anderen Ursache daran gehindert werden. Eine einzelne Bewegung ist nach der Zurückweisung des Hylemorphismus nicht mehr länger als aristotelischer motus zu verstehen. Das heißt als etwas, das aus einer Aktualisierung einer Form besteht und in der Aktualisierung dieser Form ihr natürliches Ende oder Ziel findet, hinter dem ein bewegendes Ding – wenn Sachen schief laufen – auch zurückbleiben kann.
____________ 141 Das ergibt sich etwa aus der 6. Erwiderung, AT IXa 242. 142 Davor warnt Descartes explizit in seinem Brief an Prinzessin Elisabeth vom 21.5.1643, AT III 666.
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Kapitel III: René Descartes – Mechanismus und Kausalanalyse
Dass Descartes Finalursachen aus der körperlichen Welt verbannt, heißt jedoch nicht, dass er sie vollständig zurückweist. In der immateriellen Welt der Seelen sind Finalursachen unproblematisch: Wenn Ziele und Zwecke von einem Geist erkannt werden, können sie ihn als Finalursachen motivieren, gewisse Handlungen zu vollziehen. Wie bereits die scholastische Tradition vor ihm geht Descartes selbstverständlich von der cognitio-Bedingung aus, nach der ein Ziel erst dadurch zur Finalursache werden kann, dass es erkannt wird. Anders als seine mechanistischen Zeitgenossen143 und scholastischen Vorgänger lehnt es Descartes aus theologischen Gründen sogar ab, die zweckmäßig anmutenden Einrichtungen in der Natur mit Bezug auf Gottes Absichten zu erklären. Denn Gottes unendliches Wesen ist unergründlich, weshalb wir endliche Wesen uns nicht anmaßen können, etwas über seine Absichten zu wissen. Damit ist klar, warum für Descartes „diese ganze Gattung von Ursachen, die man üblicherweise dem Zweck entnimmt, in der Physik keinerlei Nutzen hat“:144 Weder einzelne physikalische Prozesse noch ganze Einrichtungen materieller Strukturen, die uns zweckmäßig erscheinen, sind mit Hilfe von Finalursachen zu erklären. Erstere sind es nicht, weil sie nicht im Sinne aristotelischer motus konzipiert werden, die aufgrund der an diesen Prozessen involvierten Formen ein natürliches Ende oder Ziel haben. Cartesische Bewegungen können aufgrund von Interferenzen vielleicht anders verlaufen, als erwartet, aber sie können nicht abbrechen oder fehlgehen. Letztere sind es nicht, weil die einzigen Finalursachen, mit Bezug auf die sie erklärt werden könnten, in Gottes Absichten bestehen, und genau diese können wir gemäß Descartes’ theologischen Überzeugungen nicht erkennen und stehen uns deshalb auch nicht für eine Erklärung zur Verfügung. Trotz seiner Verbannung der Finalursachen aus der Naturphilosophie meint Descartes allerdings nicht, auf jede Form teleologischer Erklärungen verzichten zu müssen. Vielmehr glaubt er, unsere Rede von Funktionen und zweckmäßigen Einrichtungen von Dingen im Rahmen einer kausalen Analyse rekonstruieren zu können. Materielle Dinge weisen aufgrund ihrer spezifischen geometrischen Struktur nämlich ganz bestimmte Dispositionen auf, die zu der Ausübung anderer Dispositionen oder Fähigkeiten beitragen können. Entdecken wir bei der Kausalanalyse einer bestimmten
____________ 143 Viele Mechanisten der frühen Neuzeit führten die zweckmäßige Einrichtung der Welt auf Gottes Absichten zurück. Prominent dafür sind P. Gassendi und R. Boyle (vgl. dazu etwa Osler 1996 und 2001). Auch Ch. Wolff, der rund 100 Jahre nach Descartes für die Untersuchung der Zwecke in der Natur den Ausdruck „Teleologie“ prägte, führte die natürlichen Zwecke ganz selbstverständlich auf Absichten Gottes zurück. 144 Meditationes IV §6, AT VII 55.
Schlussbemerkungen
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Kapazität eines bestimmten Systems, dass ein Bestandteil dieses System durch eine ganz bestimmte Tätigkeit kausal zur Ausübung dieser Kapazität beiträgt, so können wir diese Tätigkeit als funktional oder zweckmäßig (für die Ausübung der zu analysierenden Kapazität) beurteilen. Wie sich aber gezeigt hat, generiert Descartes’ kausalanalytische Funktionskonzeption eine andere Form der Erklärung, als sie ein Funktionsbegriff generieren würde, der im Rekurs auf (göttliche) Absichten expliziert wird. Während Erklärungen der Form ‚A tut F, damit B G tun kann’, die mittels Absichten analysiert werden, erklären, warum A als ein Ding, das F tut, existiert, erklärt ein Satz derselben Form nach Descartes’ kausalanalytischem Funktionsverständnis, wozu As Vollführen von F B befähigt – nämlich G zu tun. Dies hängt damit zusammen, dass Descartes auf der Grundlage seines kausalanalytischen Funktionsverständnisses Sätze der Form ‚A tut F, damit B G tun kann’ nicht länger als Finalsätze versteht, sondern diese kurzerhand als Konsekutivsätze der Form ‚A tut F, so dass B G tun kann’ uminterpretiert. Damit erweist sich Descartes’ kausalanalytische Funktionskonzeption als Analyse teleologischer Aussagen jedoch als unbefriedigend. Sie trägt nämlich der Normativität von Funktionszuschreibungen nur ungenügend Rechnung. So kommt der normative Status einer Disposition, die im Rahmen einer Kausalanalyse als funktional ausgewiesen wird, dieser Disposition nicht an sich zu, sondern nur relativ zu unseren Analyse-Interessen. Entsprechend lassen sich aus einer kausalen Analyse auch bloß derivative und extrinsische, und keine immanenten und intrinsischen Zwecke gewinnen. Dies ist unbefriedigend, weil wir es häufig für die Dinge selbst als problematisch erachten, wenn sie ihre Funktionen nicht ausüben können, und nicht einfach für unsere an diese Dinge gerichteten Erwartungen: Wenn der Flügel eines Vogels seine Funktion nicht ausüben kann, dann hat in erster Linie der Vogel ein Problem, und nicht wir. Diese Konsequenz der kausalanalytischen Funktionskonzeption wendet Descartes zunächst zu seinem Vorteil. Damit vermeidet er für den ganzen Bereich des Natürlichen ein Theodizee-Problem. Da physikalische Gegenstände keine immanente Funktionalität und also keinen intrinsisch normativen Status aufweisen, gibt es auch keinen intrinsisch normativen Maßstab, anhand dessen man natürliche Gegenstände irgendwie als schlecht oder dysfunktional beurteilen könnte, was einen an Gottes Güte zweifeln lassen könnte. Aber auch wenn das Fehlen einer immanenten und intrinsischen Funktionalität im Bereich des Natürlichen Descartes’ theologischen Ansichten zu Gute kommt, ist eine solche Auffassung aus anderen Gründen mehr als problematisch: Sie ist unvereinbar mit unserem Selbstverständnis als Wesen, die auch krank sein können, und droht letztlich die Möglichkeit der Medizin zu unterminieren, die sich mit der Gesundheit des Men-
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schen befasst, d.h. mit dem, was für den menschlichen Körper gut ist. Bedenkt man, dass Descartes seine Physik immer wieder damit rechtfertigt, dass sie zum Fortschritt in der Medizin beiträgt, erscheint seine kausalanalytische Funktionskonzeption, auf deren Grundlage nur derivative Zwecke etabliert werden können, die Motivation für sein gesamtwissenschaftliches Projekt zu unterminieren. Diesem Problem kommt Descartes jedoch nach, indem er den menschlichen Körper als einen Körper bestimmt, der wesentlich mit einer Seele oder einem Geist vereint ist, und dadurch einen intrinsisch normativen Status gewinnt: Insofern ein menschlicher Körper wesentlich Teil einer Körper-Geist-Einheit ist, soll er Teil dieser Einheit, und damit möglichst gesund sein, da der Geist nicht mit einem allzu beschädigten Körper verbunden sein kann. Der menschliche Körper ist mit dem Geist also zu einer funktionalen Einheit vereint, weshalb alle Dispositionen, von denen sich in einer kausalen Analyse zeigt, dass sie zum Erhalt dieser Einheit beitragen, sich auch als immanent funktional ausweisen, und nicht bloß als derivativ funktional: Es liegt nicht nur an unseren Analyse-Interessen, dass diese Dispositionen dem Erhalt der Vereinigung mit dem Geist dienen sollen, sondern sie sollen dies immanent oder als solche tun – als Dispositionen eines menschlichen Körpers. Dass unser Körper an sich ein menschlicher Körper sein soll und deshalb mit immanenten Funktionen ausgestattet ist, liegt nach Descartes letztlich daran, dass ihn Gott als solchen schuf als er ihn mit einem Geist verband. Es ist daher auch Gott zu verdanken, dass wir eine immanent funktionale Einheit sind. Dessen können wir uns gewiss sein, weil wir in uns einen angeborenen Grundbegriff dieser Körper-Geist-Einheit haben, und in unserem alltäglichen Leben und in der Möglichkeit, unsere emotionalen Reaktionen gemäß unseren Vorstellungen des Guten zu kontrollieren und konditionieren, erfahren, dass diese Einheit eine funktionale ist und als solche von Gott geschaffen worden sein muss. Anders als in der Physik sind uns Gottes Absichten mit Bezug auf unsere Körper-GeistEinheit also nicht verborgen: Dass Gott diese Einheit als immanent funktionale geschaffen und folglich als solche intendiert hat, erfahren wir in unserem gewöhnlichen Leben. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch Descartes’ Teleologieverständnis mit Hilfe der in der Einleitung vorgestellten Systematisierungsfragen charakterisieren. Zunächst fällt auf, dass Descartes – wie bereits Suárez – strikt zwischen der Analyse naturteleologischer und handlungsteleologischer Aussagen unterscheidet. Anders als Suárez tut er dies jedoch
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nicht aus metaphysischen Gründen,145 sondern aus epistemischen: Weil wir Gottes Absichten nicht erkennen können, bleibt uns verschlossen, mit welchen Zwecken er die natürlichen Dinge versehen hat. Entsprechend gilt es, naturteleologische Aussagen ohne Rekurs auf Zwecke mit Bezug auf kausale Rollen zu analysieren. Descartes entwickelt somit zwei Analysestrategien teleologischer Aussagen: eine echte Analyse mit Bezug auf Absichten, sofern uns diese bekannt sind, und eine behelfsmäßige Analyse mit Bezug auf kausale Rollen, zu der wir greifen müssen, wenn wir die echten Zwecke der Dinge nicht erkennen können. Zweckgerichtete Tätigkeiten und funktionale Einrichtungen natürlicher Körper müssen gemäß der ersten Strategie analysiert werden; Handlungen, Artefakte und die Beschaffenheit des menschlichen Körpers und dessen Prozesse gemäß der zweiten. Diese beiden Analyseformen verhalten sich bezüglich der anderen beiden Systematisierungsfragen jeweils unterschiedlich. Stellt man die Frage, ob die in teleologischen Sätzen genannten Zwecke oder Funktionen natürlichen Gegenständen immanent und intrinsisch oder derivativ und extrinsisch sind, so fallen die Antworten beider Analyse-Strategien unterschiedlich aus: Gemäß der behelfsmäßigen Analyse kommen die in diesen Aussagen zugeschriebenen Funktionen diesen Dingen nur derivativ und extrinsisch zu. Schließlich sind diese Funktionen dieser Analyse zufolge ja nichts anderes als Dispositionen, welche dem untersuchten Ding zu einer besonderen Kapazität verhelfen, die wir für untersuchungswürdig und damit für interessant erachten. Dagegen erweist sich die Funktionalität der Körper-Geist-Einheit als immanent und intrinsisch, da sie auf die Absicht Gottes, eine intrinsisch immanent funktionale Einheit zu schaffen, zurückgeht. Dieses begriffliche Kunststück, die intrinsische Funktionalität des menschlichen Körpers als immanent zu verstehen, obwohl sie Gottes Absichten geschuldet ist, gelingt Descartes aufgrund seines radikalen Voluntarismus. Da dieser Position zufolge Gott durch buchstäblich nichts eingeschränkt ist, kann Descartes auch sinnvollerweise behaupten, Gott habe die Essenzen der Dinge mit gewissen Zwecken versehen und damit ihre immanenten Funktionen festlegt. Zu einer ähnlich divergierenden Einschätzung kommt man, wenn man sich fragt, was teleologische Sätze gemäß Descartes’ beiden Analysestrategien erklären sollen. Naturteleologische Sätze, die behelfsmäßig als Aussagen über kausale Rollen von Merkmalen in Systemen analysiert werden, sollen darüber Aufschluss geben, wie ein System eine bestimmte Kapazität ausübt. Nicht zuletzt helfen Aussagen über die kausalen Rollen, die
____________ 145 Nach Suárez beruhen naturteleologische Zusammenhänge auf Exemplarursachen, während handlungstelologische Zusammenhänge (endlicher rationaler Agenten) auf Finalursachen zurückgehen. Das ist ein metaphysischer Unterschied.
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Teile in einem System spielen, besser zu verstehen, um was für ein System mit welchen Kapazitäten es sich bei einem gegebenen System handelt. In diesem Sinne könnte man vielleicht sagen, kausalanalytisch interpretierte (oder behelfsmäßig analysierte) teleologische Aussagen spezifizierten die Kapazitäten eines Systems genauer, und trügen damit zur Beantwortung der konstitutiven Frage nach der Identität einer Kapazität eines Systems bei. Im Gegensatz dazu sind die mit Rekurs auf Absichten analysierten teleologischen Aussagen ätiologisch zu verstehen. Sie beantworten die Frage, warum etwas auf bestimmte Weise existiert oder stattfindet: Handlungen finden statt, weil sie intendiert werden, und der menschliche Körper ist deshalb auf seine spezifische Weise mit einem Geist verbunden, weil Gott das so wollte. Auf die Frage nach dem Teleologieverständnis von Descartes lässt sich also nur schwer antworten. Wie aber bereits meine Bezeichnung von Descartes’ beiden Analysestrategien andeutet, kann nur die echte Analyse teleologischer Aussagen mit Rekurs auf Absichten ihrem finalen Charakter Rechnung tragen. Denn nur in dieser Analyse bleibt der normative Aspekt dieser Aussagen bewahrt. In der behelfsmäßigen Analyse werden teleologische Aussagen schlicht als Konsekutivsätze gedeutet, was sie ihres spezifisch normativen Aspekts beraubt. Wenn es einen normativen Aspekt geben sollte, dann liegt er allein im Auge des Betrachters, der mangels Wissen um die wahren Zwecke der Dinge in seiner Analyse selbst Zwecke setzt und entscheidet, was relevant ist und was nicht.146 Damit lässt sich Descartes’ Teleologieauffassung jener Tradition zuordnen, in der auch Thomas von Aquin steht: Sofern Dinge echte Zwecke haben, handelt es sich um Absichten.147 Echte Teleologie gibt es nach Descartes also nur dann, wenn sie sich intentionalistisch und ätiologisch verstehen lässt.
____________ 146 Descartes erweist sich so als Vertreter einer projektivistischen Auffassung der Normativität, nach der Werte nicht an sich existieren, sondern nur als Inhalte mentaler Zustände oder Absichten. Im nächsten Kapitel wird deutlich, dass sich auch Spinoza dieser Auffassung anschließt, ohne aber den objektiven Status von Werten aufgeben zu wollen. 147 Selbst für den kausalanalytischen Funktionsbegriff sind Absichten erforderlich: Es sind unsere Analyse-Absichten, die festlegen, was als relevant erachtet werden sollte und was nicht.
Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben Wie kaum ein anderer Philosoph der frühen Neuzeit hat Baruch de Spinoza Finalursachen kritisiert. Im Anhang zum ersten Teil seiner Ethik schreibt er etwa, dass „alle Zweckursachen nichts als menschliche Einbildungen sind“ (E 1app, 85) und dass „diese Lehre vom Zweck die Natur gänzlich auf ihren Kopf stellt“ (E 1app, 87). Darüber hinaus seien Zweckerklärungen lediglich Scheinerklärungen, welche die eigene Unkenntnis der wahren Ursachen verschleiern und so zu einem Zufluchtsort der Unwissenheit (asylum ignorantiae) werden (vgl. E 1app, 89). Angesichts Spinozas klarer Stellungnahme gegen Finalursachen erstaunt es auf den ersten Blick, dass in der Forschungsliteratur seit mehr als zwanzig Jahren heftig darüber debattiert wird, ob Spinoza nun ein verbitterter Gegner oder, ganz im Gegenteil, ein großer Verfechter der Teleologie sei. Für die erste und im Hinblick auf Spinozas Kritik an den Finalursachen zunächst näher liegende Position hat Jonathan Bennett argumentiert: Mixed in with the attack on divine purpose there are two arguments which, if they are any good at all, count against any kind of teleology – against ‚He raised his hand so as to shade his eyes‘ as well as ‚Elbows are formed like that so that men can raise their hands‘. (Bennett 1984, 215)
Spinoza sei nicht nur der Ansicht, dass es keine kosmische oder göttliche Teleologie gibt, sondern er würde auch jede Form der Handlungsteleologie und der natürlichen Teleologie ablehnen. Dass Spinoza jede Form der Teleologie und damit insbesondere auch die Handlungsteleologie zurückweist, scheint jedoch unhaltbar. Denn Spinoza lehnt teleologische Erklärungen unter anderem als anthropomorphistisch ab, wenn er meint, dass die menschliche Neigung, Dinge teleologisch zu erklären, daher rühre, dass „die Menschen gewöhnlich annehmen, alle natürlichen Dinge handelten, wie sie selbst, um eines Zweckes willen“ (E 1app 79f.; Hervorhebung von mir). Die Zurückweisung teleologischer Erklärung als anthropomorphistisch setzt voraus, dass zumindest Menschen um gewisser Zwecke willen tätig sind, was Spinoza auch explizit behauptet, wenn er schreibt, dass „Menschen alles um eines Zweckes willen tun, nämlich um ihres Vorteils willen.“ (E 1app, 81). Im Verweis auf diese Stellen lassen
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sich denn auch Zweifel an Bennetts radikaler Interpretation anbringen.1 Diese Zweifel gegenüber Spinozas totaler Ablehnung der Teleologie erhärtet sich, wenn man sich auf den dritten Teil von Spinozas Ethik konzentriert, in dem er seine Theorie des natürlichen Strebens nach Selbsterhaltung oder des conatus entwickelt, die für seine Naturphilosophie, Psychologie, politische Philosophie und Ethik eine zentrale Rolle spielt. So schreibt Spinoza: „Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren“ (E 3p6).2 Wenn nun jedem Ding ein eigenes Streben zukommt, so ist man versucht, dieses Streben als eine Form natürlicher Teleologie zu verstehen, die jedem Ding zukommt. Dies hat Don Garrett getan: Although the Ethics does not use the terms ‚end‘ and ‚final cause‘ in application to subhuman nature, we have seen that Spinoza is committed by the conatus doctrine of E 3P6 to allow a pervasive teleology in nature. (Garrett 1999, 330)
Anhand dieser unterschiedlichen Einschätzungen wird deutlich, dass trotz Spinozas deutlicher Kritik an den Finalursachen im Anhang zum ersten Teil der Ethik große Uneinigkeit darüber herrscht, ob Spinoza nun ein Freund oder Feind der Teleologie ist, geschweige denn, gegen welche Formen der Teleologie Spinoza etwas einzuwenden hat. Diese Uneinigkeit legt allerdings auch den Verdacht nahe, dass die verschiedenen Interpreten jeweils etwas anderes unter dem Ausdruck ‚Teleologie’ verstehen und demzufolge Spinoza unterschiedliche Dinge zu oder absprechen. Wie in der Einleitung gesehen, ist dies kein Zufall, da das philosophische Kunstwort „Teleologie“ aufgrund seiner spezifischen Geschichte mit einem ganzen Bündel an Assoziationen verbunden und notorisch verdächtig ist. Um nicht Opfer dieser terminologischen Schwierigkeit zu werden, möchte ich auch in diesem Kapitel an meinem in der Einleitung vorgeschlagenen anspruchslosen semantischen Teleologieverständnis festhalten, wonach „teleologisch“ eine spezifische Form der Rede auszeichnet, in der Nomen wie „Zweck“, „Ziel“ oder „Funktion“ oder Konjunktionen wie „damit“ oder „um … willen“ vorkommen. Wie verhält es sich also mit Spinoza und der Teleologie? Lehnt er teleologische Erklärungen aufgrund seiner Ablehnung von Finalursachen konsequent ab, oder entwickelt er im Rahmen seiner conatus-Doktrin eine alternative Strategie, auf deren Grundlage er teleologische Erklärungen ohne Finalursachen rekonstruieren kann? Diese Frage möchte ich in den folgenden fünf Abschnitten klären. Im ersten Abschnitt werde ich Spinozas Kritik an Finalursachen rekonstruieren, die – wie schon bei Suárez und
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Dass Spinoza nichts gegen eine Handlungsteleologie einzuwenden hat, dafür haben insbesondere E. Curley 1990 und M. Lin 2006 argumentiert. „Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.“
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Descartes – ein Vakuum für die Fundierung teleologischer Rede erzeugt. Diese gilt es in der Folge ohne Rekurs auf Finalursachen zu ersetzen. Am wenigsten problematisch scheint dies im Bereich menschlicher Handlungen. Wenn Peter joggen geht, um etwas für seine Gesundheit zu tun, dann scheint es sich um einen harmlosen Fall mentaler Verursachung zu handeln: Peter hat den mentalen Zustand des Gesund-bleiben-wollens, der sein Joggen-gehen verursacht. Nun gehören mentale und materielle Phänomene für Spinoza jedoch zwei verschiedenen Attributen an. Mentale Zustände wie Wünsche und Überzeugungen fallen unter das Attribut des Denkens und materielle Phänomene wie Körperbewegungen fallen unter das Attribut der Ausdehnung. Von diesen Attributen behauptet Spinoza (in E 2p5 und 2p6), dass sie kausal und explanatorisch geschlossen sind. Damit erweist sich die mentale Verursachung für Spinoza als problematisch. Wie Spinoza diesem Problem entgeht, werde ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels untersuchen. Dabei wird sich allerdings herausstellen, dass für Spinoza – im Gegensatz zu unserem gewöhnlichen Verständnis – die handlungsteleologische Rede nicht den Unterschied zwischen freien und nicht-freien Handlungen markiert. Dafür muss vielmehr auf Spinozas Begriff des conatus zurückgegriffen werden, auf den ich in den verbleibenden Abschnitten dieses Kapitels genauer eingehe. Ich werde zeigen, dass Spinoza auf der Grundlage seiner conatus-Doktrin nach einer Möglichkeit sucht, unsere teleologische Rede in Begriffen eines natürlichen Strebens nach Selbsterhaltung zu rekonstruieren. Dabei orientiert sich Spinoza am ersten (trägheitstheoretischen) Naturgesetz von Descartes’ Naturphilosophie, wie im dritten Abschnitt deutlich werden soll. Anders als Descartes unterfüttert Spinoza dieses Gesetz aber im Rahmen seiner Naturphilosophie mit Hilfe einer göttlichen Macht oder Kraft, die Einzeldinge in einem essentiellen Streben als Modi der einen Substanz ausdrücken. Wie ich im vierten Abschnitt zeigen möchte, entgeht Spinozas Naturphilosophie damit zum einen gewichtigen Einwänden, die sich gegen Descartes’ rein geometrische Physikkonzeption vorbringen lassen. Zum andern kann Spinoza vor dem Hintergrund seiner dynamischen Naturkonzeption – anders als in der Forschung oft angenommen – einen gültigen Beweis seiner conatus-Doktrin formulieren, welche auch jene teleologischen Schlüsse rechtfertigt, die Spinoza in den letzten Teilen der Ethik immer wieder zieht. Darauf werde ich im fünften Abschnitt eingehen, in dem ich ferner einige Probleme diskutiere, die Spinozas teleologische conatus-Konzeption aufzuwerfen scheint. Zum Auftakt meiner ausführlichen Diskussion von Spinozas Teleologieverständnis gilt es jedoch, wie angekündigt, zunächst seine Kritik an Finalursachen in den Blick zu nehmen.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
Spinozas Kritik an den Finalursachen Spinozas Kritik an den Finalursachen findet sich hauptsächlich im Anhang zum ersten Teil der Ethik. Spinoza sieht seine Kritik gegen Finalursachen oder „die Lehre vom Zweck“ (E 1app, 87) als Teil einer umfassenden Kritik an dem menschlichen Vorurteil, „alle natürlichen Dinge handelten, wie sie selbst, um eines Zwecks willen“ (E 1app, 81). Dieses Vorurteil kritisiert er in drei Schritten: Dabei will ich erstens untersuchen, warum die meisten Menschen sich in diesem Vorurteil befriedigt fühlen und alle von Natur aus so sehr geneigt sind, in ihm sich heimisch zu fühlen. Dann will ich seine Falschheit erweisen und schließlich, wie Vorurteile über gut und schlecht, Verdienst und Sünde, Lob und Tadel, Ordnung und Verwirrung, Schönheit und Hässlichkeit, und über anderes dieser Art ihm entsprungen sind. (E 1app, 81)
Spinozas erster Schritt besteht also in der Genealogie dieses menschlichen Vorurteils. Er will zeigen, warum wir zu der Ansicht neigen, alles geschehe um eines Zwecks willen. Der zweite Schritt besteht in der Widerlegung dieses Vorurteils, woraus Spinoza in einem dritten Schritt auf Folgen dieses Vorurteils hinweisen möchte. Betrachten wir diese drei Schritte etwas genauer. Zuerst zur Genealogie: Spinoza führt unsere Neigung zur teleologischen Einschätzung der Natur auf den Umstand zurück, dass „alle Menschen in Unkenntnis der Ursachen von Dingen zur Welt kommen.“ Damit sind sie sich wohl „ihres Triebes und dessen, dass sie manches wollen, bewusst“, nicht aber der „Ursachen, von denen sie veranlasst werden, etwas zu begehren und etwas zu wollen“ (E 1app, 81). Weil sich Menschen nur ihres Triebes, oder dessen, was sie wollen, bewusst sind, halten sie sich für Wesen, die um ihrer Wünsche oder Ziele willen tätig sind. Aus Unkenntnis der wahren Ursachen erklären sie deshalb ihr Verhalten im Rekurs auf Zweckursachen bzw. auf das, was sie wollen. „Daher kommt es, dass sie immer nur die Zweckursachen des einmal Vollbrachten zu wissen wünschen und zufrieden sind, sobald sie sie vernommen haben“ (ebd.) und diese teleologische Erklärungsform schließlich auf andere Prozesse übertragen. Diese Genealogie enthüllt also zwei Quellen unseres Vorurteils, dass alles einen Zweck hat: eine Selbsttäuschung und eine Übertragung. Da wir die wahren Ursachen unseres Handelns nicht kennen und uns für frei halten, begründen wir unser Handeln mit Verweis auf Zwecke. Wir sagen z.B., dass wir uns Schokolade kaufen, weil wir gerne ein Stück Schokolade essen wollen, und halten uns in diesem Willen für frei. In Tat und Wahrheit kaufen wir die Schokolade jedoch nur, weil unser Zuckerspiegel gestürzt ist, was uns dazu veranlasst, eine Tafel Schokolade zu kaufen. Da wir aufgrund mangelnder physiologischer Kenntnisse die wahren Ursachen unserer Handlung nicht
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kennen, täuschen wir uns über diese Unkenntnis hinweg, indem wir sagen, wir würden uns eine Tafel Schokolade kaufen, damit wir ein Stück Schokolade essen können. Diese teleologische Handlungsbeschreibung beruht somit auf einer Selbsttäuschung. Als zweite Quelle unserer Neigung zur teleologischen Einschätzung der Natur macht Spinoza die Übertragung dieser teleologischen Beschreibungsweise auf andere Dinge als menschliche Handlungen ausfindig. Diese Übertragung ist insofern anthropomorphistisch, als wir so tun, als ob alle natürlichen Dinge, wie wir selbst, um eines Zweckes willen handeln. Es ist aber wichtig zu beachten, dass diese menschliche Beschreibungsform, die auf natürliche Ereignisse übertragen wird, selbst nur ein Produkt einer Selbsttäuschung ist, die aus der Unkenntnis der wahren Ursachen unseres Handelns entspringt. Spinozas Genealogie soll verständlich machen, warum wir zu Zweckerklärungen neigen. Daraus zu folgern, dass diese Erklärungen falsch oder unangemessen sind, käme jedoch einem Genese-Geltungs-Fehlschluss gleich. Denn nur weil wir aufgrund von Fehlüberlegungen teleologische Erklärungen anbringen, folgt ja nicht, dass diese Erklärungen als solche fehlerhaft sind. Ihre Unangemessenheit erweist Spinoza deshalb in seinem zweiten Schritt eigens mit Hilfe von vier Argumenten. Sein erstes Argument könnte man Überflussargument nennen. Es lautet wie folgt: Um jetzt zu zeigen, dass die Natur keinen Zweck hat, der ihr vorgegeben wäre, und dass alle Zweckursachen nichts als menschliche Einbildungen sind, bedarf es nicht vieler Worte. Denn ich glaube, dies ergibt sich bereits hinlänglich sowohl aus den Grundlagen und Ursachen, denen dieses Vorurteil, wie ich gezeigt habe entsprungen ist, […] und außer dem aus all den ‹Lehrsätzen›, in denen ich gezeigt habe, dass alle Dinge in der Natur nach einer gewissen ewigen Notwendigkeit und in höchster Vollkommenheit sich ereignen. (E 1app, 85f.)
Dieses Argument ist theorieimmanent. Spinoza bezieht sich hier auf den ersten Teil der Ethik, in dem er zu zeigen versuchte, dass es nur eine Substanz gibt, die mit Gott oder der Natur identisch ist, und dass alles, was es gibt, nur Modifikationen oder Modi dieser Substanz sind, die jeweils unter einem der unendlich vielen verschiedenen Attribute aufgefasst werden können, von denen wir Menschen allerdings nur zwei – nämlich Denken und Ausdehnung – erkennen. Im ersten Teil der Ethik hat Spinoza auch behauptet, dass „Gott […] nicht nur die bewirkende Ursache der Existenz von Dingen, sondern auch ihrer Essenz“ ist (E 1p25) und dass aus der göttlichen Natur alles notwendig folgt (vgl. E 1p16). Wenn aber Gott die Ursache von allem ist und aus ihm schon alles folgt, dann gibt es nichts mehr, was noch zu erklären wäre. Ein Verweis auf Zweckursachen wäre somit explanatorisch überflüssig. Als nächstes führt Spinoza das so genannte Verkehrungsargument an:
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Doch will ich hinzufügen, dass diese Lehre vom Zweck die Natur gänzlich auf den Kopf stellt. Denn was in Wirklichkeit eine Ursache ist, sieht sie als eine Wirkung an und umgekehrt. Sodann macht sie das, was der Natur nach vorangeht, zu etwas später Kommenden. Und endlich verkehrt sie das Höchste und Vollkommenste in das Unvollkommenste. Denn […] diejenige Wirkung [ist] am Vollkommensten, die von Gott unmittelbar hervorgebracht wird, während etwas umso unvollkommener ist, je mehr vermittelnder Ursachen es zu seiner Hervorbringung bedarf. (E 1app, 87)
Spinoza zufolge verkehrt die Lehre vom Zweck die Ordnung der Natur in drei Hinsichten: erstens vertauscht sie Ursache und Wirkung, zweitens macht sie das temporal Spätere zum Früheren und drittens macht sie das Unvollkommenere zum Vollkommeneren, weil eine Ursache immer vollkommener sein muss als ihre Wirkung. In diesem dritten Punkt greift Spinoza auf eine emanative Kausalitätskonzeption zurück, die wir bereits im letzten Kapitel bei Suárez angetroffen haben. Dieser Konzeption zufolge – die auf neo-platonische Überlegungen zurückgeht – wird das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung als ein emanatives Verhältnis vorgestellt: als eine Form des Überfließens der Ursache in ihre Wirkung.3 Damit eine Ursache in ihre Wirkung „überfließen“ und entsprechend hervorbringen kann, braucht sie ein gewisses Maß an Macht, Realität oder Vollkommenheit, die sie ihrer Wirkung weiter gibt, und muss sich folglich in ihrem Grad an Macht oder Vollkommenheit übertreffen. An diese Tradition schließt sich Spinoza an,4 wenn er etwa schreibt, dass die „Macht einer Wirkung […] von der Macht ihrer Ursache her definiert“ wird (E 5def2) oder wie hier verlangt, dass die Ursache einen höheren Grad an Vollkommenheit aufweisen muss als ihre Wirkung.5 Wie sich im Weiteren noch zeigen wird, ist es für Spinoza zentral, dass er diese emanative Kausalitätskonzeption eng mit seinem Essenzialismus in Verbindung bringt. Nach Spinoza geht das (kausal-emanative) Fließen oder Folgen einer Wir-
____________ 3
4 5
Vgl. zu den neu-platonischen Ursprünge der Emanationstheorie Armstrong 1937. Da in der christlichen Tradition häufig Gottes Schöpfung als eine Form der Emanation verstanden wurde, und diese Schöpfung gleichzeitig in aristotelischem Vokabular als eine Wirkverursachung beschrieben wurde, ging wohl auch Suárez von einem emanativen Kausalitätsverständnis aus (vgl. dazu Kapitel II, S. 120f.). Wir werden diese Konzeption auch im nächsten Kapitel bei Leibniz wieder antreffen, der die kausale Aktivität von Substanzen ebenfalls als eine Art Emanation versteht (vgl. dazu auch Jolley 1998). Vgl. hierzu auch Lin 2003, 31-33, Deleuze 1993, 17-25, und Viljanen 2008a, 416-428. Vgl. auch 1p11s, 27, wo Spinoza meint, dass Dinge, „die aus einer äußeren Ursache entstehen […] alles, was sie an Vollkommenheit und Realität haben, der Beschaffenheit ihrer äußeren Ursache“ verdanken. Weitere Überlegungen und Belege dazu finden sich in Zellner 1986.
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kung aus ihrer Ursache nämlich mit dem (logischen) Folgen der Wirkung aus der Essenz oder Natur ihrer Ursache einher. Das wird besonders deutlich, wenn er etwa ausführt, „dass aus Gottes höchster Macht, d.h. aus seiner unendlichen Natur, unendlich Vieles auf unendlich viele Weisen, also alles, notwendigerweise geflossen ist, anders formuliert, immer mit derselben Notwendigkeit und auf dieselbe Weise folgt, wie aus der Natur eines Dreiecks von Ewigkeit her und in Ewigkeit folgt, dass seine Winkel gleich zwei rechten sind.“ (E 1p17s, 45)6 Hier bedient sich Spinoza nicht nur des emanativen Vokabulars des Fließens, sondern er stellt auch klar, dass erstens das, woraus die Wirkung eines Dinges folgt, die Essenz oder Natur eines Dinges ist,7 und dass zweitens das kausale Hervorbringen der Wirkung durch ihre Ursache im logischen Folgen der Wirkung aus der Essenz ihrer Ursache begründet liegt.8 Damit lässt sich Spinozas Kausalitätskonzeption wie folgt charakterisieren: (K)
‚x ist die Ursache von y’ l ‚Die Essenz von x impliziert (die Existenz von) y’
Spinozas Kausalitätskonzeption zufolge verfügt also jedes Ding aufgrund seiner Essenz über ein gewisses Maß an Macht oder Vollkommenheit, das es ihm erlaubt, gewisse Wirkungen hervorzubringen.9 Da Wirkungen
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9
Auch in 1p36 meint Spinoza: „Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt.“ Es erstaunt daher auch kaum, dass Spinoza die Essenz eines Dinges immer wieder mit dessen Macht gleichsetzt (so etwa in 3p7d und 4def8 oder in der KV II.5, §8, 69). Spinoza geht damit also – ganz anti-hume’anisch – davon aus, dass Ursache und Wirkung in einem logischen Zusammenhang stehen, was deutlich aus 1p6d2 und 1def3, 1p25d sowie aus 1p14d und 1p10 hervorgeht (vgl. auch Della Rocca 2002, 11f.). Diese Position hat Bennett 1984, 29-32, treffend „causal rationalism“ genannt, denn wie Della Rocca 2003, 76-82, argumentierte, kommt Spinoza mit der Assimilation kausaler und begrifflicher Zusammenhänge dem Prinzip des zureichenden Grundes nach. Es ist aber wichtig zu sehen, dass dieser begriffliche Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ganz ähnlich wie bei Thomas von Aquin in den Essenzen der Dinge begründet liegt (und nicht etwa in Naturgesetzen wie ich selbst einmal mit Curley 1969, 45-77, geglaubt habe). Es fällt auf, dass diese essentialistisch-emanative Kausalitätskonzeption Spinozas derjenigen von Thomas in der Hinsicht gleicht, dass auch für ihn Dinge aufgrund ihrer Essenz auf ihre Wirkungen festgelegt sind. Damit sind Spinozas Wirkursachen gerade nicht „understood to be blind, as opposed to end-guided“, wie Carriero 2005, 121, behauptet hat. Daher stimme ich auch mit seiner Folgerung nicht überein, dass Spinozas conatus-Doktrin, die in entscheidendem Maß auf der Konzeption (K) beruht, nicht teleologisch verstanden werden dürfe. Dafür werde ich weiter unten ausführlich argumentieren.
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jedoch von ihren Ursachen abhängen, besitzen sie weniger Macht, Realität oder Vollkommenheit als ihre Ursachen, aus denen sie fließen oder folgen. Genau das bringt Spinoza nun gegen die Lehre der Zweckursachen in Anschlag: Gäbe es Finalursachen, könnten Wirkungen als Finalursachen ihre Ursachen hervorbringen und müssten der emanativen Kausalitätskonzeption zufolge vollkommener sein als ihre Ursachen. Das aber macht das Vollkommenere zum Unvollkommenen und umgekehrt. Spinozas Verkehrungsargument wirkt schlagend, aber ist es auch korrekt? Warum, so kann man sich fragen, verkehrt die Lehre von den Zweckursachen die Ordnung der Dinge? Wenn eine engagierte Anhängerin von Finalursachen daran festhalten möchte, dass der Frosch die Finalursache der Kaulquappe ist, würde sie ja nicht bestreiten, dass der Frosch temporal später ist als die Kaulquappe oder dass der Frosch aus der Kaulquappe hervorgehen würde. Die Ansicht unserer Verfechterin von Finalursachen erschiene erst absurd, wenn sie auch behaupten würde, dass der Frosch als Finalursache irgendwie auf die Kaulquappe einwirken würde – etwa, indem er aus der Zukunft an der Kaulquappe zieht, damit sie sich auch zu einem schönen Frosch entwickelt. Dann aber würde man das Ziel gerade nicht mehr als Ursache sui generis verstehen, sondern als eine merkwürdige, aus der Zukunft einwirkende Wirkursache. Wenn Spinoza also behauptet, die Lehre von den Zweckursachen würde die Ordnung der Dinge verkehren und als Begründung für diese Behauptung die drei Weisen anführt, in denen sie dies tut, dann setzt er dabei voraus, dass Finalursachen eine seltsame Art von Wirkursachen seien – was ein Anhänger von Finalursachen natürlich sofort bestreiten würde. Spinozas Verkehrungsargument ist somit weniger als Argument interessant, denn als Ausdruck eines gewandelten Kausalitätsverständnisses, wonach Ursachen automatisch Wirkursachen sind, das sich bereits bei Suárez abgezeichnet hat.10 Aufgrund dieses engen Ursachenbegriffs ist es schon analytisch ausgeschlossen, dass zukünftige Zustände wie Zwecke Ursachen sein können. Diesem Argument fügt Spinoza ein theologisches Argument an:
____________ 10 Hier könnte man einwenden, Spinozas Ursachen, die aufgrund ihrer Essenzen gewisse Wirkungen hervorbringen, glichen eher aristotelischen Formursachen denn Wirkursachen (so etwa Viljanen 2008a, 419-423). Wie bereits in der Einleitung betont, halte ich diese Vergleiche für müßig: Die aristotelischen Ursachen sind durch ihre Einbettung in einen ganz bestimmten hylemorphistischen Kontext charakterisiert, und es ist unklar, was eine aristotelische Form- oder Wirkursache außerhalb dieses Kontexts sein sollte. Ich nenne Spinozas Ursachen deshalb „Wirkursachen“, weil er sie erstens selbst so nennt (etwa in 4praef), und zweitens, weil sie sich dadurch auszeichnen, dass sie etwas bewirken oder hervorbringen.
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Außerdem hebt diese Lehre Gottes Vollkommenheit auf. Denn wenn Gott um eines Zweckes willen handelt, dann erstrebt er zwangsläufig etwas, das er entbehrt. (E 1app, 87)
Würde Gott tatsächlich aus Zwecken handeln, dann entbehrte er etwas. Das widerspräche seiner Vollkommenheit, also kann Gott nicht aus Zwecken handeln. Wie in Kapitel II gesehen, ist dieses Argument nicht gänzlich originell. So hat ja auch Suárez hat die Existenz von Finalursachen im Bereich Gottes ausgeschlossen, weil Finalursachen mit Gottes Vollkommenheit konfligieren würden.11 In einem vierten und letzten Argument kritisiert Spinoza die Schlussform teleologischer Erklärungen. Man könnte es deshalb Argument der Schlussform nennen. Spinoza schreibt: Es soll hier nicht übergangen werden, dass die Anhänger dieser Lehre, die mit den angeblichen Zwecken von Dingen ihren Geist glänzen lassen wollten, eine neue Art zu argumentieren aufgebracht haben, um ihre Lehre annehmbar zu machen, nämlich die Zurückführung nicht auf Unmögliches, sondern auf Unwissenheit […]. (E 1app, 87)
In diesem Argument tritt derselbe Gedanke auf, den Spinoza schon bei seiner Genealogie unseres Vorurteils, dass alles um eines Ziels willen geschehe, angeführt hat: Wenn Menschen die wahren Ursachen ihres Tuns nicht kennen, begnügen sie sich mit der Erklärung, sie hätten es um eines Ziels willen getan. Ganz analog erklärt man die Frage, warum „z.B. jemandem ein Stein von einem Dach auf den Kopf gefallen ist und ihn getötet hat“, mit der Äußerung, dass „der Stein gefallen sei, um den Menschen zu töten“ (E 1app, 89). Da die Menschen die wahren Ursachen dieses Vorfalls nicht kennen, aber dennoch in ihrer Neugierde befriedigt sein möchten, erklären sie den ihnen ansonsten unerklärlichen Vorfall, dass jemandem ein Stein auf den Kopf gefallen ist und diesen getötet hat, einfach dadurch, dass sie sagen, der Stein sei ihm auf den Kopf gefallen, um ihn zu töten. Eine solche Antwort verschleiert jedoch nur die eigene Unwissenheit. Spinoza sagt deshalb auch, Zweckursachen seien ein „Zufluchtsort der Unwissenheit“ (asylum ignorantiae) (ebd.) und entlarvt den Schluss auf teleologische Erklärungen als ungültig. Denn dieser Schluss ist ganz analog zu einer reductio ad absurdum zu verstehen, mit dem Unterschied, dass bei einem Schluss auf eine teleologische Erklärung das Absurde nicht in einer Unmöglichkeit, sondern in einer Unwissenheit besteht. Da Unwissenheit jedoch nur ein epistemisches Defizit ist, folgt daraus nichts über die Beschaffenheit der Welt oder die Wahr- resp. Falschheit
____________ 11 Siehe Suárez DM 23§9¶4 bzw. Kapitel II, S. 138f.. Der entscheidende Schritt in Suárez’ Argumentation besteht darin, dass Gottes Vollkommenheit dazu führt, dass Gott reine Aktualität – actus purus – ist. Dadurch ist aber ausgeschlossen, dass irgendetwas auf Gott einwirken kann, sei es auch nur ein Ziel.
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gewisser Annahmen. Deshalb ist der Schluss auf eine teleologische Erklärung – die reductio ad ignorantiam – als ungültige Schlussform zurückzuweisen. Im Anschluss an die Widerlegung der Existenz von Finalursachen geht Spinoza zum angekündigten dritten Schritt seiner Teleologiekritik über. Er argumentiert, dass auch die normative Beurteilung der Natur lediglich eine Folge jenes Vorurteils sei, dass alles Zweckursachen unterliege. Er schreibt: Nachdem Menschen sich eingeredet hatten, dass alles, was geschieht, ihretwegen geschieht, mussten sie in jedem Ding das für das Vorzüglichste halten, was ihnen am nützlichsten ist, und all die Dinge als die wertvollsten einschätzen, von denen sie in erfreulichster Weise affiziert wurden. Daher mussten sie diese Begriffe bilden, mit denen sie die Natur von Dingen erklärten: gut, schlecht, Ordnung, Verwirrung, warm, kalt, Schönheit und Hässlichkeit. (E 1app, 91)
Spinozas Kritik an Finalursachen mündet somit unmittelbar in einer Kritik an einer normativen Ontologie: Die Dinge an sich sind genauso wenig gut oder schlecht, wie sie an sich sekundäre Qualitäten wie Wärme und Kälte aufweisen. Normative Eigenschaften sind insofern mit sekundären Qualitäten wie Farben, Klängen und Gerüchen vergleichbar, als wir diese wie jene aufgrund unserer subjektiven Eindrücke auf die Dinge selbst projizieren: Wie wir Dinge warm oder kalt nennen, weil sie uns auf eine charakteristische Weise affizieren, so nennen wir sie gut oder schlecht, weil sie uns in erfreulicher oder missfallender Weise affizieren. Wie Spinoza hier argumentiert, gehen wir in unserer Zuschreibung normativer Eigenschaften allerdings von der falschen Voraussetzung aus, dass alles um unsertwillen geschehe. Damit ist Zuschreibung letztlich unbegründet, weshalb alle normativen „Begriffe, mit denen das gewöhnliche Volk die Natur zu erklären pflegt, lediglich Weisen des Vorstellens sind, die nicht die Natur von irgendetwas, sondern nur allein die Beschaffenheit der Vorstellungskraft anzeigen“ (E 1app, 95). Entsprechend sind normative Ausdrücke wie „gut“, „schlecht“ oder „vollkommen“ „nichts anderes als Modi des Denkens, d.h. Begriffe, die wir bilden, weil wir Dinge miteinander vergleichen“ (E 4praef, 379). Nach Spinoza sind Werte also relationale Eigenschaften, die Dingen nicht immanent, sondern nur in Abhängigkeit zu uns oder im Vergleich zu anderen Dingen zukommen. Sprachphilosophisch gesprochen, ist „gut“ für Spinoza also ein zweistelliges Prädikat der Form „x ist gut für y“; und scholastisch oder mit Descartes’ Sechster Meditation gesprochen, handelt es sich bei normativen Prädikaten um extrinsi-
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sche Denominationen:12 Sie „zeigen […] nichts Positives in Dingen an, wenigstens wenn diese in sich selbst betrachtet werden“ (E 4praef, 379).13 Doch warum ist Spinoza der Ansicht, dass wir bei der Zuschreibung normativer Eigenschaften von der (falschen) Voraussetzung ausgehen, dass alles um unsertwillen geschieht? Dies wird deutlich, wenn man sich fragt, wie wir dazu kommen, Dinge gut resp. schlecht zu nennen. Spinoza geht von der nahe liegenden Antwort aus, dass wir Dinge deshalb gut nennen, weil sie uns gut erscheinen. Und dies tun insbesondere die Dinge, die am nützlichsten für uns sind und die uns am meisten erfreuen. Nun sind die Dinge, die uns gut erscheinen, nach Spinoza im besten Fall gut für uns. Doch daraus folgt nicht unmittelbar, dass sie auch an sich gut sind. Dieser Schluss ist nur unter einer Zusatzprämisse gültig. Eine solche Prämisse ist das Vorurteil, dass alles um unsertwillen geschieht. Unter dieser Voraussetzung gilt nämlich, dass die Dinge (an sich) für uns da sind. Entsprechend sind sie dann auch genau dann an sich gut, wenn sie gut für uns sind. Wenn wir also geneigt sind, aus dem Umstand, dass uns die Dinge gut erscheinen, darauf zu schließen, dass die Dinge selbst gut sind, so können wir das nach Spinozas Diagnose nur, weil wir von falschen teleologischen und anthropozentristischen Annahmen ausgehen. Die These der Objektivität normativer Eigenschaften fällt so mit dem Vorurteil einer zweckmäßig auf den Menschen ausgerichteten Welt. Dieses Argument für die Ausweitung der Teleologiekritik auf eine allgemeine Kritik an der Existenz normativer Eigenschaften wirkt auf den ersten Blick allerdings kaum überzeugend. Es ist zwar richtig, dass aus dem Umstand, dass die Dinge gut für uns sind, nicht ohne Weiteres folgt, dass sie an sich gut sind; und dass die Annahme einer auf uns ausgerichteten Welt zu einem solchen Schluss berechtigt. Aber will Spinoza behaupten, dass mit der Zurückweisung der teleologischen Weltsicht automatisch auch die Annahme normativer Eigenschaften ihre Berechtigung verliert, muss er mehr zeigen. Er muss argumentieren, dass die Annahme einer auf uns ausgerichteten Welt die einzige Annahme ist, die uns zu diesem Schluss berechtigt. Und dieses Argument liefert Spinoza zumindest nicht explizit. Es kann aber einfach nachgetragen werden, wenn man beachtet, dass die Rede von einem relationalen Gut der Form ‚x ist gut für y’ eine instrumentelle Konzeption der Güte zum Ausdruck bringt. Und diesem instrumentelle Verständnis der Güte zufolge heißt ‚x ist gut für y’ tatsächlich nichts anderes als ‚x ist zweckmäßig für y’. Entsprechend kann der
____________ 12 Vgl. hierzu die Diskussion über die immanente und derivative Zweckmäßigkeit im Kapitel III, S. 206-223. 13 Eine erhellende Darstellung von Spinoza Normativitätskritik samt einem Vergleich zu Descartes findet sich in Carriero 2005, 126-131.
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Übergang von gut-für-uns auf gut-an-sich nur dann legitim sein, wenn auch der Übergang von zweckmäßig-für-uns auf zweckmäßig-an-sich gerechtfertigt ist. Das heißt, wenn die Welt an sich auf uns ausgerichtet ist. Damit zeigt sich, dass der Schluss von gut-für-uns auf gut-an-sich in jedem Fall die Annahme einer auf uns ausgerichteten Welt voraussetzt. Folglich ist auch Spinozas Ausweitung seiner Teleologiekritik auf eine allgemeine Normativitätskritik zulässig. Seine Zurückweisung von Finalursachen dient somit nicht zuletzt auch einer Kritik an einem immanent normativen Naturverständnis.14 Kehren wir zum Abschluss dieses Abschnitts noch einmal zu Spinozas Kritik an Finalursachen zurück. Hier fallen mindestens zwei Dinge auf: Zum einen ist Spinozas Teleologiekritik sowohl ontologisch als auch explanatorisch angelegt. So weist Spinoza kausal wirksame Ziele oder Zwecke aus ontologischen Gründen zurück, da es diese Art von Entitäten nicht geben kann. Gäbe es sie, würde (nach dem Verkehrungsargument) der Lauf der Dinge umgedreht und Gottes Vollkommenheit in Frage gestellt (theologisches Argument). Finalursachen sind aber auch aus erklärungstheoretischen Erwägungen abzulehnen, weil Zwecke (gemäß dem Überflussargument) explanatorisch unnötig sind und der Schluss auf Zwecke (nach dem Argument der Schlussform als reductio ad ignorantiam) ungültig ist. Deshalb lehnt Spinoza Zweckerklärungen entschieden ab. Zum andern fällt auf, dass Spinoza die teleologische Rede in manchen Fällen durchaus zulässt oder gar voraussetzt. So z.B. im Anthropomorphismusvorwurf gegenüber der teleologischen Naturbeschreibung: Nur weil „Menschen alles um eines Zweckes willen tun“ (E 1app, 81), kommen sie auf die irrige Idee, „dass die Natur nichts vergebens tue“ (E 1app, 83).15 In all diesen Fällen wird deutlich, dass Spinoza nichts gegen Zweckbeschreibungen hat. Damit zeigt sich das paradox anmutende Ergebnis, dass Spinoza zufolge Zweckerklärungen zwar rigoros zurückzuweisen sind, nicht aber Zweckbeschreibungen. Um dieses Problem zu lösen, muss genauer untersucht werden, inwiefern Spinoza zufolge Menschen um gewisser Zwecke willen tätig sein können.
____________ 14 Wie gegen Ende dieses Kapitels jedoch deutlich werden wird, heißt das nicht, dass Spinoza jede Form natürlicher Normativität zurückweist. Für ihn ist unbezweifelbar, dass die Selbsterhaltung für jedes Ding ein wesentlicher Wert ist. 15 Dies wendet insbesondere Curley 1990, 41, gegen Bennett ein.
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Spinozas Handlungsteleologie Spinoza ist davon überzeugt, dass „Menschen alles um eines Zweckes willen tun, nämlich um ihres Vorteils willen, auf den sie aus sind“ (E 1app, 81). Wie verhält sich diese Einschätzung zu seiner Ablehnung von Finalursachen? Ganz gut, möchte man antworten, denn wenn Menschen um ihres Vorteils willen handeln, so heißt das nicht, dass eine dubiose Finalursache im Spiel ist, sondern einfach, dass der Wille dieser Menschen, ihren Vorteil zu erreichen, als mentale Wirkursache fungiert. Die teleologische Beschreibung einer intentionalen Handlung beruht somit auf einer harmlosen mentalen Verursachung. Nennen wir dies die kausale Standardrekonstruktion der Handlungsteleologie. Diese Rekonstruktion erscheint unproblematisch. Doch so nahe liegend diese Antwort auch erscheint, für Spinoza ist sie mit einem ernsten Problem verbunden. Wie Spinoza in E 2p6 ausführt, haben die „Modi eines jeden Attributs […] Gott nur insofern zu ihrer Ursache, als er unter dem Aspekt des Attributes angesehen wird, dessen Modi sie sind, und nicht insofern er unter dem Aspekt irgendeines anderen Attributes angesehen wird.“ Die unterschiedlichen Attribute, unter denen die unterschiedlichen Modi der einen Substanz begriffen werden, sind also kausal geschlossen. Deshalb ist es streng genommen unmöglich, dass ein Modus unter dem Attribut des Denkens – wie der Wille –, einen Modus unter dem Attribut der Ausdehnung – wie eine Körperbewegung – hervorbringt und umgekehrt. Konsequenterweise hält Spinoza in E 3p2 denn auch fest: „Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zu Bewegung und Ruhe oder zu irgendetwas anderem“. Aufgrund der kausalen Geschlossenheit der Attribute kann sich Spinoza daher nicht auf die kausale Standardrekonstruktion der Handlungsteleologie berufen. Wie also lässt sich dann erklären, dass Menschen um ihres Vorteils willen tätig sind, wenn man dabei nicht auf mentale Verursachung zurückgreifen darf? Edwin Curley hat vorgeschlagen, dieses Problem mit einem Verweis auf Spinozas Parallelismusthese zu lösen.16 Spinoza formuliert diese These in E 2p7 wie folgt: „Die Ordnung und Verknüpfung von Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen.“ Die Kausalkette der Modi unter dem Attribut der Ausdehnung ist also perfekt auf die Kausalkette der Modi unter dem Attribut des Denkens abgestimmt und jedem Modus unter dem Attribut des Denkens entspricht genau ein Modus unter dem Attribut der Ausdehnung.17 Wenn eine Person durch
____________ 16 Siehe Curley 1990, 46. 17 M. Della Rocca 1993 und 1996, 118-140, hat sogar dafür argumentiert, dass jeder Modus unter dem Attribut des Denkens mit einem Modus unter dem Att-
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die Bahnhofshalle rennt, könnte Spinoza deren Verhalten durchaus so beschreiben, dass er sagt, dass diese Person den eben eingefahrenen Zug noch erwischen will. Nur müsste er schnell hinzufügen, dass streng genommen nicht der Willensakt – als Modus unter dem Attribut des Denkens – das Rennen dieser Person verursacht, sondern das ausgedehnte Korrelat dieses Willensaktes, das nach Spinozas Parallelismusthese mit diesem einhergeht. Dieser Vorschlag erscheint auf den ersten Blick bestechend. Auf den zweiten Blick stellen sich jedoch Zweifel darüber ein, ob diese Beschreibung mit Recht „teleologisch“ genannt werden kann. Denn dafür müsste der Zweck eine entscheidende Rolle spielen. Aber genau das scheint hier nicht der Fall zu sein. Schließlich ist ja nicht der Willensakt dieser Person, der das Erwischen des Zugs repräsentiert, kausal dafür verantwortlich, dass die Person rennt, sondern lediglich das ausgedehnte Korrelat dieses Aktes, das als Modus der Ausdehnung natürlich kein repräsentationales Objekt hat. Curleys Vorschlag scheint so gerade den teleologischen Charakter unserer Handlungsbeschreibung nicht einholen zu können. Nach Curleys Rekonstruktion ist der Willensakt nicht kraft seines repräsentationalen Gehalts, d.h. dem Handlungszweck dieser Person, kausal wirksam, sondern nur kraft seines ausgedehnten Korrelats, das keinen repräsentationalen Gehalt aufweist.18 Der Unterschied zwischen einer kausalen Wirksamkeit qua Gehalt und einer Verursachung qua physikalischer Eigenschaften lässt sich anhand von Fred Dretskes berühmtem Sopranistinnenbeispiel veranschaulichen:19 Wenn beim hohen Gesang von „Oh Dio“ einer Sopranistin die Scheiben zerspringen, ist dafür nicht entscheidend, dass „Oh Dio“ „Oh Gott“ bedeutet. Die Sopranistin hätte genauso gut „Oh Diavolo“ singen können, und auch da wären die Scheiben zersprungen. Ihr Gesang war also nicht qua Gehalt, sondern qua physikalischer Beschaffenheit (hier: qua Resonanzfrequenz) kausal wirksam. Wenn nun eine handlungsteleologische Beschreibung im Rekurs auf einen kausal wirksamen Willensakt
____________ ribut der Ausdehnung identisch ist. Für Spinoza scheint so das direkte intentionale Objekt einer Idee gleichzeitig ihr ontologisches Gegenstück zu sein. Spinozas Parallelismusdoktrin ist also sowohl semantisch (vgl. 2p7c) als auch ontologisch (vgl. 2p7s) zu verstehen. Vgl. dazu Schmid & Stoichita 2010; dagegen Haag 2009. 18 Hierauf könnte man natürlich wie D. Davidson 1993, 189, antworten, dass die Rede von Verursachung qua einer Eigenschaft unsinnig sei, da Kausalität eine extensionale Relation und damit blind für die Beschreibung sei, unter denen Dinge in diese Relation eingehen. Diese Strategie steht Spinoza jedoch nicht offen, da Kausalität für Spinoza referenziell opak ist, wie M. Della Rocca (1996, 144-151) sorgfältig herausgearbeitet hat. 19 Dretske 1988, 79.
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rekonstruiert werden soll, muss dieser Willensakt kraft seines repräsentationalen Gehalts kausal wirksam sein, denn der Zweck, in Bezug auf den eine Handlung teleologisch beschrieben werden kann, geht nur als repräsentationaler Gehalt des Willens in die Handlung ein. Jonathan Bennett hat jedoch ein Argument vorgelegt, gemäß dem der repräsentationale Gehalt von Ideen bei Spinoza nicht kausal wirksam sein kann.20 Dieses Argument lässt sich, wie folgt rekonstruieren:21 (1) (2) (3) (4)
Materielle Objekte sind für Spinoza allein kraft ihrer Form, Größe und Geschwindigkeit kausal wirksam. Diese Eigenschaften sind intrinsisch. Auch Ideen sind aufgrund intrinsischer Eigenschaften kausal wirksam. Der repräsentationale Gehalt einer Idee hängt von der kausalen Geschichte ihres physikalischen Korrelats ab. Er ist somit extrinsisch. Also ist der repräsentationale Gehalt von Ideen nicht kausal wirksam.
Bennett meint, dass Spinoza die Prämisse (1) auf der Grundlage seiner so genannten kleinen Physik – die zwischen den 13. und 14. Lehrsatz des zweiten Teils der Ethik eingeschobenen Hilfssätze und Axiome – zugeschrieben werden kann: So würde Spinozas physikalische Theorie nahe legen, dass Körper nur aufgrund ihrer intrinsischen22 physikalischen Eigenschaften kausal wirksam seien.23 Da aufgrund von Spinozas Parallelismusthese E 2p7 die kausale Verknüpfung von Ideen dieselbe ist wie die der Dinge, kann Bennett auf die Prämisse (2) schließen. Die Prämisse (3) ergibt sich aus Spinozas Wahrnehmungstheorie, die er in den Lehrsätzen E 2p16 bis 2p31 entwickelt. So schreibt Spinoza in E 2p26: „Der menschliche Geist nimmt einen äußeren Körper als wirklich existierend lediglich durch die Ideen der Affektionen seines eigenen Körpers wahr.“ Wenn ich
____________ 20 Bennett 1984, 219f., und Bennett 1990. 21 Rekonstruktionen dieses Arguments finden sich auch in Garrett 1999, 319, Manning 2002, 190-192, und Lin 2006, 13f. 22 Es gibt eine große Debatte darüber, ob sich intrinsische überhaupt strikt von extrinsischen Eigenschaften unterscheiden lassen. Als eine Art Faustregel kann man sagen, dass jene Eigenschaften eines Objekts intrinsisch sind, die dieses Objekt mit einem perfekten Duplikat teilt. Dazu gehören etwa Eigenschaften wie Gestalt, Größe und Farbe im Gegensatz zu Eigenschaften wie kausale Geschichte oder Eigentum. Für eine Diskussion vgl. Yablo 1999. 23 „The physical theory inserted between 2p13 and 14 firmly assumes that physical events are to be explained purely in terms of the shapes, sizes, positions, velocities etc. of particles of matter.“ (Bennett 1984, 219)
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also etwa die Sonne wahrnehme, verfüge ich nur über eine Idee dieser Sonne, weil mich die Sonne kausal affiziert und meinen Körper in einen ganz bestimmten Zustand versetzt. Mein körperlicher Zustand weist nach Spinozas Parallelismusthese ein mentales Korrelat auf: die Idee dieses körperlichen Zustandes. Diese Idee bezieht sich nun genau dann auf die Sonne, wenn ihr ausgedehntes Gegenstück von der Sonne affiziert wurde.24 Das zeigt, dass der repräsentationale Gehalt einer Idee bzw. das, worauf sich eine Idee bezieht, von der kausalen Geschichte ihres ausgedehnten Korrelats abhängt und damit, wie Bennett in (3) behauptet, extrinsisch festgelegt ist. Aus den Prämissen (2) und (3) folgt unmittelbar die Konklusion (4), denn wenn eine Idee nur aufgrund ihrer intrinsischen Eigenschaften kausal wirksam ist, ihr Gehalt aber eine extrinsische Eigenschaft ist, dann kann eine Idee nicht kraft ihres repräsentationalen Gehalts wirksam sein. Bennetts Argument gegen die kausale Wirksamkeit des repräsentationalen Gehalts von Ideen ist gültig. Wenn man Spinoza zugestehen möchte, dass er auf der Grundlage mentaler Verursachung unserer handlungsteleologischen Rede gerecht werden kann, muss gezeigt werden, dass mindestens eine der Prämissen des oben präsentierten Arguments falsch ist. Verschiedene Spinoza-Interpreten sind dieser Herausforderung unterschiedlich begegnet. Don Garrett und Richard Manning haben die Prämisse (3) angegriffen und dafür argumentiert, dass der repräsentationale Gehalt von Ideen eine intrinsische Eigenschaft sei.25 Angesichts Spinozas Wahrnehmungstheorie erscheint mir dieses Vorgehen jedoch zweifelhaft. Einen aussichtsreicheren Vorschlag hat Martin Lin unternommen, indem er auf Textstellen hingewiesen hat, die der Prämisse (2) widersprechen.26
____________ 24 Vgl. für eine ausführlichere Darstellung von Spinozas Wahrnehmungstheorie Perler 2008 und Della Rocca 1996, 68-83. 25 So meint Garrett 1999, 321, dass Ideen mentale Gegenstücke körperlicher Bilder seien, deren Gehalt allein durch Ähnlichkeit festgelegt sei. Das erscheint mir aber aufgrund von Spinozas Wahrnehmungstheorie kaum haltbar. Manning 2002, 199f., betont dagegen, dass sich Spinoza in E 2p17c auf eine Typen Identität zwischen körperlichen und mentalen Zuständen verpflichtet, was garantiert, dass gleiche qualitative körperliche Zustände immer mit gleichen mentalen Gehalten einhergehen. Das zeige, dass der repräsentationale Gehalt von Ideen intrinsisch festgelegt sei. Dieser Vorschlag missachtet aber, dass Spinoza in 2p17c eine Erinnerungstheorie entwickelt. Dass hier körperliche Zustandstypen bestimmten Gehaltstypen entsprechen, hängt davon ab, dass das erste Token dieses körperlichen Zustandstyps eine ganz bestimmte kausale Geschichte hatte, die den Gehalt der diesem Token korrelierten Idee bestimmte. Der Gehalt einer einem Typ korrelierten Idee ist also ebenfalls extrinsisch determiniert. 26 Lin 2006, 337-342.
