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German Pages [743] Year 2014
Global Poetics Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zur Globalisierung
Band 1
Herausgegeben von Christian Moser und Kirsten Kramer
Christian Moser / Linda Simonis (Hg.)
Figuren des Globalen Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien
Mit 21 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0170-3 ISBN 978-3-8470-0170-6 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstu¨tzung der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und der Philosophischen Fakulta¨t der Universita¨t Bonn. x 2014, V&R unipress in Go¨ttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschu¨tzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fa¨llen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bu¨cher.de GmbH, Birkach Titelbild: x Adam Thompson, Untitled, 2006, Reclaimed globe, black pigment, 50 cm dia Gedruckt auf alterungsbesta¨ndigem Papier.
Inhalt
Christian Moser / Linda Simonis Einleitung: Das globale Imagina¨re . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Figuren des Globalen, Narrative der Totalisierung Christian Moser Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont
. . . . . . .
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Robert Stockhammer Welt oder Erde? Zwei Figuren des Globalen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Auer Pra¨figurationen des Planetarischen: Ernst Ju¨nger, Gayatri Spivak und die typologische Lektu¨re . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Achim Ho¨lter Totalita¨t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Kirsten Kramer Globalita¨t und Weltbezug in der franzo¨sischen Kulturanthropologie und der spanischen Erza¨hlliteratur der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . 105 Dominik Schreiber Der Klimawandel – Aufstieg eines globalen Narrativs . . . . . . . . . . . 129
Teil II: Rekonzeptualisierungen von Weltliteratur Erhard Schu¨ttpelz World Literature from the Perspective of longue dure´e . . . . . . . . . . . 141
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Inhalt
David Damrosch Plus c¸a change? Die Komparatistik im globalen Zeitalter
. . . . . . . . . 157
Dieter Lamping Die Welt der Weltliteratur. Denotationen und Konnotationen eines suggestiven Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Bernd Blaschke Fu¨r? eine? Welt? -! Literatur? auf Franzo¨sisch? Thesen und Fragen zum Manifest von Michel Le Bris und seinen 43 . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Joseph O’Neil Nomos oder Medium der Erde? Zur Geopoetik der Weltliteratur . . . . . 193
Teil III: Poetiken des Globalen David Damrosch Geopoetics: World Literature in the Global Mediascape . . . . . . . . . . 209 Frederike Felcht Eine globale Gegenwartshymne – Zur Poetologie von H. C. Andersens Det nye Aarhundredes Musa [Die Muse des neuen Jahrhunderts] (1861) . 231 Ulrich Ernst Eugen Gomringer und das Konzept einer Globalisierung der Poesie. Eine Re-Lektu¨re des Manifests vom vers zur konstellation . . . . . . . . . . . . 243 Beatrice Nickel Avantgarde-Lyrik und Universalsprache: Die Konkrete Poesie in Brasilien und Frankreich als globales Pha¨nomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
Teil IV: ‚Weltgenres‘ Karl Maurer Die Divina Commedia als Weltgedicht
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Joachim Harst Welttheater und Weltmacht. Christlicher Universalismus bei Gryphius und Caldero´n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Kristina Mendicino Break-Dance. (Ein Schritt von Homer und Rousseau zu Goethe) . . . . . 301
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Inhalt
Alexander Nebrig Die Welt als Lied. Der globale Anspruch von Herders Volksliedern . . . . 315 Martin Go¨tze Das Gedicht als a¨sthetische Rede. Zum Problem der Welthaltigkeit von Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Teil V: Fiktionen des Globalen: Zwischen Weltbezug und Welterzeugung Christine Ivanovic Weltgeschichte und Weltliteratur. Hannah Arendts „Welt“-Konzept im Kontext ihrer literarischen Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Barbara Ventarola Zwischen situationaler Repra¨sentation und Multiadressierung – Marcel Proust und Jorge Luis Borges als Paradigmen der Weltliterarizita¨t . . . . 353 Alice Stasˇkova´ Zum Weltbezug als Textbezug des modernen Romans (Hermann Broch – Georges Perec – Michal Ajvaz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Christian Sinn Bilokationen. Literarische und mathematische Verfahren der Welterzeugung in Thomas Pynchons Against the day . . . . . . . . . . . 381 Evi Zemanek Die generativen Vier Elemente: Zu einer Grundfigur der Welt- und Text-Scho¨pfung am Beispiel von Franz Josef Czernins elemente-Sonetten
401
Christiane Solte-Gresser Lebens-Welt-Verlust? Literarische Formen postmoderner Welterzeugung am Beispiel von Marlene Streeruwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Teil VI: Literarische Repra¨sentationen von Globalita¨t und Globalisierung Dolf Oehler Zur Dialektik der Globalisierung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
8
Inhalt
Nina Peter „The Right Places at the Right Times“. David Mitchells Ghostwritten als Roman u¨ber die Denkbarkeit von Globalita¨t . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Claudia Schmitt Die Welt – ein Mosaik? Episodenhaftes Erza¨hlen in Literatur und Film der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Anne-Rose Meyer Der Schriftsteller als Zeuge und Zuschauer. Die Beispiele Hans Christoph Buch und Nick McDonell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
Teil VII: Globalita¨t und (Inter-)Medialita¨t Arndt Niebisch Medienzusammenbru¨che und posthumanes Erza¨hlen in Jules Vernes Michel Strogoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Monika Schmitz-Emans Welt-Bilder, Bildstile, Schreibstile. Hybridkulturelle Bildwelten und ihre literarische Beschreibung bei Orhan Pamuk . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Kirsten von Hagen „Jeder ist u¨berall, niemand irgendwo“ – Weltwahrnehmung und -konstruktion bei Daniel Kehlmann (Ruhm, 2009) und Giulio Minghini (Fake, 2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Frauke Bolln Welt und Provinz in Text und Bild bei Dorothee Elmiger und Stefan Ettlinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
Teil VIII: Geographie – Kartographie – Geopoetik Angela Oster Globalita¨t und Globus. Technikfaszination und Kunsthandwerk der Globographie in der Fru¨hen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Dana Bo¨nisch Andere Karten. Videogeographie, Kartographie und Geopoetik . . . . . . 555
Inhalt
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Simon Harvey Twisted Logics: A Topological Turn in Counter-Cartography and Some Artistic Antecedents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
Teil IX: Weltwissen, Weltdiskurse, globale Zirkulation Ulrike Kruse Das Haus als Welt. Die geordnete Welt in der fru¨hneuzeitlichen ¨ konomikliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 O Andreas Beck Welthandelswege im Ma¨rchenwald – Johann Carl August Musa¨us’ Stumme Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Peter Goßens ‚Eisenbahnen und Dampfschiffe‘. Zur Rolle der technischen Fortbewegung im transnationalen Literaturdenken des fru¨hen 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Uwe Lindemann Madame Bovary und der moderne Hedonismus. Reflexionen zum Verha¨ltnis von Literatur, globalisierter Warenwelt und Konsumkultur im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Nicole Po¨ppel Weltausstellungen als Schreibsta¨tten des Globalen . . . . . . . . . . . . . 633 Simone Sauer-Kretschmer ¨ do¨n von Horva´ths Die Inszenierung von Welt und ihre Grenzen – O Alfons Kobler zu Besuch auf der Weltausstellung in Barcelona . . . . . . 645 Keyvan Sarkhosh Die Welt als Archiv – Stanley Kubricks Napoleon-Projekt . . . . . . . . . 657
Teil X: Verhandlungen kultureller Differenz im Spannungsfeld von Globalita¨t und Lokalita¨t Elke Bru¨ggen Belacaˆne, Feirefıˆz und die anderen. Zur Narrativierung von Kulturkontakten im Parzival Wolframs von Eschenbach . . . . . . . . . . 673
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Inhalt
Michael Bernsen Ge´rard de Nervals Begegnung mit dem Orient, ein Globalisierungsschub in der franzo¨sischen Literatur des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 693 Marc Maufort Forging Native Idioms: Canadian and Australasian Performances of Indigeneity in an Age of Globalization . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Christian Luckscheiter Topographien Peter Handkes zwischen Lokalita¨t und Globalita¨t Zu den Beitra¨gerinnen und Beitra¨gern
. . . . . 717
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Christian Moser / Linda Simonis
Einleitung: Das globale Imagina¨re
Am 16. Ma¨rz 2007 erschien in der Zeitung Le Monde ein von mehr als vierzig Autorinnen und Autoren unterzeichnetes Manifest, das einen Abgesang auf die Nationalliteratur traditionellen Zuschnitts anstimmt und die Existenz einer transnationalen franzo¨sischsprachigen „litte´rature-monde“ proklamiert.1 Diese zeichne sich durch die Hinwendung zur Welt in ihrer ganzen ra¨umlichen Extension und kulturellen Vielfalt aus; ihre Hauptvertreter entstammten nicht mehr der literarischen Metropole Paris, sondern der Peripherie, den ehemaligen Kolonialgebieten in Afrika, der Karibik und dem pazifischen Raum. Es fa¨llt auf, dass in dem Manifest nicht von einer „litte´rature mondiale“, sondern von einer „litte´rature-monde“ die Rede ist. Der Begriff ist offenkundig in Analogie zu Fernand Braudels Konzept der „e´conomie-monde“ gebildet.2 Die Verfasser des Manifests scheinen sich von herko¨mmlichen literarischen Weltkonzepten distanzieren zu wollen, nicht zuletzt von demjenigen der ‚Weltliteratur‘, weil diese – und sei es auf dem Wege der dialektischen Negation – auf die Kategorie der Nationalliteratur bezogen bleiben. Der Begriff der „litte´raturemonde“ suggeriert die Existenz eines intensivierten, unmittelbareren Weltbezugs. Unter den Bedingungen der o¨konomischen, informationstechnologischen, politischen und kulturellen Globalisierung gewinnt der Weltbezug der Literatur demnach eine neue Qualita¨t. Literatur, die unter diesen Bedingungen erzeugt wird, steht prima¨r in einem globalen, nicht in einem nationalen Bezugsfeld. Wie la¨sst sich der gesteigerte Weltbezug, den der Begriff der „litte´raturemonde“ evoziert, genauer fassen? Eine der gela¨ufigsten Definitionen der Glo1 Das Manifest ist online abrufbar unter : http://www.lemonde.fr/livres/article/2007/03/15/desecrivains-plaident-pour-un-roman-en-francais-ouvert-sur-le-monde_883572_3260.html [12. 06. 2013]. Vgl. auch den auf das Manifest aufbauenden Sammelband von Le Bris / Rouaud 2007. – Zu den Hintergru¨nden vgl. den Beitrag von Bernd Blaschke im vorliegenden Band. 2 Im Unterschied zur „e´conomie mondiale“, welche rein additiv die Gesamtheit der o¨konomischen Aktivita¨ten auf der Erde bezeichnet, versteht Braudel unter der „e´conomie-monde“ den Welthandel im Sinne eines zusammenha¨ngenden Systems. Vgl. dazu auch den Beitrag von Erhard Schu¨ttpelz im vorliegenden Band.
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Christian Moser / Linda Simonis
balisierung versteht darunter nicht bloß einen Prozess der weltumspannenden Vernetzung, der Verdichtung zeitlicher und ra¨umlicher Verha¨ltnisse und der globalen Integration. Globalisierung beinhaltet daru¨ber hinaus die Entstehung eines Bewusstseins globaler Interkonnektivita¨t, welches das Handeln der Menschen begleitet und beeinflusst: „Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole.“3 Fu¨r den Bereich der Literatur bedeutet dies zum einen, dass Prozesse des literarischen Austauschs eine wahrhaft weltumspannende Dimension ausgebildet haben, die nicht mehr auf Europa hin zentriert ist. Sie bedeutet zum anderen, dass die Produktion von Texten und anderen kulturellen Artefakten sich immer vor einem Welthorizont vollzieht.4 Der Akt der kulturellen Hervorbringung impliziert ein stets mitlaufendes Bewusstsein seiner Einbindung in globale Zusammenha¨nge. Global dimensionierte Austauschprozesse wirken somit auf die Verfasstheit der Literatur zuru¨ck, schlagen sich in der Wahl der Sprache(n), der Themen und Genres, der formalen Struktur der Texte und der narrativen Verfahren nieder. Neben der institutionellen Globalisierung der Literatur, die sich in Gestalt neuer medialer Distributionstechnologien (Internet), der Entstehung transnationaler Verlagsha¨user und globaler Vermarktungsstrategien manifestiert, ist mithin eine immanente Globalisierung der Literatur zu verzeichnen.5 Der Weltbezug, den die Literatur im Zuge der Globalisierung gewinnt, unterzieht diese folglich einer nachhaltigen Vera¨nderung. Offenbar sind sich die Verfasser des oben genannten Manifests der Tragweite dieser Transformation jedoch nicht ganz bewusst. Sie verbinden ihre Forderung nach mehr ‚Welthaltigkeit‘ der Literatur mit einer polemischen Attacke gegen den nouveau roman und den Poststrukturalismus. Ihnen wird vorgeworfen, ein autistisches Literaturkonzept zu vertreten, das der Herstellung geschlossener fiktiver Welten das Wort redet, anstatt sich der ‚wirklichen‘ Welt in ihrer kulturellen Vielfalt zuzuwenden. Doch eine solche Kontrastierung von fiktiver und wirklicher Welt fu¨hrt in die Irre. Indem Literatur fiktive Welten entwirft, verfehlt sie nicht etwa ihren Weltbezug, sie stellt ihn vielmehr allererst her. Die Bedeutung, die Literatur fu¨r Globalisierungsprozesse gewinnen kann, beruht gerade auf ihrer Fa¨higkeit, fiktive Welten zu produzieren. Wenn Globalisierung ein Bewusstsein von der Einheit der Welt beinhaltet, dann ist sie auf die Existenz von Bildern und Narrativen angewiesen, die diese Einheit vorstellig machen. Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zuga¨nglich – es bedarf imagina¨rer (literarischer und ku¨nstlerischer) Weltentwu¨rfe, um dieses zu veranschaulichen. Auch das Projekt 3 Robertson 1992, S. 8. 4 Zum Folgenden vgl. Moser 2013. 5 Pizer 2000, S. 213.
Einleitung: Das globale Imagina¨re
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einer litte´rature-monde kann somit, nimmt man die in diesem Begriff postulierte Verknu¨pfung von ‚litte´rature‘ und ‚monde‘ ernst, auf die literarische, fiktionale Dimension der Texte letztlich nicht verzichten. Im Gegenteil, ihr wichtiges kulturkritisches Anliegen, u¨berkommene hegemoniale Differenzen wie die zwischen ‚litte´rature franc¸aise‘ und ‚litte´rature francophone‘ zu u¨berwinden, steht nicht in Opposition zu den Mitteln der literarischen Fiktion, sondern la¨sst sich vielmehr gerade im Rekurs auf letztere artikulieren und ins Werk zu setzen. Wir schlagen – in Analogie zu den Begriffen des ‚politischen Imagina¨ren‘ und des ‚kulturellen Imagina¨ren‘ – das Konzept des ‚globalen Imagina¨ren‘ vor, um diese wichtige Funktion von Literatur und Kunst fu¨r Globalisierungsprozesse zu erfassen.6 Verweist das politische Imagina¨re auf den durch die soziale Einbildungskraft produzierten Vorrat an Bildern, Zeremonien und Narrativen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft sich eine Vorstellung ihrer Einheit vorspiegelt,7 so bezeichnet das globale Imagina¨re den Vorrat an Bildern, Narrativen, Tropen und Figuren, die den Menschen eine Vorstellung von der (geographischen, politischen, kulturellen, o¨konomischen etc.) Einheit der Welt vermitteln. Das globale Imagina¨re stellt bestimmte Tropen und Figuren des Globalen (etwa: die GlobusFigur) bereit,8 aber auch narrative Muster, Formen, Themen und Motive, mit deren Hilfe sich fiktionale Welten konstruieren lassen. Der Weltbezug der Literatur besitzt folglich einen dezidiert konstruktiven und performativen Charakter : Literatur setzt sich nicht bloß mit einer gegebenen Welt auseinander, sie ist daru¨ber hinaus an der Herstellung von Welt(en) beteiligt. Insofern der Begriff der Welt auf eine geographische, kulturelle, politische und o¨konomische Totalita¨t verweist, die aufgrund ihrer gesteigerten Komplexita¨t der Anschaulichkeit entbehrt, ist er auf die Darstellungs- und Konstruktionsarbeit der Literatur (und anderer ku¨nstlerischer Medien) angewiesen, um u¨berhaupt vorstellbar zu sein. Indem die Literatur fiktive Welten entwirft, wirkt sie maßgeblich an der Konzeption von Globalita¨t in den verschiedensten diskursiven Bereichen mit. Literarischer Weltbezug und literarische Welterzeugung stehen in einer engen Wechselbeziehung. Der Weltbezug der Literatur ist mithin nicht bloß ein Effekt der Globalisierung, er ist vielmehr ein Medium der globalen Integration, der den Globalisierungsprozess aktiv befo¨rdert. Und dies gilt nicht allein fu¨r die gegenwa¨rtige 6 Zum Konzept des politischen Imagina¨ren vgl. Hebekus / Matala de Mazza 2003; zum Begriff des kulturellen Imagina¨ren s. Fluck 1997. Vgl. auch das von Annette Simonis und Carsten Rohde organisierte interdisziplina¨re Colloquium zum Thema „Das kulturelle Imagina¨re“ (Mu¨nster, 15.–17. Ma¨rz 2013). Die Auswirkungen der Globalisierung auf das kulturelle Imagina¨re untersucht Moraru 2011. 7 Hebekus / Matala de Mazza 2003, S. 10 und 15. 8 Vgl. dazu die Beitra¨ge von Christian Moser, Robert Stockhammer und Angela Oster im vorliegenden Band.
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Phase der Globalisierung. Das globale Imagina¨re hat – wie die Globalisierung selbst – eine lange Geschichte. So unterscheidet Peter Sloterdijk drei Großphasen der Globalisierung – die metaphysische Globalisierung (Antike, Mittelalter), die terrestrische Globalisierung, die er auf den Zeitraum zwischen 1492 und 1945 datiert, und die (unsere Gegenwart pra¨gende) elektronische Globalisierung.9 Erhard Schu¨ttpelz zufolge hat die Geschichte der Menschheit, aus der Perspektive der „longue dure´e“ betrachtet, eine gro¨ßere Zahl von „Globalisierungsschu¨ben“ aufzuweisen, deren erster in der von Afrika ausgehenden Ausbreitung des Menschengeschlechts u¨ber den Globus zu sehen ist.10 Jeder dieser Globalisierungsschu¨be hat dem globalen Imagina¨ren eine spezifische Erbschaft von Tropen und Figuren, Formen und Narrativen hinterlassen. Ihnen korrelierend finden sich in der Literaturgeschichte immer wieder historische Phasen und Bewegungen, aber auch Gattungen und Darstellungsformen, die sich in besonderer Weise der Herstellung eines totalisierenden Weltbezugs verschrieben haben: vom weltumspannenden Anspruch des antiken Epos bis zu den Universalisierungstendenzen des modernen enzyklopa¨dischen Romans, vom barocken Welttheater bis hin zur Programmatik der romantischen Universalpoesie, von den mythischen Kosmogonien bis hin zu den Entgrenzungsszenarien der postkolonialen Literatur. Die verschiedenen Weltbegriffe und Weltmodelle, die dabei entwickelt werden, bedu¨rfen einer eingehenden systematischen wie auch historischen Analyse. Sie mu¨ssen im Zusammenhang mit den o¨konomischen, sozialen und kulturellen Globalisierungsprozessen gesehen werden, an denen sie jeweils partizipieren. Das Ziel des vorliegenden Bandes besteht darin, die Bestandteile des globalen Imagina¨ren sowie die verschiedenen Modi der literarischen Weltdarstellung und Weltherstellung in ihrer historischen Bandbreite zu untersuchen. Spezifisch literarische Formen des Weltbezugs sollen dabei mit der Konstruktion globaler Zusammenha¨nge in anderen ku¨nstlerischen Medien korreliert werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Wechselwirkungen, die zwischen literarisch-ku¨nstlerischen Weltkonstruktionen und den sozialen, o¨konomischen und politischen Globalisierungsprozessen existieren. Wenn dabei ein gewisser Schwerpunkt auf die Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts gelegt wird, so erkla¨rt sich das aus der Tatsache, dass sich an ihr besonders gut beobachten la¨sst, wie die vielschichtigen Prozesse der o¨konomischen, politischen, sozialen und medialen Globalisierung auf die Literatur zuru¨ckwirken und ihre inhaltliche und strukturelle Verfasstheit beeinflussen. Literatur ist das Bewusstsein des globalen Zusammenhangs eingeschrieben,
9 Sloterdijk 2005. 10 Schu¨ttpelz 2009; vgl. auch seinen Beitrag im vorliegenden Band.
Einleitung: Das globale Imagina¨re
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dem sie jeweils angeho¨rt; sie ist ein Reflexionsmedium der Globalisierung.11 Die Reflexion kann implizit erfolgen und die Form einer Anpassung an die Bedingungen des literarischen Weltmarkts annehmen: In diesem Fall ist sie von vorneherein auf globale Versta¨ndlichkeit hin angelegt und besitzt eine eingebaute „translatability“, die eine mo¨glichst weite Verbreitung ermo¨glichen soll.12 Sie kann aber auch explizit sein und sich kritisch oder affirmativ mit den Folgen der Globalisierung auseinandersetzen. Das geschieht zum einen auf der inhaltlichen Ebene. Literatur erschließt sich neue Themen, die im Zuge der Glo¨ kologie und der balisierung virulent werden: die Probleme der Migration, der O ¨ konomie und der globalen Finanzkrise, des globalen Klimavera¨nderung, der O globalen Terrors und des Konflikts der Kulturen, der Konstitution individueller und kultureller Identita¨ten. Doch mit dem Aufgreifen neuer Inhalte ist es nicht getan; sie stellen die Textproduzenten zugleich vor die Herausforderung, innovative Formen und literarische Techniken zu entwickeln, um die mit den Themen verbundene Ganzheit und Vielheit des Globalen zur Darstellung zu bringen. Die Literatur entwickelt eine Poetik des Globalen.13 Sie kann dabei auf etablierte Formen zuru¨ckgreifen, die seit jeher der Darstellung von Totalita¨t verpflichtet sind, etwa auf Epos und Roman. Sie kann aber auch neue Formen auspra¨gen, die ha¨ufig aus der hybriden Verquickung von Gattungskonventionen entstehen: Mischformen aus Reisebericht und Roman, aus fremdkultureller Beschreibung und Selbstdarstellung (Autoethnographie), aus Lyrik und Eth¨ hnliches gilt fu¨r die nographie (Ethnopoesie), interaktive Formen wie das Blog. A narrativen Verfahren, die in den Texten zur Anwendung gelangen. Auf der einen Seite werden zyklische und enzyklopa¨dische Schreibweisen reaktiviert, die sich an der Globus-Figur orientieren. Auf der anderen Seite versucht man, der Netzwerk-Struktur des Globalen durch Techniken episodischen und seriellen Erza¨hlens oder durch hypertextuelle Verfahren Rechnung zu tragen.14 Beides la¨sst sich miteinander kombinieren, wie sich am Beispiel von David Mitchells Roman Ghostwritten (1999) zeigen la¨sst:15 Mitchell vollzieht darin eine narrative Umrundung der Erde, wobei die an unterschiedlichen Schaupla¨tzen spielenden Episoden durch kontingente Umsta¨nde miteinander verlinkt sind. Das globale Imagina¨re, die immanente Globalisierung der Literatur und die 11 Mit der Literatur als Reflexionsmedium der Globalisierung bescha¨ftigt sich das DFG-Graduiertenkolleg Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung an der LudwigMaximilians-Universita¨t Mu¨nchen. Es sieht in der Literatur „ein noch wenig konsultiertes Archiv fu¨r die Reflexion von Globalisierungsprozessen“. Vgl. http://www.grk-globalisierung.uni-muenchen.de/programm/forschung/index.html [10. 02. 2014]. 12 Apter 2001, S. 1 f. 13 Reichardt 2008, S. 27. 14 Zum episodischen Erza¨hlen vgl. den Beitrag von Claudia Schmitt im vorliegenden Band. 15 Vgl. dazu den Beitrag von Nina Peter im vorliegenden Band.
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sich daraus entwickelnde Poetik des Globalen sind bislang nur in Ansa¨tzen erforscht. Hier zeichnet sich ein neues wichtiges Arbeitsfeld der Komparatistik ab. Der vorliegende Band, der die Beitra¨ge der vom 15. bis 18. Juni 2011 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universita¨t Bonn veranstalteten XV. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft versammelt, will dazu Anreize bieten. Er versucht die Vielschichtigkeit der oben skizzierten Problematik der „Figuren des Globalen“ in zehn thematischen Schwerpunkten zu erschließen. Die Beitra¨ge des ersten Themenkomplexes „Figuren des Globalen, Narrative der Totalisierung“ widmen sich der Analyse von Konzepten, Bildern und Topoi, die das Ganze der Welt, die Einheit oder Totalita¨t des Globalen, zu erfassen versuchen. In diesem Kontext stehen einerseits begriffsgeschichtliche und -systematische Untersuchungen, die ero¨rtern, welche (unterschiedlichen) Bedeutungsaspekte sich mit den genannten Termen verbinden und welche semantischen Verschiebungen und Vera¨nderungen sie im Zuge ihrer ju¨ngeren Entwicklung durchlaufen. Eine der wichtigsten Denkfiguren, unter denen man in der Neuzeit und Moderne das Globale und damit die Einheit von Welt zu begreifen versucht, ist die geometrische Figur der Kugel (als Weltkugel), die von Galilei bis Sloterdijk die neuzeitliche Rede u¨ber den Weltzusammenhang bestimmt.16 Die Plausibilita¨t und der kommunikative Erfolg dieser Figur verdanken sich unterdessen weniger deren (fu¨r die natu¨rliche Wahrnehmung gar nicht u¨berpru¨fbaren) mimetischen Angemessenheit als vielmehr einer bildlichen Suggestivkraft, die nicht zuletzt an die seit der Antike mit dem Emblem der Kugel verbundenen Attribute des Umfassenden und Vollkommenen anknu¨pft. Zu den Grundkonzepten, die das Globale zu denken bzw. zu vergegenwa¨rtigen versuchen, geho¨rt u¨berdies das Konzept der Totalita¨t, das in der philosophischen Tradition gleichfalls mit den Vorstellungen des Umfassenden und Vollkommenen aufs engste verknu¨pft ist. Obgleich dieser Begriff im Laufe seiner Geschichte zu wiederholtem Male in seiner aporetischen Disposition entlarvt, problematisiert und mit dem Verdacht des Totalita¨ren belegt wurde, ist er ¨ sthetik des Globalen unverzichtbarer Begriff. Selbst gleichwohl ein fu¨r eine A seinen Gegenbegriffen – denen des Unvollsta¨ndigen, des Bruchstu¨ckhaften, des Fragments –, auf die das Konzept der Totalita¨t unweigerlich verwiesen ist, scheint noch ein unterschwelliges Begehren nach dem Erfassen des Ganzen und der Erfahrung der Fu¨lle anzuhaften. Die totalisierende Komponente des Denkens und Redens u¨ber das Globale weist gleichsam von Haus aus eine Na¨he zu bestimmten politischen Semantiken auf, denen es um die Erfassung, Kontrolle oder Beherrschung des globalen Territoriums vom Blickpunkt eines privile16 Die Anfa¨nge des Globus-Denkens liegen in der griechischen Antike. Zur langen Geschichte der Globus-Vorstellungen und -imaginationen vgl. Cosgrove 2001.
Einleitung: Das globale Imagina¨re
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gierten Beobachterstandpunkts aus zu tun ist. Zu diesem politischem Diskursfeld des Globalen geho¨rt insbesondere der Begriff des Planetarischen, der in der Weimarer Republik von Ernst Ju¨nger und Carl Schmitt vorgeschlagen wurde und der in der neueren postkolonialen Literaturwissenschaft einen bemerkenswerten Nachhall gefunden hat. Das Denken des Globalen bringt indes nicht nur eine spezifische Topik und Rhetorik hervor; es evoziert nicht zuletzt auch Projekte des grand re´cit, d. h. Versuche, eine welthistorische Vision des Globalen narrativ zu entfalten und Geschichten u¨ber den Gang der Welt im Ganzen zu erza¨hlen. Ein zweiter Themenschwerpunkt des vorliegenden Bandes gilt der Diskussion u¨ber das Konzept Weltliteratur, das in aktuellen literaturwissenschaftlichen Debatten eine bemerkenswerte Konjunktur verzeichnet und eine Reihe von interessanten Wiederaufnahmen und Rekonzeptualisierungen erfahren hat. Neben dem klassischen Erkla¨rungsansatz von Weltliteratur bzw. Weltgesellschaft u¨ber ein Paradigma neuzeitlicher Differenzierung ist hier als mo¨gliche Alternative das Konzept einer in der longue dure´e sich entfaltenden Weltliteratur in Betracht zu ziehen, deren Anfa¨nge dementsprechend in die fru¨hen Hoch¨ gyptens zuru¨ckreichen. Erga¨nzend zu dieser kulturen Mesopotamiens und A genealogischen Perspektive wirft das Konzept Weltliteratur u¨berdies die Frage nach dem Fortleben und der Transformation weltliterarischer Mythen und Narrative in der gegenwa¨rtigen Popula¨rkultur (Pop Songs, Hip Hop) und in den neuen Medien der digitalen Kommunikation (Computer- und Videospiele, Internet) auf. Neben diesen Neuerungen und Reakzentuierungen, die der aktuelle Diskurs u¨ber Weltliteratur in den Blick ru¨ckt, sind jedoch auch Momente von Kontinuita¨t des alten und der neuen Weltliteraturkonzepte zu bemerken, wie z. B. die ausgepra¨gte ra¨umliche Dimension, die die Goethesche Rede u¨ber Weltliteratur und andere globale Pha¨nomene mit den gegenwa¨rtigen Debatten verbindet. Die Raumdimension, die (zumindest in den meisten Ansa¨tzen) dem Weltliteraturkonzept inha¨rent zu sein scheint, verweist zugleich darauf, dass letzterem stets auch eine (latente) politische bzw. geopolitische Problematik innewohnt. Ob diese im Rahmen der vo¨lkerrechtlichen bzw. philosophischen Tradition eines transnationalen ‚Nomos‘ oder mit Luhmann im Rahmen eines Konzepts von Weltgesellschaft als Medium globaler Kommunikation (oder eines noch anderen Ansatzes) zu ero¨rtern sei, muss letztlich der Entscheidung der jeweiligen Weltliteraturforscher(innen) u¨berlassen bleiben. Schon hier wird deutlich, dass der Weltliteraturdiskurs in besonderer Weise disponiert ist, die in literaturwissenschaftlichen Kontexten auch sonst gela¨ufige Pluralita¨t methodischer Zuga¨nge und Standpunkte widerzuspiegeln. In dem Maße, in dem die literarische Rede u¨ber die Welt und die transnationalen Verflechtungen ihrer Teile eine eigene Topik des Globalen erzeugt, bringt sie auch spezifische Schreibweisen hervor, die im dritten thematischen Teil des vorliegenden Bandes unter dem Stichwort „Poetiken des Globalen“
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ero¨rtert werden. Jene neuen Poetiken ko¨nnen dabei ebenso auf traditionelle Schreibweisen und Stilvorlagen wie z. B. die der hymnischen Poesie und des ma¨rchenhaften oder biographischen Erza¨hlens zuru¨ckgreifen wie auch neue, experimentelle Schreibformen erproben. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei spielerischen und reflexiven Techniken zu, die die Formen der Schrift thematisieren und zum Medium einer trans- bzw. metasprachlichen Universalpoesie erheben. Das Projekt der literarischen Beschreibung und Erzeugung von Welt wirft daru¨ber hinaus die Frage auf, welche Gattungen und Textsorten geeignet sind, eine solche poiesis des Globalen zu leisten. Diesem Gesichtspunkt der „Weltgenres“ widmet sich der vierte Themenbereich des Bandes. Als aussichtsreiche Kandidaten fu¨r den Status des ‚Weltgenres’ fallen hier zuna¨chst die großen Gattungen des Epos und des Dramas in den Blick, die – etwa in Gestalt der Danteschen Commedia und des barocken Welttheaters – die Totalita¨t der Welt bzw. des Kosmos nicht nur darzustellen beanspruchen, sondern auch die jene universale Ganzheit strukturierenden Leitunterscheidungen von Heil und Verdammnis, Recht und Unrecht, ‚Heiden‘ und Christen geltend machen. Neben den literarischen Großformen bieten sich indessen auch kleinere Genres wie Lyrik und Lied als Mittel poetischer Weltformung und Tra¨ger eines globalen, transnationalen Dichtungskonzepts an. Auch performative Kunstformen wie Feier und Tanz ko¨nnen eine einheitsstiftende, totalisierende Valenz gewinnen, ¨ ußerungsweisen der o¨ffentlich-politischen Spha¨re, die Einheit wenn sie, als A und den Zusammenhalt der gesellschaftlichen Welt des Staates bzw. der Republik inszenieren. Ein weiterer Themenkomplex, dem der fu¨nfte Teilbereich des Bandes gilt, ergibt sich aus der Beobachtung, dass literarische Beschreibungen und Konstruktionen von Welt immer auch Fiktionen, d. h. vorgestellte oder imagina¨re Entwu¨rfe von Welt sind. Insofern bewegen sich literarische Weltbeschreibungen stets in einem Spannungsfeld zwischen der referentiellen Bezugnahme auf die wahrnehmbare, gegebene Welt und der imaginativen (Re-)Inventio von Bildern der globalen bzw. globalisierten Welt im Medium der Literatur. Die in dieser Sektion untersuchten literarischen und philosophischen Texte entwickeln unterschiedliche Weisen, mit jenem Spannungsverha¨ltnis umzugehen. So begreift ¨ ußerungsetwa Hannah Arendt fiktionale Literatur per se als exemplarische A form von Welt, wobei sie Welt als umfassende Spha¨re des Geschichtlichen, als transnationalen Raum politischen Handelns definiert. Andere Autoren, wie etwa Marcel Proust und Jorge Luis Borges, erarbeiten je eigene Paradigmen der fiktionalen Modellierung von Welt, die sich in je unterschiedlichen Erza¨hlstilen und Poetiken manifestieren. Mitunter fungiert die literarische Darstellung allta¨glicher Lebenswelt als ein Mikrokosmos, in dem die Welt im Großen, die Zusammenha¨nge des Globalen, auf subtile Weise erfahrbar werden. In anderen
Einleitung: Das globale Imagina¨re
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Fa¨llen sind es hingegen archaisch anmutende mythische Elemente, wie etwa Rekurse auf Genesis-Mythen und Kosmogonien, in denen das Postulat eines gesteigerten Weltbezugs bzw. Weltgehalts zum Ausdruck kommt. Das Projekt, Welt im Modus der Fiktion zu entwerfen und zu beschreiben, impliziert zudem die Aufgabe, deren Zusammenha¨nge literarisch darzustellen und zu entfalten. Diesem Aspekt gilt die sechste thematische Sektion des Bandes, „Literarische Repra¨sentationen von Globalita¨t und Globalisierung“. Eine Herausforderung fu¨r die literarische Darstellung von Globalita¨t scheint dabei insbesondere darin zu liegen, den u¨bergreifenden Nexus des Ganzen, das einheitsstiftende Band des Globalen durch die Erfahrung bzw. literarische Nachzeichnung des Partikularen hindurch aufscheinen zu lassen. Wie die Beitra¨ge der Sektion zeigen, erproben die literarischen Texte dabei Konzepte, die es erlauben, die Opposita des Partikularen und des Ganzen als in sich widerspru¨chliche Einheit zusammenzudenken, wie z. B. die Figur der Dialektik, das Bild des Mosaiks oder das Modell des Netzwerks. Die Wahrnehmung von Welt und die Erzeugung des Globalen sind an Medien gebunden. Diese mediale Verfasstheit bzw. Vermitteltheit der Erfahrung von Globalita¨t und Globalisierungsprozessen wird, wie die Beitra¨ge des siebten Themenschwerpunkts unseres Bandes zeigen, auch in der Literatur vielfach reflektiert. Sie wird, wie die Romane Jules Vernes illustrieren, zum einen dort beobachtbar, wo (herko¨mmliche) Medien, in Anbetracht der neuen raumzeitlichen Anforderungen, an eine Grenze oder einen Extrempunkt stoßen, an denen sie scheitern oder kollabieren. Der konstitutive mediale Bezug a¨ußert sich zum anderen indes auch auf der Ebene der a¨sthetischen Darstellung des Globalen, na¨mlich in dem Maße, in dem Literatur auf andere, insbesondere visuelle Medien zuru¨ckgreift, um Vorstellungen und Modelle von Welt zu entwerfen. Die hybride Verbindung von Bild und Text sowie die Hervorkehrung von Bildlichkeit innerhalb der sprachlichen Darstellung oder der Schrift bezeichnen dabei bevorzugte Verfahrensweisen, durch die die Texte Pha¨nomene des Globalen zu evozieren suchen. Hier geht es unterdessen weniger um die bloße Suggestion von unmittelbarer Evidenz; vielmehr wird das Bild bzw. das Visuelle oft selbst thematisiert und als Mittel der Wahrnehmung und Erzeugung von Globalita¨t ausgestellt. Unter den topischen Figuren aus dem Arsenal der Darstellungsweisen des Globalen verdient das Modell der Karte besondere Aufmerksamkeit. Diese Leitfunktion der Kartographie in der Konzeptualisierung, Aufzeichnung und a¨sthetischen Repra¨sentation des Weltganzen zu erforschen, ist Anliegen des achten Teilbereichs des Bandes („Geographie – Kartographie – Geopoetik“). Diente die Karte seit dem Altertum zuna¨chst als Hilfsmittel der Erkundung und Erfassung spezifischer geographischer Ra¨ume, la¨dt sie u¨berdies schon bald dazu ein, die gesamte, bekannte wie unbekannte Welt in diesem Modus sichtbar zu
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machen. Die Karte wird so zum Stimulans und Vehikel des Entwurfs eines imaginierten Raums,17 eines globalen Imagina¨ren, das sich in den technischen und a¨sthetischen Darstellungspraktiken von Landkarten und Weltkugeln und den an diese anschließenden philosophischen, geologischen und astronomischen Texten ebenso manifestiert wie in kartographisch inspirierten ku¨nstlerischen Artefakten und Filmen der Gegenwart. Die neunte Sektion des Bandes („Weltwissen, Weltdiskurse, globale Zirkulation“) tra¨gt dem Sachverhalt Rechnung, dass der Prozess der Globalisierung einerseits auf kommunikativer, medialer, o¨konomischer und verkehrstechnischer Ebene neue Formen des globalen Austauschs und der weltweiten Kommunikation hervorbringt, andererseits – nicht zuletzt in der Literatur und Kunst – eine Reflexion auf diese Vorga¨nge hervortreibt. Die Wahrnehmung oder Vorstellung von Globalita¨t impliziert mit anderen Worten auch das Projekt eines Wissens von der Welt, das, teils im Rekurs auf alteuropa¨ische Modelle und historische Erfahrungen, teils im Erproben neuer epistemischer Muster und Artikulationsformen zu konstruieren und zu entfalten, aufzuzeichnen und zu archivieren ist. Der zehnte und letzte Schwerpunktbereich des Bandes („Verhandlungen kultureller Differenz im Spannungsfeld von Globalita¨t und Lokalita¨t“) gilt der Beobachtung, dass sich Globalita¨t und Globalisierung nicht in Entwu¨rfen von Einheit und Ganzheit, in Prozessen der Verbindung und weltweiten Vernetzung erscho¨pfen. Das Konzept des Globalen fu¨hrt vielmehr auf seiner Kehrseite immer auch Momente der Differenz mit sich. Dies gilt bereits fu¨r a¨ltere, historische Globalisierungsphasen und Globalita¨tskonzepte von der Antike bis zur Fru¨hen Neuzeit. Der Versuch, das Ganze der Welt zu erkennen und zu erschließen, setzt zugleich eine versta¨rkte Aufmerksamkeit und Reflexion auf regionale und kulturelle Unterschiede in Gang, die sich begriffsgeschichtlich im Aufkommen oppositiver Begriffspaare wie Griechen / Barbaren, Christen / Heiden, Okzident / Orient etc. niederschlagen. Im Blick auf ju¨ngere, aktuelle Globalisierungsprozesse haben soziologische Studien gezeigt, dass die Entstehung eines weltumspannenden kommunikativen Netzwerks und, damit verbunden, die Genese eines umfassenden Zusammenhangs des Sozialen im Modus einer ‚Weltgesellschaft‘ soziale Exklusionsmechanismen wie regionale Differenzen nicht aufhebt oder abmildert, sondern vielmehr zum Teil sogar versta¨rkt.18 Von daher besteht gerade in der Gegenwart ein versta¨rkter Bedarf des Nachdenkens und Verhandelns u¨ber solche Spannungen und Differenzen, ein Bedarf, fu¨r den nicht zuletzt Literatur, Kunst und kulturelle Medien geeignete Darstellungs- und Reflexionsmittel bereitstellen. 17 Vgl. Du¨nne 2011 sowie Lestringant 2012. 18 Vgl. Stichweh 2001, S. 31 – 47
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Die Tagung „Figuren des Globalen“ und der vorliegende Sammelband wa¨ren kaum zustande gekommen ohne die Unterstu¨tzung mehrerer Institutionen, die das Projekt gefo¨rdert haben. Unser Dank gilt zuna¨chst der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Tagung durch einen großzu¨gigen Zuschuss unterstu¨tzt hat. Daru¨ber hinaus danken wir der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL), die den kommunikativen Rahmen der Tagung bereitgestellt und aus deren Mitgliederkreis zahlreiche Beitra¨ge hervorgegangen sind, sowie der Philosophischen Fakulta¨t der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universita¨t Bonn, die die Veranstaltung finanziell und organisatorisch unterstu¨tzt und zudem einen Druckkostenzuschuss gewa¨hrt hat. Dank gebu¨hrt schließlich Daniel Bleeser, Dr. Susanne Elpers, Stefanie Seidel, Ramona Schermer und Daniel Warwel fu¨r die tatkra¨ftige Hilfe bei der Redaktion der Beitra¨ge und der Erstellung der Druckvorlage.
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Teil I: Figuren des Globalen, Narrative der Totalisierung
Christian Moser
Figuren des Globalen. Von der Weltkugel zum Welthorizont
1. Der Titel des vorliegenden Bandes – Figuren des Globalen – verweist auf die figurale Dimension, die der literarischen, aber auch der wissenschaftlichen und politischen Rede u¨ber die Welt zu eigen ist. Es gibt eine spezifische Rhetorik der Globalita¨t, die in unterschiedlichen diskursiven Zusammenha¨ngen ihre suggestive und persuasive Kraft entfaltet. In den Diskursen der Globalisierung tauchen bestimmte Denkfiguren, Bilder und Metaphern immer wieder auf. Um die Welt als Ganzheit vorstellbar zu machen, ist es offenbar notwendig, auf bestimmte Tropen der Globalita¨t zu rekurrieren. Diese Welt-Rhetorik verweist nicht bloß auf eine gegebene Welt, sie ist vielmehr in gewissem Sinne fu¨r den Gegenstand, auf den sie sich bezieht, konstitutiv. Sie ist ein Instrument der Welterzeugung. Es ist nach der Herkunft, der Funktion, dem literarischku¨nstlerischen wie auch dem wissensbildenden Potential derartiger Figuren zu fragen. Inwiefern steuern sie das Versta¨ndnis von Globalisierung? Welche historischen und kulturellen Varieta¨ten solcher Welt-Rhetoriken lassen sich ermitteln? Die master trope der Welt-Diskurse ist der Globus selbst. Vom Nu¨rnberger Behaim-Globus bis hin zu den NASA-Erdphotogrammen: Der terrestrische Globus, so argumentiert etwa Peter Sloterdijk, ist „die Leit-Ikone der neuzeitlichen Weltanschauung“.1 Der Globus fungiert als Bildformel, die den Prozess der Globalisierung und sein Ergebnis, den vollendeten Zustand der Globalita¨t, zur Anschauung bringt. Angelagert an diese Formel finden sich supplementa¨re 1 Sloterdijk 2005, S. 38. – Auch Honold (2010, S. 1; Hervorhebung im Original) attestiert „der Globalisierungsfigur des Globus“ einen „Modell-Charakter“. Im Globus und der „mit ihm evozierte[n] Bildlichkeit“, die sich seiner Ansicht nach vor allem „in Denkfiguren wie der Enzyklopa¨die (dem geschlossenen Kreis des Weltwissens) und der Circumnavigation“ manifestiert, erkennt er ein „genuin a¨sthetisches Paradigma der Wissenspoetik“ (ebd., S. 1, 5). Zur Geschichte der Globusvorstellungen und -imaginationen seit der Antike vgl. die ho¨chst ¨ bersicht von Denis Cosgrove: Cosgrove 2001. sachkundige und informative U
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Bildlichkeiten, die der Rede u¨ber die Welt Konsistenz verleihen – Bewegungsbilder des Kreisens und der Drehung vor allem, dasjenige der Erdumrundung beispielsweise oder dasjenige der Zirkulation, des globalen Kreislaufs von Menschen, Informationen und Gu¨tern. Die Bildlichkeit des Kreislaufes la¨sst sich direkt an die Vorstellung der Globalita¨t (Kugelform des Globus) anschließen, zugleich ist sie dazu geeignet, verschiedene Diskurse, Medien und gesell¨ konomie, elektronische Kommunikation, Politik) mitschaftliche Bereiche (O einander zu verbinden. Das gilt auch fu¨r die Metapher des Netzwerks, die oft mit derjenigen des Kreislaufs verknu¨pft wird – etwa wenn davon die Rede ist, dass Informationen in globalen Netzwerken des Wissens zirkulieren.2 Peter Sloterdijk unternimmt in seinem monumentalen Spha¨ren-Werk den Versuch, das Kugel-Motiv und die daran gekoppelte Bildlichkeit des Kreisens durch die abendla¨ndische Historie zu verfolgen.3 Er erza¨hlt die Geschichte der Globalisierung am Leitfaden der Kugel-Metaphorik und unterscheidet dabei drei Phasen: Eine erste Phase, die er als metaphysische Globalisierung bezeichnet, beinhaltet die Rationalisierung der Weltstruktur durch die antiken Kosmologien, die die Gesamtheit des Seienden in spha¨rischer Gestalt konstruieren. Eine zweite Phase, die Sloterdijk als terrestrische Globalisierung charakterisiert, wird durch die christliche Seefahrt und den europa¨ischen Kolonialismus getragen. Sie steht im Zeichen der Erdumrundung und der Zirkulation, und ihr Resultat ist die Herausbildung des modernen kapitalistischen Weltsystems. Eine dritte Phase, die unsere Gegenwart bestimmt, erkennt Sloterdijk in der elektronischen Globalisierung, die seiner Ansicht nach zu einer Entra¨umlichung der Welt fu¨hrt. Die Geschichte, die Sloterdijk erza¨hlt, ist also die der Ersetzung der vielen bergenden Spha¨ren, aus denen sich der antike Kosmos zusammensetzt, durch die eine exzentrische, im unendlichen Raum ausgesetzte Erdkugel, die schließlich mit neuen ku¨nstlichen Himmelsschalen, den Flugbahnen der Flugzeuge, Satelliten und Funksignale, versehen wird. Was an der Geschichtskonstruktion Sloterdijks irritiert, ist die Tatsache, dass er der Bildlichkeit des Spha¨rischen zwar generell eine konstitutive, welterzeugende Funktion zuerkennt (sie leitet die politische, o¨konomische und wissenschaftliche Praxis der Menschen im Sinne einer grundlegenden Orientierung an), dass er aber ausgerechnet die Phase der terrestrischen Globalisierung als 2 Vgl. etwa die folgende Verkoppelung der Bildlichkeiten von Globus und Netzwerk bei Spivak 2003, S. 72: „Globalization is the imposition of the same system of exchange everywhere. In the gridwork of electronic capital, we achieve that abstract ball covered in latitudes and longitudes, cut by virtual lines, once the equator and the tropics and so on, now drawn by the requirements of Geographical Information Systems.“ 3 Sloterdijk 1998 – 2003. Sloterdijk selbst bezeichnet seine Globalisierungstheorie als eine „große[] Erza¨hlung“ (Sloterdijk 2005, S. 11). Eine Zusammenfassung dieses auf u¨ber 2000 Seiten in drei Ba¨nden ausgebreiteten grand re´cit bietet Sloterdijk 2005.
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Ausnahme von dieser Regel deklariert. Der Globus, mit dem es die Entdecker, Kolonisatoren und Kaufleute zu tun haben, ist seiner Ansicht nach kein imagina¨res Konstrukt, sondern „eine wirkliche Kugel“; das Weltwissen der Modernen beruht auf realer Erfahrung, die alle vorangehenden Weltbilder zu „Welteinbildungen, Figuren ohne rechtes Wissen und Weiterwissen“ degradiert.4 Die Epoche der terrestrischen Globalisierung markiert demnach ein realistisches Intermezzo innerhalb der Geschichte der Welt-Phantasmen. Nicht die gegenwa¨rtige Phase der elektronischen Globalisierung, die den Erdraum virtualisiert, sondern die fu¨r den Zeitraum zwischen 1492 und 1945 veranschlagte terrestrische Globalisierung gilt Sloterdijk als die ‚eigentliche Globalisierung‘, weil sie es mit dem Globus im eigentlichen Sinne – mit der wirklichen Welt – zu tun habe.5 Sloterdijk begibt sich somit in einen auffa¨lligen Gegensatz zu der Auffassung, die Martin Heidegger in seiner grundlegenden Abhandlung u¨ber „Die Zeit des Weltbildes“ aus dem Jahre 1938 a¨ußert.6 Heidegger vertritt darin die These, dass es ein Spezifikum des neuzeitlichen Weltverha¨ltnisses sei, die Welt im Modus des Bildes zu fassen: „Das Weltbild wird nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern dies, daß u¨berhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus.“7 In der Zurichtung der Welt zum Bild, einer Vergegensta¨ndlichung, die sie als „Gebild des vorstellenden Herstellens“ verfu¨gbar macht, erkennt Heidegger die Voraussetzung fu¨r ihre wissenschaftliche Erschließung.8 Das Bild liegt der explorativen und szientifischen Praxis zugrunde, ist also nicht etwa bloß ihr Resultat. Daran anknu¨pfend ko¨nnte man fragen, ob der terrestrische Globus nicht in a¨hnlicher Weise ein Bild darstellt, das die Welt herstellend verfu¨gbar macht – kein bloßes Abbild, das die erfahrene und beobachtete Welt nachzeichnet, sondern ein Leitbild, das ihre Erschließung und Beobachtung dirigiert, ein imagina¨res Schema wissenschaftlicher, politischer, o¨konomischer und kultureller Globalisierungsprozesse. Wenn der Globus als Leitikone und master trope moderner GlobalisierungsDiskurse firmiert, wie entfaltet er dann konkret seine persuasive Kraft? Wie funktioniert die Performanz, die er in Szene setzt? Um mich der Beantwortung dieser Frage anzuna¨hern, mo¨chte ich zuna¨chst auf ein triviales Beispiel zuru¨ckgreifen – ein Beispiel, das allerdings den Vorteil allgemeiner Vertrautheit besitzt: das Emblem der Vereinten Nationen, das als (staatlichen Hoheitszeichen 4 Sloterdijk 2005, S. 22 und 254. 5 Vgl. ebd., S. 22: „Es macht einen epochalen Unterschied, ob man eine idealisierte Kugel mit Linien und Schnitten ausmißt, ob man eine wirkliche Kugel mit Schiffen umfa¨hrt oder ob man Flugzeuge und Funksignale um die atmospha¨rische Hu¨lle eines Planeten zirkulieren la¨ßt.“ 6 Zur Auseinandersetzung Sloterdijks mit Heideggers Abhandlung siehe ebd., S. 253 f. 7 Heidegger 1950 [1938], S. 83. 8 Ebd., S. 87.