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Im Lehrsatz E 4p5 behauptet Spinoza nämlich, dass die „Kraft und das Anwachsen eines jeden Erleidens […] nicht von der Macht her definiert [wird], mit der wir im Existieren zu verharren streben, sondern von der Macht einer äußeren Ursache her“, und stellt damit klar, dass zumindest die Kraft oder das kausale Vermögen unseres Erleidens oder unserer Leidenschaften (passiones) durch äußere Ursachen und das heißt extrinsisch festgelegt wird. Zudem behauptet Spinoza, dass „die Formen des Erleidens ‹unseres Geistes› allein auf inadäquaten Ideen beruhen“ (E 3p3). Da nun die Kraft unserer Leidenschaften extrinsisch festgelegt ist, wird auch die Kraft inadäquater Ideen, auf denen unsere Leidenschaften beruhen, durch äußere Ursachen festgelegt sein. Dann aber gibt es eine ganze Menge von Ideen – nämlich alle inadäquaten Ideen, die uns Menschen zukommen, insofern wir endliche Wesen sind (vgl. z.B. E 4p2) –, deren kausales Vermögen extrinsisch bestimmt ist. Damit lässt sich auch sagen, dass der Gehalt solcher inadäquater Ideen, der ebenfalls extrinsisch charakterisiert wird, kausal wirksam ist. Damit gelingt Spinoza zumindest in Bezug auf inadäquate Ideen die kausale Standardrekonstruktion der Handlungsteleologie: Sofern sich Menschen mit inadäquaten Ideen auf zukünftige Zwecke beziehen, lassen sich die Handlungen dieser Menschen auch tatsächlich als Bewegungen beschreiben, die durch Zwecke repräsentierende Ideen verursacht worden sind. Aber ist dieses Ergebnis befriedigend? Spinoza kann nun zwar die Zielgerichtetheit menschlicher Handlungen als Ausdruck einer mentalen Verursachung rekonstruieren, aber nur insofern diese Menschen aus inadäquaten Ideen handeln, die uns „nur eine verworrene und verstümmelte Erkenntnis“ von Dingen vermitteln (E 2p29c). Das irritiert, denn man möchte doch auch von einer Physikerin, die eine Reihe adäquater Ideen über die Beschaffenheit der Welt hat, sagen können, dass sie vor einer Kommission spricht, um damit Gelder für einen neuen Teilchenbeschleuniger einzuwerben. Warum sollte das ausgeschlossen sein? Auf diese Frage kann Spinoza zwei prinzipielle Gründe angeben: Zum einen sind Ideen, die etwas repräsentieren, um deren willen wir etwas tun, zeitlich, insofern sie von etwas Zukünftigem handeln. Adäquate Ideen hingegen, so macht Spinoza an mehreren Stellen deutlich, enthalten kein temporales Moment, da sie die Dinge sub specie aeternitatis repräsentieren.27 Deshalb sind alle Ideen, die einen zukünftigen Zweck repräsentieren, automatisch inadäquat. Zum andern behauptet Spinoza, dass unser Geist, insofern wir adäquate Ideen haben, mit Gottes Geist identisch ist (vgl. E 2p11c und 2p40). Wenn man nun auch auf der Grundlage adäquater Ideen eine Form der Teleologie rekonstruieren könnte, dann müssten auch Gottes
____________ 27 Vgl. dazu E 2p26, 2p26d, 2p26c, 2p30, 2p31, 2p44s, 5p21 und 5p29.
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Handlungen teleologisch erklärt werden können. Wie oben jedoch anhand des Überfluss-, Verkehrungs- und theologischen Arguments deutlich geworden ist, lehnt Spinoza dies entschieden ab. Die kausale Standardrekonstruktion der Handlungsteleologie auf der Basis inadäquater Ideen bettet sich somit bestens in Spinozas gesamten metaphysischen Rahmen ein. Sie wirft aber auch unmittelbar zwei Fragen auf: eine bezüglich der kausalen Wirksamkeit von Körpern und eine bezüglich Spinozas Handlungsbegriff. Textpassagen aus Spinozas Ethik haben gezeigt, dass die Prämisse (2) von Bennetts Argument nicht haltbar ist: Das kausale Vermögen inadäquater Ideen, so ist deutlich geworden, ist extrinsisch, und nicht intrinsisch festgelegt. Da aber die Prämisse (2) eine Folgerung aus der Prämisse (1) und Spinozas Parallelismusdoktrin E 2p7 ist, folgt daraus, dass auch die Prämisse (1) falsch sein muss. Die kausale Wirksamkeit von Körpern muss also ebenfalls extrinsisch festgelegt werden. Es gilt deshalb contra Bennett zu zeigen, dass nach Spinoza das kausale Vermögen von Körpern nicht intrinsisch festgelegt ist. Dies ergibt sich jedoch leicht daraus, wenn man beachtet, dass es um die Körper, um die es in Bennetts Argument geht, Einzeldinge sind – und das heißt nach Spinozas Definition (E 2def7): „Dinge, die endlich sind“. Von einem Einzelding sagt Spinoza jedoch explizit, dass es „weder existieren noch zum Wirken bestimmt werden ‹kann›, wenn es nicht von einer anderen Ursache zum Existieren und Wirken bestimmt wird“ (E 1p28). Daher hängt die kausale Kraft körperlicher Einzeldinge immer von externen Ursachen ab, und kann damit nicht allein und ausschließlich intrinsisch festgelegt sein. Zum andern fällt auf, dass die Tätigkeiten, die sich nach dem kausalen Standardmodell teleologisch rekonstruieren lassen, von inadäquaten Ideen ausgehen. Solche Tätigkeiten würde Spinoza überraschenderweise aber gerade nicht als Handlungen im strengen Sinne bezeichnen. Für Spinoza sind nämlich Tätigkeiten, die von inadäquaten Ideen ausgehen, keine Aktivitäten, sondern lediglich Passivitäten.28 Dass gerade teleologisch beschreibbare Handlungen keine Aktivitäten sind, ist ausgehend von einem alltagssprachlichen Handlungsverständnis allerdings irritierend. Denn normalerweise hängt gerade von der teleologischen Beschreibbarkeit einer menschlichen Bewegung ab, ob sich diese als Handlung oder als bloßes
____________ 28 Siehe 3def2, wo Spinoza schreibt: „Ich sage, wir sind aktiv, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind […]. Dagegen, sage ich, erleiden wir etwas, wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur eine partiale Ursache sind.“ Bedenkt man, dass wir genau dann eine adäquate bzw. partiale Ursache unserer Bewegungen sind, wenn wir aus adäquaten bzw. inadäquaten Ideen handeln, wie Spinoza in 3p1 und 3p2 behauptet, so folgt unmittelbar, dass Bewegungen, die von inadäquaten Ideen ausgehen, keine Handlungen im strengen Sinne (d.h. Aktivitäten) sein können.
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Widerfahrnis einer Person qualifiziert. Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen.29 Nehmen wir an, wir müssten entscheiden, ob das Zucken einer gewissen Person eine Handlung ist oder nicht. Unsere Entscheidung wird maßgeblich davon abhängen, ob dieses Zucken teleologisch oder nur kausal beschreibbar ist: Können wir z.B. sagen, dass diese Person zuckt, um sich im Rhythmus der Musik zu bewegen, dann lässt sich das Zucken als Bestandteil eines Tanzes und somit als Handlung beschreiben. Anders verhält es sich, wenn dieses Zucken eine Bewegung ist, die die untersuchte Person beim Einschlafen zeigt. Dieses Zucken könnte man nicht auf eine Intention des Handelnden zurückführen. Es müsste vielmehr kausal beschrieben werden – etwa mit einem Verweis auf eine spontane elektrische Entladung ihres Nervensystems. Ob sich eine bestimmte Bewegung als Handlung qualifiziert oder nicht, machen wir also von ihrer teleologischen Beschreibbarkeit abhängig. Die Beobachtung, dass die teleologische Beschreibbarkeit für unseren Begriff einer Handlung zentral ist, stellt uns nun vor ein ernstes hermeneutisches Problem: Wenn sich für Spinoza eigentliche Handlungen oder Aktivitäten gerade dadurch von bloß scheinbaren Handlungen, d.h. Widerfahrnissen oder Passionen, unterscheiden, dass sie nicht teleologisch beschreibbar sind, so stellt Spinoza geradezu unseren Handlungsbegriff auf den Kopf. Während sich für uns eine Handlung durch teleologische Beschreibbarkeit auszeichnet, zeichnet sich für Spinoza gerade dadurch eine Nicht-Handlung, d.h. ein bloßes Widerfahrnis oder eine Passion, aus, da nur solche Tätigkeiten von inadäquaten Ideen ausgehen, deren Gehalt kausal wirksam ist. Damit ergeben sich sogleich Zweifel daran, ob wir Spinozas Theorie der Handlungen oder Aktivitäten überhaupt noch als Handlungstheorie verstehen können. Um diesem hermeneutischen Problem nachzukommen, empfiehlt es sich, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, ob die teleologische Beschreibbarkeit tatsächlich ein wesentliches Merkmal einer Handlung ist. Vielleicht gibt es ein anderes Charakteristikum von Handlungen, an dem Spinoza festhält. Das würde uns wieder erlauben, Spinozas Theorie der Aktivität als eine Theorie von Handlungen, wie wir sie verstehen, aufzufassen. An welchem begrifflichen Element von Handlungen hält Spinoza also fest, was ihn dazu berechtigt, immer noch über Handlungen zu sprechen? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich gewinnen, wenn man sich fragt, ob die teleologische Beschreibbarkeit von Bewegungen, die wir üblicherweise als Charakteristikum von Handlungen verstehen, nicht bloß Ausdruck eines basaleren Merkmals von Handlungen ist: Was also wird durch die teleologische Beschreibung einer Tätigkeit ausgedrückt, so dass wir die so
____________ 29 Das Beispiel stammt von Anscombe 1957, §17.
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beschriebene Tätigkeit für eine Handlung halten? Oder konkreter: Warum versteht man das Zucken einer Person als Handlung, wenn man sagt, eine Person zucke, um sich zum Rhythmus der Musik zu bewegen, nicht aber, wenn es sich um ein Zucken beim Einschlafen handelt? Der Unterschied scheint darin zu liegen, dass das erste (teleologisch beschreibbare) Zucken in einem emphatischen Sinne bei der zuckenden Person liegt, während das beim Zucken im Zuge des Einschlafens nicht der Fall ist. Die Person hat nur im ersten Fall etwas getan, nicht aber im zweiten Fall. Hier ist ihr etwas widerfahren. Diese etwas emphatische Rede, dass eine Handlung bei einer Person liegt, oder dass diese Handlung von einer Person abhängt, lässt sich auch so verstehen, dass eine Handlung einen Urheber hat, der diese Handlung frei hervorbringt. Die telelogische Beschreibung drückt diesen Umstand aus, indem sie eine Handlung als Ausdruck der Intentionen einer Person beschreibt, und nicht rein kausal als notwendige Folge vorhergehender Ereignisse. Handlungen scheinen sich also dadurch auszuzeichnen, dass es sich dabei um prinzipiell freie Tätigkeiten handelt.30 Ihre teleologische Beschreibung ist lediglich ein Ausdruck dieses Merkmals. Tatsächlich hält auch Spinoza an diesem charakteristischen Merkmal der Handlung als etwas, das frei ist, fest. Das ergibt sich durch einen Vergleich seiner Freiheits- und Aktivitätsdefinition, deren Definientes einander sehr ähnlich sind: Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird […]. (E 1def7) Ich sage wir sind aktiv [agere], […] wenn aus unserer Natur etwas in uns oder außer uns folgt, das durch sie allein klar und deutlich eingesehen werden kann. (E 3def2)
Ein Ding ist nach Spinoza genau dann frei, wenn sein Handeln allein aus seiner Natur folgt, d.h. von keinen Ursachen außerhalb dieses Dinges abhängt. Damit liegen alle Ursachen, die das Ding zum Handeln bewegen, allein im Ding oder in der Natur des Dinges. Deshalb kann alles, was aus diesem Ding folgt, durch seine Natur allein klar und deutlich eingesehen werden. Es ist also aktiv. Natürlich ist für Spinoza Gott oder die Natur, die alles umfasst, im höchsten Maße frei und aktiv. Schließlich gibt es
____________ 30 Dass Freiheit gleichsam ein analytischer Bestandteil unsers Handlungsbegriffes ist, scheint durch die Philosophiegeschichte hindurch unbestritten. So sagt z.B. bereits Aristoteles in der Nikomachischen Ethik, III.7, 1113b6: „Denn wo das Tun in unserer Macht steht, da gilt dies auch für das Nichttun, und wo das Nein bei uns steht, da steht auch das Ja bei uns“, und Georg Henrik von Wright 1971, 81 schreibt: „Insoweit ist es eine empirische Tatsache, dass ein Mensch verschiedene Dinge tun kann, wenn er sich entscheidet, sie zu tun (sie zu tun beabsichtigt, oder sie tun will), ist er als Handelnder frei.“ Vgl. auch Keil 2007, 10.
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nichts, was außerhalb der Substanz liegen und sie zum Handeln bestimmen könnte. Deshalb ist die Substanz oder Gott allein im strengen Sinne frei und die „immanente, nicht aber die transeunte Ursache aller Dinge“ (E 1p18). Spinoza, so wird hier deutlich, vertritt also einen klassischen akteurskausalen Freiheitsbegriff, wie wir ihn bereits bei Suárez kennen gelernt haben, und greift mit seiner Unterscheidung zwischen immanenten und transeunten Ursachen sogar auf traditionell scholastische Begriffe zurück. Ein Ding ist für Spinoza genau dann frei, wenn es eine immanente, im Gegensatz zu einer bloß transeunten Ursache ist.31 Und in dem Maße, in dem ein Ding eine adäquate oder immanente Ursache und somit frei ist, ist es auch aktiv oder handelnd im eigentlichen Sinne. Wenn Spinoza nun offensichtlich daran festhält, dass sich Handlungen wesentlich dadurch auszeichnen, dass sie frei sind, warum lehnt er es dann ab, dass die teleologische Beschreibung der geeignete Ausdruck dieses Merkmals ist? Warum lassen sich Aktivitäten Spinoza zufolge nicht mit einem Verweis auf den Willensakt des Handelnden teleologisch beschreiben? Die Antwort darauf findet sich in Spinozas Nezessitarismus, demzufolge es in „der Natur […] nichts Zufälliges“ gibt und alles „aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt“ ist (E 1p29). Für Spinoza gibt es nur einen möglichen Weltverlauf, der sich nach einer ewigen und unverrückbaren naturgesetzlichen Ordnung vollzieht.32 Davon sind natürlich unsere Willensakte nicht ausgenommen. ‹Denn› [d]er Wille ist […] nur ein gewisser Modus des Denkens; mithin kann […] jedes einzelne Wollen weder existieren noch dazu bestimmt sein, etwas zu bewirken, wenn es nicht von einer anderen Ursache dazu bestimmt wird und diese Ursache wiederum von einer anderen, und so weiter ins Unendliche […]; mithin kann er (nach der Definition 7) nicht eine freie Ursache genannt werden, sondern allein eine notwendige oder besser eine gezwungene. (E 1p32d)
Insofern unser Willen immer durch andere Ursachen bestimmt wird, sind auch Tätigkeiten, die sich mit Rekurs auf einen Willen teleologisch beschreiben lassen, nicht frei oder Aktivitäten, sondern lediglich Formen des
____________ 31 Spinoza unterscheidet sich dadurch von Suárez, dass Immanente-Ursache-sein für letzteren nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Freiheit einer Substanz ist. Denn jede Substanz (auch eine unfreie) bringt in immanenter Weise ihre notwendigen Eigenschaften oder Propria hervor (so etwas das Feuer seine Hitze). Damit Substanzen wirklich frei sind, müssen sich nach Suárez zudem über ein Willensvermögen und einen Intellekt verfügen. 32 Die „Natur ist immer dieselbe, und was sie auszeichnet, ihre Wirkungsmacht, ist überall ein und dasselbe; d.h. die Gesetze und die Regeln der Natur, nach denen alles geschieht und aus einer Form in eine andere sich verändert, sind überall und immer dieselben.“ (E 3praef)
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Erleidens bzw. Passivitäten. Nach Spinoza können wir nur frei sein, wenn wir die adäquate Ursache unserer Handlung sind und somit alle Kausalketten, die zu unserer Handlung führen, umfassen. Nur in dem Fall wird unsere Handlung allein aus unserer Natur erklärt werden können. Spinoza zufolge kann uns dies gelingen, indem wir adäquate Ideen erwerben, die mit all ihren Gründen oder Ursachen verbunden sind. Insofern unser Geist „nämlich adäquate Ideen hat, bringt er notwendigerweise einiges aktiv hervor“ (E 3p1). Etwas paradox könnte man sagen, dass wir nach Spinoza nur dann frei sind, wenn wir aus der Einsicht in die Notwendigkeit unseres Tuns handeln. Aber genau das wird durch unsere herkömmliche teleologische Handlungsbeschreibung verschleiert. Mit ihrem Rekurs auf den Willen suggeriert sie, dass dieser Wille unverursacht und damit frei sei. Diesen Gedanken kennen wir schon aus Spinozas Genealogie unserer teleologischen Rede: Menschen neigen deshalb dazu, ihr Tun teleologisch zu beschreiben, weil sie „in Unkenntnis der Ursachen von Dingen zur Welt kommen“, und sich deshalb auch „für frei halten“. Denn die Menschen sind „sich ihres Triebes und dessen, dass sie mit ihm manches wollen, ‹zwar› bewusst“, aber „an die Ursachen, von denen sie veranlasst werden, etwas zu begehren und zu wollen, ‹denken sie› nicht einmal im Traum […], weil sie sie nicht kennen“ (E 1app, 81). Wenn es Spinoza also – entgegen dem Alltagsverständnis – ablehnt, teleologische Beschreibbarkeit als charakteristisches Merkmal einer Handlung aufzufassen, so liegt das nicht daran, dass er einen anderen Handlungsbegriff vertritt, als wir dies tun. Wie sich herausgestellt hat, ist die Bedeutung des Handlungsbegriffs oder seine Intension für Spinoza dieselbe wie für uns, nämlich etwas, das prinzipiell frei ist. Was bei Spinoza jedoch irritiert, ist der Umstand, dass sich die Extension seines Handlungsbegriffs durch seine metaphysischen Rahmenbedingungen, insbesondere durch seinen Nezessitarismus, radikal verändert. Damit wird auch verständlich, warum teleologische Beschreibbarkeit, für Spinoza gerade kein Ausdruck des Freiheitskriteriums und damit auch kein Handlungskriterium ist. Teleologische Beschreibbarkeit suggeriert nämlich, dass eine Bewegung gleichsam unverursacht oder spontan ausgeführt wird, was durch den nezessitaristischen Hintergrund ausgeschlossen ist. Eine Bewegung kann vielmehr nur dann als Handlung im strengen Sinne oder Aktivität beschrieben werden, wenn sie von etwas ausgeht, in dem alle Ursachen für diese Bewegung enthalten sind. Das trifft nur auf Bewegungen zu, die adäquate Ursachen haben und entsprechend mit adäquaten Ideen korreliert sind. Das ist allerdings bei den wenigsten Bewegungen der Fall. Spinozas Festhalten an der Intension unseres Handlungsbegriffs (als etwas prinzipiell Freiem) führt durch seine Einbettung in den Nezessitarismus
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somit zu einer völlig anderen Extension, als unser alltagssprachlicher Handlungsbegriff sie aufweist. Das tiefere Verständnis von Spinozas Handlungsbegriff macht deutlich, dass uns das zu Beginn dieses Abschnitts erarbeitete Ergebnis, dass man mit Bezug auf inadäquate Ideen eine kausale Standardrekonstruktion der Handlungsteleologie durchführen kann, nicht allzu euphorisch stimmen sollte. Denn auch eine auf mentaler Verursachung beruhende teleologische Erklärung bleibt für Spinoza aus zwei Gründen mangelhaft: Zum einen ist eine solche Erklärung unvollständig, da sie auf eine inadäquate Idee des Handelnden rekurriert. Eine inadäquate Idee ist nämlich nicht mit all ihren Gründen verbunden, weshalb eine solche Idee zu einem gewissen Grad unerklärbar und damit unverständlich bleibt.33 Damit bleibt die kausal rekonstruierte teleologische Handlungserklärung eine unvollständige Erklärung. Zum andern ist eine teleologische Handlungserklärung irreführend, weil sie suggeriert, der Handelnde hätte allein aufgrund eines selbst gefassten Willensaktes frei gehandelt. In Tat und Wahrheit handelt es sich bei dem Wollen eines Menschen jedoch nur um einen Modus des Denkens, der selbst in eine unendliche Kette von Ursachen eingebettet ist. Die Tätigkeit eines Menschen geht nicht nur von ihm und seinem Willen, sondern vielmehr von seinem Trieb aus, der ihm als ein Wollen bewusst wird, aber durch zahlreiche Ursachen außerhalb von ihm bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund wird auch das am Ende des letzten Abschnittes paradox anmutende Fazit besser verständlich, wonach Spinoza Zweckbeschreibungen zwar zulässt, Zweckerklärungen aber rigoros ablehnt: Im Rekurs auf inadäquate Ideen können wir das Tun von Menschen durchaus teleologisch beschreiben. Als Erklärungen sind diese Beschreibungen allerdings unvollständig und irreführend und damit gerade keine echten Erklärungen. Um menschliche Bewegungen, seien sie nun Handlungen oder nicht, richtig zu begreifen, sollte man sich Spinoza zufolge besser auf den Trieb [appetitus] konzentrieren, der dem menschlichen Tun zugrunde liegt. Worin dieser Trieb besteht, erläutert Spinoza im Rahmen seiner conatus-Doktrin. Diese möchte ich im folgenden Abschnitt vorstellen und in den Kontext von Descartes’ Naturphilosophie stellen, die wir bereits im letzten Kapitel kennen gelernt haben.
____________ 33 Dafür, dass inadäquate Ideen und die damit verbundenen Affekte nicht vollständig erklärbar und verständlich sind (und sogar nicht einmal vollständig existieren), hat ausführlich M. Della Rocca 2008b, 47-52, argumentiert. Vgl. auch Della Rocca 2008a, 261-269.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
Der conatus und Descartes’ Naturphilosophie Spinoza führt seine conatus-Lehre im dritten Teil seiner Ethik ein. Sie spielt für seine gesamte Emotionstheorie und Psychologie, politische Philosophie und Ethik, die er in den Teilen drei bis fünf der Ethik entwickelt, eine zentrale Rolle. Im Kern dieser Theorie stehen der sechste und siebte Lehrsatz des dritten Teils der Ethik. Sie lauten: Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren. (E 3p6) Das Streben [conatus], mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes als die wirkliche Essenz eben dieses Dinges. (E 3p7)
Diesen zwei Lehrsätzen zufolge verfügt also jedes Ding über einen conatus oder ein Streben nach Selbsterhaltung und dieses Streben ist mit der Essenz jedes Dinges identisch. Diese Doktrin erscheint auf den ersten Blick allerdings kontraintuitiv, da sie durch eine Reihe alltäglicher Beispiele widerlegt zu werden droht:34 Man denke nur an eine brennende Kerze, die eher danach strebt abzubrennen als in ihrem Sein zu verharren, an die Sonne, die ihren Wasserstoff stetig zu Helium fusioniert, aber irgendwann einmal auslöschen wird, wenn ihr Vorrat an Wasserstoff aufgebraucht sein wird, oder gar an Fälle von Selbstmord. Leider geht Spinoza nur auf das letzte Beispiel ein. Dazu schreibt er: Niemand also, es sei denn er ist von äußeren und seiner Natur entgegen gesetzten Ursachen besiegt, unterlässt es, seinen eigenen Vorteil zu suchen oder sein Sein zu erhalten. Niemand, sage ich, verschmäht Nahrung oder nimmt sich das Leben aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur; nur die tun es, die von äußeren Ursachen dazu gezwungen werden, was auf viele Weise geschehen kann. [i] Einer mag sich selbst töten, weil er von einem anderen dazu gezwungen wird, der ihm die rechte Hand, die zufällig ein Schwert hält, umdreht und ihn zwingt, die Spitze gegen das eigene Herz zu richten; [ii] ein anderer, weil er, wie Seneca, auf Befehl eines Tyrannen gezwungen wird, sich die Adern zu öffnen, d.h. weil er begehrt ein geringeres Übel ‹auf sich zu nehmen›, um ein größeres zu vermeiden; [iii] ein dritter schließlich, weil verborgene äußere Ursachen seine Vorstellungskraft so disponieren und seinen Körper so affizieren, dass dieser eine andere Natur annimmt, die der früheren entgegengesetzt ist […]. (E 4p20s)
Spinoza versucht, seine conatus-Doktrin dadurch vor der Widerlegung durch Gegenbeispiele obiger Art zu retten, dass er sich auf die einschränkende Klausel „gemäß der ihm eigenen Natur [quantum in se est]“ beruft. Ein Mensch, der sich selber umbringt, handelt nicht aus seiner eigenen Natur heraus, sondern wird durch externe Ursachen zu dieser Tat bestimmt, die wie in den Fällen [i] und [ii] ziemlich offensichtlich sein kön-
____________ 34 Vgl. dazu auch Curley 1988, 110.
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nen, aber auch wie in [iii] subtilere Formen annehmen können wie z.B. Depressionen oder Versagensängste, die ihrerseits wieder auf externe Ursachen zurückzuführen sind. In Analogie dazu könnte Spinoza nun auch argumentieren, dass eine Kerze, die nie angezündet würde, ebenfalls in ihrem Sein verharren würde, wie auch eine Sonne, die nie mit einer Wasserstoff-Fusion begonnen hätte. In all diesen Fällen sind es also externe Ursachen, die schließlich dazu führen, dass die Dinge durch ihre Tätigkeit gleichsam aufgezehrt werden.35 Die besondere Pointe von Spinozas conatus-Doktrin liegt darin, dass ihm diese Theorie erlaubt, zentrale Ausdrücke der Handlungstheorie wie ‚Wille’, ‚Begierde’ und ‚Trieb’ in Begriffen des conatus zu erläutern. Das führt Spinoza systematisch in der Anmerkung zum neunten Lehrsatz des dritten Teils der Ethik vor: Bezieht sich dieses Streben [conatus] allein auf den Geist, wird es Wille genannt, bezieht es sich aber auf den Geist und zugleich auf den Körper Trieb. Er, der Trieb, ist somit nichts anderes als genau die Essenz des Menschen, aus dessen Natur das, was der eigenen Erhaltung dient, notwendigerweise folgt; mithin ist der Mensch bestimmt, es zu tun. Zwischen Trieb und Begierde besteht kein Unterschied, bloß dass der Ausdruck „Begierde“ gewöhnlich dann gebraucht wird, wenn Menschen sich eines Triebes bewusst sind; deshalb kann Begierde definiert werden als Trieb mit dem Bewusstsein des Triebes. (E 3p9s)
Da Körper und Geist nach Spinoza bekanntlich „ein und dasselbe Individuum sind, das bald unter dem Attribut Denken, bald unter dem Attribut Ausdehnung begriffen wird“ (E 2p21s), lässt sich auch die Essenz oder der conatus eines Individuums unter dem Attribut der Ausdehnung und unter dem Attribut des Denkens begreifen. Der Wille, so macht Spinoza hier deutlich, ist nichts anderes als der conatus, insofern er unter dem Attribut des Denkens aufgefasst wird. Berücksichtigt man, dass sich dieser conatus sowohl im Attribut des Denkens als auch in dem der Ausdehnung ausdrückt, nennt man ihn Trieb. Begierde wiederum entpuppt sich als bewusster Trieb. Spinoza liefert hier also eine Art Übersetzungsvorschrift, mit deren Hilfe sich unsere klassische handlungstheoretische Rede in Begriffe des conatus überführen lässt. Wenn ich z.B. sage, dass ich gerne ein Eis essen will, so heißt das nichts anderes, als dass meine Essenz oder Natur so beschaffen ist, dass sie sich unter dem Attribut des Denkens als Willen, ein Eis zu essen, manifestiert. Auf der Grundlage dieser hier angebotenen Übersetzungsvorschrift lässt sich auch die teleologische Rede von Zweckursachen in Begriffe des conatus übersetzen. Das führt Spinoza selbst an einem Beispiel vor:
____________ 35 Vgl. Lin 2003, 49-53, und Waller 2009 für eine ausführlichere Diskussion solcher Gegenbeispiele.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
Was Zweckursache genannt wird, ist nichts anderes als der menschliche Trieb selbst, insofern er als das Prinzip oder die wesentliche Ursache von irgendetwas angesehen wird. Wenn wir z.B. sagen, das Bewohnen war die Zweckursache dieses oder jenes Hauses, dann verstehen wir darunter doch wohl nichts anderes, als dass ein Mensch, weil er sich die Annehmlichkeit des häuslichen Lebens vorstellte, einen Trieb hatte, ein Haus zu bauen. Demnach ist das Bewohnen, insofern es als eine Zweckursache angesehen wird, nichts weiter als dieser einzelne Trieb, der der Sache nach eine bewirkende Ursache ist, die bloß deshalb als eine erste Ursache angesehen wird, weil Menschen in der Regel die Ursache ihrer Triebe nicht kennen. Denn sie sind, wie ich schon oft gesagt habe, sich ihrer Handlungen und Triebe bewusst, ohne die Ursache zu kennen, von denen sie bestimmt werden, nach etwas zu verlangen. (E 4praef, 376f.)
Wenn wir von Zwecken, Zielen und Willensakten von Personen reden, dann reden wir Spinoza zufolge in gewisser Weise uneigentlich. Auf der Grundlage der conatus-Doktrin können wir teleologische Aussagen darüber, dass jemand etwas um eines Zwecks willen getan hätte, darauf zurückführen, dass jener aufgrund eines ganz bestimmten Triebs gehandelt hätte. Diese Rückführungsmöglichkeit unserer teleologischen Rede auf Begriffe des Triebs oder des conatus bekräftigt Spinoza in seiner Definition des Zwecks (4def7): „Unter dem Zweck, um dessentwillen wir etwas tun, verstehe ich Trieb.“ Beschreibt man mit Hilfe des ‚conatus’ Handlungen korrekt, gerät man auch nicht in die Gefahr, die beschriebene Handlung irrtümlicherweise für frei zu halten. Wenn ein Mensch nur aus einem gewissen Trieb dazu veranlasst wird, ein Haus zu bauen, so ist sein Handeln von Ursachen abhängig, die außerhalb von ihm liegen, und es ist unmittelbar klar, dass er unfrei ist. Im Gegensatz dazu verführt uns die teleologische Beschreibung seiner Handlung zur Annahme, der betreffende Mensch baue sein Haus nur deshalb, weil er es will und er sich frei dafür entschieden hat. Wie oben gesehen, hält das Spinoza jedoch für eine Illusion, von der es uns zu heilen gilt. Eine in diesem Sinne freie oder kausal unbestimmte Entscheidung kann es nach Spinoza nicht geben. Vielmehr sind auch Entscheidungen als Ausdruck unseres conatus zu verstehen, denn für Spinoza ist klar, dass auch „die Entscheidungen des Geistes nichts sind als die Triebe selbst, die entsprechend der verschiedenen Dispositionen des Körpers verschiedenartig sind“ (E 3p2s, 233). In Spinozas Reduktion unserer teleologischen Rede auf den ‚conatus’, wie er sie selbst mit Hilfe seiner Beispiele auf der Grundlage seiner Übersetzungsvorschrift vorführt, zeigt sich ein neuer Vorschlag zu einer alternativen Fundierung teleologischer Rede. Während Suárez nach der Zurückweisung der Finalursache im Bereich der Natur, auf Gottes reflexiver Schöpfungsakt einerseits und seine Exemplarursachen als Essenzen der Dinge andererseits rekurrierte, um unserer teleologischen Rede in diesem Bereich ein ontologisches Fundament zu geben, griff Descartes auf das
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Verfahren einer Kausalanalyse zurück. Das führte jedoch dazu, dass unsere Funktionszuschreibungen üblicherweise beschreibungsrelativ sind und die Funktionalität den Dingen äußerlich ist. Spinoza schlägt nun vor, unsere teleologische Rede in einem eigentümlichen Streben der Dinge – ihrem conatus – zu fundieren. Dieser Vorschlag zu einer alternativen Fundierung der teleologischen Rede steht und fällt jedoch mit dem conatus-Begriff. Wie ist dieser Begriff genau zu verstehen? Was heißt es, dass jedes Ding danach strebt, in seinem Sein zu verharren? Und warum glaubt Spinoza, dass jedes Einzelding mit einem individuellen Streben ausgestattet ist?36 Zunächst fällt auf, dass Spinoza seine conatus-Doktrin sehr allgemein formuliert und damit keine spezifisch anthropologische These aufstellt. Jedes Ding strebt danach, in seinem Sein zu verharren – und nicht bloß der Mensch. Dies ist kein Zufall. Ausgehend von einem derart allgemeinen conatus-Verständnis ist es nämlich möglich, das menschliche Handeln und Streben als ein Spezialfall eines in der ganzen Natur verbreiteten Phänomens zu verstehen. Entsprechend können menschliche Handlungen und damit einhergehende Phänomene der Handlungs- und Moralpsychologie sowie der Politik grundsätzlich als natürliche Phänomene verstanden werden – als Phänomene, die sich prinzipiell gleich verstehen lassen, wie alle anderen Phänomene dieser Welt. Dass Spinoza an einer solchen naturalistischen Weltauffassung interessiert ist, macht er besonders im Vorwort zum dritten Teil der Ethik deutlich, in dem er ausgehend von seiner conatus-Doktrin von metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragen zu Problemen der Handlungspsychologie, Emotionstheorie und der politischen Philosophie übergeht. In diesem Vorwort bekennt sich Spinoza dezidiert zu einem umfassenden Naturalismus.37 [D]enn die Natur ist immer dieselbe, und was sie auszeichnet, ihre Wirkungsmacht, ist überall ein und dasselbe; d.h. die Gesetze und Regeln der Natur, nach
____________ 36 Zu Spinozas Argument für seine conatus-Doktrin (E 3p6) sind in den letzten Jahren eine Reihe lesenswerter und erhellender Forschungsbeiträge erschienen. Diskussionen finden sich in Garber 1988, Della Rocca 1993, 200-206, Bennett 2001, 217-223, Garrett 2002, Lin 2003, Cook 2006 und Viljanen 2008b. Einen Überblick über die verschiedenen conatus-Deutungen geben Renz 2008, 6f. und Viljanen 2008b, 90-94. Ich werde meine Rekonstruktion dieses Arguments nach der Aufarbeitung von Spinozas naturphilosophischem Hintergrund anführen. 37 Wie M. Della Rocca 2008a, 5-8, überzeugend ausführt, lässt sich Spinozas Naturalismus als Ausdruck seines Festhaltens am Prinzip des zureichenden Grundes verstehen (zu dem er sich ganz deutlich in E 1p11d2 bekennt): Wenn nämlich Dinge auf prinzipiell verschiedene Weisen erklärt werden könnten, bliebe letztlich unerklärt, warum sich einige Dinge der Welt auf prinzipiell andere Weise verhalten als andere Dinge dieser Welt. Das Verhalten der einen wäre mit Bezug auf das der anderen grundsätzlich unverständlich.
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denen alles geschieht und aus einer Form in eine andere sich verändert, sind überall und immer dieselben. Mithin muss auch die Weise ein und dieselbe sein, in der die Natur eines jeden Dinges, von welcher Art es auch sein mag, zu begreifen ist, nämlich durch die allgemeinen Gesetze und Regeln der Natur. (E 3praef, 221)
Spinozas allgemeine conatus-Doktrin ist somit Teil seines naturalistischen Generalprojekts, dem zufolge alle Phänomene der Welt auf die prinzipiell gleiche Weise erklärt werden sollen.38 Damit ist auch das menschliche Streben und Handeln nichts, was sich prinzipiell vom Rest der Natur unterscheiden würde, sondern etwas, das sich zu einem gewissen Grad schon immer in allen Modi der Substanz findet, und sich im Menschen aufgrund seiner großen Komplexität auf besonders eindrückliche Weise manifestiert. Aber worin besteht nun dieses allgemeine Streben, das nach Spinoza jedem Ding zukommen soll, und von dem das menschliche Streben lediglich ein (besonders komplexer) Spezialfall ist? Sowohl die Wahl des Ausdruck ‚conatus’ als auch die Formulierung des Lehrsatzes E 3p6 lassen keinen Zweifel, dass sich Spinoza hier an seinem mechanistischen Vorgänger Descartes orientiert. So lautete Descartes’ erstes Naturgesetz in den Prinzipien (II §37), dass „jedes Ding, insofern es einfach und unteilbar ist, gemäß der ihm eigenen Natur stets in demselben Zustand verharrt und diesen nur infolge äußerer Ursachen verändert.“39 Diese Stelle kommentierte Spinoza in seinem 1663 veröffentlichten Buch Renatis Des Cartes Principiorum Philosophiae Pars I et II, More Geometrico demonstratae, in dem er – wie der Titel schon sagt – Descartes’ Prinzipien in deduktiver Form aufbereitete.40 Wie Descartes in der Diskussion der Zentrifugalkraft
____________ 38 D. Garrett 2008, 18f., hat dieses Projekt treffend als „incremental naturalism“ bezeichnet: Es geht Spinoza nicht nur darum, alles mit Rekurs auf dieselben allgemeinen Gesetze zu erklären, sondern auch darum aufzuweisen, dass alle Phänomene, die es in der Welt gibt, zu einem gewissen (niedrigen) Grad in der ganzen Natur vorhanden sind (das zeigt sich besonders gut in Spinozas Panpsychismus E 2p13s, dem zufolge alles zu einem gewissen Grade beseelt ist). 39 „Harum prima [lex naturae] est, unamquamque rem, quatenus est simplex & indivisa, manere, quantum in se est, in eodem semper statu, nec umquam mutari nisi a causis externis“ (Prinzipien II §37, AT VIIIa 62). 40 In Spinozas geometrischer Aufbereitung von Descartes’ Prinzipien, findet sich diese These im Lehrsatz 14 des zweiten Teils. Spinozas Formulierung des Trägheitsgesetzes lautet: „Unaquaeque res, quatenus simplex & indivisa est, & in se sola consideratur, quantum in se est, semper in eodem statu perseverat.“ U. Renz 2007, 42, hat bei Johannes Clauberg eine Stelle gefunden, die der Formulierung Spinozas noch ähnlicher ist. Die Stelle lautet (zitiert nach Renz 2007, ebd.): „Prima lex naturae: quod unaquaque re quantum in se est, semper in eodem statu perseveret; sicque quod semel movetur, semper moveri pergat.“
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ausdrücklich klar stellt, ist dieses durch sein erstes Naturgesetz etablierte Streben nicht als Ausdruck von Absichten zu verstehen: Wenn ich sage, dass die Kügelchen […] von den Mittelpunkten, um die sie sich drehen, sich zu entfernen streben [conari], so will ich ihnen damit kein Denken zuschreiben, sondern sie sind nur so gerichtet und zur Bewegung bereit, dass sie wirklich dahin wandern, wenn keine andere Ursache sie daran hindert. (Prinzipien III §56, AT VIIIa 108)
Das Streben, von dem Descartes hier ausgeht, ist also kein intentionales Streben, sondern lediglich Ausdruck des Trägheitsprinzips. Nun ist auch Spinoza ein Vertreter dieses Prinzips. In seiner so genannten kleinen Physik – dem Einschub an Axiomen und Lehrsätzen zwischen 2p13s und 2p14 der Ethik – betont er, „dass ein bewegter Körper so lange in Bewegung bleibt, bis er von einem anderen Körper bestimmt wird zu ruhen, und dass ebenso ein ruhender Körper so lange in Ruhe verbleibt, bis er von einem anderen bestimmt wird, sich zu bewegen“ (E 2lem3c). Demnach wird ein Körper auch für Spinoza so lange in seinem Zustand verharren, wie nichts Äußeres auf ihn einwirkt, und folglich natürlicherweise danach streben, „in seinem Sein zu verharren“ (E 3p6). Spinozas conatusDoktrin steht somit in enger Verbindung mit dem Trägheitsprinzip, durch dessen Annahme sich die Mechanik der nouvelle science entscheidend von der aristotelischen Naturphilosophie absetzte.41 Doch auch wenn Spinoza in seiner Formulierung der conatus-Doktrin von Descartes’ erstem Naturgesetz beeinflusst ist, geht seine Verwendung dieser Lehre entscheidend über Descartes hinaus. Für Descartes ist nämlich unbestritten, dass es neben dem nicht-intentionalen trägen Streben von Körpern, auch intentionales Handeln gibt. Ein intentionales Streben weisen jene Körper auf, die mit einem Geist vereinigt sind, der seinerseits über kognitive und intentionale Fähigkeiten verfügt. Als Ausdruck eines tätigen Geistes muss dieses Streben jedoch prinzipiell anders analysiert werden als das nicht-intentionale Streben natürlicher Körper.42 Damit gehört Descartes jedoch zu jenen Philosophen, die „den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staat zu verstehen“ (E 3praef, 219) und ihn so behandeln, als unterliege er nicht denselben Naturgesetzen wie alle ande-
____________ 41 Wie im letzten Kapitel, S. 177f., gesehen, wandte Descartes (in Le Monde 7, AT XI 40) explizit gegen den Aristotelismus ein, dass das aristotelische Verständnis der Bewegung als Aktualisierung einer Form nicht mit dem Trägheitsprinzip vereinbar sei. Eine Darstellung über die „Entdeckung“ der Trägheit in der mechanistischen Naturphilosophie der frühen Neuzeit gibt Hassing 1992 mit Bezug auf Descartes und Newton. 42 Wie D. Garber 2001, 153-155, überzeugend ausführt, dürfte es Descartes sogar für unproblematisch befunden haben, dass Naturgesetze für das Verhalten menschlicher Körper nicht ausnahmslos gelten.
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ren Dinge. Für einen Naturalisten wie Spinoza ist das inakzeptabel.43 Auch das menschliche Handeln gilt es als Ausdruck jenes universellen Strebens zu verstehen, dem bereits die einfachsten Körper unterliegen. Das macht Spinoza besonders deutlich, wenn er unser Wollen – das heißt nach E 3p9s: die Manifestation unseres conatus unter dem Attribut des Denkens – mit dem trägen Verharren eines geworfenen Steines auf seiner Flugbahn vergleicht. Ein Stein empfängt durch eine äußere Ursache, die ihn stößt, ein gewisses Quantum von Bewegung, durch welches er dann, auch wenn der Anstoß der äußeren Ursache aufhört, notwendig fortfährt sich zu bewegen. […] Denken Sie sich nun, bitte, der Stein denke, indem er fortfährt, sich zu bewegen, und er wisse, dass er nach Möglichkeit in der Bewegung zu verharren strebt. Dieser Stein wird sicherlich, da er sich doch nur seines Strebens bewusst und durchaus nicht indifferent ist, der Meinung sein, er sei vollkommen frei und er verharre nur darum in seiner Bewegung, weil er es so wolle. (Ep. 58, 236)
Wie dieses Beispiel suggeriert, ist das Streben von Einzeldingen ganz analog zu dem Verharren geworfener Dinge in ihrer Flugbahn zu verstehen: als ein träges Beibehalten ihres spezifischen Bewegungszustands, der ihnen aufgrund äußerer Einwirkung zukommt. Dabei ist das, was wir als unseren Willen empfinden, nichts anderes als eben dieses träge Streben, das sich unter dem Attribut des Denkens manifestiert. Der „Wille“ des Steins, in seiner Flugbahn zu verharren, ist nichts anderes als sein conatus. Spinoza möchte im Rahmen seines naturalistischen Programms mit Hilfe seiner conatus-Doktrin das Streben aller Einzeldinge als Ausdruck desselben universalen Prinzips verstehen, wonach ein Ding aufgrund seiner Natur in seinem Zustand zu verharren strebt.44 Es macht somit den Anschein, dass Spinoza menschliches Handeln schlicht als Ausdruck jener mechanischen
____________ 43 Wie kaum erstaunt, rügt Spinoza Descartes daher auch für seinen interaktionistischen Dualismus, von dem er meint, dass er „geheimnisvoller ist als jede verborgene Qualität“ (E 5praef, 531). 44 Auch wenn Spinoza damit über Descartes hinausgeht, ist er darin nicht sonderlich originell: Bereits Hobbes schlug vor, handlungstheoretische Begriffe wie „Wille“ und „Trieb“ im Rahmen einer mechanistischen Theorie als Ausdruck eines mechanistischen Strebens [conatus oder endeavour] zu verstehen (vgl. etwa Leviathan, Kapitel 6). Es erstaunt damit nicht, haben einige Interpreten (wie etwa Cook 2006, 154, und Curley 1988) auf Parallelen zwischen Spinoza und Hobbes aufmerksam gemacht. Wie im Folgenden hoffentlich deutlich wird, sollte diese Parallele nicht zu eng gefasst werden, da Hobbes einen anderen conatus Begriff vorschlägt als Spinoza: Hobbes definiert den conatus (in De Corpore III.15 §2) als Bewegung, die in weniger Zeit und Raum vollzogen würde, als sie gegeben werden könne. Während Leibniz diesen infinitesimalen Aspekt schätzt und ernst nimmt, spielen solche mathematischen Überlegungen in Spinozas Konzeption des conatus Begriffs überhaupt keine Rolle.
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Trägheit verstehen möchte, mit Bezug auf die Descartes das Verhalten von Körpern erklärt hat.45 Leider wirkt eine solche Theorie alles andere als plausibel. Wenn „streben“ nur heißen soll, dass ein Ding eben so lange tut, was es tut, bis es von einer äußeren Ursache daran gehindert wird, scheint es sich kaum um einen interessanten Strebensbegriff zu handeln, auf dessen Grundlage sich sogar menschliche Handlungen verstehen lassen sollten. Schließlich ist ein Streben eine Form der Aktivität, während auch für ein völlig passives Ding gilt, dass es in seinem Zustand verharrt, solange es von nichts dabei gestört wird. Auf dieses Problem hat bereits Leibniz aufmerksam gemacht: Ich gestehe zu, dass jedes Ding in seinem Zustand bleibt, bis es einen Grund für seine Veränderung gibt. Das ist ein Prinzip metaphysischer Notwendigkeit. Aber es ist eine Sache, einen Zustand zu bewahren, bis ihn etwas verändert, was sogar etwas tut, das gegenüber beiden Zuständen gleichgültig ist, und eine ganz andere Sache und für ein Ding viel bedeutsamer, wenn es nicht indifferent ist, sondern eine Kraft hat und gleichsam eine Neigung, seinen Zustand zu bewahren, und sich so der Veränderung widersetzt.46
Daraus, dass ein Ding so lange tut, was es tut, bis es von externen Ursachen davon abgehalten wird, folgt erst einmal nicht, dass sich dieses Ding den externen Ursachen auch aktiv widersetzt. Zumindest das sollte man aber erwarten, wenn man das, was dieses Ding tut, zu Recht als Streben (in seinem Sein zu verharren) bezeichnen möchte. Und auch Spinoza möchte seinen conatus in diesem aktiven Sinne verstanden wissen. Wie er ausführt, „steht“ ein Ding aufgrund seiner Essenz „allem, was seine Existenz aufheben kann, entgegen [opponitur]“ (E 3p6d). Es widersetzt sich den äußeren Einflüssen, und ist ihnen gegenüber gerade nicht gleichgültig.47 Leibniz’ Kritik ist in erster Linie an Descartes gerichtet, der die res extensa ausschließlich und vollständig durch geometrische Eigenschaften charakterisiert sah. Gerade deshalb hatte Descartes keine Möglichkeit, den ausgedehnten Substanzen eigene aktive Kräfte zuzusprechen. Schließlich sind Kräfte keine geometrisch beschreibbaren Größen – sie sind nicht
____________ 45 Entsprechend wurde Spinozas conatus-Doktrin in der Forschung immer wieder trägheitstheoretisch gedeutet. So etwa von J. Carriero 2005, 132-135, und Th. Cook 2006, 155-166. Aber auch D. Garrett (2002, 145) meint, dass der conatus eines Dings als „existential inertia“ aufgefasst werden könne. 46 Brief an de Volder vom 24.3./3.4. 1699, GP II 170; AG 172. 47 Es erstaunt nicht, dass Spinoza hier der Äquivokation bezichtigt wurde: Er würde davon, dass etwas keine widersprüchliche Essenz haben kann (E 3p5), ungerechtfertigt dazu übergehen, dass sich ein Ding gegenüber allem, was seine Existenz bedroht, widersetzt (E 3p6). Vgl. dazu Bennett 1984, 231-246, Garber 1988, 61, und Garrett 2002, 132.
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räumlich ausgedehnt. Entsprechend hielt Descartes Körper für rein passive Entitäten.48 Aber natürlich konnte und wollte Descartes nicht leugnen, dass sich Körper bewegen. Wie bereits im letzten Kapitel deutlich wurde, schlug Descartes vor, die Bewegung eines Körpers schlicht als eine Überführung (translatio) von einem Ort zu einem andern zu verstehen, das heißt als eine kontinuierliche Veränderung des Abstandes eines Körpers zu seinen benachbarten Körpern.49 Dieses Verständnis erlaubte es ihm, auch Bewegung rein geometrisch (als Funktion von Abständen) und damit als Modus ausgedehnter Substanzen zu erfassen. Das Verhalten bewegender Körper wiederum erklärte Descartes mit Rekurs auf drei Bewegungsgesetze, die er direkt aus Gottes ewiger und unveränderlicher Natur ableitete, aus der er folgern zu können meinte, dass er „immer dasselbe Maß an Bewegung im Universum bewahrt“.50 Das erste dieser Gesetze haben wir bereits kennen gelernt: Es ist jenes, das Spinozas conatus-Doktrin so ähnlich ist, und besagt, dass ein Ding seiner Natur nach stets in demselben Zustand verharrt und diesen nur infolge äußerer Ursachen verändert (Prinzipien II §37). Das zweite Naturgesetz besagt, „dass jeder Teil der Materie, für sich betrachtet, nur in gerader Richtung, aber nie in gekrümmter seine Bewegung fortzusetzen strebt“.51 Descartes’ drittes Naturgesetz betrifft das Verhalten kollidierender Körper und lautet: Wenn ein Körper einem andern begegnet und seine Kraft, sich in gerader Linie fortzubewegen, geringer ist als die Kraft des anderen, ihm zu widerstehen, biegt er in eine andere Richtung aus, wobei er seine Bewegung beibehält und nur die frühere Richtung verliert; ist seine Kraft aber größer, so bewegt er den anderen Körper mit sich fort und verliert selbst so viel von seiner Bewegung, wie er ihm gibt. (Prinzipien II § 40, AT VIIIa 65)
Spätestens bei diesem letzten Naturgesetz dürften sich Zweifel eingeschlichen haben, ob Descartes mit der Rede von Kräften nicht gegen seine eigene geometrische Physikkonzeption verstoße. Doch Descartes stellt sogleich klar, dass er das Wort „Kraft“ in einem harmlosen Sinn verwendet, der seiner geometrischen Physik nicht zuwiderläuft: Hier ist genau zu beachten, worin die Kraft des Körpers bei seiner Einwirkung auf einen anderen oder sein Widerstand gegen dessen Einwirkung besteht; nämlich lediglich darin, dass jedes Ding gemäß seiner Natur danach strebt, in seinem
____________ 48 Wie Gaukroger 1995, 146-152, ausführt, war Descartes’ Ansicht, dass die Materie rein passiv sei, auch theologisch motiviert. Dadurch wurde nämlich die Rolle Gottes gestärkt, der nun zur Erklärung von Bewegungen herangezogen werden musste. 49 Siehe Prinzipien, II §25, AT VIIIa 53, und Kapitel III, S. 175f. 50 Descartes: Prinzipien II §36, AT VIIIa 61. 51 Prinzipien II §39, AT VIIIa 63.
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Zustand zu bleiben, in dem es ist, nach dem an erster Stelle aufgestellten Gesetz. (Prinzipien II §43, AT VIIIa 66)
Die Kraft eines Körpers ist also nichts anderes als sein Streben in seinem gegenwärtigen Zustand zu verharren, das aufgrund des ersten Naturgesetzes jedem Körper zukommt. Wie oben gesehen, besteht dieses Streben einfach darin, dass ein Körper aufgrund seiner eigenen Natur so lange in seinem Zustand verharrt, bis er von einer äußeren Ursache daran gehindert wird. Eine Kraft ist damit für Descartes keine aktuale Eigenschaft von Körpern. Von einem Körper zu sagen, er verfüge über die Kraft, sich so und so zu bewegen, ist lediglich eine Abkürzung für die kontrafaktische Aussage, dass er sich so und so bewegte, wenn er nicht daran gehindert würde. Tatsächlich verfügen Körper nur über ein gewisses aktuales Maß an Bewegung. Diese Bewegung geben sie in Kollisionen gemäß den allgemeinen Bewegungserhaltungsgesetzen ab oder gewinnen neue hinzu. Alles, was es in Descartes’ physikalischer Welt wirklich gibt, sind Körper mit geometrischen Eigenschaften, die ein gewisses Maß an Bewegung aufweisen, das sich als besondere Funktion der Abstandsänderung dieses Körpers zu seiner Nachbarschaft selbst wieder geometrisch beschreiben lässt. Wie raffiniert Descartes’ geometrische Physikkonzeption auch erscheinen mag, Leibniz’ Kritik hält sie genauso wenig stand, wie ihre Körper echten Einwirkungen standhielten, wenn sie denn wahr wäre. Wenn Dinge wirklich danach streben, in ihrem aktuellen Zustand zu verharren, dann reicht es nicht, dass sie gleichsam gleichgültig in ihrem Zustand verweilen, bis sie davon abgebracht werden. Sie müssen überdies dem, was auf sie einwirkt, etwas entgegensetzen: Kontrafaktisches Fortfahren allein ist noch kein Widerstand gegen externe Einwirkungen. Wenn also Körper mit einer echten Trägheit ausgestattet sein sollen, vermöge derer sie sich Einwirkungen widersetzen können, bedürfen sie einer gewissen Kraft. Etwas, das dafür verantwortlich ist, dass sie gegenüber äußeren Einflüssen nicht gleichgültig sind.52 Doch genau das hat Descartes für seine geometrische res extensa nicht vorgesehen. Sie soll rein passiv sein. Aktiv sind nur geistige Substanzen. Damit stellt sich seine rein geometrisch-physikalische Bewegungstheorie als unhaltbar heraus. Aber wie verhält es sich mit Spinoza, der sich mit seiner conatusDoktrin an Descartes anzuschließen scheint? Scheitert seine conatus-Lehre genauso an Leibniz’ Einwand, wie es Descartes’ geometrische Bewegungs-
____________ 52 Diese passive Größe, die einem Körper zu seiner Trägheit verhilft, und aufgrund der er sich einer Einwirkung widersetzen kann, identifizierte Leibniz wie übrigens auch Newton mit der Masse des Körpers.
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analyse tut?53 Nun, das hängt davon ab, wie viel Spinoza in seiner conatusDoktrin von Descartes übernimmt. Bereits die kurze Rekonstruktion von Descartes’ Herleitung seiner Naturgesetze dürfte aber zeigen, dass sich Spinoza schon aus metaphysischen Erwägungen nicht vollständig Descartes’ Konzeption anschließen kann: Descartes geht von einem transzendenten Gott aus, der außerhalb der res extensa steht und die Bewegungsverläufe in der ausgedehnten Welt aufgrund seiner Unveränderlichkeit mit Hilfe der drei Naturgesetze reguliert. Im Gegensatz dazu steht Spinozas Gott nicht außerhalb der Welt, sondern er selbst ist die Welt. Und dieser Gott ist alles andere als passiv. Ganz im Gegenteil: Spinoza betont, dass „Gott die bewirkende Ursache aller Dinge ist“ (E 1p16c1) und dass „aus Gottes höchster Macht, d.h. aus seiner unendlichen Natur, unendlich Vieles auf unendlich viele Weisen – also alles – geflossen ist“ (E 1p17c2s, 45). Ja, „Gottes Macht ist“ Spinoza zufolge sogar „genau seine Essenz“ (E 1p34).54 Da auch Ausdehnung ein Attribut Gottes ist, und Attribute per definitionem (E 1def4) die Essenz Gottes ausmachen und als solche ihre Modi hervorbringen (vgl. E 1p21 und 1p23), kann auch die Ausdehnung für Spinoza nicht passiv sein. Wie jedes Attribut drückt auch die Ausdehnung Gottes Macht vermittels ihrer Modifikationen auf bestimmte Weisen aus. Es ist damit kaum verwunderlich, dass sich Spinoza explizit gegen Descartes’ rein passives Materie-Verständnis gewendet hat; in einem Brief an den Mathematiker Tschirnhaus (vom 5.5.1676) sogar sehr deutlich. Tschirnhaus hatte Spinoza danach gefragt, „wie man a priori die Existenz von Körpern demonstriert, die Bewegung und Gestalt haben, da doch Ausdehnung, schlechthin betrachtet, nichts Derartiges zeigt.“55 Darauf antwortete Spinoza: Aus der Ausdehnung sodann, wie Descartes sie auffasst, nämlich als ruhende Masse, die Existenz der Körper zu demonstrieren, ist nicht nur schwierig, wie Sie sagen, sondern vollkommen unmöglich. Denn die ruhende Materie wird, soweit es an ihr liegt, in ihrer Ruhe verharren und nicht zur Bewegung angetrieben, es sei denn durch eine äußere, stärkere Ursache. Aus diesem Grunde habe ich kein Bedenken getragen, seinerzeit es auszusprechen, dass die Prinzipien der natürlichen Dinge bei Descartes unbrauchbar, um nicht zu sagen, widersinnig sind. (Ep. 81, 297)
____________ 53 Zu diesem Ergebnis kommt Garber 1988, 61. Dagegen hat Della Rocca 2008a, 150-152, eingewandt, auch kontrafaktisches Streben müsse auf der Grundlage von Spinozas Rationalismus, nach dem (auch kontrafaktische) begriffliche Relationen immer Kausalrelationen seien, als echtes Streben verstanden werden. 54 Gottes Aktivität spiegelt sich auch darin, dass „allein Gott eine freie Ursache ist“ (1p17c2), und etwas nach Spinoza genau dann aktiv ist, wenn es frei ist – wie im letzten Abschnitt deutlich wurde (vgl. oben, S. 248ff.). 55 Brief von Tschirnhaus an Spinoza vom 2.5.1676, Ep. 80, 296.
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Spinoza hält Descartes’ passive Materiekonzeption offenbar für widersinnig. Auf ihrer Grundlage sei es unmöglich, die Existenz bewegender und auf eine bestimmte Weise gestalteter Körper zu beweisen. Warum die Bewegung für Descartes’ geometrisches Materieverständnis problematisch ist, haben wir eben gesehen. Um Spinozas alternative Materiekonzeption und die damit verbundene conatus-Doktrin besser zu verstehen, lohnt es sich, auch kurz auf das zweite hier angesprochene Problem einzugehen. Dies erscheint auf den ersten Blick alles andere als problematisch: Warum sollte Descartes im Rahmen seiner geometrischen Physikkonzeption Schwierigkeiten damit haben, Körper als so und so gestaltet zu bestimmen? Schließlich ist Gestalt im Gegensatz zur Kraft ja gerade die geometrische Eigenschaft par excellence. Aber danach fragt Tschirnhaus gar nicht: Er fragt vielmehr nach der Existenz von Körpern, die eine gewisse Gestalt aufweisen. Wenn es einen bestimmten Körper gibt, ist klar, dass dieser eine bestimmte Gestalt aufweist, die sich geometrisch beschreiben lässt. Was Tschirnhaus wissen möchte, ist, was garantiert, dass es überhaupt einen (so und so gestalteten) Körper gibt. Und diese Frage ist für Descartes in der Tat delikat: Wenn man behauptet, dass Körper allein durch homogene Ausdehnung bestimmt sind, ist zunächst unklar, wie man dann entscheiden sollte, wo ein Körper aufhört und ein anderer beginnt. Schließlich bestehen alle Körper aus derselben homogenen Materie. Dieses Problems war sich Descartes bewusst und er hat dafür folgende Lösung vorgeschlagen: „Ich verstehe hier unter einem Körper oder einem Teil der Materie alles das, was gleichzeitig überführt wird, wenn es auch aus vielen Teilen besteht, die untereinander andere Bewegungen haben.“56 Dieser Vorschlag macht zunächst einen durchaus plausiblen Eindruck: Auch wenn alle Körper aus derselben homogenen Materie bestehen, macht sie das allein noch nicht ununterscheidbar. Denn die homogene Materie, die den einen Körper konstituiert, unterscheidet sich dadurch von der Materie, die einen anderen Körper konstituiert, dass die eine Materieportion unabhängig von der anderen überführt oder bewegt werden kann. Körper sind also schlicht dadurch individuiert, dass sie einigermaßen stabile Einheiten bilden, die sich gemeinsam bewegen können. Die Blumenvase, zum Beispiel, die auf meinem Tisch steht, ist deshalb vom Tisch verschieden, weil sie sich unabhängig vom Tisch bewegen lässt. Dieses Individuationskriterium ist zwar vage, und lässt es manchmal offen, um wie viele Körper es sich bei einer gewissen Materieportion handelt. Man kann sich etwa fragen, ob mein Tisch ein Körper ist oder aber eine Ansammlung mehrerer Körper wie Tischbeine, Tischplatte, Hängevorrichtung und Schubladen. Aber das scheint nicht weiter problematisch, sondern eher ein
____________ 56 Prinzipien II §25, AT VIIIa 53f. Hervorhebung im Original.
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Vorteil dieses Kriteriums zu sein. Da wir uns tatsächlich manchmal im Unklaren darüber sind, wie viele Körper eine bestimmten Materieportion konstituiert, scheint die Vagheit von Descartes’ Individuationskriterium für Körper genau jener Vagheit zu entsprechen, die unser Körperbegriff tatsächlich aufweist, und sich gerade dadurch als adäquates Kriterium auszuzeichnen. Trotz seines plausiblen Anscheins wirft Descartes’ Versuch, Körper anhand ihrer Bewegung zu individuieren, mindestens zwei Probleme auf. Zum einen fällt auf, dass Descartes streng genommen Körper nicht dadurch unterscheidet, dass sie sich unabhängig voneinander bewegen können, sondern dadurch, dass sie sich tatsächlich unabhängig voneinander bewegen. Das ist keine unvorsichtige Ausdrucksweise seitens Descartes, sondern durchaus seiner geometrischen Physikkonzeption geschuldet. Denn nur aktual bewegende Körper verfügen über die geometrisch beschreibbare Eigenschaft eines verändernden Abstands zu ihren benachbarten Körpern. Eine potenzielle Abstandsveränderung sieht geometrisch genau gleich aus wie gar keine. So lange die Vase also einfach auf dem Tisch steht, weist sie keine geometrisch spezifizierbare Eigenschaft auf, die sie vom Tisch unterscheiden würde. So lange müssten Tisch und Vase – und wahrscheinlich auch noch das Haus, in dem der Tisch steht, und dessen Umgebung einfach als ein einziger Körper angesehen werden. Das wirkt absurd.57 Zum andern ist Descartes’ Individuationskriterium von Körpern zirkulär: Wie gesehen, definiert Descartes Bewegung als „die Überführung eines Teiles der Materie oder eines Körpers aus der Nachbarschaft der Körper, die ihn unmittelbar berühren, und die als ruhend angesehen werden, in die Nachbarschaft anderer.“ (Prinzipien, II §25, AT VIIIa 53) In dieser Definition setzt Descartes voraus, dass wir bereits wissen, was ein Körper oder ein Teil der Materie ist. Entsprechend kann er die Einheit von Körpern selbst nicht wiederum mit Bezug auf die Bewegung erläutern – denn wir wissen ja nur, was Bewegung ist, wenn wir verstanden haben, was ein Körper ist. Aber genau das tut Descartes mit seinem Individuationskriterium.58
____________ 57 Interessanterweise scheint Descartes diese Konsequenz gesehen, aber auch für unproblematisch befunden und akzeptiert zu haben. In seinem Brief an Clerselier vom 17.2.1645, AT IV 187, schreibt er: „[U]nter einem Körper, der ohne Bewegung ist, verstehe ich einen Körper, der sich überhaupt nicht im Akt befîndet, um seine Oberfläche von der der anderen Körper zu unterscheiden, die ihn umgeben, und der folglich Teil eines anderen, harten Körpers ist.“ Gueroult 1980 hat dafür argumentiert, Descartes könne das Problem ruhender Körper nur mittels einer auf Gott zurückgehenden Kohäsionskraft lösen. 58 Vgl. dazu auch Garber 1992, 175-181, der meint, dieses Problem sei für Descartes unlösbar. Da Leibniz seine eigene Position ausführlich aus seiner Kritik an
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Spinozas Kritik an Descartes’ rein passiver Materiekonzeption ist also durchaus berechtigt. Descartes hat im Rahmen seiner geometrischen Physikkonzeption in der Tat alle Mühe, der Bewegung und der Einheit von Körpern Rechnung zu tragen. Das zieht natürlich unmittelbar die Frage nach sich, welche Alternative Spinoza zu Descartes’ Vorschlägen zur Bewegungsanalyse und Individuation von Körpern anbietet. Dieser Frage gilt es im nächsten Abschnitt nachzugehen, um anschließend den Weg zu Spinozas conatus-Doktrin zurückzufinden.
Spinozas Naturphilosophie In seiner kleinen Physik befasst sich Spinoza explizit mit der Individuation von Körpern. Seine zentrale These dazu lautet: Körper unterscheiden sich voneinander aufgrund von Bewegung und Ruhe und aufgrund des Grades ihrer Geschwindigkeit und nicht im Hinblick auf Substanz. (E 2lem1)
Spinoza möchte also – wie Descartes – Körper anhand ihres gegenseitigen Verhältnisses von Ruhe und Bewegung unterscheiden. Spinozas Orientierung an Descartes wirkt ebenso überraschend wie nachvollziehbar. Überraschend wirkt sie, weil Descartes mit genau diesem Kriterium in Teufels Küche gerät und Spinoza sich dieses Problems bewusst war, wie im letzten Abschnitt deutlich wurde. Es gilt daher zu untersuchen, ob es Spinoza gelingt, Descartes’ Individuationskriterium von Körpern zu übernehmen, ohne sich damit seine Probleme einzukaufen. Nachvollziehbar erscheint Spinozas Anlehnung an Descartes, weil ihm sein Individuationskriterium gleichsam ein natürliches Mittel an die Hand gibt, um Körper entgegen der bis dahin üblichen philosophischen Tradition ohne den Begriff der Substanz zu individuieren. Da für Spinoza ja nur die gesamte Natur eine Substanz ist, und die darin vorkommenden Körper nur Modi dieser Substanz sind, steht es ihm nicht offen, Körper „im Hinblick auf die Substanz“ zu unterscheiden, wie das in der Philosophie seit Aristoteles üblich war. Descartes’ Vorschlag, Körper stattdessen einfach anhand ihrer Bewegung zu individuieren, kommt ihm so wie gerufen. Aber erweist ihm Descartes’ Individuationskriterium auch tatsächlich die Dienste, die er von ihm erhofft, oder beschert es ihm ähnliche Probleme wie Descartes? Das ist zunächst zu befürchten. Es scheint nämlich, als verstünde Spinoza die Ausdrücke „Ruhe“ [quietas] und „Bewegung“
____________ Descartes entwickelt, werde ich im nächsten Kapitel noch einmal auf diese Probleme der cartesischen Physik eingehen und Leibniz’ Kritik daran rekonstruieren.