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vergleichbares) Logo und als Bestandteil der UN-Fahne alle Einrichtungen und Publikationen der UN ziert (siehe Abb. 1). Eine erste Version des Emblems wurde von einem Designer-Team unter Leitung von Oliver Lincoln Lundquist anla¨sslich der Gru¨ndungskonferenz der UN entworfen, die am 26. Juni 1945 in San Francisco stattfand.9 Die endgu¨ltige, bis heute gu¨ltige Version wurde auf der UN-Vollversammlung vom 7. Dezember 1946 zum offiziellen Kennzeichen der Vereinten Nationen erkla¨rt.
Abb.1: Fahne mit Emblem der Vereinten Nationen
Das Emblem zeigt einen stilisierten Globus, der aus fu¨nf konzentrischen Kreisen besteht. Ihm ist eine Weltkarte eingezeichnet, die um den Nordpol zentriert ist und daher die Kontinente der Nordhalbkugel in großer Deutlichkeit wiedergibt, wa¨hrend die su¨dlichen Kontinente gestaucht und verzerrt erscheinen; die Antarktis fehlt ganz. Dieser Globus wird von zwei Olivenzweigen eingefasst.10 In der ersten Fassung des Emblems lag Nordamerika im Zentrum der Weltkugel; in der definitiven Version bildet der Nullmeridian die vertikale 9 Vgl. http://www.nytimes.com/2009/01/04/world/04lundquist.html?_r=1& [27. 03. 2013]. 10 In der Vorlage des Generalsekreta¨rs wird das Emblem folgendermaßen geschildert: „A map of the world representing an azimuthal equidistant projection centered on the North Pole, inscribed in a wreath consisting of crossed conventionalized branches of the olive tree; in gold on a field of smoke-blue with all water areas in white. The projection of the map extends to 60º south latitude, and includes five concentric circles.“ (Report of the Secretary-General, document A/204, http://daccess-ods.un.org/TMP/3547344.80381012.html [10. 02. 2014].)
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Achse, die den Erdkreis in zwei Ha¨lften teilt, so dass Europa in die Mitte ru¨ckt. Auf diese Weise wird – was angesichts des 1947 drohenden Kalten Krieges signifikant erscheint – eine Hierarchisierung zwischen West und Ost vermieden, doch geschieht dies um den Preis, dass das Machtgefa¨lle zwischen dem reichen Norden und dem armen Su¨den der Welt desto deutlicher zur Anschauung gelangt. Auffa¨lliger als derartige Asymmetrien ist die Tatsache, dass das Emblem moderne und vormoderne Bildlichkeiten des Globalen auf katachrestische Weise miteinander verquickt. Die Olivenzweige sind eine alteuropa¨ische Reminiszenz, ein antikes und christliches Symbol des Friedens.11 Sie lagern sich um die Weltkugel wie eine zweite, bergende Spha¨re und erinnern somit an die Himmelsschalen der antiken und mittelalterlichen Kosmologie. Als Produkte der Erde signalisieren die Zweige aber zugleich das Fehlen des eigentlichen Himmels: Wo einst Himmel war, findet sich Erdentsprossenes, von Menschen Kultiviertes. Die Erde muss fu¨r die Geborgenheit, die der alte Kosmos mit seinen Himmelsspha¨ren vormals zu gewa¨hrleisten hatte, nun selbst aufkommen, und zwar vermo¨ge ihrer immanenten Einheit, die der moderne Globus in seiner vollendeten Kugelgestalt sinnfa¨llig macht. Die fu¨nf konzentrischen Kreise, die auf die fu¨nf von Menschen bewohnten Erdkontinente verweisen, potenzieren den Eindruck geschlossener Rundheit und indizieren zugleich deren Verlagerung ins Erdimmanente: Die Schalenstruktur, die ehemals den Kosmos auszeichnete, kehrt in verwandelter Form als in sich gespiegelte Ringstruktur der Erde wieder. Das UN-Emblem verdankt seine suggestive Kraft somit einem archaischen Bildelement, dessen gebrochene Verwendung umso deutlicher die einheitsstiftende Funktion der Globus-Figuration hervortreten la¨sst. Der Globus des Emblems veranschaulicht die Gemeinschaft der Nationen, die sich zur Einheit zusammengeschlossen haben. Genauer : die sich zur Einheit zusammenschließen sollen. Denn das Emblem besitzt einen Appellcharakter. Es fordert die Menschen dazu auf, globale Einheit herzustellen, das Einigungswerk zu vollenden, den alle ¨ lmiteinander verbindenden Kreis zu schließen (wohlgemerkt: der aus den O zweigen gebildete Kranz, der die Erde umfa¨ngt, ist nach oben hin offen). Das Emblem der Vereinten Nationen fu¨hrt dergestalt mit besonderer Deutlichkeit vor Augen, was den Globus als Leitmetapher der Globalisierung u¨berhaupt kennzeichnet. Die Bildlichkeit des Globalen installiert eine teleologische Ausrichtung. Sie gehorcht, wie Urs Sta¨heli darlegt, einer Logik der Vollendung: Recent political and theoretical discourses on the global […] are fascinated by this logic of completeness. Moreover, they are themselves engaged in creating what they try to ¨ lbaum-Zweig ist Symbol des Sieges und des Friedens“ (Krenkel 1965, Sp. 2119). Vgl. 11 „Der O auch Vergil 1965, S. 325: „Da sprach hoch vom Heck nun also Vater Aeneas, / hielt in der ¨ lbaums“ (Aeneis, VIII.115 f.). Hand den Zweig des friedebringenden O
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observe. The narratives put forward understand the global as a teleological process, awaiting its fulfillment in the imaginary totality of an all-encompassing globality.12
Als master trope der Globalisierung ist der Globus eine Figur der in Aussicht gestellten und aufgetragenen Vollendung, „a teleological figure of completeness“.13 Der Terminus ‚Globalisierung‘ besagt ja nichts anderes als den Vorgang des Rundmachens, des Ganzmachens einer noch unvollsta¨ndigen Kugel. Was den Prozess der Globalisierung figurativ antreibt, ist also gerade jenes Leitbild der perfekten, idealisierten Kugel, das laut Sloterdijk der Epoche der metaphysischen Globalisierung zuzuordnen ist, wa¨hrend es seiner Ansicht nach fu¨r die Epochen der terrestrischen und der elektronischen Globalisierung keinerlei Relevanz besitzt. Doch offenbar operieren auch die Diskurse, die fu¨r die letzteren konstitutiv sind, mit idealen, imagina¨ren Kugeln; offenkundig nutzen auch sie das darin enthaltene appellative Potenzial. Die metaphysischen Kugeln haben ein Nachleben. Sie gehen in verwandelter Gestalt, na¨mlich als appellative Tropen, in das globale Imagina¨re ein.14 Auch fu¨r die terrestrische Globalisierung gilt, dass der Globus, der ihre Aktivita¨ten anleitet, eine absolute Metapher im Sinne von Hans Blumenberg darstellt. Auf den neuzeitlichen Globus trifft sehr genau dasjenige zu, was Blumenberg fu¨r absolute Metaphern reklamiert: Sie sind „Bilder“, die das „nie erfahrbare, nie u¨bersehbare Ganze“ repra¨sentieren, die das „als Gegensta¨ndlichkeit unerreichbare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig machen“ und dadurch einen „Anhalt von Orientierungen“ bieten.15 Auch darin kommt der Globus mit der absoluten Metapher u¨berein, dass er eine pragmatische, handlungsanleitende Funktion besitzt – wie diese bezeichnet er eine „ve´rite´ a` faire“, ein Ganzes, das allererst hergestellt werden muss.16 Und schließlich erweist sich das Bild des Globus auch dadurch als absolute Metapher, dass es zu ¨ bertragungen“ geho¨rt, „die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizita¨t den „U ¨ bertragung der Globusfizuru¨ckholen lassen.“17 Globalisierung markiert die U gur aus dem Bereich der Kosmologie bzw. Geographie auf die Bereiche des ¨ konomischen (Welthandel), Politischen (imperiales Weltreich), Sozialen O (Weltgesellschaft), Kulturellen (Weltkultur, Weltliteratur) usw., wo sie als tota¨ bertragen wird aber gerade nicht die Bildlisierendes Schema wirksam ist. U vorstellung, die der ‚wirklichen‘, physischen Erdgestalt entspricht, denn just im Zeitalter der terrestrischen Globalisierung bricht sich die Einsicht Bahn, dass die Erde gar keine perfekte Kugel ist (ihre Polkappen sind abgeflacht; auf Ho¨he des 12 Sta¨heli 2003, S. 1. 13 Ebd., S. 2. 14 Zum Begriff des globalen Imagina¨ren vgl. die Einleitung der Herausgeber zum vorliegenden Band. 15 Blumenberg 1998, S. 25. 16 Ebd. [Hervorhebung im Original] 17 Ebd., S. 10.
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¨ quators weist sie eine Verdickung auf; ihre Umlaufbahn ist, wie Johannes A ¨ bertragen Kepler als erster herausfand, nicht kreisfo¨rmig, sondern elliptisch). U wird vielmehr das metaphysische Idealbild der vollkommenen Kugel, da nur dieses als totalisierendes und teleologisches Schema taugt. Der Globus, der in den Diskursen der modernen Globalisierung sein Unwesen treibt, ist ein archaisches Relikt und imagina¨res Konstrukt. Es wa¨re also danach zu fragen, wie dieses Konstrukt darin aufgegriffen, umgewandelt und mit modernen Bildelementen angereichert wird, um Orientierung zu schaffen und die diversen Praktiken der Welterschließung und Weltintegration anzuleiten. Das UN-Emblem, das den metaphysischen Himmel zu ‚erden‘ versucht, bietet dafu¨r ein Beispiel.
2. Die appellative Kraft, der teleologische Erwartungsdruck, den die Figur des Globus in modernen Diskursen der Globalisierung entfaltet, ist das Ergebnis ¨ bertragung. Die Attribute der Perfektion, Geschlossenheit und Volleneiner U dung werden vom Himmel auf den einen Erdball, von der Welt (im Sinne des umfassenden Kosmos) auf die Erde transferiert. Eine Fernwirkung dieser ¨ bertragung ist darin zu sehen, dass wir in unserem heutigen Sprachgebrauch U die Termini ‚Welt‘ und ‚Erde‘ ha¨ufig miteinander verwechseln und als gleichbedeutend behandeln: Wir reden von ‚Welt‘, wenn wir eigentlich nur die ‚Erde‘ meinen, weil die Erde die alte Einheitsfunktion des Kosmos (mitsamt seiner teleologischen Ausrichtung) u¨bernommen hat.18 Die Implikationen dieser ¨ bertragung kann man am besten studieren, indem man moderne mit vorU modernen Globalisierungsdiskursen vergleicht und dabei analysiert, welche Funktion die Globus-Figur im Rahmen des jeweiligen Argumentationsgangs erfu¨llt. Besonders aufschlussreich ist ein solcher Vergleich, wenn die Vergleichstexte einem (vermeintlich) u¨bergreifenden Traditionszusammenhang angeho¨ren, wie ihn etwa das kosmopolitische Denken darstellt. Kosmopolitisches Denken hat im Zuge der aktuellen Globalisierungsdebatten eine bemerkenswerte Renaissance erfahren.19 Vertreter aktueller kosmopolitischer Ansa¨tze berufen sich in der Regel auf Immanuel Kant als den ‚Gru¨ndungsvater‘ eines modernen, aufgekla¨rten Kosmopolitismus, insbesondere auf seine Schrift Zum ewigen Frieden (1795). Darin entwirft Kant das Modell eines Vo¨lkerbundes, das in mancherlei Hinsicht auf die Institution der Vereinten 18 Zum komplexen Wechselverha¨ltnis der Begriffe ‚Welt‘ und ‚Erde‘ vgl. den Beitrag von Robert Stockhammer im vorliegenden Band. 19 Vgl. etwa Appiah 2006; Benhabib 2006.
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Nationen vorausweist. Kant stu¨tzt sein Modell durch eine Reflexion auf die Kugelgestalt der Erde. Der besondere Stellenwert der kantischen Globusreflexion – der paradigmatische Charakter, den sie fu¨r den modernen Globalisierungsdiskurs insgesamt besitzt – wird deutlich, wenn man sie mit ihrem Korrelat im kosmopolitischen Diskurs der Antike kontrastiert. Die Globusreflexion besitzt im antiken Kosmopolitismus, wie er vor allem von den Philosophenschulen des Stoizismus und des Kynismus vertreten wird, den Status einer Meditationstechnik. Der ‚Blick von oben‘, wie Pierre Hadot ihn nennt,20 sieht vor, dass sich das Individuum vermo¨ge seiner Vorstellungskraft an einen Standort im Himmel versetzt, von wo es auf die Erde herabschaut. Die Selbstbetrachtungen des ro¨mischen Kaisers und stoischen Philosophen Marc Aurel, die eine Art Kompendium der philosophischen Askese darstellen, enthalten eine Vielzahl solcher Ho¨henschau-Szenarien. Eine davon sei herausgegriffen: „Asien und Europa sind Winkel des Kosmos. Das ganze Meer ist ein Tropfen im Kosmos. Der Berg Athos ist eine Erdscholle im Kosmos. Die gesamte Gegenwart ist ein Punkt in der Ewigkeit. Alles ist winzig, leicht vera¨nderbar, verschwindend klein.“21 Marc Aurel imaginiert einen Blick aus gewaltiger Ho¨he, der die Erde ¨ bung? Sie dient zusammenschrumpfen la¨sst. Worin besteht der Zweck dieser U der Befreiung aus der Verstrickung in mundane Verha¨ltnisse, der Loslo¨sung aus familia¨ren, sozialen und nationalen Bindungen, aus der irdischen Polis (im Falle Marc Aurels handelt es sich dabei immerhin um das Imperium Romanum, dem er als Kaiser vorsteht), der der Mensch durch den Zufall der Geburt angeho¨rt und die es aufzugeben gilt zugunsten der Eingliederung in die wahre himmlische Heimat, die große Kosmopolis. Der Blick von oben bewirkt diese Eingliederung, denn aus der kosmischen Ho¨henperspektive werden die irdischen Verha¨ltnisse in ihrer wahren Dimension und ihrem wahren Wert erkennbar – sie sind nichtig und verlangen daher vom Philosophen, dass er sich u¨ber sie ‚erhebt‘. Eine solche Erhebung, die sich im Ho¨henblick konkretisiert, sollte sich nach stoischer Auffassung zu einer permanenten Seelenhaltung verfestigen, was nur durch ¨ bung zu bewerkstelligen ist. unabla¨ssige U Der antike Kosmopolitismus realisiert sich also in Gestalt einer Meditationsu¨bung, die nicht nur die Vernunft, sondern sta¨rker noch die Einbildungskraft involviert, und ist gekoppelt an die Herstellung einer imagina¨ren Geographie. Tatsa¨chlich wird der Adept der stoischen Philosophie dazu aufgefordert, sich die Welt, die er aus der fiktiven Ho¨henposition wahrnimmt, konkret vorzustellen und auszumalen. Je anschaulicher das Bild der Erde, das er sich meditativ vor Augen fu¨hrt, desto nachhaltiger die ethische Wirkung. Eine der 20 Hadot 1991, S. 123 – 135. – Zum imaginierten Blick auf die Erde in der Antike vgl. auch Cosgrove 2001, S. 29 – 53. 21 Marc Aurel 2004, S. 139 (VI.36).
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ausfu¨hrlichsten Schilderungen imagina¨rer Geographie, die sich aus der Antike erhalten haben, ist der „Traum des Scipio“ (Somnium Scipionis), den Cicero in ¨ ber das Gemeinwesen (De re publica) eingefu¨gt das sechste Buch seines Dialogs U 22 hat. Scipio berichtet darin, wie ihm kurz vor seinem Sieg u¨ber Karthago im Traum sein Großvater und Vater erschienen seien, die ihn in den Himmel gefu¨hrt ha¨tten, um ihm wichtige Wahrheiten zu offenbaren. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Offenbarung ist der Blick von oben auf die Erde. Scipio vermag die Erde zuna¨chst kaum auszumachen, so winzig erscheint sie aus der Entfernung. Erst als sein Vater vera¨chtlich auf „illum globum“, jenen kleinen Ball in der Ferne, verweist, nimmt er sie u¨berhaupt zur Kenntnis.23 Da er von diesem Zeitpunkt an aber unverwandt auf die Erdkugel starrt, sieht sich sein Vater dazu veranlasst, das, was er sieht, zu erla¨utern: Du siehst aber, wie die Erde [eandem terram] auch wie von gewissen Gu¨rteln umschlungen und umgeben ist, von denen zwei, wie du siehst, die am meisten voneinander entfernt sind und zu beiden Seiten unter dem Scheitel des Himmels selbst ruhen, in Eis erstarrt sind, jener mittlere aber und gro¨ßte von der Sonne ausgedo¨rrt wird. Zwei sind bewohnbar, von denen jener su¨dliche, deren Bewohner euch die Fu¨ße entgegenkehren, euer Geschlecht nichts angeht, dieser andere aber gegen Norden gelegene, den ihr bewohnt, sieh, zu welchem schmalem Teil er euch beru¨hrt. Das ganze Land na¨mlich, das von euch bebaut wird, an den Spitzen verengt, an den Seiten breiter, ist eine kleine Insel, die von jenem Meer umspu¨lt ist, das ihr […] den Ozean nennt auf Erden und bei dem du doch siehst, wie klein er bei so großem Namen ist.24
Bemerkenswert an dieser Schilderung ist die bedeutende Rolle, die sie den geographischen Grenzen zuweist. Die Erde weist eine horizontale Streifenstruktur auf – die ptolemaischen Klimazonen. Drei davon – die beiden zonae ¨ quator – konstituieren unfrigidae an den Polen und die zona torrida am A ¨ hnliches gilt fu¨r u¨berwindliche Barrieren, die jeglichen Verkehr unterbinden. A ¨ den Weltenstrom des Ozeans, der die euro-asiatische Okumene wie eine kleine Insel einschließt. Die Welt, die Scipio in seiner Traumvision schaut, ist definitiv kein integraler Zirkulations-, Kommunikations- und Verkehrsraum. Eben darin besteht die Lehre, die ihm durch seine Schau erteilt wird: Er soll einsehen, dass es zwecklos ist, nach irdischem Ruhm zu streben, denn dieser Ruhm kann sich nicht verbreiten, er vermag nicht zu zirkulieren: „Das Gerede [sermo]“, das den Ruhm ausmacht, ist, so der Vater, „in die Enge der Gebiete, die du siehst, eingeschlossen“.25 ‚Weltruhm‘ (im Sinne von ‚Erdruhm‘) zu erlangen, ist unter diesen geographischen Bedingungen unmo¨glich. Daher, so der Vater, mo¨ge 22 Zur Einordnung des Somnium Scipionis in die Tradition des stoizistischen ‚Blicks von oben‘ vgl. Du¨nne 2008. 23 Cicero 1960, S. 336 (VI.15). 24 Ebd., S. 343 – 347 (VI.20). 25 Ebd., S. 347 (VI.23).
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Scipio nicht nach irdischem, sondern nach himmlischem Ruhm streben, den aber nur der Tugendhafte gewinnen ko¨nne. Die Erde, die Scipio aus der Ho¨he wahrnimmt, besitzt letztlich keine innere Einheit. Die Grenzen zwischen den Teilen, aus denen sie sich zusammensetzt, werden so sehr akzentuiert, dass sie kein immanentes Ganzes konstituieren. Kreisbewegungen sind auf dieser Erde unmo¨glich. Das figurative Potential, das in der Globusform liegt, wird hinsichtlich der Erde im Somnium Scipionis nicht ausgescho¨pft. Das ist auch gar nicht beabsichtigt, denn Scipio soll seinen Blick von der Erde ab- und dem Himmel zuwenden. Im Himmel sieht er die perfekte Kreisfigur verwirklicht, die der Erde abgeht. Staunend betrachtet er die „ewig kreisenden Bahnen der Sterne“.26 Im Himmelsglobus, nicht im Erdglobus, findet die Welt zur Einheit: „In neun Kreisen oder besser Kugeln [orbibus vel potius globis] ist alles verbunden. Der eine von ihnen ist der himmlische, der a¨ußerste, der alle u¨brigen umfaßt“.27 Scipios Blick von oben ist folglich kein Blick auf die Welt, sondern ein Blick auf die Erde. Er bewegt sich auf seiner Himmelsreise innerhalb der Grenzen der Welt, genauer : Er bewegt sich hart an der Grenze, an ihrem a¨ußersten Saum. Scipios Blick von oben ist kein Blick aus dem Jenseits, kein Blick von außen auf die Welt, sondern ein Blick vom Rande, ein liminaler Blick. Seine imagina¨re Himmelfahrt zielt nicht darauf ab, Grenzen zu u¨berschreiten, vielmehr geht es darum, Grenzen zu erproben, ja zu befestigen. Das Ergebnis der Traumvision ist eine vertiefte Einsicht in die Unu¨berwindlichkeit und die bergende Funktion der Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind. Der antike Kosmopolitismus ist u¨ber die Meditationsu¨bung des ‚Blicks von oben‘ an die Herstellung einer imagina¨ren Geographie gebunden, die ihre rhetorisch-literarische Herkunft nicht verleugnet. Philosophischer Diskurs und figurale Techniken der Welterzeugung gehen Hand in Hand, um dem Individuum dazu zu verhelfen, sich als Kosmopolit zu konstituieren. Diese Koalition zwischen Philosophie und Rhetorik scheint in der Moderne zu zerbrechen. Die Philosophie entwickelt sich zu einer akademischen Disziplin, die auf abstrakte Vernunftspekulation spezialisiert ist, und bu¨ßt somit ihre lebenspraktische Dimension ein.28 Mit ihr scheint auch der Bezug zu Rhetorik und Literatur verloren zu gehen. Kosmopolitisches Denken wird zu einer reinen Angelegenheit der Vernunft. Wo es seine Bindung an das Imagina¨re bewahren will, da flu¨chtet es sich in den Randbereich der Popularphilosophie, oder aber es bildet eine spezifisch literarische Spielart aus, wie sie etwa in Gestalt von Oliver Goldsmiths Essay-Sammlung The Citizen of World oder Christoph Martin 26 Ebd., S. 339 (VI.17). 27 Ebd. 28 Zu dieser „Trennung zwischen Lebensweise und philosophischem Diskurs“, die im christlichen Mittelalter einsetzt, vgl. Hadot 1999, S. 291 – 299, hier: 291.
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Wielands Abderiten-Roman vorliegt. Serio¨ser Kosmopolitismus, so scheint es, bemu¨ht sich dagegen um eine systematische Fundierung in Vernunftprinzipien. In diese Kategorie geho¨rt offenbar auch das kosmopolitische Denken Immanuel Kants. Kant fu¨hrt seine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Kosmopolitismus im Kontext seiner anthropologischen, geschichts- und rechtsphilosophischen Studien. In keinem dieser Zusammenha¨nge, so scheint es, spielen rhetorisch-literarische Verfahrensweisen irgendeine Rolle. Bei na¨herer Betrachtung wird jedoch schnell erkennbar, dass dieser Schein tru¨gt. Das la¨sst sich am Beispiel der Schrift Zum ewigen Frieden aufzeigen, die nicht zufa¨llig in den aktuellen Debatten u¨ber den Kosmopolitismus immer wieder zitiert wird. Schon in der Vorrede wirft Kant die Frage auf, ob die Vorstellung des ewigen Friedens nicht „jenen su¨ßen Traum“ darstellt, den verstiegene Philosophen gerne zu tra¨umen pflegen.29 Er konzediert mithin die Mo¨glichkeit, dass sein kosmopolitischer Friedensentwurf in das Reich des Imagina¨ren geho¨rt. Kant verleiht seiner Abhandlung die Form eines rechtlich bindenden Vertrages. Der Vertrag entha¨lt die durch Vernunftreflexion ermittelten Bestimmungen, die er fu¨r no¨tig ha¨lt, um einen weltweit und dauerhaft gu¨ltigen Frieden unter den Vo¨lkern zu sichern. Diese heilsame Wirkung kann der Vertrag jedoch nur unter der Bedingung entfalten, dass ihm ausnahmslos alle Vo¨lker der Erde ihre Zustimmung erteilen. Eine solche Bedingung ist offenbar nur sehr schwer zu erfu¨llen; der Friedensentwurf steht somit tatsa¨chlich in der Gefahr, das Ansehen einer wohlfeilen philosophischen Tra¨umerei zu gewinnen. Um dieser Gefahr zu begegnen, ha¨ngt Kant seiner Schrift einen „Zusatz“ an, der eine „Garantie des ewigen Friedens“ leisten soll.30 Er sucht diese Garantie in der Natur, die seiner Ansicht nach eine „provisorische Veranstaltung“ getroffen hat, um die Menschen zu einem Friedenszustand hinzufu¨hren.31 Diese „Veranstaltung“ ist geophysischer Art; sie beruht auf der ra¨umlichen Beschaffenheit der Erde. Kant begibt sich somit auf ein gefa¨hrliches Parkett, indem er der Natur eine auf den Menschen bezogene Teleologie zuschreibt. Er weiß um die Gefahr und will es daher vermeiden „sich vermessenerweise ikarische Flu¨gel“ anzusetzen.32 Doch genau dies geschieht im Zusatz zum Friedensvertrag: Kant inszeniert einen kosmischen Blick von oben und fu¨hrt die Trope des Globus ins Feld, um den ku¨nftigen Weltfrieden abzusichern. Das Telos des Weltfriedens wird aus dem teleologischen Potential der Globus-Figur abgeleitet – die immanente Einheit des Globus verbu¨rgt die zu erwartende Einheit der Menschheit. Kants Vorgehensweise ist paradox: Er will verhindern, dass sein Friedensentwurf 29 30 31 32
Kant 1983 [1795], S. 195. Ebd., S. 217 – 227. Ebd., S. 219. Ebd.