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[motio], wodurch sich Körper unterscheiden sollen, in dem gewöhnlichen und alltäglichen Sinn, nach dem sie die Eigenschaft von Körpern bezeichnen, am selben Ort zu bleiben bzw. diesen zu wechseln. So sagt Spinoza etwa in den Axiomen 1 und 2 seiner kleinen Physik, „[a]lle Körper sind entweder in Bewegung oder in Ruhe“, und bewegen sich „bald langsamer, bald schneller,“ was sich tatsächlich so anhört, als ob Bewegung und Ruhe etwas sei, was Körpern zukommt. Damit wäre Spinozas Individuationskriterium von Körpern demselben Zirkularitätseinwand ausgesetzt wie Descartes: Wenn Ruhe und Bewegung Charakteristika von Körpern – und das heißt immer: von bestimmten Körpern – sind, dann setzen sie die Existenz bestimmter Körper voraus, und können entsprechend nicht für deren Bestimmtheit verantwortlich sein.59 Wie allerdings schon die Untersuchung von Spinozas Handlungsbegriff zeigte, ist man schlecht damit beraten, wenn man sich in der Auseinandersetzung mit Spinoza vorschnell auf die gewohnte Bedeutung seiner Begriffe verlässt. Spinoza ist ein revisionärer Metaphysiker im Sinne Strawsons. Anders als ein deskriptiver Metaphysiker ist er nicht daran interessiert, unsere üblichen Begriffe zu erläutern. Er möchte vielmehr ein neues Begriffssystem schaffen, mit dem sich die Welt adäquater beschreiben lässt.60 Und wenn Spinoza bereits die gesamte Welt als eine Substanz und die klassischen Einzeldinge als Zustände dieser Substanz beschrieben hat, dürfte es kaum verwundern, wenn er auch Ruhe und Bewegung, die traditioneller Weise für Zustände von Einzeldingen gehalten werden, anders versteht. Tatsächlich lassen sich Stellen finden, die darauf hindeuten, dass Spinoza Ruhe und Bewegung nicht im klassischen Sinn als Charakteristika von Einzeldingen auffasst.61 So spricht Spinoza in den Lehrsätzen E 1pp22 und 23 von unendlichen Modi, die in direkter und indirekter Weise aus Gottes Attributen folgen würden, wobei nicht weiter erläutert wird, worin diese unendlichen Modifikationen der Substanz genau bestehen. Glücklicherweise haben schon Spinozas Zeitgenossen daran Anstoß genommen, und sein Arzt Schuller bat Spinoza um „Beispiele für das, was von Gott unmittelbar und für das, was durch Vermittlung einer unendlichen Modifikation hervorgebracht ist.“62 Darauf antwortete Spinoza postwendend:
____________ 59 Vgl. zu diesem Einwand Garrett 1994, 78f., und Bennett 1984, 108f. 60 Die Unterscheidung zwischen deskriptiver und revisionärer Metaphysik findet sich in Strawson 1959, 9. Spinozas revisionäre metaphysische Anliegen betonen vor allem Stoichita 2008, 2-4, und Deleuze 1993, 285 (wenn auch in etwas anderem Jargon). 61 Vgl. zum Folgenden besonders Garrett 1994, 78-82. 62 Brief von Schuller vom 25.6. 1675, Ep. 63, 247.
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Die Beispiele endlich, die sie verlangen, sind: von der ersten Art im Denken der schlechthin unendliche Verstand, in der Ausdehnung aber Bewegung und Ruhe; von der zweiten Art aber das Angesicht des ganzen Weltalls, das zwar in unendlichen Modis sich ändert, aber immer dasselbe bleibt; siehe hierüber Anm. 7 zu dem Lehrsatz vor Lehrs. 14, Teil 2. (Ep. 64, 250)
Ruhe und Bewegung sind also unendliche Modi des Attributs der Ausdehnung, die mittelbar „das Angesicht des ganzen Weltalls“ hervorbringen, auf das Spinoza – wie er hier anmerkt – gegen das Ende seiner kleinen Physik eingeht. Wie er an entsprechender Stelle (in E 2lemm7s) ausführt, ist damit die Menge aller materiellen Modi gemeint, die das ganze Universum ausmachen. Damit zeigt sich, dass Spinoza Ruhe und Bewegung nicht als Zustände oder Modi endlicher Körper bzw. Modi der Ausdehnung versteht – und so gleichsam als Modi zweiter Ordnung auffasst. Ruhe und Bewegung sind nach Spinoza vielmehr unendliche Modi Gottes, die direkt aus Gott folgen, insofern er unter dem Attribut der Ausdehnung erfasst wird. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Spinoza die Ruhe und Bewegung, mit deren Hilfe er Körper individuieren will, nicht einfach als Eigenschaften einzelner Körper versteht, lässt sich einer Passage aus seiner Kurzen Abhandlung entnehmen, in der Spinoza „hinsichtlich der Modifikationen der Ausdehnung eine bestimmtere Definition“ entwickeln möchte. Dort schreibt Spinoza: Wir setzen dabei als bewiesen voraus, dass es in der Ausdehnung keine andere Modifikation gibt als Bewegung und Ruhe, und dass jedes besondere körperliche Ding nur eine bestimmte Proportion von Bewegung und Ruhe ist, und zwar in dem Maße, dass wenn in der Ausdehnung nichts anderes wäre als nur Bewegung oder Ruhe, in der gesamten Ausdehnung kein einziges besonderes Ding aufgewiesen oder existieren könnte. Daher ist denn auch der menschliche Körper nichts andres als eine gewisse Proportion von Bewegung und Ruhe. (KV, Anhang II §14, 127)
Das Ergebnis dieser Überlegung, dass der menschliche Körper seine Identität einer gewissen Proportion oder Regel von Ruhe und Bewegung verdankt, kennen wir bereits aus Spinozas kleiner Physik. Hier wird jedoch deutlich, dass Spinoza Ruhe und Bewegung in diesem individuationstheoretischen Kontext nicht im herkömmlichen Sinne als Eigenschaften (wohlindividuierter) Körper verstehen möchte. Denn zum einen sagt Spinoza hier ausdrücklich, dass Körper bestimmte Proportionen von Ruhe und Bewegungen sind, und nicht, dass sie solche haben oder aufweisen. Zum andern hält er es für vorstellbar, dass „wenn in der Ausdehnung nichts anderes wäre als nur Bewegung oder Ruhe, in der gesamten Ausdehnung kein einziges besonderes Ding aufgewiesen oder existieren könnte.“ Das heißt, dass es auch dann Ruhe und Bewegung geben könnte, wenn kein
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einziges Ding existieren würde. Mithin können Ruhe und Bewegung nicht einfach Eigenschaften von partikulären Körpern sein. Mit diesen negativen Evidenzen dafür, dass Spinoza Ruhe und Bewegung nicht im herkömmlichen Sinne als Eigenschaften von Körper versteht, ist noch nicht viel zur Beantwortung der Frage gewonnen, was Ruhe und Bewegung stattdessen sind. Darüber erhält man aber in Spinozas Kommentierung von Descartes’ Prinzipien Aufschluss. Nachdem er in IIdef8 seiner Darstellung Descartes’ Bewegungsdefinition korrekt als „Überführung eines Teils der Materie, d.h. eines Körpers“ wiedergegeben hat, betont er, dass diese Überführung „nicht verwechselt werden darf […] mit der Kraft oder Tätigkeit, die überführt.“63 Die Größe dieser mit einer Bewegung assoziierten Kraft nennt Spinoza wie Descartes „Größe der Bewegung“ und bestimmt sie als proportional zur Geschwindigkeit und Ausdehnung eines Körpers (DPP 2p22). Spinoza geht jedoch über Descartes hinaus, wenn er darauf hinweist, dass nicht nur bewegende Körper über eine Kraft verfügten, sondern auch ruhende Körper eine Kraft aufwiesen, die Spinoza als „Widerstandskraft“ bezeichnet und bei der es sich um eine „Größe von Ruhe“ handle (DPP 2p22d). Dass es eine solche Kraft gibt, ist für Spinoza unbestreitbar: [G]ewöhnlich glaubt man, dass diese Kraft oder Tätigkeit nur für Bewegung erforderlich sei, nicht aber für Ruhe, was ganz falsch ist. Denn, wie durch sich selbst klar ist, dieselbe Kraft, die erforderlich ist, um bestimmte Grade an Bewegung einem ruhenden Körper zu verleihen, ist auch erforderlich, um diese Grade an Bewegung demselben Körper wegzunehmen und ihn völlig zur Ruhe zu bringen. (DPP 2def8s)
Da es nicht nur der Kraft bedarf, um Körper in Bewegung zu versetzen, sondern auch, um sie zu bremsen, sind sowohl Zustände der Bewegung als auch der Ruhe mit Kräften assoziiert. Mit Hilfe dieser Kraft setzen bewegende Körper ihre Bewegung uneingeschränkt fort, wenn sie denn nicht davon abgehalten werden, und leisten gegen allfällige Hindernisse Widerstand. In den Cogitationes Metaphysicae – dem Anhang zu seiner DescartesDarstellung, in dem Spinoza seine eigenen metaphysischen Thesen skizziert – löst sich Spinoza dann vollständig von Descartes, indem er seine Differenzierung zwischen der Bewegung und deren Ursache – der Kraft aufhebt: „Die Bewegung selbst“, so führt Spinoza aus, „hat eine Kraft, im eigenen Zustand zu verharren, welche Kraft gewiss nichts anderes ist als die Bewegung selbst, der Tatbestand, dass die Natur der Bewegung eben so ist.“64 Eine Bewegung kann nach Spinoza also nicht bloß als geometri-
____________ 63 DPP 2def8s, 73. Soweit folgt Spinoza Descartes, der dies in seinen Prinzipien (II §25, AT VIIIa 54) ebenfalls betont. Siehe auch Kapitel III, S. 175f. 64 CM I.6, 150
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sche Überführung verstanden werden, die einer Kraft oder Ursache bedarf, vielmehr ist sie selbst eine gewisse Kraft. Das heißt aber auch, dass es für Spinoza einen Sinn von „Bewegung“ und „Ruhe“ gibt, demzufolge es sich dabei nicht bloß um Zustände von Körpern handelt, die der Kraft bedürfen, sondern, dass Bewegung und Ruhe selbst gewisse Kräfte sind. Mit dieser Einsicht eröffnet sich eine neue Perspektive auf Spinozas Individuationsproblematik. Sein Vorschlag, die Identität von Körpern über Ruhe und Bewegung zu bestimmen, schien einem einfachen Zirkularitätseinwand ausgesetzt zu sein. Wenn „Ruhe und Bewegung“ nämlich wie üblich Zustände von Körpern bezeichnen, dann setzt ihre Anwendung bereits die Existenz wohlindividuierter Körper voraus und kann folglich nicht zu deren Individuation herangezogen werden. Gemäß den eben untersuchten Textstellen dürfte dieser Einwand Spinoza nicht treffen. Denn nach Spinoza scheinen „Ruhe“ und „Bewegung“ nicht einfach Zustände von Körpern zu bezeichnen, sondern eine Art von Kraft. Diese Kraft wiederum scheint auch nicht (primär) Körpern zuzukommen. In seiner Antwort an Schuller meinte Spinoza ja, Ruhe und Bewegung seien unendliche Modi Gottes, insofern er unter dem Attribut der Ausdehnung erfasst wird. Das legt nahe, dass Ruhe und Bewegung in erster Linie Gottes Kräfte sind – oder ausgedehnte Modifikationen seiner Essenz, die (nach E 1p34) aus reiner Macht besteht. Spinozas Vorschlag, Körper über Ruhe und Bewegung zu individuieren, entgeht dem Zirkularitätseinwand, weil Ruhe und Bewegung Kräfte Gottes, und keine Zustände von Körpern sind, die deren Identität bereits voraussetzen.65 Dass sich Körper aufgrund von Ruhe und Bewegung unterscheiden, könnte nach Spinoza einfach heißen, dass Körper nichts anderes als verschiedene Portionen dieser substantiellen Kräfte sind, und sich folglich in der spezifischen Ausprägung dieser Kräfte unterscheiden. Auch wenn eine solche Interpretation Spinoza vor einem Zirkularitätseinwand bewahrt, lassen sich unmittelbar zwei Vorbehalte gegen sie vorbringen. Zum einen könnte man bemängeln, dass Spinoza in seiner kleinen Physik keine Anstalten macht, um zu verdeutlichen, dass er im Rahmen seiner Individuationstheorie von seinem idiosynkratischen Verständnis von Ruhe und Bewegung ausgeht. Ganz im Gegenteil: In den Axiomen vor dem individuationstheoretischen Hilfssatz (2lem1) behaup-
____________ 65 Diese Möglichkeit sehen sowohl Bennett 1984, 108, als auch Garrett 1994, 8082. Während Bennett aber nicht glaubt, dass Spinoza „Bewegung und Ruhe“ im individuationstheoretischen Zusammenhang in diesem ungewöhnlichen Sinn versteht, ist Garrett optimistischer, geht aber nur sehr knapp auf die Konsequenzen ein, die sich daraus für Spinozas Naturverständnis ergeben. Dies möchte ich hier nachholen.
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tet Spinoza, dass „Körper […] entweder in Bewegung oder in Ruhe“ sind, und „sich bald langsamer, bald schneller“ bewegten. Damit scheint Spinoza in der kleinen Physik also von der traditionellen Bewegungs- und Ruhekonzeption auszugehen, der zufolge diese Phänomene als Eigenschaften von Körpern, und nicht als Kräfte Gottes aufzufassen sind. Mithin scheint der obige Vorschlag Spinoza systematisch zwar offenzustehen, um eine zirkelfreie Individuationstheorie zu liefern, obwohl er ihm selbst nicht gefolgt ist.66 Zum andern ließe sich anführen, dass die Verteidigung von Spinoza gegenüber dem Zirkularitätsvorwurf mit erheblichen ontologischen Konsequenzen verbunden ist. Sollte Spinoza mit der Ruhe und Bewegung, durch die Körper individuiert sind, tatsächlich substantielle Kräfte im Blick haben, müssten letztlich Körper selbst als Ausprägungen solcher Kräfte verstanden werden. Unsere alltägliche Rede bewegender Körper gälte es wohl als sukzessive Modifikationen eines Kraftfeldes zu rekonstruieren. Wie immer das dadurch nahe gelegte Universum Spinozas schließlich im Detail aussehen würde, klar ist, dass es sich radikal von unserer alltäglichen Naturauffassung unterscheiden würde. Wenn Spinoza also Ruhe und Bewegung im Rahmen seiner Individuationstheorie tatsächlich als Kräfte versteht, welche die einzelnen Körper oder endlichen Modi der Ausdehnung konstituieren, müsste sich eine derart ungewöhnliche ontologische These auch in anderen Passagen seines Werks äußern. Während der erste Vorbehalt einen echten Einwand gegen die vorgeschlagene Rettung von Spinozas Individuationstheorie gegen einen Zirkularitätsvorwurf darstellt, handelt es sich beim zweiten um eine Adäquatheitsforderung der oben skizzierten Interpretation. Auf beide Vorbehalte möchte ich der Reihe nach eingehen. Dem ersten lässt sich begegnen, wenn man zwei Punkte bedenkt. Erstens wurde bereits oben deutlich, dass Spinoza den Ausdruck „Bewegung“ [motio] zweideutig verwendet: einmal in Anlehnung an Descartes zur Bezeichnung der lokalen Überführung eines Körpers und einmal für die Kraft, die für eine solche Überführung nötig ist, wie in den Cogitationes Metaphysicae. Geht man wie Spinoza davon aus, dass die res extensa nicht rein passiv verstanden werden darf, ist ein solch begriffliches Changieren zwischen der Bewegung und der Kraft, mit der eine solche Bewegung verbunden ist, auch gar nicht weiter problematisch. Schließlich sind Bewegungen vor diesem Hintergrund einfach Manifestationen physikalischer Kräfte und können nicht ohne sie auftreten. Allerdings wäre es absurd, von Spinozas Substanz zu behaupten, sie bewege sich. Da diese Substanz alles umfasst, umfasst sie auch den gesamten Raum, in dem sich eine Bewegung erst vollziehen könnte. Entsprechend nahe liegend erscheint es,
____________ 66 Dieser Ansicht ist Bennett 1984, 108.
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dass Spinoza nur einzelnen Körpern Bewegungen zuspricht – obschon die Kräfte, die diese Körper konstituieren und somit zu Modifikationen Gottes (unter dem Attribut der Ausdehnung) machen, letztlich die Kräfte der einen Substanz sind. Allein der Umstand, dass Spinoza immer wieder davon spricht, dass sich Körper bewegen, spricht also noch nicht dagegen, dass er meint, diese Körper bestünden aus substantiellen Kräften, die in unterschiedlichen Regionen verschieden stark ausgeprägt sind. Zweitens ist zu beachten, dass Spinozas Individuationstheorie streng genommen zwei Stufen umfasst. Sie handelt zunächst von den einfachsten Körpern, mit Bezug auf die sie anschließend die komplexen oder zusammengesetzten Körper definiert. Nur die aus den einfachsten Körpern zusammengesetzten komplexen Körper nennt Spinoza Individuen.67 Die einfachsten Körper lassen sich nach Spinoza nun „allein aufgrund von Bewegung und Ruhe und des Grades ihrer Geschwindigkeit voneinander unterscheiden.“68 Aus diesen einfachsten Körpern entstehen dann komplexe Körper oder Individuen, wenn „mehrere Körper, von derselben Größe oder auch von verschiedener Größe, von anderen Körpern so zusammengedrängt werden, dass sie aneinander liegen, oder wenn sie, mit demselben Grad oder auch mit verschiedenen Graden von Geschwindigkeit, sich so bewegen, dass sie ihre Bewegung nach einer bestimmten Regel untereinander verknüpfen“ (E 2p13sdef). Diese zweistufige Individuationstheorie Spinozas mag zunächst etwas überraschend anmuten. Sie verliert aber ihren irritierenden Charakter, wenn man sich die ontologische Ausgangslage von Spinozas Theorie vergegenwärtigt. Im Rahmen seiner substanzmonistischen Theorie muss Spinoza nämlich allererst sagen, was es heißt, ein Körper zu sein, der sich bewegen kann. Dem kommt er in seinem ersten Schritt nach, wenn er meint, einfachste Körper seien allein durch Ruhe und Bewegung bestimmt und somit gewisse endliche Ausprägungen unendlicher Modi der ausgedehnten Substanz.69 Auf der Grundlage dieses Körperbegriffs, kann Spinoza dann in einem zweiten Schritt sagen, wodurch sich komplexe Körper – d.h. Individuen im strengen Sinne – auszeichnen. Da er bereits gesagt hat, was einfachste Körper sind, kann er komplexe Körper nun als Zusammen-
____________ 67 So in 2p13sdef, 133; vgl. auch 2ax’3, 133. 68 2ax’2, 133; meine Hervorhebung. 69 Dass Spinoza von „einfachsten Körpern“ [corpora simplicissima] spricht, könnte einen denken lassen, Spinoza sei Atomist, dem zufolge es kleinste (und daher unteilbare) Materiepartikel gäbe, aus denen alles zusammengesetzt ist. Dieser Eindruck trügt aber, da diese kleinsten Körper Spinozas wie alle Körper nicht real voneinander verschieden sind, wie es Atome wären, sondern nur modal (vgl. dazu besonders 1p15s, 39f.).
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setzungen dieser einfachsten Körper beschreiben, die ein gewisses Verhältnis von Ruhe und Bewegung aufweisen. Spinozas zweistufige Individuationstheorie kann damit durchaus als Beleg dafür gewertet werden, dass er sich dem Zirkularitätsproblem der cartesischen Körperdefinition bewusst war, und daher in einem ersten Schritt die einfachsten Körper als endliche Ausprägungen der substantiellen Kraft oder Kraft-Quanta70 unter dem Attribut der Ausdehnung charakterisiert, auf deren Grundlage sich dann in einem zweiten Schritt die komplexen Körper oder eigentlichen Individuen als Zusammensetzungen einfachster Körper bestimmen lassen, die eine gewisse Regel von Ruhe und Bewegung aufweisen. Ein genauer Blick auf Spinozas Individuationstheorie zeigt also, dass die oben vorgeschlagene Lösung des Zirkularitätsproblems durchaus Spinozas eigene Lösung gewesen sein könnte. Wie steht es mit dem zweiten oben formulierten Vorbehalt? Gibt es irgendwelche Hinweise dafür, dass Spinoza tatsächlich davon ausging, dass einzelne Körper letztlich aus göttlichen Kräften oder Macht-Portionen bestehen? Die gibt es. Der erste und deutlichste stammt aus Spinozas Definition des Körpers, die lautet: Unter Körper verstehe ich einen Modus, der Gottes Essenz, insofern sie als ein ausgedehntes Ding angesehen wird, auf bestimmte und geregelte Weise ausdrückt […]. (E 2def1)
Ein Körper drückt also Gottes Essenz unter dem Attribut der Ausdehnung aus. Wie Spinoza in 1p34 betont, ist „Gottes Macht […] genau seine Essenz.“ Folglich ist ein Körper nichts anderes als ein Modus, der Gottes Macht, insofern sie unter dem Attribut der Ausdehnung erfasst wird, auf bestimmte und geregelte Weise ausdrückt. Damit ist allerdings erst gewonnen, dass die Körper Gottes Macht auf eine bestimmte und geregelte Weise ausdrücken – und nicht, dass sie endliche Portionen dieser Macht sind, wie es die obige Interpretation verlangt. Ob dieser Übergang von dem Umstand, dass Körper Gottes Macht ausdrücken, darauf, dass Körper selbst Portionen dieser Macht sind, zulässig ist, muss sich in einer Analyse von Spinozas Begriff des Ausdrückens [exprimere] erweisen. Leider definiert Spinoza diesen Begriff nicht eigens. Dennoch spielt er in seiner Philosophie eine zentrale Rolle: Sowohl die einzelnen Modi (E 1p25s) als auch die unendlich vielen Attribute (E 1def6) drücken Gottes Essenz aus.71 Aber was heißt es genau, dass x ein y ausdrückt? Ein erster
____________ 70 In der Auffassung einfachster Körper als Kraft-Quanta folge ich Viljanen 2008a, 408, der sie als „rudimentary intensifications of spatial power, or extended power quanta, that invariably change place“, beschreibt. 71 Das hat sich G. Deleuze 1993 besonders zu Herzen genommen, der seine Spinoza-Interpretation ausgehend einer Analyse des Ausdrucks entwickelt. Erhellende
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Hinweis darauf ergibt sich daraus, dass Spinoza seine These, dass die einzelnen Modi Gottes Attribute ausdrücken (E 1p25s), unter anderem mit einem Verweis auf E 1p15 begründet. Dort steht, dass „nichts […] ohne Gott sein oder begriffen werden“ kann, dass also alles sowohl in kausaler als auch in begrifflicher Weise von Gott abhängig ist. Das legt nahe, dass Ausdruck für Spinoza sowohl etwas mit Kausalität als auch mit Begreifen zu tun hat. In einer ersten Annäherung lässt sich also sagen, dass die Bedeutung von Spinozas Rede des Ausdrucks durch folgendes Schema festgelegt ist.72 (Ex)
‚x drückt y aus’ l ‚x wird durch y begriffen und x wird durch y verursacht’73
„Von Dingen, die nichts miteinander gemein haben,“ so führt Spinoza in der fünften Definition des ersten Teils der Ethik aus, „kann auch nicht das eine durch das andere erkannt werden; anders formuliert, der Begriff des einen schließt den anderen nicht ein.“ Diese Definition (E 1def5) ist der zweite Verweis, mit Bezug auf den Spinoza seinen Lehrsatz E 1p25s begründet, demzufolge Modi Gottes Attribute ausdrücken. Aus dieser Definition geht hervor, dass etwas nur durch etwas anderes begriffen werden kann, wenn sie auch etwas gemein haben. Mithin muss x auch etwas mit y gemein haben, wenn x y ausdrückt.74 Ein zeitgenössischer Begriff, der diese drei Aspekte von Spinozas Ausdrucksrelation einigermaßen umfasst, erscheint mir der Begriff der Manifestation zu sein. Das lässt sich anhand eines einfachen medizinischen Beispiels illustrieren: Man sagt, eine Infek-
____________ Ausführungen zu diesem Begriff bei Spinoza finden sich bei Lin 2003, 29-33, und Viljanen 2008b, 101-104. 72 Die begriffliche Komponente von Spinozas Ausdrucksrelation ergibt sich zudem aus dem Beweis von E 1p20, in dem er von der Rede, dass jedes Attribut Gottes Essenz ausdrückt [exprimit], dazu übergeht, dass Attribute Gottes Essenz erklären [explicant]. 73 Die Verursachungsbedingung neben der Begreifensbedingung zu nennen, mag Spinoza-Experten redundant erscheinen: Schließlich geht Spinoza ja von einem engen Verhältnis zwischen begrifflichen und kausalen Zusammenhängen aus, wie eine Reihe von Interpreten immer wieder gezeigt haben. Vgl. etwa Bennett 1984, 29-32, oder Garrett 2002, 136; siehe auch Anm. 8. Trotzdem halte ich es für hilfreich, beide Bedingungen anzuführen – nicht zuletzt deshalb, weil mir die Ausdrucksrelation für Spinoza die basale Relation zu sein scheint, die erklärt, warum Verursachung und Begreifen ko-extensional sind. Dagegen jedoch Viljanen 2008b, 102, Anm. 31. 74 Diesen Aspekt hebt Viljanen 2008b, 102, hervor, und liefert folgende Charakterisierung: „[A] central feature of the expressive relationship is that, if Y expresses X, Y is, of course, in some way different from X, but still in such a manner that Y retains or preserves the basic character or nature of X.“
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tion von Masernviren manifestiere sich in Masern – also einem typischen Hautausschlag. Masernviren stehen dabei sowohl in einem begrifflichen als auch in einem kausalen Verhältnis zu diesem Hautausschlag. Begrifflich, weil Masernviren eben nur so heißen, weil sie Masern verursachen, und kausal, weil sie diese verursachen. Damit sind Masern nicht etwas, das man unabhängig von einer Infektion von Masernviren haben könnte, wie sich auch Masernviren nur dadurch als Masernviren auszeichnen, dass sie symptomatisch zu Masern führen; zudem sind die Infektion von Masernviren und das Aufweisen des typischen Ausschlags Teil derselben Krankheit und haben insofern etwas miteinander gemein. Spinozas Begriff des Ausdrucks lässt sich also durch folgendes Schema präzisieren: (Ex’)
‚x drückt y aus’ l ‚y manifestiert sich in x’75
In diesem Ausdrucksverständnis spiegelt sich nicht zuletzt Spinozas emanative Kausalitätskonzeption wieder, die wir bereits im Rahmen seiner Kritik an den Finalursachen angetroffen haben.76 Dieser Konzeption zufolge bringt eine Ursache ihre Wirkung dadurch hervor, dass sie sich (aufgrund ihrer Essenz oder Natur) gleichsam in diese Wirkung ergießt und sich infolgedessen in dieser Wirkung manifestiert.77 Daher drückt eine Wirkung auch ihre Ursache aus und entsprechend hängt die „Erkenntnis einer Wirkung […] von der Erkenntnis der Ursache ab und schließt diese ein“ (E 1ax4). Damit können wir zu den Modi zurückkehren, die Gottes Macht oder Essenz in bestimmter und geregelter Weise ausdrücken. Nach Spinoza dürfte das bedeuten, dass sich Gottes Macht oder Essenz unter einem bestimmten Attribut in bestimmten Modi manifestiert. Als endliche Manifestationen von Gottes Macht erweisen sich diese Modi als Teile oder Portionen von Gottes Macht. Damit ist es alles andere als erstaunlich, dass Spinoza davon ausgeht, dass die einfachsten Körper nichts anderes als
____________ 75 Dass Spinozas Ausdrucksrelation als eine Manifestationsrelation verstanden werden kann, zeigt sich auch darin, dass Spinoza im TdIE §76, Anm. 1, betont, die Attribute Gottes würden dessen Essenz anzeigen [ostendunt]. 76 Eine ausführliche Rekonstruktion dieses Kausalitätsmodells findet sich in Viljanen 2008a, 423-428. 77 Spinoza bedient sich hierzu auch explizit emanativen Vokabulars – etwa wenn er anführt, dass „aus Gottes höchster Macht, d.h. aus seiner unendlichen Natur, unendlich Vieles auf unendlich viele Weisen geflossen ist [effluxisse], anders formuliert, immer mit derselben Notwendigkeit und auf dieselbe Weise folgt, wie aus der Natur eines Dreiecks von Ewigkeit her folgt, dass seine drei Winkel gleich zwei rechten sind.“ (1p17c2s, 45) Wie aus der Definition eines Dreiecks folgt, dass es eine Innenwinkelsumme von 180° aufweist, folgen aus der Essenz von Dingen ihre Wirkungen.
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endliche Ausprägungen einer göttlichen Kraft sind, wie es durch eine Interpretation nahe gelegt wird, die Spinozas Individuationstheorie vor der Zirkularität bewahren will. Weitere Bestätigung dafür, dass Spinoza ein Bild vor Augen schwebt, nach dem einzelne Körper als eine Art Ausprägung homogener göttlicher Kraft oder Macht zu verstehen sind, erhält man aus Spinozas ausführlicher Diskussion, dass Gott auch das Attribut der Ausdehnung zukommt in E 1p15s. Traditionellerweise wurde dieses Attribut für Gottes unwürdig erachtet, da Ausgedehntes ja teilbar ist, was man für unvereinbar mit der Perfektion und damit verbundenen Einfach- und Einheit Gottes hielt. Auf diese traditionellen Vorbehalte reagierte Spinoza mit einem anschaulichen Vergleich: ‹Es ist zu berücksichtigen›, dass die Materie überall dieselbe ist und Teile sich in ihr nur insofern unterscheiden lassen, als wir die Materie als in verschiedener Weise affiziert begreifen, worin ihre Teile nur modal, nicht aber real unterschieden sind. Beispielsweise begreifen wir, dass Wasser insofern es Wasser ist, sich teilen lässt und dass sich seine Teile voneinander trennen lassen, nicht aber, insofern es körperliche Substanz ist; in dieser Hinsicht lässt es sich nämlich weder teilen noch trennen. Ferner, insofern es Wasser ist, entsteht und vergeht Wasser; doch insofern es Substanz ist, entsteht es und vergeht es nicht.“ (E 1p15s, 39)
Die Materie als Ganzes ist wie Wasser (im mesoskopischen Bereich) nicht in real verschiedene Teile – d.h. etwa in Wasserteil1, Wasserteil2, und Wasserteil3 – zergliederbar. Sie ist lediglich modal unterschieden – wie auch Wasser nur in unterschiedliche Portionen von Wasser zergliederbar ist, ohne dass dabei das Wasser selbst zergliedert würde. Von den einzelnen Modi der Ausdehnung lässt sich zwar sagen, dass sie entstehen oder vergehen, nicht aber von der ausgedehnten Substanz als ganzer – genauso wie Wasser, aus dem gewisse Wasserportionen bestehen, weder entsteht noch vergeht, wenn man solche Portionen bildet resp. verschüttet. Von Gott oder der Substanz zu sagen, er oder sie sei ausgedehnt, impliziert also in keiner Weise seine oder ihre reale Teilbarkeit. Damit sind die theologischen Bedenken gegen einen solchen Zug unbegründet.78 Ausgehend von dieser Passage hat Jonathan Bennett überzeugend für eine feld-
____________ 78 Zudem gelingt es damit Spinoza, eventuelle ontologische Bedenken auszuräumen, auf die wir im nächsten Kapitel bei Leibniz wieder treffen werden. So wurde eine Substanz in der frühen Neuzeit generell als ontologisch unabhängige Entität verstanden – das heißt als etwas, das unabhängig von anderem existieren kann (vgl. etwa Descartes’ Prinzipien I §51, AT VIIIa 25, oder Spinozas Ethik 1def3). Wenn aber etwas Teile hat, dann hängt es von der Existenz seiner Teile ab und ist entsprechend nicht länger ontologisch unabhängig. Das sah auch Spinoza so und argumentierte auf dieser Grundlage (in den CM II 5, 162f.) für die Einfachheit Gottes.
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metaphysische Substanz-Interpretation plädiert,79 die er wie folgt zusammenfasst: The field metaphysics does, in a fairly clear sense, make particular extended things adjectival regions of space. A blush is adjectival on a face because the existence of the blush is the face’s being red; and a pebble is adjectival upon space because the existence of the pebble is space’s being thus and so. (Bennett 1984, 95)
Wenn wir über Körper – z.B. über einen gewissen Stuhl – sprechen, so sprechen wir nach Spinoza streng metaphysisch lediglich über gewisse Modifikationen der einen Substanz. Wir sagen, die eine Substanz sei (unter dem Attribut der Ausdehnung) so und so beschaffen – etwa stuhlartig. Entsprechend dürfen auch Aussagen über Stühle nach Spinozas modalem Körperverständnis nicht so verstanden werden, dass man in diesen Aussagen im strengen Sinne über Stühle redet und über diese quantifiziert. Solche Aussagen müssen vielmehr als solche analysiert werden, die von einer bestimmten Beschaffenheit der einen Substanz handeln. ‚Dieser Stuhl ist 1m hoch’ heißt etwa ‚Die Substanz weist hier eine stuhlartige Ausprägung von 1m Höhe auf’; oder ‚Dieser Stuhl bewegt sich von A nach B’ müsste in die Aussage ‚Die stuhlartige Ausprägung der Substanz an der Stelle A verschiebt sich kontinuierlich nach B’.80 Nach Spinozas feld-metaphysischem Substanzverständnis ist Bewegung im strengen metaphysischen Sinne also nicht als Zustand eines Körpers aufzufassen: Dass sich ein gewisser Körper bewegt, heißt nur, dass sich gewisse Ausprägungen der ausgedehnten Substanz in kontinuierlicher Weise verschieben.81 Damit wird deutlich, dass sich Spinozas feld-metaphysische Substanz-Konzeption hervorragend mit der obigen Rekonstruktion seiner Individuationstheorie ergänzt, für die es entscheidend ist, dass Spinoza Ruhe und Bewegung
____________ 79 Siehe Bennett 1984, 92-106, und Bennett 2001, 140-145. 80 Einige Interpreten (wie etwa P. Stoichita 2008, 36-45, und Y. Melamed 2009, 49-61) haben meines Erachtens überzeugend dafür argumentiert, dass Spinozas Ontologie tropentheoretisch verstanden werden kann und er folglich davon ausgeht, dass es letztlich nur partikuläre Eigenschafen (d.i. tropes) gibt. Schlösse man sich dieser Deutung an, ließen sich die obigen Sätze noch weiter analysieren, so dass sie nicht einmal mehr über eine Substanz quantifizieren, die gewisse Modifikationen hat, sondern lediglich Aussagen über partikuläre Eigenschaften treffen. Die beiden Sätze hießen dann: ‚Hier findet sich eine Stuhlartigkeit von 1m Höhe’ oder ‚Diese Stuhlartigkeit findet sich sukzessive zwischen den Stellen A und B’. 81 Bennett 1984, 89f., liefert hierfür den instruktiven Vergleich mit dem Frost, der übers Land zieht: „When a thaw moves across a countryside, as we say, nothing really moves; there are just progressive changes in which bits of the countryside are frozen and which are melted. Analogously, Spinoza’s view is that the movement of things or stuff is, deep down, the passing along of something qualitative – a change in which regions are F and which are not, for suitable values of F.“
Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie
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eben nicht im traditionellen Sinn als Zustände von Körpern auffasst. Das durch diese Rekonstruktion nahe gelegte Bild von Körpern als endliche Manifestationen göttlicher Kräfte kann zudem als nähere Bestimmung von Spinozas ziemlich allgemeinem feld-metaphysischen Substanzverständnis verstanden werden, das er in E 1p15s skizziert. Spinozas Gott, dessen Essenz in reiner Macht besteht, erweist sich als eine Art Kraftfeld, das sich unter verschiedenen Attributen manifestiert. Unter dem Attribut der Ausdehnung manifestiert sich Gottes Macht in Form von Spinozas beiden basalen Kräften der Ruhe – d.h. nach DPP 2p22d in Form der Widerstandskraft – und der Bewegung. Einzelne Körper sind Modifikationen dieses Kraftfelds oder bestimmte Ausprägungen dieses Felds. Dabei dürfte ihre Undurchdringlichkeit auf das Maß der Ausprägung der allgemeinen Widerstandskraft und ihr Bewegungsvermögen auf das Maß der Ausprägung der Bewegungskraft zurückzuführen sein.82 Auch wenn Spinoza seine naturphilosophischen Ansichten nie in dieser zugespitzten Form expliziert, so scheint er mir schon allein aufgrund seiner Thesen, dass Gottes Essenz in reiner Macht besteht (E 1p34) und Körper diese Essenz auf eine bestimmte und geregelte Weise unter dem Attribut der Ausdehnung ausdrücken (E 1p25s), auf eine Variante des eben ausgeführten dynamischen res extensa-Verständnisses festgelegt zu sein.83 Dieses Verständnis erlaubt es Spinoza nicht zuletzt, eine befriedigende Theorie der Individuation sowie der Bewegung von Körpern anzubieten, für deren Versäumnis er Descartes mit seiner rein passiven res extensa-Konzeption gerügt hat. Auf dieser naturphilosophischen Grundlage lässt sich im nächsten Abschnitt nun in einem ersten Schritt Spinozas conatus-Doktrin rekonstruieren und in einem zweiten Schritt überprüfen, inwiefern dieses natürliche Streben von Dingen geeignet ist, um unserer teleologischen Rede gerecht zu werden.
Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie „Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren.“ (E 3p6) So lautet Spinozas conatus-Doktrin. Diese betrifft insbesondere den Menschen, dessen Tun wie das eines jeden anderen Einzel-
____________ 82 Eine ausführliche und engagierte Diskussion dieser kraftfeld-metaphysischen Substanzkonzeption Spinozas gibt Viljanen 2007. 83 Bereits in den CM II 3, 158, schrieb Spinoza: „Gottes Macht ist von seiner Essenz nicht unterschieden“, und führte rhetorisch an, „als ob die Macht Gottes von all seinen Attributen, d.h. von seiner unendlichen Essenz, unterschieden wäre, während sie tatsächlich gar nichts anderes sein kann.“
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dinges (zumindest teilweise)84 auf sein eigentümliches Streben zurückgeführt werden muss. Im Rahmen dieses naturalistischen Projekts schlägt Spinoza vor, das teleologische Vokabular, mit Hilfe dessen wir dieses Tun üblicherweise beschreiben, in Begriffen des conatus zu analysieren. Spinozas Bemühen um eine Naturalisierung menschlicher Handlungen wirft mindestens zwei Fragen auf, die ich in diesem Abschnitt angehen möchte: Warum weist nach Spinoza jedes Einzelding naturgemäß ein Streben nach Selbsterhaltung auf? Und inwiefern kann Spinoza mit Rekurs auf dieses Streben eine Analyse teleologischer Handlungserklärungen anbieten? Auf die erste dieser beiden Fragen antwortet Spinoza direkt im Beweis seiner conatus-Doktrin. Er schreibt: Einzeldinge sind nämlich Modi, von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden (nach 1p25s), d.h. (nach 1p34) Dinge, die die Macht Gottes, durch die Gott ist und handelt, auf bestimmte und geregelte Weise ausdrücken; und kein Ding hat etwas in sich, von dem es zerstört werden könnte oder das seine Existenz aufhöbe (nach 3p4); vielmehr steht es allem, was seine Existenz aufheben kann entgegen (nach 3p5); mithin strebt es, so viel es kann, d.h. gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren. Q.E.D. (E 3p6d)
Dieser Beweis lässt sich in zwei Teile zergliedern. Im ersten Teil – der sich bis zum ersten Semikolon erstreckt – bezieht sich Spinoza auf Lehrsätze des ersten Teils der Ethik, auf die wir bereits im letzten Abschnitt gestoßen sind. Spinoza argumentiert zuerst dafür, dass Einzeldinge überhaupt ein Streben aufweisen – und nicht einfach passiv sind, wie es etwa Descartes’ Körper wären. Erst im zweiten Teil dieses Beweises bestimmt Spinoza dieses Streben genauer. Auf der Grundlage der Lehrsätze, die seiner conatus-Doktrin unmittelbar vorangehen, weist er nach, dass die Dinge danach streben, ihre Existenz zu erhalten oder in ihrem Sein zu verharren.85
____________ 84 Menschliche Handlungen gehen nur teilweise auf sein conatus zurück, weil der Mensch als endliches Wesen immer wieder von äußeren Ursachen in seinem Tun bestimmt ist (nach E 4a). Er ist damit nicht rein aktiv und entsprechend können nicht alle seine Handlungen auf seinen mit seiner Essenz verbundenen conatus zurückgeführt werden (vgl. etwa E 4p4). 85 Wie Lin 2003, 25f., treffend ausführt, vernachlässigen die meisten SpinozaKommentatoren den ersten Teil von Spinozas Beweis der conatus-Doktrin und versuchen, diesen allein mit Rekurs auf die ihr vorangehenden Lehrsätze E 3p4 und 3p5 zu rekonstruieren. Da dies nicht gelingt, halten sie Spinozas Argument für „glaringly fallacious“ (Bennett 1984, 242). Dagegen wandte Lin 2003, 22, ein, „Spinoza offers not one but two arguments in favor of the conatus“. Während er das erste Argument ebenfalls für fehlerhaft hält, meint er (ebd.), „the second argument is much stronger and ultimately more important for Spinoza.“ Meiner Auffassung nach liefert Spinoza nicht zwei Argumente für seine conatus-Doktrin –
Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie
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Vor dem Hintergrund der im letzten Abschnitt rekonstruierten naturphilosophischen Ansichten Spinozas leuchtet der erste Teil seines Beweises der conatus-Doktrin unmittelbar ein: Dinge verfügen deshalb über ein ihnen eigentümliches Streben, weil sie nichts anderes als Modifikationen Gottes sind und als solche seine Macht auf eine bestimmte Weise ausdrücken. Während Gott reine Macht ist, sind Einzeldinge endliche Portionen dieser Macht und verfügen entsprechend über ein gewisses Maß an Aktivität oder Streben. Damit ist jedoch erst gezeigt, dass Einzeldinge eine aktive Kraft besitzen, mittels derer sie gewisse Dinge hervorbringen können. Was sie mit Hilfe ihrer Kräfte allerdings hervorzubringen streben, bleibt noch unbestimmt. Dies klärt Spinoza im zweiten Teil seines Beweises, in dem er sich auf die Lehrsätze E 3p4 und 3p5 bezieht. Der erste dieser beiden Lehrsätze besagt, dass „[k]ein Ding […] anders als von einer äußeren Ursache zerstört werden“ (E 3p4) kann, was Spinoza für „durch sich selbst evident“ hält: [D]ie Definition eines jeden Dinges bejaht nämlich die Essenz des Dinges, verneint sie aber nicht, anders formuliert, sie setzt die Essenz des Dinges, hebt sie aber nicht auf. Solange wir demnach nur auf das Ding selbst und nicht auf äußere Ursachen achten, werden wir in ihm nichts finden können, das es zerstören könnte. Q.E.D. (E 3p4d)
Die Essenz eines Dinges ist für Spinoza das, „mit dessen Gegebensein das Ding notwendigerweise gesetzt, und mit dessen Aufhebung das Ding notwendigerweise aufgehoben wird“ (E 2def2). Die Essenz eines Dinges wird durch seine Definition ausgedrückt – sie „bejaht nämlich die Essenz des Dinges“ – und ist das, was dieses Ding ist.86 Damit kann die Essenz eines Dinges nichts enthalten, was diesem Ding widerspricht oder es aufhöbe; schließlich wird ein Ding durch seine Essenz „notwendigerweise gesetzt“.87
____________ von denen nur eines gut ist –, sondern führt nur ein Argument an, das aber zwei Teile aufweist, die unterschiedliche Aspekte seiner conatus-Doktrin beweisen. 86 Streng genommen stellt Spinoza zwei Bedingungen an eine adäquate Definition eines (geschaffenen) Dinges: Erstens muss die Definition eine genetische sein und Aufschluss über dessen Entstehen oder Konstruktion geben, indem sie seine „nächste Ursache“ nennt. Zweitens muss sie „so beschaffen sein, dass man alle Eigenschaften dieses Dinges, sofern es für sich allein, nicht aber als mit anderen Dingen verbunden betrachtet wird, aus ihr herleiten kann“ (TdIE §96). Ein definierbares Ding ist mehr als bloß möglich (in dem Sinne, dass seine Definition keinen Widerspruch mit einschließt). Es ist sogar konstruierbar und kann durch eine nächste Ursache hervorgebracht werden, die in seiner Definition genannt wird. 87 Hierzu fallen einem Gegenbeispiele ein: Was ist etwa mit einer Zeitbombe, deren Definition oder Essenz mit einschließt, dass sie sich nach 15 Stunden selbst zerstören wird? Wahrscheinlich würde Spinoza die Möglichkeit einer solchen Definition resp. Essenz, die zeitliche Aspekte umfasst, aus begrifflichen Gründen zu-
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Damit wird ein Ding aufgrund seiner Essenz oder inneren Ursachen nicht danach streben, sich selber zu zerstören. „[V]ielmehr steht es allem, was seine Existenz aufheben kann, entgegen“ (E 3p6d). An dieser Stelle geht Spinoza von der Aussage, dass ein Ding aufgrund seiner Essenz nicht danach strebt, sich zu zerstören, auf die viel stärkere These über, dass dieses Ding danach strebt, sich all dem zu widersetzen, was seine Existenz aufheben kann. Für diesen Übergang wurde Spinoza immer wieder gerügt.88 Zwar führt Spinoza in E 3p5 aus, dass „Dinge von […] entgegengesetzter Natur sind […], insoweit das eine das andere zerstören kann“, aber daraus allein folgt nicht, dass sich ein Ding auch aktiv all jenem entgegensetzt, was es zerstören kann. E 3p5 macht zunächst einfach eine logische Aussage über die Inkompatibilität der Essenzen von Dingen, die einander aufheben oder zerstören können, während Spinoza diese logische Aussage im Beweis seiner conatus-Doktrin (E 3p6d) als kausale auffasst und argumentiert, jedes Dinge würde aufgrund seiner Essenz sich all dem entgegensetzen, was es zerstören könnte. Dieses Problem hat Valtteri Viljanen wie folgt auf den Punkt gebracht: So the problem can be put as follows: if EIIIP5 is taken to mean that from no definition items in logical contradiction can be derived, there is no way to squeeze the opposition thesis of EIIIP6 out of EIIIP5 alone, for a completely different sort of opposition pertains to EIIIP6. (Viljanen 2008b, 98)
Während in E 3p5 von logischer Opposition die Rede zu sein scheint (Essenzen von Dingen, die einander zerstören oder aufheben können, sind inkompatibel), geht Spinoza in E 3p6 von einer kausalen Opposition zwischen Dingen aus, die einander zerstören können (ein Ding widersetzt sich seinen Zerstörern). Vor dem Hintergrund von Spinozas oben rekonstruierter essentialistisch-emanativer Kausalitätskonzeption (K) erweist sich dieser Übergang jedoch als unproblematisch: Diesem Kausalitätsverständnis zufolge bringt ein Ding x ja genau dann ein Ding y (auf kausale Weise) hervor, wenn y (logisch) aus der Essenz von x folgt. Wenn also y aus der Essenz von x folgt, verfügt x über das kausale Vermögen oder die Macht [potentia], y hervorzubringen, und wird diesem Vermögen notwendigerweise nachkommen – sofern es nicht von mächtigeren Dingen an der Ausübung dieses Vermögens gehindert wird. Nehmen wir nun an, y könne x zerstören. Dann hat y das Vermögen, x zu zerstören, was Spinozas Kausalitätstheorie zufolge darin begründet liegt, dass die Essenz von y die Existenz
____________ rückweisen: Spinoza zufolge wird „die Essenz eines Dinges als eine ewige Wahrheit begriffen und kann deshalb nicht durch Dauer oder Zeit erklärt werden“ (1def8ex). Eine alternative Lösung gibt Della Rocca 2008a, 141-143. 88 So etwa von Garber 1988, 61, Della Rocca 1995, 218f., und Lin 2003, 28f.
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von x ausschließt, die Essenz von y also non-x impliziert. Damit sind die Essenzen x und y inkompatibel und die beiden Dinge sind von entgegen gesetzter Natur, genauso wie dies Spinoza in E 3p5 behauptet. Wenn aber die Essenz von y non-x impliziert, dann impliziert umgekehrt die Essenz von x non-y. Mithin hat auch x das Vermögen, y zu zerstören, und strebt, soviel an ihm liegt, danach, sich y entgegenzusetzen, genauso wie Spinoza im Beweis seiner conatus-Doktrin (E 3p6d) ausführt. Unter der Berücksichtigung von Spinozas essentialistisch-emanativer Kausalitätskonzeption (K) erweist sich sein Übergang von der Annahme, dass zwei Dinge (logisch) entgegen gesetzter Natur sind, zur Annahme, dass diese Dinge (kausal) danach streben, einander zu zerstören, als unproblematisch und der Beweis seiner conatus-Doktrin stellt sich als gültig heraus.89 Die tiefe Verwurzelung von Spinozas conatus-Lehre in seinem Kausalitätsverständnis zeigt sich jedoch nicht nur darin, dass man auf dieses Verständnis zurückgreifen muss, um seinen Beweis für diese Lehre zu rekonstruieren. Sie wird auch im Beweis ihres Folgesatzes E 3p7 deutlich, in dem Spinoza das Streben nach Selbsterhaltung eines jeden Dinges mit dessen Essenz identifiziert. Spinoza schreibt: Aus der gegeben Essenz eines jeden Dinges erfolgt notwendigerweise einiges (nach 1p36), und Dinge können nichts anderes als das, was aus ihrer bestimmten Natur notwendigerweise folgt (1p29); die Macht jedes Dinges, anders formuliert das Streben, mit dem es, entweder allein oder zusammen mit anderen handelt oder zu handeln strebt, d.h. (nach 3p6) die Macht oder das Streben, mit dem es in seinem Sein zu verharren strebt, ist daher nichts anderes als die gegebene oder wirkliche Essenz ebendieses Dinges. Q.E.D. (E 3p7d)
Einzeldinge sind als Modi der einen Substanz, deren unendliche Macht sie auf bestimmte und geregelte Weise ausdrücken, mit einem bestimmten Maß an Macht versehen, vermöge derer sie aktiv danach streben, alles, was in ihrer Essenz gleichsam implizit enthalten ist (d.h. von ihrer Definition impliziert wird) zu verwirklichen.90 Insbesondere widersetzen sich Einzeldinge damit allem, was ihrer eigenen Existenz entgegensteht, und Streben folglich danach, in ihrem Sein zu verharren. Da dieses Streben nach Selbsterhaltung durch die Essenz jedes Dinges festgelegt ist, scheint es auch nicht abwegig, das Streben nach Selbsterhaltung eines Dinges mit dessen Essenz zu identifizieren, wie es Spinoza hier tut: Spinozistisch ge-
____________ 89 Auch Viljanen 2008b, 106, meint: „things exercise power as their definition states, according to their definitions, and thus bringing in the idea of things as expressers of power enables Spinoza to convert logical oppositions into real ones.“ 90 Entsprechend betont Spinoza in seinem Politischen Traktat (II §2), „dass die Macht der natürlichen Dinge, durch die sie existieren und durch die sie folglich tätig sind, keine andere sein kann, als genau Gottes ewige Macht.“
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
sprochen, ist der conatus jedes Dinges nichts anderes als der Ausdruck seiner Essenz. Damit ist die Frage, warum Spinoza meint, dass jedes Einzelding naturgemäß über einen conatus oder ein Streben nach Selbsterhaltung verfügt, beantwortet. Es gilt zur zweiten der oben gestellten Fragen zurückzukommen: Inwiefern eignet sich dieser conatus-Begriff tatsächlich, um unsere teleologische Rede zu fundieren, wie es Spinoza vorschwebt? Spinozas eigenem Vorschlag zufolge ist der „Zweck, um dessentwillen wir etwas tun“, nichts anderes als unser „Trieb“ (E 4def7), d.h. unser conatus, insofern er sich „auf den Geist und zugleich auf den Körper“ bezieht (E 3p9s) und sich entsprechend unter dem Attribut des Denkens wie der Ausdehnung manifestiert. Damit kann nun, wie oben gesehen, unsere teleologische Rede auf eine Rede über das Streben der entsprechenden Dinge zurückgeführt werden. Doch wie sieht eine solche Rückführung im Detail aus? Hierfür lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf Spinozas eigenes Beispiel zu werfen: Wenn wir z.B. sagen, das Bewohnen war die Zweckursache dieses oder jenes Hauses, dann verstehen wir darunter doch wohl nichts anderes, als dass ein Mensch, weil er sich die Annehmlichkeit des häuslichen Lebens vorstellte, einen Trieb hatte, ein Haus zu bauen. Demnach ist das Bewohnen, insofern es als eine Zweckursache angesehen wird, nichts weiter als dieser einzelne Trieb, der der Sache nach eine bewirkende Ursache ist […]. (E 4praef, 377)
Ein Satz der Form ‚S baut ein Haus, um darin zu wohnen’ ist nach Spinoza so zu verstehen, dass (1) S sich denkt, es sei angenehm, ein Haus zu bewohnen, damit (2) den Trieb aufweist, ein Haus zu bewohnen, der verursacht, dass (3) S ein Haus baut. Es ist anzunehmen, dass zwischen Schritt (1) und (2) kein kausales Verhältnis besteht, wie man angesichts Spinozas Verwendung von „weil“ [quod] im obigen Zitat zunächst denken könnte. Denn Spinoza betont in E 3p9s, „dass wir etwas weder erstreben, noch wollen, weder nach ihm verlangen, noch es begehren, weil wir es für gut halten; im Gegenteil wir halten etwas für gut, weil wir es erstreben, es wollen, nach ihm verlangen und es begehren.“ Entsprechend ist das Unterhalten einer Pro-Einstellung gegenüber einer Sache nach Spinoza nichts anderes als das mentale Korrelat des Strebens nach dieser Sache unter dem Attribut des Denkens, und verursacht dieses Streben nicht.91 Mithin
____________ 91 Das äußert sich auch darin, dass affektive Zustände nach Spinoza in zwei Komponenten zerfallen, wie sich bereits in seiner Definition (E 2def3) der Modi des Denkens zeigt: „Modi des Denkens, wie Liebe, Begierde oder was sonst noch mit dem Ausdruck Affekte des Gemüts bezeichnet wird, gibt es nur, wenn es in demselben Individuum die Idee des geliebten, begehrten usw. Dinges gibt.“ Affektive Zustände sind also erstens in einen besonderen Gehalt und zweitens in eine besondere affektive Einstellung zu diesem Gehalt zu analysieren. Der Gehalt ist
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drückt (2) lediglich in metaphysischer Strenge aus, was in (1) im alltagssprachlichen Idiom gesagt ist. Damit lässt sich Spinozas Übersetzungsvorschlag in folgendem Analyse-Schema festhalten: (AS)
‚S tut ) um Z willen’ l ‚S weist einen conatus nach Z auf & S’ conatus nach Z verursacht S’ )en’
Mit Hilfe dieses Schemas können teleologische Sätze, mit denen wir typischerweise menschliche Handlungen beschreiben, auf Aussagen zurückgeführt werden, die nicht mehr von Zielen oder Zwecken handeln, sondern von Trieben. Da ein Trieb „der Sache nach eine bewirkende Ursache ist“, muss für die Analyse teleologischer Aussagen auch nicht eigens eine merkwürdige Finalursache angenommen werden, was nach Spinoza ohnehin „die Natur gänzlich auf den Kopf“ stellen würde (E 1app, 87). Darüber hinaus dient Spinozas Analyse-Schema seinem naturalistischen Anspruch, alles auf dieselbe Art und Weise zu begreifen, da ja jedes Einzelding – und nicht bloß Menschen – über einen conatus verfügt. Doch wie verhält es sich mit der Teleologie? Bietet Spinoza mit Hilfe seines Schemas (AS) einen Ersatz für unsere alltägliche teleologische Rede und eliminiert sie, oder liefert er damit vielmehr eine naturphilosophische Analyse unserer teleologischen Rede und führt unser handlungsteleologisches Streben auf ein universell verbreitetes naturteleologisches Streben nach Selbsterhaltung zurück? Wie zu Beginn dieses Kapitels deutlich wurde, herrscht in der Spinoza-Forschung bezüglich dieser Frage große Uneinigkeit. Und dies nicht ohne Grund. Wie schon mehrfach gesehen, weisen teleologische Erklärungen eine normative Dimension auf: Wenn S etwas um Z willen tut, dann können nicht beliebige Instanzen für ‚Z’ eingesetzt werden, sondern nur solche, die S’ Tun unter einer geeigneten Beschreibung rationalisieren, d.h. solche, die entweder für S gut oder zweckmäßig sind oder zumindest von S als solches erachtet werden. Wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels deutlich wurde, war sich Spinoza der normativen Dimension teleologischer Erklärungen bewusst und hat ausgehend von seiner Kritik an Finalursachen gegen ein normatives Naturverständnis argumentiert. Auch Spinozas oben kurz skizzierte Analyse von ProEinstellung hängt mit dieser Ablehnung normativer Eigenschaften zusammen. Da es nach Spinoza keine geist-unabhängigen normativen Tatsachen gibt, können normative Einschätzungen nicht, wie üblicherweise
____________ durch die daran beteiligte Idee gegeben, während sich die positive oder negative affektive Einstellung zu dieser Idee daraus ergibt, ob der Geist aufgrund dieser Idee seinem conatus entsprechend zu größerer Vollkommenheit übergeht, oder aber seinem conatus widerstreitend an Vollkommenheit verliert (vgl. E 3p11s). Siehe dazu auch Renz 2007.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
angenommen, auf der Beschreibung solcher Tatsachen beruhen, sondern müssen anders analysiert werden. Und genau einen solchen alternativen Analysevorschlag liefert Spinoza auf der Grundlage seiner conatus-Doktrin, indem er unser Für-gut-halten von Dingen auf unser Streben nach diesen Dingen zurückführt. Diese Analyse normativer Einschätzungen lässt sich wie folgt darstellen: (N)
‚S hält x für gut’ l ‚S hat einen conatus nach x’
Berücksichtigt man Spinozas Skepsis gegenüber normativen Einschätzungen im Allgemeinen und teleologischen im Besonderen, so scheint unbezweifelbar, dass es Spinoza darum geht, uns von dem verbreiteten normativen und teleologischen Naturverständnis zu kurieren und stattdessen ein Bild einer an sich wertfreien Natur zu liefern, die es in rein deskriptiven Begriffen zu verstehen gilt. Spinoza zufolge sollte man sich bemühen, „menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen“ (TP I §4). Spinoza führt weiter aus: Deshalb habe ich die menschlichen Affekte […] nicht als Fehler der menschlichen Natur betrachtet, sondern als deren Eigenschaften, die ihr so gehören wie zu der Natur der Luft die Hitze, die Kälte, der Sturm, der Donner und anderes dieser Art, Eigenschaften, die, mögen sie auch noch so unangenehm sein, gleichwohl notwendig sind […]. (TP I §4)
Der ganze Witz von Spinozas Philosophie scheint somit gerade darin zu bestehen, dass er auf der Grundlage seiner conatus-Doktrin versucht, allen Phänomenen – auch dem menschlicher Handlungen – auf nichtteleologische Weise beizukommen. „Miss that and you miss most of what is interesting in Part 3.“92 Sollte Spinoza tatsächlich das revisionär-metaphysische Projekt verfolgen, die Phänomene, die wir in normativem Vokabular zu beschreiben und teleologisch zu erklären gewohnt sind, als Ausdruck eines rein kausaldeskriptiv zu verstehenden Strebens nach Selbsterhaltung zu verstehen, so dürfte er den im Rahmen seiner conatus-Doktrin behaupteten Zusammenhang zwischen diesem Streben und der Selbsterhaltung in keiner Weise als teleologischen konzipieren. Er dürfte auf der Grundlage der conatusDoktrin also höchstens erklären, warum gewisse Personen gewisse Dinge für gut halten. Er dürfte aber nicht ausgehend von dem, was für gewisse Dinge gut ist, erklären, warum diese Dinge ein ganz bestimmtes Streben an den Tag legen. Damit zeigt sich, dass sich Spinozas conatus-Doktrin sowohl auf eine teleologische als auch auf eine nicht-teleologische Weise
____________ 92 Bennett 1984, 215. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Carriero 2005, 144-147.
Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie
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verstehen lässt. Gemäß einer teleologischen Deutung der conatus-Doktrin berechtigt sie zu einer teleologischen Erklärung, gemäß der nichtteleologischen tut sie es nicht. Diese beiden Lesarten von Spinozas conatusDoktrin lassen sich am einfachsten anhand zweier Konditionale auseinanderhalten, zu denen die jeweiligen Lesarten dieser Doktrin berechtigen. Gemäß der ersten, nicht-teleologischen Konzeption der conatus-Doktrin, dürfte man auf ihrer Grundlage lediglich das Konditional (T–) behaupten: (T–)
Wenn S naturgemäß nach x strebt, dann dient x der Selbsterhaltung von S.
Dieses Konditional etabliert insofern ein nicht-teleologisches conatusVerständnis, als auf der Basis von (T–) zwar Aussagen darüber, dass x der Selbsterhaltung von S dient, gewonnen werden können, diese Aussage selbst aber nichts erklärt. Ausgehend von (T–) folgt aus dem Umstand, dass x der Selbsterhaltung von S dient, nicht, dass S danach strebt, x zu erlangen. Eine solche Folgerung dürfte allein auf der Grundlage des Konditionals (T+) vollzogen werden, mit Hilfe dessen sich die teleologische Lesart von Spinozas conatus-Doktrin charakterisieren lässt: (T+)
Wenn x der Selbsterhaltung von S dient, dann strebt S naturgemäß nach x.
Versteht man Spinozas conatus-Doktrin so, dass nach ihr Konditionale des Typs (T+) gelten, kann man diese Deutung mit gutem Recht teleologisch nennen. Denn auf der Basis von (T+) darf aus dem Umstand, dass x der Selbsterhaltung von S dient, darauf geschlossen werden, dass S danach strebt, x zu erlangen. Mithin kann der Verweis darauf, dass etwas der Selbsterhaltung eines Dinges dient, auch erklären, warum dieses Ding ein entsprechendes Streben aufweist.93 Es ist jedoch zu beachten, dass ein solch teleologisches conatus-Verständnis zumindest prima facie in einer gewissen Spannung mit Spinozas anti-normativen und teleologiekritischen Bestrebungen steht, da es voraussetzt, dass sich das, was gut für die Selbsterhaltung eines Dinges ist, unabhängig von dessen tatsächlichem Streben
____________ 93 D. Garrett 2002, 132f., schlug vor, die teleologischen und nicht-teleologischen Lesarten der conatus-Doktrin dadurch zu unterscheiden, welche These sie in 3p6 ausgedrückt sehen. Gemäß dem nicht-teleologischen Verständnis handle 3p6 von allen Handlungen, die ein Ding seiner Natur nach vollzieht, und besage, dass sie für dessen Selbsterhaltung förderlich seien, während es dem teleologischen Verständnis zufolge nur um jene Handlungen ginge, die für die Selbsterhaltung dieses Dings förderlich sind, und von diesen Handlungen sage, dass sie ein jedes Ding seiner Natur nach anstrebt. Wie ich weiter unten ausführen werde, halte ich diese Unterscheidung für irreführend (siehe Anm. 104).
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
erklären lässt. Schließlich sollte mit Bezug darauf gerade sein Streben erklärt werden. Überraschenderweise verpflichtet sich Spinoza nun an zahlreichen Stellen seiner Ethik auf ein teleologisches conatus-Verständnis, wie es durch das Konditional (T+) charakterisiert wird.94 So etwa im Beweis von Lehrsatz 3p12, der besagt: „Der Geist strebt, soviel er kann, sich das vorzustellen, was die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder fördert.“ In diesem Beweis schließt Spinoza unter Rückgriff auf seine conatus-Doktrin 3p6 aus dem Umstand, dass Vorstellungen, welche die Wirkungsmacht des Körpers fördern und nach 3p11 auch der des Geistes zu Gute kämen, darauf, dass der Geist danach strebt, sich das vorzustellen, was die Wirkungsmacht des Körpers steigert. Für diesen Übergang setzt Spinoza – neben der Annahme, dass eine gesteigerte Wirkungsmacht gut für die Selbsterhaltung ist – die Gültigkeit von (T+) voraus.95 Angesichts dieser verschiedenen Tendenzen in Spinozas Werk erstaunt es nicht, dass in der Spinoza-Forschung kaum Einigkeit über die Teleologie bei Spinoza herrscht. Hier scheint sich geradezu eine exegetische Pattsituation abzuzeichnen: Gegner einer teleologischen conatus-Interpretation können sich einerseits auf Spinozas Kritik an Finalursachen und auf seine normativitätskritischen Ausführungen berufen, müssen andererseits aber Spinozas teleologische Inferenzen, die er ausgehend von seiner conatusDoktrin vollzieht, als ungültig zurückweisen. Das bedeutet für zahlreiche Theorien Spinozas – wie etwa seine Emotionstheorie oder politische Philosophie – den systematischen Todesstoß, da Spinoza diese Theorien ausgehend von einem teleologischen conatus-Verständnis herleitet. Gerade umgekehrt zeigt sich die Lage für Vertreter einer teleologischen conatusInterpretation: Sie können sich die Rettung Spinozas zentraler Theorien zu Gute halten, müssten aber erklären, wie sich Spinozas teleologische conatus-Konzeption mit seinen anti-normativen Bestrebungen unter einen Hut bringen lässt. Leider versäumen es alle mir bekannten Verfechter
____________ 94 Zu diesem Schluss gelangt selbst Bennett 1984, 244, der meint, Spinoza sei aufgrund der Gesamtanlage seiner Theorie als radikaler Gegner der Teleologie zu deuten: „Unfortunately, this harmless conclusion for which Spinoza has a tolerable argument is not what he deploys in the rest of the Ethics. What he regularly assumes is not that people have an austere Spinozist appetite for self-preservation but rather that they want it, seek it, pursue it, in the normal teleological sense of these terms.“ 95 Weitere Lehrsätze, die Spinoza nur unter der Annahme eines teleologischen conatus-Verständnisses beweisen kann, das zu Inferenzen der Form (T+) berechtigt, sind die Lehrsätze E 3pp13, 19, 25, 26, 28, 29 und 33.
Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie
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einer teleologischen conatus-Interpretation, dieses Problem anzugehen.96 Diesem Desiderat möchte ich zum Abschluss dieses Kapitels nachkommen. Für eine teleologische conatus-Deutung spricht, dass nur diese Lesart jene Inferenzen legitimiert, die Spinoza zu seinen zentralen Theorien führen, die er in den letzten drei Teilen seiner Ethik vertreten möchte. Dagegen scheint seine allgemeine Normativitätsskepsis zu sprechen, auf die wir im Zusammenhang mit Spinozas Kritik an Finalursachen gestoßen sind. Wie ein Blick auf Spinozas Naturrechtslehre jedoch zeigt, sollte diese Normativitätsskepsis nicht überbewertet werden. Anhand dieser Lehre wird nämlich deutlich, dass Spinoza nichts gegen normative Einschätzungen im Allgemeinen hat. Wie Spinoza argumentiert, haben alle Dinge ein Recht darauf, das zu tun, was sie natürlicherweise anstreben: Unter Recht und Gesetz der Natur verstehe ich nichts anderes als die Regeln der Natur bei jedem einzelnen Individuum, gemäß denen wir jedes naturgemäß bestimmt sehen, auf eine gewisse Weise zu existieren und zu wirken. Die Fische z.B. sind von Natur bestimmt zu schwimmen, die großen die kleineren zu fressen, und darum bemächtigen sich die Fische mit dem höchsten natürlichen Recht des Wassers und fressen die größeren die kleineren. Denn es ist gewiss, dass die Natur an sich betrachtet das höchste Recht zu allem hat. Weil aber die gesamte Macht der ganzen Natur nichts ist als die Macht aller Individuen zusammen, so folgt, dass jedes Individuum das höchste Recht zu allem hat, was es vermag, oder dass sich das Recht eines jeden so weit erstreckt, wie seine bestimmte Macht sich erstreckt. Und weil das oberste Gesetz der Natur ist, dass jedes Ding in dem Zustand, in dem es sich befindet, soviel an ihm liegt, zu beharren strebt, und zwar nur mit Rücksicht auf sich selbst, und nicht mit Rücksicht auf ein anderes, so folgt daraus, dass jedes Individuum das höchste Recht dazu hat, dass es also (wie gesagt) das höchste Recht hat, zu existieren und zu wirken, so wie es von Natur bestimmt ist. (TTP XVI 232f.)