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einen imagina¨ren Charakter erlangt, und konstruiert zu diesem Zweck eine imagina¨re Geographie. Das teleologische Argument, das Kant auf der Basis dieser imagina¨ren Geographie entwickelt, lautet – in leicht vereinfachter Form – folgendermaßen:33 Die Natur hat dafu¨r gesorgt, dass die Menschen sich u¨ber die ganze Erde verbreiten ko¨nnen. Sie hat ihren Wanderungsbewegungen keine unu¨berwindlichen physischen Barrieren in den Weg gestellt, sondern, im Gegenteil, durch Flu¨sse, Meere und „das Kamel (das Schiff der Wu¨ste) […], welches zur Bereisung derselben gleichsam geschaffen zu sein scheint,“ vielfa¨ltige Verbindungsmo¨glichkeiten fu¨r sie geschaffen; u¨berall – selbst in den unwirtlichsten Gegenden – ha¨lt sie Mittel zu ihrer Subsistenz bereit, so dass die Menschen dazu angeleitet werden, die gesamte Erdoberfla¨che zu besiedeln, gleichsam einen kollektiven Akt der Erdumrundung zu vollziehen. Zugleich ist diese Oberfla¨che, „als Kugelfla¨che“, jedoch begrenzt und wirkt sich dahingehend aus, dass die darauf lebenden Menschen „sich nicht ins Unendliche zerstreuen ko¨nnen, sondern endlich sich doch neben einander dulden […] mu¨ssen“.34 Dieses friedliche Dulden wird schließlich durch dieselbe geophysische Einrichtung befo¨rdert, die die Ausbreitung der Menschen ermo¨glichte: Sie sorgt dafu¨r, dass ein reger Handelsverkehr entsteht, der die Vo¨lker miteinander verbindet. Als Beispiel fu¨hrt Kant die Eskimos an, die sich am no¨rdlichen Weltrand angesiedelt haben: Die Natur hat ihnen Ressourcen in Form von Robben, Walrossen, Walfischen und Treibholz zur Verfu¨gung gestellt. Letzteres wird durch Flu¨sse und Meeresstro¨mungen zu den Eskimos getragen. Wenn diese natu¨rliche Zirkulation zum Erliegen kommt (etwa weil die Anwohner der großen sibirischen Flu¨sse lernen, ihre Holzreserven effektiver zu nutzen), werden die Eskimos dazu animiert, mit ihren Produkten Handel zu treiben, Tran gegen Holz einzutauschen und so mit anderen Vo¨lkern in freundschaftliche Beziehung zu treten. Vergleicht man Kants imagina¨re Geographie mit derjenigen, die dem antiken Kosmopolitismus zugrunde liegt, so fallen die folgenden Unterschiede ins Auge: 1. Indem Kant die Endlichkeit der Erde akzentuiert und der Ausbreitungsbe33 Zum Folgenden siehe ebd., S. 213 f., 219 – 222. 34 Ebd., S. 214. [Hervorhebung C. M.] – Die Weltkugel ist bei Kant nicht mehr Abbild und Chiffre des Unendlichen, sondern verweist auf die Endlichkeit und Begrenztheit der Ressource Raum. Vgl. dagegen Nicolai de Cusa / Nikolaus von Kues 1999 [entst. ca. 1463], S. 17: „Die absolute Rundheit ist aber nicht von der Natur der Weltrundheit, sondern ihre Ursache und ihr Vorbild, das ich Ewigkeit nenne, deren Abbild ist die Weltrundheit. Im Kreis na¨mlich, wo es weder Anfang noch Ende gibt, weil in ihm kein Punkt ist, der mehr Anfang als Ende ist, sehe ich das Abbild der Ewigkeit“. – Leitet Kant aus der absoluten Beschra¨nktheit des Erdraums teleologisch die Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit des Weltfriedens ab, so folgern die Vertreter des geopolitischen Denkens in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts aus derselben Gegebenheit (und ebenso teleologisch) die Notwendigkeit eines Kampfes um Lebensraum.
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wegung der Menschen eine absolute Schranke setzt, verlagert er die Weltgrenze von der Himmelskugel an die Erdoberfla¨che. Die Welt findet ihre Einheit nicht mehr in der a¨ußersten Himmelsspha¨re, sondern in der Erdkugel selbst. Welt und Erde fallen in eins. 2. Der scharfen Grenzziehung nach außen hin steht der Abbau von natu¨rlichen Grenzen im Inneren entgegen. Kants Erde kennt keine Ra¨nder mehr. Selbst der Nordpol ist in den Zirkulationsraum integriert. Kants Erde kennt auch keine Barrieren mehr : Ra¨ume, die vormals als Schranken galten, Wu¨sten, Meere oder Gebirge beispielsweise, werden zu Verkehrswegen umkodiert. Der Raum der Erde wird homogenisiert. Obwohl endlich, erlaubt er eine unbegrenzte Bewegungsfreiheit und eine ungehinderte Zirkulation in alle Richtungen. Nimmt man beide Punkte zusammen, die scharfe Konturierung der Erdgrenze und die entfesselte Zirkulation, so gewinnt die Welt, die Kant im „Zusatz“ pra¨sentiert, das Ansehen eines integralen Globus. Der Blick von oben fa¨llt auf eine in sich geschlossene, in sich selbst kreisende Welt. Die von Kant entworfene imagina¨re Geographie steht im Zeichen einer Rhetorik der Globa¨ berzeugungskraft lita¨t. Die Garantie fu¨r den ewigen Frieden verdankt ihre U letztlich der suggestiven Evidenz dieser Trope. Die friedliche Einheit der Menschheit wird durch die anschauliche Einheit der Globus-Figur verbu¨rgt. Die hermetische Geschlossenheit dieser als Zirkulationsraum gedachten Welt bringt es mit sich, dass sie in ihrer Ganzheit nicht aus sich selbst heraus wahrgenommen werden kann. Der (imagina¨re) Blick, der sie erfasst, ist weniger ein Blick von oben als ein Blick von außen. Wer die Welt als Totalita¨t erkennen will, muss sich ganz von ihr ablo¨sen. Doch auch dafu¨r hat sie laut Kant teleologisch eine „provisorische Veranstaltung“ getroffen. Aufgrund ihrer Kugelgestalt, die eine allumfassende Dynamik der Zirkulation in Gang setzt, hat sie dafu¨r gesorgt, dass niemand je ganz auf ihr zu Hause sein kann – kein Mensch, so Kant, hat „urspru¨nglich […] an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht, als der andere“.35 Bezeichnenderweise besitzt das von Kant postulierte Weltbu¨rgerrecht die Form eines Besuchsrechts.36 Besucher ist der Bewohner des von einer allgemeinen Zirkulation erfassten Globus letztlich auch zu Hause. So geschlossen und ‚rund‘ bei Kant die mit der Erdgrenze in eins fallende Weltgrenze auch sein mag, sie besitzt keine bergende Funktion mehr.
35 Ebd., S. 214. 36 Ebd., S. 213 f.
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3. Auch heute findet der Globus als persuasive Figur der Einheit und als appellative Trope der Integration weite Verbreitung. Er begegnet vor allem in solchen diskursiven Zusammenha¨ngen, die an die Tradition des aufkla¨rerischen Universalismus anknu¨pfen, und mit der Globalisierung Begriffe wie Humanita¨t, Menschenrechte und Kosmopolitismus verbinden. Neben dieser affirmativen Bezugnahme auf die Globusfigur gibt es in den neueren Globalisierungsdiskursen aber auch eine deutlich spu¨rbare Reserve gegenu¨ber der master trope modernen Weltdenkens, die zunehmend nicht mehr mit integraler Einheit, sondern mit einer repressiven Form von Totalisierung assoziiert wird. Dabei gilt es zu differenzieren: Auf der einen Seite stehen Ansa¨tze, in denen die Kritik am Leitbild des Globus Ausdruck einer grundsa¨tzlichen Skepsis gegenu¨ber Prozessen der Globalisierung ist; auf der anderen Seite gibt es Bemu¨hungen, der Vorstellung der Globalita¨t alternative Figurationen gegenu¨berzustellen und damit den Anspruch zu verknu¨pfen, Globalisierung ‚anders‘, na¨mlich nichttotalisierend zu denken. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man die GlobusFigur so einfach loswerden kann. Ist es tatsa¨chlich mo¨glich, die Globalisierung ohne Globus zu denken? La¨sst sich Globalisierung schlu¨ssig als „nicht-totalisierende Einheit“ konzeptualisieren?37 Ein relativ fru¨hes Beispiel fu¨r eine Globalisierungskritik (avant la lettre), die sich in Form der Globus-Kritik artikuliert, bietet Hannah Arendts Werk The Human Condition (1958, dt. 1960). Im letzten Kapitel ihres Buches schildert Arendt die Globalisierung als einen Prozess der „world alienation“, der Weltentfremdung.38 Sie greift damit einen Aspekt auf, den bereits Kant mit seiner Bestimmung des Weltbu¨rgerrechts als Besuchsrecht angedeutet hatte. Der Agent der Weltentfremdung ist Arendt zufolge die moderne Wissenschaft, welche die alte Unterscheidung zwischen Himmel und Erde aufgehoben und dem Menschen somit die Einnahme eines archimedischen Standpunkts ermo¨glicht habe. Seitdem handele der Mensch auf der Erde so, als wirke er von einem Punkt außerhalb ihrer auf sie ein; sein Weltverha¨ltnis realisiere sich nicht mehr im Modus des Einwohnens, sondern der Exteriorita¨t, was die Mo¨glichkeit einer radikalen instrumentellen Umgestaltung des Planeten ero¨ffne. Dazu geho¨rt nicht zuletzt die Entwicklung einer modernen Verkehrstechnologie mitsamt einem globalen Verkehrswegenetzwerk. Sie bewirkt laut Arendt eine ra¨umliche Schrumpfung der Erde und erlaubt es dem Menschen im Zeitalter der Aviatik und der Aeronautik zugleich, sich buchsta¨blich u¨ber den Erdko¨rper zu erheben. Als Emblem dieser Erdentfremdung figuriert in The Human Condition der 37 Reichardt 2008, S. 6 f. 38 Arendt 1958, S. 253. – Zum Folgenden vgl. ebd., S. 248 – 273.
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sowjetische Sputnik-Satellit.39 Der Satellit, der den Globus auf genau berechneten Bahnen umrundet, versinnbildlicht fu¨r Arendt eine Zirkulation, die sich vom mu¨tterlichen Ko¨rper der Erde abgelo¨st hat und steril geworden ist, ein leeres, totes Kreisen. Die Welt in ihrer globalen Schrumpfform ist selbst zu einer solchen sterilen Kreisstruktur geworden. Von entscheidender Bedeutung ist aber nun, dass der so beschaffene Globus nicht bloß das Produkt moderner wissenschaftlicher Forschung und technologischer Entwicklung ist. Arendt sieht in ersterem vielmehr die Voraussetzung fu¨r letztere. Wie Heidegger erkennt sie im Bild der Welt als Globus das mediale Apriori fu¨r die globalisierende Umgestaltung der Welt. Das Weltbild des Globus leitet die Praxis der Globalisierung an: Prior to the shrinkage of space and the abolition of distance through railroads, steamships, and airplanes, there is the infinitely greater and more effective shrinkage which comes through the surveying capacity of the human mind, whose use of numbers, symbols, and models can condense and scale earthly physical distance down to the size of the human body’s natural sense and understanding. Before we knew how to circle the earth, how to circumscribe the sphere of human habitation in days and hours, we had brought the globe to our living rooms to be touched by our hands and swirled before our eyes.40
Der franzo¨sische Philosoph Jean-Luc Nancy hat Hannah Arendts (und Martin Heideggers) Globus-Kritik unla¨ngst aufgegriffen, zu einer expliziten Globalisierungskritik ausgebaut und terminologisch spezifiziert. Er unterscheidet zwischen globalisation und globalite´ auf der einen, mondialisation und mondialite´ auf der anderen Seite.41 Le monde ist laut Nancy eine Welt, die niemals vor mir oder außerhalb meiner liegt; sobald sie erscheint, teile ich vielmehr bereits etwas mit ihr. Globalisation dagegen bezieht sich auf eine vorgestellte, angeschaute Welt – „eine Welt, die dem Blick eines Welt-Subjekts ausgesetzt ist“.42 Ein solches Welt-Subjekt steht außerhalb der Welt und okkupiert als solches die exzentrische Position des Scho¨pfer-Gottes. Das Subjekt der globalisation zielt auf die Um- und Neuscho¨pfung der Welt im Zeichen des Globus ab, das Resultat dieser angemaßten scho¨pferischen Ta¨tigkeit ist aber Nancy zufolge eine parodistische Doublette des Globus – der Glomus.43 Das lateinische Wort glomus bezeichnet das Kna¨uel, die wirre Verflechtung von Fa¨den oder Schnu¨ren. Das Verbum glomerare hat die Bedeutung zusammenballen, aufha¨ufen, verdichten. 39 Mit dem Emblem des Sputnik-Satelliten ero¨ffnet Arendt ihre Studie. Vgl. den Prolog, ebd., S. 1 – 6. 40 Ebd., S. 250 f. 41 Nancy 2003, S. 19. – Wie Nancy gibt auch Jacques Derrida dem Begriff der mondialisation gegenu¨ber demjenigen der globalisation den Vorzug. Vgl. Derrida 2007, S. 185 – 189. 42 Ebd., S. 28. 43 Ebd., S. 14.
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Davon leitet sich das Wort ‚Agglomeration‘ her, das auf die ungeordnete Anballung oder Anha¨ufung von Dingen verweist. Nancys glomus spielt somit auf den Verdichtungsprozess an, die „time-space-compression“, die seit David Harvey als ein zentraler Topos der Globalisierungstheorie gilt.44 Laut Nancy ist das Resultat dieser Verdichtung aber kein runder Ball, sondern eine bloße Anballung. Als ‚Weltkna¨uel‘ ist der glomus zudem an die Bildlichkeit des Netzwerks anschließbar. Er evoziert das Netzwerk von Kommunikations- und Verkehrsverbindungen, das u¨ber die Welt geworfen wird, das sie aber gerade nicht zur Einheit zusammenzuschließen und zu einem Ganzen zu runden vermag, sondern sie vielmehr zu einer asymmetrischen Struktur verformt, zu einem zerbeulten Gebilde, das die ungleiche Verteilung von Macht und Reichtum auf der Welt zur Anschauung bringt. Nancy versucht den totalisierenden Globus, der den o¨konomischen, politischen und informationstechnologischen Globalisierungsdiskurs beherrscht, als glomus zu entlarven. Zugleich skizziert er mit seinem Konzept des monde einen Alternativentwurf, der der Weltentfremdung des Globus-Denkens die Vorstellung einer unhintergehbaren Innerweltlichkeit entgegensetzt – keinen Blick von außen, sondern einen Blick auf die Welt aus dieser Welt heraus. Dieser Versuch, das Globalisierungsdenken zu ‚erden‘, ist charakteristisch fu¨r eine Reihe von aktuellen Ansa¨tzen, die sich um ein differenziertes Bild der Globalisierung bemu¨hen. Wie Ju¨rgen Osterhammel und Niels Petersson argumentieren, vermeiden sie es, „die Welt ‚von oben‘ zu sehen“, und zielen stattdessen darauf ab, sie „‚von unten‘ [zu] konstruieren“.45 Neuere Globalisierungstheorien unternehmen demnach den Versuch, globale Zusammenha¨nge ‚von ebener Erde aus‘, ‚aus der Welt heraus‘ darzustellen. Wenn man will, kann man diese Tendenz, den Globus zu ‚planieren‘, bereits in Marshall McLuhans beru¨hmter Bestimmung der globalisierten Welt als „global village“ oder in Roland Robertsons Definition der Globalisierung als „the compression of the world into ‚a single place‘“ am Werk sehen.46 Diese Formulierungen rufen die Vorstellung von der Welt als Kugel und von der Globalisierung als Zusammenballung zwar noch auf, entleeren sie aber zugleich, indem sie sie katachrestisch mit dem Bild eines auf der Erdoberfla¨che befindlichen Ortes oder Platzes u¨berschreiben, indem sie den Globus mithin in die Fla¨che bringen. Das Bildpotenzial, das in solchen Formulierungen nur angedeutet ist, bringen andere Globalisierungstheoretiker systematisch zur Entfaltung. Ein sinnfa¨lliges Beispiel dafu¨r liefert der Kulturanthropologe Arjun Appadurai. Er entwickelt das Konzept der globalen Landschaften, der global
44 Harvey 1989, S. 240 – 307. 45 Osterhammel / Petersson 2007, S. 20. 46 McLuhan 1962, S. 29 – 31; Robertson 1992, S. 6.
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landscapes.47 Die durch Globalisierung hervorgebrachte Kultur der Welt setzt sich demnach aus einer Vielzahl kultureller Landschaften zusammen: ethnoscapes, technoscapes, financescapes, mediascapes und ideoscapes. Diese Landschaften addieren sich aber nicht zu einem integralen Bild der Weltkultur, zu einer kulturellen Weltkarte oder gar einem Globus. Sie sind vielmehr disjunktiv und fragmentarisch. Wer sie erfassen will, muss sie – jede fu¨r sich – durchqueren, muss sich in ihnen in der Art eines Spazierga¨ngers bewegen. Die Metaphorik der global landscapes impliziert die Absicht, den Globus in die Horizontale zu bringen, ihn zu horizontalisieren. Tatsa¨chlich gibt es Anzeichen dafu¨r, dass die Vorstellung der Welt als ‚Horizont‘ sich derzeit anschickt, den ‚Globus‘ als Leitmetapher der Globalisierung abzulo¨sen. Wenn Nancy sein Konzept der mondialite´ an die unhintergehbare Innerweltlichkeit der Weltreflexion koppelt, dann wendet er das pha¨nomenologische und fundmentalontologische Paradigma des Horizonts auf den Globalisierungsprozess an.48 Urs Sta¨heli pla¨diert dafu¨r, die Sackgassen („impasses“), in welche die Theorie der Globalisierung durch ihre Orientierung an der Leitvorstellung des Globus geraten sei, durch „a deconstructive reading of the notion of the world as horizon“ zu u¨berwinden.49 Niklas Luhmanns systemtheoretische Analyse der Weltgesellschaft operiert mit einem Begriff der Welt, der diese als Horizont zu bestimmen versucht. „Welt […] ist ein Horizontbegriff,“ so argumentiert Rudolf Stichweh im Anschluss an Luhmann, „was impliziert, daß eine solche als Horizont verstandene Welt jedes Erleben und Handeln unabla¨ssig begleitet.“50 Und auch Roland Robertson versucht, die Globalisierung vom Horizontbegriff her zu erfassen: „For Robertson […], the structures of global connectivity combine with a pervasive awareness of this situation to raise any local events inevitably to the horizon of a single world.“51 Wie funktioniert die Trope des Welthorizonts? Gelingt es ihr tatsa¨chlich, die Leitvorstellung des Globus zu u¨berwinden? Zuna¨chst gilt es festzuhalten, dass der Welthorizont in neueren Globalisierungstheorien als offen und beweglich gekennzeichnet wird. Es handelt sich dabei nicht um jene geschlossene und bergende Weltgrenze, als die der Horizont in vormoderner Zeit verstanden wird.52 In seiner offenen und beweglichen Form ist der Welthorizont eine Re47 Appadurai 1996, S. 27 – 47. 48 Eine pha¨nomenologische Analyse der Weltreflexion, die im Zeichen des Horizontbegriffs steht, unternimmt bereits Husserl 1968 [1934], S. 307 – 325. – Ich danke Petra Gehring (TH Darmstadt) fu¨r den Hinweis auf diesen Text. 49 Sta¨heli 2003, S. 11. 50 Stichweh 2000, S. 235 f. 51 Tomlinson 1999, S. 12 [Hervorhebung im Original]. ¨ ffnung des geschlossenen Horizontbegriffs der Antike und des Mittel52 Zur neuzeitlichen O alters vgl. Koschorke 1990; siehe auch Moser 2010.
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flexionsfigur. Sie besagt, dass unter den Bedingungen der Globalisierung jegliches Handeln, so lokal beschra¨nkt es erscheinen mag, von dem Bewusstsein seiner Einbindung in globale Zusammenha¨nge begleitet ist. Der Welthorizont bezeichnet ein stets mitlaufendes Weltbewusstsein – „the intensification of consciousness of the world as a whole“.53 Er markiert ein reflexives Schema, das jeder kulturellen Hervorbringung – auch und gerade dann, wenn sie sich im Sinne der Wiederbelebung lokaler Traditionen der Globalisierung zu widersetzen sucht – eingeschrieben ist. Unter der Voraussetzung weltweiter Interkonnektivita¨t ist es demnach nicht mehr mo¨glich, ‚naiv‘ lokale kulturelle Praktiken zu vollziehen. Die ‚Welt‘ schaut dabei vielmehr immer schon zu; man bewegt sich auch im lokalen Rahmen immer schon vor einem Welthorizont. Robertson fasst diese globale Einfassung des Lokalen in dem Begriff der glocalization.54 Die ihm zugrundeliegende Metapher des Welthorizonts indiziert das Bestreben Robertsons, den Globus auf die ebene Erde zu bringen. Gleichwohl treibt in seiner Argumentation noch eine Figuration der Globalita¨t ihr Unwesen; er wird den Globus, den er in eine Landschaft mit globalem Ausblick zu verwandeln sucht, nicht ganz los. Das zeigt sich besonders pra¨gnant in der Formulierung, die Ulrich Beck wa¨hlt, um das Konzept der glocalization zu erla¨utern. Beck zufolge verweist das Konzept auf eine Re-Lokalisierung, „die sozusagen durch das Unendliche der De-Lokalisierung gegangen ist“.55 Das ist ein Zitat aus Heinrich von ¨ ber das Marionettentheater“. Dort heißt es Kleists beru¨hmtem Gespra¨ch „U bekanntlich, dass die „Erkenntnis“ des Menschen, der den Su¨ndenfall der Reflexion begangen habe, durch ein Unendliches gehen mu¨sse, damit die Grazie sich am Ende wieder einfinden ko¨nne; und diese unendliche Reflexion steht bei Kleist in Analogie zu der Notwendigkeit, „die Reise um die Welt [zu] machen“, um zu sehen, ob das Paradies, „von hinten irgendwo wieder offen ist“.56 Kleist vergleicht mithin den Reflexionsvorgang, der den Raum des Unendlichen durchmisst, mit einer Erdumrundung. Nicht nur der Welthorizont, auch, ja gerade die Erdumrundung ist eine Reflexionsfigur, beinhaltet ‚Reflexion‘ doch die zirkula¨re Bewegung einer Ru¨ckkehr des denkenden Ichs zu sich selbst. In dieser Form, als Reflexionsfigur, insistiert die Trope des Globus auch noch in aktuellen Globalisierungstheorien, so sehr sie sich auch darum bemu¨hen, die Erdkugel als Landschaft auszuwalzen. Die kulturellen Praktiken der Welt haben demnach ihre vorglobale Unschuld verloren; die Produktion kultureller Gu¨ter setzt voraus, dass der Produzent eine mentale oder reflexive Reise um die Welt je schon unternommen hat. Folgt man Anthony Giddens, so gilt dies unter den 53 54 55 56
Robertson 1992, S. 6. Robertson 1995. Beck 2007, S. 87. Kleist 1990 [1810], S. 559.
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Bedingungen der Globalisierung nicht nur fu¨r die kulturelle, sondern fu¨r jede Form von Praxis, insofern sie entfernte soziale Kontexte miteinander in Beziehung setzt: „the modes of connection between different social contexts or regions become networked across the earth’s surface as a whole.“57 Die verschiedenen lokalen Kontexte kommunizieren miteinander im Medium der ganzen Welt; jeder Kontakt zwischen ihnen impliziert eine Erdumrundung. Wie die metaphysischen Spha¨ren durch das Globus-Denken der Moderne geistern, so spukt der moderne Globus durch das horizontalisierende Denken neuerer Globalisierungstheorien.
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Abbildungen Abb. 1: Fahne mit Emblem der Vereinten Nationen http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2 f/Flag_of_the_United_Nations.svg
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Welt oder Erde? Zwei Figuren des Globalen In der Welt sieht es kurios aus.1 Johann Peter Hebel
Paul Scheerbart avait de´ja` publie´ une vingtaine de volumes lorsque, un beau matin d’aouˆt 1914, on put lire de lui un article dans le Zeitecho […]. En voici le de´but tel qu’ils s’est grave´ dans ma me´moire: „Et que je proteste d’abord contre l’expression ‚guerre mondiale‘. Je suis certain qu’un aucun astre, si proche soit-il, n’ira se meˆler de l’affaire ou` nous sommes implique´s. Tout porte a` croire qu’une paix profonde ne cesse de planer sur l’univers stellaire.“ (Benjamin 1977 [1939], S. 630; Hervorhebung im Original)
Damit u¨bersetzt Walter Benjamin in einem wohl zu Beginn des sogenannten Zweiten Weltkriegs, auf Franzo¨sisch, verfassten Kurzessay ziemlich frei die Rede eines Prof. Grobleben „[i]n einem Privatzirkel“, welche das Erza¨hler-Ich eines kurzen Textes von Paul Scheerbart „ziemlich wortgetreu“ mitstenographiert zu haben behauptet: „Meine Damen und Herren!“, fing er ziemlich laut an, „da muß ich zuna¨chst gegen die Bezeichnung ‚Weltkrieg‘ recht energisch protestieren. Wenn man sich als Astronom an kosmische Verha¨ltnisse gewo¨hnt hat, sind die Dimensionen auf der Erdoberfla¨che ziemlich minimal. Was ist ein Schuß aus einem 42 Centimetergeschu¨tz gegenu¨ber einer einzigen Sonnenprotuberanz, die in ein paar Minuten gegen 10000 Meilen emporgeschleudert wird! Lassen wir also das Wort ‚Welt‘ aus dem Spiele. […]“ (Scheerbart 1992 [1914], S. 474)
Hat man also bisher in ganz irrefu¨hrender Weise von ‚Weltkriegen‘ gesprochen, wenn man ‚Erdkriege‘ meinte? Mu¨ssten nicht Tageszeitungen wie Le Monde oder Die Welt, die nicht gerade als Fachorgane der Astronomie bekannt sind, sondern sich sehr weitgehend auf Ereignisse in den ziemlich minimalen Dimensionen der Erdoberfla¨che beschra¨nken, richtiger La Terre oder Die Erde heißen? Unternehmen Globetrotter seit Magellan nicht eher Erdumseglungen, deren Verlauf auf Erdkarten nachgezeichnet werden kann? Du¨rfte man nicht im Fischer Weltalmanach mehr „Zahlen, Daten, Fakten“ (so der Untertitel des allja¨hrlich 1 Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 195. – Die im Folgenden hinter den Titeln in eckigen Klammern angegeben Jahreszahlen beziehen sich auf die Daten der Erstpublikation bzw. (in einigen Fa¨llen) der Niederschrift.
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erscheinenden Buches) u¨ber die von Professor Grobleben so gescha¨tzten Sonnenflecken erwarten, und dafu¨r etwas weniger u¨ber das Saarland? Und nicht zuletzt: Weil man „aus Scherz und Ernst in jedem Planeten eine andere Dichtkunst setzen ko¨nnte“ (Jean Paul 1963 [1804], S. 92), also mit venusianischen Elegien, marsianischen Epen und saturnischen Komo¨dien rechnen sollte, von diesen jedoch noch nichts bekannt ist – sollten wir einstweilen nicht besser u¨ber ‚Erdliteratur‘ statt u¨ber ‚Weltliteratur‘ diskutieren? Gegen diesen Vorschlag zur Umbenennung ko¨nnen – abgesehen davon, dass er sich ohnehin nicht durchsetzen wird – eine Reihe von Einwa¨nden erhoben werden,2 die hier als deren fu¨nf zusammengefasst seien: 1. Man versteht jedenfalls auch bei der Rede von ‚Welt‘, was gemeint ist; die Ersetzung durch ‚Erde‘ ist also u¨berflu¨ssig. 2. Wir kennen keine außerirdischen Intelligenzen, auf deren Mo¨glichkeit die ausdru¨ckliche Unterscheidung der Aktionsra¨ume ‚Welt‘ und ‚Erde‘ offenbar schielt. 3. Das Wort ‚Welt‘ bedeutet gar nicht buchsta¨blich ‚Weltall‘ oder ‚Universum‘; bei Scheerbarts Verwendung von ‚Welt‘ fu¨r „kosmische Verha¨ltnisse“ handelt es sich ebenso um eine tropische Verwendung des Wortes wie bei seiner Anwendung auf den Planeten Erde. 4. Wo¨rter wie ‚Erde‘ (aber auch ‚terre‘ oder ‚earth‘) bezeichnen auch ein Material und bringen damit nur eine andere Mehrdeutigkeit ins Spiel; u¨berdies lenkt dies von dem Sachverhalt ab, dass gerade die Oberfla¨che unseres Planeten zu (derzeit) 71 % aus Wasser, zu anderen großen Teilen aus Sand oder Fels besteht. ¨ kologien 5. Eine emphatische Bezugnahme auf die ‚Erde‘ la¨sst romantische O mitklingen (,Mother Earth‘), die in einem ungekla¨rten Verha¨ltnis zu chthonischen Mythen stehen. Da diese Einwa¨nde untereinander in verschiedenster Weise zusammenha¨ngen, ko¨nnen sie nicht ebenso disjunkt beantwortet werden; gleichwohl versuche ich, im Folgenden auf alle einzugehen. Denn tatsa¨chlich mo¨chte ich vorschlagen, sich der Verwendungen von ‚Welt‘ und ‚Erde‘ besser bewusst zu werden, um damit wechselseitige Arbeit an beiden Wo¨rtern zu leisten – wobei hier absichtlich nicht von der Arbeit an Begriffen gesprochen sei, weil diese Wo¨rter (wie noch auszufu¨hren ist) wohl besser als Figuren zu behandeln sind. Zum Gegenstandsbereich dieses Vorschlags za¨hlen, neben Rekonstruktionen der Geschichte beider Wo¨rter, a¨ltere und neue globalisierungstheoretische Texte aus den Bereichen Philosophie und Literaturwissenschaft, 2 Ich danke den Teilnehmern eines Workshops der Gruppe Weltnetzwerke, die fu¨r eine erste Formulierung dieser Einwa¨nde sorgten, als ich in Heidelberg 2011 meinen Vorschlag in einer allerersten unausgegorenen Form vorstellte.
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aber auch die „lehrreichen Nachrichten und lustigen Erza¨hlungen“ Johann Peter Hebels.
Sinn und Bedeutung von ‚Welt‘ und ‚Erde‘ Weder Grobleben, der unter ‚Welt‘ das Weltall, noch ein ga¨ngiger Sprachgebrauch, der darunter die Erde verstehen will, kann sich dafu¨r auf einen gesicherten buchsta¨blichen Sinn des Wortes stu¨tzen. ‚Welt‘ hat im Verlauf seiner Geschichte Bevo¨lkerungsgruppen, Zeiten und Ra¨ume bezeichnet, also soziale, temporale und lokale Funktionen u¨bernommen. Insofern es wohl aus dem Kompositum ‚wer-alt‘ (mit ‚wer‘ in der Bedeutung von ‚Mann‘, ‚Mensch‘) entstanden ist,3 scheint die Verschra¨nkung einer sozialen und einer temporalen Bedeutungsdimension am Anfang gestanden zu haben. Dazu passt auch, dass ¨ bersetzungen von ‚saeculum‘ sind und dieses Wort wiedie a¨ltesten Belege U derum im antiken Latein eine vergleichbare Funktion u¨bernahm (mit ‚Geschlecht‘ oder ‚Menschenalter‘ als dominanten Bedeutungen). Doch trat die lokale Komponente bald hinzu: ‚saeculum‘, das fu¨r die pra¨gung und verwendung des germ. wortes [Welt] bestimmend geworden ist […], war seit beginn der christlichen epoche, also schon im spa¨ten altertum und fru¨hen mittelalter, nicht mehr ausschlieszliche bezeichnung fu¨r einen reinen zeitbegriff. ebenso wie das bedeutungsentsprechende griechische wort !i~m an vielen stellen des neuen testaments bereits mit j|slor gleichgesetzt worden war, so war das – in den lat. bibelu¨bersetzungen dafu¨r eintretende – lat. aequivalent saeculum in sinnverwandtschaft mit mundus, der gela¨ufigen entsprechung von j|slor, geraten (Grimm 1954, 1458).
Vielleicht la¨sst sich dieses Bedeutungsgeflecht explizieren als: ‚der ra¨umliche und zeitliche Bezugsrahmen einer Bevo¨lkerungsgruppe, darunter vornehmlich der Menschen u¨berhaupt‘. Dann jedoch entspra¨che der semantische Kern dieses Wortes strukturell seinen „metaphorische[n] anwendungen mannigfacher art“, die der Artikel ‚Welt‘ im Deutschen Wo¨rterbuch erst im Abschnitt VIII (bzw. in der vorangestellten Zusammenfassung fu¨r diesen Abschnitt) anfu¨hrt: u¨berall, wo der sprecher auf ein abgeschlossenes ganzes, auf universale fu¨lle, welcher art auch immer, zielt, springt das wort welt als bezeichnung ein: fu¨r ‚einen in sich geschlossenen bezirk verschiedener art, der in seiner eigensta¨ndigkeit und eigengesetzlichkeit gleichsam ein all im kleinen darstellt‘ (Grimm 1954, 1458; vgl. ebd., 1497).
3 Kluge 2002, S. 983 – vgl. aber : „die begriffliche herleitung von wer-alt […] ist schwierig“ (Grimm 1954, 1456).
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Kleine Welten, wie diejenigen einer Ma¨usegemeinde oder eines Maulwurfbaus,4 wa¨ren dann nur anders skaliert als der ‚kreis der erdbewohner‘ (Abschnitt III A) oder – davon bemerkenswerterweise „nicht scharf abzugrenzen“ – der ‚erdkreis‘ (Abschnitt V, Zitat: Grimm 1954, 1486). Und ‚Welt‘ im Sinne von ‚Weltall‘ (Universum, vgl. Abschnitt VII) wa¨re, als gro¨ßtmo¨gliche Skalierung, zugleich eine Hyperbel, die auf das gro¨ßte denkbare All zielt. Auch dieses ist noch „ein all im kleinen“, insofern es als ein irgendwie „abgeschlossenes ganzes“ gedacht wird (Grimm 1954, 1458). Wa¨hrend freilich Metaphern wie ‚Welt der Maulwu¨rfe‘ oder ‚Welt der Ma¨use‘ u¨blicherweise im eng benachbarten syntaktischen Kontext pra¨zisiert werden mu¨ssen (sei es durch ganze Erza¨hlungen, sei es durch abku¨rzende Genitivattribute), scheint die Verwendung von ‚Welt‘ in der Bedeutung von Erde keiner ausdru¨cklichen Bestimmung zu bedu¨rfen. Auf die Frage danach, wer den Bezugspunkt dieses raumzeitlichen Ganzen bildet, antwortet der Etymologe mit ‚wer‘, der Mensch im Allgemeinen. Solange also noch keine Marskolonien existieren, bezeichnet ‚Welt‘ in der gela¨ufigsten Verwendung denselben Raum wie ‚Erde‘ in der hier maßgeblichen Verwendung. Der Anthropomorphismus, auf dem die Identita¨t des Bedeutungsumfangs beruht, wird dabei u¨blicherweise nicht als solcher ausgewiesen. Zwar ist, wie Jacob Grimms 1860 (also fast 100 Jahre vor ‚Welt‘) erschienener Artikel ‚Erde‘ festha¨lt, auch die Geschichte dieses Wortes nicht leicht auszuloten: „eines so durchgreifenden, altverja¨hrten wortes ursprung verliert sich im dunkel.“ (Grimm 1860, 749) Grimm, der mehr Fragen stellt als Antworten gibt – „welchen sinn legen soll man in eins dieser [etymologisch vielleicht verwandten] wo¨rter?“ (Grimm 1860, 750) – legt immerhin nahe, dass ein semantischer Kern dieses Wortes im Bereich des Agrarischen liegt: trockenes, vielleicht: trockengelegtes, bebaubares Land (,terra‘ von ‚torrere‘), das sich in der Na¨he des eigenen Wohnorts befindet (vgl. das etymologisch vielleicht verwandte ‚Herd‘). Nachdem Grimm diese Spekulationen jedoch bei Punkt 7) recht unwirsch abgebrochen hat – „es ist zeit auf die heutigen bedeutungen des wortes zu gelangen“ (Grimm 1860, 751) –, stellt er dieses zeitgeno¨ssische Bedeutungsspektrum ohne Anspruch auf eine historische Rekonstruktion zusammen und beginnt dabei mit einer Bedeutung, die nach seinen eigenen Maßsta¨ben eine sehr junge ist, jedenfalls insofern sich der Bezugsrahmen dieser Definition erst um 1700 allgemein durchgesetzt hatte: „a) erde bezeichnet unsern zwischen Mars und Venus die sonne umkreisenden planeten.“ (Grimm 1860, 751) Besitzt also ‚Welt‘ (in der Bedeutung V) dasselbe Denotat wie ‚Erde‘ (in der Bedeutung 7 a), so unterscheiden beide sich doch in ihren Konnotationen. Oder, 4 Vgl. Kafka 1994 [1924], S. 376 („in unserer Welt“), ders. 1992 [1923], S. 603 („Es ist eine neue Welt“). Vgl. auch die Beispiele bei Grimm 1954, 1498.
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in einer Terminologie, die sich schon deshalb hier aufdra¨ngt, weil ihr Urheber Gottlob Frege sie in einem Aufsatz einfu¨hrt, der nicht weniger als acht verschiedene, teils ausfu¨hrlich, teils mehrfach diskutierte Beispiele aus dem Bereich der Astronomie und ihrer Geschichte entha¨lt: So wie ‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ die gleiche Bedeutung besitzen (auf die man am einfachsten mit dem Wort ‚Venus‘ referiert), ihr Sinn, also die „Art des Gegebenseins des Bezeichneten“, sich jedoch unterscheidet, so besitzen auch ‚Erde‘ und ‚Welt‘ in vielen Kontexten die gleiche Bedeutung, wa¨hrend die Unterschiede ihres Sinnes durchaus betra¨chtlich sind.5 Allerdings funktionieren die Wo¨rter ‚Welt‘ und ‚Erde‘ offenbar komplizierter als diejenigen aus dem ‚Venus‘-Beispiel. Zum einen werden beide Wo¨rter offenbar noch in vielen anderen Bedeutungen gebraucht (auf die zuru¨ckzukommen sein wird), wa¨hrend ‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ einen einigermaßen stabilen Referenten besitzen. Zum anderen wu¨rde bei der Analyse der SinnVerzweigung von ‚Welt‘ und ‚Erde‘ – fu¨r die hier ausschlaggebenden Kontexte – eines dieser beiden Wo¨rter an der Stelle wiederkehren, an der die beiden Wo¨rtern gemeinsame Bedeutung angegeben wird: SINN ,Abendstern‘ ‚Morgenstern‘
BEDEUTUNG6 ,Venus‘
,Erde‘ ,Welt‘
,Erde‘
Dieser Effekt, dass hier ein Wort in der linken und der rechten Spalte auftritt, ließe sich zwar durch eine Umschreibung vermeiden, die astronomisches Wissen einfu¨hrt – indem man etwa ‚Erde‘ expliziert durch „,der Planet, welcher von einem Monde begleitet ist, dessen Durchmesser gro¨ßer als der vierte Teil seines eigenen ist‘“ (Frege 1975 [1892], S. 53). Abgesehen davon jedoch, dass eine solche Umschreibung auf historisch markiertem Wissen beruht, wu¨rde sie gerade den Sachverhalt unterschlagen, dass das Wort ‚Erde‘ eben auch im selben 5 Vgl. Frege 1975 [1892], S. 41. Da sich diese Terminologie nicht allgemein durchgesetzt hat – und ich noch im gleichen Aufsatz die beiden Wo¨rter auch mit anderer Bedeutung oder anderem Sinn verwenden werde –, werden die Wo¨rter Sinn und Bedeutung hier immer kursiviert, wenn sie in der Frege’schen Bedeutung verwendet werden. 6 „SINN“ ist hier eine Abku¨rzung fu¨r : ‚Wo¨rter, mit denen die Art des Gegebenseins akzentuiert wird‘; „BEDEUTUNG“ ist eine Abku¨rzung fu¨r : ‚Wo¨rter, die man u¨blicherweise verwendet, wenn man von der Art des Gegebenseins abzusehen versucht‘. (Mit Dank an Christopher Rudoll.)
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Register gebra¨uchlich ist wie das Wort ‚Venus‘: Man verwendet es immer dann, wenn man auf astronomisches Allgemeinwissen rekurriert, ohne sich einer spezifischen astronomischen Fachterminologie zu bedienen. Nicht nur also droht bei der Verwendung des Wortes ‚Erde‘ eine Verwechslung zwischen mindestens zwei verschiedenen Bedeutungen (Material und Planet); nicht nur la¨sst sich vom Planeten Erde mit mehreren Wo¨rtern von gleicher Bedeutung, aber verschiedenem Sinn sprechen (,Erde‘, ‚Welt‘, ‚der Planet, welcher von einem Monde begleitet ist, dessen Durchmesser gro¨ßer als der vierte Teil seines eigenen ist‘) – u¨berdies droht dabei eine Verwechslung zwischen Sinn und Bedeutung, also zwischen der Funktion des Wortes, etwas zu bedeuten und dabei gleichzeitig einen Sinn zu evozieren, und derjenigen, diesen Vorgang unter Ausschaltung des Sinns auf eine Bedeutung zuru¨ckzufu¨hren (zu vereindeutigen). Oder, mit dem Problem, von dem Frege in seinem Aufsatz ¨ ber Sinn und Bedeutung“ ausgeht: Es droht eine Verwechslung von zwei „U verschiedenen Formen der Gleichheit, die als das analytische Urteil a priori a=a und das synthetische Urteil a=b unterschieden werden (vgl. Frege 1975 [1892], S. 40). Wa¨hrend na¨mlich die Urteile ‚Der Abendstern ist die Venus‘ und ‚Der Morgenstern ist die Venus‘ (formalisierbar etwa als a1=b und a2=b) der „Wiedererkennung eines […] Planeten“ (Frege 1975 [1892], S. 40)7 dienen, wu¨rde dies vielleicht noch von ‚Die Welt ist die Erde‘ (a1=b), nicht aber von ‚Die Erde ist die Erde‘ gelten, ein Urteil, das zumindest auf der Ebene der „Zeichen“ (und um diese geht es hier, vgl. Frege 1975 [1892], S. 41) nicht die erwartbare Gestalt a2=b, sondern die von b=b besitzt. Wenn sich dieses Problem bei Bezeichnungen fu¨r andere Planeten nicht stellt – wenngleich bei ihnen andere Probleme auftreten, insbesondere natu¨rlich durch ihre Benennung nach ro¨mischen Go¨ttern –, so du¨rfte diese Asymmetrie damit zusammenha¨ngen, dass gerade auf dem Planeten Erde die einzigen bisher bekannten Wesen wohnen, die Sinn produzieren, diesen sodann wieder auf Bedeutung reduzieren wollen, damit neuerlich Sinn produzieren, ad libitum – und deshalb wiederaufzugreifen.
7 Denn, wenngleich diese Wiedererkennung im Falle der Venus als gesichert gelten kann, so ist dies doch im Falle anderer Himmelsko¨rper eines der in Freges Zeit noch aktuellen Probleme, zu deren Beschreibung der Aufsatz beitragen will: „Noch jetzt ist die Wiedererkennung eines kleineren Planeten oder eines Kometen nicht immer etwas Selbstversta¨ndliches.“ (Frege 1975 [1892], S. 40)
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Der wahre Politiker und die Außerirdischen (Scheerbart / Benjamin / Kant)
Irdische Wesen sind wir also nicht nur insofern, als wir keine u¨berirdischen sind, sondern auch insofern, als wir keine außerirdischen sind. Deshalb ist Walter Benjamins Interesse an den Texten des wichtigsten Erfinders von Außerirdischen im Bereich der deutschsprachigen Literatur keine bloße Science-FictionPhantasie, sondern fu¨hrt in ein Zentrum seines Denkens. Benjamins eingangs zitierte kurze Notiz zu Paul Scheerbart greift, passagenweise im Modus der Selbstu¨bersetzung, auf eine bereits zwischen 1917 und 1919 auf Deutsch verfasste, a¨hnlich kurze Kritik von Scheerbarts Roman Lesabe´ndio zuru¨ck. Diese wiederum hat Benjamin 1919/20 zu einer gro¨ßeren, nicht erhaltenen Arbeit ausgebaut, welche den Titel „Der wahre Politiker“ trug.8 Niemand Geringerer als der wahre Politiker also nennt die Erde, welche andere ‚Welt‘ nennen, ‚Erde‘.9 Seine Hoffnung auf Frieden ist untrennbar von der Einsicht: „Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen“ (Herder 1989 [1784 – 1791], ¨ berschrift des ersten Kapitels des ersten Buches). Zwar gibt es fu¨r BenS. 21: U jamins ‚Zitat‘ „Tout porte a` croire qu’une paix profonde ne cesse de planer sur l’univers stellaire“ keine genaue Entsprechung in Scheerbarts Text; dem Wortlaut am na¨chsten kommt Groblebens in weniger prophetischer Gewissheit vorgetragene Aussage: „es kann sich auch ’mal eine neue Friedensepoche anmelden.“ (Scheerbart 1992 [1914], S. 476). Gleichwohl fasst Benjamins Satz nicht nur die Aussagen Groblebens pra¨gnant zusammen, die von einem „große[n] Optimismus“ (Scheerbart 1992 [1914], S. 478) zugleich zeugen und ihn bei den Zuho¨rern erzeugen; u¨berdies ist dieser Optimismus ein Signum von Scheerbarts gesamter erza¨hlerischer Produktion von Außerirdischen, fu¨r die der Roman Lesabe´ndio charakteristisch ist. Mag es gerade auf der Erde nicht zum Besten stehen – andere, etwa die Bewohner des Asteroiden Pallas, haben andere Probleme und lo¨sen sie auf andere Weise. Von ihnen zu erza¨hlen, heißt, andere Mo¨glichkeiten vorzuschlagen. Benjamin stellt Scheerbart einerseits in die utopische Tradition Fouriers, andererseits in die „de ces humoristes qui, tel Lichtenberg ou Jean Paul, ne semblent jamais oublier que la terre est un astre.“10 Lichtenberg und Jean Paul 8 Vgl. die Anmerkungen der Herausgeber zu: Benjamin 1972 – 1989, Bd. 2, S. 1423 f. (gestu¨tzt auf Briefe Benjamins und die Erinnerungen Gershom Scholems). 9 Zwar la¨sst sich natu¨rlich nicht sichern, dass sich schon die Arbeit „Der wahre Politiker“ (anders als der fru¨he, u¨berlieferte Aufsatz) auf die Ausfu¨hrungen des Professors Grobleben bezog, die Benjamin im spa¨ten Aufsatz zitiert; gerade der Sachverhalt, dass er sie dort aus dem Geda¨chtnis zitiert, ko¨nnte aber ein Indiz dafu¨r sein, dass er sie schon einmal zitiert hatte. 10 Benjamin 1977 [1939], S. 632. Vgl. auch Benjamin 1972 [1932], ein Ho¨rspiel u¨ber Lichten-
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freilich stehen ihrerseits in einer Tradition des teils erza¨hlerischen, teils philosophischen, philosophisch erza¨hlenden und erza¨hlerisch philosophierenden Schreibens u¨ber die ‚Mehrzahl der Welten‘, das mal didaktische Intentionen verfolgt (etwa in Fontenelles Entretiens sur la pluralite´ des mondes, 1686), mal satirische Akzente setzt (insbesondere in Voltaires Microme´gas, 1752), aber auch integraler Bestandteil von kosmologischen Systemen sein kann (z. B. in Huygens’ Kosmotheoros, 1697) und noch einer Gru¨ndungsschrift der Anthropologie (Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1784 – 91) zum Ausgangspunkt dient.11 Immanuel Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels za¨hlt im Selbstversta¨ndnis des Verfassers zu den philosophischen Beitra¨gen im Feld der Pluralita¨tsdebatten, die sich von der „Freiheit zu erdichten“ oder „Phantasei“ ausdru¨cklich absetzen (vgl. Kant 1983 [1755], A 174).12 Kant beansprucht darin im dritten und letzten Teil, „welcher einen Versuch einer auf die Analogien der Natur gegru¨ndeten Vergleichung zwischen den Einwohnern verschiedener Planeten in sich entha¨lt“ (Kant 1983 [1755], A 171), das beliebte Verfahren der Analogieschlu¨sse und Konjekturen13 auf eine systematische Grundlage zu stellen. Schon Fontenelle hatte seinen galanten Ich-Erza¨hler, der eine Marquise fu¨r das kopernikanische Weltbild zu gewinnen bestrebt ist, spekulieren lassen, die Venus-Bewohner mu¨ssten angesichts der heißen Temperaturen auf ihrem Planeten ein hitzigeres Temperament besitzen als die Mauren von Granada. Kant korreliert die Temperaturen mit der Materie der Bewohner : Der Stoff, woraus die Einwohner verschiedener Planeten, ja so gar die Tiere und Gewa¨chse auf denselben, gebildet sein, muß u¨berhaupt um desto leichterer und feinerer Art, und die Elastizita¨t der Fasern, samt der vorteilhaften Anlage ihres Baues, um desto vollkommener sein, nach dem Maße als sie weiter von der Sonne abstehen. (Kant 1983 [1755], A 185)
Da nun wiederum die „geistige[n] Fa¨higkeiten eine notwendige Abha¨ngigkeit von dem Stoffe der Maschine haben, welche sie bewohnen“ (Kant 1983 [1755], A 186), ergibt sich daraus, daß die Vollkommenheit der Geisterwelt sowohl, als der materialischen in den Planeten, von dem Merkur an bis zum Saturn, oder vielleicht noch u¨ber ihm (wofern noch andere Planeten sein), in einer richtigen Gradenfolge, nach der Proportion ihrer Entfernung berg, das er in eine Scheerbart’sche Anordnung – mit dem Personal aus Lesabendio und der lunaren Erdbeobachtung aus Die große Revolution – versetzt. (Mit Dank an Elisabeth Kolb fu¨r die Erinnerung an diesen Text.) ¨ berblick, mit Textausschnitten: Fetscher / Stockhammer (Hg.) 1997. 11 Vgl. zu einem U 12 Die Seitenangaben der Kant-Texte (mit Sigle A) sind die der Erstausgaben, die in vielen neueren Ausgaben annotiert werden. 13 Vgl. z. B. Milton 1968 [1667], Buch VIII, vv. 66 – 178 (Raffael zu Adam u¨ber mo¨gliche andere Welten, dort auch das Wort „Conjecture“, v. 76).