Spinozas Naturrechtslehre zufolge, darf ein jedes Ding genau das tun, was es aufgrund seiner Essenz oder Natur auch tun kann. Recht und Macht fallen zusammen. Leider befriedigt ihre Begründung kaum: Spinoza beruft sich einfach auf die angebliche Gewissheit, dass „die Natur an sich betrachtet das höchste Recht zu allem hat“, und folgert daraus, dass deshalb auch jedes Individuum als Teil dieser Natur „das höchste Recht zu allem hat, was es vermag“. Dabei ist zunächst alles andere als klar, warum die
____________ 96 Das ist erstaunlich. Eine mögliche Erklärung für dieses Versäumnis ist, dass J. Bennett als der prominente Gegner einer teleologischen conatus-Interpretation seine Abneigung gegen diese Interpretation hauptsächlich damit begründet, dass Spinoza nur ein Argument für eine nicht-teleologische conatus-Doktrin liefert. Verfechter der teleologischen Interpretation meinen dann wohl ihre Schuldigkeit damit getan zu haben, dass sie die Gültigkeit von Spinozas conatus-Argument für eine teleologische conatus-Lehre erweisen.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
Natur an sich betrachtet das höchste Recht zu allem hat. Dies erscheint weniger verwunderlich, wenn man sich daran erinnert, dass die Natur für Spinoza nichts anderes ist als Gott. „Weil nämlich Gott ein Recht auf alles hat und das Recht Gottes nichts anderes als eben Gottes Macht ist, sofern sie als uneingeschränkt frei angesehen wird, folgt, dass ein jedes natürliche Ding von Natur aus so viel Recht hat, wie es Macht hat zu existieren und tätig zu sein, da nun einmal die Macht eines jeden Dinges, durch die es existiert und tätig ist, nichts anderes ist als genau Gottes Macht“ (TP II §3). Indem Spinoza die gesamte Natur mit Gott identifiziert, gibt er ihr also nicht nur die Aktivität zurück, derer sie Descartes im Rahmen seiner Naturphilosophie beraubt hatte. Damit legitimiert er auch eine normative Naturkonzeption, der zufolge die Tätigkeiten, die aus der Essenz oder Natur der Dinge folgen, gut sind und sich folglich rechtmäßig vollziehen.97 Die Beobachtung, dass Spinoza das Vermögen oder die Macht, das einem Ding aufgrund seiner Essenz zukommt, in dem normativen Sinn versteht, dass es für ein Ding gut ist, diese Macht auszuüben, und entsprechend das Recht darauf hat, gibt zur Hoffnung Anlass, Spinozas teleologische Verwendung der conatus-Doktrin sei im Rahmen seiner Philosophie zu rechtfertigen. Doch bevor dies genauer ausbuchstabiert werden kann, gilt es zu klären, wie eine solche normative Naturkonzeption überhaupt mit Spinozas Normativitätskritik vereinbar ist. Wie oben gesehen, sind für Spinoza normative Begriffe wie „gut“ und „schlecht“ „in Wahrheit nur Modi des Denkens, nämlich Begriffe, die wir aufgrund dessen zu fingieren pflegen, dass wir Individuen derselben Art und Gattung miteinander vergleichen“ (E 4preaf, 377). Widerspricht sich Spinoza damit nicht geradewegs selbst? Ich denke, Spinoza lässt sich vor einem Selbstwiderspruch bewahren, wenn man sorgfältig zwischen der Frage nach der Existenzweise von Normen und deren Geltung unterscheidet. Aufgrund dieser Unterscheidung lässt sich Spinozas Normativitätskritik als eine verstehen, die sich gegen eine gewisse Konzeption der Existenzweise von Normen richtet: Wie bereits gesehen, argumentiert Spinoza dafür, dass Dinge nicht absolut gut, schlecht, hässlich oder schön sind, sondern lediglich relativ zu einem gewissen Ding als gut oder schlecht beurteilt werden dürfen. Nichts ist an sich gut. Etwas ist höchstens gut für ein gewisses Ding – was gut für das
____________ 97 Entsprechend schreibt Spinoza in E 4p64 auch: „Die Erkenntnis des Schlechten ist eine inadäquate Erkenntnis.“ Die Erkenntnis des Schlechten ist somit wie das Falsche (E 2p35) für Spinoza eine bloße Privation oder ein Mangel an Erkenntnis. Adäquat besehen ist alles genauso gut, wie jede adäquate Idee wahr ist.
Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie
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eine ist, muss nicht zwingend gut für das andere sein.98 Werte sind also relationale Entitäten, die immer auch von uns abhängen, und sollten genau deshalb nicht den Dingen selbst zugeschrieben werden – genauso wenig wie den Dingen sekundäre Qualitäten zugeschrieben werden dürfen, da auch diese subjekt-abhängig sind.99 Aus diesem Grund bestimmt Spinoza solche Werte auch als fiktive Modi des Geistes: Ihnen kommt keine geist- oder subjekt-unabhängige Existenz zu. Doch nur weil Werte in ihrer Existenz in dem Sinne subjekt-abhängig sind, dass sie nicht an sich existieren, heißt das noch lange nicht, dass Werte auch in ihrer Geltung subjekt-abhängig sein müssen und mithin völlig willkürlich von dem Gutdünken eines bewertenden Subjekts abhängen. Denn auch wenn etwas nicht an sich gut oder schlecht ist, so kann es doch objektive Standards dafür geben, wann etwas für ein bestimmtes Ding gut oder schlecht ist.100 Auch hier hilft der Vergleich mit den sekundären Qualitäten, in Analogie zu denen Spinoza selbst Werte wie gut und schön konzipiert: Nur weil Dinge nicht an sich rot oder grün sind, heißt das nicht, dass ich mich nicht darüber täuschen könnte, welche Dinge rot und welche grün sind – dass es also keinen objektiven Standard dafür gibt, welche Dinge korrekterweise „rot“ und welche „grün“ genannt werden dürfen. Wie sich bereits in Spinozas Naturrechtslehre angedeutet hat, ist das, was für ein spezifisches Ding objektiverweise gut oder schlecht ist, durch die Essenz und der damit einhergehenden Macht eines jeden Dinges festgelegt.101 Das macht Spinoza in seiner Definition der Tugend besonders klar: Unter Tugend und Macht verstehe ich dasselbe d.h. (nach 3p7): Tugend, bezogen auf den Menschen, ist genau die Essenz oder Natur des Menschen, insofern es in seiner Gewalt steht, etwas zuwege zu bringen, das durch die Gesetze seiner Natur allein eingesehen werden kann. (E 4def8)
____________ 98 Eine Diskussion von Spinozas meta-ethischer Theorie relationaler Werte vor dem Hintergrund der Scholastik gibt Schnepf 2008. 99 Die Analogie zwischen Werten und sekundären Qualitäten wird auch in der zeitgenössischen Meta-Ethik gezogen. Prominent etwa von McDowell 1998, 146. 100 Spinoza ist also kein moralischer Non-Kognitivist. Diese Einschätzung teile ich mit Jarrett 2002, 161-163, und Schnepf 2008, 121. 101 Diese relative (aber deshalb nicht zwingend subjektivistische oder relativistische) Normativitätskonzeption zeigt sich auch, wenn Spinoza meint, ungebildete Menschen seien „ebenso wenig verpflichtet, nach den Gesetzen der gesunden Vernunft zu leben, als die Katze verpflichtet ist, nach den Gesetzen der Löwennatur zu leben“ (TTP XVI 233). Was ein jeder zu tun und zu lassen hat, lässt sich nicht global sagen, sondern hängt von jedem Individuum ab. Siehe auch E 4p31s, wo Spinoza meint, etwas „kann also nur gut sein, insofern es mit unserer Natur übereinstimmt; je mehr mithin ein Ding mit unserer Natur übereinstimmt, umso nützlicher ist es, und umgekehrt.“ Ähnlich auch Della Rocca 2008a, 298.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
Das, was für ein Ding gut oder tugendhaft ist, hängt von seiner Macht oder seinem Vermögen bzw. von seiner Essenz ab. Wie in der Rekonstruktion von Spinozas conatus-Beweis deutlich wurde, geht dies darauf zurück, dass die „Definition eines jeden Dinges […] die Essenz des Dinges“ bejaht, nicht aber verneint (E 3p4d). Deshalb dient alles, was aus der essentiellen Macht eines Dinges folgt, seiner Existenz und ist entsprechend gut für seine Selbsterhaltung. Mithin ist auch durch die Essenz des Dinges festgelegt, was gut für dieses Ding ist.102 Da nun der conatus jedes Einzeldinges von dessen Essenz ausgeht, folgt, dass das Streben dieses Dinges – sofern es allein auf dieses Ding selbst und nicht auf externe Ursachen zurückgeht – auf dessen Selbsterhaltung abzielt und somit auf das ausgerichtet ist, was gut für dieses Ding ist. Damit wird auch ersichtlich, warum Spinoza sich aufgrund seiner conatus-Doktrin zu teleologischen Inferenzen des Typs (T+) berechtigt fühlt. Denn sowohl das, was gut für ein Ding ist, als auch das spezifische Streben eines Dinges hängt von dessen Essenz ab. Wenn nun ein Ding aufgrund seiner Essenz als Ausdruck der göttlichen Macht nach dem strebt, wozu es durch seine Essenz bestimmt wird, dann strebt es damit genau danach, was seiner Natur nach auch gut für es ist – und das ist seine Selbsterhaltung. Der Umstand, dass das, was gut für ein Ding ist, und das Streben dieses Dings in gleicher Weise in dessen Essenz verankert sind, ist somit auch dafür verantwortlich, dass ein Ding in dem Maße nach dem strebt, was seiner Selbsterhaltung dient, in dem es aus inneren Ursachen oder aufgrund seiner Natur tätig ist und nicht durch äußere Ursachen bestimmt wird. Daher kann aus dem Umstand, dass x der Selbsterhaltung eines Dinges S dient, darauf geschlossen werden, dass S naturgemäß – und das heißt: sofern es seiner Essenz nachkommen kann und nicht durch äußere Ursachen eingeschränkt wird – danach strebt, x auszuführen oder zu erlangen. So kann der Verweis darauf, dass etwas gut für ein spezifisches Ding ist bzw. seiner Selbsterhaltung dient, auch erklären, warum dieses Ding naturgemäß danach strebt.
____________ 102 Selbsterhaltung ist nach Spinoza also für jedes Ding von immanentem Wert. Auch wenn Spinoza hierfür keine Begründung liefert, dürfte er dies deshalb für gerechtfertigt halten, da die Selbsterhaltung eine Art Grundwert seiner relationalen Wertekonzeption darstellt. Wenn nämlich ‚x ist gut für y’ bedeutet, dass x gut für die Existenz oder den Erhalt von y ist, dann ist alles gut, was der Selbsterhaltung von y dient. Selbsterhaltung avanciert damit zu jenem nicht weiter zurückführbaren Wert, in Relation zu dem alles andere als gut oder schlecht eingeschätzt werden kann. Die Annahme, die Erhaltung von y sei gut für y oder für y sei seine Selbsterhaltung wertvoll, ist also eine notwendige Bedingung dafür, dass überhaupt etwas für y gut sein kann.
Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie
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Dies wirft natürlich unmittelbar die Frage auf, wie dies zu Spinozas Analyse (N) von Pro-Einstellungen passt, der zufolge wir etwas nicht deshalb erstreben, weil wir es für gut halten, sondern gerade umgekehrt etwas für gut halten, weil wir es erstreben. Wird hier nicht der Begriff des Guten in Bezug auf den conatus eines Dinges zurückgeführt, weshalb es zirkulär wäre, das Gutsein eines Dinges anzuführen, um das essentielle Streben eines Dinges zu erklären, wie es auf der Basis von (T+) geschieht? Diesem Vorbehalt lässt sich durch eine differenzierte Betrachtung dessen, was Spinoza sagt, entgegen treten. Spinozas Analyse (N) befasst sich genau genommen nämlich nicht mit dem, was gut für uns ist, sondern damit, was wir für gut halten. (N) liefert eine Analyse von Pro-Einstellungen und nicht des Guten selbst. Insofern unsere Natur oder Essenz einen objektiven Standard dafür darstellt, was gut für uns ist, können wir uns darüber auch täuschen und Dinge für gut halten, die tatsächlich nicht gut für uns sind. Das tun wir genau dann, wenn unser Streben nicht allein von unserer eigenen Natur oder inneren Ursachen ausgeht, sondern durch externe Ursachen bestimmt ist und damit von dem abweicht, wonach wir naturgemäß streben würden. Das, was wir für gut halten, entspricht somit in dem Maße dem, was gut für uns ist, in dem unsere Pro-Einstellung Ausdruck unserer eigenen Natur ist, und nicht durch äußere Ursachen bestimmt wird. Je weniger wir in unserem Tun durch äußere Ursachen bestimmt werden, d.h. je freier wir sind, desto mehr handeln wir danach, was tatsächlich gut für uns ist, und nicht nur danach, was wir fälschlicherweise für gut halten: „Je mehr wir deshalb einen Menschen als frei ansehen, umso weniger können wir sagen, dass er seine Vernunft nicht gebrauchen und dem Schlechten den Vorzug vor dem Guten geben könne.“ (TP II §7)103 Wenn Spinoza in zahlreichen Lehrsätzen seiner Ethik von einem teleologischen conatus-Verständnis ausgeht, das durch Übergänge des Typs (T+) gekennzeichnet ist, tut er also weder etwas, das er im Rahmen seiner Theorie nicht rechtfertigen könnte, noch etwas, das anderen Theoriestücken widersprechen würde.104
____________ 103 S. Hampshire 1972 hat immer wieder betont, dass Spinoza die Freiheit trotz seiner Normativitätskritik als höchstes Gut ansieht. Meine Interpretation erklärt, warum das so ist: Nur wenn wir frei sind, handeln wir allein aus inneren Ursachen und tun genau das, was aufgrund unserer Essenz gut für uns ist. 104 Das heißt jedoch contra Garrett 2002 – siehe Anm. 93 – nicht, dass Spinoza aufgrund seiner conatus-Doktrin nicht auch zu Inferenzen des Typs (T–) berechtigt wäre. Ganz im Gegenteil: Da die Natur eines Dinges festlegt, was gut für dieses Ding ist, gilt sicher auch, dass, wenn ein Ding S naturgemäß nach x strebt, folgt, dass x der Selbsterhaltung von S dient. Folglich ist es auch mit einem teleologischen Verständnis der conatus-Doktrin vereinbar, dass diese Doktrin von allen Tätigkeiten handelt, die ein Ding naturgemäß vollzieht.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
Dieses Ergebnis erstaunt. Wenn Spinozas teleologische conatusDoktrin tatsächlich ernst genommen werden muss, dann geht er ganz ähnlich wie Aristoteles davon aus, dass alle Bewegungen natürlicher Einzeldinge eine teleologische Struktur aufweisen. Wie ist das möglich, wenn man bedenkt, dass Spinoza genau wie Descartes nicht weiter von einer hylemorphistischen Bewegungskonzeption ausgeht, folglich Bewegungen auch nicht als Aktualisierungen von Formen versteht? Kann Spinoza überhaupt widerspruchsfrei eine naturteleologische Konzeption des Strebens vertreten? Auf den ersten Blick sieht es schlecht aus. Ausgehend von seiner teleologischen conatus-Doktrin argumentiert Spinoza nämlich, dass wir naturgemäß danach streben, unsere Wirkungsmacht zu steigern, weil dies unserer Selbsterhaltung dient.105 Im Anschluss daran definiert Spinoza sogar die Emotionen der Freude und der Trauer als Ausdruck eines Übergangs zu einer größeren bzw. verminderten Wirkungsmacht (E 3p11s), und setzt bei all dem voraus, dass ein und dasselbe Ding zu mehr oder weniger Wirkungsmacht resp. Vollkommenheit übergehen kann.106 An anderen Stellen wiederum scheint Spinoza die Natur oder Essenz eines Dinges mit dessen Macht zu identifizieren.107 Aber das ist schlichtweg absurd. Wie sollte ein und dasselbe Ding nach mehr Macht und damit zu einer anderen Essenz streben und dabei dasselbe Ding bleiben können? Dieses Problem scheint sich für Spinoza just daraus zu ergeben, dass er nicht mehr wie Aristoteles über einen sinnvollen Begriff der Aktualisierung verfügt, auf deren Grundlage er sagen könnte, dass ein und dasselbe Dinge zu größerer Wirkungsmacht oder Vollkommenheit übergeht und sich dadurch aktualisiert. Auf dieses Problem hat bereits Leibniz aufmerksam gemacht, der sich anders als Spinoza explizit um eine Rehabilitation des aristotelischen Hylemorphismus bemüht hat. In seinen Notizen zur Ethik hält er fest, Spinoza „sagt ungebührlich, dass das Streben die Essenz selbst ist, obwohl die Essenz immer dieselbe bleibt, und das Streben variiert.“108 Doch Spinoza hat dieses Problem gesehen – und sogar eine Lösung dafür vorgeschlagen:
____________ 105
Siehe E 3p11 und 3p12. Auch A. Youpa hat überzeugend dafür argumentiert, dass „for Spinoza, selfpreservation is a matter of perfection-preservation and perfection-enhancement, which does not essentially involve extending the duration of any individual’s existence.“ (Youpa 2003, 477; meine Hervorhebung). Spinozas Identifikation der Macht und Vollkommenheit eines Dinges ergibt sich daraus, dass Spinoza in E 4praef, 381, schreibt: „unter Vollkommenheit im Allgemeinen werde ich, wie schon gesagt, Realität verstehen, d.h. die Essenz eines jeden Dinges“, und in E 4def8 die Essenz mit der Macht eines Dinges gleichsetzt (vgl. auch Anm. 107). 107 So in E 3p7d, 4def8 oder in der KV II.5, §8, 69, und in Ep. 64, 249. 108 Leibniz: Kommentare über Spinoza, zitiert nach AG 279. 106
Spinozas conatus-Doktrin und die Teleologie
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Wenn ich sage, jemand gehe von einer geringeren zu einer größeren Vollkommenheit über und umgekehrt, verstehe ich darunter nicht, dass er sich von einer Essenz oder Form zu einer anderen verändert – denn ein Pferd geht gleichermaßen zugrunde, ob es sich nun in einen Menschen oder in ein Insekt verwandelt. Vielmehr [heißt Übergehen]: Wir begreifen, dass seine Wirkungsmacht, insofern sie sich durch seine Natur verstehen lässt, vermehrt oder vermindert wird. (E 4praef, 379)
Spinozas Lösung für dieses Problem scheint so naheliegend wie irritierend: Naheliegend wirkt sie, weil eine Unterscheidung zwischen der Wirkungsmacht und der Essenz eines Dinges die einfachste Möglichkeit ist, um eine sinnvolle Rede davon, dass ein und dasselbe Ding zu größerer oder kleinerer Vollkommenheit oder Wirkungsmacht übergeht, zu garantieren. Irritierend ist sie, weil sie seine Gleichsetzung zwischen der Essenz und Macht eines Dinges und infolgedessen seine Konzeption von Einzeldingen als Macht-Quanta zu unterminieren droht. Dieser Anschein der Inkonsistenz lässt sich jedoch zerstreuen, wenn man bedenkt, dass Einzeldinge nach Spinoza Modi sind, „die die Macht Gottes, durch die Gott ist und handelt, auf bestimmte und geregelte Weise ausdrücken“,109 und er in der kleinen Physik die Essenz von Einzeldingen durch ein spezifisches Verhältnis oder eine besondere Regel von Ruhe und Bewegung [ratio motus et quietis] bestimmt.110 Demnach sind Individuen vornehmlich durch ein gewisses Verhältnis aktiver und passiver Kräfte konstituiert und können folglich diese Kräfte auch in dem Maße steigern oder vermindern, in dem ihr spezifisches Verhältnis von Ruhe und Bewegung bewahrt bleibt. Die gesteigerte oder verringerte Wirkungsmacht eines Individuums kann entsprechend so lange als (gesteigerte oder verminderte) Wirkungsmacht dieses Individuums angesehen werden, wie „sie sich durch seine Natur verstehen lässt“. Auf der Basis seiner conatus-Lehre kann Spinoza seinen Einzeldingen also konsistent ein teleologisches Streben nach Selbsterhaltung zusprechen, das sogar ein Streben nach Machtsteigerung umfasst, ohne dass er dafür eine aristotelische Form-Materie-Ontologie annehmen müsste. Natürlich ist auch hier eine Art der Realisierung oder Aktualisierung im Spiel. Insofern das Streben spinozistischer Einzeldinge nämlich Ausdruck ihrer Essenz oder Definition ist, handelt es sich um die Realisierung dessen, was logisch aus ihrer Essenz folgt. Man könnte auch sagen: Im conatus eines Dinges realisiert sich das inferenzielle Potential seiner Essenz oder Definiti-
____________ 109 E 3p6d; meine Hervorhebungen. 110 Siehe etwa 2lemm5.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
on.111 Doch dieses inferenzielle Potenzial, durch das die Macht spinozistischer Einzeldinge charakterisiert ist und das Einzeldinge naturgemäß zu realisieren oder aktualisieren streben, unterscheidet sich in mindestens einer relevanten Hinsicht von einer üblichen aristotelischen Potenz: Sie ist nicht durch einen Kontrast zu einer Form, und in einigen Fällen gar durch einen Mangel oder eine Privation einer Form gekennzeichnet. So hat, um ein beliebtes aristotelisches Beispiel zu geben, das Kalte nur deshalb das Vermögen, warm zu sein, weil es der Form der Wärme entbehrt. Daher sind aristotelische Vermögen auch typischerweise passiv und bedürfen einer Wirkursache, um sich zu aktualisieren. Etwas Kaltes wird nur dadurch warm, dass es von etwas Warmem erwärmt wird. Ganz anders verhält es sich mit den Potenzen spinozistischer Einzeldinge: Sie sind gerade nicht negativer Ausdruck eines Mangels oder eines Kontrasts zu einer anderen Form, sondern vielmehr positiver Ausdruck ihrer individuellen Form, Essenz oder Natur. Ihre Potenzen sind gleichsam implizit in ihren Essenzen enthalten – genauso wie gewisse Sätze implizit in bestimmten Definitionen enthalten sind – und realisieren sich ganz automatisch, wenn sie in der Entfaltung ihrer Natur nicht eingeschränkt werden. Entsprechend sind die Potenzen von Spinozas Individuen auch immer aktive Vermögen, die sich notwendigerweise und spontan aktualisieren, sofern sie nicht durch mächtigere Dinge daran gehindert werden. Diese aktive und in gewisser Weise unaristotelische112 Vermögenskonzeption wird Leibniz im Wesentlichen beibehalten – obwohl er dies als Rehabilitation des Hylemorphismus verkauft. Wie und warum genau, wird im nächsten Kapitel zu untersuchen sein.
____________ 111 Damit ist das gemeint, was Brandom 1981, 156-177, in seiner Leibniz-Lektüre als „expressive range“ einer Perzeption bezeichnet hat. Dieser Begriff lässt sich aber auch auf Spinozas Essenzen anwenden, die als Definitionen ebenfalls eine gewisse expressive Reichweite (oder eben ein inferenzielles Potential) aufweisen dürften – d.i.: eine Menge an Sätzen, die aus ihnen gefolgert werden können. 112 Es ist jedoch zu beachten, dass auch Aristoteles aktive Vermögen kennt, die sich aktualisieren, sobald sie nicht daran gehindert werden. Er nennt diese Vermögen jedoch nicht Potenzen (dynameis), sondern er spricht von ersten Entelechien, die spontan in ihre zweiten Entelechien übergehen, sofern sie nicht daran gehindert werden (siehe Physik VIII.4, 255a28-30). Spinoza und Leibniz lassen sich damit auch als Philosophen beschreiben, die alle Potentialitäten auf (erste) Aktualitäten zurückführen.
Schlussbemerkungen
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Schlussbemerkungen Die Frage nach der Teleologie bei Spinoza ist umstritten. Und dies nicht zu unrecht. Spinozas Ansichten zur Teleologie zeigen nämlich zwei scheinbar widersprüchliche Tendenzen. Einerseits weist Spinoza mit seiner Kritik an Finalursachen jenen Begriff zurück, auf dem die traditionelle Analyse oder Theorie teleologischer Erklärungen beruht, und kritisiert ausgehend davon die zu seiner Zeit verbreitete normative Naturkonzeption und die Annahme nicht-relationaler Werte. Andererseits entwickelt Spinoza auf der Basis seiner essentialistisch-emanativen Kausalitätstheorie mit seiner conatus-Doktrin eine allgemeine Konzeption eines essentiellen Strebens nach Selbsterhaltung, das in dem Sinne teleologisch ist, als es erstens auf das wahre Gut eines jeden Dinges ausgerichtet ist, und zweitens zu Inferenzen von dem, was der Selbsterhaltung eines Dinges dient, darauf, was dieses Ding naturgemäß anstrebt, berechtigt. Gemäß Spinozas conatus-Lehre legen also alle Einzeldinge ein Streben nach Selbsterhaltung an den Tag, mit Bezug auf das ihr Tun teleologisch erklärt werden kann. Wie hoffentlich deutlich geworden ist, lässt sich diese scheinbare Spannung in Spinozas Werk auflösen. Ein erster Schritt dazu besteht in einer genauen Untersuchung von Spinozas Kritik an Finalursachen. Bereits dabei zeigt sich, dass Spinoza nicht jede Form der Teleologie zurückweisen kann: Seine Ablehnung der teleologischen Beurteilung der Natur als anthropomorphistisch setzt nämlich voraus, dass zumindest Menschen in ihrem Tun Zwecke oder Ziele verfolgen. Spinozas Teleologiekritik im Anhang zum ersten Teil der Ethik richtet sich somit lediglich gegen ein teleologisches Verständnis der Tätigkeiten Gottes und nicht gegen die teleologische Konzeption der Tätigkeiten endlicher Dinge wie Menschen. Dass Spinoza tatsächlich nichts gegen eine teleologische Beurteilung der Tätigkeiten von Menschen im Besonderen oder endlichen Einzeldingen im Allgemeinen hat, stellte sich anhand der Rekonstruktion von Spinozas Handlungstheorie im zweiten Abschnitt sowie in der ausführlichen Diskussion seiner conatus-Doktrin in den restlichen Abschnitten dieses Kapitels heraus. So ließ sich in Bezug auf Spinozas Handlungstheorie zeigen, dass Jonathan Bennetts allgemeines Argument gegen die kausale Wirksamkeit des Gehalts von Ideen nicht (uneingeschränkt) haltbar ist: Anders als Bennett behauptet, geht Spinoza davon aus, dass die kausale Kraft inadäquater Ideen – genau wie ihr Gehalt – extrinsisch festgelegt ist. Deshalb kann auch der Gehalt dieser Ideen kausal wirksam sein. Infolgedessen ist es möglich, das Verhalten endlicher Wesen wie Menschen mit Bezug auf ihre inadäquaten Ideen zu erklären, welche als Repräsentationen ihrer Handlungsziele ihre Handlungen gemäß der kausalen Standardrekonstruktion der Handlungsteleologie (indirekt) verursachen. Dass Tätigkei-
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
ten nur dann teleologisch erklärbar sind, wenn sie von inadäquaten Ideen ausgehen, ist als handlungstheoretische These für Spinozas gesamte Theoriebildung sowohl hinreichend als auch notwendig: Hinreichend ist sie, da sie den Handlungen, die wir tatsächlich gemäß der kausalen Standardrekonstruktion der Handlungsteleologie erklären wollen, gerecht wird. Solche Handlungen gehen nämlich immer von inadäquaten Ideen aus, die einen zeitlichen Gehalt aufweisen, da sie sich auf Ziele oder Zwecke beziehen, die noch nicht realisiert sind. Notwendig ist sie, weil sie garantiert, dass etwas, das wie Gott nur aus adäquaten Ideen handelt, nicht teleologisch erklärt werden kann, und damit Spinozas teleologiekritischem Ergebnis nachkommt. Nichtsdestotrotz hält Spinoza solche handlungsteleologischen Erklärungen für unangemessen. Zum einen, weil sie auf inadäquaten Ideen beruhen und damit keine endgültig verständlichen bzw. vollkommene Erklärungen liefern; zum andern, weil sie irreführend sind, insofern sie suggerieren, die dadurch erklärten Tätigkeiten würden sich ohne äußere Ursachen – und das heißt: frei – vollziehen, was gerade bei Tätigkeiten, die auf inadäquate Ideen zurückgehen, nicht der Fall ist. Teleologisch erklärbare Handlungen sind streng spinozistisch gesprochen keine Aktivitäten, sondern Passivitäten. Damit sind teleologische Handlungserklärungen für Spinoza nicht zuletzt auch deshalb inadäquat, weil sie die wahre Natur von Tätigkeiten verschleiern: Sie operieren vor dem Hintergrund eines aristotelischen Modells, nach dem ein Einzelding als substantieller Akteur vorgestellt wird, und verdecken damit die metaphysische Tatsache, dass Einzeldinge gar keine substantiellen Agenten sind, die zu spontaner Aktivität fähig wären, sondern lediglich Modifikationen einer substantiellen, göttlichen Macht, die als solche über ein Streben nach Selbsterhaltung verfügen. Um Tätigkeiten adäquat verstehen zu können, gilt es, sie metaphysisch korrekt im Rahmen von Spinozas conatus-Doktrin zu rekonstruieren. Aber auch die conatus-Lehre hat einen teleologischen Charakter, insofern sie davon ausgeht, dass jedes Einzelding naturgemäß nach dem strebt, was objektiverweise gut für dieses Ding ist – was also seiner Selbsterhaltung dient. Damit kann in einer teleologischen Inferenz aus dem Umstand, dass etwas der Selbsterhaltung eines Dinges dient, darauf geschlossen werden, dass dieses Ding, naturgemäß oder soviel es kann, dies zu erlangen strebt. Spinozas teleologische conatus-Doktrin, die von allen endlichen Einzeldingen handelt, bettet somit die menschliche Handlungstheorie in einen allgemeinen, natürlichen Rahmen ein und lässt das menschliche Tun, wie das eines jeden anderen Dinges auch, als Ausdruck eines Strebens verstehen, das sowohl von inneren Ursachen – d.h. der Essenz dieses Dinges – als auch von äußeren Ursachen bestimmt ist. Dennoch
Schlussbemerkungen
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gibt es einen Unterschied zwischen den teleologischen Erklärungen, die wir in unserer alltäglichen Sprache von Tätigkeiten geben, und solchen, die einem Spinozisten in Begriffen des conatus möglich sind. Er besteht darin, dass wir gewöhnlich Handlungen in Bezug auf das erklären, was uns gut erscheint, während der Spinozist nur erklären kann, zu welchen Handlungen ein Individuum naturgemäß neigt – nämlich zu solchen, die der Selbsterhaltung dieses Individuums förderlich und damit objektiverweise gut für es sind. Dennoch sind die aus der conatus-Doktrin gewonnenen teleologischen Erklärungen gemäß den Standards von Spinoza keine guten Erklärungen. Denn der Verweis auf das, was objektiverweise gut für ein Ding ist, ist nicht hinreichend dafür, was dieses Ding de facto tut. Er erklärt nur, was das Ding aufgrund seiner Essenz oder inneren Ursachen tun würde, gegeben der Fall, dass es dabei nicht von externen Ursachen eingeschränkt würde.113 Da es nach Spinoza jedoch „kein Einzelding in der Natur ‹gibt›, in Bezug auf das es nicht ein anderes gäbe, das mächtiger und stärker ist“ (E 4a), ist genau dieser Fall nie mit Gewissheit gegeben. Folglich ist das Verhalten von (endlichen) Einzeldingen nie mit Sicherheit allein durch ihre Natur erklärbar. Auch wenn teleologische Erklärungen des Verhaltens von Einzeldingen Spinoza zufolge möglich sind, handelt es sich nie um vollständig adäquate oder hinreichende Erklärungen. Damit läuft Spinozas teleologische conatus-Doktrin auch nicht dem apodiktischen Ergebnis seiner Finalursachen-Kritik zuwider, wonach Zweckerklärungen letztlich immer inadäquat und Ausdruck unserer Unwissenheit sind.114 Genauso wenig widerspricht Spinozas teleologische conatus-Doktrin seiner Zurück-
____________ 113 Wie im Kapitel I, S. 87-90, anhand der Diskussion der hypothetischen Notwendigkeit bei Thomas von Aquin deutlich wurde, schließt sich Spinoza damit der Tradition an: Auch Thomas meinte, dass teleologische Erklärungen keine hinreichenden Erklärungen etablierten, da ein einfacher Hinweis darauf, dass etwas ein ganz bestimmtes Ziel anstrebt, nicht garantiert, dass dieses Ziel auch erreicht wird. Es erlangt das Ziel immer nur ceteris paribus – wenn es nicht von interferierenden Ursachen daran gehindert wird. 114 Dass teleologische Erklärungen für Spinoza nur aus einer epistemisch eingeschränkten Perspektive angeführt werden können und damit letztlich inadäquat sind, ergibt sich auch daraus, dass es aufgrund von Spinozas Nezessitarismus keine metaphysischen, sondern lediglich epistemische Möglichkeiten gibt (die sich daraus ergeben, dass wir von gewissen bestimmenden Ursachen abstrahieren oder diese nicht kennen; vgl. E 4def3 und 4, sowie 1p33s1), teleologische Erklärungen aber die Existenz von Möglichkeiten oder Alternativen in Anspruch nehmen, wie Garrett 1999, 316, besonders deutlich ausgeführt hat. Denn die Beschreibung, dass sich etwas um eines Zieles willen vollzieht, ist nur dann sinnvoll, wenn es mehrere Tätigkeitsalternativen gibt, von denen sich nur eine aufgrund ihrer Güte als Ziel qualifiziert.
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Kapitel IV: Baruch de Spinoza – Teleologie, Essenz und Streben
weisung göttlicher Teleologie. Denn Gott ist kein spinozistisches Einzelding mit einem conatus. Da seine Essenz Grund und Ursache seiner Existenz ist, muss er nicht nach seiner Existenz oder Selbsterhaltung streben.115 Oder um Spinozas theologisches Argument aufzunehmen: Anders als einem Einzelding fehlt es ihm nicht an Existenz, sondern er existiert wesentlich. Entsprechend folgt Gottes Tun mit Notwendigkeit aus seiner Essenz und weist kein zielgerichtetes Streben auf, das unter Umständen immer noch durchkreuzt werden könnte. Wie ist nun vor diesem Hintergrund Spinozas Teleologiekonzeption gemäß den in der Einleitung entwickelten Fragen systematisch einzuordnen? Zunächst fällt auf, dass Spinoza im Rahmen seiner conatus-Doktrin jedem endlichen Ding ein immanentes Streben nach seinem intrinsischen Zweck der Selbsterhaltung zuspricht. Der Wert der Selbsterhaltung ist den Einzeldingen intrinsisch, weil er ihnen selbst zu Gute kommt, und das Streben nach Selbsterhaltung ist ihnen immanent, weil es in deren Natur oder Macht begründet wird, durch die sie Gottes unendliche Macht auf endliche und geregelte Weise ausdrücken. Damit steht Spinozas conatus-Doktrin im Dienste seines naturalistischen Erklärungsprojekts, das sich durch den Anspruch auszeichnet, alles nach denselben Prinzipien zu erklären: Das Verhalten von Steinen sollte sich nur graduell von dem von Menschen, Staaten oder Planetensystemen unterscheiden. All dies geht letztlich auf den conatus dieser Dinge zurück, den sie aufgrund ihrer inneren und äußeren Ursachen an den Tag legen. Damit gibt es auch zwischen der Naturteleologie und der Handlungsteleologie keinen prinzipiellen Unterschied: Beides sind Folgen des conatus der Dinge, mit Bezug auf den letztlich auch menschliche Absichten oder Intentionen rekonstruiert werden sollen. In dieser Hinsicht vertritt Spinoza also klarerweise eine naturalistische Teleologiekonzeption: Menschliche Handlungen werden gleich analysiert wie andere zielgerichtete Tätigkeiten und zwar bottom up nach dem Modell jenes Strebens, das auch un- oder kaum bewusste Dinge aufweisen. Aber was erklären teleologische Äußerungen Spinoza zufolge? Nach Spinozas strengen Standards genau genommen nichts. Denn der Verweis darauf, dass etwas der Selbsterhaltung eines Dinges dient, ist nicht hinreichend um abschließend zu erklären, was ein Ding de facto tut: Entweder
____________ 115 Wie jedoch Lin 2003, 37-49, überzeugend herausgearbeitet hat, kann das essenzielle Streben von Einzeldingen nach Existenz als endliche Manifestation dessen betrachtet werden, was Gott tut, wenn er aufgrund seiner Essenz seine Existenz unmittelbar hervorruft. Spinoza schließt sich damit einer wohletablierten philosophisch-theologischen Tradition an, nach der Gottes Kreaturen ihren Schöpfer imitieren.
Schlussbemerkungen
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tut das Ding unter dem Einfluss externer Ursachen nämlich gar nicht, was es aufgrund seiner Natur tun sollte, und wenn es tatsächlich tut, was seiner Selbsterhaltung dient, stellt sich sogleich die Folgefrage, warum es nicht durch externe Ursachen davon abgehalten wurde. In diesem Sinne vertritt Spinoza mit Sicherheit keine ätiologische Teleologiekonzeption, der zufolge der Verweis auf Zwecke hinreichend erklärt, warum etwas der Fall ist. Anderseits kann uns die Erkenntnis dessen, wonach ein Ding strebt, und welche Wirkungen es hervorzurufen pflegt, zur Einsicht helfen, um was für eine Art Ding es sich bei einem konkreten Ding handelt, was es also für eine Essenz aufweist. Damit ließe sich Spinozas Teleologiekonzeption mit gutem Recht als konstitutive bezeichnen: Das, was für die Selbsterhaltung eines Dinges gut ist und infolgedessen naturgemäß von diesem Ding erstrebt wird, erklärt – oder besser: drückt aus –, um was für eine Art Ding es sich handelt.116 Spinoza, der aufgrund seiner Finalursachenkritik häufig paradigmatisch für die Teleologiefeindlichkeit der frühen Neuzeit zitiert wird, vertritt eine naturalistisch konstitutive Teleologiekonzeption. Damit weist er (zumindest implizit) ein Teleologieverständnis auf, das sich bereits in der Rekonstruktion von Thomas’ naturphilosophischen Ansichten abzeichnete, von dem Thomas aber selbst abwich, weil er die klassisch aristotelische Teleologie mit der christlichen Schöpfungslehre in Einklang bringen wollte.117 Wie festgestellt, hatte besonders der ätiologische Charakter von Thomas’ Teleologiekonzeption mitunter die Folge, dass der Begriff der Finalursache problematisch wurde. Interessanterweise verwirft nun Spinoza gerade diesen Begriff und skizziert ohne ihn eine Theorie natürlichen Strebens, die derjenigen sehr nahe kommt, die sich in der aristotelischen Naturphilosophie findet.
____________ 116 Diese Kategorisierung hilft auch zu verstehen, warum Spinoza teleologische Erklärungen ontologisch für überflüssig hält: Was ein Ding ist, ist ontologisch durch seine Essenz festgelegt, aus der folgt, wonach dieses Ding naturgemäß strebt. Eine Konzentration auf das Streben eines Dinges, d.h. darauf, was ein Ding meidet und aufsucht, ist lediglich ein fallibles epistemisches Mittel, um die Essenz dieses Dinges zu erkennen. 117 Nicht zu Unrecht stellte D. Garrett 1999, 332, fest, dass Spinozas Teleologiekonzeption, die sich aus seiner conatus-Doktrin ergibt, aristotelischer sei als jene von Leibniz. Man könnte sogar hinzufügen: auch aristotelischer als jene von Thomas von Aquin.
Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache Während sich viele Autoren der frühen Neuzeit von der scholastischen Philosophie distanzierten und den Hylemorphismus zugunsten einer mechanistischen Weltauffassung verwarfen, war Leibniz der aristotelischen Tradition aufgeschlossen und räumte ein, dass „an der Auffassung von den substantiellen Formen etwas Stichhaltiges ist“.1 Mechanismus und Hylemorphismus sollten nicht einfach gegeneinander ausgespielt, sondern in einer umfassenden Theorie vereint und versöhnt werden.2 Leibniz’ Aufgeschlossenheit gegenüber Entitäten, die Cartesianer aus ihren Theorien verbannen wollten, beschränkte sich allerdings nicht nur auf aristotelische Formen. Auch den Finalursachen wollte Leibniz zu ihrem Recht verhelfen. „Denn was auch immer Descartes insgesamt gesagt haben mag, in der Physik sind nicht nur Wirkursachen, sondern auch Finalursachen zu untersuchen, genauso wie ein Haus schlecht erklärt würde, wenn wir nur die Anordnung seiner Teile beschrieben, aber nicht sein Nutzen.“3 Leibniz plädierte also auch hier für eine „Versöhnung der zwei Wege, deren einer über die Zweckursachen, deren anderer über die Wirkursachen verläuft“, da sich „manche Wirkungen in der Natur auf doppelte Weise erklären lassen, nämlich aufgrund der Erwägung der Wirkursache und davon gesondert auch aufgrund der Erwägung der Zweckursache“.4 Dies wirft unmittelbar zwei Fragen auf: (i) Warum war Leibniz entgegen seiner mechanistischen Zeitgenossen der Ansicht, dass substantielle Formen und Finalursachen zu rehabilitieren sind? Und (ii) was verstand Leibniz genau unter seinen rehabilitierten substantiellen Formen und Finalursachen? Beide Fragen möchte ich in diesem Kapitel beantworten. Einem solchen Unterfangen stellen sich sofort zwei methodische Schwierigkeiten. Zum einen stellt sich die Frage der chronologischen Ein-
____________ 1 2 3 4
Discours de métaphysique §10, A VI.4b1 1542f.; LPS I 79 (= Discours). Darin spiegelt sich das, was Ch. Mercer 2001, 9 und 16, Leibniz’ „konziliatorischen Eklektizismus“ genannt hat. Eine umfassende Analyse dieser Haltung und ihrer Quellen liefert Mercer im ersten Kapitel dieses Buches. Über Körper und Kraft, GP IV 398; AG 254f. Discours §22, A VI.4b1 1564; LPS I 119, und §21, A VI.4b1 1563; LPS I 117f.
302 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache
heitlichkeit: Leibniz hat sich sein gesamtes Leben mit philosophischen Problemen auseinandergesetzt und dabei seine Positionen immer wieder revidiert. Seine Überlegungen hat er in einer kaum überschaubaren Menge an Aufsätzen, Briefen und Notizen festgehalten. Angesichts der Fülle an hinterlassenem Material, in dem teilweise scheinbar widersprüchliche Ansichten vertreten werden, mag man zweifeln, ob eine Rekonstruktion der Konzeption von Finalursachen bei Leibniz überhaupt möglich ist. Es scheint vielmehr so, als ob man nicht einfach von einer einheitlichen Position von Leibniz sprechen kann, sondern einer Vielzahl von Positionen gegenübersteht, die Leibniz jeweils nur zeitweilig vertreten hat. Aber auch wenn hier Vorsicht geboten ist und man Leibniz nicht voreilig einheitliche Ansichten unterstellen darf, lässt sich diese Schwierigkeit doch in mindestens zwei Hinsichten relativieren: Leibniz mag zwar seine Ansichten mehrmals revidiert haben, aber er tat dies zum einen nicht täglich, sondern phasenweise, und zum andern betrafen diese Revisionen auch nicht all seine Ansichten, sondern bezogen sich meist auf ganz bestimmte Auffassungen wie z.B. die der Substanz oder der Bewegung, während andere Annahmen unberührt blieben. Eine angemessene Rekonstruktion seiner Ansichten muss also nicht auf beliebig kleine Zeitscheiben von Leibniz eingeschränkt werden. In der Leibniz-Forschung hat sich vielmehr eine dreigliedrige Unterteilung in einen frühen (bis 1684), einen mittleren (1684-1704) und einen späten Leibniz (1704-1716) durchgesetzt,5 an die ich mich im Folgenden halten werde. Ich werde mich allerdings ausschließlich auf die Konzeption der Finalursache des mittleren und späteren Leibniz konzentrieren, weil seine Ansichten der Finalursachen in diesen Phasen einigermaßen stabil, einheitlich und ausgereift sind. Zum andern stellt sich mit Bezug auf Leibniz auch ein Problem der thematischen Einheitlichkeit: Leibniz hat nicht nur Philosophie betrieben, sondern sich in vielen andern Feldern engagiert. Neben seinen politischen und diplomatischen Tätigkeiten hat er sich für verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen interessiert und sich intensiv mit mathematischen, logischen, theologischen, physikalischen und juristischen Problemen auseinander gesetzt. All diese Interessensgebiete haben Leibniz in seinem Denken mehr oder weniger stark beeinflusst. Dies zieht die methodische Frage nach sich, welcher Zugang Leibniz’ Philosophie am besten gerecht wird. Soll Leibniz primär als Logiker verstanden werden, dessen philosophische Ansichten sich durch seine Entdeckungen in der Logik erklären lassen, wie Bertrand Russell und Louis Couturat meinten?6 Oder soll man Leibniz in erster Linie als Mathematiker verstehen, wie Ernst Cassirer
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Siehe etwa Garber 1985 und Hartz & Wilson 2006. So Russell 1900. 4f., und Couturat 1901, vii-xii.
Die mechanistische Physik und die Probleme der Bewegung und Einheit
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vorgeschlagen hat?7 Oder gar als Physiker, wofür Daniel Garber plädiert hat? Kurz: Was ist die richtige Zugangsweise zu Leibniz? Angesichts dieser vielen möglichen Zugangsweisen ist zweifelhaft, ob es überhaupt einen richtigen Zugang zu Leibniz’ Philosophie gibt. Es ist plausibler anzunehmen, dass all die unterschiedlichen Zugänge nur jeweils einen Aspekt von Leibniz’ Denken beleuchten und damit eine Facette seines philosophischen Systems betonen, das schließlich in der für Leibniz typischen konziliatorischen Weise sowohl der Logik als auch der Mathematik, Physik, Theologie und allen weiteren Bereichen gerecht zu werden suchte. Dass es viele verschiedene Zugänge zu Leibniz’ Denken gibt, muss damit nicht unbedingt ein methodisches Problem sein. Dies kann auch als Chance begriffen werden, da es ermöglicht, Leibniz’ Gedanken aus ganz unterschiedlichen Richtungen zu entwickeln. Diese Chance werde ich nutzen, indem ich Leibniz’ Rehabilitation und Konzeption der Finalursachen und der substantiellen Formen ausgehend von seinen physikalischen Überlegungen rekonstruiere und anschließend auf die theologische Bedeutung seiner Thesen eingehe. Dieses Vorgehen wähle ich also nicht, weil ich meine, es sei das einzig richtige. Ich nutze damit schlicht den Umstand, dass sich Leibniz’ Philosophie aus vielen Richtungen angehen lässt, zu meinem expositorischen Vorteil: Leibniz’ Finalursachenverständnis aus seinen physikalischen Überlegungen herzuleiten, erlaubt es mir, von den Problemen der schon behandelten mechanistischen Philosophen auszugehen und von da aus zur theologischen Dimension von Finalursachen und teleologischen Erklärungen zurückzukehren, die wir bereits bei Thomas von Aquin kennen gelernt haben.
Die mechanistische Physik und die Probleme der Bewegung und Einheit Descartes’ mechanistische Naturphilosophie erlebte im 17. Jh. einen Siegeszug sondergleichen. Im Gegensatz zur hylemorphistischen Naturkonzeption der Aristoteliker erklärte sie natürliche Prozesse schlicht als Rekonfigurationen von Materieteilchen oder Korpuskeln. Das bescherte ihr sowohl ontologische als auch methodische Vorteile: In ontologischer Hinsicht verzichteten Cartesianer auf die Annahme substantieller Formen und nicht aktualisierter Potentialitäten in der Materie. Die physikalische Welt war ihrer Ansicht nach nichts als eine große Masse aktual präsenter Materie, deren vollständig geometrisch beschreibbare, korpuskulare Teile ge-
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Siehe Cassirer 1902.
304 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache
mäß den allgemeinen Naturgesetzen umherwirbeln. Damit ging der methodische Vorteil einher, dass sich physikalische Phänomene mathematisch beschreiben und erklären ließen. Descartes konnte so physikalische Fragen viel effizienter und unabhängig von langwierigen – und, wie er meinte, häufig auch fruchtlosen – Diskussionen der aristotelischen Schulphilosophie angehen. Wie aber bereits anhand von Spinozas Kritik an Descartes’ Naturphilosophie im letzten Kapitel deutlich wurde, brachte die cartesische Physikkonzeption auch ein eine Reihe von Problemen mit sich. So wies schon Spinoza darauf hin, dass sich auf der Grundlage von Descartes’ geometrischer res extensa grundlegende physikalische Phänomene wie die Bewegung und Einheit von Körpern nur ungenügend erklären ließen. Dieser Kritik schloss sich auch Leibniz an. Im Gegensatz zu Spinoza nahm er sie jedoch zum Anlass, für eine Rehabilitation des Hylemorphismus zu argumentieren. Um Leibniz’ Argumente für die Versöhnung der aristotelischen Naturphilosophie mit Descartes’ mechanistischer Naturauffassung besser zu verstehen, lohnt es sich, die beiden Hauptprobleme der cartesischen Physik – die Individuation und Bewegung von Körpern – noch einmal in Erinnerung zu rufen. Die individuationstheoretische Frage, was einen Körper genau zu einem Körper macht, und was ihm seine diachrone Identität verleiht, haben Aristoteliker klassischerweise mit Hilfe des Begriffs der Substanz beantwortet: Ihrer Theorie zufolge sind Einzeldinge Substanzen oder Ansammlungen von Substanzen. Aristotelischen Substanzen sind vollständig dadurch bestimmt, dass sie über eine substantielle Form verfügen, die in einer gewissen Materie instantiiert ist. Die Form einer Substanz ist dabei dafür verantwortlich, um was für eine Substanz es sich handelt (um einen Menschen, einen Hund oder ein Element), während es ihrer Materie geschuldet ist, um welche Substanz es sich handelt (etwa um Sarah oder Jürgen, Fido oder Bessie). Nun verfügt natürlich auch Descartes über einen Substanzbegriff. Allerdings eignet sich dieser nicht dazu, die Identität von (körperlichen) Einzeldingen zu bestimmen. Eine Substanz ist Descartes zufolge nämlich schlicht ein Ding, „das so existiert, dass es zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf“.8 Eine Substanz ist wesentlich durch
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Prinzipien I §51, AT VIIIa 24. Wie Descartes unmittelbar bemerkt, genügt diesem ontologischen Kriterium streng genommen nur Gott, da nur er unabhängig von allem existieren kann, und alles andere von ihm abhängt. Etwas weniger streng könne man aber auch „die körperliche Substanz und den Geist oder die denkende Substanz, als geschaffen, unter einem gemeinsamen Begriff fassen, weil sie Dinge sind, die bloß Gottes Beistand zu ihrem Dasein bedürfen.“ (Prinzipien I §52, AT VIIIa 24f.) In seinen 2. Erwiderungen, AT VII 161, formuliert Descartes ein alternatives, inhärenztheoretisches Kriterium, wonach der Substanzbegriff auf
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ontologische Unabhängigkeit charakterisiert – und eben diesem Kriterium scheinen körperliche Einzeldinge nicht zu genügen. Körperliche Einzeldinge haben aufgrund ihrer Ausdehnung nämlich Teile und stehen so in mereologischen Beziehungen. Da eine mereologische Abhängigkeit aber eine Form ontologischer Abhängigkeit ist – die Existenz eines Ganzen hängt von der Existenz seiner Teile ab –, sind körperliche Einzeldinge nicht ontologisch unabhängig und damit keine Substanzen.9 Descartes hat daher in der Synopsis seiner Meditationen vorgeschlagen, nur die ganze res extensa, d.h. die Materie als Ganzes, als Substanz aufzufassen, „damit man bemerkt, dass der Körper, wenigstens im Allgemeinen genommen, eine Substanz ist und daher auch niemals vergeht, dass aber der menschliche Körper, sofern er sich von den anderen Körpern unterscheidet, lediglich durch eine gewisse Konfiguration von Gliedern und anderen Akzidenzien dieser Art zusammengesetzt ist“.10 Materielle Einzeldinge, wie z.B. der menschliche Körper, sind daher nicht als eigenständige Substanzen, sondern lediglich als Akzidenzien der einen körperlichen Substanz zu verstehen.11 Aber auch in diesem Fall liefert der Substanzbegriff kein geeignetes Identitätskriterium für materielle Einzeldinge. Wenn nämlich nur die gesamte res extensa eine Substanz ist, so müssen Einzeldinge als Teile oder – ähnlich wie bei Spinoza – als Zustände dieser Substanz aufgefasst werden. Aus diesem Grund bemühte sich Descartes, den Begriff eines physikalischen Einzeldings ohne Rekurs auf den Substanzbegriff mit Hilfe des Begriffs der Bewegung zu erläutern, und meinte: „Ich verstehe hier unter einem Körper oder einem Teil der Materie alles das, was gleichzeitig überführt wird, wenn es auch aus vielen Teilen besteht, die untereinander an-
____________ alles angewendet werden könne, „in dem unmittelbar, als in seinem Subjekt, etwas existiert, oder durch das etwas existiert, was wir erfassen, d.h. irgendeine Eigenschaft oder Qualität oder Attribut, wovon wir in uns die reale Idee haben“. 9 An anderen Stellen behauptet Descartes hingegen, dass es sich bei jeder beliebigen Portion Materie um eigene Substanzen handelt, weil jeder Teil eines Einzeldings unabhängig von dem Einzelding gedacht werden könne und damit real von ihm verschieden sei (Prinzipien I §60, AT VIIIa 28). Siehe auch Prinzipien II §55, AT VIIIa 71, oder Brief an Gibieuf vom 19.1.1642, AT III 477, und Markie 1994, 82f. Jedoch ist auch in diesem Fall der Substanzbegriff ungeeignet, um unseren gewöhnlichen Begriff eines Einzelkörpers Rechnung zu tragen. 10 AT VII 14. 11 Dafür, dass es für nur eine res extensa gäbe, haben etwa Williams 2005, 112f., Cottingham 1986, 84-86, und Lennon 1994, 13, argumentiert. Dagegen Stuart 1999. Markie 1994 meint im Gegensatz dazu, Descartes operiere mir drei mit einander inkompatiblen Substanzbegriffen.
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dere Bewegungen haben.“12 Wie im letzten Kapitel gesehen, schloss sich Spinoza dieser kinetischen Charakterisierung physikalischer Einzeldinge an, machte aber gleichzeitig auf ein Zirkularitätsproblem aufmerksam, in das sich Descartes mit dieser Einzelkörper-Definition verstrickt: So versteht Descartes im Rahmen seiner geometrischen Physikkonzeption Bewegung schlicht als geometrisch beschreibbare Überführung oder Translation eines Gegenstandes von einem Ort in einen anderen, und setzt damit bereits die Existenz wohlindividuierter Körper voraus, die ihren Ort in Relation zu den sie umgebenden Körper verändern. Darüber hinaus bringt Descartes’ (wie auch Spinozas) kinetische Charakterisierung physikalischer Einzeldinge auch eine gewisse Beliebigkeit mit sich: Wenn sich nämlich alles, was sich gemeinsam bewegt, als Einzelding qualifiziert, scheint es zu einem gewissen Maße unbestimmt, was wir als konkretes Einzelding beschreiben müssen. Je nachdem, wie genau wir hinschauen oder an welchen Bewegungen wir interessiert sind, greifen wir z.B. das Sonnensystem, die Erde, die darauf existierenden Lebewesen, deren Organe oder gar Zellen als Einzeldinge heraus. Wie Spinoza scheint also auch Descartes davon auszugehen, dass ein Individuum selbst wieder aus Individuen bestehen kann, deren Identitätskriterien in ihrer gemeinsamen Bewegung bestehen. Damit sind die Identitätsbedingungen von Einzeldingen nicht absolut festgelegt, sondern hängen davon ab, wie genau sie beschrieben werden. Das sah Leibniz kritisch. „Es wäre dann eine rein extrinsische Benennung, durch welche man einen Teil der Materie von einem anderen unterscheiden würde“:13 Was sich als physikalisches Einzelding auszeichnet, hängt nicht so sehr von der materiellen Welt selbst ab, sondern von unserer Beschreibung dieser Welt. Vor diesem Hintergrund hilft auch Descartes’ Rückgriff auf die Bewegung nicht weiter. Damit sich etwas bewegen kann, muss es schließlich etwas geben, das von einem Ort in einen anderen überführt werden kann. Da allerdings unklar ist, was in der homogenen Ausdehnung die Identität eines einzelnen Materieteilchens ausmacht, bleibt prinzipiell unbestimmt, welches Teilchen nun gerade für welches Teilchen oder ob überhaupt ein Teilchen substituiert wird. Im Rahmen von Descartes’ Theorie, so stellt Leibniz klar, „kann von keinem, selbst nicht von einem allwissenden Beobachter, auch nur das kleinste Anzeichen einer Veränderung wahrgenommen werden, und daher wird alles gerade so sein als ob es gar keine Veränderung und keinen Unterschied in den Körpern gäbe“.14 Hätte Descartes Recht, so entbehrte die
____________ 12 Prinzipien II §25, AT VIIIa 53f. Hervorhebung im Original. 13 De Ipsa Natura §13, GP IV 513; LPS IV 299; Übersetzung leicht verändert. 14 De Ipsa Natura §13, GP IV 513; LPS IV 301.
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Individuation einzelner Körper damit jedes metaphysischen Grundes und käme so einer rein extrinsischen Benennung gleich.15 Wie bereits im letzten Kapitel deutlich wurde, stellt auch das Phänomen der Bewegung für Descartes’ geometrische Physikkonzeption ein Problem dar. Bei seiner Definition der Bewegung hat sich Descartes ausdrücklich darum bemüht, den Bewegungsbegriff ohne Rekurs auf den Tätigkeitsbegriff zu explizieren. Damit wollte er den anthropomorphistischen Fehlschluss vermeiden, den er als Grundfehler der aristotelischen Naturphilosophie diagnostizierte: Weil nur Wesen mit einem Geist im eigentlichen Sinne tätig sein können, käme es einer Vermengung von Körper und Geist gleich, die Bewegung unbeseelter Materie als eine Form der Tätigkeit zu beschreiben. Um dieser Anthropomorphismus-Falle zu entgehen, schlug Descartes vor, sorgfältig zwischen der Bewegung und ihren Ursachen zu unterscheiden. Die Frage nach der Ursache der Bewegung beantwortet Descartes im Rahmen seiner Diskussion der Naturgesetze: Nachdem so die Natur der Bewegung erkannt worden ist, gilt es, ihre Ursachen zu betrachten, die eine zweifache ist. Zuerst die allgemeine und ursprüngliche, welche die gemeinsame Ursache aller Bewegungen in der Welt ist; dann die besondere, von der einzelne Teile der Materie eine Bewegung erhalten, die sie früher nicht hatten. Die allgemeine Ursache kann offenbar keine andere als Gott sein, welcher die Materie zugleich mit der Bewegung und Ruhe im Anfang erschaffen hat, und der durch seinen gewöhnlichen Beistand so viel Bewegung und Ruhe im Ganzen erhält, als er damals geschaffen hat. […] Aus derselben Unveränderlichkeit Gottes können wir gewisse Regeln als Naturgesetze entnehmen, welche die zweiten und besonderen Ursachen der verschiedenen Ursachen der verschiedenen Bewegungen sind, die wir an den einzelnen Körpern bemerken. (Prinzipien II §§36f., AT VIIIa 61f.)
Um zu erklären, woher die Bewegung der Körper kommt, gilt es zwischen zwei Fragen zu unterscheiden. Die erste Frage lautet: Was ist dafür verantwortlich, dass sich Körper überhaupt bewegen? Die zweite lautet: Wie ist es zu erklären, dass sich die Körper so bewegen, wie sie sich bewegen? Die erste Frage beantwortet Descartes mit Verweis auf Gott, von dem er meint, er hätte als erste und allgemeine Ursache die Bewegung nicht nur in die Welt gebracht, sondern er sorge durch seinen konstanten Beitrag (concours) auch dafür, dass die Bewegung in der Welt bleibt. Mit dieser Antwort knüpft Descartes an schon in der Scholastik vertretene Concursus Theorien an, denen zufolge Gott (als primäre Ursache) bei allen Kausal-
____________ 15 Auch E. Grosholz 1994 hat dafür argumentiert, dass Descartes keine befriedigende Lösung des Individuationsproblems liefert. Anders als Leibniz diagnostiziert sie das Hauptproblem seines Vorschlages allerdings nicht in der Zirkularität, sondern viel in seinem Anspruch die Physik zu mathematisieren oder geometrisieren.
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verhältnissen unterstützend mitwirkt und damit endlichen Einzeldingen (als sekundären Ursachen) überhaupt erst ermöglicht, kausal wirksam zu sein.16 Die zweite Frage beantwortet Descartes mit Verweis auf die sekundären oder partikulären Ursachen, die er mit den Naturgesetzen identifiziert. Diese Antwort überrascht. Denn im Rahmen mittelalterlicher Concursus Theorien fasste man üblicherweise konkrete Einzeldinge als partikuläre oder sekundäre Ursachen auf, und nicht wie Descartes Naturgesetze. Diese Abweichung von der klassischen Concursus Theorie wird jedoch verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Descartes an einer rein geometrischen Physikauffassung interessiert ist. Körpern Kräfte zuzusprechen, die es ihnen ermöglichen, auf andere Körper einzuwirken, würde gegen eine rein geometrische Auffassung der Physik verstoßen, da sich Kräfte nicht allein geometrisch als Funktion von Abständen zwischen Punkten beschreiben lassen.17 Um an seiner geometrischen Physikkonzeption festzuhalten, spricht Descartes die Rolle der Sekundärursachen daher auch nicht einzelnen Körpern, sondern Naturgesetzen zu. Wie verständlich die Motivation zu diesem Zug auch sein mag, so unhaltbar erscheint dieser Zug selbst. Denn Naturgesetze, so lässt sich unmittelbar einwenden, tun nichts, sondern sie beschreiben ein gewisses Tun. Daher ist es irreführend, Naturgesetze selbst als Ursachen aufzufassen.18 Dieser Ansicht war auch Leibniz: Es genügt somit nicht, wenn man sagt, Gott habe zu Anbeginn bei Erschaffung der Dinge gewollt, sie sollten bei ihrer Fortentwicklung ein gewisses Gesetz beachten, wenn dabei sein Wille für so unwirksam gehalten wird, dass die Dinge davon nicht berührt wurden und keine dauernde Wirkung in ihnen hervorgebracht worden ist. […] Sofern aber das von Gott erlassene Gesetz eine in den Dingen sich ausdrückende Spur hinterlassen hat und die Dinge durch den Auftrag so gebildet worden sind, dass sie befähigt wurden, den Willen des Gebieten-
____________ 16 Zur Concursus Theorie im Mittelalter siehe Perler & Rudolph 2000, Kapitel 4. Für eine concursus-theoretische Kausalitätsinterpretation von Descartes siehe Clatterbaugh 1997. 17 Dass die Annahme von Kräften in einer Spannung mit Descartes’ geometrischer Physikkonzeption steht, betonen sowohl Interpreten, die Descartes occasionalistisch interpretieren (wie Garber 1987, 575, und 1992, 297), als auch solche, die dafür argumentieren, Descartes hätte Körpern eigene Kräfte zugesprochen (wie Schmaltz 2008, 116). 18 Gemeinhin unterscheidet man zwischen präskriptiven und deskriptiven Gesetzen. Naturgesetze werden heute meist als deskriptive Gesetze verstanden, obwohl sie ursprünglich als Befehle Gottes präskriptiv verstanden wurden (vgl. dazu Hampe 2007, 42-63). Später wird deutlich werden, dass auch Leibniz noch dieser präskriptiven Auffassung verpflichtet ist (vgl. Anm. 19 und 143). Aber ganz unabhängig davon, ob Naturgesetze Kausalverläufe vor- oder beschreiben, in keinem Fall verursachen sie diese.
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den zu erfüllen, so muss man zugeben, dass den Dingen eine gewisse Wirksamkeit, Form oder Kraft eingepflanzt wurde, die wir mit dem Namen Natur zu benennen pflegen, und aus der die Reihe der Erscheinungen nach Vorschrift des ersten Befehles folgt. (De Ipsa Natura §6, GP IV 507; LPS IV 281f.)
Da Gesetze selbst nichts tun, sondern ein solches lediglich beschreiben oder einfordern, scheint es sinnlos von Gesetzen zu reden, wenn man nicht gleichzeitig den diesen unterworfenen Dingen die Fähigkeit zugesteht, diesen Gesetzen nachzukommen.19 Sobald Gott also will, dass sich die Dinge gemäß Naturgesetzen verhalten, muss er ihnen auch das Vermögen geben, sich überhaupt zu verhalten. Deswegen gilt es den Dingen selbst „eine gewisse Wirksamkeit, Form oder Kraft“ zuzusprechen. Da es Descartes aufgrund seines Anspruches an eine rein geometrische Physikkonzeption versagt ist, Körpern selbst genuine Kräfte zuzuschreiben, die sie dazu befähigen, andere Körper gemäß den Naturgesetzen zu bewegen,20 scheint ihm nur noch ein occasionalistischer Ausweg offen zu stehen. Dieser Position zufolge verfügen Körper selbst über keine Kräfte. Solche kommen allein Gott zu, der damit Körperbewegungen verursacht, indem er Bewegungen im einen Körper als Gelegenheit (frz. occasion) ergreift, um einen anderen Körper in einen seinen Naturgesetzen entsprechenden Bewegungszustand zu versetzen.21 Diese occasionalistische Option war unter Descartes’ Nachfolgern sehr beliebt.22 Doch auch diese Option hielt Leibniz für unhaltbar: Der Occasionalismus, so meinte er
____________ 19 Es ist interessant, dass Leibniz’ Redeweise von Gesetzen hier eher an normative, moralische oder politische Gesetze erinnert als an deskriptive Naturgesetze. (Darauf werde ich bei der Diskussion der hypothetischen Notwendigkeit von Naturgesetzen zurückkommen.) C. Wilson 1987, 162, hat gezeigt, dass sich Leibniz in seinen Überlegungen zu den Naturgesetzen auf Suárez’ Ausführungen zu politischen Gesetzen in De Legibus bezieht. Für Leibniz’ Argument spielt es jedoch keine Rolle, ob er hier nun an deskriptive oder präskriptive Gesetze denkt (vgl. Anm. 18). 20 Dagegen haben Gabbey 1971, Clark 1977, Gueroult 1980, Della Rocca 1999 und Schmaltz 2008 argumentiert, dass Descartes (trotz seiner geometrischen Physikauffassung) Körpern eine eigene kausale Kraft zuspricht. 21 Hatfield 1979, Garber 1987 und 1992, 299-305, und Nadler 1994 meinten, Descartes hätte (zumindest teilweise) eine solche occasionalistische Lösung vertreten. 22 Ein prominenter cartesischer Occasionalist war natürlich Nicolas Malebranche, der ausführlich für den Occasionalismus argumentiert hat. (Vgl. z.B. die Recherche de la vérité, VI.2, Kapitel 3, oder sein darin enthaltenes 15. Éclaircissement). Aber auch Louis de la Forge zeigte sich in seinem Traité de l’esprit de l’homme dem Occasionalismus zugewandt. Zum Verhältnis von Descartes und den Occasionalisten des 17. Jh.s siehe Clark 2000.
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polemisch,23 lege einen auf die Annahme eines ständigen Wunders (miracle perpetuelle) fest, da man schon zur Erklärung ganz alltäglicher kausaler Relationen auf etwas rekurriere, „das die Kräfte der Geschöpfe übersteigt“.24 Für Leibniz ist damit klar, dass sich die Bewegung nur dann adäquat analysieren lässt, wenn man auf Kräfte zurückgreift und so den Rahmen einer rein geometrischen Physik verlässt. Zusätzlich zu diesen allgemeinen Problemen der cartesischen Physik hat Leibniz auf ein spezielles Problem aufmerksam gemacht. In einem berühmt gewordenen Artikel von 1686 bewies er, dass der für Descartes’ Physik zentrale Satz der Bewegungserhaltung dem Prinzip der Gleichheit von Ursache und Wirkung widerspricht.25 Descartes behauptete in seinen Prinzipien der Philosophie (II §36), das so genannte Maß an Bewegung im Universum sei konstant. D.h. wenn ein Körper A einen anderen Körper B anstößt und A dabei zum Stillstand kommt, wird die Bewegung von A auf B übertragen, so dass das Maß an Bewegung im Universum nicht vermindert wird. Das Maß der Bewegung eines Körpers ist nach Descartes’ Auffassung „der Art, dass bei der doppelt so schnellen Bewegung eines Teiles gegen einen anderen, und bei der doppelten Größe dieses gegenüber dem ersten man annimmt, dass in dem kleinen so viel Bewegung wie in dem großen ist, und dass, um so viel als die Bewegung eines Teiles langsamer wird, ebensoviel die Bewegung eines anderen ebenso großen Teiles schneller werden muss.“ (Prinzipien II §36, AT VIIIa 61) Auf den Punkt gebracht, meint Descartes hier, dass das Maß an Bewegung oder die Kraft26
____________ 23 Wie D. Garber 1995, 177 und 272f., behauptet, hat Leibniz in seinen frühen Jahren selbst mit dem Occasionalismus geflirtet. Dagegen hat Okrent 2000 argumentiert. 24 Erläuterung zu den Schwierigkeiten, GP IV 520; LPS I 261. Vgl. auch Brief an Arnauld vom 14.7.1686, A II.b2 81; BW 153, und 30.4.1687, A II.b2 179f.; BW 247, sowie Entretien de Philarète et d’Ariste, GP IV 589; LPS I 351. Zu Leibniz’ allgemeiner Occasionalismuskritik siehe Rutherford 1993. 25 Der kurze Artikel trägt den langen Titel „Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii et aliorum circa legem naturalem, secundum quam volunt a Deo eandem semper quantitatem motus conservari, qua et in re mechanica abuntur“ und ist 1686 in den Acta Eruditorum erschienen (A VI.4c1 Nr. 369; LPS 214-225). Allerdings ist Leibniz schon früher auf die Falschheit des cartesischen Bewegungserhaltungssatzes gestoßen, da er bereits 1676 notiert, Spinoza davon berichtet zu haben (siehe dazu Garber 1995, 278). 26 Die Rede von einer Kraft im cartesischen Kontext mag nach obigen Ausführungen seltsam erscheinen. Doch Descartes spricht an mehreren Stellen von einer Kraft (vis; z.B. in den Prinzipien II §43, VIIIa 66). Diese Kraft ist aber nichts anderes als die stets manifeste Bewegungsgröße eines Körpers, die rein geometrisch als Funktion des Verhältnisses des Körpers zu seinen umliegenden Körpern be-
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eines Körpers proportional zu seiner Geschwindigkeit und seiner Größe oder Masse ist.27 Sie lässt sich damit als einfaches Produkt seiner Masse und Geschwindigkeit (m·v) auffassen. Eben diese These widerlegt Leibniz im besagten 1686er Artikel mit einer einfachen Überlegung, die in der untenstehenden Skizze illustriert wird: Angenommen wir haben zwei Körper A und B. Körper A habe die Masse mA = 1 und Körper B die Masse mB = 4. Zudem befinde sich A vier EinA mit heiten über dem Boden, während B sich m nur eine Einheit über dem Boden beA = 1 findet. Dann besteht das in Figur 1 skizzierte Szenario. Nach dem so geB mit nannten Äquipolenzprinzip, dem zufolge Ursache und Wirkung einander gleich sind, hat A, nachdem es vier Einheiten gefallen ist, eine Kraft – nennen wir sie KA –, die es ihm erlaubt einen Körper seiner Masse (d.h. der Masse 1) wieder um vier Einheiten zu heben. Ganz analog hat der Körper B, nachdem er eine Einheit gefallen ist, die Kraft KB einen Körper seiner Masse (d.h. der Masse 4) um eine Einheit zu heben. Diese Kraft KB reicht natürlich auch aus, einen Körper wie A mit Masse 1 um vier Einheiten heben, genau wie die Kraft KA ausreicht einen Körper der Masse mB = 4 um eine Einheit zu heben. Damit gilt offensichtlich, dass die beiden Kräfte, die beim Fall von A um vier Einheiten und beim Fall von B um eine Einheit entstehen, gleich groß sind, d.h. KA = KB. Nach Descartes’ Theorie würde die Kraft oder das Bewegungsvermögen eines Körpers nun einem einfachen Produkt seiner Masse und seiner Geschwindigkeit bestehen. Nach Galileos Fallgesetz ist die Fallstrecke jedoch proportional zum Quadrat der Fallgeschwindigkeit. Damit ist die Geschwindigkeit vA von A nach dem Fall der vier Einheiten doppelt so groß wie die Geschwindigkeit vB von B nach einer Einheit.28 Wenn wir
____________ schrieben werden kann. Diese Kraft sprengt den Rahmen von Descartes’ geometrischer Physikkonzeption also nicht. Siehe dazu auch Kapitel IV, S. 261. 27 Es mag erstaunen, dass Descartes nicht zwischen der Masse und der Größe (oder dessen Volumen) unterscheidet. Das liegt unter anderem daran, dass sich nur der Begriff der Größe geometrisch beschreiben lässt, nicht aber derjenige der Masse. 28 Das lässt sich anhand einer einfachen algebraischen Umformung verdeutlichen: Es bezeichne „SA“ die Fallstrecke von A und „vA“ die Fallgeschwindigkeit von A; analog für B. Es bedeute ‚x ~ y’ soviel wie ‚x ist proportional zu y’. Damit gilt: (Galileos Fallgesetz: Fallstrecke ~ FallgeschwinSA ~ vA2 und SB ~ vB2 digkeit2) (nach Voraussetzung) SA = 4·SB √SA = √4·√SB = 2·√SB ~ vA
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der Einfachheit halber annehmen, dass vB = 1 ist, ist vA = 2. Nach Descartes hätte der Körper A nach seinem Fall von vier Einheiten also ein Bewegungsvermögen des Umfangs KA = mA·vA = 1·2 = 2, während der Körper B nach seinem Fall das Bewegungsvermögen KB = mB·vB = 4·1 = 4 aufwiese. Dies widerspricht jedoch der soeben hergeleiteten Gleichheit von KA und KB. Damit ist gezeigt, dass nicht die Bewegungsgröße (d.h. das Produkt der Masse und der Geschwindigkeit eines Körpers) erhalten bleibt, wie Descartes behauptet hat, sondern vielmehr etwas anderes, was Leibniz die Bewegungskraft (vis motrix) nennt: Es besteht somit ein großer Unterschied zwischen der Bewegungskraft [vis motrix] und der Bewegungsgröße [quantitas motus], so dass das eine sich nach dem anderen nicht einschätzen lässt, was zu zeigen wir unternommen haben. Hieraus ergibt sich, wie die Kraft nach der Größe der Wirkung beurteilt werden muss, die sie hervorbringen kann, z.B. nach der Höhe, zu der sie einen schweren Körper von gegebener Größe und Gestalt hervorheben kann, nicht jedoch nach der Geschwindigkeit, die sie ihm mitgeben kann. Denn es bedarf nicht nur der doppelten, sondern einer größeren Kraft, um eben diesem Körper eine doppelte Geschwindigkeit mitzugeben. (Brevis demonstratio, A VI.4c1 2029; LPS IV 221)
Leibniz sagt an dieser Stelle nicht explizit, worin diese „Bewegungskraft“, die anstelle von Descartes’ „Bewegungsgröße“ erhalten wird, genau besteht. In seinem 1695 verfassten Specimen Dynamicum ist Leibniz deutlicher und bestimmt das korrekte Maß der Kraft, die bei Interaktionen zwischen Körpern erhalten wird, als „proportional zum Quadrat ihrer Geschwindigkeiten“ (GM VI 245). Descartes irrte sich also, als er meinte, bei der Interaktion zwischen Körpern bliebe lediglich die Bewegungsgröße (gegeben als m·v) konstant. Wie Leibniz nachwies, ist es die Bewegungskraft (des Umfangs m·v2). Nun erstaunt es auf den ersten Blick, warum Leibniz mit Verweis auf seine Entdeckung, dass das Maß der erhaltenen Bewegung m·v2 statt m·v beträgt, immer wieder betont, Descartes’ rein geometrische Physikkonzeption sei unzureichend und bedürfe der Annahme gerichteter Kräfte oder so genannter vektorieller Größen, wie man heute sagt.29 Denn m·v2 ist genauso eine skalare Größe wie Descartes’ m·v. Einen ersten Hinweis, warum Leibniz ausgehend von seiner Entdeckung zum Schluss kommt, Kräfte seien wesentlich gerichtete Größen, ergibt sich aus der oben zitierten Passage, in der Leibniz betont, seine Überlegungen zeigten, dass Kräfte nur im Hinblick auf ihre Wirkungen bestimmt werden könnten, also gleich-
____________ Da √SB ~ vB, gilt demnach 2·vB = vA. D.h. die Fallgeschwindigkeit von A ist doppelt so groß wie die von B. 29 Deswegen war es Leibniz wichtig zu betonen, dass es zwischen der Größe und der Richtung einer Bewegung zu unterscheiden gilt. Siehe etwa seine Bemerkungen zu den Kartesischen Prinzipien, GP IV 374; C 316f.
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sam auf ihre spezifischen Wirkungen ausgerichtet seien. In der Theodizee spricht Leibniz denn auch von zwei Wahrheiten, die Descartes in seinen physikalischen Untersuchungen entgangen seien: Außerdem hat man über diesen Gegenstand seit den Zeiten des Herrn Descartes zwei wichtige Wahrheiten entdeckt, nämlich erstens, dass die Menge der absoluten Kraft, die sich in der Tat erhält, verschieden ist von der Quantität der Bewegung, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe; die zweite Entdeckung ist, dass auch die gleiche Richtung sich in all den Körpern zusammen, die man als aufeinander einwirkend annimmt, erhält, in welcher Weise sie auch aufeinanderstoßen mögen. (Théodicée I §61, GP VI 136; LPS II/1 297)
Bei dieser zweiten Entdeckung handelt es sich um das, was heute unter dem Namen „Impulserhaltungssatz“ bekannt ist. Dieser Satz besagt, dass bei der mechanischen & Interaktion von Körpern der Impuls – d.i. die vektorielle Größe m v – erhalten bleibt. Leibniz meinte, dass dieser Impulserhaltungssatz aus seiner ersten Entdeckung mittels einer Überlegung zum Schwerpunkt (centrum gravitatis) von Körpern folge.30 Wenn man ein geschlossenes System S einzelner Körper K1 bis Kn betrachtet, so setzt sich die Menge der absoluten Kraft F(S), die in S erhalten bleibt – d.h. mS·vS2 – additiv aus den absoluten Kräften seiner Konstituenten F(Ki) zusammen.31 Auch der Schwerpunkt von S ergibt sich aus der Lage (der Schwerpunkte) seiner Konstituenten Ki. Gemäß dem Satz des zureichenden Grundes oder dem Äquipolenzprinzip wird sich der Schwerpunkt von S ohne äußere Einwirkung auf S nicht verändern. Daher dürfen sich natürlich auch die Konstituenten Ki von S nicht beliebig in verschiedene Richtungen bewegen. Vielmehr müssen die Richtungen der Bewegungen von Ki ständig kompensiert werden, wenn der Schwerpunkt von S unverändert und dessen absolute Kraft F(S) erhalten bleiben soll – wie dies nach Leibniz’ Hypothese ja der Fall ist. Damit gilt aber, dass die Kraft eines Systems nicht gleichgültig gegenüber den Richtungen der Bewegungen seiner Konstituenten sein kann, und dass in einem geschlossenen System folglich nicht nur die Bewegungskraft m·v2 (heute würde man sagen „Bewegungsenergie“) erhalten bleibt, sondern auch dessen Impuls& oder Momentum (Leibniz spricht von nisus, progressus oder directio) m v .32 Mithin müssen
____________ 30 Ich orientiere mich hier an dem Argument, das Leibniz in den Dynamica II §2, pp12-13, GM VI 496-500, anführt. Für eine Diskussion und weitere Stellenhinweise siehe Garber 2001, 138-140. n n 31 Es gilt also: F(S ) ¦ F(Ki ) ¦ m Ki v K2 i iund 1 1 32 Wie mich Normani Sieroka Sebastian Baader aufgeklärt haben, ist es nicht möglich, den Impulserhaltungssatz vom Energieerhaltungssatz zu deduzieren. Entsprechend ist Leibniz’ Überlegung auf der Grundlage der Erhaltung des Schwerpunkts strikt besehen auch keine Deduktion des Impulserhaltungssatzes, sondern eine eigenständige Plausibilisierung dieses Satzes.
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die Kräfte, die für die Bewegungen von Körpern verantwortlich sind, wesentlich als gerichtete oder vektorielle Größen konzipiert werden. Diese Einsicht wird sich für Leibniz’ Verständnis von Finalursachen noch als zentral herausstellen. Nach Leibniz ist Descartes’ geometrische Physikkonzeption nicht zuletzt deshalb unhaltbar, weil sie über keinen Begriff einer gerichteten oder vektoriellen Kraft verfügt. In ihrer rein geometrischen Fassung bleibt die Individuation physikalischer Körper problematisch; genauso wie die Bewegung dieser Körper. Um diese Probleme zu beheben, muss eine rein geometrische Physikkonzeption, wie sie Descartes vorgeschlagen hat, entscheidend ergänzt werden.
Der Hylemorphismus und die Begründung der Physik Die Mängel von Descartes’ geometrischer Physikkonzeption ziehen nach Leibniz unmittelbar ein schwerwiegendes philosophisches Problem nach sich: Insofern Descartes’ Physik Phänomene der Einheit und der Bewegung nicht erklären kann, bleibt sie in zentralen Punkten unbegründet und läuft dem Prinzip des zureichenden Grundes zuwider.33 Dieses Prinzip ist nach Leibniz – neben dem Prinzip des Widerspruchs – das große Prinzip, auf das sich all „[u]nsere Vernunftschlüsse stützen“, und es besagt, dass „keine Tatsache als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage als richtig, ohne dass es einen zureichenden Grund dafür gibt, dass es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.“34 Insofern die cartesische Physik die Phänomene der Bewegung und Einheit nicht weiter begründen kann, bleibt ihre Existenz in diesem Rahmen zweifelhaft und damit für Leibniz irreal.35 Sie bedarf daher einer Ergänzung oder einer Fundierung.36 Dafür schlägt Leibniz die Einführung eines Kraftbegriffs vor, über den er schreibt:
____________ 33 Vgl. zum Vorwurf der unbegründeten cartesischen Physik De Ipsa Natura §13, GP IV 513; LPS IV 299, Bemerkungen zu den Kartesischen Prinzipien, Ad II art. 25, 308f., Brief an Huyghens vom 12/22. Juni 1694, 243, Discours §18, A VI.4b1 1559; LPS I 111, Über Körper und Kraft, GP IV 400; AG 256, und Specimen Dynamicum, GM VI 247; AG 130f. Für eine Diskussion siehe Garber 1995, 305309. 34 Monadologie §§31f. Im Folgenden werde ich dieses Prinzip zuweilen mit dem Akronym ‚PZG’ abkürzen. 35 Das betont Leibniz etwa im Discours §18, A VI.4b1 1559; LPS I 111. Weitere Stellen finden sich in Anm. 33. 36 Damit unterscheidet sich Leibniz’ Reaktion auf Descartes’ geometrisches Materieverständnis sowohl von der Malebranches als auch von jener Humes: Während
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Nun ist diese Kraft etwas von der Größe, von der Gestalt und von der Bewegung Verschiedenes, und man kann daraus urteilen, dass alles, was vom Körper begriffen wird, nicht einzig in der Ausdehnung und ihren Modifikationen besteht, wie uns unsere modernen Philosophen überzeugen wollen. So sind wir auch genötigt, irgendwelche Entitäten oder Formen wiederherzustellen, die sie verbannt haben. Und obgleich alle einzelnen Naturphänomene mathematisch oder mechanisch erklärt werden können – von denen, die sie verstehen –, scheint es mehr und mehr, dass nichtsdestoweniger die allgemeinen Prinzipien der körperlichen Natur und sogar der Mechanik eher metaphysisch als geometrisch sind und als Ursachen der Erscheinungen eher irgendwelchen Formen oder unteilbaren Naturen zugehören als der körperlichen Masse oder Ausdehnung. (Discours §18, A VI.4b1 1559; LPS I 111.)
Die Phänomene, welche die cartesische Physik im Einzelnen mit mathematischen Mitteln beschreibt, sind im Allgemeinen nicht auf der Grundlage rein geometrischer Überlegungen verständlich, die sich allein auf Begriffe der Ausdehnung wie Größe und Gestalt berufen. Deshalb müssen sie durch einen Bereich fundiert oder begründet werden, der die bloße Physik übersteigt, und den Leibniz deshalb Meta-physik nennt.37 Dieser metaphysische Bereich, in dem die physikalischen Phänomene begründet sind, will Leibniz aristotelisch verstanden wissen: Er besteht aus „irgendwelchen Formen oder unteilbaren Naturen“, welche die modernen Philosophen verbannt haben. Damit trägt Leibniz nicht nur einem systematischen Problem der cartesischen Physik Rechnung. Die Begründung der mechanistischen Physik in einer aristotelischen Metaphysik dient auch seinem eklektizistisch-konziliatorischen Anspruch, viele unterschiedliche philoso-
____________ ersterer meinte, Gott sei für die kausalen Interaktionen verantwortlich, und letzterer argumentierte, kausale Zusammenhänge seien kontingente und damit nicht weiter erklärbare konstante Verbindungen zwischen benachbarten Ereignissen, schlägt Leibniz zur Lösung dieses Problems eine Rehabilitation des aristotelischen Hylemorphismus vor. 37 Es ist bemerkenswert, dass Leibniz den Ausdruck ‚Metaphysik’ in einem Sinne versteht, der nicht seiner etymologischen Bedeutung entspricht. So hat dieser Ausdruck ursprünglich einfach das Projekt bezeichnet, das Aristoteles in den Büchern verfolgt hat, die man ‚tà metà tà physiká’ genannt hat, weil sie Andronikos von Rhodos bei der Zusammenstellung der aristotelischen Schriften nach (griech.: metá) seinen Schriften über die Physik eingeordnet hat (vgl. zur frühen Geschichte des Corpus Aristotelicum Lord 1986). In dieser Schrift skizzierte Aristoteles ein Projekt, das sich hauptsächlich im Allgemeinheitsgrad ihrer Beschreibung vom Projekt der Physik unterscheidet: Die Physik beschreibt die Dinge, insofern sie sich verändern, während die Metaphysik dieselben Dinge beschreibt, insofern sie existieren. Leibniz hingegen scheint unter der Metaphysik eine Wissenschaft zu verstehen, die sich mit einer Realitätsschicht befasst, die über die physikalische Realität hinausgeht. Vgl. zur Begriffsgeschichte der „Metaphysik“ Reiner 1954.
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phische Positionen in einer umfassenden Theorie zu vereinen.38 So führt Leibniz in Bezug auf die eben zitierte Passage an, sie lege eine Überlegung vor, „die geeignet ist, die mechanische Philosophie der Modernen mit der Vorsicht einiger kluger und wohlmeinender Leute zu versöhnen, die mit einigem Grunde fürchten, dass man sich zum Schaden der Frömmigkeit zu weit von den immateriellen Entitäten entfernt habe.“39 Geht man nämlich von einer ontologischen Hierarchie zwischen Physik und Metaphysik aus, wie es Leibniz vorschlägt, wonach die Metaphysik eine basale Realitätsschicht beschreibt, auf der die physikalische Realität beruht, kann man sowohl der mechanistischen science nouvelle als auch dem Hylemorphismus der Aristoteliker Recht geben. Es gilt lediglich, die unterschiedlichen Theorien auf die ihnen je angemessene Realitätsschicht zu beziehen. Insofern mechanistische Philosophen den Bereich der Physik und Aristoteliker den Bereich der Metaphysik beschreiben und sich diese Bereiche voneinander unterscheiden, widersprechen sie sich nicht. Doch die Geltungsbereiche dieser verschiedenen Theorien sind strikt einzuhalten und dürfen nicht überschritten werden. Für Leibniz ist klar, „dass die Betrachtung dieser Formen in den Einzelheiten der Physik zu nichts dient und nicht zur Erklärung der Erscheinungen im Besonderen angewandt werden darf.“40 Der Mangel an Erklärungskraft von Formen auf der physikalischen Ebene sollte uns allerdings nicht dazu verleiten, „eine Sache abzulehnen, deren Erkenntnis in der Metaphysik so notwendig ist, dass man ohne sie nach meinem Dafürhalten weder die ersten Prinzipien erkennen noch den Geist genügend zur Erkenntnis der unkörperlichen Naturen und der Wunder Gottes erheben kann.“41 Stellt man nämlich die allgemeine Frage, warum es überhaupt physikalische Einzelkörper gibt, die sich bewegen können, muss man der Bereich der Physik und der mechanistischen Erklärungsprinzipien verlassen und auf die metaphysische Erklärungsebene wechseln, in der Begriffe wie Kräfte und aristotelisch verstandene Substanzen eine Rolle spielen. Doch warum sieht sich Leibniz zu diesem konziliatorischen Schritt berechtigt? Seine physikalischen Überlegungen garantieren ihm ja vorerst nur, dass sich die physikalischen Phänomene nicht ohne die Annahme von Kräften erklären lassen. Genauer gesagt, muss auf aktive und passive Kräfte zurückgegriffen werden:
____________ 38 Eine ausführliche Darstellung und historische Einbettung von Leibniz’ konziliatorischem Projekt gibt Mercer 2001, Kapitel 1. 39 Discours §18, A VI.4b1 1559; LPS I 111. 40 Discours §10, A VI.4b1 1543; LPS I 79. Ähnlich auch Specimen Dynamicum, GM VI 243; C 270f.; AG 126. 41 Discours §10, A VI.4b1 1543; LPS I 81.
Der Hylemorphismus und die Begründung der Physik
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Genau gesprochen, konstituiert die passive Kraft Materie oder Masse, und die aktive Kraft konstituiert die Entelechie oder die Form. Passive Kraft ist der Widerstand selbst, mittels derer ein Körper nicht nur der Durchdringung widersteht, sondern auch der Bewegung, und durch welche es geschieht, dass ein anderer Körper nicht an seinen Ort vordringen kann, ohne dass sich der Körper davon zurückzieht. (Über Körper und Kraft, GP IV 395; AG 252.)
Die aktive Kraft ist für die Bewegungen von Körpern verantwortlich, während die passive Kraft das Prinzip ihrer Undurchdringlichkeit und natürlichen Trägheit ist und dafür sorgt, dass unmöglich zwei Körper zugleich am selben Ort sein können und so für die räumliche Getrenntheit numerisch verschiedener Körper aufkommt.42 Es fällt auf, dass Leibniz nach seiner Feststellung, dass die physikalischen Phänomene in aktiven und passiven Kräften begründet werden müssten, unmittelbar dazu übergeht, diese beiden Kräfte mit den hylemorphistischen Prinzipien der Form und der Materie zu identifizieren.43 Doch was rechtfertigt diesen Zug? Das lässt sich beantworten, wenn man sich vergegenwärtigt, welche theoretische Rolle Form und Materie in Aristoteles’ Philosophie spielen. Nach Aristoteles besteht die Welt letztlich aus individuellen Einzeldingen, die selbständig existieren können, und die er in seinen Kategorien als ‚ousíai’ bezeichnet, was in der Tradition mit ‚Substanz’ übersetzt worden ist.44 Wie er in der Metaphysik ausführt, verdanken diese Substanzen ihr Wesen oder das, was sie sind, ihrer (substantiellen) Form. So ist z.B.
____________ 42 Leibniz’ aktive und passive Kräfte entsprechend damit Spinozas idiosynkratischen Größen der Bewegung und Ruhe, die wir in Kapitel IV, S. 268f., kennen gelernt haben. 43 Es ist aber zu beachten, dass die Materie für Leibniz – anders als für Aristoteles (siehe Anm. 46) – kein Individuationsprinzip ist. Das hängt mit dem PZG zusammen: Damit Materie eine Substanz individuieren kann, muss sie selbst schon individuiert sein, da ansonsten unbegründet wäre, warum diese Materie-Portion gerade die Substanz individuiert und nicht vielmehr eine andere. Es muss sich also bereits um eine bestimmte Materie-Portion handeln. Da eine Materie aber selbst keine Form oder Bestimmung hat, ist nur schwer zu sehen, wie das möglich ist. Deshalb meint Leibniz, dass bereits substantielle Formen individuell sein müssen, und konzipiert sie deshalb nicht wie Aristoteles als bloß spezifische Formen. Vgl. dazu Discours §9, A VI.4b1 1541; LPS I 77. 44 So in Cat. 5, 2a11-2b6. Für einen kurzen Überblick über Aristoteles’ Substanzen und einen begriffsgeschichtlichen Abriss des Substanzbegriffs siehe Rapp 2005. Für Aristoteles zeichnen sich Substanzen unter anderen durch ontologische Unabhängigkeit aus. Wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, ist diese Eigenheit für Leibniz’ Substanzverständnis zentral. Dass Aristoteles’ Welt primär aus Substanzen besteht, zeigt sich z.B. in Met. IV.2, 1003b11-32, wo er betont, die Metaphysik als Wissenschaft des Seienden, insofern es seiend ist, habe sich vornehmlich mit den Substanzen zu befassen.
318 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache
die Substanz Sokrates deshalb das, was sie ist – d.h. ein Mensch –, weil Sokrates die Form des Menschen aufweist.45 Im Gegensatz dazu ist die numerische Identität einer Substanz ihrer Materie geschuldet. Das heißt also, dass Sokrates deshalb ein anderer Mensch als Kallias ist, weil die Form des Menschen bei Sokrates und Kallias in je unterschiedlichen Materieportionen instantiiert ist.46 Darüber hinaus betont Aristoteles immer wieder, dass das Wesen oder die Substanz eines Dinges nichts anderes als seine Natur sei, und charakterisiert die Natur „als das Prinzip der Bewegung der natürlichen Dinge“.47 Substantielle Formen erklären im Rahmen von Aristoteles’ Theorie also nicht nur die spezifische Identität von Dingen (und beantworten so die Frage, was für ein Ding ein gewisses Ding sei), sondern geben auch über die spezifischen Bewegungen dieses Dinges Aufschluss. Damit tragen Materie und Form innerhalb der aristotelischen Theorie genau den Phänomenen Rechnung – nämlich der Individualität, Einheit und Bewegung von Dingen –, welchen Leibniz mit Hilfe von passiven und aktiven Kräften gerecht werden möchte. Leibniz’ Identifikation seiner aktiven und passiven Kräfte mit den hylemorphistischen Prinzipien der Form und Materie ist also einfach dadurch gerechtfertigt, dass diese Prinzipien in Aristoteles’ Metaphysik dieselben Phänomene erklären sollen wie Leibniz’ aktive und passive Kräfte. Doch das konziliatorische Potenzial von Leibniz’ metaphysischer Fundierung der cartesischen Physik erschöpft sich nicht in der Rehabilitation des aristotelischen Hylemorphismus. Wie Leibniz bemerkt, verhilft sein Modell unterschiedlicher Realitätsschichten auch den teleologischen Erklärungen wieder zu ihrem Recht. Während Descartes und Spinoza vor dem Hintergrund ihres mechanistischen Physikverständnisses den Rückgriff auf Finalursachen (in der Naturphilosophie) zurückgewiesen haben, meint Leibniz, dass die meisten Phänomene prinzipiell auf zwei Weisen erklärt werden könnten. Einmal teleologisch im Rekurs auf Finalursachen und einmal mechanisch im Rekurs auf Wirkursachen:
____________ 45 Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang daher auch immer wieder von dem tóde tì eînai. Insofern die konkreten Einzeldinge ihre (bestimmte) Existenz ihrer Form zu verdanken haben, argumentiert Aristoteles in Met. VII.10-11, dass die Substanz (ousía) eines Dinges letztlich in seiner Form besteht. 46 Vgl. etwa Met. IV.6, 1016b31f., und Met. VII.8, 1034a5-8. Zur Individuation bei Aristoteles siehe auch Cohen 1984. 47 Met. 1015a13-19. Vgl. auch Phys. II.1, 193a28-31 und 193b6-8. Auch Leibniz war mit dem aristotelischen Naturbegriff vertraut und meinte, dass „Aristoteles ‹die Natur› nicht zu Unrecht das Prinzip der Bewegung und Ruhe genannt hat“ (De Ispa Natura §3, GP IV 505; LPS IV 275). Wie Garber 1982, 165-167, ausführt, kam Leibniz schon in seinen frühen Jahren zur Überzeugung, dass sich Substanzen durch Aktivität oder ein inneres Bewegungsprinzip auszeichneten.
Der Hylemorphismus und die Begründung der Physik
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Im Allgemeinen müssen wir annehmen, dass alles in der Welt auf zwei Weisen erklärt werden kann: Durch das Königreich der Kräfte, d.h. durch Wirkursachen und durch das Königreich der Weisheit, d.h. durch Finalursachen, durch Gott, insofern er die Körper zu seiner Ehre regiert, wie ein Architekt, der sie als Maschinen regiert, die den Gesetzen der Größe oder der Mathematik folgen, der sie tatsächlich zum Nutzen der Seelen regiert, und durch Gott, insofern er zu seiner Ehre Seelen regiert, die zur Weisheit fähig sind, insofern er sie als seine Mitbürger regiert, die mit ihm Teile einer gewissen Gesellschaft sind, insofern er sie wie ein Fürst regiert, ja, wie ein Vater durch die Gesetze der Güte oder moralischen Gesetze. (Specimen Dynamicum, GM VI 243)
Leibniz’ metaphysische Fundierung der Physik geht so mit einer Rehabilitierung der Finalursachen einher. Doch warum und inwiefern sind teleologische Erklärungen durch Leibniz’ metaphysische Begründung der Physik gerechtfertigt? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, Leibniz’ Bereich der Metaphysik genauer unter die Lupe zu nehmen. Leibniz folgt nämlich nicht nur darin der klassisch aristotelischen Metaphysiktradition, dass er seine metaphysischen Prinzipien in Gestalt aktiver und passiver Kräfte mit den hylemorphistischen Prinzipien der Form und Materie identifiziert. Er folgt ihr auch darin, dass er diesen Bereich durch ontologisch unabhängige und aktive Einheiten oder Substanzen ausgestattet sieht.48 Für Leibniz ist nämlich gewiss, dass es keine Kraft ohne Tätigkeit und keine Tätigkeit ohne Kraft oder Vermögen gibt,49 und er hält es für einen „allgemein anerkannte‹n› philosophische‹n› Satz, dass die Tätigkeit den Substanzen eigen ist.“50 Die Gewissheit für diese These entnimmt Leibniz dem Umstand, dass der Begriff der Substanz angeboren ist,51 und der introspektiven Erfahrung des eigenen, denkenden Ichs.52 So betont Leibniz im Briefwechsel mit Ar-
____________ 48 So geht Aristoteles davon aus, dass (zumindest wahrnehmbare) Substanzen aus Form und Materie zusammengesetzt sind (Met. VIII.1, 1042a25-31). Er betont aber auch, dass der Ausdruck ‚Substanz’ (ousía) bisweilen mehrdeutig verwendet würde und manchmal nur die Materie, manchmal nur die Form und manchmal das ganze Form-Materie-Kompositum bezeichne (De An. II.1 412a6-11). 49 „Tätigkeit kann nicht ohne Kraft zu handeln sein, und andererseits ist ein Vermögen, das niemals ausgeübt werden kann, nichtig“ (De Ipsa Natura §9, GP IV 509; LPS IV 287). Leibniz setzt in De Ispa Natura §4, GP IV 506; LPS IV 277, auch die ‚bewegende Kraft’ eines Körpers mit seinem ‚tätigen Vermögen’ gleich und verdeutlich damit den engen Zusammenhang zwischen Kraft und Tätigkeit. 50 De Ipsa Natura §9, GP IV 509; LPS IV 289. 51 Siehe etwa Nouveaux Essais, Vorwort, GP V 45; LPS III/1 xvii. 52 Die Ursache für Leibniz’ Gewissheit dürfte allerdings eher begriffsgeschichtlicher Natur sein: So hat bereits Aristoteles den Substanzbegriff eng mit dem der Natur eines Dinges assoziiert, und jene als Prinzip der Bewegung eines Dings genannt (vgl. Anm. 47). Auch für Spinoza zeichnet sich eine Substanz wesentlich (und
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nauld, „dass es – um den Begriff einer individuellen Substanz zu beurteilen – gut ist, denjenigen Begriff, den ich von mir selbst habe, zu Rate zu ziehen, wie man den spezifischen Begriff der Kugel zu Rate ziehen muss, um ihre Eigenschaften zu beurteilen.“53 Wie Descartes hält es auch Leibniz für unbezweifelbar, dass ein Geist eine aktive Substanz ist, die permanent denkt.54 Für Leibniz gilt also ganz allgemein: „Was nicht handelt, verdient nicht den Namen Substanz.“55 Damit steht fest, dass Leibniz’ Bereich der Metaphysik, in dem die physikalische Realität der Körper fundiert ist, aus Substanzen besteht.56 Als Inventar der Metaphysik haben diese Substanzen die Aufgabe, Einheit und Bewegung physikalischer Gegenstände zu begründen. Dem Phänomen der Bewegung werden Substanzen insofern gerecht, als sie dank ihrer Kräfte permanent tätig sind und so die Quelle der Aktivität in sich tragen. Damit sie aber auch das Phänomen der Einheit begründen und als letzte ontologische Einheiten fungieren können, müssen sie nach Leibniz selbst einfach sein, und dürfen entsprechend keine Teile aufweisen. Denn wären sie aus Teilen zusammengesetzt, bildeten sie keine ontologisch unabhängigen, metaphysischen Einheiten, sondern würden in ihrer Existenz von der
____________ 53 54 55 56
allein) durch Aktivität aus (siehe Kapitel IV, S. 248f.). Zum Verhältnis der Begriffe der Substanz und der Aktivität vgl. Wiggins 2001, Kapitel 3. Bemerkungen zu einem Brief Antoine Arnaulds, Hannover, 14.7.1686, A II.b2 51; BW 99. Siehe etwa Nouveaux Essais, Vorwort, GP V 58; LPS III/1 lif., und II.1. Darin unterscheidet sich Leibniz von Locke. Anders als Descartes geht Leibniz allerdings davon aus, dass uns nicht alle Denkakte bewusst sind. Théodicée, III §393, GP VI 350; LPS II/2 231. Eine ausführliche Untersuchung zu den Quellen und der Entwicklung von Leibniz’ aristotelischem Substanzbegriff liefert Mercer 2001 in den Kapiteln 2 bis 4. Gegen diesen Befund könnte man einwenden, dass Leibniz’ Substanzen oder tätigen Einzeldinge selbst wieder in Bestandteile – nämlich in ihre Form und Materie in Gestalt aktiver und passiver Kräfte – zerfallen und deshalb unmöglich den Bereich der Metaphysik ausstatten könnten. Vielmehr müsse Leibniz davon ausgehen, dass es streng metaphysisch gesprochen letztlich keine Substanzen (im Sinne partikulärer Kontinuanten), sondern Kräfte gibt. Leibniz verträte damit keine klassische Substanzontologie, sondern eine Kräfte-Ontologie (die vielleicht mit einer Feldmetaphysik moderner physikalischer Theorien vergleichbar wäre). Dennoch geht Leibniz davon aus, dass diese Kräfte Substanzen im Sinne tätiger Einzeldinge konstituieren, welche die typische substanzontologische Eigenheit aufweisen, dass sie Veränderungen unterliegen, die in einem Wechsel ihrer akzidentellen Zustände bestehen. Da Leibniz seine Rehabilitation von Finalursachen nun ausschließlich auf dieser substanzontologischen Analyse-Ebene bespricht, werde ich in den Folgenden Überlegungen ebenfalls von dieser Ebene ausgehen, und nicht weiter der Frage nachgehen, wie sich Leibniz’ Theorie der Finalursachen in seine möglicherweise ultimative Kräfte-Ontologie übertragen ließe.
Der Hylemorphismus und die Begründung der Physik
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Existenz ihrer Teile abhängen.57 Damit steht für Leibniz fest, dass die eigentlichen Substanzen einfach oder unteilbar sein müssen, weshalb er sie auch ‚Monaden’ nennt.58 Aus der Unteilbarkeit der Monaden folgt nach Leibniz sogleich, dass diese einfachen Substanzen oder „wahren Atome der Natur“ nicht ausgedehnt sein können. Denn „da, wo es keine Teile gibt, gibt es weder Ausdehnung noch Figur“.59 Damit fehlt ihnen aber genau das Attribut, durch das sich – gemäß der in der frühen Neuzeit üblichen Auffassung60 – Körper auszeichnen. Entsprechend schlägt Leibniz vor, die einfachen Substanzen nach dem Modell von Seelen zu verstehen, was sich zudem gut mit unserem angeborenen Substanzbegriff ergänzt, den wir aus der introspektiven Selbsterfahrung gewinnen: Da nun aber die Vielheit ihre Realität nur von wahren Einheiten haben kann, […] war ich gezwungen, um diese wirklichen Einheiten zu finden, auf einen wirklichen und sozusagen beseelten Punkt zurückzugehen, das heißt auf ein substantielles Atom, das irgendetwas Formales oder Aktives einschließen muss, um ein vollständiges Sein zu bilden. Man musste die heute so verrufenen substantiellen Formen in Erinnerung rufen und gleichsam rehabilitieren, wenngleich auf eine Weise, die sie verständlich machte und den Gebrauch, den man von ihnen machen darf, von dem Missbrauch trennte, den man mit ihnen getrieben hat. So fand ich, dass ihre Natur in der Kraft besteht und dass sich daraus etwas der Empfindung und dem Begehren Analoges ergibt und dass man sie also entsprechend dem Begriff verstehen muss, den wir von Seelen haben. (Système Nouveau §3, GP IV 478f.; LPS I 205)
Insofern die Atome der Realität für die Einheit und Bewegung von Phänomenen aufkommen, dürfen sie einerseits keine Teile aufweisen und müssen andererseits über Kräfte verfügen und somit etwas „Aktives einschließen“. Versteht man die Monaden nun in Analogie zu Seelen, wird man diesen beiden Bedingungen auf ganz natürliche Weise gerecht: Als immaterielle Entitäten sind Seelen einfach und unteilbar,61 und insofern sie Körper zu Handlungen befähigen, sind sie Prinzipien der Aktivität.
____________ 57 Wie S. 305 gesehen, findet sich die Forderung, dass Substanzen aufgrund ihrer ontologischen Unabhängigkeit keine Teile haben dürfen, schon bei Descartes. 58 So argumentiert Leibniz in der Monadologie §§1f. 59 Monadologie §3. 60 Bekanntlich sah Descartes in der Ausdehnung die wesentliche Eigenschaft von Körpern, und bemerkte entsprechend, „dass der Körper seiner Natur nach immer teilbar, der Geist aber gänzlich unteilbar“ ist (Meditationes VI §19, AT VII 85f.). 61 Leibniz’ Ansicht, dass immaterielle Seelen unteilbar sind, deutet darauf hin, dass er diese Seelen, nach deren Modell er die substantiellen Formen versteht, cartesisch konzipiert, da Aristoteliker gemeinhin von der Existenz verschiedener Seelenteile (der vegetativen, sensitiven und der denkenden Seele) ausgingen. Zur spätaristotelischen Debatte um die Seele und ihre Teile siehe Des Chene 2001, 155-189.
322 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache
Auch wenn sich Leibniz also explizit vom Cartesianismus abwenden und für die metaphysische Begründung der mechanistischen Physik auf Aristoteles zurückgreifen möchte, zeigt sich in seinem animistischen Formverständnis doch, dass dieser Rückbezug auf Aristoteles cartesisch überformt ist. Denn wie Descartes, hält er die substantiellen Formen der Aristoteliker für eine Art Seele, die für die Tätigkeit und Einheit einzelner Substanzen verantwortlich ist.62 Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch die Frage beantworten, warum Leibniz der Ansicht ist, dass die Wiedereinführung substantieller Formen automatisch mit der Rehabilitation von Finalursachen einhergeht. Im Einklang mit der cartesischen Tradition versteht Leibniz die substantiellen Formen, die er für sein Projekt metaphysischen Begründung der mechanistischen Physik heranziehen möchte, animistisch nach dem Modell von Seelen. Damit lassen sich die Kräfte, die Substanzen aufweisen, als eine Art Begehren verstehen, wie Leibniz in der eben zitierten Passage selbst betont. Da ein Begehren jedoch ein zielgerichtetes Streben ist, das traditionellerweise mit einem Rekurs auf Finalursachen erklärt wird, ist für Leibniz klar, dass auch die begehrenden „Seelen […] gemäß den Gesetzen der Finalursachen durch Appetit, Zweck und Mittel“ tätig sind.63 Auf diese Weise kann Leibniz auch dem Umstand Rechnung tragen, dass seine bewegungsfundierenden Kräfte als gerichtete Größen zu verstehen sind. So ist bereits deutlich geworden, dass Leibniz’ Kräfte im Gegensatz zu jenen Descartes vektorielle, und keine skalaren Größen sind. Die Gerichtetheit seiner Kräfte kann Leibniz nun dadurch erklären, dass diese Kräfte als Ausdruck von Substanzen verstanden werden können, die in Analogie zu begehrenden Seelen konzipiert werden.64
____________ 62 Dies wird besonders in seinem Briefwechsel mit Arnauld deutlich, in dem Leibniz vorschlägt, unteilbare Substanzen nach dem Modell cartesischer Egos zu begreifen. Siehe Brief an Arnauld vom 28.11./8.12 1686, A II.b2 121; BW 197. 63 Monadologie §79. 64 Diese Erklärung der Gerichtetheit der Kräfte auf der Grundlage begehrender Substanzen ist nicht als eine ontologische Analyse zu verstehen: Die Gerichtetheit der Kräfte wird nicht auf das zielgerichtete Begehren von Substanzen zurückgeführt, sie wird lediglich dadurch verständlich gemacht. Nimmt man Leibniz’ Ansätze einer Kräfte-Ontologie ernst (vgl. Anm. 56), dürfte es sich gerade umgekehrt verhalten: Insofern Substanzen durch Kräfte konstituiert werden, wäre ihr zielgerichtetes Begehren auf die intrinsische Gerichtetheit dieser Kräfte zurückzuführen. (Es ist allerdings fraglich, ob eine solche Analyse gelingen kann: Da das Wirken einer Kraft nach der mechanistischen Physikkonzeption kein natürliches Ende hat, lässt sich aus ihrer Gerichtetheit wohl kaum eine finale Struktur rekonstruieren. Wie sich umgekehrt die Gerichtetheit von Kräften mit Hilfe von Finalursachen erläutern lässt, werde ich weiter unten klären; vgl. S. 346f.)
Aktivität und Finalursachen
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Aktivität und Finalursachen Leibniz verbindet seine Rehabilitation substantieller Formen zur metaphysischen Begründung der Physik deshalb mit der Rehabilitation von Finalursachen, weil er substantielle Formen nach dem Modell (cartesischer) Seelen versteht, deren Verhalten auf ein zielgerichtetes Streben oder Begehren zurückgeht und folglich mit Hilfe von Zielen, Zwecken oder Finalursachen erklärt werden muss.65 Diese Erklärung steht und fällt mit der These, dass das Verhalten von Seelen, in Analogie zu welchen die substantiellen Formen aufgefasst werden sollten, mit Hilfe von Finalursachen erklärt werden müssen. Doch daran lässt sich zweifeln: Warum sollten Kräfte ausübende Seelen den Gesetzen der Finalursachen unterliegen? Könnte man ihre Aktivität nicht im Rekurs auf Wirkursachen erklären? Diese Frage stellt sich umso drängender, wenn man beachtet, dass Leibniz immer wieder davon spricht, dass jede „Substanz [...] die wahre und reale Ursache ihrer immanenten Tätigkeiten“66 ist, und hier ‚Ursache’ offensichtlich in dem wirkkausalen Sinne versteht, demzufolge eine Substanz ihre Tätigkeiten hervorbringt. Noch deutlicher wird dieses Problem anhand eines konkreten Beispiels. Man stelle sich etwa einen Spaziergänger vor, der an einem Bauernhof vorbei geht. Plötzlich kommt aus diesem Hof ein laut bellender Hund gestürmt, worauf der Spaziergänger unmittelbar zusammenzuckt und sich nach einer kurzen Schrecksekunde beeilt, schnell hinter die nächste Wegbiegung zu kommen. Es scheint völlig natürlich, diese Szene so zu beschreiben, dass man sagt, der Hund habe dem Spaziergänger Angst eingejagt und ihn dazu gebracht, das Bauernhofgelände schnell zu verlassen. Der Hund hat mit seinem Verhalten also bewirkt, dass der Spaziergänger
____________ 65 Leibniz spricht manchmal von einfachen Substanzen, die den Bereich der Metaphysik konstituieren, und manchmal nur von substantiellen Formen, die in Analogie zu cartesischen Seelen verstanden werden müssten. Das wirft die in der zeitgenössischen Leibnizforschung heftig umstrittene Frage auf, ob es nach Leibniz auch körperliche Substanzen gibt, d.h. mit Materie verbundene substantielle Formen, oder nur immaterielle, seelenähnliche Formen. Auf diese Debatte werde ich weiter unten eingehen (siehe S. 333f.). Entsprechend werde ich weiterhin von seelenähnlichen Substanzen sprechen und dabei die Frage offen lassen, ob diese Substanzen letztlich nun mit Materie verbunden sind oder nicht. Historisch interessant ist allerdings, dass bereits Aristoteles zwischen den Auffassungen zu schwanken schien, ob es sich bei Substanzen vornehmlich um materielle Einzeldinge handelt (wie er in den Kategorien ausführt), oder ob Substanzen im strengen Sinne die (immateriellen) Formen dieser Dinge sind (wie er in der Metaphysik meint). Siehe zu diesem Problem ausführlich Wedin 2000. 66 De systemate causarum occasionalium, A VI.4b3 1640.
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schnell das Weite gesucht hat. Als Lebewesen sind Hund und Spaziergänger beides Substanzen in Leibniz’ paradigmatischem Sinne.67 Warum kann dieses simple Beispiel nicht als Beleg dafür gewertet werden, dass Substanzen aufeinander einwirken und dass infolge dessen ihr Verhalten auch kausal erklärt werden kann? Es scheint schließlich völlig unproblematisch zu sagen, dass der Spaziergänger wegrennt, weil ihm der Hund Angst eingejagt hat, und somit das Verhalten der einen Substanz (des Spaziergängers) mit Bezug auf das Verhalten der anderen Substanz (des Hundes) zu erklären, welches das Verhalten der ersten Substanz in einem wirkkausalen Sinne verursacht hat. Natürlich würde Leibniz zugestehen, dass sich dieses Szenario auf die eben vorgeschlagene wirkkausale Weise beschreiben lässt. Er würde aber hinzufügen, dass diese Beschreibung nicht seine metaphysische Tiefenstruktur erfasst. Warum sie das nicht tut, hängt mit dem Begriff der Substanz zusammen. Wie bereits im Zusammenhang mit Descartes und Spinoza deutlich wurde, haben die Autoren der frühen Neuzeit das Kriterium der ontologischen Unabhängigkeit, durch das Aristoteles Substanzen charakterisierte,68 sehr strikt ausgelegt.69 Entsprechend gingen sie davon aus, dass Substanzen in keiner Relation ontologischer Abhängigkeit stehen dürfen. Wie sich in den letzten Kapiteln ebenfalls zeigte, wurde in der frühen Neuzeit auch die Kausalrelation als Relation ontologischer Abhängigkeit aufgefasst, da Wirkungen von ihren Ursachen hervorgebracht werden und somit in ihrer Existenz von ihren Ursachen abhängen. In diesem Rahmen ist man so unmittelbar auf die These festgelegt, dass Substanzen kausal autonom sein müssen und nicht aufeinander einwirken dürfen. Dies würde ihrer ontologischen Unabhängigkeit oder Substantialität widersprechen. Einfache Substanzen oder Monaden haben daher auch „keine Fenster, durch die irgendetwas ein- oder austreten könnte.“70
____________ 67 In seinem Brief an Bernoulli vom 20./30. September 1698 schreibt Leibniz: „Was ich eine vollständige Monade oder individuelle Substanz nenne, ist nicht so sehr die Seele, als vielmehr das Lebewesen selbst, oder etwas Analoges, das mit einer Seele oder einer Form und einem organischen Körper ausgestattet ist.“ (GM III 542; AG 168) Vgl. auch Principes de la nature et de la grace (= Principes) §4, GP VI 599; LPS I 419. D. Rutherford 1995, 218; 226-232, nennt Leibniz deshalb auch einen ‚Panorganizisten’. 68 So etwa in Cat. 5, 2b5-22. 69 Vgl. zur frühneuzeitlichen Transformation des aristotelischen Substanzbegriffs Cottingham 1988, 77, und Woohlhouse 1993, 8-13. 70 Monadologie §7. Interessanterweise führt Leibniz an dieser Stelle für die kausale Autonomie von Monaden nicht das oben angeführte ontologische Argument an, sondern bedient sich eines mereologischen Arguments, demzufolge einfache Substanzen nicht aufeinander einwirken können, weil sie keine Teile haben, und sich
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Freilich gilt die ontologische Autonomie der Substanzen für Leibniz nicht ausnahmslos. Denn vollkommen ontologisch unabhängig ist nur Gott, der notwendig existiert. Im Gegensatz dazu hängen endliche Substanzen in ihrer Existenz von Gott ab, der sie sowohl geschaffen als auch permanent in Existenz erhält und sie damit vor einem Rückfall ins Nichts bewahrt.71 Deshalb gilt auch die kausale Autonomie geschaffener Substanzen nur bis auf die eine Ausnahme, dass Gott jederzeit auf diese Substanzen einwirken kann.72 Sowohl die wirkkausale Unabhängigkeit von Substanzen als auch ihre mereologische Einfachheit sind also ihrer ontologischen Autonomie geschuldet. Substanzen sind kausal isolierte Atome. Dennoch verfügen diese einfachen, nach dem Modell von Seelen vorgestellten Substanzen über innere Zustände – Leibniz nennt sie Perzeptionen –, die sich kontinuierlich verändern. Wie Leibniz klar stellt, müssen Monaden über solche inneren Zustände verfügen und in diesen Zuständen voneinander abweichen, da sie sich sonst nicht voneinander unterscheiden würden und somit identisch wären.73 Obwohl diese Perzeptionen Repräsentationen oder Darstellungen äußerer Dinge sind,74 kann ihre Veränderung nicht auf die Einwir-
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Einwirkungen nur durch eine Umstellung von Teilen vollziehen würden. Diese Prämisse halte ich allerdings für kaum überzeugend. Warum könnte sich eine solche Einwirkung nicht auch in einer Veränderungen der einfachen inneren Zustände einer Monade niederschlagen? Im Discours §8 liefert Leibniz hingegen ein wahrheitstheoretisches Argument für die kausale Autonomie von Substanzen: Dieses Argument baut auf Leibniz’ inklusiver Wahrheitstheorie auf, wonach ein Satz der Form F(a) genau dann wahr ist, wenn im Begriff des Subjekts a das Prädikat F enthalten ist. Wenn sich nun eine Substanz a verändert und sukzessive die Bestimmungen F1, F2, F3 annimmt, dann sind F1(a), F2(a), F3(a) usw. wahre Sätze, weshalb der Begriff von a die Prädikate F1, F2, F3 usw. bereits enthalten muss. Mithin liegt die Quelle von a’s Veränderung nicht in etwas außerhalb von a, das auf a einwirkt, sondern ist in a selbst begründet. Vgl. auch Discours §14. Siehe etwa Discours §14, A VI.4b1 1549; LPS I 93. Leibniz vertritt auf der Grundlage seiner creatio continua sogar eine Form der Concursus Theorie, der zufolge Gott an allen Wirkungen endlicher Substanzen als Erstursache mitwirkt. Vgl. dazu Lee 2004. Siehe Discours §28, A VI.4b1 1573; LPS I 135. Vgl. etwa Monadologie §§8f. Leibniz vertritt das Prinzip der Indiszernibilität des Identischen. Dieses Prinzip folgt aus dem PZG: Wenn zwei prinzipiell ununterscheidbare Dinge voneinander verschieden wären, wäre ihre Verschiedenheit ein unbegründetes Faktum und widerspräche dem PZG. Vgl. dazu Della Rocca 2008, 47. Leibniz schreibt im Discours §9, A VI.4b1 1542; LPS I 79, dass Substanzen, „wenn auch verworren, alles aus[drücken], was sich im Weltall in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ereignet“.
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kung dieser äußeren Dinge zurückgeführt werden. Substanzen bringen ihre perzeptuellen Zustände vielmehr spontan hervor.75 Somit müssen die „Veränderungen der Monaden von einem inneren Prinzip herrühren, da eine äußere Ursache ihr Inneres nicht beeinflussen kann.“76 Diese „Tätigkeit des inneren Prinzips, die den Wechsel oder den Übergang von einer Perzeption zur anderen ausmacht“, nennt Leibniz „Appetit“.77 Die „Perzeptionen in der Monade entstehen nach den Gesetzten der Appetite oder der Finalursachen von Gut und Böse auseinander, die in den geregelten oder ungeregelten wahrnehmbaren Perzeptionen bestehen“.78 Dies liefert eine weitere Erklärung dafür, warum sich das Verhalten der seelenähnlichen Substanzen nur mit Hilfe von Finalursachen erklären lässt: Weil sich das Verhalten von Monaden nach Leibniz auf den steten Wechsel ihrer perzeptuellen Zustände beschränkt, der auf den so genannten Appetit dieser Monaden zurückgeht, und da dieser Appetit den Gesetzen der Finalursachen unterliegt, ist klar, dass auch die Veränderungen der Monaden finalursächlich erklärt werden müssen. Dennoch befriedigt diese Erklärung noch nicht. Denn warum sollte dieser Appetit, auf den die perzeptuellen Veränderungen einer Monade zurückgehen, nur im Rekurs auf Finalursachen erklärt werden können? Aufschluss darüber gewinnt man, wenn man genauer untersucht, wie sich dieser unter dem Gesetz des Appetits stehende Übergang von einem perzeptuellen Zustand zum nächsten vollzieht. Berücksichtigt man, dass Leibniz wie in der eben zitierten Passage immer wieder behauptet, Perzeptionen entstünden auseinander,79 könnte man geneigt sein, sich einer von Mark Kulstad und Robert Sleigh vorgeschlagenen Deutung anzuschließen. Diesem Deutungsvorschlag zufolge wird jeder Zustand einer geschaffenen Substanz durch ihren vorhergehenden Zustand verursacht und folglich fungieren Perzeptionen als Wirkursachen ihrer Folgeperzeptionen.80 Auch wenn diese Lesart aufgrund von Leibniz’ kausal anmutenden Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Perzeptionen angemessen zu sein scheint, bleibt auf ihrer Grundlage unklar, warum eine Kette von Perzeptionen, die einander wirkkausal hervorbringen, gerade unter den Gesetzen des
____________ 75 Siehe ganz explizit Théodicée I §65, GP VI 138; LPS II/1 303, und Discours §32, A VI.4b1 1581;LPS I 151. 76 Monadologie §11. 77 Monadologie §15. 78 Principes §3, GP VI 599; LPS I 417, Übersetzung leicht geändert; Hervorhebung im Original. 79 Vgl. z.B. Discours §14, A VI.4b1 1551; LPS I 97, oder Théodicée III §403, GP VI 356; LPS II/2 245. 80 Vgl. dazu Kulstad 1993, 96, und Sleigh 1990, 162.
Aktivität und Finalursachen
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Appetits und der Finalursachen stehen sollte. Wenn Perzeptionen schon in wirkkausaler Weise ihre Folgeperzeptionen hervorbringen, läge es schließlich näher, diese Hervorbringung als eine zu verstehen, die unter die Gesetze der Wirkursachen fällt. Das lehnt Leibniz jedoch explizit ab.81 Zudem behauptet Leibniz auch nicht, dass der Appetit, d.h. die Tätigkeit des inneren Prinzips, die für den Übergang einer Perzeption zur nächsten verantwortlich ist, den Perzeptionen zukommt. Leibniz spricht vielmehr von den „inneren Tätigkeiten der einfachen Substanzen“.82 Dies deutet auf ein anderes Bild des Übergangs zwischen Perzeptionen hin: Perzeptionen werden nicht durch ihre Vorgängerperzeptionen hervorgebracht, sondern von den Substanzen selbst, die über ein kausales Vermögen oder über Kräfte verfügen, diese Perzeptionen hervorzubringen. Damit sind die verändernden Perzeptionen Ausdruck der ständigen Tätigkeit der Substanz, die ihre perzeptuellen Zustände in einem spontanen Akt immanenter Verursachung hervorbringen. So sagt Leibniz ganz explizit, dass „innere Eigenschaften und Handlungen“ von Monaden „nichts anderes sein können als ihre Perzeptionen“.83 Auch wenn Monaden ihre Zustände spontan hervorbringen und in diesem Sinne Ursachen ihrer Perzeptionen sind, tun sie das nicht willkürlich, sondern unterliegen dabei dem Gesetz des Appetits. Dieses Gesetz legt eindeutig fest, welche Perzeption eine Monade auf der Grundlage ihrer gegenwärtigen Perzeptionen erzeugen wird. Damit kann Leibniz mindestens drei Desiderata Rechnung tragen. Zum einen wird dadurch sichergestellt, dass eine Monade kausal autonom ist: Es gibt nichts Äußeres, was auf sie einwirkt, sondern alle Gründe für ihre perzeptuellen Handlungen liegen in ihr selbst. Zudem genügen Monaden, die ihre eigenen Zustände ständig selbst erzeugen, auch Leibniz’ Substanzkriterium, wonach „die Tätigkeit zum Wesen der Substanz überhaupt gehört“.84 Zum zweiten wird durch den Umstand, dass die Aktivitäten einer Monade an ein Gesetz gebunden sind, ausgeschlossen, dass es unerklärbare Ereignisse gibt, was dem Prinzip des zureichenden Grundes widersprechen würde: Im Rückgriff auf die perzeptuellen Zustände einer Monade und die Gesetze des Appetits lässt sich bezüglich jeder spontanen hervorgerufenen Perzeption erklären, warum sie hervorgerufen wurde. Zum dritten eröffnet die nomologische Gebunden-
____________ 81 So etwa in der Monadologie §17, wo Leibniz betont, dass „die Perzeption und was von ihr abhängt durch mechanische Gründe […] unerklärbar ist. 82 Monadologie §17, Hervorhebung von mir. 83 Principes §2, GP VI 598; LPS I 415. 84 Nouveaux Essais, Vorwort, GP V 58; LPS III/1 li. In der Théodicée I §87, GP VI 149; LPS II/1 335, macht Leibniz deutlich, dass er dieses Kriterium von Aristoteles zu übernehmen meint.
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heit der substantiellen Aktivitäten, dass die verschiedenen spontanen Handlungen der einzelnen Monaden aufeinander abgestimmt sein können. Es ist genau diese Möglichkeit, die Leibniz ausnutzt, um zu erklären, warum die Handlungen oder Perzeptionen der verschiedenen Substanzen perfekt aufeinander abgestimmt sind, obwohl sie nicht kausal miteinander interagieren können. Aufgrund seiner Theorie der prästabilierten Harmonie hat Gott die Monaden bei ihrer Erschaffung so eingerichtet, dass sie ihre Perzeptionen in vollkommener Übereinstimmung mit der je individuellen Entfaltung der Perzeptionen aller anderen Monaden hervorbringen. Man muss nämlich sagen, dass Gott die Seele oder jede wirkliche Einheit dieser Art von Anfang an so geschaffen hat, dass ihr durch vollständige Spontaneität in Anbetracht ihrer selbst und doch in vollkommener Übereinstimmung mit den Dingen außer ihr alles aus ihrem eigenen Grunde entstehen muss. (Système Nouveau §14, GP IV 484; LPS I 219)
Die einzelnen Substanzen bringen also all ihre perzeptuellen Zustände, in denen sich die Beschaffenheit aller anderen Monaden und damit das ganze Universum spiegelt, völlig spontan auf der Grundlage ihrer jeweiligen Perzeptionen hervor und stimmen darin gleichzeitig perfekt mit den Entwicklungen aller anderen Monaden überein. Wie Leibniz bisweilen sagt, gleichen sie „unkörperlichen Automaten“,85 die sich vollkommen koordiniert und synchron entfalten.86 Da diese Perzeptionen als Handlungen von Monaden erzeugt werden, wird auch verständlich, warum die Perzeptio-
____________ 85 Monadologie §18. Siehe auch Système Nouveau §15, GP IV 485; LPS I 221. 86 Die Auffassung der Substanz als etwas, das all seine Zustände mittels eigener Kräfte aufgrund gegenwärtiger Perzeptionen gemäß den Gesetzen des Appetits hervorbringt, deckt sich mit Leibniz’ im Discours entworfener konzeptueller Substanztheorie. Dieser Theorie zufolge gibt es für jede Substanz einen vollständigen Begriff, in dem alle Prädikate für die Zustände, die diese Substanz im Laufe ihrer Geschichte je einnehmen wird, enthalten sind (vgl. dazu auch Anm. 70). Versteht man Substanzen als (immanent-)kausale Agenten im obigen Sinne, erklärt sich natürlicherweise, warum es zu jeder Substanz einen solchen Begriff gibt: Wenn ein Substanzbegriff die perzeptuellen Anfangszustände einer Substanz umfasst, kann im Rückgriff auf die Gesetze des Appetits, jeder mögliche Zustand deduziert werden, den diese Substanz je einnehmen wird. Damit kann die vorgeschlagene Interpretation auch dem Befund jener Interpreten wie Rescher 1981, Woolhouse 1982 und Sellars 1981 Rechnung tragen, die meinten, dass die Ursache für die Änderung der perzeptuellen Zustände einer Substanz, in deren vollständigem Begriff begründet liegt, obwohl deren Erklärung für diesen Befund – nämlich, dass buchstäblich der Begriff diese Veränderungen verursache – zurückgewiesen wird. Ursachen perzeptueller Veränderungen sind die Substanzen selbst, und nicht ihre Begriffe. Vgl. dazu auch Borro & Clatterbough 1996, auf deren hervorragender Analyse meine Interpretation beruht.
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nen nach den Gesetzen der Finalursachen auseinander entstehen. Schließlich werden perzeptuelle Zustände durch einen Akt immanenter Kausalität von Substanzen hervorgebracht, der nach dem Modell von Handlungen als zielgerichteter Akt verstanden wird.87 Folglich sind die Akte oder Kräfte, mittels derer Substanzen ihre Perzeptionen hervorbringen, zielgerichtet und weisen eine teleologische Struktur auf, die nach einer finalursächlichen Erklärung verlangt. Entsprechend unterliegen sie den Gesetzen der Finalursachen. Damit lässt sich die erste Hauptfrage dieses Kapitels beantworten. Warum war Leibniz entgegen seinen mechanistischen Zeitgenossen der Ansicht, dass man substantielle Formen und Finalursachen rehabilitieren müsse? Dies ist deshalb der Fall, weil seiner Einschätzung nach die Erklärungsdefizite der mechanistischen Theorien nur dann ausgeräumt werden können, wenn der Bereich der Physik in einem metaphysischen Bereich von Substanzen begründet wird, die als Prinzipien der Einheit und Bewegung fungieren, und als solche wesentlich mit der Annahme von Finalursachen verbunden sind.