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von der Sonne, wachse und fortschreite. (Kant 1983 [1755], A 188 f.; Hervorhebung im Original)
Erst gegen Ende der Abhandlung verla¨sst Kant den „Leitfaden der physischen Verha¨ltnisse“, an dem er „die bisherige Mutmaßung […] treulich fortgefu¨hret“ hat, und erlaubt sich dann doch „noch eine Ausschweifung aus diesem Gleise in das Feld der Phantasie“ (Kant 1983 [1755], A 196 f.), die ihn ausgerechnet auf die Erde zuru¨ckfu¨hrt. Diese liege, vielleicht noch zusammen mit dem Mars, „in der gefa¨hrlichen Mittelstraße“, also „zwischen der Weisheit und Unvernunft“, wo allein man su¨ndigen ko¨nne: Die Bewohner des Saturn und des Jupiter sind zu weise, um u¨berhaupt zu su¨ndigen; diejenigen des Merkur und der Venus hingegen sind „zu fest an die Materie geheftet und mit gar zu geringen Fa¨higkeiten des Geistes versehen“, um ein Konzept von Su¨nde zu besitzen (Kant 1983 [1755], A 197). Nicht nur antizipiert diese Beschreibung des Menschen, zumindest in ihrem Tenor, die „empirisch-transzendentale Dublette“ (Foucault 1971 [1966], S. 384), auf welche Kants Kritiken ausgerichtet sind, gerade auch hinsichtlich des in Freiheit und Natur gespaltenen Subjekts der praktischen Philosophie. Noch der ‚kritische‘ Kant wird an seiner Annahme von Bewohnern anderer Planeten festhalten – wobei der Status dieser Annahme freilich zum ‚starkem Glauben‘ zuna¨chst, schließlich gar zur ‚Meinung‘ sinkt: Wenn es mo¨glich wa¨re, durch irgend eine Erfahrung auszumachen, so mo¨chte ich wohl alles das Meinige darauf verwetten, daß es wenigstens in irgend einem von den Planeten, die wir sehen, Einwohner gebe. Daher sage ich, ist es nicht bloß Meinung, sondern ein starker Glaube (auf dessen Richtigkeit ich schon viele Vorteile des Lebens wagen wu¨rde), daß es auch Bewohner anderer Welten gebe. (Kant 1983 [1781], A 825) Vernu¨nftige Bewohner anderer Planeten anzunehmen, ist eine Sache der Meinung; denn, wenn wir diesen na¨her kommen ko¨nnten, welches an sich mo¨glich ist, wu¨rden wir, ob sie sind, oder nicht sind, durch Erfahrung ausmachen; aber wir werden ihnen niemals so nahe kommen, und so bleibt es beim Meinen. (Kant 1983 [1790], A 450)
Kann man diese Rekurse auf die pluralite´ des mondes noch als bloße Beispiele fu¨r Bestimmungen von ‚Glauben‘ oder ‚Meinung‘ u¨bergehen, so besitzt der Verweis auf, wie immer auch hypothetische, Einwohner anderer Planeten in einer Fußnote zu einem anderen Text aus ‚kritischer‘ Zeit eine durchaus argumentative Funktion: * Die Rolle des Menschen ist also sehr ku¨nstlich. Wie es mit den Einwohnern anderer Planeten und ihrer Natur beschaffen sei, wissen wir nicht; wenn wir aber diesen Auftrag der Natur gut ausrichten, so ko¨nnen wir uns wohl schmeicheln, da wir unter unseren Nachbaren im Weltgeba¨ude einen nicht geringen Rang behaupten du¨rften. Vielleicht mag bei diesen ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben vo¨llig erreichen. Bei uns ist es anders; nur die Gattung kann dieses hoffen. (Kant 1982 [1784], A 397; Hervorhebung R. S.)
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Hier, in dem Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbu¨rgerlicher ¨ berzeugung abgeru¨ckt, dass „die Absicht“, ist Kant also zwar von seiner festen U meisten unter den Planeten gewiß bewohnt“ seien (Kant 1983 [1755], A 179) – doch ha¨lt er an dem Verfahren fest, den Menschen dadurch zu bestimmen, was er nicht ist, was auf der Erde auch nicht unter anderen Lebewesen (etwa unter den nicht-menschlichen Tieren) anzutreffen ist, was aber als Mo¨glichkeit denkbar ist. Von anderen Wesen auf der Erde zwar unterscheidet sich der Mensch durch seine Vernunft, von deren Gebrauch all seine „Glu¨ckseligkeit, oder Vollkommenheit“ abha¨ngt (vgl. Kant 1983 [1784], A 390; Hervorhebung im Original). Von keinem bekannten Wesen jedoch unterscheidet er sich darin, dass an ihm „sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollsta¨ndig entwickeln“ sollen (Kant 1983 [1784], A 388; Hervorhebung im Original). Weil sich die Anlagen von Einzelnen in seiner „ungesellige[n] Geselligkeit“, also im Spannungsfeld seiner gegensa¨tzlichen Neigungen, sich zu isolieren und zu vergesellschaften (Kant 1982 [1784], A 392; Hervorhebung im Original), am besten verwirklichen, so besteht „die ho¨chste Aufgabe der Natur fu¨r die Menschengattung“ in der Anna¨herung an „eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter a¨ußeren Gesetzen im gro¨ßtmo¨glichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bu¨rgerliche Verfassung“ (Kant 1983 [1784], A 395; Hervorhebung im Original). Und weil sich die ungesellige Geselligkeit der Individuen innerhalb eines Staates auf der ho¨heren Ebene des Verha¨ltnisses der Staaten zueinander wiederholt, ist ein „allgemeiner weltbu¨rgerlicher Zustand“ (Kant 1983 [1784], A 407; Hervorhebung im Original) die notwendige Voraussetzung fu¨r diese Vervollkommnung der Gattung. Dies wird dann die noch bekanntere Schrift Zum Ewigen Frieden entwickeln. Zwar bedeutet das ‚welt-‚ in ‚weltbu¨rgerlich‘ (wie in einigen anderen ‚Welt-‘ Komposita in Kants Texten) derzeit noch die Erde – erst Kurd Laßwitz wird Marsianer, deren wichtigster Philosoph Imm heißt, einen „Weltfrieden“ abschließen lassen, der Scheerbarts Kriterien fu¨r die Verwendung von ‚Welt‘Komposita genu¨gt, insofern er ein interplanetarischer ist.14 Das ‚Welt-‘ in „Weltgeba¨ude“ jedoch, von dem die oben zitierte Fußnote handelt, bedeutet das Weltall, in dem es mo¨glicherweise „Nachbaren“ gibt, bei denen „ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben vo¨llig erreich[t]“. Dieser bloß denkbare Sachverhalt bildet die Kontrastfolie fu¨r die Verha¨ltnisse auf der Erde: „Bei uns ist es anders“. Wir sind, selbst wenn wir die Einzigen sein sollten, die Anderen. 14 Vgl. Laßwitz 1982 [1897], S. 57 (zur Bu¨ste des Philosophen Imm, der den Martiern „die Lehre von der Numenheit enthu¨llt hatte“) und 876 – 895 (Schlusskapitel „Weltfrieden“).
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3.
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Das Planetarische (Spivak / Hebel)
Fa¨lschlicherweise stellt man sich das Planetarische als etwas Großes vor. In den meisten Zusammenha¨ngen soll die Wendung ‚von planetarischem Ausmaß‘ ein Territorium evozieren, das sehr große Regionen umfasst, meist sogar Kontinente u¨bergreift. Nimmt man das Wort jedoch, mit Professor Grobleben, in seiner astronomischen Bedeutung, so bezeichnet es etwas eher Kleines: ein Nebengestirn, das um ein gro¨ßeres kreist. Auch extrasolare Planeten (also solche außerhalb unseres Sonnensystems), die u¨berhaupt erst seit ungefa¨hr zwanzig Jahren mit einiger Plausibilita¨t ausgemacht werden ko¨nnen, sind zwar, im Vergleich zur Erde, nicht unbedingt klein, jedenfalls aber kleiner als ihre Zentralgestirne. Gayatri Chakravorty Spivaks Vorschlag, die Figur des Planetarischen in die Diskussionen u¨ber ‚Tod‘ und Neubestimmung der Komparatistik einzufu¨hren,15 zielt auf Gro¨ße und Kleinheit des Planeten Erde zugleich. Einerseits betont Spivak, in Fortsetzung der Kritik am Eurozentrismus, die Notwendigkeit, Literatur in den verschiedensten Sprachen zu lesen, also auch in jenen, die von den anglozentrischen Postcolonial Studies ebenso ignoriert werden wie von der ‚klassischen‘ Komparatistik, die neben dem englisch- besonders den franzo¨sisch- und den deutschsprachigen Bereich privilegiert. Dabei pla¨diert sie auch dafu¨r, an die Area Studies anzuknu¨pfen, soweit diese ihrerseits in Transformation begriffen sind, also die Vorstellung von in sich geschlossenen territorialen Einheiten in Frage stellen und den Bewegungen zwischen den Arealen zunehmend Rechnung tragen (vgl. Spivak 2003, S. 3).16 Andererseits jedoch wa¨re noch dieses planetarische Areal nicht das Ganze, sondern etwas, das sich in einem Außenraum bewegt, in einem Anderen, das weder die dialektische Negation noch die kontinuierliche Fortsetzung der Erdbewohner ist: If we imagine ourselves as planetary subjects rather than global agents, planetary creatures rather than global entities, alterity remains underived from us; it is not our dialectical negation, it contains us as much as it flings us away. […] what is above and beyond our reach is not continuous with us as it is not, indeed, specifically discontinuous. (Spivak 2003, S. 73)
15 Das zweite Kapitel ihres Death of a Discipline betitelten Buches beginnt: „We are going to redo Comparative Literature“ (Spivak 2003, S. 25). 16 Dahingestellt bleibe, ob eine Kooperation der Komparatistik mit den Area Studies zu „a type of language learning that fosters access to textuality“ (Spivak 2003, S. 15, vgl. auch 106, Anm. 12) fu¨hren ko¨nne, solange die Area Studies anderen Auffassungen der dominanten Funktionen von Sprache verpflichtet bleiben.
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Als ein solches Anderes-im-Eigenen, vielleicht besser : Anderes-am-Eigenen ist das Planetarische, im Freud’schen Sinn, unheimlich (vgl. Spivak 2003, S. 73 ff.). Prozesse einer „defamiliarization of the familiar“ (Spivak 2003, S. 77) sind in den vergangenen Jahren vor allem an (post)kolonialen Konstellationen nachgezeichnet worden; auch Spivak bezieht sich unter anderem auf Joseph Conrads Heart of Darkness. Doch muss die Begegnung vermeintlich vertrauter Einheiten mit vermeintlich unvertrauten nicht notwendigerweise an den Bruchstellen von Kolonisatoren und Kolonisierten stattfinden. Hier sei in diesem Zusammenhang stattdessen an einen Autor erinnert, der (wie die von Benjamin genannten Lichtenberg, Jean Paul und Scheerbart) ebenfalls nie vergisst, dass die Erde ein Stern ist. In allen Jahren, in denen Johann Peter Hebel maßgeblich oder allein den Rheinla¨ndische[n] Hausfreund verantwortete (also von 1808 bis 1815, und dann noch einmal 1819), hat er diesen „Neue[n] Kalender“ mit „Betrachtungen u¨ber das Weltgeba¨ude“ ero¨ffnet. Diese, nach dem Ablauf einiger Jahre mit wenigen ¨ nderungen wiederkehrenden, also ihrerseits gleichsam planetarischen Texte A bieten astronomisches Grundwissen u¨ber Erde und Sonne, Mond, Planeten, Fixsterne und Kometen. Man erfa¨hrt darin beispielsweise: „Die Venus ist der zweite Planet, und diesen kennen wir alle unter einem anderen Namen, als Abendstern oder Morgenstern.“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 88; Hervorhebung im Original) Vom heutigen Wissen weichen Hebels Angaben vor allem in der Zahl der Planeten ab, da Neptun und Pluto (dem ja ohnehin der Planetenstatus inzwischen wieder aberkannt wurde) noch nicht entdeckt waren, vier der seinerzeit frischentdeckten Kleinplaneten auf dem Asteroidengu¨rtel zwischen Mars und Jupiter – Pallas, Juno, Ceres und Vesta – damals jedoch noch als Planeten galten (so dass Hebel deren elf za¨hlt, vgl. Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 156 und 158, bzw. 623 und 626). Die Erde kommt, wie die nicht-disjunkte Aufza¨hlung der Themen schon andeutete, dabei doppelt vor : einmal als „unser Wohnplatz“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 85), einmal aber auch als „unsere Erde selber“, na¨mlich als „der na¨chste Planet nach der Venus, oder der dritte von der Sonne weg“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 156, 624). Einmal also ist die Erde der einzige bisher bekannte Ort, an dem Betrachtungen u¨ber das Weltgeba¨ude angestellt werden, ein andermal wird sie als eine Station auf dem Weg von der Sonne zum Uranus angeflogen. Wie schon bei Herder,17 wie noch bei Alexander vom Humboldt, ist die Erde eine „Flughafen-Erde (auf der man startet und landet)“ (Sloterdijk 1999, S. 815). Bei der Landung erweist sie sich sozusagen u¨berraschenderweise als jener Planet, der schon aus anderen Beschreibungen
17 Von Herder (vgl. 1989 [1784 – 1791], S. 21) ko¨nnte Hebel die Bezeichnung „unser Wohnplatz“ fu¨r die Erde u¨bernommen haben.
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bekannt ist – so dass das „unsere Erde selber“ hier Ausdruck der u¨berraschten Wiedererkennung ist. Zwar macht Hebel im Vergleich zu Fontenelles Entretiens, die mehr als hundert Jahre zuvor eine vergleichbare didaktische Aufgabe erfu¨llten, nur vorsichtigen Gebrauch von Bewohnbarkeitsphantasien. Immerhin „will es [ihm] nicht scheinen, daß alle diese zahllosen Sterne, zumal diejenigen, die man mit bloßem Auge nicht sehen kann, nur wegen uns erschaffen worden wa¨ren, und damit der Kalendermacher fu¨r des Lesers Geld etwas daru¨ber schreiben ko¨nnte.“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 303) Dies anzunehmen wa¨re ungefa¨hr so, als ginge ¨ bernachtung in einer fremden Stadt davon aus, dass die ein Reisender bei der U Lichter in anderen Ha¨usern nur zu seiner Belustigung bestimmt seien (vgl. 2010 [1803 – 1819], S. 303). Vielmehr „wollen versta¨ndige Leute glauben“, dass auch zu jenen Fixsternen „Planeten und Erdko¨rper […] geho¨ren, […] und es mu¨ssen darauf lebendige und vernu¨nftige Gescho¨pfe wohnen“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 303 f.). Mehr jedoch als uns andere Planeten vertrauter zu machen, indem er sie mit anderen Gescho¨pfen besiedelt, macht Hebel uns „unsere Erde selber“ unvertrauter. Wenn er eine Reise zum „Abendstern“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 410) durchspielt, so ist sein Astronaut schnell auf dieser „neuen Erde“ gelandet (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 411) – der Ausdruck ‚Erde‘ fu¨r einen anderen Planeten18 wird wohlgemerkt erst bei der Landung auf diesem Planeten verwendet. Kaum auf der Venus angekommen, wendet Hebels Raumfahrer seinen Blick zuru¨ck auf „die Erde“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 411), die dabei als alte und neueste zugleich gesehen wird: „Sieh dort,“ wu¨rde er zu seinem ersten Bekannten sagen, mit dem er bekannt wird, sieh jenen lieblichen Stern, dort bin ich daheim, und mein Vater und meine Mutter leben auch noch dort. Die Mutter ist eine geborne so und so. Es mu¨ßte ein wundersames Vergnu¨gen sein, die Erde unter den Sternen des Himmels und ganz als ihres Gleichen wandeln zu sehen […] (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 411)
Es wa¨re nur ein wenig u¨bertrieben zu sagen, dass die Menschen auf der Erde als Außerirdische lebten. Ja, der ganze Hausfreund ist aus der Sicht dieses Raumfahrers geschrieben: Was aber sonst noch von der Erde zu sagen ist, und wie ihre Einwohner ta¨ten, was dem Herrn u¨bel gefiel, bisweilen aber doch auch etwas das ihm wohl gefiel, siehe das ist geschrieben in den vorigen Jahrga¨ngen des Kalenders. (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 624, vgl. auch 156)
Damit wird, im zweiten Kapitel u¨ber die Planeten, auf die Kapitel u¨ber die Erde innerhalb der „Allgemeinen Betrachtung u¨ber das Weltgeba¨ude“ zuru¨ckver18 Vgl. zu dieser Bedeutung: Grimm 1860, 751.
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wiesen, die von der Kugelgestalt der Erde und der Geschichte ihrer Umrundung handeln: etwa vom „Seekapita¨n Coock“, der bei seiner dritten Reise von den „Wilden auf der Insel Owai ein wenig tot geschlagen und gegessen“ wurde (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 345). Damit wird aber auch auf alles verwiesen, wovon dieser Kalender sonst noch handelt. Offensichtlich gilt dies von „Weltbegebenheiten“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 195 u. o¨.) im Sinne der großen Geschichte, hier vor allem jener bis nach Brasilien reichenden Napoleonischen Kriege, die Hebel in knappen Jahresru¨ckblicken zusammenfasst und mit einer Einfu¨hrung in die Geographie verbindet (vgl. Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 204 f.). Doch auch die kleinen Geschichten und Anekdoten, fu¨r die Hebel vor allem beru¨hmt ist, bescha¨ftigen sich damit, „was aber sonst noch von der Erde zu sagen ist, und wie ihre Einwohner ta¨ten“. Und diese Geschichten handeln sehr ha¨ufig von Situationen, in denen jedenfalls einer der Beteiligten sich nicht im Areal seiner Herkunft aufha¨lt. Wenn es dabei immer wieder zum „Mißverstand“ (wie allein drei dieser Anekdoten ausdru¨cklich u¨berschrieben sind)19 kommt, so muss dieser – wie in einer von Hebels beru¨hmtesten Geschichten – gar nicht unbedingt an großen Entfernungen der La¨nder oder Sprachen liegen: Ha¨lt doch schon ein Deutscher den niederla¨ndischen Ausdruck „Kannitverstan“ (Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 162 – 164) fu¨r einen Eigennamen. Unterha¨lt sich also bei Hebel ein Erdianer flu¨ssig mit einem Venusianer, wa¨hrend sich Sprecher zwei eng verwandter germanischer Sprachen missverstehen, so kann der Kosmos jedenfalls nicht mehr als Gebilde mit konzentrischen Kreisen vorgestellt werden, in dem die Vertrautheit umgekehrt proportional mit der Entfernung vom Mittelpunkt abnimmt (so wie Kant sich vorstellt, dass das spezifische Gewicht der Planetenbewohner mit ihrer Entfernung von der Sonne abnehme). Hebels Kritik an dieser Vorstellung steht durchaus im Einklang mit neueren Definitionen der Globalisierung, die gerade die Abkopplung der Na¨he/Ferne-Verha¨ltnisse von lokalen Entfernungen hervorheben.20 Spivak zielt auf strukturell a¨hnliche Desorientierungen der Na¨he / FerneRelationen, schla¨gt aber das Planetarische ausdru¨cklich als eine Gegen-Figur zum Globalen vor: „I propose the planet to overwrite the globe.“ Das Globale bestimmt sie dabei wesentlich als „gridwork of electronical capital“, als „abstract ball covered in latitudes and longitudes“, als etwas, das heute mit Computern produziert wird und auf ihnen erscheint: „The globe is on our computer. No one lives there.“ Gegen dieses Bild der Erde, das etwa in den elektronisch generierten Karten auf den Bildschirmen von Flugzeugen erscheint, bringt Spivak die groß 19 Den Titel „Mißverstand“ fu¨hren drei Anekdoten: Hebel 2010 [1803 – 1819], S. 97, 138 f. und 675 f. 20 Vgl. z. B. die vielzitierte Definition der Globalisierung als „the intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occurring many miles away and vice versa.“ (Giddens 2009 [1990], S. 64)
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geschriebene „Earth“ ins Spiel, derer sie sich beim Blick aus dem Flugzeugfenster versichert (alle Zitate: Spivak 2003, S. 72). Eine begrifflich verwertbare Evidenz ist damit – worauf noch zuru¨ckzukommen sein wird – nicht gegeben. Spivak betont daher schon zu Beginn des entsprechenden Kapitels den irreduzibel figuralen Charakter des Planetarischen: „The meaning of the figure is undecidable, and yet we must attempt to dis-figure it, read the logic of the metaphor.“ (Spivak 2003, S. 71) Das Planetarische ist kein Konzept, das sich auf eine andere Bedeutung als das Globale stu¨tzen ko¨nnte: „Planetarity cannot deny globalization.“ (Spivak 2003, S. 93) Das Planetarische aber hat einen anderen Sinn.
4.
Mehr-als-ein-heit der Welt (Nancy)
Vielmehr : Nur eine konventionelle Theorie der Figur,21 die von einer Substitution des propriums durch den figuralen Ausdruck ausgeht, erlaubt eine eindeutige Unterscheidung von Sinn und Bedeutung. Im Falle der Venus mo¨gen sich Hebel oder Frege sicher sein, dass die Bedeutung von Morgen- und Abendstern dieselbe ist, weil Sinn und Bedeutung trennscharf voneinander unterschieden werden ko¨nnen. In anderen Fa¨llen ko¨nnte die Unentscheidbarkeit einer Figur gerade darin bestehen, dass nicht zu entscheiden ist, ob ihre Unentscheidbarkeit auf der Ebene des Sinns oder der Bedeutung zu lokalisieren ist. Problematisch wird hier gerade die Unterscheidung dieser beiden Ebenen. Frege bietet durchaus ein Vokabular fu¨r die genauere Beschreibung dieses Problems an.22 Er stellt sich dem hypothetischen Einwand, „daß die Bedeutung des Wortes ‚Morgenstern‘ nicht die Venus sei; denn man du¨rfe nicht u¨berall fu¨r ‚Morgenstern‘ ‚Venus‘ sagen.“ (Frege 1975 [1892], S. 52) Das Argument in diesem Einwand la¨sst sich e contrario mit einer Rekursion beweisen: Wenn man u¨berall fu¨r ‚Morgenstern‘ ‚Venus‘ sagen du¨rfte, du¨rfte man diese Lizenz auch formulieren: „Man darf u¨berall fu¨r ‚Venus‘ ‚Venus‘ sagen“ – und dies wa¨re vielleicht ein Satz von einigem Wahrheitswert, aber offensichtlich keine befriedigende Umschreibung des Ausgangssatzes. Frege konzediert daher : Mit Recht kann man nur [aber immerhin] folgern, daß die Bedeutung des Satzes nicht immer sein Wahrheitswert ist, und daß „Morgenstern“ nicht immer den Planeten 21 In der Klassifikation der Rhetorik handelt es sich natu¨rlich um eine Trope. 22 Obwohl der Argumentationsgang erwarten ließe, dass ich an dieser Stelle auf dekonstruktive Theorien der Metapher ausweiche, beziehe ich mich weiterhin bewusst auf einen Begru¨nder der analytischen Philosophie, weil dessen Sprachtheorie weniger naiv ist als ga¨ngige Modelle der analytischen Philosophie vermuten lassen.
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Venus bedeutet, na¨mlich dann nicht, wenn dieses Wort seine ungerade Bedeutung hat. (Frege 1975 [1892], S. 52; Hervorhebung im Original)
Dieses Konzept der ‚ungeraden Bedeutung‘ hatte Frege fu¨r metasprachliche Verwendungen eingefu¨hrt: Spricht man vom „Sinn des Ausdrucks ‚A‘“ (Frege 1975 [1892], S. 43), so ist dasjenige, was mit dieser Rede zur Debatte steht, nicht seinerseits Sinn, sondern Bedeutung, da „in dieser Redeweise die Worte nicht ihre gewo¨hnliche Bedeutung haben, sondern das bedeuten, was gewo¨hnlich ihr Sinn ist“ (Frege 1975 [1892], S. 43). In allen Zusammenha¨ngen, in denen es auf das Wort ankommt (in denen etwa eine Trope nicht durch einen eigentlichen Ausdruck substituiert werden kann oder umgekehrt), ist das, was sonst nur sein Sinn ist, seine Bedeutung. Dies gilt, wie man offenbar interpolieren darf, nicht nur fu¨r die metasprachliche, sondern auch fu¨r die poetische Rede. Bei dem hypothetischen Satz ‚Nach Sonnenuntergang erblickte ich den Morgenstern‘ (von dem einmal kurz angenommen sei, dass er ein poetischer sei) kommt es offenbar auf die „Art des Gegebenseins des Bezeichneten“ (Frege 1975 [1892], S. 41) an; hier ist also das, was „gewo¨hnlich“ Sinn des Ausdrucks ist, seine Bedeutung. Wenngleich Frege solchen Reden den Status einer „Ausnahme“ zuweist und sie als „ungerade“ bezeichnet, ha¨lt er immerhin fest: „Solche Ausnahmen muß man immer im Auge behalten“ (Frege 1975 [1892], S. 43).23 Bemerkenswerterweise jedoch kommt in Freges Aufsatz, der von der Sonne, der Venus, der Erde und ihrer Rundung, von kleinen Planeten, von Kometen, dem Mond, von Kopernikus und den Kreisbahnen, von Kepler und den elliptischen Bahnen der Planeten handelt, an keiner Stelle die ‚Welt‘ vor. Das damit umgangene Problem besteht nicht nur darin, dass dieses Wort so viele verschiedene Bedeutungen besitzt – diese besitzen ja offenbar auch ‚Venus‘ oder ‚Erde‘, ohne dass Frege darauf eingehen mu¨sste, weil die Ambiguita¨t von Wo¨rtern hier gar nicht zur Debatte steht. Das Problem ist vielmehr komplizierter und ha¨ngt damit zusammen, dass sich ‚Welt‘ am besten als „,in sich geschlossene[r] bezirk verschiedener art, der in seiner eigensta¨ndigkeit und eigengesetzlichkeit gleichsam ein all im kleinen darstellt‘“ (Grimm 1954, 1458), bestimmen la¨sst. Mit einer Formulierung, deren indikativischer Modus noch in Frage zu stellen sein wird: „un monde est une totalite´ de sens.“24 ‚Welt‘ bedeutet gerade – also nicht etwa nur „ungerade“ – eine „Art des Gegebenseins“; die Bedeutung dieses Wortes ist ‚Sinn‘, und alle Angaben, die man im Frege’schen Modell auf der Seite der Bedeutung erwarten wu¨rde – ist von der Erde, von einem Ma¨usestaat, von 23 Frege unterscheidet sich damit von einem typischen Gestus der analytischen Philosophie, aber auch der Sprechakttheorie Austins und Searles, welche solche ‚Ausnahmen‘ wegidealisieren. 24 „Eine Welt ist eine Sinntotalita¨t.“ (Nancy 2002, frz. 34, dt. 30). Zitate aus Nancy 2002 werden ¨ bersetzung belegt. hier wie im Folgenden nach der Originalausgabe und der deutschen U
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einem Maulwurfsbau die Rede? – ko¨nnten, allenfalls, noch als Sinn dieses ‚Sinn‘ bedeutenden Wortes angegeben werden. ‚Welt‘ na¨hert sich damit denjenigen Ausdru¨cken, die nur einen Sinn, aber keine Bedeutung besitzen.25 Oder, noch immer mit Freges Vokabular : ‚Welt‘ bedeutet nicht so sehr einen „Gegenstand“, dessen „Art des Gegebenseins“ unabha¨ngig davon durch verschiedene Zeichen ‚angesinnt‘ werden ko¨nnte, sondern dieser „Gegenstand“, wenn es einer ist, ist die Art seines Gegebenseins. Diese Art des Gegebenseins la¨sst sich, mit einem ha¨ufig zitierten Satz aus einer sonst nicht sehr ha¨ufig zitierten Rede Martin Heideggers, historisch datieren: Das Weltbild wird nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern dies, daß u¨berhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus. (Heidegger 2003 [1938], S. 90).
Heidegger la¨sst die Umstellung des Wissens auf eine allumfassende „repraesentatio“, auf die „Vorgestelltheit des Seienden“, im 17. Jahrhundert beginnen und versteht „die immer ausschließlichere Verwurzelung der Weltauslegung in der Anthropologie, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einsetzt“, als deren Vervollsta¨ndigung.26 Auf diesen letzteren Zeitraum datiert Heidegger zu Recht die Entstehung des Wortes ‚Weltanschauung‘ (vgl. Heidegger 2003 [1938], S. 93), dessen a¨ltester bisher gefundener Beleg in der Kritik der Urteilskraft steht. Dahingestellt bleibe, ob Heidegger in seinem 1938 an der Universita¨t Freiburg gehaltenen Vortrag auch schon das „Ende der Zeit der *Weltbilder eingela¨utet“ und sich damit „gegen den Nationalsozialismus gewandt“ habe (Nancy 2002, frz. 38, dt. 34; Hervorhebung im Original; Deutsch im [franzo¨sischen] Original). Jean-Luc Nancy selbst jedenfalls, von dem diese Lesart stammt, geht in seinen globalisierungstheoretischen Texten von 2002 und 2011 davon aus, die Welt sei „nunmehr aus der Vorstellung [repre´sentation], aus ihrer Vorstellung und aus einer Welt von Vorstellungen herausgetreten“ (Nancy 2002, frz. 38, dt. 34). „Le monde a perdu sa capacite´ de faire monde.“27 Insofern eine Welt eine Sinntotalita¨t wa¨re, ist die Welt keine Welt mehr. Empirischer Ausgangspunkt dieses nicht ganz ohne kulturkritischen Gestus vorgetragenen Befundes ist die „de´sinte´gration“ (Nancy 2002, frz. 13, dt. 13) der Unterscheidung von Stadt und Land (oder Umkreis: ‚orbis‘). Damit sei an die Stelle eines aus konzentrischen 25 Frege fu¨hrt solche Zeichen, bei denen es zumindest „zweifelhaft ist“, ob sie eine Bedeutung besitzen, mit Blick auf die Fiktion ein (wobei er den Eigennamen Odysseus als Beispiel verwendet; vgl. Frege 1975 [1892], S. 47 f.). 26 Alle Zitate: Heidegger 2003 [1938], S. 91, 90 und 93. Bei aller offensichtlichen Na¨he zu Foucaults Les mots et les choses unterscheidet sich also Heidegger in der Bewertung der Anthropologie, die Foucault ja als Bruch, nicht als Vervollsta¨ndigung der Episteme der Repra¨sentation beschreibt. 27 „Die Welt hat ihre Fa¨higkeit, eine Welt zu bilden, verloren.“ (Nancy 2002, frz. 16, dt. 15).
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Kreisen bestehenden ‚globus‘ ein ‚glomus‘, eine diffuse Agglomeration getreten – die sich wohlgemerkt nicht gleichma¨ßig u¨ber die Erde erstreckt, da Unterschiede der Macht und des Wohlstands bestenfalls umsortiert werden (vgl. Nancy 2002, frz. 13 – 15, dt. 13 f.). ‚Einheit‘ und ‚Zersplitterung‘ sind insofern keine Gegensa¨tze, sondern gehen miteinander einher : En un temps ou` nous disons simultane´ment que le monde est toujours plus „globalise´“ ou „mondialise´“ – donc unifie´ – et que nos mondes et nos modes de vie, de cultures sont toujours plus diffracte´s, disperse´s, he´te´roge`nes voir inidentifiables, il faut remettre en chantier la question du monde: de l’ide´e de „monde“, de la „re´alite´“ de cela ou` nous vivons, de son „unite´“ et de son „unicite´“, de sa texture ou de sa dissociation. (Barrau / Nancy 2011, S. 14)
In La Cre´ation Du Monde Ou La Mondialisation (2002) hatte Nancy, a¨hnlich wie Jacques Derrida zur ungefa¨hr selben Zeit, sich strategisch der im Franzo¨sischen mo¨glichen Unterscheidung zwischen ‚mondialisation‘ und ‚globalisation‘ bedient. Beide bevorzugen ‚mondialisation‘ schon aufgrund des Sachverhalts, dass das Wort sich von ‚mundus‘ herleitet, und im Widerstand dagegen, dass ‚globalisation‘ schon als englisches Wort einen bestimmten Modus der Globalisierung, nach US-amerikanischem Muster, evoziert.28 Gegen den Modus erdumspannender kapitalistischer Agglomeration schla¨gt Nancy vor, eine andere, aber ebenso erdweite Ordnung zu denken: eine durch Arbeit, die nicht in Warenform gerinnt, noch zu erschaffende Welt (vgl. Nancy 2002, insbes. frz. 20 f., 61 – 64, dt. 19 f., 52 – 55). Wie Spivak konfrontieren also auch Derrida und Nancy zwei Figuren des ¨ berbegriffs, Globalen (wenn man ‚das Globale‘, in Ermangelung eines anderen U einen Moment lang als einen solchen verwenden kann, obwohl er gleich als einer der beiden Unterbegriffe wieder vorkommt): das Globale und das Planetarische bei Spivak, ‚globalisation‘ und ‚mondialisation‘ bei Derrida und Nancy. Beide Figuren-Paare zielen nicht auf verschiedene Bedeutungen (ra¨umliche Extensionen) – im Unterschied zu Versuchen, das Lokale oder das Regionale gegen das Globale ins Spiel zu bringen. Vielmehr u¨berlagern sich hier die alternativen Figuren, verschra¨nken sich ineinander, bedingen sich gegenseitig und ko¨nnen doch, heuristisch, als gegenstrebige gedacht werden. In beiden Fa¨llen wird, wenig u¨berraschend, gegenu¨ber dem in o¨konomischen und soziologischen 28 Vgl. Derrida 1999, S. 374. Mir scheint diese Parteinahme fu¨r ‚mondialisation‘ anstelle von ‚globalisation‘ nicht ganz frei von einem gewissen alteuropa¨ischen, anti-US-amerikanischen Impetus zu sein, der in keiner Sprachpolitik so militant wie in der des Franzo¨sischen ausgetragen wird, in welches ja noch nicht einmal Computer vorgedrungen sind (sondern nur ‚ordinateurs‘). Dagegen wa¨re, ausgerechnet mit Heidegger, einzuwenden: „Der Amerikanismus ist etwas Europa¨isches.“ (Heidegger 2003 [1938], S. 112). Jedoch lassen sich Derridas vielfa¨ltige Interventionen in Globalisierungsdebatten darauf selbstversta¨ndlich nicht reduzieren; sie wa¨ren ausfu¨hrlicher zu diskutieren.
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Debatten dominanten Wortfeld um ‚global‘ ein anderes bevorzugt. Doch auch zwei wesentliche, vielleicht miteinander zusammenha¨ngende Unterschiede sind festzuhalten: Spivaks bevorzugte Figur des Planetarischen ist eine spatiale, Nancys dagegen eine prozessuale, eine ‚-isation‘ (,-ierung‘). Und: Spivak will mit dem Planetarischen ausdru¨cklich auch ‚world‘ (vgl. Spivak 2003, S. 72) u¨berschreiben und bezieht sich stattdessen emphatisch auf ‚Earth‘; Nancy hingegen insistiert auf der Arbeit am Wort ‚monde‘, durchaus mit seinem ganzen SinnPotential. In dem ju¨ngeren Buch allerdings korrigiert sich Nancy in mehrfacher Hinsicht. Statt strategisch eine mo¨gliche Unterscheidung von ‚globalisation‘ und ‚mondialisation‘ auszuloten, betont er nun, dass beide in der Vorstellung einer ‚Einheit‘ u¨bereinkommen (vgl. Barrau / Nancy 2011, S. 14 [oben zitiert] und 29). Und statt einer Einheit eine andere entgegenzusetzen, befragt er das Paradigma der Einheit selbst. Aus dem in der Alltagssprache gela¨ufigen Ausruf „Dans quel monde vivons-nous!“ wird im Titel des zusammen mit Aure´lien Barrau verfassten Buches: Dans quels mondes vivons-nous? Dabei geht es Nancy nicht darum, eine Einheit durch eine Vielheit zu ersetzen: „Mais passer de l’unite´ a` la pluralite´ ne peut pas consister simplement a` de´multiplier, a` augmenter la quantite´ d’unite´s discre`tes (comme, par exemple, lorsqu’on ressasse la ‚multiculturalite´‘).“ (Barrau / Nancy 2011, S. 14) Es geht, anders gesagt, nicht darum, die pluralite´ des mondes-Diskurse, die in ihrer a¨lteren Gestalt eine Vielzahl von Planeten bevo¨lkerten, in einer zeitgeno¨ssischen Form fortzusetzen, welche die pluralen Kulturen auf diesem einen Planeten verortet. Diese Form des Pluralismus ist umso problematischer, als die halbwegs friedlichen Assoziation von ‚Multikulturalita¨t‘ auf derselben Voraussetzung za¨hlbarer, disjunktiv unterscheidbarer Einheiten namens ‚Welten‘ oder ‚Kulturen‘ beruhen wie die Rede vom ‚Kampf der Kulturen‘, etwa demjenigen zwischen ‚arabischer‘ und ‚westlicher Welt‘. Zur Debatte steht vielmehr die ‚Einheit‘ oder ‚Einsheit‘ selbst. „Plus d’un“, der Titel des (nach der Einleitung) ersten Kapitels in diesem Buch, meint nicht 2, 7 oder 23, zu denen mit mehreren Prozeduren der Addition zu gelangen wa¨re (also mit einem +, franzo¨sisch ‚plus‘ mit ausgesprochenem Endkonsonanten, vgl. Barrau / Nancy 2011, S. 29), sondern den Austritt aus der Logik der Addition, aus der Logik za¨hlbarer Einheiten: „il s’agit de passer au-dela` de l’unite´ du un.“ (Barrau / Nancy 2011, S. 30) Nancy setzt sich dabei mit einer ‚arithmosophischen‘ Tradition auseinander, aus der er ausdru¨cklich Thomas von Aquin und Pico della Mirandola zitiert. Dort waren weltliche Einheiten stets von einer ihnen vorga¨ngigen garantiert, einem maxime unum (bei Thomas, vgl. Barrau / Nancy 2011, S. 35). Obgleich oder weil ein solches ‚gro¨ßtes Eines‘ in einer sa¨kularen Welt nicht mehr als in sich ruhende Entita¨t vorausgesetzt werden ko¨nne, u¨bersetzt Nancy den Status dieses Einen in den einer in Raum und Zeit ausdeh-
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nungslosen, aber Raum und Zeit schaffenden Energie, eines Schubes, Triebes, (Herz-)Schlags: „Il est l’un de la pousse´e, de la pulsation ou de la pulsion qui fait eˆtre ce qui est.“ (Barrau / Nancy 2011, S. 34) Wenn Nancy an dem Wort ‚Welt‘ festha¨lt, so wohl – bei allen Reserven gegenu¨ber ‚Weltanschauungen‘ – nicht zuletzt in Treue zu einer Tradition, welche die Arbeit der Philosophie, jedenfalls im Deutschen, selbst mit ‚Welt‘-Komposita u¨bersetzt hat: als „Weltweisheit“, aber auch als „Weltbetrachtung“, das etwa Kant einmal verwendet (Kant 1983 [1784], A 410). Zugleich jedoch wendet Nancy dieses Wort, dessen semantischer Kern „einen in sich geschlossenen bezirk verschiedener art […], gleichsam ein all im kleinen“ meint, gegen sich selbst, wenn er darunter ‚einen‘ nicht schließbaren, also nicht einen Bezirk zu denken vorschla¨gt. Die Philosophie ist, wie Derrida in einem Gespra¨ch mit Etienne Balibar bemerkt hat, selbst Komplizin einer Mystifikation der ‚einen‘ Welt (und deren ‚Anschauung‘); noch deren Kritik jedoch geho¨re zu jener Tradition „de la philosophie du monde, du cosmos, de la Welt.“ (Derrida / Balibar 2001, unpaginiert, gegen Ende) Fu¨r Derrida wie fu¨r Nancy geho¨rt ‚Welt‘ zu jenen Wo¨rtern, die nur in kreuzweiser Durchstreichung beibehalten werden ko¨nnen – in diesem Status aber auch beibehalten werden mu¨ssen.
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Coda, oder: Versuch, die Figur der Erde in die Weltweisheit einzufu¨hren
¨ berlegungen konkret in kulturwissenschaftliche GlobalisierungsWie diese U debatten intervenieren, ist nicht unvermittelt auszumachen, da sich dieser nachdru¨cklich philosophische Diskurstyp in konstitutiver, bewusster Distanz zur ‚Anwendung‘ ha¨lt.29 Immerhin jedoch ruft Nancy mit Wo¨rtern wie ‚multiculturalite´‘, ‚mondialisation‘, ‚globalisation‘ einen Resonanzraum aktueller Debatten auf, den er an einer Stelle sogar mit einer großen Zahl aus dem Bereich der Prognostik konkretisiert: In vierzig Jahren werde die Menschheit neun Milliarden Individuen za¨hlen (vgl. Barrau / Nancy 2011, S. 27). Zwar beansprucht Nancy nicht ausdru¨cklich, im Namen der derzeit sieben, bald neun Milliarden Menschen zu sprechen, weil ein ‚Sprechen im Namen von‘ Begru¨ndungsprobleme aufwirft, die in anderen Diskursen, mit mo¨glicherweise aporetischem Ausgang, zu reflektieren wa¨ren. Aber diese sieben bzw. neun Milliarden Menschen treten in den Text, und mit ihnen die Erinnerung daran, wie viele dieser Menschen unter Hunger, Durst und Krankheiten leiden, wie viele 29 Nancy betont diese Distanz noch weit sta¨rker als Derrida, der seit den 1990er Jahren vergleichsweise bereitwillig auf die Frage nach ‚Beispielen‘ (etwa fu¨r seine Analyse der Bedingungen von Gastfreundschaft) Auskunft gab.
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mehr Menschen gar, wenn sich nichts Entscheidendes a¨ndert, in 40 Jahren darunter leiden werden. Insofern außerhalb Europas und Nordamerikas sehr viel mehr Menschen unter Hunger, Durst und Krankheiten leiden als in Europa und Nordamerika, ist der Planet, auf dem Menschen wohnen, von so großen Unterschieden gepra¨gt, dass ich ihn, jedenfalls solange ich daran denke, sehr viel eher ‚die Erde‘ als ‚die Welt‘ (und auch auf Franzo¨sisch eher ‚la terre‘ als ‚le monde‘)30 nennen wu¨rde. Wenn heute ‚Eine Welt‘-La¨den an die Stelle von ‚Dritte Welt‘-La¨den getreten sind, ist damit nicht nur eine politisch unkorrekte durch eine vermeintlich korrekte, sondern auch eine referentielle durch eine appellative Bezeichnung ersetzt worden: ‚Es mo¨ge eine Welt sein!‘ Einerseits ruft das Wort ‚Welt‘ damit einen Sinn-Raum31 auf, andererseits soll es ja doch nicht einfach (wie ein Abstraktum) ‚nur‘ Sinn besitzen, sondern mit einem SinnRaum, also mit einer konkret-ra¨umlichen Bedeutung (von der Extension eines Planeten) zur Deckung kommen. Unter Umsta¨nden ko¨nnte diese behauptete Deckung von Sinn und Bedeutung eine erschlichene sein. Nennt man stattdessen diese Erde emphatisch bei ihrem Namen, so birgt dies ¨ kologie in unausfreilich das Risiko ihrer Mythisierung, die in der ju¨ngeren O gegorener Form wiederauflebt, bereits seit 1928 etwa durch die Vermarktung von Reformhausprodukten unter dem Namen Demeter. Noch wenn Spivak den Doppelsinn von ‚Earth‘ auslotet und damit die Materialita¨t der Erde betont (vgl. Spivak 2003, S. 95), erinnert dies, trotz der politisch unverda¨chtigen Haltung des dafu¨r affirmativ zitierten kubanischen Freiheitska¨mpfers Jose´ Martı´ (1853 – 1895), den deutschen Leser des 21. Jahrhunderts an Blut-und-Boden-Topoi.32 Und ob tatsa¨chlich „niemand im Globalen lebe“ – also, mit Spivaks Bestimmung des Globalen, nicht in den virtuellen Welten von Computern (vgl. Spivak 2003, S. 72) –, sondern eben auf der Erde, ha¨ngt vom Gebrauch des Wortes ‚leben‘ ab.33 Schwerlich ist ‚Erde‘ ein Gegenstand von unvermittelter Evidenz, auf den man mit einer deiktischen Geste Bezug nehmen ko¨nnte: Diese Deixis muss noch als pars pro toto interpretiert werden. Der vergewissernde Blick, den Spivak vom Flugzeug aus auf die Erde – eher, in ihrem eigenen Beispiel: auf ein bestimmtes
30 Terre des Hommes, nicht etwa Monde des Hommes, ist der Name einer bekannten Hilfsorganisation. 31 Vgl. Nancy 2002, frz. 61, dt. 52, einschließlich der Anmerkung, dort mit Verweis auf Nancys fru¨heres Buch Le Sens du monde, dessen Titel auch auch als ‚Le monde comme sens‘ zu lesen ist. 32 Ob u¨berhaupt noch auf ‚Natur‘, im Unterschied zu ‚Kultur‘, verwiesen werden kann, ist besonders fraglich geworden, seit Menschen die Atmospha¨re der Erde durch die Freisetzung von CO2 aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen in einer geologischen Zeitskala (also auf viele Tausende von Jahren hinaus) vera¨ndert haben (vgl. Chakrabarty 2009). 33 Nancy empfiehlt, vielleicht aus diesen Gru¨nden, aber ohne es auszufu¨hren, auch ‚leben‘ zur Debatte zu stellen (vgl. Barrau / Nancy 2011, S. 14).
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Areal in Anatolien – wirft, ist von Kontingenzen wie denjenigen abha¨ngig, ob sie einen Fensterplatz gebucht hat und ob der Himmel gerade unbewo¨lkt ist. Vielleicht aus Misstrauen gegenu¨ber solchen bloß vermeintlichen Evidenzen verweigert Nancy das Wort ‚Erde‘. Ebenso verweigert er die Ableitung konkreter Vorschla¨ge aus seiner Philosophie. Obwohl er diese Entscheidung nicht ausdru¨cklich begru¨ndet, la¨sst sie sich e contrario erschließen, wenn man Nancys Schreiben mit einem anderen konfrontiert, das sich ebenfalls als philosophisches versteht, dabei aber die große Zahl von menschlichen Erdbewohnern nicht nur kurz aufruft, sondern in eine Rechnung bringt: mit Bernward Gesangs ebenfalls 2011 erschienenem Buch Klimaethik. Gesang entwickelt darin eine utilitaristische Ethik, aus der hervorgeht, dass die Summe von Glu¨ck (die sich dank der Glu¨cksforschung auf Einheiten pro Individuum beziffern la¨sst) in einer Welt mit 7,5 Milliarden gro¨ßer sein kann als in einer mit 11 Milliarden Menschen, insofern die Bewohner der dichter bevo¨lkerten Welt wohl na¨her an dem durchschnittlichen Glu¨ckswert von Kalkutta (3), diejenigen der weniger dicht bevo¨lkerten Welt na¨her an dem von Schweden (5,6) sein werden (vgl. Gesang 2011, S. 142.). Das Ergebnis (42 Milliarden Glu¨ckseinheiten fu¨r die Welt nach schwedischem Vorbild vs. 33 Milliarden fu¨r die nach dem Vorbild von Kalkutta) spricht mindestens fu¨r drastische bevo¨lkerungspolitische Maßnahmen in Asien und Afrika. In einer solchen Rechnung ist jede Verwendung des Wortes ‚Welt‘ nicht nur bedeutungsgleich mit ‚Erde‘, sondern auch insofern weitgehend synonym, als der Sinn von ‚Welt‘, die Welt als Sinn-Raum, kaum noch eine Rolle spielt, weil die Kategorie des Sinns hier gar nicht mehr, oder allenfalls noch (vielleicht in Gestalt eines mehr oder weniger erfu¨llten ‚Sinns des Lebens‘ von Einzelnen) als Faktor im Rahmen der Glu¨cksberechnung ins Spiel ka¨me. Es ist aber ein erschlichener Gebrauch von ‚Welt‘, insofern hier stets eine Gesamtheit als berechenbare vorgestellt wird; die Gattung, die allein sich nach Kants Diktum ihrer Bestimmung anna¨hern kann, erscheint hier als bloße Addition der Dividuen (die insofern keine Individuen mehr sind, als es ja solche mit dem Glu¨ckswert 5,6 und andere mit 3 geben soll). Peter Sloterdijk unterscheidet die perfekte Kugelform kosmologischer Ko¨rper von einem Erdball, der zwar auch ‚Globus‘ ist, aber einer mit „Ecken und Kanten“. Als daher, in der Neuzeit, die „terrestrische Globalisierung“ die „Globalisierung des Universums“ abgelo¨st habe, seien die vollkommenen Ko¨rper der Kosmologie von dem „interessanten“, tendenziell ha¨sslichen Ko¨rper der Erde verdra¨ngt worden, den nicht mehr die Geometer im Sinne der mathematischen Grundlagenwissenschaft, sondern die Geometer im Sinne der Landvermessung erschlossen.34 Tatsa¨chlich kann das lateinische Wort ‚globus‘ ‚Kugel‘ 34 Vgl. Sloterdijk 1999, S. 801 – 809, oder (weitgehend textidentisch) Sloterdijk 2006 [2005], S. 30 – 37. Wenn auch Sloterdijk Heideggers „Zeit des Weltbildes“ zitiert (vgl. ders. 2006
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und ‚Kna¨uel‘ bedeuten – wenn Nancy diese Bedeutungen auf zwei Wo¨rter (‚globus‘ und ‚glomus‘, vgl. Nancy 2002, frz. 14 f., dt. 14) sa¨uberlich verteilen will, vereinfacht er diese Ambivalenz. Seit Aristoteles ist der eine Himmelsko¨rper Erde Gegenstand zweier Formen des Wissens: der Uranologie, insofern er als perfekter kugelfo¨rmiger Ko¨rper im Weltall vorgestellt wird, der Meteorologie aber, insofern er jedenfalls aus sublunarischer Perspektive eben doch kein perfekter Ko¨rper ist, sondern einer, der kontingenten Wechselfa¨llen von ‚Meteorischem‘ ausgesetzt ist: sich unregelma¨ßig bewegenden Meteoriten oder Hagelko¨rnern, aber auch Regentropfen, ohne die es auf der Erde kein Leben ga¨be.35 In einem zweiten Schritt – der historisch mit dem Zeitpunkt begann, als Fernrohre zum Mond gerichtet wurden – kommen dann auch andere Himmelsko¨rper als ihrerseits nicht nur vollkommene, sondern zugleich interessante Ko¨rper in Frage, so dass diese anderen ‚Welten‘ zugleich potentiell andere ‚Erden‘ sind, also auch unsere Erde ein Stern, der bei der Anna¨herung wiederum als Erde erscheint.36 Wie sich uranologisch-astronomisches und meteorologisches Wissen ineinander verschra¨nken, deutet ein Beispielsatz Freges an: „wenn jetzt die Sonne schon aufgegangen ist, ist der Himmel stark bewo¨lkt“ (Frege 1975 [1892], S. 60) – beschrieben wird damit offenbar eine Situation von einem Grad der Dunkelheit, bei dem nicht auszumachen ist, ob er auf uranologische oder meteorologische Faktoren zuru¨ckgeht. Theorien der Globalisierung, die an einem philosophischen Impetus festhalten, ohne die bestehenden Ungleichheiten auf der Erde zu nivellieren, ko¨nnen sich dieser Verschra¨nkung von uranologischer und meteorologischer Perspektive nicht entziehen. Die Wo¨rter ‚Welt‘ und ‚Erde‘ sind nicht trennscharf auf diese beiden Perspektiven zu verteilen, weil beide in beiden vorkommen ko¨nnen: ‚Welt‘, in verschiedenen Bedeutungen (uranologisch als Weltall, meteorologisch etwa als eine bestimmte Klimazone auf der Erde); ‚Erde‘, in verschiedenem Sinn (uranologisch als runder Himmelsko¨rper, meteorologisch als Gesamtheit der sublunaren Ereignisse). Beide Wo¨rter sind Figuren eher als Begriffe; ihre Polysemien und Polyvalenzen lassen sich allenfalls in je spezifischen Verwendungszusammenha¨ngen explizieren, nicht jedoch durch definitorische Maßnahmen ein fu¨r alle Mal regeln. In bestimmten Zusammenha¨ngen kann es philosophisch geboten sein, sich die Erde als einen Planeten mit Flughafen und einigen Hotels vorzustellen, auf dem Menschen als interplane[2005], S. 152 – 156), so verschiebt er jedoch, plausiblerweise, den Akzent von dessen philosophischen (cartesianischen) Pra¨missen auf die ‚handfesten‘ Praktiken der Erdumseglung und -kartierung, datiert sie also um gute 100 Jahre vor. 35 Vgl. dazu Stockhammer 2013. 36 Vgl. Keplers „Somnium“ von 1609 (ein Gedankenspiel im Anschluss an Galileis Nachricht von den Mondkratern), ausschnittsweise u¨bersetzt in: Fetscher / Stockhammer (Hg.) 1997, S. 78 – 88, dort auch das Nachwort, 277 f.