Wirkursachen und Finalursachen Es gilt nun die zweite Frage dieses Kapitels aufzunehmen: Was sind diese Finalursachen, die Leibniz rehabilitieren will, genau? Auch wenn Leibniz ausgehend von einer Rehabilitation des aristotelischen Hylemorphismus für die Wiedereinführung von Finalursachen plädiert, so lässt das Bisherige doch befürchten, dass Leibniz’ Finalursachen herzlich wenig mit den traditionellen Finalursachen zu tun haben, die sich nur im Zusammenhang der drei anderen aristotelischen Ursachen Materie, Form und Wirkursache explizieren ließen. Das zeigt sich schon darin, dass sich die aristotelische Finalursache nicht unabhängig von Wirkursachen verstehen lässt, während Leibniz das Reich der Finalursachen ausdrücklich mit dem der Wirkursachen kontrastiert.88 Soweit ist Leibniz’ Verständnis von Finalur-
____________ 87 Wie Jolley 1998 überzeugend ausführt, versteht Leibniz die immanente Verursachung von Perzeptionen durch Substanzen in Analogie zum Schöpfungsakt Gottes als eine Form der creatio ex nihilo. Aber natürlich ist auch Gottes Schöpfungsakt intentional und somit auf ein Ziel – die Erschaffung der Welt – ausgerichtet. 88 So etwa in der Monadologie §79. Dies bemerkt auch Rozemond 2009, 273. Wie sich allerdings herausstellen wird, ist Leibniz’ Finalursachenverständnis genauso an ein akteurskausales Kausalitätsverständnis geknüpft wie das aristotelische. Dabei steht aber die so genannte immanente Verursachung im Zentrum, und nicht
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sachen also vor allem negativ bestimmt: Finalursachen sind keine Wirkursachen. Um möglichst viel aus dieser negativen Charakterisierung von Finalursachen zu lernen, lohnt es sich, herauszuarbeiten, was Leibniz unter Wirkursachen versteht. Das will ich in diesem Abschnitt tun. Kehren wir dazu nochmals zum bellenden Hund und dem fliehenden Spaziergänger zurück. Wie bemerkt, hält Leibniz die naheliegende, kausale Beschreibung des oben geschilderten Szenarios als eines, in dem der Hund dem Spaziergänger Angst einjagt, und damit bewirkt, dass sich der Spaziergänger vom Bauernhof entfernt, für metaphysisch unzulässig. Da es sich bei dem Hund und dem Spaziergänger um Substanzen handelt, sind sie ontologisch und damit insbesondere kausal voneinander unabhängig, weshalb sie nicht aufeinander einwirken können. In metaphysischer Strenge gesprochen, entfalten der Hund und der Spaziergänger ihre Perzeptionen völlig spontan und unabhängig voneinander, so dass ihre „inneren Empfindungen […] gut geregelten Träumen gleichen“, die „kraft ihrer eigenen Gesetze erscheinen wie in einer Welt für sich und als ob nichts außer Gott und sie selbst existieren würde‹n›“.89 Da sich die Perzeptionen im Hund und im Spaziergänger aber nicht beliebig, sondern eben gut geregelt entfalten und der prästabilierten Harmonie zufolge perfekt aufeinander abgestimmt sind, lässt sich auch unserer alltäglichen kausalen Redeweise Rechnung tragen. So meint Leibniz, dass „es durchaus wahr ist zu sagen, dass Substanzen aufeinander wirken, vorausgesetzt dass man versteht, dass die eine die Ursache der Veränderungen in der anderen infolge der Gesetze der Harmonie ist.“90 Doch ein einfacher Hinweis auf die vollkommene Übereinstimmung der perzeptuellen Entwicklungen der verschiedenen Monaden kann noch nicht ausreichen, um die Rede der kausalen Einwirkung zu rekonstruieren. Denn die durch die prästabilierte Harmonie garantierte Übereinstimmung der Monaden ist eine symmetrische Relation, während Verursachung eine asymmetrische Relation ist: Wenn x in seinen perzeptuellen Veränderungen mit y übereinstimmt, dann stimmt darin automatisch auch y mit x überein. Das ist bei der Verursachung anders: Wenn x die Ursache von y ist, dann ist y gerade nicht die Ursache von x, sondern dessen Wirkung. Das Problem lässt sich an unserem Szenario leicht veranschaulichen. Wenn der Hund den Spaziergänger anbellt, und dieser ihn Bellen hört, geschieht streng metaphysisch gesprochen etwa Folgendes: In dem Moment, in dem die Hundemonade ihre Bellensperzeption hervorbringt, bringt auch die Spaziergängermonade
____________ die transeunte Verursachung, die Leibniz allein durch die Gesetze der Wirkursachen bestimmt sieht. 89 Système Nouveau §14, GP IV 484; LPS I 219; Übersetzung leicht modifiziert. 90 Système Nouveau, 1. Erläuterungen §12, GP IV 495; LPS I 231.
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eine Bellensperzeption hervor, die ihr als akustischer Eindruck bewusst wird. Sowohl der Hund als auch der Spaziergänger bringen also gleichzeitig und in spontaner Weise Bellensperzeptionen hervor. Das wäre jedoch auch der Fall, wenn der Spaziergänger den Hund anbellen würde. Wie kann Leibniz also garantieren, dass es der Hund ist, der bellt, und der Spaziergänger, der ihn hört, und nicht umgekehrt? Um auf der Basis der prästabilierten Harmonie einen kausalen Einfluss einer Monade auf eine andere rekonstruieren zu können, muss Leibniz also zusätzlich ein Kriterium angeben, anhand dessen sich die eine Monade als Urheber oder Agens und die andere als ‚Opfer’ oder Patiens dieser Einflussnahme auszeichnen lässt. Dieses Kriterium lautet nach Leibniz wie folgt: Ein Geschöpf, sagt man, wirkt nach außen, soweit es Vollkommenheit besitzt; und es erleidet etwas von einem anderen, insofern es unvollkommen ist. So schreibt man der Monade Tätigsein zu, soweit sie deutliche Perzeptionen hat, und Leiden, insofern diese verworren sind. (Monadologie §49)
Ob eine Monade Urheber ihrer perzeptuellen Veränderung ist oder ob sie diese Veränderungen erleidet, hängt also von ihrer Vollkommenheit ab. Wie Leibniz hier ausführt, ergibt sich diese Vollkommenheit einer Monade aus dem Grad der Deutlichkeit bzw. Verworrenheit ihrer Perzeptionen.91 Perzeptionen sind nach Leibniz deutlich oder verworren, je nachdem wie differenziert sie die Gegenstände, die sie repräsentieren oder ausdrücken, zu erkennen geben. Eine Monade, die deutliche Perzeptionen einer Sache hat, kann diese Sache relativ differenziert erkennen und sich unter Umständen ihrer sogar bewusst werden. Eine Monade mit verworrenen Perzeptionen kann das nicht.92 In endlichen Wesen sind Perzeptionen immer mehr oder weniger verworren: Streng genommen repräsentiert ja jede Monade mittels ihrer Perzeptionen das gesamte Universum. Da sie das jedoch meist nur in verworrener Weise tut, ist sich auch keine geschaffene Monade des ganzen Universums bewusst und kann alle Zustände des Universums deutlich erkennen.93 Je mehr sie aber dazu in der Lage ist, d.h. je deutlichere Perzeptionen eine Monade aufweist, desto vollkommener ist sie. Allerdings ist Gott das einzige absolut vollkommene Wesen, das nur über klare und deutliche Perzeptionen verfügt.94
____________ 91 Dies bestätigt Leibniz auch in den Principes §13, GP VI 604; LPS I 433: „Vollkommenheit kommt ihr [d.h. der Monade oder Seele] nach dem Maße ihrer deutlichen Perzeptionen zu.“ 92 Das führt Leibniz in seinen Principes §13ff., aus. Eine allgemeine und erhellende Analyse des Deutlichkeitsbegriffs bei Leibniz gibt Puryear 2005. Eine Diskussion des Verhältnisses von Bewusstsein und Deutlichkeit liefert Simmons 2001b, 57f. 93 Vgl. Principes §13, und Monadologie §60. 94 Siehe dazu etwa Théodicée III §403, GP VI 357; LPS II/2 245f.
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Leider scheint das auf der Vollkommenheit von Monaden beruhende Kriterium in unserem Beispiel kaum weiter zu helfen: Da der Spaziergänger im Gegensatz zum Hund vernünftig ist, ist die Spaziergängermonade vollkommener als die Hundemonade.95 Demnach scheint es unmöglich, dass der Hund den Spaziergänger anbellt. Wenn also der Spaziergänger und der Hund gleichzeitig Bellensperzeptionen hervorbringen, dann scheint es, als müsse der Spaziergänger immer den Hund anbellen, weil er vollkommener ist als der Hund.96 Zu dieser absurden Konsequenz gelangt man allerdings nur, wenn man die Vollkommenheit einer Monade als globales Charakteristikum versteht, die der Monade als Ganzes zukommt. Versteht man sie hingegen als lokales Charakteristikum, das nicht der Monade als Ganzes, sondern nur einem Teil ihrer perzeptuellen Zustände zukommt, muss man nicht behaupten, dass prinzipiell nur global vollkommene Monaden auf global unvollkommenere Substanzen einwirken können. Schließlich kann der Spaziergänger global gesehen durchaus deutlichere Perzeptionen haben als der Hund, obwohl seine lokale Bellensperzeption verworrener ist als die des Hundes. Dass Leibniz sein Kriterium in diesem lokalen Sinne versteht, wird aus dem Folgeparagraphen der oben zitierten Passage ersichtlich: Und ein Geschöpf ist vollkommener als ein anderes, wenn sich in ihm findet, was den Grund a priori dessen ausmacht, was in dem anderen geschieht, weshalb man sagt, dass es auf ein anderes wirkt. (Monadologie §50)
Die Vollkommenheit, die für die Aktivität einer Monade verantwortlich ist, besteht in der lokalen Deutlichkeit der spezifischen Gründe, die eine Monade zur spontanen Erzeugung dieser Perzeption veranlassen, und nicht unbedingt in einer globalen Deutlichkeit all ihrer Perzeptionen. Auch das lässt sich wieder an unserem Beispiel veranschaulichen. Sowohl der Hund als auch der Spaziergänger bringen auf spontane Weise Bellensperzeptionen hervor. Das tun sie auf der Grundlage ihrer perzeptuellen Zustände. Entscheidend ist aber, dass nur dem Hund die Perzeptionen, die ihn zur Hervorbringung der Bellensperzeptionen veranlassen, deutlich und damit bewusst sind, nicht aber dem Spaziergänger. Natürlich verfügt auch der Spaziergänger über alle Perzeptionen, die den Hund zur Erzeugung seiner Bellensperzeptionen veranlassen, und es sind wohl die gleichen Perzeptionen, die ihn selbst zur Erzeugung seiner Bellensperzeptionen bewegen. Aber im Gegensatz zum Hund sind ihm diese Perzeptionen nicht bewusst. Die deutlichen Gründe, welche den Spaziergänger zur Her-
____________ 95 Vgl. Nouveaux Essais IV.16.12, wo Leibniz die These diskutiert, dass die Geschöpfe unterschiedliche Grade der Vollkommenheit aufweisen und daher in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. 96 Dieses Problem bespricht insbesondere Brandom 1981, 161f.
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vorbringung seiner Perzeptionen führt, finden sich damit nicht in ihm selbst, sondern in der Hundemonade. Der Hund ist somit „aktiv insofern, als das, was man deutlich in ihm erkennt, den Grund dafür angibt, was sich in einem anderen [d.h. hier im Spaziergänger] ereignet“, und der Spaziergänger „ist insofern passiv, als der Grund dessen, was sich in ihm ereignet, sich in dem findet, was sich deutlich in einem andern [d.h. hier im Hund] erkennen lässt.“97 Die Rede kausaler Einflussnahme von einfachen Substanzen aufeinander führt Leibniz somit auf zwei Faktoren zurück: Zum einen besteht dank der prästabilierten Harmonie, d.h. weil Gott die Monaden „von Anbeginn der Dinge aufeinander abstimmte“, ein „idealer Einfluss einer Monade auf die andere, der seine Wirkung allein durch das Eingreifen Gottes haben kann“.98 Zum andern ist das Agens und Patiens dieses Einflusses durch das Maß an Deutlichkeit bestimmt, mit dem die Monaden die Gründe ihrer Perzeptionsveränderungen perzipieren.99 In Tat und Wahrheit findet zwischen einzelnen (endlichen) Substanzen also gar keine wirkkausale Interaktion statt. Diese metaphysische Analyse der kausalen Einflussnahme droht jedoch Leibniz’ strikte Unterscheidung zwischen dem „Königreich der Kräfte“ und dem „Königreich der Weisheit“ zu unterminieren. So meint Leibniz ja: „Die Seelen sind tätig gemäß den Gesetzen der Finalursachen durch Appetit, Zwecke und Mittel. Die Körper sind tätig gemäß den Gesetzen der Wirkursachen oder Bewegungen.“100 Aber wie sind diese wirkkausalen Beziehungen zwischen Körpern im Bereich der Physik zu verstehen, wenn Substanzen tatsächlich nicht interagieren können? Diese Frage scheint nun mitten in eine in den letzten Jahren heftig geführte Debatte darüber zu führen, ob Leibniz als Idealist oder Realist zu verstehen ist. Gibt es Leibniz zufolge letztlich nur immaterielle Substanzen oder geht Leibniz auch von der Existenz körperlicher Substanzen aus, die im strengen metaphysischen Sinne materielle Körper haben? In diesem Interpretationsstreit sind die verschiedensten Positionen eingenommen
____________ 97 Monadologie §52. 98 Monadologie §51. 99 Die Ähnlichkeit zu Spinozas Auffassung der Aktivität ist nicht zu übersehen: Für Spinoza sind wir in dem Maße aktiv, in dem wir aus adäquaten Ideen handeln und damit adäquate Ursache unserer Handlungen sind (vgl. E 3def2 und 3p1). Da unsere Ideen genau dann adäquat sind, wenn sie mit ihren Ursachen oder Gründen verbunden sind, sind wir in dem Maße aktiv, in dem wir selbst über die Gründe unseres Tuns verfügen. 100 Monadologie §79.
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worden:101 Idealistische Exegeten argumentieren, Leibniz müsse durchgängig als Idealist verstanden werden, während realistische Interpreten die Auffassung vertreten, Leibniz sei sein Leben lang von der Existenz körperlicher Substanzen ausgegangen.102 Daneben gibt es auch zahlreiche Mischpositionen: So etwa die Entwicklungsinterpretation, der zufolge Leibniz in seinen frühen und mittleren Jahren Realist gewesen sei und sich erst in den späten Jahren zu einem Idealisten entwickelte.103 Dagegen meinen Pluralitätsinterpreten, dass es bei Leibniz mehrere nicht miteinander vereinbare Positionen gäbe.104 Diesen Interpretationsstreit kann und will ich an dieser Stelle nicht lösen. Soweit ich sehe, ist dies für die Klärung des Begriffs der Wirkursache bei Leibniz aber auch gar nicht nötig. Denn selbst realistische Interpreten gestehen ein, dass die Welt letztlich auf einfachen Substanzen beruhen muss. Sie argumentieren nur, dass diese einfachen Substanzen auch körperliche Substanzen sein können und es in der Regel (mit Ausnahme Gottes) auch sind. Demnach handelt es sich auch bei materiellen Körpern, deren Bewegungen nach den Gesetzen der Wirkursachen beschrieben werden können, entweder um körperliche Substanzen oder Aggregate körperlicher Substanzen. Aber auch für die körperlichen Substanzen gilt aufgrund ihrer Substanzialität natürlich, dass sie nicht kausal interagieren können. Daher müssen in metaphysischer Strenge auch die Kausalrelationen zwischen körperlichen Substanzen als Ausdruck eines ideellen Einflusses rekonstruiert werden.105 Interessanterweise scheint Leibniz genau dies in seinen physikalischen Überlegungen zu berücksichtigen, wenn er argumentiert, dass alle Körper elastisch sind, und sich folglich aufgrund ihrer eigenen Elastizität bewegen, wenn sie angestoßen werden: „Tatsächlich, wenn Körper in einer Kollision gegenseitig abprallen, wird dies durch die elastische Kraft bewirkt. Daraus folgt, dass Körper in der Tat ihre Bewegung in einer Kollision immer von ihrer ganz
____________ 101 Eine Übersicht über diese Debatte geben Hartz & Wilson 2006. Vgl. auch Anm. 65. 102 Zu den ersteren gehören in prominenter Weise R. Adams 1994 und D. Rutherford 1995, den letzteren P. Phemister 2005. 103 Dafür hat D. Garber immer wieder plädiert (siehe Garber 1985, 2004 und ausführlich 2009). Auch Ch. Mercer 2001, 281, scheint diese Interpretation zu teilen. 104 Hier ist besonders C. Wilson 1989, 191-196, zu nennen. 105 Das gestehen auch Hartz & Wilson 2006, 18, zu, halten Leibniz’ Theorie der ‚Fensterlosigkeit’ von Monaden aber für inkonsistent mit seiner These, dass es auch körperliche Substanzen wie Lebewesen gibt. Das verstehe ich nicht: Es ist zwar (gelinde gesprochen) unüblich, körperlichen Substanzen die Fähigkeit der kausalen Einflussnahme auf andere Substanzen abzusprechen, aber warum sollte dies widersprüchlich sein?
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eigenen Kraft gewinnen, für die der Impuls eines anderen Körpers nur die Gelegenheit zur Aktivität bietet“.106 Leibniz ist hier offensichtlich darum bemüht, kein kausales Vokabular zu verwenden, wenn er in Anlehnung an die Occasionalisten explizit nicht sagt, dass der Impuls eines anderen Körpers die Bewegung des angestoßenen Körpers verursacht, sondern betont, dass er ihm lediglich eine Gelegenheit für seine Aktivität bietet. Letztlich beruht also jede wirkkausale Wechselwirkung zwischen Körpern auf dem ideellen Einfluss zwischen Substanzen – ganz unabhängig davon, ob man eine idealistische Leibnizinterpretation wählt, wonach diese Substanzen immateriell sind, oder ob man in realistischer Manier behauptet, diese Substanzen seien in der Regel körperlich. Was es Leibniz versagt, im Bereich der Körper eine echte oder irreduzible Form der Wirkkausalität anzunehmen, ist nicht der Umstand, dass diese Körper auf Substanzen zurückgeführt werden, die möglicherweise immateriell sind, sondern schlicht der Umstand, dass Substanzen, welche Körper konstituieren, ontologisch unabhängig und damit kausal autonome Entitäten sind. Aber ist es damit nicht obsolet oder gar irreführend, überhaupt von Gesetzen der Wirkursachen zu reden? Leibniz’ Antwort darauf kennen wir bereits: Nein, denn die mechanistischen Erklärungen der Physik können nicht einfach zugunsten der teleologischen Erklärungen der Metaphysik aufgeben werden. Beide Erklärungsformen sind auf ihren jeweiligen Bereich beschränkt und dürfen nicht miteinander vermengt werden. Dennoch betont Leibniz hin und wieder, dass Finalursachen auch in der Physik von Bedeutung seien.107 Zum Abschluss dieses Abschnitts möchte ich deshalb noch die Frage klären, worin diese „Bedeutung“ der Finalursachen in der Physik genau besteht, und ob dadurch nicht Leibniz’ Forderung einer strikten Trennung zwischen physikalischen und metaphysischen Erklärungen unterlaufen wird. Genau genommen, weist Leibniz Finalursachen in der Physik drei Rollen zu: eine begründende, eine heuristische und eine religiöse. Die begründende Rolle kommt ihnen deshalb zu, weil die Geltung der aktualen Naturgesetze, mittels derer die physikalischen Phänomene erklärt werden können, nicht selbst wieder durch die Physik erklärt werden kann. Eine Physikerin kann uns im besten Fall alles darüber sagen, wie sich Körper in unserem Universum unter spezifischen Bedingungen verhalten. Sie kann aber nicht erklären, warum sich diese Körper gerade nach den Geset-
____________ 106 Körper und Kraft, GP IV 397; AG 254. Als Parallelstelle dazu siehe auch Specimen Dynamicum, GM VI 248-251; AG, 132-134., und Brief an Arnauld vom 9.10.1987, A II.b2 232; BW 297f. Als Kommentar zur Elastizität bei Leibniz siehe Garber 1995, 321-325. 107 So z.B. im Discours §22, A VI.4b1 1564f.; LPS I 119f.
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zen verhalten, nach denen sie sich de facto verhalten, und nicht vielmehr nach anderen. Eine Physikerin Humeanischer Provenienz würde die Frage nach der Geltung der aktualen Naturgesetze wohl als unsinnig zurückweisen: Man habe eben einfach festgestellt, dass diese Naturgesetze gelten, und das sei eben so. Wie oben schon gesehen, steht Leibniz als Vertreter des Prinzips des zureichenden Grundes diese Antwort nicht offen. Für Leibniz muss es einen Grund für die Existenz der aktualen Naturgesetze geben, und weil dieser Grund nicht in der Physik selbst gefunden werden kann, liegt er außerhalb der physikalisch beschreibbaren Welt: Deshalb liegen die Gründe der Welt verborgen in etwas Außerweltlichem, das verschieden ist von der Kette der Zustände oder von der Abfolge der Dinge, deren Ansammlung die Welt konstituiert. Und daher müssen wir von der physikalischen oder hypothetischen Notwendigkeit, die die späteren Dinge in der Welt von den früheren bestimmt, zu etwas übergehen, das absolut oder metaphysisch notwendig ist […]. (De rerum originatione radicali, GP VII 303; AG 150)
Da die Abfolge der Zustände in unserer Welt durch die Naturgesetze determiniert ist, ist sie nur hypothetisch notwendig: notwendig, gegeben die aktualen Naturgesetze. Die Existenz der aktualen Naturgesetze ist jedoch kontingent, da auch andere Naturgesetze hätten gelten können. Um die Existenz dieser Naturgesetze abschließend zu begründen, muss man deshalb auf etwas verweisen, dessen Gültigkeit nicht hypothetisch ist und damit von weiteren Gründen abhängt, sondern auf etwas, das absolut notwendig ist und nach keinen weiteren Gründen mehr verlangt. Insofern diese absoluten Gründe nicht dem hypothetischen Bereich des Physischen entstammen können, sondern diesen gleichsam transzendieren, sind sie metaphysisch. Diese metaphysischen Gründe, welche die Existenz der aktualen Naturgesetze und damit die aktuale Beschaffenheit der physikalischen Welt erklären, sind nach Leibniz in Gott zu finden – oder genauer in den Gründen, die Gott hatte, als er unsere Welt mit ihren aktualen Naturgesetzen versehen hat. Anders als Descartes, der meinte, dass wir uns als endliche Wesen nicht anmaßen dürfen, etwas über Gottes Zwecke zu wissen,108 insistiert Leibniz darauf, dass wir sehr wohl etwas über Gottes Zwecke wissen können. Da Gott per definitionem ein vollkommenes Wesen ist, kommen ihm die Attribute der Allwissenheit, der Allgüte und Allmacht zu. Damit ist sicher gestellt, dass Gott die beste aller möglichen Welten erkennt – dafür sorgt seine Allwissenheit –, diese Welt erschaffen will – das garantiert seine Allgüte – und schließlich diese Welt auch erschaffen kann – das ist seiner Allmacht zu verdanken. Deshalb kann Leib-
____________ 108 Wie in Kapitel III gesehen, hält es Descartes für „leichtsinnig, wenn ich Gottes Ziele ausforschen zu können meine“ (Meditationes IV §6, AT VII 55; meine Übersetzung).
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niz behaupten, „dass Gott durch bestimmte Gründe der Weisheit und Ordnung zur Aufstellung der Gesetze gekommen ist, die man in der Natur beobachtet“.109 Da Gott nicht einfach willkürlich eine Welt erschafft, sondern dabei den Zweck verfolgt, die beste aller möglichen Welten zu erschaffen, und weil die faktische Beschaffenheit unserer Welt mit ihren aktual geltenden physikalischen Gesetzen durch eben diese Wahl begründet wird, kommen Finalursachen in der Physik eine metaphysisch begründende Rolle zu: Sie erklären, warum die physikalische Welt so ist, wie sie ist.110 Aus dieser metaphysisch begründenden Funktion der Finalursachen in der Physik, ergeben sich unmittelbar ihre beiden weiteren Rollen: die heuristische und die religiöse. Dies illustriert Leibniz immer wieder anhand des Snell’schen Lichtbrechungsgesetzes:111 Tatsächlich kann man sogar Finalursachen von Zeit zu Zeit mit großem Gewinn in einzelnen Fällen der Physik in Anschlag bringen (wie ich mit dem klarerweise beachtenswerten Beispiel eines optischen Prinzips, dem der höchstberühmte Molyneux in seiner Dioptrik großen Beifall gespendet hat, zeigte); nicht nur, um die schönsten Werke des höchsten Urhebers besser zu bewundern, sondern auch, damit wir auf diesem Wege Dinge entdecken, die vor dem Hintergrund der Methode der Wirkursachen entweder zu wenig offensichtlich sind oder nur hypothetisch folgen. (Specimen Dynamicum, GM VI 243; C 271, meine Übersetzung)
Das optische Brechungsgesetz von Snell, auf das sich Leibniz hier bezieht, beschreibt, wie sich ein Lichtstrahl verhält, der von einem Punkt A in einem transparenten Medium D (etwa Luft) zu einem anderen Punkt B in einem transparenten Medium E (z.B. Glas) gelangt. Bezüglich dieses Weges, den ein Lichtstrahl von A zu B in Abhängigkeit von den Medien D und E einnimmt, lässt sich zeigen, dass er immer so beschaffen ist, dass die Zeit, die der Lichtstrahl benötigt, um von A nach B zu gelangen, minimiert wird. Ein Lichtstrahl schlägt also nicht den kürzesten Weg von A nach B ein, sondern den schnellsten. Dies lässt sich auch dadurch ausdrücken, dass man sagt, die Minimierung der Zeit – und nicht etwa die Minimierung der Strecke – sei die Finalursache des Lichtstrahls.112 Da sich
____________ 109 De Ipsa Natura §4, GP IV 506; LPS IV 279. 110 Leibniz vertritt im Gegensatz zu Descartes also keine voluntaristische, sondern eine intellektualistische Position, da sich Gott nach dem Wahren und Guten richtet, und nicht umgekehrt. Vgl. dazu besonders deutlich Discours §2. 111 Eine ausführliche Darstellung der Geschichte dieses Gesetzes und Leibniz’ Argument dafür, dass aufgrund dieses Gesetzes auch teleologische Überlegungen in der Physik angebracht seien, findet sich in McDonough 2009. Siehe auch Bennett 2005. 112 Eine anschauliche Analogie zur extremalen Auffassung des Snell’schen Brechungsgesetz, die auch die Rede von Finalursachen in diesem Kontext verständ-
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dem Snell’schen Gesetz nach ein Lichtstrahl in minimaler Zeit ausbreitet, genügt dieses Gesetz einem Extremalprinzip.113 Dies kann zum einen als Ausdruck der Perfektion Gottes gesehen werden, der seine Gesetze nach extremalen Optimierungserwägungen wählt. Die teleologische Beschreibung des physikalischen Lichtbrechungsgesetztes als ein Extremalprinzip kann uns so im Glauben und in unserer Demut bestärken, indem sie uns die Schönheit und Perfektion der Welt vor Augen führt und uns damit die Vollkommenheit ihres Schöpfers erahnen lässt. Der Auffassung physikalischer Gesetze als Produkte von Finalursachen kommt so eine unmittelbar religiöse Rolle zu: Sie kräftigen unsere Ehrfurcht vor Gott und damit unseren Glauben. Zum andern kann uns das Wissen, dass Gott die beste aller möglichen Welten wählt und sich als rationales Wesen nach extremalen Optimierungserwägungen entscheidet, auch dazu dienen, neue Naturgesetze zu entdecken – etwa indem wir die Geltung von Extremalprinzipien unterstellen. Somit kommt Finalursachen in der Physik auch eine heuristische Funktion zu: Die Berücksichtung von Finalursachen in der Physik hilft uns, neue Gesetze zu entdecken. Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass all diese Rollen, die Finalursachen in der Physik spielen, keine genuin explantorischen sind: Finalursachen erklären nichts im Bereich der Physik. Finalursachen beantworten lediglich die metaphysische Frage, warum die physikalische Welt als Ganzes so beschaffen ist, wie sie es ist. Damit können sie in methodischer Hinsicht dazu dienen, neue Naturgesetze zu entdecken, und in religiöser Hinsicht, unsere Ehrfurcht vor der Schöpfung und dem Schöpfer zu festigen. Es bleibt also dabei, dass Finalursachen in der Erklärung physikalischer Phänomene nichts zu suchen haben. Finalursachen sind in der Metaphysik zu Hause und spielen in der Physik nur derivative Rollen, die darauf zurückzuführen sind, dass der Bereich der Physik in dem der Metaphysik begründet ist. Um nun die Frage wieder aufzunehmen, wie Finalursachen und ihre Erklärungsleistung genau zu verstehen sind, gilt es deshalb auch wieder in den Bereich der Metaphysik zurück zu kehren.
____________ lich macht, ergibt sich aus dem Vergleich mit einem Rettungsschwimmer in seiner Aufsichtshütte auf dem Strand am Punkt A und einem Ertrinkenden im Wasser am Punkt B: Da sich der Rettungsschwimmer an Land schneller fortbewegen kann als im Wasser, wird er – da er möglichst schnell beim Ertrinkenden sein will – nicht den direkten Weg von A nach B wählen, sondern den schnellsten und demnach einiges der Strecke an Land zurücklegen und erst dann ins Wasser steigen. Analog ist es beim Licht: Es „wählt“ den Weg, für den es am wenigsten Zeit braucht. 113 Inwiefern extremale Prinzipien der Physik teleologisch gedeutet werden können, wird auch heute unter dem Stichwort „formale Teleologie“ noch rege diskutiert. Vgl. dazu die Beiträge in Stöltzner 2005.
Finalursachen als Tätigkeitsdispositionen
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Finalursachen als Tätigkeitsdispositionen Am Ende des vorletzten Abschnittes wurde deutlich, dass die Aktivitäten der Substanzen durch Finalursachen determiniert sind. Dies wirft sogleich die Frage auf, wie diese Determination zu verstehen ist. Laurence Carlin hat folgende Antwort vorgeschlagen: According to Leibniz, final causes are mental states of the agent that are ontologically prior to deliberation of, and instantiation of efficient causes. Moreover, Leibniz held that final causes are appetitive states of the agents, and exert an efficient causal influence upon subsequent states of the agent. Finally, despite the fact that final causes exert an efficient causal influence, Leibniz believed that they were a distinguishable and autonomous type of causation, not reducible to mechanical efficient causation. They are distinguishable and irreducible due to their intentional nature. (Carlin 2006, 232)114
Carlin zufolge sind Finalursachen bei Leibniz – obschon unterscheidbar von mechanischen Ursachen – eine bestimmte Art von Wirkursachen: nämlich intentionale Wirkursachen. Finalursachen sind mentale Zustände oder Perzeptionen, die Ziele oder Zwecke repräsentieren. Insofern sie sich auf die Ziele beziehen, deren Herbeiführung sie bewirken, sind sie intentionale Wirkursachen. Diese Interpretation bietet mindestens zwei Vorteile: Zum einen kann sie Leibniz’ Ansichten versöhnen, dass der Verlauf von Perzeptionen einerseits von Finalursachen erklärt wird, andererseits aber auch durch die vorangegangenen Perzeptionen vollständig festgelegt ist: Als intentionale Wirkursachen sind Finalursachen nichts anderes als Perzeptionen, welche ihre Folgeperzeptionen verursachen und damit determinieren. Zum andern erhellt auf der Grundlage von Carlins Interpretation auch, warum Ziele als Finalursachen überhaupt etwas erklären: Das Verhalten von Substanzen lässt sich deshalb teleologisch erklären, weil es von Perzeptionen verursacht wird, die sich auf Ziele beziehen. Trotz dieser Vorteile erscheint Carlins Einschätzung, dass Finalursachen intentionale Wirkursachen sind, vor dem Hintergrund dessen, was
____________ 114 Wie Carlin 2006, 217, selbst betont, konzentriert er sich in seiner Untersuchung auf Finalursachen bei Geist-Monaden. Dies liegt nahe, da Leibniz sein Verständnis von Finalursachen häufig am Beispiel rational handelnder Agenten erläutert. Dennoch unterliegen streng genommen die perzeptuellen Tätigkeiten aller Monaden den Gesetzen der Finalursachen, weshalb eine adäquate Rekonstruktion von Leibniz’ Konzeption von Finalursachen nicht allein auf Geist-Monaden anwendbar sein darf. Ich werde mich in diesem Abschnitt Carlins Diskussion anschließen und mich zunächst auf Finalursachen im Bereich rationaler Monaden konzentrieren, im nächsten Abschnitt meine Interpretation aber verallgemeinern, so dass verständlich wird, inwiefern auch nicht-rationale Monaden ihre Tätigkeiten aufgrund von Finalursachen vollziehen.
340 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache
wir bereits über die Kausalität bei Leibniz kennengelernt haben, problematisch. Wenn Carlin in der oben zitierten Passage sagt, dass „Finalursachen appetitive Zustände von Agenten sind und einen wirkkausalen Einfluss auf die Folgezustände des Agenten ausüben“, so scheint er – wie Kulstad und Sleigh – davon auszugehen, dass Perzeptionen ihre Folgeperzeptionen verursachen. Wie gesehen, ist diese Auffassung jedoch nicht haltbar: Nach Leibniz bringen nicht die Perzeptionen ihre Folgeperzeptionen hervor, sondern die Substanzen tun dies als immanente Ursachen ihrer Perzeptionen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, müsste Carlins Interpretation modifiziert werden: Wenn Finalursachen intentionale Wirkursachen sind, dann bringen sie nicht ihre Folgeperzeptionen hervor, sondern sie bewirken, dass die Substanz diese Folgeperzeptionen hervorbringt. In dieser modifizierten Fassung klingt Carlins These allerdings seltsam. Kann das Verhältnis zwischen Perzeptionen und den Aktivitäten einer Substanz tatsächlich als wirkkausales verstanden werden? Ist es sinnvoll zu sagen, eine Perzeption verursache, dass eine Substanz etwas Bestimmtes tut? Um diese Frage mit Bezug auf Leibniz zu beantworten, muss geklärt werden, ob Leibniz’ Begriff der Wirkursache diese Rede zulässt.115 Würde also Leibniz davon sprechen, dass eine Perzeption eine Substanz in der Hervorbringung einer bestimmten Perzeption verursacht? Im letzten Abschnitt wurde deutlich, dass in metaphysischer Strenge jeder kausale Einfluss zwischen körperlichen Substanzen letztlich auf einem ideellen Einfluss beruht, der auf die prästabilierte Harmonie der Aktivitäten der einzelnen Substanzen zurückzuführen ist. Letztlich sind die immanenten Verursachungen von Substanzen also die einzig echten Vorkommnisse effizienter Kausalität, die es nach Leibniz gibt. Wie Nicholas Jolley überzeugend gezeigt hat, fasst Leibniz diese immanente Verursachung der Substanzen in Analogie zu Gottes Schöpfung auf: So kommt die permanente Hervorbringung der Perzeptionen durch eine endliche Substanz ohne Übertragung von Akzidenzien aus, die Leibniz an klassischen Kausalitätskonzeptionen moniert, und gleicht damit Gottes creatio continua an, der
____________ 115 In Bezug auf den heute üblichen Kausalitätsbegriff würde ich diese Rede zurückzuweisen, da nach dieser Rede ein Zustand (eine Perzeption) in einer Kausalrelation zu einem Sachverhalt stünde, der selbst eine kausale Binnenstruktur aufweist (nämlich zu dem Sachverhalt, dass die Substanz jene spezifische Perzeption verursacht). Sachverhalte und insbesondere Sachverhalte mit kausaler Binnenstruktur scheinen ungeeignete ontologische Kandidaten für die Relata von Kausalrelationen. Allerdings hat Dretske 1988, 42f., mit der Einführung einer structuring cause im Gegensatz zur so genannten triggering cause dafür plädiert, dass auch kausale Sachverhalte Relata strukturierender Kausalrelationen sein können. Aber auch für Dretske ist eine solche structuring cause genau keine klassische Wirkursache im Sinne einer triggering cause.
Finalursachen als Tätigkeitsdispositionen
341
damit die Welt permanent in Existenz erhält.116 So schreibt denn Leibniz auch, dass „die geschaffenen Substanzen von Gott abhängen, der sie erhält und der sie sogar dauernd in einer Art Emanation hervorbringt, so wie wir unsere Gedanken hervorbringen.“117 Zudem handelt es sich sowohl bei der immanenten Verursachung endlicher Substanzen als auch bei Gottes Schöpfung um eine Aktivierung eines substantiellen Vermögens,118 und Gott wie endliche Monaden vollziehen ihre Akte, um des (zumindest scheinbar) Guten willen und unterliegen damit Finalursachen: Endliche Substanzen bringen ihre Perzeptionen nach dem hervor, was ihnen am besten erscheint, und Gott, der das Gute aufgrund seiner Allwissenheit unfehlbar erkennt, erschafft die beste aller möglichen Welten.119 Für Leibniz besteht echte Wirkverursachung also in etwas, das allein von Substanzen ausgehen kann und das wie Gottes Schöpfung als eine Form der Emanation verstanden werden muss.120 Damit können Finalursachen in Form von mentalen Zuständen oder Perzeptionen keine Wirkursachen in Leibniz’ Sinne sein, wie Carlin behauptet. Denn echte Wirkursachen sind nach Leibniz nur Substanzen, die mittels eines emanativen Aktes spontan Zustände hervorbringen. Obwohl Finalursachen nicht als spezielle Wirkursachen verstanden werden können, wie Carlin meint, scheint ein Teil seines Vorschlags einleuchtend; d.i. die Annahme, Finalursachen seien in gewisser Weise mit den Perzeptionen von Monaden identisch. Dies ist deshalb plausibel, weil damit Leibniz’ beide Thesen, dass der Verlauf der perzeptuellen Veränderungen durch Finalursachen einerseits, und durch vorhergehende Perzeptionen andererseits bestimmt ist, ganz natürlich zusammen geführt werden. Für eine befriedigende Interpretation der Finalursachen bei Leibniz muss dieser Vorschlag jedoch noch in zwei Hinsichten konkretisiert werden: Zum einen gilt es zu klären, in welchem Sinn Finalursachen mit Perzeptionen identisch sind, und zum andern ist genauer auszubuchstabieren, auf welche Weise Finalursachen Substanzen zu ihren Tätigkeiten determinieren, wenn sie es nicht auf eine wirkkausale Weise tun. Zunächst zum ersten Punkt: Auch wenn es aus dem eben genannten Grund nahe liegt, Finalursachen mit den monadischen Perzeptionen gleichzusetzen, muss diese Identifikation qualifiziert werden, da eine
____________ 116 Siehe dazu Jolley 1998, 599. 117 Discours §14, A VI.4b1 1549; LPS I 93; Übersetzung leicht geändert. 118 Vgl. Jolley 1998, 602. 119 Dazu Jolley 1998, 606f. 120 Erinnert man sich an die Metaphern des Fließens, mit denen sowohl Suárez als auch Spinoza das Phänomen der Verursachung umschrieben haben, erstaunt Leibniz’ emanatives Kausalitätsverständnis kaum.
342 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache
(Geist-)Monade natürlich nicht um Perzeptionen willen tätig ist, sondern „immer (obgleich freiwillig) das tun wird, was [ihr] das Beste scheint.“121 Finalursachen sind somit weniger die mentalen Zustände der Substanz, als vielmehr deren Inhalte: das, was die perzeptuellen Zustände dieser Substanz als das Beste repräsentieren.122 Wenn Finalursachen Perzeptionen sind, ist damit genau genommen gemeint, dass sie die Inhalte von Perzeptionen sind, die dieser Substanz als besonders gut erscheinen, und sie infolgedessen zu ihrer Tätigkeit motivieren. Entsprechend meint Leibniz auch, dass Finalursachen als „Motive“123 oder als „Gründe“124 aufgefasst werden können. Dies führt unmittelbar zum zweiten Punkt: Wie bestimmen Finalursachen Substanzen zu ihren Tätigkeiten? Versteht man Leibniz’ Finalursachen (zumindest mit Bezug auf rationale Monaden) als motivierende Handlungsgründe, scheint man unmittelbar auf Carlins Vorschlag zurückzufallen. Denn was wäre natürlicher als zu sagen, dass Handlungsgründe eben Ursachen von Handlungen sind? So hat Donald Davidson prominent dafür argumentiert, dass Gründe Handlungen nur dann erklären, wenn sie diese Handlungen auch verursachen.125 Mit dieser Theorie im Hintergrund scheint es neben Carlins Interpretation schlicht keine weitere systematische Option mehr zu geben: Wenn Finalursachen die Tätigkeiten von Substanzen in einem interessanten Sinn erklären, so nur dann, wenn sie diese auch kausal determinieren. Sich von Davidsons Überlegungen auf Carlins – wie sich zeigte, unhaltbare – Interpretation zurückdrängen zu lassen, erscheint mir jedoch vorschnell und überdies unnötig. Denn ein solcher Rückzug missachtete den Umstand, dass Leibniz einen ganz anderen Kausalitätsbegriff vertritt als Davidson. Für Davidson ist Kausalität Ereignis-Kausalität:126 Ursachen sind Ereignisse, die andere Ereignisse hervorrufen, weshalb insbesondere auch Gründe in Gestalt mentaler Episoden andere Ereignisse verursachen
____________ 121 Discours §13, A VI.4b1 1548; LPS I 91. 122 Dass die Substanzen durch eine „Repräsentation der Objekte“ zu ihren Tätigkeiten bestimmt werden, sagt Leibniz explizit in seinen Remarques sur le Livre de l'origine du mal §20, GP VI 421f.: „Enfin lors même qu’une substance Active n’est déterminée que par elle même, il ne s’ensuit point qu’elle ne soit point mue par les objets; car c’est la représentation de l’objet qui est en elle même, qui contribue à la détermination; laquelle ainsi ne vient point de dehors, et par conséquent la spontanéité y est toute entière.“ 123 Siehe etwa Nouveaux Essais II.22.11, GP V 200; LPS III/1 359. 124 Leibniz meint explizit, dass „im Besonderen die Finalursache oft Grund genannt“ wird (Nouveaux Essais IV.17.3, GP V 457; LPS III/2 541). 125 Davidson 1963. 126 Vgl. dazu Davidson 1967.
Finalursachen als Tätigkeitsdispositionen
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können, die wir in der Folge als Handlungen beschreiben. Im Gegensatz dazu geht Leibniz von einer Substanz- oder Akteurs-Kausalität aus: Es sind Substanzen, die Zustände oder (im Fall Gottes) andere Substanzen hervorbringen. Damit aber kann auch Davidsons Vorschlag, die explanatorische Kraft von Gründen durch ihre kausale Wirksamkeit auszuzeichnen, in Leibniz’ Theorie keine Rolle spielen. Denn Gründe oder Perzeptionen gehören für Leibniz schlicht nicht zu der Sorte von Entitäten, die kausal wirksam werden können. Das sind nach Leibniz allein Substanzen. Es bleibt also dabei: Finalursachen bestimmen die Tätigkeiten von Substanzen auf nicht-kausale Weise. Nur, wie lässt sich diese Determination positiv verstehen? In welcher Weise bestimmt eine Finalursache eine Substanz zu einer Handlung? Einen ersten Hinweis auf diese Frage, hat sich bereits oben im Zusammenhang mit Leibniz’ Verteidigung der kausalen Autonomie körperlicher Substanzen ergeben. Wie gesehen, bemühte sich Leibniz dabei explizit, kausales Vokabular zu vermeiden, und betonte, dass der äußere Impuls einer körperlichen Substanz „nur die Gelegenheit [occasio] zur Aktivität bietet“.127 Damit lässt sich argumentieren, dass Finalursachen oder Handlungsgründe nicht die Tätigkeiten der Substanzen verursachen, sondern die Substanzen vielmehr zu dieser Tätigkeit veranlassen. Finalursachen tun in diesem Sinne nichts. Sie sind nicht kausal wirksam, sondern bieten den Substanzen lediglich die Gelegenheit dazu, gewisse Tätigkeiten zu vollziehen. Leibniz vertritt somit eine Art pluralen Occasionalismus, nach dem nicht nur Gott, sondern alle Substanzen anlässlich gewisser Gelegenheiten kausal wirksam werden. Und tatsächlich führt Leibniz in typisch konziliatorischer Manier aus, der Occasionalismus sei nicht gänzlich zurückzuweisen, sondern teilweise berechtigt: Das System der Gelegenheitsursachen muss teilweise angenommen, teilweise zurückgewiesen werden. Jede Substanz ist die wahre und wirkliche Ursache ihrer immanenten Tätigkeiten und hat eine Kraft zum Tätigsein, und obwohl sie durch die göttliche Mitwirkung erhalten wird, kann es nicht geschehen, dass sie sich nur passiv verhält, und dies gilt sowohl für die körperlichen als auch für die unkörperlichen Substanzen. Aber andererseits ist jede Substanz (außer Gott) nur die Gelegenheitsursache ihrer transeunten Tätigkeiten bezüglich anderer Substanzen. Daher ist das wahre Verhältnis zwischen der Seele und dem Körper, und der Ursache, warum sich ein Körper an den Zustand eines anderen Körpers anpasst, nichts anderes, als dass die verschiedenen Substanzen desselben Weltsystems von Anfang an so geschaffen worden sind, dass sie aus den Gesetzen ihrer eigentümlichen Naturen miteinander übereinstimmen. (De systemate causarum occasionalium (1689/90?), A VI.4b3 Nr. 320)
Leibniz zufolge ist der Occasionalismus abzulehnen, weil alle Substanzen – und nicht nur Gott – über eine kausale Kraft zur immanenten Tätigkeit
____________ 127 Körper und Kraft, GP IV 397; AG 254.
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verfügen. Allerdings lässt sich dem Occasionalismus in dem Punkt recht geben, dass endliche Substanzen nicht tatsächlich aufeinander einwirken, sondern einander bloß die Gelegenheit für eine koordinierte, und daher kausal beschreibbare, Perzeptionsentwicklung geben. In diesem Sinne ist eine Substanz A, von der wir natürlicherweise sagen würden, sie wirke auf eine andere Substanz B ein, nicht die Wirkursache von Bs Verhalten, sondern lediglich eine Gelegenheitsursache für Bs immanente Tätigkeit. Von dieser Gelegenheit erfährt B durch ihre Perzeptionen, die aufgrund der prästabilierten Harmonie die Veränderungen aller Substanzen des Universums – also insbesondere auch die von A – repräsentieren. Nach Leibniz sind somit alle Substanzen auf dieselbe Weise kausal wirksam, in der Gott in einem occasionalistischen Weltbild tätig ist: nämlich immanent auf der Grundlage von Gelegenheitsursachen.128 Finalursachen stehen also in einem occasionalen Verhältnis zu ihren substantiellen Tätigkeiten, und nicht in einem kausalen, wie Carlin meint: Finalursachen veranlassen Substanzen zu ihren Tätigkeiten, sie verursachen diese Tätigkeiten nicht. Dieses Ergebnis scheint zunächst kaum aufschlussreich. Denn wie lässt sich diese occasionale Relation des Veranlassens zwischen Perzeptionen und tätigen Substanzen genau verstehen, und inwiefern ist diese Relation explanatorisch relevant? Diese Frage ist vor dem Hintergrund von Davidsons Auffassung, Gründe könnten Handlungen nur dann erklären, wenn sie diese verursachen, besonders virulent. Denn nun muss gezeigt werden, dass auch nicht-kausale Veranlassungen die Tätigkeiten von Substanzen in einem interessanten Sinn erklären können. Woher rührt also die explanatorische Kraft von Finalursachen oder Motiven, wenn sie nicht von einer kausalen stammen kann? Aufschluss darüber gibt eine Passage aus Leibniz’ Auseinandersetzung mit Samuel Clarke, in der er die Analogie des Abwägens von Gründen mit dem Ausbalancieren von Gewichten einer Waage diskutiert. Es sollte auch beachtet werden, dass streng gesprochen Motive nicht auf die Weise auf den Geist einwirken, wie die Gewichte auf die Waage. Denn es ist der Geist, der vermöge seiner Motive handelt, die seine Handlungsdispositionen sind. Wie hier [d.h. wie Clarke; S.S.] also zu wollen, dass der Geist manchmal schwache Motive starken bevorzugt, und ihnen sogar manchmal das vorzieht, was indifferent ist, indem es dies an die Spitze aller Motive rücken lässt, heißt, den Geist von seinen Motiven zu trennen, als ob diese außerhalb des Geistes und verschieden von ihm wären, wie die Gewichte verschieden von der Waage sind, und als ob der Geist neben den Motiven noch andere Dispositionen zum Handeln hätte, vermöge derer er die Motive zurückweisen oder akzeptieren könnte. Während die
____________ 128 Dies passt zudem gut zur Beobachtung von Jolley 2005, 2-6, dass in Leibniz’ Philosophie die Ebenbildthese eine zentrale Rolle spielt, nach der alle Geschöpfe in unterschiedlichem Grade Gott ebenbildlich sind.
Finalursachen als Tätigkeitsdispositionen
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Motive in der Tat alle Dispositionen umfassen, die der Geist haben kann, um willentlich zu handeln – nicht nur seine Gründe, sondern jede Neigung, die er hat aufgrund von Leiden oder anderen vorhergehenden Eindrücken. (Brief an Clarke vom 18. August 1716 §15, GP VII 392)
Leibniz stellt hier noch einmal klar, dass das Verhältnis zwischen Finalursachen und Motiven und der Substanz nicht als ein kausales verstanden werden darf, wie es bei Gewicht und Waage zu verstehen ist, bei der von der Waage unabhängige Gewichte auf die Waage einwirken. Nicht die Finalursachen oder Motive wirken also auf die Substanz ein, sondern die Substanz wirkt vermöge ihrer Motive, die als Dispositionen dieser Substanz aufzufassen sind. Das occasionale Verhältnis zwischen Finalursachen und der Tätigkeit einer Substanz ist also ein dispositionales: Finalursachen veranlassen eine Substanzen zu einer ganz bestimmten Tätigkeit, da sie Dispositionen dieser Substanz sind.129 Damit ist auch sichergestellt, dass die Tätigkeiten der Substanzen durch Finalursachen eindeutig bestimmt sind, was sowohl für Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes als auch für seine Theorie der prästabilierten Harmonie entscheidend ist. Zudem gibt die Auffassung von Finalursachen als Dispositionen über die explanatorische Kraft von Finalursachen Aufschluss: Finalursachen erklären deshalb, warum Substanzen gewisse Tätigkeiten vollziehen, weil sie diese Substanzen in Gestalt von Handlungsdispositionen zu ihren Tätigkeiten veranlassen. Damit lässt sich Leibniz’ Konzeption von Finalursachen sowohl in ontologischer als auch in kausaltheoretischer entscheidend präzisieren. In ontologischer Hinsicht sind Finalursachen als Inhalte perzeptueller Zu-
____________ 129 Hier könnte man kritisch einwenden, es sei irreführend Leibniz’ Finalursachen, die Substanzen zu Tätigkeiten veranlassen, als Dispositionen zu bezeichnen, da dispositionale Zustände erstens selbst nichts täten, und Dispositionen zweitens nur erklärten, warum etwas unter ganz bestimmten Bedingungen etwas tut (so etwa Keil 2000, 310, und Cummins 1974). Den ersten Einwand verstehe weniger als Einwand gegen, denn als Motivation für meine Interpretation: Es ist ja gerade der Witz, dass Finalursachen nichts (im kausalen Sinne) tun. Das bleibt den Substanzen vorbehalten. Gegen den zweiten Einwand lässt sich sagen, dass auch die Perzeptionen der Substanzen das substantielle Tun nicht bedingungslos erklären, sondern nur unter der Bedingung, dass die Substanz überhaupt etwas tut, was nach Leibniz allerdings durch die wesentliche Aktivität von Substanzen garantiert wird. Unter dieser Voraussetzung ist ein Verweis auf die Disposition einer Substanz immer hinreichend für die Erklärung ihres Tuns. Mithin gilt für Leibniz: „Vermögen ohne irgendwelche Tätigkeit, d.h. die reinen Möglichkeiten der Schulphilosophie sind auch nur Fiktionen, die die Natur nicht kennt und die man nur durch Abstraktion erhält.“ (Nouveaux Essais II.1.2, GP V 100; LPS III/1 101). Vgl. auch die Système Nouveau, Erste Erläuterungen §14, GP IV 495; LPS I 231f.
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stände von Monaden zu verstehen, die den weiteren Verlauf ihrer Perzeptionsentwicklung bestimmen. In kausaltheoretischer Hinsicht erweist sich eine Finalursache deshalb als ‚Ursache’ der monadischen Perzeptionsentfaltung, weil sie als Disposition einer bestimmten Substanz, diese Substanz zur Hervorbringung ihrer bestimmten Perzeptionen veranlasst. Diese beiden Aspekte von Leibniz’ Finalursachen bestehen nicht unabhängig voneinander. Sie ergänzen sich vielmehr. Der Umstand, dass Finalursachen repräsentationale Inhalte von Perzeptionen sind, erklärt, warum diese Perzeptionen ihre Substanzen zu den Tätigkeiten disponieren, zu denen sie sie disponieren. Leibniz trägt damit dem Phänomen Rechnung, das ich im in der Diskussion von Thomas von Aquins Finalursachenlehre „dispositionale Intentionalität“ genannt habe, und das einige Philosophen mit einem gewissen Unbehagen erfüllt. Dispositionen mögen nämlich so manchem als „ätherisch“ erscheinen, weil sie gleichsam Möglichkeiten gewisser Manifestationen in sich tragen, ohne diese Möglichkeiten auch realisieren zu müssen.130 Man fragt sich, wie diese Ausrichtung dispositionaler Eigenschaften auf ihre möglichen Manifestationen zu erklären ist. Leibniz’ Auffassung von Dispositionen als Perzeptionen liefert darauf eine simple Antwort: Dispositionale Eigenschaften sind deshalb auf mögliche Manifestationen ausgerichtet, weil sie als Perzeptionen diese Manifestationen als Ziele repräsentieren. Wie Thomas schlägt somit auch Leibniz vor, das Phänomen der dispositionalen Intentionalität durch eine Form kognitiver Intentionalität zu fundieren. Diesen Vorschlag arbeitet er auf der Grundlage einer cartesischen Kognitionstheorie aus, gemäß der nur immaterielle, seelenartige Entitäten über intentionale Zustände verfügen können, und zieht daraus die radikale Konsequenz, dass alle aktiven Entitäten als immaterielle, seelenartige Einheiten zu verstehen sind.131 Versteht man Leibniz’ Finalursachen, wie vorgeschlagen, als die Inhalte von Perzeptionen, vermöge derer diese Perzeptionen ihre Substanzen zu bestimmten Tätigkeiten disponieren, leuchtet auch ein, warum Leibniz der Ansicht ist, die Postulierung gerichteter oder vektorieller Kräfte gehe mit der Annahme von Finalursachen einher. Denn mechanische Kräfte sind streng genommen schlicht aktive Vermögen oder Dispositionen von Körpern, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Wenn nach Leibniz nun die Vermögen oder Dispositionen von Substanzen durch Finalursachen – verstanden als repräsentationale Inhalte ihrer Perzeptionen – festgelegt werden, gilt natürlich, dass insbesondere auch Vermögen zu
____________ 130 So etwa N. Goodman 1983, 40. 131 Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung gelangt auch Rozemond 2009, 274, die meint, „Leibniz adopts Aristotelian ideas, final causation and substantial form, through a Cartesian lens.“
Finalursachen, Rationalität und Kontingenz
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bestimmten Ortsbewegungen bzw. Kräfte in solchen Finalursachen begründet sein müssen.132
Finalursachen, Rationalität und Kontingenz Leibniz’ teleologische Erklärung der substantiellen Tätigkeiten im Bereich der Metaphysik ist für seine Gesamttheorie von entscheidender Bedeutung. Sie erlaubt es ihm erstens der Aktivität der ontologisch und kausal unabhängigen Substanzen, zweitens dem Prinzip des zureichenden Grundes und drittens der darauf aufbauenden Theorie der prästabilierten Harmonie gleichermaßen Rechnung zu tragen. Trotzdem wirft die im letzten Abschnitt vorgeschlagene Rekonstruktion von Leibniz’ finalursächlicher Analyse der perzeptuellen Veränderungen mindestens drei Probleme auf: Zum einen irritiert sie in systematischer Hinsicht. Sie erscheint geradezu überintellektualistisch. Dass Substanzen ihre Tätigkeiten spontan aufgrund als gut erachteter Ziele hervorbringen, mag vielleicht mit Blick auf die freiwilligen Handlungen rationaler Substanzen einleuchten. Aber was ist mit deren Leiden? Schmerzen etwa werden wohl kaum spontan hervorgebracht. Man kann sie sich höchstens selbst zufügen. Und was ist mit all den nicht rationalen Substanzen wie den Tier-Seelen und den einfachen Monaden. Insofern diese keine Vernunft haben, sind sie nicht in der Lage Schlussfolgerungen zu ziehen. Entsprechend sind sie unfähig, etwas als einen Grund für etwas zu erachten. Wie sollte es dann möglich sein, deren Tätigkeiten finalursächlich zu erklären, wenn Finalursachen doch Gründe oder Motive sind?133 Zum andern erscheint die obige Rekonstruktion aber auch als exegetisch unangemessen. Wie lässt sich behaupten, dass Finalursachen Inhalte von Perzeptionen sind, wo doch Leibniz im Allgemeinen nie davon spricht, dass Substanzen ihre Ziele repräsentieren. Leibniz sagt ja nur, dass Substanzen das gesamte Universum perzipieren – und in welchem Sinne könnte eine Repräsentation des Weltalls ein Ziel sein, das Substanzen zur Hervorbringung ganz bestimmter Perzeptionen bewegt? Darüber hinaus gibt Leibniz’ Theorie teleologischer substantieller Veränderungen zu einer ganz grundsätzlichen Frage Anlass: Warum ist es Leibniz überhaupt so wichtig, dass metaphysische Sachverhalte ausschließlich mit Hilfe von Finalursachen erklärt werden können? Wäre es angesichts
____________ 132 Vgl. dazu auch Carriero 2008, 131. Auch Armstrong 1997, 77f., führt aus, dass es nahe liegt, vektorielle Eigenschaften dispositional zu deuten. Die finalursächliche Analyse von Kräften löst zudem die in Anm. 64 genannte Schwierigkeit. 133 Leibniz charakterisiert Finalursachen etwa in den Nouveaux Essais IV.17.3, GP V 457; LPS III/2 541, als Gründe.
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der sich eben abzeichnenden Schwierigkeiten nicht viel plausibler auch hier Kausalerklärungen zuzulassen? Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich diese drei Probleme der Reihe nach angehen. Kommen wir zunächst zum systematischen Problem, dass Leibniz’ Theorie der finalursächlichen Veränderungen von Substanzen allzu intellektualistisch wirkt und insbesondere der kausalen oder passiven Dimension substantieller Tätigkeiten nicht Rechnung zu tragen scheint. In Replik darauf ist zunächst zu beachten, dass man durch die im letzten Abschnitt vorgestellte Interpretation von Leibniz’ Finalursachenverständnis nicht darauf festgelegt ist, dass Finalursachen für Leibniz immer Handlungsgründe sind. Im Allgemeinen sind Finalursachen vielmehr als Tätigkeitsdispositionen zu verstehen, welche die Tätigkeiten von Substanzen auf bestimmte Ziel hin ausrichten und sie zu diesen Tätigkeiten veranlassen. Diese Tätigkeitsdispositionen, die durch den Inhalt der Perzeptionen gegeben sind, gewinnen erst in rationalen Monaden die Gestalt von Handlungsgründen. Denn nur rationale Monaden können diese Inhalte derart deutlich perzipieren, dass sie diese in ihre Schlussfolgerungen einbeziehen können, so dass diesen Inhalten auch der Status von Gründen zukommt. Dagegen disponieren die Perzeptionen arationale Substanzen zu ihrem Tun, ohne dass diese fähig wären, diese in Schlussfolgerungen zu verwenden oder ihrer auch nur bewusst zu sein. Wenn nun Leibniz häufig dazu neigt, den Einfluss von Finalursachen am Beispiel rationaler Agenten zu erläutern, sollte das nicht als (metaphysischer) Hinweis darauf gedeutet werden, dass Finalursachen primär als Handlungsgründe zu verstehen sind. Man sieht dies besser als natürliche Folge des (epistemischen) Umstands, dass eben jene Finalursachen, die wir am deutlichsten perzipieren, in uns den Status von Gründen haben, und dass daher die uns am besten bekannten Finalursachen Gründe sind. Mit Hilfe der Unterscheidung zwischen bewusst perzipierten Finalursachen und unbewusst bestimmenden Tätigkeitsdispositionen lässt sich auch die Sorge ausräumen, Leibniz’ finalursächliche Analyse vernachlässige die kausale Dimension unserer Tätigkeitsbestimmung. Wie bereits bei der Rekonstruktion von Leibniz’ Analyse der transeunten Wirkverursachung deutlich wurde, versucht Leibniz, unsere alltägliche Rede davon, dass Substanzen passiv sind oder einer kausalen Einwirkung unterliegen, mittels der Unterscheidungen zwischen der Deutlichkeit und Verworrenheit von Perzeptionen einzufangen. Eine Monade ist umso aktiver, je deutlicher ihr die Perzeptionen sind, welche sie zu ihrer Tätigkeit veranlassen. Damit kann Leibniz auch passiven mentalen Phänomenen wie willensschwachen Handlungen oder Wahrnehmungen gerecht werden. In beiden Fällen wird eine Monade von solchen Perzeptionen zu ihren Tätigkeiten veranlasst, die ihr entweder überhaupt nicht oder nur sehr verworren und unter
Finalursachen, Rationalität und Kontingenz
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Umständen dunkel bewusst sind. Wenn also rationale Akteure willensschwach handeln, so tun sie das, weil sie von verworrenen und entsprechend unbewussten Perzeptionen zu Tätigkeiten veranlasst werden, obwohl ihre bewussten Perzeptionen ihnen andere Dinge als besser erscheinen lassen.134 Genauso verhält es sich bei Wahrnehmungen, zu denen uns eine unüberschaubare Vielzahl verworrener und unbewusster Perzeptionen – so genannte „petites perceptions“135 – veranlassen, und uns damit den Grund für unser Tun nicht erkennen lassen. Insofern Perzeptionen, die uns zur Hervorbringung eines Leidens veranlassen, in uns verworren sind, sind uns auch die Ziele oder Finalursachen unseres Tuns verborgen. In gewisser Weise handeln wir in diesem Fall deshalb auch nicht nach unseren Zielen, sondern nach denen jener Monaden, welche die uns bestimmenden Perzeptionen deutlicher perzipieren und folglich als Ursache unseres Leidens bezeichnet werden können. Je einfacher Monaden werden, desto verworrener und entsprechend weniger bewusst werden ihre Perzeptionen.136 Entsprechend sind Monaden mit abnehmender Vollkommenheit immer weniger gemäß ihren eigenen Zielen tätig, die sie als solche deutlich repräsentieren, sondern zunehmend nach den Zielen anderer Substanzen, denen diese Ziele deutlicher sind. Der Hinweis darauf, dass Leibniz’ Finalursachen primär als Tätigkeitsdispositionen zu verstehen sind, kann seine Theorie vor dem Verdacht der Überintellektualisierung retten. Aber ist die These, dass Finalursachen in den disponierenden Inhalten der Perzeptionen von Substanzen bestehen, auch exegetisch angemessen? Schließlich spricht Leibniz im Allgemeinen nur davon, dass Substanzen das gesamte Universum, und nicht, dass sie ihre Ziele repräsentieren. Diesem Vorbehalt lässt sich begegnen, wenn man beachtet, dass eine Monade nicht nur das gegenwärtige Universum aus ihrer individuellen Perspektive perzipiert. Nach Leibniz enthält jede Perzeption in impliziter oder verworrener Form auch alle vergangenen sowie zukünftigen Zustände, die das Universum je annahm und annehmen wird. Zudem ist jede Substanz wie eine ganze Welt und wie ein Spiegel Gottes oder vielmehr des ganzen Alls, das jede auf ihre Weise ausdrückt, etwa so, wie ein und
____________ 134 Zu Leibniz’ Diskussion der Willensschwäche siehe Nouveaux Essais II.21.35 und Théodicée III §§309f. Als Kommentar dazu Vailati 1990. 135 Vgl. etwa Nouveaux Essais, Vorwort, GP V 46-50; LPS III/1 xxi-xxxi. 136 Wie Leibniz in Nouveaux Essais II.21.39, GP V 178; LPS III/1 301, ausführt, sind selbst einer rationalen Monade nie alle Triebfedern ihres Tuns bewusst. Was eine Monade letztlich zu ihrem Tun veranlasst, ergibt sich nämlich aus einer Art Gesamtrechnung aller kleinen Inklinationen, die sie aufgrund ihrer petites perceptions erfährt, aus denen sich ihr perzeptueller Zustand zusammensetzt.
350 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache dieselbe Stadt sich gemäß der verschiedenen Standorte dessen, der sie betrachtet, darstellt. […] Denn sie drückt, wenn auch verworren, alles aus, was sich im Weltall in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ereignet […]. (Discours §9, A VI.4b1 1542; LPS I 77f.)
Insofern eine Substanz in verworrener oder impliziter Form bereits alle vergangenen und zukünftigen Zustände des Universums enthält, kann idealerweise aus einem gegenwärtigen Zustand einer Perzeption geschlossen werden, aus welchen Vorgängerperzeptionen sie hervorgegangen ist, und welche Folgeperzeptionen sie nach sich ziehen wird. Dies hat einige Interpreten zu der These verleitet, für Leibniz sei Kausalität schlicht eine Art der begrifflichen Entfaltung.137 Wie oben allerdings deutlich wurde, ist diese Interpretation nicht haltbar, da Leibniz eine klassische akteurskausalistische Position vertritt, der zufolge Verursachungen letztlich immer auf die Aktivität von Substanzen zurückgeführt werden müssen. Trotzdem müssen nicht alle Überlegungen, die Vertreter der begrifflichen Entfaltungsthese für ihre Interpretation anbringen, zurückgewiesen werden. Diese lassen sich nämlich in eine akteurskausale Deutung von Leibniz integrieren, wenn sie als Antworten auf die Frage verstanden werden, inwiefern Finalursachen, die das Verhalten subrationaler Monaden bestimmen, Teil ihres perzeptuellen Inhalts sind. Damit ergibt sich folgendes Bild von Leibniz’ Auffassung der perzeptuellen Entwicklung von Monaden: Mittels ihrer Perzeptionen repräsentieren Monaden das gesamte Universum aus ihrer indviduellen Perspektive. Der aktuale Inhalt ihrer Perzeptionen enthält auf implizite Weise neben allen gegenwärtigen auch alle vergangenen und zukünftigen Zustände des Universums. Insbesondere umfassen Perzeptionen einer Monade implizit all ihre zukünftigen Inhalte, die zu entfalten sie in der Folge ihre Substanz veranlassen. Finalursachen subrationaler Monaden sind also durch die impliziten Folgerungen der Inhalte ihrer Perzeptionen gegeben. Da subrationale Monaden nicht zu Schlussfolgerungen fähig sind, können sie diese Folgerungen nicht erschließen, und repräsentieren diese folglich nur sehr verworren und sind sich ihrer in der Regel nicht bewusst. Mithin werden sie durch ihre Perzeptionen gleichsam blind zu ihren Tätigkeiten veranlasst oder disponiert. Sie erkennen weder die Gründe, die sie zu ihren Tätigkeiten veranlassen, noch halten sie diese für gut, obwohl sie zumindest aus der Perspektive Gottes natürlich gut sind, da sie der Realisierung der besten aller möglichen Welten dienen. Im Gegensatz dazu können rationale Monaden (zumindest manchmal) Handlungsziele erkennen, diese evaluieren und nach jenen handeln, die ihnen am besten erscheinen.
____________ 137 Siehe Anm. 86.
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Obwohl Leibniz mit seiner Unterscheidung von deutlichen und verworrenen bzw. bewussten und unbewussten Perzeptionen Bedenken gegenüber seiner finalursächlichen Analyse der substantiellen Tätigkeiten ausräumen kann, ändert das kaum etwas daran, dass sein Versuch, metaphysische Erklärungen ausschließlich teleologisch zu konzipieren, insgesamt künstlich und höchst kontraintuitiv anmutet. Das provoziert die grundsätzliche Frage, warum es Leibniz denn so wichtig ist, metaphysische Sachverhalte allein im Rückgang auf Finalursachen zu erklären. Eine Antwort auf diese Frage kennen wir bereits: Finalursächliche Erklärungen sind für den Bereich der Metaphysik deshalb unverzichtbar, weil dieser Bereich aus kausal autonomen Substanzen besteht, die sich ohne äußeren Einfluss aufgrund ihrer Spontaneität in Vollzügen immanenter Verursachungen, aber doch in perfekter Übereinstimmung mit allen anderen Substanzen verändern. Da Substanzen kausal isoliert sind, können diese Veränderung natürlich nicht wirkkausal erklärt werden. Damit bleibt allein die teleologische Erklärbarkeit. Wenn ihre Tätigkeiten überhaupt erklärbar sein sollen – und das sollten sie, wenn es gemäß dem Prinzip des zureichenden Grundes für alles eine Erklärung gibt –, dann müssen sie mit Bezug auf Ziele oder Zwecke erklärt werden können. Leibniz’ Beharren auf finalursächlichen Erklärungen im Bereich der Metaphysik beruht also letztlich auf seiner strikten Auffassung, dass Substanzen ontologisch und damit kausal unabhängige Entitäten sind, und seinem in der Akzeptanz des Prinzips des zureichenden Grundes verankerten Rationalismus. Vor dem Hintergrund dessen, was wir im letzten Kapitel über Spinoza kennengelernt haben, erstaunt es, dass gerade Leibniz’ Rationalismus entscheidend für seine Rehabilitation von Finalursachen sein soll. Schließlich hat Spinoza ja gerade wegen des Prinzips des zureichenden Grundes teleologische Erklärungen als genuine Erklärungen abgelehnt: Weil Tätigkeiten, die um eines Zieles willen erfolgen, immer scheitern können, ist ein Verweis auf die Ziele dieser Tätigkeiten allein nie hinreichend, um den Vollzug dieser Tätigkeit auch tatsächlich zu erklären. Eine teleologische Erklärung eines konkreten Ereignisses gelingt immer nur ceteris paribus – unter der Voraussetzung, dass es keine Zwischenfälle gibt. Warum ist Leibniz also im Gegensatz zu Spinoza der Ansicht, dass teleologische Erklärungen nicht nur dem Prinzip des zureichenden Grundes genügen, sondern in metaphysischen Belangen sogar gefordert sind? Die Antwort auf die erste Teilfrage liegt auf der Hand: Wenn Leibniz meint, Finalursachen lieferten einen hinreichenden Grund für das Auftreten von Tätigkeiten, so wohl deshalb, weil er nicht glaubt, dass die durch diese Finalursachen erklärten Tätigkeiten durch irgendetwas behindert werden könnten. Und das ist ja auch nicht verwunderlich, wenn Substanzen kausal isolierte
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Entitäten sind. Es gibt nichts, was auf diese Substanzen einwirken und sie von der Realisierung ihrer Ziele abhalten könnte. So betont Leibniz etwa mit Bezug auf die rationalen Substanzen, dass das „Übergewicht des erkannten Guten […] bestimmend ist (wenn man alles in Betracht zieht) und niemals ihre Wirkung verfehlt.“138 Entsprechend werden Substanzen in der Regel genau das tun, was ihnen als das Beste erscheint.139 Aber auch nicht-rationale Substanzen, die nur undeutliche Perzeptionen haben und damit nur unbewusst agieren, sind unablässig und unfehlbar um des Guten willen tätig. In ihrem Tun realisieren sie die beste aller möglichen Welten. Und genau deshalb hat sich Gott, der viele Welten hätte erschaffen können, in seiner Schöpfung für sie entschieden. Schließlich ist Gott, wie alle anderen Monaden auch, um des Guten willen tätig. Es ist also der kausalen Isolation der Substanzen geschuldet, dass ihre zielgerichteten Tätigkeiten nicht durchkreuzt und entsprechend hinreichend durch ihre Ziele erklärt werden können, so dass teleologische Erklärungen dem Prinzip des zureichenden Grundes genügen. Darüber hinaus dürften teleologische Erklärungen dem Rationalisten Leibniz deshalb so attraktiv erscheinen, weil sie ihm einen Ausweg aus zwei Problemen versprechen, die eng mit der Akzeptanz des PZG verbunden sind. Es ist das Problem des Nezessitarismus einerseits und das der selbsterklärenden Erklärungen andererseits. Ich will zum Abschluss diesen beiden Problemen und Leibniz’ Lösungsvorschlägen nachgehen. Dem Nezessitarismus, nach dem alles notwendig ist, sind wir bereits bei Spinoza begegnet, der ihn kompromisslos akzeptiert hatte. Einem Rationalisten drängt sich diese Position aus der Überlegung auf, dass kontingente oder nicht-notwendige Sachverhalte dem PZG zu widerstreiten drohen: Was kontingent ist, das hätte auch anders sein können. Das heißt es, kontingent zu sein. Damit aber scheint es für kontingente Sachverhalte per definitionem keine hinreichenden Gründe geben zu können, da solche Gründe erklären, warum sich etwas so und nicht anders verhält. Was also einen hinreichenden Grund hat, das muss sich aus diesem Grund so und nicht anders verhalten. Entsprechend kann es sich nicht anders verhalten und kann infolgedessen unmöglich kontingent sein. Wenn nun – wie das PZG sagt – alles einen hinreichenden Grund hat, scheint nichts kontin-
____________ 138 Nouveaux Essais II.21.49, GP V 184; LPS III/1 317; vgl. auch II.21.8, GP V 161; LPS III/1 255f. 139 Endliche rationale Substanzen können auch willensschwach sein, wie Leibniz in den Nouveaux Essais II.21.35 und in der Théodicée III §§309f. ausführt. Vgl. dazu Vailati 1990. Er erklärt dies damit, dass wir im Fall akratischer Handlungen, das was uns gut erscheint, nicht deutlich genug repräsentieren, so dass wir von anderen Perzeptionen zum Handeln bestimmt werden.
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gent und mithin alles notwendig zu sein. Genau das behauptet eine Nezessitaristin.140 Mit Rückgriff auf Finalursachen wollte nun Leibniz diese unliebsame rationalistische Konsequenz vermeiden. Er argumentierte, dass es neben metaphysisch notwendigen Wahrheiten oder Sachverhalten, die durch das Widerspruchsgesetz festgelegt würden, auch kontingente Wahrheiten gebe, die dem Prinzip des zureichenden Grundes unterliegen, und als solche nicht absolut, sondern nur hypothetisch notwendig seien.141 Eine absolut notwendige Wahrheit – wie etwa die, dass 2 + 2 = 4 – zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Negation widersprüchlich oder absurd ist. Dagegen ist die Negation kontingenter Wahrheiten nicht als solche schon widersprüchlich, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen – und zwar unter der Voraussetzung ihres hinreichenden Grundes. Deshalb sind solche Wahrheiten auch nur hypothetisch notwendig. Ein Beispiel für kontingente Wahrheiten sind etwa unsere Naturgesetze.142 Dass die Gravitationskonstante einen anderen Wert als den von ca. 6,674· 10-11 m3/kg· s2 aufweist, scheint nicht absurd zu sein. Deshalb ist das Gravitationsgesetz auch nicht metaphysisch notwendig, sondern kontingent. Es handelt sich um eine hypothetisch notwendige Wahrheit, deren Negation nur unter der Voraussetzung widersprüchlich ist, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Andere Naturgesetze sind also durchaus konsistent vorstellbar und damit metaphysisch möglich. Der Grund, warum sie nicht wirklich sind, liegt darin, dass sie nicht die beste aller möglichen Welten konstituieren würden und damit unerklärbar bliebe, warum sie Gott in seiner Schöpfung gewählt hat – was dem PZG zuwider liefe. Deshalb betont Leibniz, das „Physische selbst enthält in Bezug auf Gott etwas von der Art der Moral und des Willentlichen, weil die Bewegungsgesetze keine andere Notwendigkeit als die des Besten besitzen.“143
____________ 140 Dafür, dass der Nezessitarismus unmittelbar aus dem PZG folgt, haben dezidiert P. van Inwagen 1998, 202-204, und M. Della Rocca 2003 argumentiert. 141 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Kontingenz bzw. hypothetischer Notwendigkeit und absoluter Notwendigkeit Théodicée I §44, GP VI 127; LPS II/1 273, Théodicée, Abhandlung §2, GP VI 50; LPS II/1 71, und Anhang, 3. Einwand, GP VI 380f., sowie Leibniz’ Brief an Pierre Coste vom 19. Dezember 1707, GP III 400; AG 193, und seine kleine Schrift De contingentia (1689?), A VI.4b1 1649; LPS I 179. 142 Siehe etwa De rerum originatione radicali, GP VII 302-308; AG 149-155. 143 Nouveaux Essais II.21.13, GP V 164; LPS III/1 265. Damit wird auch verständlich, warum Naturgesetze nach Leibniz – wie in Anm. 19 gesehen – einen präskriptiven Charakter haben: Naturgesetze schreiben vor, was in der besten aller möglichen Welt geschehen soll. Vgl. auch Nachtomy 2007, 154-156.
354 Kapitel V: Gottfried Wilhelm Leibniz und die Rehabilitation der Finalursache
Auf den ersten Blick erscheint Leibniz’ Versuch, der Kontingenz mit Hilfe der Unterscheidung zwischen absoluter und hypothetischer Notwendigkeit Rechnung zu tragen, leider kaum aussichtsreich. Schließlich ist auch die hypothetische Notwendigkeit eine Form der Notwendigkeit – und was ist damit gegen eine Nezessitaristin gewonnen? Um die besondere Pointe von Leibniz’ Lösung zu verstehen, ist zu beachten, dass die hypothetische Notwendigkeit letztlich auf Finalursachen beruht. Als solche – so wird Leibniz nie müde zu sagen – geht sie mit einer ganz bestimmten Modalität des Zwangs einher, die weder die Freiheit noch die „Möglichkeit des Gegenteils zerstört“:144 Finalursachen machen geneigt, ohne zu nötigen.145 Entsprechend handelt es sich bei der hypothetischen Notwendigkeit um eine harmlose Sorte von „Notwendigkeit, die den Weisen dazu zwingt, das Gute zu tun, und die man moralische nennt“.146 Insofern sie von Finalursachen ausgeht, beruht sie auf der motivationalen Kraft guter Gründe.147 Ein solcher Grund legt einen rationalen Akteur zwar auf eine ganz bestimmte Tätigkeit fest (und ist in diesem Sinne hinreichend), beraubt ihn dabei aber weder seiner Freiheit noch seiner alternativen Möglichkeiten. Das macht deutlich, dass Finalursachen für Leibniz’ Versuch, die nezessitaristischen Konsequenzen seines Rationalismus zu vermeiden, von entscheidender Bedeutung sind.148 Dass diese Welt existiert und keine andere, hängt nicht davon ab, dass sich keine andere Welt konsistent denken ließe. Deshalb ist die Existenz dieser Welt kontingent: Es wäre logisch
____________ 144 Théodicée, Anhang, GP VI 386. 145 Siehe z.B. Nouveaux Essais II.21.12, GP V 162; LPS III/1 261, und Théodicée III §310, GP VI 300; LPS II/2 103. 146 Réflexions sur Hobbes §3, GP VI 390. Wie Adams 2005, 181f., ausführt, geht der Begriff der moralischen Notwendigkeit, der bei Leibniz ab 1707 auftaucht, auf die Rechtsprechung zurück, wo er die strengste Modalität deontischer Logik ausdrückte. Auf den scholastischen Hintergrund dieses Begriffs und seine Rolle innerhalb der damaligen Freiheitsdiskussion gehen erhellend Murray 2004 und ausführlich Knebel 2000, 127-196, ein. 147 So betont Leibniz etwa, dass „die moralische Notwendigkeit eine Verpflichtung des Grundes mit sich führt, die auf den Weisen immer ihre Wirkung hat. Diese Art der Notwendigkeit ist glücklich und wünschenswert, da man durch gute Gründe dazu gebracht wird zu handeln, wie man es tut“ (Réflexions sur Hobbes §3, GP VI 390). 148 Ob ihm dieser Versuch gelingt, bleibt zumindest fraglich. Schließlich scheint Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten absolut notwendig zu sein. Wäre es nicht widersprüchlich, wenn Gott als wesentlich gutes und allwissendes Wesen, nicht die beste aller möglichen Welten erkennen und auswählen würde? Ich kann diesem Problem hier nicht nachgehen. Vgl. aber Curley 1972, 95, und Adams 1994, 23-25.
Finalursachen, Rationalität und Kontingenz
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möglich, dass auch eine andere Welt oder gar keine existiert. Trotzdem gibt es einen hinreichenden Grund dafür, dass diese Welt und keine andere existiert. Dieser besteht in der Finalursache oder dem Umstand, dass die Erschaffung dieser Welt die beste Option war, die sich Gott darbot. Zugleich zeigt sich, dass sich Leibniz mit seinem Versuch, die Kontingenz mit Hilfe von Finalursachen und der mit ihnen assoziierten hypothetischen Notwendigkeit zu explizieren, an eine Tradition anschließt, die wir bereits bei Thomas von Aquin kennengelernt haben. So argumentierte dieser (in Anlehnung an Aristoteles) ja, dass allein durch die Annahme von Finalursachen der Irrtum jener zu vermeiden sei, „die, indem sie den Dingen die Finalursachen gänzlich entzogen, behaupteten, alles geschehe mit aus der Materie entspringender Notwendigkeit.“149 Wie Thomas vor ihm versucht also auch Leibniz, dem Phänomen der Kontingenz dadurch Rechnung zu tragen, dass er sich auf Finalursachen und die mit dieser Ursache traditionell assoziierten Form der hypothetischen Notwendigkeit beruft. Es ist jedoch bemerkenswert, dass Leibniz diesen traditionellen Vorschlag maßgeblich transformiert: So meinte Thomas ja, Ereignisse seien genau dann kontingent, wenn sie aus Zufall geschehen – und das heißt: wenn sie aus der Interferenz zweier Prozesse resultieren, die jeweils auf etwas anderes abgezielt haben. Ein kontingentes Ereignis ist also insofern zufällig, als es keine Finalursache eines bestimmten Prozesses ist, sondern daraus resultiert, dass sich zwei Tätigkeiten in der Erlangung ihres Ziels gegenseitig behindern. Damit hängt für Thomas die Rede von Kontingenz begrifflich von der Annahme von Finalursachen ab: Hätten Substanzen in ihren Tätigkeiten keine Finalursachen, bei deren Verfolgung sie sich von Zeit zu Zeit in die Quere kommen, könnte man gar nicht sagen, was es heißt, kontingent zu sein. Obwohl sich Leibniz nun grundsätzlich Thomas’ These anschließt, dass Kontingenz mit Bezug auf Finalursachen zu explizieren sei, verkehrt er Thomas’ Vorschlag geradezu in sein Gegenteil: Ein Ereignis ist für Leibniz (anders als für Thomas) nicht deshalb kontingent, weil es von einem Ziel abweichen würde, sondern gerade umgekehrt, weil es einem Ziel oder einer Finalursache unterliegt, insofern es so als Folge einer freien Wahl verstanden werden kann. Das provoziert natürlich die Frage, warum Leibniz’ die traditionelle Explikation der Kontingenz gleichsam unter der Hand in ihr Gegenteil verkehrt. Der Grund dafür mag darin liegen, dass Thomas’ Konzeption der Kontingenz den entscheidenden Mangel aufweist, dass sie die Kontingenz zu einem gleichsam lokalen Phänomen erklärt. Will heißen: Wenn
____________ 149 „qui ponebant omnia fieri ex necessitate materiae, causam finalem a rebus penitus subtrahentes.“ (ScG III §2 ¶10)
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ein einsamer Cowboy in der Wüste zufällig vom Blitz getroffen wird, so mag dies aus den jeweils lokalen Perspektiven der einzelnen daran beteiligten Substanzen zufällig sein; denn weder der Cowboy intendierte, vom Blitz getroffen zu werden, noch hat der Blitz das natürliche Ziel, einsame Reiter zu traktieren. Das aber heißt nicht, dass es global gesehen nicht doch notwendig war, dass der Cowboy vom Blitz getroffen werden musste, als er genau zu dem Zeitpunkt jene Stelle durchschritt, an der sich aufgrund von Luftmassen-Verschiebungen ein Ionenkanal gebildet hatte. Da auch interferierende Ereignisse durch Ursachen determiniert sind, scheinen auch (lokal) kontingente Ereignisse in Tat und Wahrheit notwendig zu sein. Ja, selbst Thomas führte im Rahmen seiner Vorsehungslehre aus, dass Dinge, die uns kontingent erscheinen, von höherer Warte aus besehen, durchaus einem Plan unterlägen, wie er dies an einem Beispiel illustriert: „So wurde z.B. auch das Treffen zweier Sklaven, obwohl es ihnen zufällig erscheint, vollständig von ihrem Meister vorhergesehen, der sie absichtlich losgeschickt hat, damit sie sich an einem Ort treffen, ohne dass der eine von dem anderen weiß.“150 Es ist somit nicht erstaunlich, dass Spinoza aus dem Umstand, dass auch Ereignisse, die auf interferierende Prozesse zurückgehen, jeweils determinierende Ursachen haben, die nezessitaristische Konsequenz gezogen hat, dass letztlich alles notwendig ist, und wir Ereignisse nur deshalb zufällig oder möglich nennen würden, „weil die Ordnung von Ursachen uns verborgen ist“ (E 1p33s1, 71). Anders Leibniz. Er deutet Thomas’ Vorschlag, die Kontingenz in Begriffen der Finalursache und hypothetischen Notwendigkeit zu explizieren, derart um, dass er damit die nezessitaristische Gefahr von dessen Kontingenzkonzeption elegant umgehen kann: Wie Thomas im Rahmen seiner Vorsehungslehre gesteht auch Leibniz zu, dass es dem Plan Gottes entsprach, als unser armer Cowboy vom Blitz getroffen wurde. Anders als Thomas aber, der damit die Kontingenz dieses Ereignisses als bloß scheinbare entlarvt zu haben meint, ist Leibniz der Ansicht, dass genau dieser Umstand die Kontingenz dieses Ereignisses begründet. Denn das Auftreten dieses Ereignisses lässt sich letztlich anhand ihrer jeweiligen Ursachen auf den Anfangszustand des Universums und die geltenden Naturgesetze zurückführen: So wie die Dinge lagen, war es schon am ersten Tag der Schöpfung gewiss, dass in jener Stunde unser einsamer Cowboy auf dem Weg zum Saloon vom Blitz getroffen werden würde. Dass im Universum jedoch genau die Anfangsbedingungen vorherrschten und genau jene Naturgesetze gelten, die es (hypothetisch)
____________ 150 „Sicut et concursus duorum servorum, licet sit casualis quantum ad eos, est tamen provisus a domino, qui eos scienter sic ad unum locum mittit, ut unus de alio nesciat.“ (STh. I q. 22 art. 2 ad. 1)
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notwendig machen, dass der Cowboy vom Blitz getroffen wird, ist Gottes freier Wahl der besten aller möglichen Welten zu verdanken. Und genau deshalb ist dieses Ereignis kontingent. Gott hätte sich in seiner Freiheit auch für eine andere Welt entscheiden können, in der unser Cowboy nicht vom Blitz getroffen worden wäre. Er wurde durch die Erkenntnis der besten aller möglichen Welten nicht zu seiner Entscheidung genötigt. Sie hat ihn darin nur bestimmt. Deshalb ist das Unglück unseres Cowboys nur hypothetisch notwendig und damit kontingent. Doch Leibniz’ Rehabilitierung von Finalursachen verspricht ihm nicht nur einen Ausweg aus der Nezessitzarismus-Falle des Rationalismus. Die Zulassung von Finalursachen bietet sich auch zur Lösung des Problems selbst-erklärender Erklärungen an, das sich einer Vertreterin des PZG wie folgt stellt: Dem PZG zufolge muss es für alles einen Grund oder eine Erklärung geben, warum es der Fall ist. Es darf folglich keine nackte Tatsache, kein factum brutum geben, d.h. etwas, das einfach der Fall, und das zu erklären nicht weiter möglich ist. Dies gilt auch für die Gründe oder Erklärungen selbst, in denen die Dinge oder Tatsachen begründet sind. Für diese verlangt das Prinzip des zureichenden Grundes wieder nach einem Grund, der seinerseits wieder eines Grundes bedarf, usw. Eine Rationalistin droht so schnell in einen unendlichen Regress zu geraten. Dies führte aber dazu, dass ihre geforderten Erklärungen nie zu einem Abschluss kämen, weshalb die Dinge nie vollständig erklärt werden könnten und letzten Endes unerklärt blieben. Um diese für sie fatale Konsequenz auszuschließen, muss die Rationalistin behaupten, dass es gar nicht erst zu diesem Regress kommt, und dass die Reihe der geforderten Erklärungen oder Gründe irgendwann einmal auf natürliche Weise abbricht. Aber auch diese letzten Gründe oder Erklärungen, auf denen alle anderen Fakten oder Dinge beruhen, müssen dem Prinzip des zureichenden Grundes genügen und dürfen daher nicht grundlos gelten. Auch die letzten Tatsachen dürfen keine nackten Tatsachen sein. Die letzten Gründe einer Rationalistin müssen also so beschaffen sein, dass sie einerseits auf keinen weiteren Grund mehr zurückgeführt werden können, andererseits aber selbst nicht unbegründet sein dürfen. Die einzige Möglichkeit, diesen beiden Bedingungen zugleich gerecht zu werden, besteht darin, dass diese letzten Gründe oder Erklärungen selbst-erklärend sind. Als solche bedürfen sie zum einen keines weiteren Grundes außer ihnen selbst. Das garantiert, dass sie tatsächlich letzte Gründe sind. Zum anderen handelt es sich bei selbst-erklärenden Fakten auch nicht um nackte Tatsachen, da diese Fakten ja nicht einfach unbegründet, sondern vielmehr selbst-begründend sind, und so dem Prinzip des zureichenden Grundes genügen. Was könnten solche selbst-erklärende Gründe konkret sein? Spinoza, der nur Kausalerklärungen für akzeptabel hielt, meinte, der letzte Grund
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aller Dinge sei eine causa sui. Etwas, das Ursache seiner selbst ist. Was eine causa sui aber tatsächlich sein soll oder ob es sich dabei überhaupt um einen sinnvollen Begriff handelt, bleibt fraglich. Schließlich scheint es für unseren Kausalitätsbegriff zentral, dass die Relation der Verursachung irreflexiv und asymmetrisch ist.151 Lässt man hingegen wie Leibniz auch Finalursachen und damit teleologische Erklärungen zu, erscheint die Lage aus systematischen Gesichtspunkten weniger aussichtslos. Denn während die Rede von selbst-verursachenden Ursachen höchst dubios ist, erscheint die Rede von Selbstzwecken unproblematisch und natürlich. Es gibt Dinge, die wir um ihrer selbst willen tun. Dies sind die Dinge, die wir für intrinsisch gut erachten.152 In diesem Sinne handelt es sich auch bei Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten, die den letzten Grund für alle kontingenten Tatsachen liefert, um ein selbst-erklärendes Faktum: Wer fragt, warum Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hat, dem kann man nur noch auseinandersetzen, dass Gott per definitionem ein allwissendes, allgütiges und allmächtiges Wesen ist, und damit das Beste hervorbringt. Wer nun weiter danach fragt, warum Gott gerade das beste, und nicht das ebenso mögliche zweitbeste Universum geschaffen hat, dem lässt sich nur noch sagen, dass das beste Universum eben besser sei als das zweitbeste. Es gibt keinen besseren Grund dafür, die beste Welt zu schaffen, als der, dass die beste aller möglichen Welten eben die beste ist. Die letzten Finalursachen sind deshalb selbst-erklärend, weil sie um ihrer selbst willen erstrebt werden. Leibniz’ Rehabilitation der Finalursachen steht somit nicht nur im Dienste der mechanistischen Physik. Nicht zuletzt dient sie auch seinem Rationalismus.
Schlussbemerkungen Wie ironisch es auch anmuten mag: Leibniz’ Rehabilitation von Finalursachen steht im Dienste der mechanistischen Physik, also im Dienste jenes Projekts, mit dem gemeinhin die Zurückweisung der Teleologie verbunden wird. Die Mängel von Descartes’ Physikkonzeption sind nach Leibniz nämlich nur zu beheben, wenn man auf Elemente der traditionellen aristotelischen Philosophie zurückgreift. Fundiert man die Welt der mathematisch beschreibbaren cartesischen Physik nicht in einer metaphysischen Welt hylemorphistisch konzipierter Substanzen, so argumentierte Leibniz, könne weder der Einheit noch der Bewegung von Körpern Rechnung
____________ 151 Vgl. dazu Keil 2000, 438-442. 152 Der locus classicus, in dem die Existenz solcher höchster Güter nachgewiesen wird, ist Aristoteles’ Nikomachische Ethik, 1094a1-23.
Schlussbemerkungen
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getragen werden. Damit gelingt Leibniz der konziliatorische Spagat zwischen der mechanistischen, mit Hilfe mathematischer Methoden betriebenen Physik einerseits, und der aristotelischen Schulmetaphysik andererseits. Aufgrund seiner Unterscheidung zwischen einem physischen und metaphysischen Bereich der Realität kann er beiden Theorien zugleich gerecht werden. All das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leibniz’ Rehabilitation des Aristotelismus unter einer cartesianschen Perspektive erfolgt. So konzipiert Leibniz seine Substanzen oder zumindest substantiellen Formen in Analogie zu cartesischen Seelen, die zum einen mit ihren Perzeptionen über repräsentierende Fähigkeiten oder Zustände verfügen, und zum andern aktiv sind und ihre Zustände permanent auf spontane oder immanente Weise hervorbringen.153 Vor diesem Hintergrund eines cartesianisch interpretierten Aristotelismus ist auch Leibniz’ Konzeption von Finalursachen zu verstehen. Wie in der traditionellen aristotelischen Naturphilosophie stehen seine Finalursachen in engem Zusammenhang mit einem akteurs- oder substanzkausalen Verständnis der Verursachung: Für Leibniz sind Finalursachen genau wie für Thomas jene Wirkungen, auf die Substanzen vermöge ihrer Dispositionen abzielen und in Bezug auf die ihr aktives Tun erklärt werden kann. Wie die meisten hier untersuchten Autoren akzeptiert auch Leibniz die cognitio-Bedingung, gemäß der etwas nur dann um eines Zieles willen tätig sein kann, wenn es dieses Ziel auch erkennt. Interessant ist jedoch, dass Leibniz dieser Bedingung auf spezifisch cartesianische Weise nachkommt: Anders als Suárez und Descartes, die es aufgrund dieser Bedingung ablehnten, die Tätigkeiten nichtrationaler Substanzen mit Rekurs auf Finalursachen zu erklären, ist Leibniz bereit, den Preis für die durchgängige finalursächliche Erklärbarkeit von Phänomenen zu bezahlen, und gesteht kurzerhand zu, dass alle Substanzen über Perzeptionen verfügen, mit Hilfe derer sie ihre Ziele repräsentieren können. Leibniz deutet so kurzerhand die traditionelle cognitioBedingung als repraesentatio-Bedingung um und garantiert damit die teleologische Erklärbarkeit substantieller Tätigkeiten: Substanzen legen deshalb ein zielgerichtetes und damit teleologisch erklärbares Verhalten an den Tag, weil sie mittels ihrer Perzeptionen die Wirkungen, die sie hervorzubringen streben, repräsentieren.154
____________ 153 Der große Unterschied zwischen Leibniz’ Monaden und Descartes’ Seelen besteht, wie oben gesehen, darin, dass sich Leibniz’sche Monaden nicht ständig all ihrer Akte bewusst sein müssen. Vgl. dazu etwa Monadologie §14 und Anm. 54. 154 Damit lässt sich der Interpretationsstreit zwischen Carriero 2008, 128f., und Rozemond 2009, 281, darüber, ob Leibniz’ Substanzen ihre Ziele erkennen müs-
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Doch nicht nur in der Kausalitätstheorie orientiert sich Leibniz am klassisch aristotelischen Modell. In seiner Explikation der Kontingenz schließt er sich ebenfalls der aristotelischen Tradition an und versucht, diese in Begriffen der Finalursache und der damit korrelierten hypothetischen Notwendigkeit zu erläutern. Wie im Fall der aristotelischen Substanzkausalität erfolgt aber auch diese Adaption keineswegs transformationslos. Anders als Thomas, der Kontingenz in der Abweichung von Finalursachen charakterisiert – und sie so zu einem epistemischen Phänomen verkommen zu lassen droht (weil es immer möglich scheint, dass ein scheinbar nicht-intendiertes und damit zufälliges Ereignis einem höheren Ziel folgt), bestimmt Leibniz die Kontingenz eines Sachverhalts gerade darin, dass sein Bestehen auf eine Finalursache zurückgeht und damit einer hypothetischen Notwendigkeit unterliegt. Aufgrund dieses bemerkenswerten Bemühens, sich in metaphysischen Fragen der aristotelischen Tradition anzuschließen, ist es nicht verwunderlich, dass sich Leibniz’ Teleologieverständnis weitgehend mit jenem von Thomas deckt: Auch Leibniz vertritt eine intentionalistisch ätiologische Teleologiekonzeption. Intentionalistisch ist sie, weil alle teleologisch beschreibbaren Prozesse auf Tätigkeiten von Substanzen beruhen, die auf repräsentationale oder intentionale, perzeptuelle Zustände dieser Substanzen zurückgehen. Somit erweist sich jede Form der Teleologie als eine Art Handlungsteleologie. Ätiologisch ist seine Teleologiekonzeption, weil Finalursachen Leibniz’ Ansicht nach erklären, warum etwas der Fall ist oder existiert, und nicht vielmehr nicht. Bemerkenswerterweise bemüht sich Leibniz jedoch – wie Suárez auch – um eine nicht-kausale Form einer ätiologischen Teleologiekonzeption. Finalursachen sind zwar dafür verantwortlich, warum eine Substanz dies hervorbringt, und nicht vielmehr jenes, aber nicht in einem wirkkausalen Sinne. Entsprechend ist ihr Einfluss auch nicht wirkkausaler, sondern motivationaler oder eben finaler Art: Sie disponieren oder veranlassen Substanzen zu einem gewissen Tun, und verursachen nichts. Damit gelingt es Leibniz, Finalursachen weiterhin als irreduzible Ursachen sui generis behaupten zu können. In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich Leibniz’ Naturteleologieverständnis aber von jenem des Thomas’: Dieser konnte natürliche Zwecke zwar als intrinsische begreifen (weil sie den natürlichen Dingen selbst zugute kommen), aber nicht als immanente Zwecke, weil er ihnen die Fähigkeit der Erkenntnis dieser Zwecke nicht zusprechen wollte. Im Gegensatz dazu gesteht Leibniz allen Substanzen repräsentationale Fähigkeiten zu, weshalb alle Substanzen eine Form immanenter Teleologie an
____________ sen, als Scheingefecht zurückweisen: Weder noch – Substanzen müssen ihre Ziele einfach perzipieren bzw. repräsentieren können.
Schlussbemerkungen
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den Tag legen. Doch dabei verwirklichen die Substanzen weniger ihre eigenen Ziele, die gut für sie selbst wären. Vielmehr realisieren sie in ihrem Zusammenspiel und ganz ungeachtet persönlicher oder eigner Verluste die beste aller möglichen Welten. Sie unterliegen so in gewisser Weise einer extrinsischen Teleologie.155 Dies wiederum nutzt Leibniz für heuristische Zwecke. Wenn nämlich davon auszugehen ist, dass das ganze Weltgefüge eine Realisierung der besten aller möglichen Welten ist, lassen sich Naturgesetze – wie etwa das Snell’sche Gesetz der Optik – aufgrund extremaler Optimierungserwägungen entdecken. Darüber hinaus liefern solche Überlegungen Gründe für Entdeckungen, die wir andernfalls einfach konstatieren müssten, ohne sie weiter erklären zu können. Damit dient die Rehabilitation von Finalursachen Leibniz nicht zuletzt auch seinem Rationalismus.
____________ 155 Dieser Punkt ist zugestandenermaßen nicht unproblematisch: Denn natürlich sind die einzelnen Substanzen so geschaffen, dass sie aufgrund ihrer Natur die beste aller möglichen Welten realisieren – und in diesem Sinne realisieren sie auch, was ihrer Natur nach gut für sie ist. Trotzdem bleibt ihre Natur eine extrinsisch funktionale: Wie Artefakte werden natürliche Substanzen zur Realisierung eines bestimmten, ihnen äußerlichen Zweck geschaffen.
Die Transformation naturteleologischer Erklärungen „Die Synthese von aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken bei Thomas kennzeichnet den Höhepunkt des teleologischen Denkens“, schreiben Robert Spaemann und Reinhard Löw.1 Auf der Grundlage der hier angestellten Untersuchungen müsste man wohl eher sagen: Die Synthese von aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken war der Anfang einer bis heute andauernden philosophischen Verlegenheit im Umgang mit naturteleologischen Erklärungen. Wie sind solche Erklärungen genau zu analysieren, unter welchen Bedingungen sind sie zulässig, was erklären sie überhaupt und lassen sie sich ohne religiöse Verpflichtungen anführen? In den vergangenen Kapiteln habe ich die Antworten zu diesen Fragen von Thomas, Suárez, Descartes, Spinoza und Leibniz rekonstruiert. Die Ergebnisse lassen sich in den Schlussbemerkungen der jeweiligen Kapitel nachlesen, und ich möchte sie hier nicht noch einmal wiederholen.2 Stattdessen gilt es die Frage anzugehen, ob sich diese verschiedenen Positionen bezüglich des Verständnisses teleologischer Erklärungen in eine kohärente Geschichte eingliedern lassen. Gibt es allgemeine Faktoren, anhand derer verständlich wird, warum sich die hier untersuchten Autoren für ihr jeweiliges Verständnis teleologischer Sätze entschieden haben? Wie ist die Transformation naturteleologischer Erklärungen in der frühen Neuzeit zu verstehen? Gemäß dem in der Einleitung vorgestellten philosophie-historischen Gemeinplatz hängt diese Entwicklung aufs Engste mit der Zurückweisung des Hylemorphismus zusammen. Mit dem Einzug des Mechanismus im 17. Jh. seien teleologische Beschreibungen und Erklärungen der Natur überflüssig geworden und entsprechend aus der Philosophie eliminiert worden. Diese Geschichte hat bereits Margaret Osler korrigiert. Wie sie schreibt, hätten die frühneuzeitlichen Philosophen teleologische Erklärungen im Zuge der Verabschiedung des Hylemorphismus nicht einfach eliminiert, sondern vielmehr transformiert:
____________ 1 2
Spaemann & Löw 1985, 97. Der besseren Übersicht wegen findet sich im Anhang der in der Einleitung entwickelte Fragenkatalog zur Charakterisierung Teleologiepositionen, in den die untersuchten Autoren entsprechend ihrer Konzeptionen eingeordnet sind.
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Schluss
Although most seventeenth-century mechanical philosophers rejected final causes – in the sense of the actualization of forms – they accepted an idea of finality as imposed on nature from without. What is at stake here is not the rejection of final causes per se, but their reinterpretation within a new concept of nature. With the mechanical reinterpretation of final causes, the idea of individual natures that possess immanent finality was replaced with the idea of nature as a whole which is a product of the divine artificer. Nature became a work of art. (Osler 1996, 389f.)
Nachdem die mechanistischen Philosophen des 17. Jh.s aufgehört hätten, Bewegung als eine Aktualisierung von Formen zu verstehen, hätten sie damit zugleich die Ziele und Zwecke aus den Gegenständen in den Geist Gottes verbannt und so die immanente zu einer derivativen Naturteleologie transformiert. Doch diese Transformation naturteleologischer Erklärungen in der frühen Neuzeit dürfte nicht aus heiterem Himmel gekommen sein. Sie ist schon in Thomas von Aquins cognitio-Bedingung angelegt. Aufgrund der Forderung, dass es nur dort Finalursachen geben kann, wo es eine Erkenntnis dieser Ziele gibt, begründete Thomas die Teleologie natürlicher Gegenstände nämlich nicht länger allein in deren Formen, sondern führte sie auf Gottes Erkenntnis zurück. Es erstaunt deshalb nicht, dass Spaemann und Löw Thomas’ große Synthese von Christentum und Aristotelismus nicht bloß als Höhepunkt, sondern zugleich als Wendepunkt des teleologischen Denkens charakterisiert haben: Mit der These, dass die Wirksamkeit eines telos Bewusstsein voraussetze, in welchem dieses telos antizipiert wird, hat die auf Thomas folgende philosophische Entwicklung das teleologische Denken aus der Natur eliminiert. Man könnte deshalb sagen, dass in dieser These des Thomas der Grundstein zur Aushöhlung der Teleologie gelegt worden sei; die Folgenden mussten nur noch seinen Gedanken weiterdenken. Doch was bedeutet hier „weiterdenken“? Einen Ansatz weiterdenken heißt immer auch, ihn verändern. Die These des Thomas wurde im Spätmittelalter dahingehend „weitergedacht“, dass die Welt außerhalb des göttlichen Bewusstseins eine große Maschine ist. Dabei wurde indes ein fundamentales Theorieelement des Gesamtansatzes einfach preisgegeben: der Gedanke von der konstitutionellen Bewegtheit der substanziellen Formen. Für Thomas blieb die Teleologie in der Natur immanent. Die Ziele und Zwecke der natürlichen Gegenstände waren ihre eigenen; nur Gott hat sie ihnen eingepflanzt. (Spaemann und Löw 1985, 93)
Spaemann und Löw zufolge hat Thomas mit seiner Begründung der natürlichen Teleologie in Gott zwar einen gewissen Wendepunkt im teleologischen Denken eingeleitet, der letztlich zur Aushöhlung der Teleologie geführt habe. Aber grundsätzlich sei bei ihm noch alles in bester Ordnung. Insofern er nämlich an „der konstitutionellen Bewegtheit der substanziellen Formen“ festhielt, hätte er auch weiter der immanenten Naturteleologie Rechnung getragen. Auch wenn Gott die natürlichen Gegenstände mit
Die Transformation naturteleologischer Erklärungen
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Zielen ausgestattet habe, so doch mit ihren eigenen Zielen. Aus diesem Grund blieb für Thomas „die Teleologie in der Natur immanent.“ Die Ausführungen von Osler und Spaemann und Löw lassen sich so zu einem so einfachen wie prima facie einleuchtenden Bild der Geschichte der Transformation naturteleologischer Erklärungen zusammenfügen. Diesem Bild entsprechend vollzog sich die Transformation der Naturteleologie im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit in zwei Schritten: (i)
Thomas von Aquin begründet mit seiner Synthese von Aristotelismus und Christentum die Teleologie der Natur in Gott. Damit bettet er die im Hylemorphismus verankerte immanente Naturteleologie, an der er selbst in konsistenter Weise festhält, in einen übergeordneten theistischen Rahmen ein.
(ii)
In der frühen Neuzeit, in der man den Hylemorphismus zugunsten einer mechanistischen Naturkonzeption aufgibt, bleibt nur noch der von Thomas eingeführte theistische Rahmen übrig. Entsprechend findet eine Transformation der Naturteleologie statt, bei der die immanente Naturteleologie zugunsten einer derivativen Teleologie aufgegeben wird: Zwecke kommen natürlichen Gegenständen nicht mehr an sich, sondern nur noch dank Gottes zweckmäßiger Einrichtung zu.
Leider erscheinen mir vor dem Hintergrund der hier entwickelten Fallstudien zum Teleologieverständnis von Thomas, Suárez, Descartes, Spinoza und Leibniz beide Pfeiler (i) und (ii) dieser zunächst so überzeugend anmutenden Geschichte nicht haltbar. Wenn Spaemann und Löw für die These (i) argumentieren, scheinen sie einer begrifflichen Verwirrung zu unterliegen, die unter Philosophen, die sich mit teleologischen Erklärungen befassen, leider weit verbreitet ist:3 In der Terminologie meiner Einführung gesprochen, vermengen sie die intrinsische mit der immanenten Naturteleologie. So scheint es eine Sache zu behaupten, die Zwecke natürlicher Dinge kämen ihnen selbst zugute, eine andere, dass die Zwecke allein in ihnen begründet sind. Denn während die erste Behauptung die Frage beantwortet, wofür die Zwecke von Dingen Zwecke sind, antwortet die zweite Behauptung auf die Frage, warum die Dinge überhaupt Zwecke haben. Deshalb folgt aus dem Umstand, dass ein Ding Zwecke anstrebt, die ihm selbst zugute kommen, (zumindest nicht ohne Weiteres) dass dieser Zweck in dem Ding selbst
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So spricht selbst M. Osler, die meist mit der Frage nach der immanenten Naturteleologie befasst ist, unter der Hand immer wieder über die intrinsische Teleologie. Ähnliches ist bei P. McLaughlin 2001 und bei A. Simons 2001, 66f., zu beobachten.
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begründet sein muss. Ein Beispiel dafür ist das Virenprogramm meines Computers: Dieses dient zwar in erster Linie dem Computer und ist in diesem Sinne für den Computer intrinsisch zweckmäßig; aber dieses Programm ist dem Computer nicht immanent, sondern kommt ihm nur in derivativer Weise zu, weil es in der Absicht, den Computer vor Viren zu schützen, von Software-Entwicklern hergestellt und von mir installiert wurde. Entsprechend scheint auch Thomas nicht unbedingt an einer immanenten Naturteleologie festhalten zu müssen, wenn er davon ausgeht, dass Dinge eigene Zwecke haben. Ganz im Gegenteil: Thomas betont ja explizit, dass Gott die Dinge mit ihren Zwecken ausgestattet habe, und legt sich damit auf eine derivative, obschon intrinsische, Naturteleologie fest. Anders als Spaemann und Löw behaupten, hat Thomas mit der Postulation seiner cognitio-Bedingung und seiner theistischen Begründung des teleologischen Strebens natürlicher Substanzen die immanente Teleologie sehr wohl aus der Natur eliminiert – ohne dass seine Theorie dafür von anderen hätte „weitergedacht“ werden müssen. Daran ändert sich auch nichts, wenn die von Gott verliehenen Zwecke für die natürlichen Dingen selbst zweckmäßig sind. Auch These (ii) ist nicht haltbar. Schließlich – und vielleicht überraschenderweise – hat keiner der hier behandelten mechanistischen Philosophen die immanente Naturteleologie schlechthin zurückgewiesen:4 So geht selbst Descartes davon aus, dass zumindest der menschliche Körper über immanente Funktionen verfüge, und Spinoza spricht im Rahmen seiner conatus-Doktrin allen Einzeldingen aufgrund ihrer Essenz ein teleologisches Streben nach Selbsterhaltung zu. Umgekehrt lernten wir mit Suárez einen überzeugten Anhänger der hylemorphistischen Naturphilosophie kennen, der es ablehnte, natürlichen Substanzen mit Bezug auf Finalursachen zu erklären, und argumentierte, natürlichen Dinge könnten nur insofern als einer Finalursache unterliegend beschrieben werden, als sie das Produkt eines selbst-reflexiven Schöpfungsakts seien, in dem sich Gott auf sich selbst bezieht und damit als Finalursache fungiert. Mit einem einfachen Verweis auf die so genannte wissenschaftliche Revolution, in der das hylemorphistische von einem mechanistischen Weltbild abgelöst wurde, ist für eine Erklärung der Transformation teleo-
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Fairerweise ist zu sagen, dass Osler 1996 und 2001 zum Beleg ihrer These hauptsächlich die empiristischen Autoren P. Gassendi und R. Boyle untersucht. Sie rechtfertigt ihre These also gerade auf der Grundlage von Autoren, die ich hier nicht untersucht habe. Dennoch könnte man bemängeln, dass sie ihre These mit der Behauptung, sie betreffe „most seventeenth-century mechanical philosophers“, zu allgemein formuliert. Ich werde weiter unten eine mögliche Erklärung dafür vorschlagen, warum die von mir untersuchten rationalistischen Philosophen weiterhin an einer Form immanenter Naturteleologie festhielten.
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logischer Erklärungen also noch nicht viel gewonnen. Die Unterscheidung: Hylemorphismus Ja/Nein erweist sich schlicht als ein zu grobschlächtiges Instrument, um den subtilen begrifflichen Nuancen Rechnung zu tragen, durch die sich die hier rekonstruierten Teleologiekonzeptionellen Positionen voneinander unterscheiden. Um adäquater beschreiben zu können, was die hier besprochenen Autoren jeweils zu ihrer besonderen Auffassung der Teleologie bewog, lohnt es sich in einem ersten Schritt, noch einmal zu Thomas’ großer Synthese von Christentum und Aristotelismus zurückzukehren und sich zu fragen, welche Probleme sein Versuch einer derivativ intrinsischen Naturteleologie mit sich brachte. Ausgehend davon lässt sich ein genaueres Bild der Schwierigkeiten gewinnen, mit denen die Autoren nach Thomas zu kämpfen hatten, wenn sie der immanenten Naturteleologie gerecht werden wollten. Zudem werden dadurch die Optionen deutlicher, die ihnen bei dieser Aufgabe zur Verfügung standen. Und nicht zuletzt lassen sich bei dieser Gelegenheit die in den vergangenen Kapiteln erarbeiteten Ergebnisse in komprimierter Form vor Augen führen. Vor dem Hintergrund dieses differenzierteren Überblicks über die begriffliche Landschaft, in der sich den Autoren der frühen Neuzeit das Problem natürlicher Teleologie stellte, kann dann in einem zweiten Schritt geklärt werden, welche Rolle die Annahme oder Ablehnung des Hylemorphismus in dieser Geschichte spielte. Zunächst zum ersten Schritt. Wie gesehen, vollzog Thomas seine Synthese von aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken auf der Basis der cognitio-Bedingung. Diese erforderte es, dass Gott die arationalen Substanzen, die ihre Zeile selbst nicht erkennen können, selbst auf diese Ziele hin ausrichtet. Damit gelang er zu einer derivativ intrinsischen Naturteleologie: Natürliche Substanzen haben zwar eigene Zwecke, die sie verfolgen, aber diese Zwecke wurden ihnen von Gott eingepflanzt. Nun kann man aber berechtigten Zweifel daran hegen, ob diese Position überhaupt sinnvoll ist. Wenn Gott die Dinge mit ihren eigenen Zwecken ausstattet, stellt sich nämlich die Frage, woran es liegt, dass diese Zwecke ihre eigenen Zwecke sind. Die nahe liegenden Antworten, es handle sich um Zwecke, die dem Erhalt dieser Dinge oder der Realisierung ihrer Fähigkeiten dienen, verschieben die Frage nur. Nun möchte man wissen, warum der Erhalt dieser Dinge oder die Realisierung ihrer Fähigkeiten gut sei. Bei jeder weiteren Antwort wird sich diese Frage erneut stellen, sofern sie nicht in etwas mündet, das wir für an sich oder immanent zweckmäßig halten. Damit droht ein Dilemma: Entweder die Dinge verfügen doch über immanente Zwecke oder aber ihre zunächst intrinsisch anmutenden Zwecke erweisen sich letztlich trotzdem als extrinsisch, insofern sie den Zwecken anderer dienen. Das zeigt sich auch am Virenprogramm meines Computers, das ich als Beispiel für eine Form
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derivativ intrinsischer Zweckmäßigkeit angeführt habe. Das Virenprogramm soll deshalb intrinsisch zweckmäßig sein, weil es zu dem Erhalt oder der Funktionstüchtigkeit des Computers selbst beiträgt. Doch warum sollte dieser Beitrag zweckmäßig sein? Warum ist es gut, wenn mein Computer erhalten oder funktionstüchtig bleibt? Entweder – aber das scheint unplausibel – weil mein Computer an sich funktionstüchtig sein soll oder weil ich möchte, dass er funktioniert. Im ersten Fall wäre mein Computer eine immanent funktionale Entität im zweiten und plausibleren Fall ist die Zweckmäßigkeit des Virenprogramms für den Computer letztlich doch nur der extrinsisch zu begründen. Insofern also unklar ist, wie der eigene Zweck eines Dinges zu bestimmen ist, wenn nicht darauf, dass er diesem Ding wesentlich oder immanent zukommt, erweist sich die Annahme einer derivativ intrinsischen Teleologie als mindestens unstabil.5 Diese Schwierigkeit stellt sich auch Thomas. Insbesondere als Aristoteliker, der – wie Spaemann und Löw sagen – am Gedanken „von der konstitutionellen Bewegtheit der substanziellen Formen“ festhalten will. Denn diesem Gedanken zufolge streben die natürlichen Substanzen aufgrund ihrer Form gewisse Zwecke an, so dass sie ihrer Natur oder Essenz nach gewisse Zwecke aufweisen. Wenn Gott also die natürlichen Substanzen auf ihre eigenen Zwecke ausrichten soll, kann das nur heißen, der sie auf die Zwecke festlegt, die ihnen ihrer Natur nach zukommen. Doch das ergibt gerade die Absurdität, auf die ich bereits in Kapitel I aufmerksam gemacht habe: Wenn diese Zwecke den Dingen ihrer Natur nach zukommen, ist die Rede davon, dass Gott sie darauf festlegt, blanker Unsinn. Denn diese Dinge wären nicht die Dinge, die sie sind, wenn sie nicht auf die Zwecke ausgerichtet wären, auf die sie ausgerichtet sind. Deshalb kann ein Gott, der an die durch die Essenzen der Dinge festgelegten notwendigen Wahrheiten gebunden ist, genauso wenig für das essentielle Streben des Feuers nach oben verantwortlich sein, wie er dafür verantwortlich sein kann, dass die Zahl 2 gerade ist. Gott kann sich vielleicht entscheiden, ob er statt Feuer ein anderes Element erschaffen möchte. Aber wenn Feuer seiner Natur gemäß nach oben strebt, kann Gott nicht einmal wollen, dass Feuer etwas anderes oder gar nichts anstrebt. Vor dem Hintergrund des aristotelischen Gedankens, dass die natürlichen Dinge
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Das erklärt vielleicht auch, warum die Unterscheidung zwischen der intrinsischen bzw. extrinsischen Teleologie einerseits und der immanenten bzw. derivativen Teleologie andererseits häufig nicht scharf genug getroffen wird. Trotzdem scheint mir die Unterscheidung wichtig, weil beide Formen der Teleologie auf verschiedene Fragen antworten und weil in anderen Kombinationen Kreuzklassifikationen weniger problematisch erscheinen: So wären etwa echte altruistische Handlungen Beispiele für Formen immanent extrinsischer Zweckmäßigkeit.
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aufgrund ihrer substantiellen Form – und das heißt: aufgrund ihrer Essenz – gewisse Ziele anstreben, scheint Thomas’ These, dass Gott für deren teleologische Ausrichtung verantwortlich ist, schlicht widersprüchlich. Denn aufgrund eben dieser Formen verfügen diese Substanzen über ein immanent teleologisches Streben.6 Dieses Problem, mit dem sich Thomas konfrontiert sieht, lässt sich vielleicht transparenter als Konstellation von fünf miteinander inkompatiblen Thesen darstellen: (1) (2) (3) (4) (5)
Finalursächliche Teleologieanalyse: Die Teleologie von (natürlichen) Substanzen muss mit Hilfe von Finalursachen analysiert werden. Immanente Naturteleologie: Natürliche Substanzen legen ein immanentes teleologisches Streben an den Tag. cognitio-Bedingung: Ziele können nur dann zu Finalursachen werden, wenn sie erkannt werden. Non-Panpsychismus: Natürliche Substanzen können keine Ziele erkennen. Alethischer Intellektualismus: Gott kann die in den Essenzen der Dinge verankerten notwendigen Wahrheiten nicht wollen (und damit festlegen). Er kann sie lediglich erkennen.
Die Thesen (1) bis (5) können nicht alle zugleich wahr sein: Wenn natürliche Dinge ein zielgerichtetes Verhalten zeigen, das in ihnen selbst begründet ist (2), und dieses Verhalten in Begriffen von Finalursachen zu analysieren ist (1), dann muss es etwas geben, das diese Ziele erkannt und diese Substanzen aus dieser Erkenntnis auf diese Ziele festgelegt hat (3). Wenn der Panpsychismus falsch ist (4), dann können das die natürlichen Substanzen mangels Erkenntnisvermögen nicht selbst getan haben; und wenn Gott die Essenz eines Dinges nicht verändern kann (5), ist es auch Gott nicht möglich, diese teleologische Ausrichtung vorzunehmen. Allerdings vertritt Thomas die Thesen (1) bis (5) mit jeweils nachvollziehbaren Gründen: So ist das in These (1) ausgedrückte finalursächliche
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Spitzfindige wenden vielleicht ein, es gelte sorgfältig zwischen dem essentiellen Streben eines Dings nach einem Ziel und seinem Streben nach einem essentiellen Ziel zu unterscheiden. Dieser Unterscheidung folgend könnte man argumentieren, Thomas wolle (als guter Aristoteliker) nicht bestreiten, dass Dinge über essentielle Ziele verfügen, die selbst Gott nicht ändern kann. Vielmehr behaupte er, Gott würde das Streben dieser Substanzen auf ihre Ziele hin ausrichten. Leider missglückt dieser Vorschlag, weil Thomas – in Anlehnung an Aristoteles’ NE I.1. – das Ziel oder Gut eines Dings mit Bezug darauf definiert, was dieses Ding anstrebt. (vgl. STh. I q. 5 art. 1 corp.). Das macht es begrifflich unmöglich, dass X das Ziel Z essentiell zukommt, ohne dass X nach Z streben würde. Damit kollabiert die sorgfältig eingeführte Unterscheidung.
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Teleologieverständnis vor dem Hintergrund einer aristotelischen Ursachenkonzeption derart grundlegend, dass die Rede von einer „Analyse“ in (1) schon fast irreführend ist: Gemäß Aristoteles sind Zwecke oder Ziele, mit Bezug auf die wir Dinge erklären, allein dadurch, dass sie in Erklärungen auftreten, schon Ursachen.7 Streng genommen, werden mit Hilfe von Finalursachen also keine Erklärungen analysiert, sondern gegeben. Aber wie dem auch sei, fest steht: Für den Aristoteliker Thomas ist gewiss, dass überall, wo es Zweckerklärungen gibt, ipso facto auch Finalursachen im Spiel sind. Dass natürliche Substanzen aufgrund ihrer Essenzen in Prozesse eingehen oder Tätigkeiten vollziehen, die eine finale Struktur aufweisen, wie es die These (2) besagt, ist im Rahmen der aristotelischen Kausalitätstheorie ebenfalls unbestreitbar: Da das kausale Verhalten von Substanzen von deren in ihrer Form verankerten aktiven und passiven Dispositionen abhängt, und Dispositionen final charakterisierte Entitäten sind, die sich – wie man sagen könnte – auf dispositionale Weise auf ihre Manifestationen beziehen, sind alle Substanzen um gewisser Ziele willen tätig. Entsprechend verfügen natürliche Substanzen wie jede andere Substanz auch deshalb über ein teleologisches Streben, weil sie auf die Aktualisierung ihrer spezifischen Dispositionen abzielen. These (2) aufzugeben, hieße also die aristotelische Kausalitätstheorie und die eng damit verbundene Bewegungskonzeption preiszugeben. Die in der These (3) formulierte cognitio-Bedingung dient Thomas nicht nur dazu, die aristotelische Naturphilosophie mit der christlichen Vorsehungslehre zu versöhnen, in der Gott als gubernator mundi waltet. Sie ist auch einem zunehmend konkreteren Ursacheverständnisses geschuldet, nach dem Ursachen irgendeine Art von Einfluss oder Wirkung haben müssen, um sich als Ursachen zu qualifizieren und sich von bloßen Erklärungsprinzipien wie etwa der Privation zu unterscheiden. Es ist zudem zu beachten, dass es besonders vor dem Hintergrund eines konkreten Ursachenverständnisses, wie es in der These (3) zum Ausdruck kommt, sinnvoll erscheint, das Verhältnis zwischen Teleologie und Finalursachen als eines der Analyse zu verstehen, wie es These (1) behauptet. Damit man teleologische Erklärungen mit Hilfe von Finalursachen analysieren kann, muss man nämlich davon ausgehen, dass sich die Ziele, die man in diesen Erklärungen anführt, nicht schon dadurch, dass sie Teil dieser Erklärung sind, als Finalursachen auszeichnen. Denn in dem Fall wäre die Analyse
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Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass in der englischsprachigen Aristoteles-Forschung der Vorschlag aufgekommen ist, Aristoteles’ Rede von „aitíai“ nicht mit „causes“, sondern mit „becauses“ zu übersetzten. Siehe etwa Hocutt 1974.
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zirkulär. Entsprechend kann man erst dann davon reden, dass sich Erklärungen mit Bezug auf Ursachen analysieren lassen, wenn eine Ursache mehr als ein bloßer Erklärer ist, und sich ihren kausalen Status anderweitig, wie z.B. durch eine konkrete kausale Leistung, verdienen muss. Dass Thomas den Panpsychismus ablehnt, ist kaum verwunderlich – und spricht prima facie für ihn: Als Philosoph sollte man sich davor hüten, leichtsinnig und ohne triftige Gründe alltägliche Binsenwahrheiten aufzugeben. Schließlich korreliert die Bedeutung unserer meisten Begriffe mit ihrem gewöhnlichen Gebrauch, so dass man gut daran tut, sich so lange wie möglich an diesen Gebrauch zu halten. Obwohl Thomas den Panpsychismus in Anlehnung an unser vortheoretisches Verständnis des Lebendigen mit gutem Grund ablehnt, ist die in These (4) ausformulierte Behauptung streng genommen schwächer als die Ablehnung des Panpsychismus. In (4) wird nämlich nicht bestritten, dass alles beseelt oder lebendig sei. Vielmehr wird abgestritten, dass natürliche Substanzen über ein Erkenntnisvermögen und infolgedessen über eine Erkenntnis ihrer Ziele verfügten. Man könnte mit Bezug auf (4) daher vielleicht treffender von einer Ablehnung des Pan-Kognitivismus sprechen. Da der Ausdruck „Kognitivismus“ in der Philosophie aber schon anderweitig besetzt ist, verzichte ich darauf. Nun ist jedoch wichtig zu beachten, dass es Thomas auf der Grundlage von Thesen (3) und (4) insbesondere versagt ist, das Verhalten von Tieren unumwunden mit Rekurs auf Finalursachen zu erklären: Da Tiere erstens über keinen Intellekt verfügen, mit Hilfe dessen sie Ziele auch als Ziele erkennen könnten, und zweitens keinen Willen haben, der sie dazu befähigen würde, sich auf die Verfolgung eines bestimmten (zuvor erkannten) Ziels festzulegen, muss auch ihr teleologisches Verhalten letztlich mit Bezug auf Gott erklärt werden, der sie zu ihrem Vorteil mit den entsprechenden natürlichen Instinkten – wie z.B. dem estimativen Vermögen – ausgestattet hat.8 Auch Thomas’ These (5) leuchtet ein. Wären die in der Essenz der Dinge begründeten ewigen und notwendigen Wahrheiten von Gottes freiem Willen abhängig, wären sie gerade dadurch nicht mehr notwendig und ewig:9 Es wäre dann nämlich möglich, dass eine notwendige Wahrheit – wie etwa die, dass der Mensch ein rationales Lebewesen ist – auch nicht wahr wäre (nämlich in dem Fall, in dem sich Gott dagegen entschieden
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Thomas diskutiert dieses Problem anhand des Beispiels des Schafes, das sich vor dem Wolf fürchtet und vor ihm flüchtet, das auf Avicenna zurückgeht. Siehe für eine Diskussion dazu Perler 2010. Für eine übersichtliche Darstellung und eine Reihe von Belegen von Thomas’ Notwendigkeitsverständnis, das in den Essenzen der Dinge begründet liegt, siehe Knuuttila 1993, 129-134.
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hätte, dass es zur Essenz des Menschen gehört, rational zu sein). Und eine Wahrheit, von der es möglich ist, dass sie nicht wahr ist, ist keine notwendige Wahrheit. Wenn es also für Feuer essenziell ist, dass es brennt und nach oben strebt, und es also diese Ziele aufgrund seiner Natur verfolgt, so kann es nicht von Gott aus der Erkenntnis dieser Ziele darauf festgelegt worden sein: Schließlich könnte selbst der allmächtige Gott kein Feuer erschaffen wollen, das nicht brennt und nach oben strebt: „Denn dies fällt nicht unter Gottes Allmacht – nicht wegen eines Defekts der göttlichen Macht, sondern weil es nicht den Begriff einer realisierbaren und möglichen Sache haben kann.“10 Für jede einzelne der obigen fünf Thesen verfügt Thomas also über gute oder zumindest nachvollziehbare Gründe, die ihn in ihrer Annahme bestärken. Dennoch sind die Thesen (1) bis (5) inkompatibel: Sie können nicht alle zugleich wahr sein. Entsprechend muss eine kohärente Theorie teleologischer Erklärungen Einschnitte vornehmen und mindestens eine dieser fünf Thesen zurückweisen. Genau das haben die hier untersuchten Autoren getan. Francisco Suárez, so ist in Kapitel II deutlich geworden, geht mit seiner Influxus-Theorie der Kausalität von einem derart konkreten oder wirkkausalen Ursachenverständnis aus, dass er sich nicht davor scheut, seine dritte Sektion der Disputation 23 über die Finalursache mit der Frage zu betiteln „Welche Wirkungen hat die Finalursache?“.11 Es erstaunt damit kaum, dass sich Suárez der These (3) anschließt und mit Thomas davon ausgeht, dass ein Ziel nur dann zur Ursache werden könne, wenn es zuvor erkannt worden ist. Schließlich kann ein Ziel nur dann einen Einfluss ausüben, wenn es vor dem teleologisch zu erklärenden Ereignis vorliegt – und wenn nicht tatsächlich, so doch wenigstens in repräsentierter Form, wie es die cognitio-Bedingungung fordert. Allerdings bringt eben dieses konkrete Ursachenverständnis Suárez zu der Auffassung, dass es echte Finalursachen nur in den Entscheidungen endlicher, rationaler Akteure geben kann. Denn nur diese haben einen Intellekt, mit dem sie ihre Ziele erkennen können, und einen Willen, der sie dazu befähigt, sich in einem realen psychologischen Akt für eines dieser Ziele zu entscheiden. (Tiere, Pflanzen und Steine verfügen weder über Intellekt noch über einen Willen; und in Gott, der reiner Akt ist, gibt es keine psychologischen Aktivitäten, die auf einen finalursächlichen Einfluss zurückgehen könnten). Entsprechend kann ein Ziel nur rationale Geschöpfe auf eine Weise
____________ 10 „Hoc enim omnipotentiae non subditur, non propter defectum divinae potentiae; sed quia non potest habere rationem factibilis neque possibilis.“ (STh. I 25 q. 25 art. 3 corp.) 11 „Quos effectus habeat causa finalis“ (DM 23§3).
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beeinflussen, die es rechtfertigt, dieses Ziel auch als Finalursache zu bezeichnen. Wie vielleicht überraschen mag, eröffnet jedoch gerade das konkrete Ursachenverständnis Suárez eine Möglichkeit, um der immanenten Teleologie natürlicher Substanzen Rechnung zu tragen. Wie bereits in der Erläuterung der These (1) erwähnt, setzt die Rede davon, dass teleologische Erklärungen mittels Finalursachen analysiert werden können, voraus, dass Finalursachen etwas anderes sind als bloß teleologische Erklärer. Insofern nun Suárez Finalursachen seinem konkreten Ursachenverständnis zufolge durch ihren eigentümlichen (finalkausalen) Einfluss charakterisiert sieht, ist es ihm auch möglich, das Verhältnis zwischen teleologischer Rede und Finalursachen dezidiert als eines der Analyse zu verstehen.12 Und genau von diesem Verständnis macht Suárez regen Gebrauch, wenn er ausführt, dass die teleologische Rede über Gott und die natürlichen Dinge nicht als Ausdruck einer finalen Verursachung verstanden werden dürfe, und argumentiert, dass diese Rede zum einen auf die göttlichen Ideen oder Exemplarursachen zurückzuführen sei, von denen Gott in seiner Schöpfung ausgeht, und zum andern auf der reflexiven Struktur der aus Gottes freier Selbst-Liebe entspringenden Schöpfung beruhe. So lässt sich mit Bezug auf die reflexive Struktur der Schöpfung einerseits erläutern, warum es sinnvoll ist zu sagen, Gott vollziehe die Schöpfung um seiner selbst willen, wie man zweitens erklären kann, warum die Schöpfung in der Weise auf Gott hin ausgerichtet ist, ohne dabei auf einen genuin finalursächlichen Einfluss zurückgreifen zu müssen. Mit Bezug auf die Exemplarursachen oder Essenzen der Dinge hingegen lässt sich ganz ohne Finalursachen explizieren, warum diese Dinge eine natürliche Neigung oder Disposition zu einem gewissen Ende oder Ziel aufweisen. Kurz: Suárez entgeht Thomas’ Problem einfach dadurch, dass er die These (1) zurückweist. Finalursachen sind seiner Ansicht nach nicht der einzige Weg, um telelogische Beschreibungen zu analysieren. Insbesondere aufgrund der cognitioBedingung (3) sind sie für die Analyse der Naturteleologie auch ungeeignet. Daher ist die Zielgerichtetheit, die natürliche Substanzen in ihren natürlichen Aktivitäten an den Tag legen, auch nicht mit Bezug auf Finalursachen zu explizieren, sondern allein mit Hilfe ihrer Essenzen, aufgrund
____________ 12 Dass Suárez dieses Verhältnis auch so verstehet, wird besonders deutlich, wenn er (in DM 23§4¶¶2-3) bei seiner Untersuchung der spezifischen Kausalität der Finalursache den Vorschlag als uninformativ zurückweist, diese Kausalität bestehe allein darin, dass etwas wegen eines Zieles oder um eines Zieles willen geschehe. Der finalursächliche Einfluss soll nach Suárez eine ontologische Analyse der teleologischen Rede geben und darf daher nicht selbst wieder mit den teleologischen Formeln des „um ... willen“ erläutert werden. (Siehe dazu knapp Kapitel II, S. 120)
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derer sie eine natürliche Tendenz zu gewissen Zielen aufweisen. Weil der Begriff der Finalursache durch die cognitio-Bedingung ungeeignet geworden ist, um der immanenten Naturteleologie Rechnung zu tragen, gibt ihn Suárez in diesem Zusammenhang kurzerhand auf. Stattdessen kommt er ihr dadurch nach, dass er von dem „gewissen Ende“ (certus terminus) spricht, das natürliche Substanzen kraft ihrer Essenz anstreben. René Descartes bricht mit dem Hylemorphismus und weist die aristotelische Veränderungskonzeption als Aktualisierung einer Potenz als unverständlich zurück. Damit, so möchte man vermuten, ist er mit einem Schlag das ganze obige Problem losgeworden. Denn nach der Verabschiedung der aristotelischen Naturphilosophie, so hat es zumindest den Anschein, gibt es für ihn keine rahmentheoretischen Zwänge mehr, die ihn auf die These (2), d.h. die Annahme einer immanenten Naturteleologie, verpflichten würden. Wie Descartes klar stellt, beruht jede (materielle) Veränderung eines Dinges auf der lokalen Bewegung seiner materiellen Bestandteile. Und diese Ortsbewegung wiederum ist nichts anderes als eine Überführung (translatio) eines Körpers aus der Nachbarschaft einiger Körper in die Nachbarschaft anderer. Hier manifestieren oder aktualisieren sich keine final charakterisierten Dispositionen, wie die Aristoteliker meinten. Hier werden lediglich ziellos Korpuskeln durch die Welt geschoben. Doch wie in Kapitel III deutlich wurde, wollte Descartes selbst nach der Zurückweisung des Hylemorphismus nicht jede Form immanenter Teleologie aufgeben. Auch wenn ihn kein aristotelisches Naturverständnis zu der Annahme intrinsischer Zweckmäßigkeiten gezwungen hat, so waren es seine eigenen medizinischen Ambitionen, mit denen er polemisch gegen die Scholastik ins Feld zog. Die Wissenschaft, so führte Descartes programmatisch aus, sollte dem Fortschritt der Medizin dienen, und sich nicht in unfruchtbaren, scholastischen Streitigkeiten verzetteln. Nun ist die Medizin jedoch die Lehre und Kunst der Gesundheit – und Gesundheit ist ein normativer Begriff. Ein Organismus soll gesund sein, ist es aber leider nicht immer. Manchmal ist er krank. Dann stimmt etwas nicht mit ihm oder er funktioniert nicht richtig. Dementsprechend ist eine (Human-)Medizin als Lehre und Kunst der Gesundheit (des Menschen) nur möglich, wenn Menschen auch tatsächlich gesund sein können, mithin der menschliche Körper richtig funktionieren kann, und setzt eben damit eine Form immanenter Funktionalität oder Teleologie voraus. Diese immanente Funktionalität des menschlichen Körpers begründet Descartes damit, dass Gott diesen Körper in eine immanent funktionale Körper-Geist-Einheit eingebunden hat. Wenn eine trockene Kehle normalerweise dazu führt, dass wir ein Durstgefühl empfinden, das uns wiederum dazu veranlasst, etwas zu trinken, so handelt es sich hier um nichts, das einfach so geschähe, sondern dieser Zusammenhang soll in dieser Wei-
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se bestehen: Das Durstgefühl hat die Funktion, uns über den Wassermangel unseres Körpers zu unterrichten. Denn Gott hat bei der Erschaffung des Menschen, den Geist so mit dem Körper verbunden, dass der Körper ihm alle Informationen zur Verfügung stellen soll, die dem Geist dienen, sich als Teil dieser Einheit erfolgreich durch die materielle Welt zu navigieren. Deshalb empfinden wir normalerweise Schmerzen, wenn etwas unserem Körper Schaden zufügt, oder fühlen uns wohl, wenn wir gesund sind. Wie Thomas geht also auch Descartes davon aus, dass die Naturteleologie auf Gottes intentionale Einrichtung zurückzuführen ist. Der menschliche Körper verfügt deshalb über immanente Funktionen, weil er Teil einer Körper-Geist-Einheit ist, die Gott als intrinsisch funktionale Einheit erschaffen und damit auch erkannt und beabsichtigt hat. Anders als Thomas weist Descartes jedoch die These (5) des alethischen Intellektualismus zurück. Seiner Ansicht nach ist Gott derart transzendent, dass er sogar über die Geltung der ewigen und notwendigen Wahrheiten erhaben ist. So hat Descartes’ Gott etwa nicht deshalb für alle Ewigkeit dafür gesorgt, dass 2 · 4 = 8, weil er dies erkannt hätte; sondern vielmehr gilt mit Notwendigkeit, dass 2 · 4 = 8, weil Gott dies so wollte. Wenn Gott also gewollt hätte, dann hätte er etwa auch einrichten können, dass ‚2 · 4 = 12’ wahr ist. Dass wir das als endliche Wesen nicht verstehen können, spricht nicht gegen Descartes’ alethischen Voluntarismus. Dies ist nur eine Folge davon, dass Gott unseren Geist nur für das Verständnis seiner de facto erschaffenen ewigen Wahrheiten ausgerüstet hat, und nicht für andere, die er nicht erschaffen wollte. Daher verwickelt sich Descartes auch nicht in einen Widerspruch, wenn er die immanente Funktionalität der KörperGeist-Einheit auf Gottes absichtliche Einrichtung zurückführt. Auch wenn wir das nicht verstehen können, hätte Gott dieselbe Körper-GeistEinheit auch als nicht-funktionale erschaffen können. Gottes Unergründlichkeit ist übrigens auch der einzige Grund, den Descartes angibt, warum Finalursachen in der Physik nichts zu suchen haben: Da sie auf den Absichten Gottes beruhen, sind sie uns in der unendlichen Tiefe seines Wesen verborgen. Dass wir von der immanenten Funktionalität des menschlichen Körpers wissen, ist eine Ausnahme. Dies ist darauf zurückzuführen, dass uns Gott erstens mit der primitiven Idee dieser immanent funktionalen Körper-Geist-Einheit ausgerüstet hat, und wir zweitens deren Funktionalität im alltäglichen Leben erfahren. Damit ist nicht auszuschließen, dass es neben der immanenten Funktionalität des menschlichen Körpers auch andere Formen der Naturteleologie gäbe. Aufgrund von Gottes Transzendenz haben wir lediglich keine Aussichten, je davon zu erfahren.
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Baruch de Spinoza setzt sich einer transzendenten Gottesvorstellung, wie sie in extremer Form Descartes vertreten hat, entschieden entgegen. Gott steht seiner Auffassung nach nicht als unverständliches Wesen außerhalb der Welt. Ganz im Gegenteil. Gott ist die Welt und zugleich der Inbegriff ihrer Verständlichkeit. Da Gott nämlich alles umfasst, muss letztlich alles durch Gott begriffen werden. Materielle sowie mentale Einzeldinge wie Steine, Elefanten und Planeten oder Überzeugungen, Gefühle und Seelen sind für ihn keine substantiellen oder ontologisch unabhängigen Einzeldinge, sondern bloß Zustände oder Modi der einen Substanz, Gott oder der Natur, insofern sie unter einem der unendlich vielen Attribute Gottes erfasst werden, von denen wir Menschen allerdings nur zwei kennen: Das des Denkens, unter das mentale Entitäten fallen, und das der Ausdehnung, in dem materielle Dinge zu Hause sind. Doch Spinoza fällt nicht nur durch extravagante metaphysische Thesen auf. Auch die Annahme von Finalursachen hat er kritisiert wie kein anderer. Die Lehre der Zweckursachen, so sahen wir ihn in Kapitel IV argumentieren, stelle die Natur gänzlich auf den Kopf, indem sie das Spätere zum Früheren, das Unvollkommenere zum Vollkommeneren, kurz: die Wirkung zur Ursache mache. Diese Polemik gegen die Annahme von Finalursachen ist weniger als solche interessant denn als Ausdruck eines gewandelten Kausalitätsverständnisses, das sich bereits bei Suárez abzeichnete und dem zufolge Ursachen in erster Linie Wirkursachen sind. Spinozas Anlehnung an Suárez’ Kausalitätskonzeption beschränkt sich aber nicht nur darin, dass er seine Ansicht teilt, dass eine Ursache qua Ursache eine spezifische Wirkung haben müsse. Spinoza schließt sich auch Suárez’ essentialistischemanativer Vorstellung an, dass eine Wirkung gleichsam aus der Essenz ihrer Ursache fließen muss und dadurch die Essenz ihrer Ursache ausdrückt. Da nun Spinoza behauptet, alle Einzeldinge seien, wie alle anderen Dinge auch, „aus Gottes höchster Macht, d.h. aus seiner unendlichen Natur, […] notwendigerweise geflossen“ (E 1p17c2s), liegt es nahe, Spinozas Ontologie als eine Art Kraft-Feld-Metaphysik zu rekonstruieren: Dabei stellen sich Einzeldinge als Modifikationen Gottes, von dem Spinoza (in E 1p34) sagt, er sei reine Macht, als so etwas wie Kraft-Quanta heraus, die Gottes unendliche Macht auf bestimmte und geregelte Weise ausdrücken. In dem Maß, in dem Einzeldinge aufgrund ihrer Essenz Gottes Macht ausdrücken, verfügen sie dann auch über ein eigenes kausales Vermögen, das sich in ihrem so genannten conatus – ihrem essentiellen Streben nach Selbsterhaltung – äußert und aufgrund dessen sie ganz spezifische Wirkungen hervorbringen können. Entgegen Descartes geht Spinoza also davon aus, dass alle Einzeldinge – und damit auch die materiellen Einzeldinge – aufgrund ihrer Essenz
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über ein kausales Vermögen verfügen, kraft dessen sie ihre Wirkungen hervorbringen. Die berühmten Einwände von Leibniz vorwegnehmend wies er darauf hin, dass Descartes mit seinem rein passiven res extensaVerständnis weder der Bewegung noch der Identität von Körpern Rechnung tragen könne. In Descartes’ homogener und lückenloser Materie lässt sich streng genommen nämlich nicht feststellen, wo ein Körper beginnt und wo er wieder aufhört. Und folglich lässt sich genauso wenig feststellen, ob sich ein Körper bewegt, d.h. ob er von der Nachbarschaft des einen in die Nachbarschaft eines andern Körpers überführt wird. Das ist bei Spinozas Körpern anders. Als Kraft-Quanta verfügen sie über ein gewisses Maß an Widerstandskraft, vermöge dessen sie sich in ihrem Streben nach Selbsterhaltung äußerer Einwirkung widersetzen können – und genau in dem Maß etablieren sie sich als stabile und individuierbare Einzeldinge. Mehr noch. Da Einzeldinge aufgrund ihrer Essenz ein Streben nach Selbsterhaltung oder einen conatus an den Tag legen, lässt sich das Verhalten dieser Einzeldinge sogar teleologisch beschreiben: Da das kausale Vermögen eines Dinges durch seine Essenz konstituiert wird, widersetzt sich ein Ding naturgemäß all dem, was seiner Essenz widerspricht – und strebt mithin danach, sein Sein oder seine Essenz zu erhalten und zu entfalten. Damit lässt sich sagen, dass ein Ding ceteris paribus genau das tun wird, was gut für dieses Ding ist, d.h. was seiner Selbsterhaltung dient. Genau wie Suárez kann also auch Spinoza problemlos für eine intrinsische Naturteleologie argumentieren, weil er die These (1) verwirft und es ablehnt, das natürliche Streben von Einzeldingen in Begriffen der Finalursache zu explizieren. Das immanente Streben von Einzeldingen ist seinem Vorschlag nach vielmehr in deren conatus begründet, der Ausdruck ihrer Essenz ist. Gottfried Wilhelm Leibniz hat es sich auf die Fahne geschrieben, den Cartesianismus mit dem Hylemorphismus zu versöhnen. Im Rahmen dieses konziliatorischen Programms will er auch die von Spinoza so arg getadelten und von Descartes verschmähten Finalursachen rehabilitieren. Wie in Kapitel V gesehen, dient diese Rehabilitation dem Ziel, den Mängeln der cartesischen Physik zu begegnen, auf die bereits Spinoza aufmerksam gemacht hat, ohne aber gleich das Kind samt dem Bade auszuschütten. Descartes’ metaphysische Probleme der Individuation und Bewegung von Körpern sollten demnach so gelöst werden, dass man weiterhin an der Einsicht der cartesischen Physik festhalten kann, nach der die materielle Welt prinzipiell mit mathematischen Mitteln beschreibbar ist. Um dem gerecht zu werden, schlägt Leibniz vor, strikt zwischen zwei Realitätsbereichen zu unterscheiden: einem physischen, den es in mechanistischem Vokabular zu explizieren gilt, und einem metaphysischen, der in hylemorphistischen Begriffen zu verstehen ist und in dem die physikalischen
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Schluss
Phänomene letztlich begründet sind. Entsprechend ist dieser metaphysische Bereich mit aristotelisch konzipierten Substanzen ausgestattet, d.h. mit substantiellen Formen, die im Normalfall im Verbund mit einer ganz bestimmten Materie individuelle Einzeldinge konstituieren und über ein eigenes Aktivitätsprinzip verfügen, kraft dessen sie tätig sind. Allerdings vollzieht Leibniz diese Rehabilitation unter cartesianischen Voraussetzungen: So stellt er sich die substantiellen Formen nach dem Modell kraftbegabter cartesischer Seelen vor und analysiert deren Materie als passive Kräfte. Zudem orientiert sich Leibniz auch in seiner Auslegung des Substanzkriteriums der ontologischen Unabhängigkeit mehr an Descartes und Spinoza als an dem, was sich bei Vertretern des Aristotelismus finden lässt. Während letztere das Kriterium der ontologischen Unabhängigkeit nämlich bereits dadurch erfüllt sahen, dass Substanzen in keiner Inhärenzrelation stehen und keine Zustände von irgendwelchen anderen Dingen sind, meinten Descartes und Spinoza, dass eine Substanz qua ontologisch unabhängige Entität im strikten Sinn von etwas weder kausal noch mereologisch abhängig sein dürfe. An diese Substanzkonzeption anschließend meint Leibniz folgerichtig, dass Substanzen erstens keine Teile haben dürfen und somit unausgedehnt sein müssten, und zweitens nicht aufeinander einwirken könnten. Damit wirft Leibniz’ Versuch, die hylemorphistischen Substanzen unter cartesischer Perspektive zu rehabilitieren, sofort eine Reihe schwieriger Probleme auf: Wie etwa verträgt sich die Ausdehnungslosigkeit der Substanzen damit, dass dem Hylemorphismus zufolge (zumindest endliche) Substanzen materiell sind? Und was nützt Substanzen ein Aktivitätsprinzip, wenn sie doch nicht aufeinander einwirken können? Die erste Frage führt mitten in die heikle Leibniz-exegetische Realismus-IdealismusDebatte, in der sich Interpreten darüber streiten, ob nach Leibniz letztlich alle Substanzen immateriell seien, oder ob es auch körperliche Substanzen gäbe. Ich habe zu dieser Frage keine Stellung bezogen, da sie für die Rekonstruktion von Leibniz’ Teleologieverständnis irrelevant ist und mich eine seriöse Auseinandersetzung mit ihr zu weit vom Thema abgeführt hätte. Zur Klärung von Leibniz’ Rehabilitation und Verständnis von Finalursachen ist vielmehr die zweite Frage zentral: Wie äußert sich das Aktivitätsprinzip der Substanzen, wenn sie doch allesamt kausal isoliert sind? Wie gesehen sind Leibniz’ Substanzen (bis auf Gott) nicht außerhalb ihrer bzw. transeunt tätig, sondern bloß immanent: Sie bringen ständig ihre eigenen Zustände hervor. Insofern die substantiellen Formen, von denen diese Aktivität ausgeht, als cartesische Seelen konzipiert werden, handelt es sich bei diesen Zuständen auch um Perzeptionen, vermittels derer eine Substanz das gesamte Universum in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft repräsentiert. Allerdings findet diese spontane Hervorbringung der
Die Transformation naturteleologischer Erklärungen
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verschiedenen Perzeptionen in den einzelnen Substanzen nicht unkoordiniert statt. Sie vollzieht sich vielmehr – und hier kommen endlich die Finalursachen ins Spiel – in einer prästabilierten Harmonie. Da nach Leibniz’ Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hat, sorgte er dafür, dass die Substanzen ihre Perzeptionen in perfekter Übereinstimmung hervorbringen, ohne dass sie dabei aufeinander einwirken müssten. Aber auch in ihrer individuellen Tätigkeit unterliegen die einzelnen Substanzen den Gesetzen der Finalursachen. Weil sie kausal autonom sind und ihre perzeptuellen Zustände spontan hervorbringen, werden sie nicht durch Wirkursachen zu ihren Tätigkeiten bestimmt, sondern durch Finalursachen. Diese Finalursachen sind den Substanzen durch die Inhalte ihrer Perzeptionen gegeben und veranlassen sie so zur Hervorbringung ihrer Folgeperzeptionen. Da Leibniz zufolge jede Substanz über perzeptuelle Zustände verfügt, mit Hilfe derer sie die Finalursachen repräsentieren kann, die sie (bewusst oder unbewusst) zu ihrem Tun veranlassen, kann oder muss sogar jede Tätigkeit aller Substanzen teleologisch erklärt werden. Leibniz legt damit ein nicht minder abenteuerliches Metaphysikprogramm vor als Spinoza. Dennoch entwirft er eine ganz andere Theorie des naturteleologischen Strebens als jener. Leibniz bewahrt seinen Vorschlag zur Analyse der Naturteleologie nämlich dadurch vor Thomas’ Problem, dass er erstens die These (3) von einer cognitio-Bedingung zu einer repraesentatio-Bedingung umdeutet und zweitens in Absetzung zu der NonPanpsychismus-These (4) argumentiert, dass alle Substanzen, wenn schon nicht über kognitive, so doch über repräsentationale Fähigkeiten verfügten und folglich auch aufgrund von Finalursachen tätig sein könnten. Wie dieser kurze Überblick über die untersuchten Autoren zeigt, halten alle an einer Form immanenter Naturteleologie fest und können dabei Thomas’ Problem entgehen. Entweder indem sie die These (1) der finalursächlichen Teleologieanalyse aufgeben (Suárez und Spinoza), mit der These (5) des alethischen Intellektualismus brechen (Descartes) oder aber die These (4) des Non-Panpsychismus verwerfen (Leibniz). Vor allem angesichts von Margaret Oslers oben vorgestellter Transformations-These erstaunt es, dass keiner der hier behandelten Philosophen des 17. Jhs. rundheraus die These (2) der immanenten Naturteleologie verworfen hat. Mit Blick auf die extravaganten ontologischen Vorstellungen, mit denen diese Autoren die Konsistenz ihrer immanenten Naturteleologie bezahlten, leuchtet aber schnell ein, warum andere Autoren wie Pierre Gassendi oder Robert Boyle, auf die Osler ihre Untersuchungen stützt, lieber auf die These (2) verzichteten und sich stattdessen mit einer derivativen Zweckmäßigkeit natürlicher Dinge zufrieden gaben. Nach der Einführung der cognitio-Bedingung, so macht der obige Überblick deutlich, war es ohne
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Schluss
sehr starke und intuitiv äußerst unplausible Annahmen wie die Zurückweisung der These (4) oder (5) schlicht nicht mehr möglich, teleologische Erklärungen in den traditionellen Begriffen der Finalursache zu verstehen, ohne dadurch zugleich die immanente Naturteleologie preiszugeben. Das Teleologieproblem scheint so auch weniger ein Hylemorphismus- denn ein Finalursachenproblem zu sein. Damit kommen wir zum oben angekündigten zweiten Schritt. Welche Rolle spielt die Annahme oder Ablehnung des Hylemorphismus in der Geschichte teleologischer Erklärungen? Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, sorgfältig zwischen zwei verschiedenen Aspekten zu unterscheiden, über die man in einer Debatte über die Teleologie streiten und bezüglich derer sich das Teleologieverständnis entsprechend transformieren kann. Denn das Teleologieproblem hat genau besehen eine intensionale wie auch eine extensionale Dimension. Das intensionale Teleologieproblem betrifft die Intension der Teleologie und besteht in der Unklarheit, wie teleologische Beschreibungen oder Erklärungen genau zu verstehen oder zu analysieren sind. Dagegen handelt das extensionale Teleologieproblem von der Extension der Teleologie und zeugt von einer Unsicherheit darüber, welche Entitäten berechtigterweise teleologisch beschreiboder erklärbar sind. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung zeigt sich nun, dass die hier behandelten Autoren bezüglich ihrer Position zur Naturteleologie unterschiedlich gruppiert werden müssen.13 In intensionaler Hinsicht finden sich Thomas, Descartes und Leibniz auf der einen Spinoza und Suárez auf der anderen Seite. Während erstere nämlich ein ätiologisches Teleologieverständnis an den Tag legen und (echte)14 Naturteleologie mit Hilfe mentalistisch konzipierter Finalursachen analysieren, gehen letztere davon aus, dass das naturteleologische Streben für natürliche Dinge konstitutiv ist und damit in ihren Essenzen begründet liegt. In extensionaler Hinsicht dagegen steht Descartes ganz alleine den anderen hier behandelten Autoren gegenüber, die alle davon ausgingen, dass ausnahmslos alle natürlichen Prozesse einen teleologischen Charakter aufweisen: Thomas und Suárez, weil sie an der aristotelischen Konzeption der Bewegung als Aktualisierung einer Form festhielten; Spinoza und Leibniz,
____________ 13 Diese Einteilung ist in der entsprechenden Tabelle im Anhang verdeutlicht. 14 Neben der echten Analyse der Naturteleologie entwickelt Descartes aufgrund seines Agnostizismus bezüglich der Absichten Gottes eine behelfsmäßige Analyse unserer teleologischen Rede über Lebewesen, indem er Finalsätze in diesem Bereich als Konsekutivsätze uminterpretiert. Dass der Herzschlag eines Hundes die Funktion hat, den Hund mit Sauerstoff zu versorgen, soll dieser Analyse zufolge nur heißen, dass der Herzschlag in einem Hund einen kausalen Beitrag zu dessen Sauerstoffversorgung leistet.
Die Transformation naturteleologischer Erklärungen
381
weil sie jede Veränderung endlicher Dinge als Ausdruck eines zielgerichteten Strebens verstanden. Im Gegensatz dazu zeigt sich Descartes bezüglich der immanenten Funktionalität physikalischer Dinge agnostisch, hält das für seine Physik aber auch nicht für problematisch: Nach der Zurückweisung der aristotelischen Bewegungskonzeption lassen sich Bewegungen ganz ohne teleologisches Vokabular beschreiben. Sie sind allein durch ihre (effizienten) Ursachen bestimmt und ereignen sie sich als solche aus purer Notwendigkeit. Cartesische Bewegungen können weder zufälligerweise abbrechen noch fehlgehen. Sie vollziehen sich höchstens anders, als vielleicht erwartet. Die Geschichte teleologischer Erklärungen ist meines Erachtens deshalb so vertrackt, weil sich im Laufe dieser Geschichte teleologische Erklärungen sowohl in intensionaler wie in extensionaler Hinsicht transformieren, obschon diese Transformationsprozesse nicht zur gleichen Zeit stattfinden. So wurde in der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Naturphilosophie in Kapitel I deutlich, dass sich die Intension und Extension naturteleologischer Erklärungen in diesem Zusammenhang zunächst natürlicherweise entsprechen: Eine teleologische Aussage der Form „x tut y um z willen“ ließ sich vor dem Hintergrund der hylemorphistischen Naturphilosophie lediglich als Ausdruck davon verstehen, dass x aufgrund seiner Form die Disposition zu z hat, und y Teil der Manifestation dieser Disposition ist. Oder anhand eines konkreten Beispiels: Wasser fließt in die Tiefe, um unten zu sein, weil Wasser wesentlich die Disposition hat, unten zu sein, und diese Disposition im Zuge des Hinabfließens aktualisiert. Auch wenn man anführte, das Unten sei die Finalursache des Wassers, sagte man nicht mehr, als dass dem Wasser die Disposition, unten zu sein, wesentlich ist – und in diesem Sinne einfach eine final charakterisierte Entität ist. Damit sind teleologische Aussagen in intensionaler Hinsicht als Aussagen über final charakterisierte Entitäten zu verstehen; und können entsprechend in extensionaler Hinsicht auch ausschließlich über final charakterisierte Entitäten getroffen werden. Genau diese natürliche Entsprechung der Intension teleologischer Erklärungen mit deren Extension löst sich mit der Einführung der cognitio-Bedingung auf. Denn damit ist die finalursächliche Erklärbarkeit eines Dinges nicht länger von einer final charakterisierten Natur oder Essenz abhängig, sondern vorrangig von einer Erkenntnis jenes Ziels, mit Bezug auf das man dieses Ding teleologisch beschreiben möchte. Mithin lassen sich nun auch plötzlich solche natürlichen Dinge teleologisch beschreiben, über die man auch nicht-teleologisch sprechen kann und die folglich nicht wesentlich final charakterisierte Enti-
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Schluss
täten sind.15 Damit ist die Möglichkeit naturteleologischer Erklärungen nicht mehr primär von der Existenz einer hylemorphistischen Welt abhängig, sondern von einem Wesen, das die Dinge aus der Erkenntnis von Zielen zu und mit einem gewissen Zweck geschaffen hat. Die große Synthese von aristotelischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken mit Hilfe der cognitio-Bedingung, so zeigt sich nun, ist alles andere als unproblematisch. Entgegen der Einschätzung von Spaemann und Löw hat Thomas damit die Transformation der Teleologie nicht erst möglich, sondern in intensionaler Hinsicht bereits wirklich gemacht. Schließlich hat er in seiner Analyse teleologischer Erklärungen mit Hilfe psychologistisch verstandener Finalursachen den Hylemorphismus aus der Intension teleologischer Erklärungen eliminiert. Dementsprechend hat Thomas in intensionaler Hinsicht schon den Schritt vollzogen, den Descartes rund 350 Jahre später in extensionaler Hinsicht vollzog, als er den Hylemorphismus verabschiedete und nicht länger bereit war, Veränderungen als Aktualisierungen von Formen und damit als final charakterisierte Entitäten aufzufassen. Thomas’ Elimination des Hylemorphismus aus der Intension teleologischer Erklärungen macht nun auch verständlich, warum sich Descartes uneingeschränkt Thomas’ Teleologieverständnis anschließen konnte, obwohl er die aristotelische Bewegungstheorie zurückwies und damit den Hylemorphismus aus der Metaphysik strich. Wie mehrfach festgestellt, möchte Descartes ja nur den menschlichen Körper als eine echte funktionale Einheit verstehen und teilt trotzdem Thomas’ Ansicht, dass wenn ein Phänomen teleologisch erklär- oder beschreibbar ist, dass dann diese Erklärung oder Beschreibung auf vorangehende psychologische Absichten
____________ 15 Ein konkretes Beispiel hierfür ist das Verhältnis zwischen dem Regen und dem Wachstum des Korns. Aristoteles hat in der Physik II.8, 198b17-23, argumentiert, dass der Regen nicht falle, damit das Korn wachse, sondern aus reiner Notwendigkeit. Das könnte man so begründen, dass es nicht zur Natur des Regens gehört, dass er das Korn wachsen lässt: Der Regen ist nicht defekt, wenn er das Korn einmal verdirbt. Im Gegensatz dazu hat Thomas in seinem Physikkommentar II §12 ¶5, dafür argumentiert, dass der Regen im Allgemeinen sehr wohl falle, um das Korn wachsen zu lassen. Diese These dürfte ihm nicht zuletzt deshalb so leicht gefallen sein, weil er die Zweckmäßigkeit der Dinge nicht mehr vorrangig in deren Natur verankert sah, sondern in Gottes Erkenntnis, auf die er die Zweckmäßigkeit der natürlichen Einrichtungen zurückführte. Das macht er schon ganz zu Beginn seines Kommentars zur Physik II.8 (In Phys. II §12 ¶1) deutlich: „Diejenigen Dinge nämlich, die das Ziel nicht erkennen, streben auch nicht nach diesem Ziel, ohne dass sie von einem Erkennenden darauf ausgerichtet worden sind, so wie der Pfeil vom Schützen. Wenn daher die Natur um eines Ziels willen tätig ist, muss sie notwendigerweise von einem Erkennenden angeordnet werden“
Die Transformation naturteleologischer Erklärungen
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zurückgeführt werden muss. Dieses übereinstimmende Teleologieverständnis war nur deshalb möglich, weil Thomas mit seiner cognitioBedingung aufhörte, teleologische Erklärungen in einem hylemorphistischen Sinne zu verstehen. Hier drängt sich ein abschließender Blick auf Spinoza und Leibniz auf. Was hat sie nach dem naturteleologischen Minimalismus von Descartes wieder zu einer extensionalen Erweiterung der Naturteleologie bewogen? Warum gingen sie von der These (2) der immanenten Naturteleologie aus? Während Descartes aus medizinischen Gründen nur dem menschlichen Körper immanente Funktionen zugestand, machten Spinoza und Leibniz für ihr durchgängig teleologisches Naturverständnis kausal- und individuationstheoretische Gründe geltend. Beide meinten nämlich, der Identität und Bewegung von Dingen nur auf der Grundlage eines Aktivitätsprinzips gerecht werden zu können: Damit sich ein Einzelding als ein bewegendes Einzelding auszeichnen kann, müsse es Kräfte geben, auf die seine Bewegung zurückginge und die es befähigten, sich äußeren Einwirkungen zu widersetzen. Eben diese Aktivität eines Einzeldinges verbanden sie auf je unterschiedliche Weise mit seiner teleologischen Beschreibbarkeit. Leibniz tat dies, indem er die Aktivität von Substanzen in der Analogie zu unserem Handlungsvermögen konzipierte, auf dessen Grundlage wir aus der Erkenntnis von Zielen tätig sind. Da ihm zufolge jede Aktivität von einer (bewussten oder unbewussten) Repräsentation eines Zieles ausgeht, weist auch jede Form der Aktivität eine inhärente teleologische Struktur auf. Spinoza hingegen verstand die Aktivität von Einzeldingen als Ausdruck ihrer Essenz, der sich in ihrem conatus oder eigentümlichen Streben nach Selbsterhaltung äußert. Die vom conatus ausgehende Tätigkeit hat deshalb eine teleologische Struktur, weil sie erstens aufgrund von Interferenzen äußerer und mächtigerer Ursachen immer gehindert und damit fehlgehen kann und zweitens stets auf das jedem Ding eigene intrinsische Gut der Selbsterhaltung abzielt. Aber warum gingen Leibniz und Spinoza wie die Aristoteliker davon aus, dass Aktivität mit einem final charakterisierten Streben einhergeht? Schließlich schlossen sich beide in weiten Teilen Descartes’ Kritik am scholastischen Hylemorphismus an. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass alle hier behandelten Vertreter einer durchgängigen Naturteleologie von einer essentialistisch dispositionalen Kausalitätstheorie ausgingen, der zufolge eine Ursache ihre Wirkung kraft eines ganz bestimmten Vermögens hervorbringt. Da nun Vermögen oder Dispositionen final charakterisierte Entitäten sind und in diesem Sinne eine Form der dispositionalen Intentionalität aufweisen, lassen sie sich auch teleologisch beschreiben. Das provoziert natürlich sogleich die Folgefrage, warum diese Autoren eine solche Kausalitätstheorie für so attraktiv erachtet haben. Eine mögli-
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Schluss
che Antwort darauf habe ich bereits in Kapitel I im Vergleich mit David Humes regularistischer Kausalitätskonzeption vorgeschlagen.16 Ich kann sie hier nur wiederholen – aber zugleich mit dem Hinweis versehen, dass diese Antwort verständlich macht, warum Margaret Osler anhand ihrer Untersuchung empiristisch orientierter Philosophen wie Boyle und Gassendi ein ganz anderes Bild teleologischer Erklärung in der frühen Neuzeit gewann, als es sich aus meiner Untersuchung ergibt: Eine essentialistisch dispositionale Kausalitätstheorie kann deshalb attraktiv erscheinen, weil sich Kausalrelationen auf ihrer Grundlage als metaphysisch notwendige Relationen erweisen. Wenn x nämlich eine Ursache von y ist, dann ist sie das dieser Theorie gemäß nur deshalb, weil x aufgrund seiner Essenz das Vermögen hat, y hervorzubringen. Mithin wäre x nicht x, wenn es nicht y hervorbringen könnte, und es ist folglich metaphysisch notwendig, dass x eine Ursache von y ist. Vertritt man zudem die unter den hier verhandelten Autoren geteilte semantische These, dass die Bedeutung von Begriffen von der Essenz der Objekte ihrer Extension abhängt, erweisen sich einem essentialistisch dispositionalen Kausalitätsverständnis zufolge auch Kausalerklärungen als unbezweifelbar und gewiss. Sofern man nämlich das Auftreten von y mit einem Verweis darauf erklären kann, dass es von x hervorgebracht worden ist, lässt sich nicht mehr sinnvoll fragen, warum x denn y hervorgebracht hat. Schließlich bringt x – wenn es y überhaupt hervorbringt – y in essentieller Weise hervor. Entsprechend sind Kausalerklärungen analytisch wahre Sätze, die sich nicht weiter bezweifeln lassen. Solch eine Zurückführung wahrer Sätze auf analytische Wahrheiten mag suspekt oder gar unheimlich erscheinen. Sie ist aber der Preis, den Rationalisten gerne zu zahlen bereit sind, um die Welt als eine durch und durch verständliche begreifen zu können.
____________ 16 Sie geht überdies auf eine Überlegung von M. Della Rocca 2003 zurück.
Anhang Teleologie-konzeptionelle Positionen In den vorangehenden Kapiteln bin ich sehr detailliert auf die Ausführungen von Thomas, Suárez, Descartes, Spinoza und Leibniz eingegangen. Die dabei verhandelten Probleme erwiesen sich als so komplex, dass man leicht aus den Augen verliert, was für ein Teleologieverständnis diese Autoren nun an den Tag legen. Zur besseren Übersicht habe ich in der Einleitung vorgeschlagen, ihre Positionen gemäß vier systematischen Leitfragen zu kategorisieren. Ihr jeweiliges Verständnis teleologischer Erklärungen oder Beschreibungen lässt sich damit wie folgt zusammenfassen:
1. Sind die Ziele oder Zwecke, mit Bezug auf die man ein Phänomen erklärt, Ziele oder Zwecke für das erklärte Phänomen selbst? Ja, es handelt sich um einen intrinsischen Zweck. (Intrinsische Teleologie)
Nein, es handelt sich um einen extrinsischen Zweck. (Extrinsische Teleologie)
x Thomas von Aquin (Streben natürlicher Substanzen) x Francisco Suárez (Streben natürlicher Substanzen) x Baruch de Spinoza x René Descartes (Funktionalität des menschlichen Körpers)
x Thomas von Aquin (Weltordnung) x Francisco Suárez (Weltordnung) x René Descartes (Funktionalität natürlicher Gegenstände) x Gottfried Wilhelm Leibniz
386
Anhang
2. Sind die Ziele oder Zwecke, mit Bezug auf die man ein Phänomen erklärt, in dem erklärten Phänomen selbst begründet? Ja, es handelt sich um einen dem Phänomen immanenten Zweck. (Immanente Teleologie)
Nein, es handelt sich um einen derivativen Zweck des Phänomens. (Derivative Teleologie)
x Francisco Suárez (Streben natürlicher Substanzen) x Baruch de Spinoza x René Descartes (Funktionalität des menschlichen Körpers) x Gottfried Willhelm Leibniz
x Thomas von Aquin x Francisco Suárez (Weltordnung)
3. Muss eine Analyse teleologischer Sätze prinzipiell zwischen solchen unterscheiden, die von rationalen Wesen handeln, und solchen, die das nicht tun? Ja.
Nein,
x Francisco Suárez x René Descartes (gemäß der behelfsmäßigen Analyse teleologischer Sätze)
i) weil die Analyse der teleologischen Sätze, die von rationalen Wesen handeln, auf die Analyse derjenigen teleologischen Sätze zurückgeführt werden kann, die das nicht tun. (Naturalismus) x Baruch de Spinoza ii) weil die Analyse der teleologischen Sätze, welche von arationalen Wesen oder Dingen handeln, auf die Analyse derjenigen teleologischen Sätze zurückgeführt werden kann, die rationale Handlungen betreffen. (Intentionalismus) x Thomas von Aquin
Teleologie-konzeptionelle Positionen
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x René Descartes (gemäß der uns epistemisch unmöglichen, eigentlichen Analyse teleologischer Sätze) x Gottfried Wilhelm Leibniz
4. Was wird mit Hilfe teleologischer Sätze primär erklärt? Die Existenz von Tätigkeiten oder Merkmalen von Dingen. (Ätiologische Teleologie)
Die Essenz von Tätigkeiten oder Merkmalen von Dingen. (Konstitutive Teleologie)
Dabei lassen sich teleologische Erklärungen
x Francisco Suárez (bezüglich der intrinsischen Teleologie natürlicher Substanzen) x Baruch de Spinoza
i) auf kausale Erklärungen reduzieren; x Thomas von Aquin (?) x Francisco Suárez (bezüglich der extrinsischen Teleologie natürlicher Substanzen) x René Descartes (?) ii) nicht auf kausale Erklärungen reduzieren. x Francisco Suárez (bezüglich der Handlungsteleologie der Geschöpfe) x Gottfried Wilhelm Leibniz
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Anhang
Die Intension und Extension naturteleologischer Erklärungen Im Schluss habe ich ausgeführt, dass Thomas, Suárez, Descartes, Spinoza und Leibniz nicht nur in ihren Vorstellungen darüber, wie teleologische Erklärungen zu verstehen sind, divergieren (also bezüglich der Intension der Naturteleologie), sondern auch darin, was teleologisch beschrieben werden kann (das heißt in ihrer Extension). Übereinstimmungen und Abweichungen in diesen Fragen lassen sich durch folgendes Schema sichtbar machen: Intension: Wie ist die Naturteleologie zu analysieren? Mit Hilfe (erkannter) Finalursachen. Thomas
X
Suárez Descartes
Alle natürlichen Einzeldinge.
X
X
X X
X
Nur der menschliche Körper.
X X
Spinoza Leibniz
Mit Bezug auf die Essenzen der Dinge.
Extension: Was lässt sich naturteleologisch beschreiben?
X X
Literatur Sigeln und Übersetzungen Thomas von Aquin De Ent.
De ente et essentia. Zitiert nach Abschnitt (§) und Zeile in Opera omnia. Editio Leonina, Bd. 43, Rom: Editori di San Tommaso 1976. In meiner Übersetzung orientiere ich mich an: Thomas von Aquin: De ente et essentia – Das Seiende und das Wesen, übers., komm. und hg. von F. L. Beertz, Stuttgart: Reclam 32008.
DPN
De principiis naturae. Zitiert nach Abschnitt (§) und Zeile in Opera omnia. Editio Leonina, Bd. 43, Rom: Editori di San Tommaso 1976. In meiner Übersetzung orientiere ich mich an: Thomas von Aquin: De Principiis Naturae – Die Prinzipien der Wirklichkeit, Lt.-Dt., übers. und kom. von R. Heinzmann, Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1999.
De Verit.
De veritate, hg. von R. M. Spiazzi, Turin: Marietti 1953 Verweise darauf zeichne ich unter Angabe des Bandes, der Quaestio (q.), des Artikels (art.) und der entsprechenden Passage aus: D.h. Einwand (obj.), Corpus (corp.) oder Erwiderung (ad.).
In Met.
In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis Expositio (= Sententia libri Metaphysicae), hg. von R. M. Spiazzi, Turin: Marietti, 1950. Zitiert nach Buch, Lectio (§) und Absatz (¶).
In Phys.
In octo libros Physicorum Aristotelis expositio, hg. von P. M. Maggiòlo, Turin: Marietti 1954. Zitiert nach Buch, Lectio (§) und Absatz (¶).
ScG
Summa contra Gentiles (= Liber de veritate Catholicae fidei contra errores infidelium qui dicitur summa contra gentiles ), hg. von P. Marc, Turin: Marietti 1961ff.. Zitiert nach Buch, Lectio (§) und Absatz (¶). In meiner Übersetzung orientiere ich mich an: Thomas von Aquin: Summa contra gentiles, Lt.-Dt., Bd. 1, hg. und übers. von K. Albert und P. Engelhardt unter Mitarbeit von L. Dümpelmann; Bd. 2, hg. und übers. von K. Albert und P. Engelhardt; Bd. 3.1/2, hg. und übers. vom K. Allgaier; Bd. 4, hg. und übers. von M. Wörner, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001.
Sent. De an. In Aristotelis librum De anima commentarium (= Sententia libri De anima), hg. von A. M. Pirotta, Turin: Marietti 1959. Zitiert nach Buch, Lectio (§) und Absatz (¶). STh
Summa Theologiae, hg. von P. Caramello, Turin: Marietti 1952ff. Verweise darauf zeichne ich unter Angabe des Bandes, der Quaestio (q.), des Artikels
390
Literatur (art.) und der entsprechenden Passage aus: D.h. Einwand (obj.), Corpus (corp.) oder Erwiderung (ad.).
Francisco Suárez DM
Disputationes Metaphysicae, in Opera Omnia, (Editio Nova) hg. von Ch. Breton, Paris: Vivès 1866. Die zitierten Stellen werden unter Angabe der Disputation, Sektion (§) und Absatz (¶) angegeben.
René Descartes Auf Descartes’ Schriften beziehe ich mich mit den Kurztiteln, die ich bei der ersten Bezugnahme auf die entsprechende Schrift einführe. Zitate weise ich mit folgendem Sigel aus: AT
Œuvres de Descartes, hg. von Charles Adam, und Paul Tannery, Paris: Vrin 1983. AT, Band, Seitenzahl.
Die hier aufgeführten Titel zitiere ich bis auf erwähnte Ausnahmen aus bestehenden Übersetzungen. Die Seitenzahlen der deutschen Übersetzungen gebe ich aus Platzgründen jedoch nur an, falls sie zur genauen Identifikation der zitierten Passage nötig sind. Discours
Discours de la méthode. Übersetzung: Discours de la méthode, Bericht über die Methode, Frz.-Dt., übers. und hg. von H. Oswald, Stuttgart: Reclam 2001.
Einwand/ Erwiderung
Objéctions et Responses. Übersetzung: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. und hg. von A. Buchenau, Hamburg: Meiner 1994.
Meditationes Meditationes de prima philosophia. Übersetzung: Meditationen, dreisprachige Parallelausgabe Lt.-Fr.-Dt., hg. und übers. von A. Schmidt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. Passions
Passions de l’âme. Übersetzung: Die Leidenschaften der Seele, Frz.-Dt., hg. und übers. von K. Hammacher, Hamburg: Meiner 1996.
Pinzipien
Principae philosophiae. Übersetzung: Die Prinzipien der Philosophie, übers. und komm. von A. Buchenau, Hamburg: Meiner 81992.
Regulae
Regulae ad directionem ingenii, Lt.-Dt., kritisch revidiert, übers. und hg. von H. Springmeyer, L. Gäbe und H. G. Zekl, Hamburg: Meiner 1973.
Baruch de Spinoza Spinozas Schriften weise ich mit Hilfe von Sigeln aus. Falls nicht anderweitig erwähnt, übernehme ich die im Folgenden aufgeführten Übersetzungen. CM
Cogitationes Metaphysicae, im Anhang von ders.: Descartes’ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise dargestellt, übers. und hg. von W. Bartuschat, Hamburg: Meiner 2005, 129-191.
Sigeln und Übersetzungen
391
DPP
Descartes’ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise dargestellt, übers. und hg. von W. Bartuschat, Hamburg: Meiner 2005. Zitiert wie die Ethik.
E
Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, übers. und hg. von W. Bartuschat, Hamburg: Meiner 1999. Zitate weise ich mit den üblichen Abkürzungen aus: Nach Nennung des Teils der Ethik spezifizieren die folgenden Kürzel die Art der zitierten Passage. Dabei steht „a“ für Axiom, „app“ für Anhang (appendix), „lemm“ für Hilfssatz (lemma) „p“ für Lehrsatz (propositio), „praef“ für Vorwort (praefatio), und „s“ für Anmerkung (scholium), „d“ für Beweis (demonstratio) und „c“ für Folgesatz (corollarium). Diese werden Spinozas Text entsprechend mit Ziffern ausgewiesen. ‚E 1p8s2’ bezieht sich so z.B. auf die zweite Anmerkung zum Lehrsatz 8 des ersten Teils der Ethik.
Ep.
Briefwechsel, übers. von C. Gebhardt und hg. von M. Walther, Hamburg: Meiner 1986. Die Briefe werden Anhand ihrer Nummerierung ausgewiesen.
KV
Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück, übers. von C. Gebhardt und neu hrsg. von W. Bartuschat, Hamburg: Meiner 1991.
TdIE
Tractatus de Emendatione Intellectus, (= Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes), übers. und hg. von W. Bartuschat, Hamburg: Meiner 1993.
TP
Tractatus Politicus, übers. und hg. von W. Bartuschat, Hamburg: Meiner 1993.
TTP
Tractatus theologico-politicus, übers. von C. Gebhardt und hg. von G. Gawlick, Hamburg: Meiner 1994.
Gottfried Wilhelm Leibniz Auf Leibniz’ Schriften beziehe ich mich mit den Kurztiteln, die ich bei der ersten Bezugnahme auf die entsprechende Schrift einführe. Zitierte Passagen weise ich mit Rekurs auf die Standard-Ausgaben aus. Und zwar unter Verwendung folgender Sigeln: A
G.W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Berlin: Akademie Verlag 1930ff.; unter Angabe der Reihe, Band, Teil und Seitenzahl oder Textnummer.
GM
G.W. Leibniz: Die Mathematischen Schriften, hg. von C. Gerhardt, Hildesheim: Olms 1971; unter Angabe von Band und Seitenzahl.
GP
G.W. Leibniz: Die Philosophischen Schriften, hg. von C. Gerhardt, Berlin: Weidmann 1875-1890; unter Angabe von Band und Seitenzahl.
Zum Nachweis der Übersetzungen bediene ich mich folgender Abkürzungen: AG
G.W. Leibniz: Philosophical Essays, hg. und übers. von R. Ariew und D. Garber, Indianapolis: Hackett 1989. (Diese Verweise gebe ich an, falls die zitierten Schriften gar nicht, oder nur in einer veralteten deutschsprachigen Übersetzung vorliegen.
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Literatur
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G.W. Leibniz: Philosophische Schriften, hg. von W. v. Engelhardt, H. Herring & H. H. Holz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996; Bd. 3.1;2: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand I; II, hg. und übers. von Wolf von Engelhardt und H. H. Holz.
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Monadologie G.W. Leibniz: Monadologie, hg. und übers. von H. Hecht, Stuttgart: Reclam 1998. Immanuel Kant KdU
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Register Namensregister Adams, Robert 334n, 354n Aertsen, Jan 80n Anscombe, Gertrude Elisabeth M. 13n, 15n, 74n, 75, 247n Ariew, Roger 28n, 29n, 107n Aristoteles 12n, 15, 20–21, 23–24, 35, 37n, 38–39, 41–42, 43n, 44, 48-49, 58n, 59n, 60n, 80, 92n, 94–95, 105, 110n, 113n, 118-119, 121, 133n, 140n, 158, 163, 175n, 248n, 265, 292, 294n, 315n, 317-318, 319n, 322, 323n, 324, 327, 355, 358n, 369n, 370, 382n Armstrong, A.H. 234n Armstrong, David 14n, 347n Arnauld, Antoine 163n, 197n Ashworth, E.J. 113n Augustin (Aurelius Augustinus) 140n Avicenna (Ibn Sina) 37n, 138n, 371n Bacon, Francis 21–22 Bennett, Jonathan 31n, 229, 235n, 240n, 243–244, 246, 255, 259n, 266n, 269n, 270n, 273n, 275-276, 278n, 284n, 286n, 287n, 295, 337n Bieri, Peter 130n Bobik, Joseph 64n Bonnen, Clarence 111n Borghini, Andrea 77n Borro, Marc 328n Boyle, Robert 30, 224n, 366n, 379, 384 Brandom, Robert 294n, 332n Brentano, Franz 73–75 Broughton, Janet 189n Buller, David 6n Busche, Hubertus 6n Carlin, Laurence 339–342, 344 Carraud, Vincent 108n, 111n, 115n, 119n, 127n Carriero, John 53–56, 235n, 239n, 259n, 248n, 347n, 359n Carter, Richard 196n Cartwright, Nancy 12n Cassirer, Ernst 302, 303n Cessario, Romanus 28n
Chisholm, Roderick 74n, 75, 129n Clark, Desmond Clark, Stephen 21n, 167n, 309n, Clatterbaugh, Kenneth 308n, 328n Cohen, S. Marc 318n Cook, Thomas 255n, 258n, 259n Cottingham, John 305n, 324n Couturat, Louis 302 Cummins, Robert 194n, 198–200, 345n Curley, Edwin 230n, 235n, 240n, 241-242, 252n, 258n, 354n Darge, Rolf 120n Davidson, Donald 15n, 130n, 242n, 342–344 Davies, Paul Sheldon 203n Deleuze, Gilles 234n, 266n, 272n Della Rocca, Michael 68n, 235n, 241n, 242n, 244n, 251n, 255n, 262n, 280n, 309n, 325n, 353n, 384n Des Chene, Dennis 28n, 163n, 167n, 172n, 190n, 193n, 196n, 215n, 321n Descartes, René 2, 22, 25, 27–31, 101n, 107–108, 111n, 163–228, 231, 238, 239n, 251, 254, 256–257, 258n, 259–266, 268, 270, 275n, 277–278, 288, 292, 301, 303–314, 318, 320, 321n, 322, 324, 336, 337n, 358, 363, 365–366, 374-383, 385–388 Donogan, Alan 99a, 123n Doyle, John P. 29n, 107n, 151n, 204n Dretske, Fred 14n, 242, 340n Fine, Kit 118n Flage, Daniel 111n Forge, Louis de la 309n Freudenthal, Jakob 307n Gabbey, Alan 178n, 309n Galileo Galilei 173, 311 Garber, Daniel 32, 166n, 168n, 170n, 172n, 173n, 174n, 175n, 177n, 178n, 216n, 255n, 257n, 259n, 262n, 264n, 280n, 302n, 303,
406 308n, 309n, 310n, 313n, 314n, 318n, 334n, 335n Garrett, Don 21, 230, 243n, 244, 255n, 256n, 259n, 266n, 269n, 273n, 285n, 291n, 297n, 299n Gassendi, Pierre 22, 163n, 182–183, 187–189, 194, 196–198, 216, 222, 224, 366, 379, 384 Gaukroger, Stephen 165n, 172n, 173n, 175n, 196n, 260n Ghiselin, Michael 7n Gilson, Etienne 29n, 108n, 115n, 118, 119n Godfrey–Smith, Peter 6n Goodman, Nelson 346n Grabmann, Martin 29n, 107n Grice, H. Paul 50n Grosholz, Emily 307n Gueroult, Martial 169n, 205n, 211n, 221n, 264n, 309n Haag, Johannes 242n Hampe, Michael 32n, 308n Hampshire, Stuart 291n Hardcastle, Valerie G. 203n Hartz, Glenn 302n, 334n Hasse, Dag 138n Hassing, Richard F. 257n Hatfield, Gary 170n, 215n, 309n Hattab, Helen 172n Heaney, Stephen J. 40n Hedwig, Klaus 75n Heidegger, Martin 29n Hennig, Boris 20n, 21n, 46n, 58n, 112n, 115n,116n, 210n Hobbes, Thomas 258n Hocutt, Max 370n Hoffman, Paul 46n, 52n, 164n, 171n, 210n Honnefelder, Ludger 107n, 120n Hulswit, Menno 115n Hume, David 20, 23, 25, 36–37, 44-45, 63–64, 66–68, 78, 103, 314n, 384 Inwagen, P. van 353n Jarrett, Charles 286n Johannes Duns Scotus 28n Johnson, Monte Ransom 20n, 24n Jolley, Nicholas 111n, 234n, 329n, 340, 341n, 344n Jordan, Mark D. 23n Joy, Lynn 115n Kant, Immanuel 12n, 18, 94n Karofsky, Amy D. 151n Keil, Geert 19n, 130n, 132n, 248n, 345n, 358n Knebel, Sven 354n
Register Knuuttila, Simo.371n Kulstad, Mark 326, 340 Laporte, Jacques 212 Laywine, Alison 218n Lee, Sukjae 325n Leibniz, Gottfried Wilhelm 3, 16, 18n, 19, 22, 25–31, 48, 86n, 97n, 107-108, 110n, 111, 117n, 132n, 133n, 151n, 157, 169n, 184, 191n, 234n, 258n, 259, 261, 264n, 265n, 275n, 292, 294, 299n, 301–361, 363, 365, 377-380, 383, 385–388 Lennon, Thomas 29n, 214n, 305n Lennox, James G. 7n Lin, Martin 111n, 230n, 234n, 243n, 244, 253n, 255n, 273n, 278n, 280n, 298n Locke, John 320n Lohr, Charles 107n Lord, Carnes 315n Löw, Reinhard 21n, 24n, 363–366, 368, 382 Malebranche, Nicholas 309n, 314n Manning, Richard 243n, 244 Markie, Peter 191n, 305n Martin, Charles Burton 72n, 74–75, 76n, 105n Maurer, Armand 151n Mayr, Ernst 7n McCord Adams, Marilyn 108n. McDonough, Jeffrey K. 337 McDowell, John 289n McLaughlin, Peter 11n, 12n, 21n, 215n, 365n Melamed, Yitzhak 276n Menn, Stephen 170n, 184n Mercer, Christia 301n, 316n, 320n, 334n Millikan, Ruth Garrett 10n, 14n, 201n, 203n Molnar, George 74, 92 Mora, Jose Ferrater 29n, 107n Murray, Michael 354n Nachtomy, Ohad 353n Nadler, Steven 309n Neander, Kareen 14n, 201n, 203n Newton, Isaac 178n, 257n, 261n Nicole, Jean 163n Nowacki, Mark R. 48n O’Neill, Eileen 111n Okrent, Nicholas 310n Olivo, Gilles 111n, 127n Olshewsky, Thomas M. 117n Osler, Margaret 11n, 22, 30, 224n, 363–365, 366n, 379, 384
Namensregister Pasnau, Robert 52n, 57n, 76n, 97n, 108n, 115n Perler, Dominik 28n, 62n, 73n, 75n, 97n, 138n, 169n, 244n, 308n, 371n Pfeiffer, Karl 72n, 74–75, 76n Phemister, Pauline 334n Place, Ullin T. 74–75, 76n, 92 Platon 6 Prinz, Jesse 219n Pruss, Alexander 48n Puryear, Stephen M. 331n Quine, Willard Van Orman 176n Rapp, Christof 317n Reiner, Hans 315n Renemann, Michael 140n, 143n, 144n Renz, Ursula 255n, 256n, 283n Rescher, Nicholas 328n Rödl, Sebastian 58n Rozemond, Marleen 164n, 212n, 214n, 220n, 329n, 346n, 359n Rudolph, Ulrich 308n Russell, Bertrand 302 Rutherford, Donald 310n, 324n, 334n Ryle, Gilbert 72n Salmon, Wesley C. 19n Samuel Clarke 344 Sanford, David H. 19n Schmaltz, Tad 165n, 189n, 197n, 308n, 309n Schmid, Stephan 242n Schmitt, Charles B. 21n Schnepf, Robert 115n, 118n, 119n, 120n, 289n Schueler, George F. 131n Searle, John 74, 186n Sehon, Scott 5n, 6, 9, 15n, 131n Seiler, Julius 124n, 134n, 135n Sellars, Wilfrid 105n 328n Shapiro, Lisa 21, 22n, 218n, 221n Shoemaker, Sidney 66n, 67n Short, Thomas 181n Simmons, Allison 21, 22n, 186n, 194n, 207n, 331n Sleigh, Robert C. 326, 340 Spaemann, Robert 21n, 24n, 363–366, 368, 382 Spinoza, Baruch de 2, 10, 21–22, 24-27, 29–31, 68n, 83n, 86n, 107–108, 111, 117n, 139n, 142n, 155n, 156n, 160, 189n, 211n, 217n, 228n, 229–299, 304–306,
407
310n, 318, 319n, 324, 333n, 341n, 351–352, 356–357, 363, 365–366, 376–380, 383, 385–388 Sprunk, Karel 127n Stegmüller, Wolfgang 176n Stoichita, Pedro 242n, 266n, 276n Stöltzner, Michael 18n, 338n Strawson, Peter F. 266n Stuart, Matthew 305n Suárez, Francisco 2, 5n, 10n, 15, 22, 24–27, 29–31, 80, 101n, 102n, 107–161, 163n, 180, 183, 186-187, 204n, 226, 227n, 230, 234, 236–237, 249, 254, 309n, 341, 359–360, 363, 365–366, 372–374, 376–377, 379–380, 385–388 Thomas von Aquin 2, 14n, 19, 22–24, 27–31, 35–105, 107–110, 111n, 112, 113n, 114–116, 117n, 118, 119n, 120, 123, 136–137, 140n, 145–146, 150–152, 160, 163n, 170, 178n, 180, 183–184, 212, 213n, 228, 235n, 297n, 299, 303, 346, 355–356, 359–360, 363–373, 375, 379,–380, 382–383, 385–388 Thompson, Michael 10n Toepfer, Georg 5n, 6, 9, 12n, 13n, 14n, 15n, 21n Vailati, Enzo Viljanen, Valtteri 29n, 111n, 234n, 236n, 255n, 272n, 273n, 274n, 277n, 280, 281n Waller, Jason 253n Weber, Marcel 15n Wedin, Michael 323n Wells, Norman 151n Wieland, Wolfgang 12n, 21n Wiggins, David 320n Wild, Markus 190n Wilhelm von Moerbeke 163n Wilhelm von Ockham 28n, 108n Williams, Bernard 79n, 305n Wilson, Catherine 302n, 309n, 334n Wilson, Margaret 171n, 218n Wolff, Christian 6–7, 224n Woolhouse, Roger 328n Wright, Georg Henrik von 5n, 6, 248n Yablo, Stephen 243n Youpa, Andrew 292n Zellner, Harold 234n
408
Register
Sachregister Aktivität/ Passivität 54, 65–66, 112, 172, 176, 246–250, 259, 261–363, 279–281, 288, 293–294, 296, 316–318, 320, 323–329, 331–333, 347–349, 383 Aristotelismus 21, 26, 38, 42, 104, 115, 165–166, 168, 257n, 359, 364-367, 367 Bewegung 41–44, 59n 149–150, 163-164, 175–178, 191–193, 211, 216, 223–224, 231, 257–269, 276–277, 303–310, 317, 320, 334–335, 364, 370–374, 377, 381, 383; metaphorische 123–125, 139, 158–160 Bewegungsgröße 310n, 312 cognitio–Bedingung 23–24, 26, 92–94, 96–101, 103–105, 117, 136–137, 145, 150, 152, 180, 183, 224, 359, 364, 366–367, 369, 373–374, 379, 381–383 Determinismus 70, 84 Disposition 5, 20n, 23, 65–78, 80–84, 86–88, 91–92, 94, 96–97, 103-105, 137, 147, 150–152, 159, 170, 193–212, 224–227, 344–349, 359, 370, 373–374, 381, 383–384 Emanation 110–111, 115, 118–121, 157, 234–236, 274, 280–281, 295, 341, 376 Empirismus 22, 47, 72n, 83, 366n, 384 Essenz 13–14, 17, 23–24, 26, 65–69, 82n, 83n, 103–104, 116, 120, 139, 142n, 150–152, 155n, 160-161, 216, 227, 233–235, 252–254, 259, 261, 272–299, 366, 368–374, 376–377, 380–371, 383–384, 387–388 frei, freiwillig 49, 73n, 81, 128–136, 139n, 140n, 145–148, 151n, 152-156, 158–159, 160n, 184-186, 231–232, 248–251, 254, 258, 262n, 291, 342, 347, 354-355, 357, 371, 373 Funktion, funktional 1–7, 11–12, 19, 25, 100n, 150, 152, 189–228, 255, 361n, 366, 368, 374–375, 380n, 381–383, 385–386 Geometrie, geometrisch 164, 169n, 173–177, 190, 217, 224, 231, 259–265, 303–314 Hylemorphismus 42n, 44, 46, 57, 58n, 79, 82, 97–98, 101–103, 164–165,
166n, 177, 179, 210n, 212–213, 214n, 223, 236n, 292, 294, 301, 303–304, 315n, 316–319, 329, 358, 363, 365–367, 374, 377–378, 380383 Individuation 52, 211, 253, 263–267, 269–272, 275–277, 304, 306, 307n, 314, 317n, 318n, 377, 383 Intellekt 29, 37n, 62, 65, 75n, 76, 81, 98, 99n, 122–123, 134, 136, 138n, 140–141, 156, 159–160, 184, 217, 249n, 371–372 Intellektualismus 26, 29, 151, 184, 337n, 369, 375, 379 Intentionalität 6, 24, 26, 65, 72–77, 92, 94, 96–97, 99, 104–105, 242n, 257, 329n, 339–340, 346, 360, 383 Kausalität, immanente 129, 133 249, 329, 340; transeunte 129, 249 Kausalitätsverständnis, aristotelisches 22–23, 36–37, 43–46, 64–68, 71, 360; hume’anisches 20, 23, 35n, 36–37, 44, 63–65, 66–69, 103, 108, 235n Kontingenz 23, 64, 66–68, 70, 71n, 84, 85n, 86–87, 89, 91, 103, 315n, 336, 352–358, 360 Kraft 111n, 116, 135n, 144, 171, 176-177, 180, 231, 245–246, 256, 259–261, 263, 264n, 268–272, 275, 277, 279, 293, 295, 308–323, 327, 328n, 329, 333–334, 343-347, 376–378, 383; motivationale bzw. normative 15, 133–135, 159, 354 Lebendiges 4, 10n, 12n, 18, 25, 37n, 39, 172, 187, 190–193, 198, 199n, 169, 217, 222, 306, 324, 334n, 371, 380n Mathematik, mathematisch 166, 172-173, 175, 177, 258n, 302-304, 307n, 315, 319, 358-359, 377 Mechanismus, mechanistisch 22, 26, 28–30, 32, 164, 166, 168, 170n, 172–173, 175n, 190–193, 195-196, 198, 222–224, 256, 257n, 258, 301, 303–304, 315-316, 318, 322, 329, 335, 358–359, 363–366, 377 Mereologie 14,15n, 305, 378
Sachregister Metaphysik, metaphysisch 21, 24n, 47, 50–52, 60–68, 97, 107–108, 127, 166, 174n, 179, 186, 207, 210, 227, 246, 250, 262, 266, 275–277, 284, 296, 307, 315–322, 330, 333–338, 347, 351, 358–360, 376–379, 382 (Natur–)Gesetz 1–2, 18n, 177–178, 181–182, 183n, 185, 190–191, 196, 204–205, 210–211, 216, 217n, 218n, 222–223, 231, 235n, 249, 256–257, 260–262, 287, 307–309, 322, 326–327, 333, 335–338, 353 Naturphilosophie 6, 20, 23–24, 28–29, 32 38, 46, 69, 78, 91, 93–94, 101, 103–104, 164–166, 168–169, 170n, 172, 178, 212n, 216, 223-224, 230–231, 252–277, 283, 288, 299, 303–304, 318, 359, 363, 366–367, 370, 374, 381–382 (Neo–)Platonismus 23, 111, 119n, 140, 157, 234 Nezessitarismus 132n, 155n, 249–250, 297n, 352–356 Normativität, normativ 8, 59n, 78–79, 81–83, 89n, 91, 103, 135, 201-203, 207, 225–226, 228, 238–240, 283–289, 291n, 295, 309, 374 Notwendigkeit, metaphysische 23, 64n, 65–66, 67n, 69, 70n, 101n, 151, 259, 274n, 298, 353, 368–369, 371–372, 375–376, 384; moralische 354n; hypothetische vs absolute 87–90, 297n, 309n, 336, 353-357, 360 Occasionalismus 308n, 309, 310n, 335, 343–344 Physik 18n, 38, 103, 165–178, 179– 181, 183, 185–186, 190, 212n, 216, 223–226, 231, 243, 257, 260–265, 301, 303–322, 329, 335–338, 358–359, 375, 377, 381 physiko–teleologischer Gottesbeweis 92–93, 104 Prinzip des zureichenden Grundes (PZG) 47n, 48, 68, 70n, 94, 96, 189, 235n, 255n, 313–314, 317n, 325n, 327, 336, 345, 347, 351-353, 357 Qualität, primäre vs. sekundäre 168, 169n, 170, 238, 289; reale 169-171 Rationalismus 22, 30, 262n, 351–354, 357–358, 361, 366n, 384
409 Scholastik 15, 21n, 22, 24–25, 28–30, 32, 35, 42, 75n, 95, 97, 107n, 108, 111n, 115, 119, 122–123, 127, 138n, 140n, 163, 165–169, 172, 177, 181, 204n, 210, 212n, 223–224, 238, 249, 289n, 301, 307, 354n, 374, 383 Schöpfung 14, 24, 100n, 103, 111n, 118–120, 137–138, 140–141, 145, 147, 149, 153, 155, 159–161, 185–187, 205, 234, 254, 299, 329n, 338, 340–341, 352–353, 356, 363, 366–367, 373, 382 Seele 26, 37n, 169, 171–172, 190, 193, 195, 207, 209n, 210–213, 216-217, 220, 221n, 223–224, 226, 319, 321–323, 324n, 325-326, 333, 343, 346, 357, 359, 376, 378 Spontaneität 135–136, 158, 250, 294, 326–328, 330–332, 341, 342n, 347, 351, 359, 378 Substantielle Form 40, 66, 82n, 111n, 116, 170, 172, 210, 212, 301, 304, 317n, 318, 323, 329, Theologie, theologisch 23n, 25, 69, 91-94, 97, 103–104, 107, 118-120, 127, 146, 189, 205, 224–225, 236, 240, 246, 260, 275, 298, 303 Trägheit 177–178, 231, 256n, 257, 259, 261, 317 Transzendentalienlehre 79–82, 91, 120 Ursache, Material- 20, 42, 45, 51–57, 88–90, 102, 108, 110, 121, 140, 158, 164; Form- 20, 42–43, 45, 51–57, 88, 90, 102, 108, 110, 116, 121, 141, 158, 164,165n 236n; Wirk- 15, 20, 24–25, 36–37, 41-42, 45–48, 50–58, 60–63, 69-71, 77, 88–90, 97, 99, 102-104, 108, 110–113, 115–117, 119–121, 125–126, 129,–132, 134–136, 140–143, 145, 149, 158–160, 164–165, 180–182, 187–188, 198 235n, 236, 241, 294, 301, 318–319, 323, 326–327, 329–330, 333–335, 337, 339–341, 344, 379,379; Final/Zweckpassim Vektor 312–314, 346, 347n Voluntarismus 26, 29, 184–186, 215-216, 227, 337n, 375 Wille 29, 81, 99n, 122–139, 139, 141, 144–145, 147–148, 151, 153–159, 161, 172, 176, 184, 215, 220, 223,
410
Register 232, 241–243, 249–251, 253–254, 258, 308, 353, 371–372