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tarische Touristen landen, sich eine Weile aufhalten und weder abfliegen: Theorien der terrestrischen Globalisierung basieren letztlich auf der vorgestellten Mo¨glichkeit dieses ‚Marsmenschenblicks‘. In anderen Zusammenha¨ngen wa¨re diese Figur irrefu¨hrend: Man kann in absehbarer Zeit nicht 3,5 Milliarden Menschen auf andere Planeten umsiedeln, um hierzuerde die Glu¨cksbilanz zu optimieren. Wahrscheinlich wird man – diese Prognose sei gewagt – Professor Groblebens Aufforderung, das Wort ‚Welt‘ aus dem Spiel zu lassen, nicht befolgen und auch die na¨chsten Fußball-Championate nicht ‚Erdmeisterschaft‘ nennen, obwohl sich erneut keine Mannschaft vom Saturn qualifizieren wird. ‚Welt‘ la¨sst sich nicht einfach durch ‚Erde‘ ersetzen; auch dieses Wort garantiert keine gesicherte Referenz auf eine geo-graphisch absteckbare Einheit von unbefragbarer Evidenz, die an die Stelle des unklaren Sinn-Raumes namens ‚Welt‘ treten ko¨nnte. Vielleicht kann jedoch eine fortlaufende Reflexion auf die Wo¨rter ‚Erde‘ und ‚Welt‘ dazu fu¨hren, u¨ber erschlichene Verwendungen dieser Wo¨rter zu stolpern. Pla¨diert sei also fu¨r eine wechselseitige Unterbrechung des Sprechens u¨ber ‚Welt‘ und ‚Erde‘.37
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¨ bersetzung von: „La Derrida, Jacques: „Globalization, Peace and Cosmopolitanism“ [U mondialisation, la paix et la cosmopolitique“] [1999], in: Derrida, Jacques: Negotiations. Interventions and Interviews, 1971 – 2001. Hg. v. Elizabeth Rottenberg. Stanford, CA 2002, S. 371 – 386. Ders. / Balibar, E´tienne: Philosophie et Mondialisation. [Diskussion, PUF] (2001) Online verfu¨gbar unter : http://www.lasca.fr/pdf/esthetique_sens_commun/Philosophie_et_mondialisation.pdf [16. 01. 2012]. Fetscher, Justus / Stockhammer, Robert (Hg.): Marsmenschen. Wie die Außerirdischen gesucht und erfunden wurden. Leipzig 1997. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archa¨ologie der Humanwissenschaften. A. d. Franz. v. Ulrich Ko¨ppen. Frankfurt a. M. 1971 [1966]. Frege, Gottlob: „Sinn und Bedeutung“ [1892], in: Frege, Gottlob: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fu¨nf logische Studien. Hg. v. Gu¨nther Patzig. 4., erg. Aufl. Go¨ttingen 1975, S. 40 – 65. Gesang, Bernward: Klimaethik. Berlin 2011. Giddens, Anthony : The Consequences of Modernity. Oxford 162009 [1990]. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm (Hg.): Deutsches Wo¨rterbuch. Leipzig / spa¨ter Stuttgart, 1854 – 1960. Darin: „Erde“ (1860), Bd. 3, 749 – 753; „Welt“ (1954), Bd. 28, 1456 – 1509. Hebel, Johann Peter : Die Kalendergeschichten. Sa¨mtliche Erza¨hlungen aus dem Rheinischen Hausfreund (1803 – 1819). Hg. v. Hannelore Schlaffer u. Harald Zils. Mu¨nchen 2010. Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“ [1938], in: Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. Bd. 5: Holzwege. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 2 2003, S. 75 – 113. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784 – 1791], in: Herder, Johann Gottfried: Werke. Hg. v. Gu¨nter Arnold, Martin Bollacher u. Ju¨rgen Brummack (u. a.). Bd. 6. Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1989. ¨ sthetik [1804], in: Jean Paul: Werke. Hg. v. Norbert Miller. 1. Jean Paul: Vorschule der A ¨ sthetik – Levana oder Abt.: Erza¨hlende und theoretische Werke. Bd. 5: Vorschule der A Erziehlehre – Politische Schriften. Mu¨nchen 1963, S. 7 – 456. Kafka, Franz: „Der Bau“ [1923], in: Kafka, Franz: Schriften, Tagebu¨cher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Ju¨rgen Born, Gerhard Neumann u. Sir Malcolm Pasley (u. a.). Bd.: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a. M. 1992, S. 576 – 632. Ders.: „Josefine, die Sa¨ngerin oder Das Volk der Ma¨use“ [1924], in: Kafka, Franz: Schriften, Tagebu¨cher, Briefe. Bd.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann. Frankfurt a. M. 1994, S. 350 – 377. Kant, Immanuel: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgeba¨udes nach Newtonischen Grundsa¨tzen abgehandelt“ [1755], in: Kant, Immanuel: Werke in zehn Ba¨nden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 1: Vorkritische Schriften bis 1768. Erster Teil. Darmstadt 1983, S. 219 – 400. Ders.: Kritik der reinen Vernunft [1781], in: Kant, Immanuel: Werke in zehn Ba¨nden. Bd. 3 – 4: Kritik der reinen Vernunft. Darmstadt 1983. Ders.: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbu¨rgerlicher Absicht“ [1784], in:
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Michael Auer
Pra¨figurationen des Planetarischen: Ernst Ju¨nger, Gayatri Spivak und die typologische Lektu¨re
„In this era of breakneck globalization, I propose the planet to overwrite the globe“.1 Wenn Gayatri Spivak mit diesen Worten eine „planetarity“ ins Spiel bringt, die sie spa¨ter fu¨r eine zuku¨nftige Literaturwissenschaft in Anspruch nimmt,2 stellt sie sich implizit in die Tradition eines planetarischen Schreibens, das in der Weimarer Republik entsteht und vor allem an Namen wie Ernst Ju¨nger und Carl Schmitt gebunden ist. Die Rede vom Planetarischen kann indessen auch damals schon nicht einfach dem rechtsextremen Lager zugeordnet werden; Walter Benjamin etwa spricht an zentraler Stelle vom „planetarische[n] Maßstab“ der Gegenwart.3 Spivak hat diese nicht unproblematische Genealogie ihrer eigenen Planetarita¨ts-Konzeption (bislang zumindest) nicht ausdru¨cklich gemacht; und das, obwohl sie erstaunlich passgenau in dieser Tradition verortet werden kann. Denn spa¨testens bei Schmitt versteht sich das Planetarische wie dann auch bei Spivak explizit als Alternative zum Globalen und dessen master trope, der Zirkulation. Die leitende Annahme ist hier, dass die von globalen Prozessen betriebene Aufhebung von Grenzen auch die Auflo¨sung einer jeden Identita¨t nach sich zieht und damit ein Kreisen, das zu sich selbst zuru¨ckkehren ko¨nnte, undenkbar wird. Dem globalen Zirkulationsmodell stellt die Rede vom Planetarischen einen gefa¨hrlichen und gefa¨hrdeten Raum zuku¨nftiger Begegnungen entgegen, in denen die Rollenverteilung sta¨ndig kippen kann. Ein SichOrientieren im planetarischen ‚Niemandsland‘ ist untrennbar mit der Treue zu neuartigen Linien verbunden, welche die Mo¨glichkeit ebenfalls neuartiger Identita¨ten einra¨umen soll. Indes ko¨nnen diese neuartigen Identita¨ten von einem planetarischen Schreiben, sofern es seinen eigenen Vorgaben treu bleibt, immer nur in Aussicht gestellt werden. Andernfalls wu¨rden seine Narrative die strukturelle Offenheit 1 Spivak 1999b, S. 14. 2 Vgl. hierzu Spivak 2003, S. 71 – 102. 3 Benjamin 1972, S. 147. Irving Wohlfarth hat den hier zitierten Text unla¨ngst zum Schlu¨sseltext Benjamins erhoben, vgl. Wohlfarth 2002.
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der Begegnungen ja gerade aufku¨ndigen, indem sie diese in der Vorwegnahme vorherbestimmen. Um einer solchen Schließung zu entgehen, bedient sich das planetarische Schreiben einer scheinbar paradoxen Strategie: das unvergleichliche Novum der kommenden Begegnungen wird aus der Vergangenheit und Gegenwart erschlossen. Dabei orientiert sich das ‚planetarische Schreiben‘ an der bibelexegetischen Lektu¨restrategie der Typologie, die das Alte Testament als Pra¨figuration des Neuen Testaments und der kommenden Verheißung am Ende der Zeiten liest.4 Vergangenheit und Gegenwart werden dem planetarischen (Lesen und) Schreiben gleichfalls zur Pra¨figuration eines Kommenden, ihnen Fremden, nur dass die Rede vom Planetarischen im Unterschied zum typologischen Schriftsinn die Mo¨glichkeiten eschatologischer Erfu¨llung offen lassen wird.
1.
Die Rede vom Planetarischen
In Die Totale Mobilmachung von 1930 versucht Ernst Ju¨nger den Ersten Weltkrieg zu verarbeiten, der das imperialistische Europa zerrissen habe. Der Krieg, den „Europa gegen Europa fu¨hrte“, konnte nur in einem Pyrrhussieg enden.5 Zwar habe Europas „Oberfla¨che nunmehr planetarische Ausdehnung“ gewonnen, sie sei aber auch „sehr du¨nn geworden, sehr Politur – seinem ra¨umlichen ¨ berzeugungskraft.“6 Die Entscheidung des Gewinn entspricht ein Verlust an U Ersten Weltkriegs habe folglich nicht den erhofften Weltfrieden herbeifu¨hren ko¨nnen. Vielmehr ha¨tten sich die Fronten vervielfacht und die Welt sei in einen bu¨rgerkriegsartigen Zustand versetzt worden. Was Ju¨nger an der Westfront erlebt hat, ist auch die Entzauberung einer globalen Welt der Zirkulation. Kants Weltbu¨rgerrecht beispielsweise, aber auch Marx’ Weltrevolution waren auf der ¨ konomie pra¨diziert, deren Errichtung einer erdumspannenden politischen O Spielraum die im obigen Zitat angesprochene Erdoberfla¨che darstellte. Im Grabenkampf der Westfront hat sich diese Zirkulation ad absurdum gefu¨hrt. Milita¨rischer, technischer und wirtschaftlicher Aufwand stehen in keinem Verha¨ltnis mehr zu den projizierten, meist vo¨llig unrealistischen Zielen. Die festgefahrenen Truppen haben alle Orientierung im chaotischen, unu¨berblickbaren Grabengewirr des Niemandslandes verloren. Statt zu einer Akkumulation des Kapitals kommt es zu dessen Verschleuderung; statt zu humanita¨rem Fortschritt zur Wiederkehr unmenschlicher Brutalita¨t. 4 Hierzu sind immer noch einschla¨gig Ohly 1958/59 sowie Auerbach 1967. 5 Ju¨nger 1960a S. 147. Im Folgenden werden Ju¨ngers Werke nach dieser Ausgabe zitiert, weil sie den Kulminationspunkt seines planetarischen Schreibens (und Lesens) markiert. In den 1960er Jahren tritt das Planetarische bereits in den Hintergrund. 6 Ebd.
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Der „Schiffbruch“ jeder Ordnung,7 den Ju¨nger so konstatiert, vertra¨gt sich zwar zwanglos mit Formen des Kapitalverkehrs, welche die Prozesse des Globalen zu besta¨tigen scheinen; die Vektoren dieses Verkehrs sind aber nicht mehr in ein Kreisen eingebunden, das eine Ru¨ckkehr zum Ausgangspunkt und somit die Schaffung eines Mehrwertes erlauben wu¨rde. Die Alterita¨tserfahrung la¨sst sich daher auch nicht mehr in eine Bereicherung des Selbst ummu¨nzen. Vielmehr stellt der Leerlauf des Verkehrsunwesens das Selbst radikal in Frage: „Wir gleichen Seeleuten auf ununterbrochener Fahrt“,8 wobei die Orientierungslosigkeit der Frontsoldaten – trotz ihrer weitgehenden Immobilisierung – als Vorbote dieser ununterbrochenen Fahrt gewertet wird, weil sie sich in einem Raum bewegen, in dem sich nicht nur die durchgehende Frontlinie in ein Netzwerk von Gra¨ben auflo¨st, sondern auch die Unterschiede von Freund und Feind, Eigenem und Anderem nicht mehr standhalten.9 Der Schiffbruch jeder Ordnung und die ununterbrochene Fahrt sind zwei Aspekte desselben Sachverhalts. Offensichtlich von Ju¨ngers Schriften beeinflusst, entwirft Carl Schmitt in den vierziger Jahren eine Geschichte der zugleich eurozentrischen und globalen Welt und umreißt dabei die Herausforderungen eines neuen, als „planetarisch“10 bezeichneten Zeitalters. An seinen Ausfu¨hrungen la¨sst sich der paradoxe Charakter der Figur des Globalen ablesen. Obwohl die globale Zirkulation in sich selbst kreist, ist sie stets auf einen privilegierten Punkt auf ihrer Peripherie bezogen, in dem sie anfa¨ngt und endet. Das ru¨hrt fu¨r Schmitt daher, dass das Globale an die vo¨lkerrechtliche Trennung von Land und Meer gebunden ist.11 Seit Beginn der Neuzeit scheidet sich Europa durch eine Reihe von Linienziehungen vom Rest der Welt ab. Auf dem europa¨ischen Kontinent wird der zuvor schwelende konfessionelle Bu¨rgerkrieg befriedet; Krieg wird zu einer Angelegenheit formalisiert, die sich ausschließlich zwischen den sich herausbildenden souvera¨nen Territorialstaaten abspielt. Die europa¨ischen Staaten erkennen sich gegenseitig als potentielle Kriegsteilnehmer an, die es nicht zu vernichten gilt, wenn sie auf der gegnerischen Seite ka¨mpfen. Fu¨r Schmitt stellt diese vo¨lkerrechtliche Hegung des Krieges die gro¨ßte Leistung menschlichen Rechts dar :12 in ihr werde die Freund-Feind-Beziehung, in welcher das Wesen des Politischen beruhe, in klar umrissene Verfahrensweisen eingetragen. Außerhalb Europas jedoch werde der Kriegs- und Feind-Begriff auf keine vergleichbare Weise einJu¨nger 1961b, S. 174. Ebd., S. 140. Vgl. z. B. Ju¨nger 1961a, S. 270. Schmitt 1991, S. 61: „Wir denken heute planetarisch und in Großra¨umen“. Siehe zum Folgenden auch Schmitt 1997, S. 54 – 69 und 256 – 270. 11 So der Titel von Schmitt 2001. 12 Vgl. Schmitt 1997, S. 163. 7 8 9 10
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geschra¨nkt. Die freien Meere (sowie alles nicht-europa¨ische Land) kennen keine Begrenzung von Kriegsschauplatz und -handlung. Selbst private Handelsschiffe aus Drittstaaten, die mit dem Gegner in wirtschaftlichen Beziehungen stehen, ko¨nnen zum Ziel milita¨rischer Operationen werden. Es bilden sich demnach zwei geographisch voneinander getrennte vo¨lkerrechtliche Kriegsordnungen aus: die eine staatlich, die andere wirtschaftlich. Die Trennung von Europa und Nicht-Europa ermo¨glicht, so Schmitt, die zugleich ¨ konomie, die das 18. und 19. Jahrhunglobale und eurozentrische politische O 13 dert weitgehend bestimmt. Fu¨r Schmitt la¨utet der Erste Weltkrieg das Ende dieser globalen Weltordnung ein. Der Unterschied von Land und Meer breche zusammen, wobei die unheilvolle Mischung von Staats- und Wirtschaftskrieg unweigerlich zum Vernichtungskrieg fu¨hre. Da die Privatwirtschaft in die Kriegsfu¨hrung einbezogen wird, weitet sich das Kriegsgebiet von der unmittelbaren Front auf alle freundlichen und feindlichen Territorien aus. Durch den Zusammenbruch der innereuro¨ berflutung des gehegten Landes durch das pa¨ischen Kriegsordnung, der als U Meer imaginiert wird, weicht das Zusammenspiel von Zirkulation und Akkumulation der Paradoxie von ‚Schiffbruch‘ und ‚unendlicher Fahrt‘. Seinem ersten planetarischen Text, der eine „vo¨lkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot fu¨r raumfremde Ma¨chte“ entwirft, wird Schmitt so eines dieser beiden Ju¨nger-Worte voranstellen – nicht aber ohne ihm ein caveat lector mit auf den Weg zu geben: „Mo¨ge es der Leser recht verstehen, wenn ich der Schrift das Motto gebe: ‚Wir gleichen Seeleuten auf ununterbrochener Fahrt und jedes Buch kann nicht mehr als ein Logbuch sein‘“.14 Denn, mo¨gen Schmitt und Ju¨nger auch im selben Boot sitzen, die beiden sind doch ganz unterschiedliche Seeleute. ¨ berEinig sind sie sich zwar, dass eine Grenze u¨berschritten und in der U schreitung ausgelo¨scht worden ist, so dass es kein Zuru¨ck mehr gibt; nicht aber u¨ber die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Zum Paradebeispiel der sich selbst tilgenden Grenze erhebt Schmitt den 1884 international festgelegten und der Vereinheitlichung der Kartographie dienenden Meridian von Greenwich. Seine geographische Arbitrarita¨t la¨sst den Meridian als exemplarische Linie, die sich selbst sta¨ndig zuru¨cknimmt, zum Vorschein kommen. Diese Selbsttilgung ist Ausdruck einer Entortung, fu¨r die allem voran technische Innovationen (sowie das Versagen der Rechtswissenschaft angesichts ihrer) verantwortlich seien. Ju¨nger, dem Schmitt wichtige Einblicke in die deterritorialisierenden
13 Siehe Schmitt 1997, S. 143 f. Vgl. hierzu auch die vergleichbare Definition Europas als Zusammenspiel von Kapital und Kapitale in Derrida 1991, S. 38. 14 Schmitt 1991, S. 9.
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Tendenzen der Technik verdankt,15 wird die Folgen dieser Entortung mit der technologischen Vernetzung in Zusammenhang bringen. So spielt im kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinenden Roman Heliopolis ein Internet avant la lettre mit Smartphone-Zugang eine ausschlaggebende Rolle. Auf einem der zentralen ‚Server‘, dem sogenannten Punktamt, werden Orte und Dinge – auf ein globales Koordinatensystem reduziert – gespeichert.16 Spivaks Bemerkungen u¨ber den „Globus“, der nur „auf unserem Computer“ zu finden ist,17 lesen sich wie eine Beschreibung dieses Punktamts: „that abstract ball covered in latitudes and longitudes, cut by virtual lines“.18 Wa¨hrend Schmitt die Folgen der entortenden Tendenz des Null-Meridians perhorresziert, denen es mittels einer Einteilung der Erde in abgegrenzte Großra¨ume zu begegnen gilt, begru¨ßt es Ju¨nger, diesen point of no return hinter sich gelassen zu haben, weil die gefahrentra¨chtige Begegnung ein Versprechen in sich berge. Ju¨nger wird so, Schmitts ¨ berschreitung Null-Meridian zugleich aufnehmend und umdeutend, in dessen U die Einu¨bung einer typologischen Lektu¨re sehen.
2.
Typologische Pra¨figurationen des Planetarischen
Ju¨ngers Texte performieren dafu¨r den rite de passage u¨ber einen Null-Meridian,19 in dem sich eine neue, in der Anonymita¨t verbleibende, multiple und hybride Identita¨t stiftet. In der Lektu¨re der Texte soll sich eine anarchischliberta¨re ingroup konstituieren, die sich im Licht einer unvergleichlich neuen Ordnung orientiert.20 An die Stelle der reflexiven Ru¨ckkehr zu einem im Vorhinein gegebenen Selbst tritt die Vorwegnahme eines zuku¨nftigen Kollektivs, dem es nicht mehr freisteht alter auf ego zuru¨ckzufu¨hren. Da Ju¨ngers Grenzerfahrung zugleich eine Begegnung mit dem Anderen im Eigenen und dem Eigenen im Anderen ist, unterla¨uft er Schmitts Feindbegriff. Fu¨r Schmitt kann der andere, politisch gesehen, nur ein Feind sein, sodass die Aufhebung der Grenzen in einen verha¨ngnisvollen Weltbu¨rgerkrieg mu¨nden muss, wo ein jeder die anderen zu vernichten sucht. An dieser klaren Unterscheidung kann Ju¨nger nicht festhalten. Der Versuch, die Erfahrung der Begegnung im ungesicherten Raum zu wahren, wird Ju¨nger von der noch aggressiv-nationalistischen For15 16 17 18 19
Vgl. z. B. Schmitt 1982, S. 124. Siehe Ju¨nger 1965, S. 42 f. Spivak 1999b, S. 45. Spivak 2003, S. 72. ¨ ber die Linie“. Die Thematisierung des Das ist der Doppelsinn von Ju¨ngers Essaytitel „U ‚Nullmeridians‘ (Ju¨nger 1960b, S. 275) soll zugleich trans lineam fu¨hren, wie schon bei Heidegger 1996, S. 386. 20 Auf diesen Charakter der Ju¨ngerschen Kollektive macht bereits Segeberg 1991 aufmerksam.
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derung einer Selbstbegegnung des Deutschen, wie sie noch Die Totale Mobilmachung und andere fru¨he Texte formulieren, alsbald abbringen. Das Novum la¨sst sich mit den Kategorien der Nation, des Staates oder auch Europas nicht fassen. Der doppelte, ineinander verschra¨nkte Zusammenbruch von Grenze und Selbst zeichnet sich bereits in Ju¨ngers erster Vero¨ffentlichung In Stahlgewittern ab. „Man zittert unter zwei gewaltigen Gefu¨hlen“, so ist dort u¨ber den Frontsoldaten in der Kampfsituation zu lesen, „der gesteigerten Aufregung des Ja¨gers und der Angst des Wildes. Man ist eine Welt fu¨r sich“.21 Diese sta¨ndig umkehrbare und plo¨tzlich umschlagende Jagdsituation, die bei Ju¨nger in immer neuen Wendungen und Formen auftritt, la¨sst sich aber nicht mehr subjektphilosophisch theoretisieren. Sie wird vielmehr die selbstbezu¨gliche Abgeschlossenheit des Soldaten als ‚eine Welt fu¨r sich‘ aufbrechen. Ab Der Arbeiter, der nicht mehr wie zuvor Die totale Mobilmachung die militaristische Herrschaft eines ‚tieferen Deutschlands‘, sondern die anarcho-syndikalistische Ordnung einer planetarisch organisierten Arbeiterschaft propagiert,22 wird es darum gehen, dort, wo von zuku¨nftigen Kollektiven die Rede ist, „eine leere Stelle, ein Fenster offenzulassen, das durch die Sprache nur umrahmt werden kann und das vom Leser durch eine andere Ta¨tigkeit als die des Lesen ausgefu¨llt werden muss“.23 An diese Leerstelle ist auch die Frage einer Autorschaft ‚auf ununterbrochener Fahrt‘ gebunden. Der Autor teilt die Erfahrung, eine kollabierende Grenze zu u¨berschreiten. Nach diesem Tod des Autors wird eine neue Autorenposition in eine Zukunft projiziert, die nur denjenigen zuga¨nglich ist, die die Null-Linie u¨berschritten haben. So zeigt paradoxerweise gerade ihr peremptorischer Befehlston, wie stark Ju¨ngers Texte auf Leser angewiesen sind.24 Die Autorenposition bleibt solange unbesetzt, bis sie von einer anonymen Lesergemeinschaft gefu¨llt und erfu¨llt wird. Da der rite de passage auf Leser angewiesen ist, liegt der Ursprung der Rede vom Planetarischen mitnichten in einem Grabenkampf, sondern in einer besonderen Lesesituation. Bei Ju¨nger „will“ die „Prosa“ des Lebens „von uns gedeutet und beherrscht werden“,25 wobei in diesem pluralis maiestatis („uns“) bereits die zuku¨nftigen Kollektive zu Wort kommen.26 Um den ihnen „entsprechende[n] Raum […] na¨mlich der Erde“27 in den gestaltenden Griff zu bekommen, mu¨ssen die sich in den Texten einsetzenden Kollektive sta¨ndig auch u¨ber den Text hinausgreifen. Diese Grenze von 21 22 23 24 25 26 27
Ju¨nger 1961a, S. 80. Vgl. Ju¨nger 1964a, S. 79. Ebd., S. 92. So auch Koschorke 2000. Ju¨nger 1964a, S. 145. Vgl. hierzu Sto¨ckmann 2000. Ju¨nger 1964a, S. 231.
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Lektu¨re und Aktion, von fictio und factio – den Meridian, an dem „Absicht“ und „Ansicht“ ineinander umschlagen28 – schreiten Ju¨ngers Texte unabla¨ssig ab. Dabei bedienen sie sich einer besonderen Textstrategie, die vom typologischen Schriftsinn der Bibel inspiriert ist. Auf die collagierte Komposition Ju¨ngerscher Texte, die oft eine einzige Anha¨ufung von Zitaten darstellen, ist in der Forschung bereits hingewiesen worden.29 Bislang wurde aber nicht gesehen, dass die Texte die ihnen eigene Konsistenz in einer Lesart gewinnen, die der ‚Prosa des Lebens‘ den Stempel einer pra¨figurativen Typologie aufdru¨ckt. „Typologie“, auch „Allegorie“ genannt, ist einer der vier Schriftsinne der mittelalterlichen Bibellektu¨re und beantwortet, so Friedrich Ohly, „die Frage nach der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Textes“.30 Zuna¨chst nur „das Verha¨ltnis zwischen Pra¨figuration und Erfu¨llung wie zwischen dem Alten und dem Neuen Testament“ bestimmend, vermochte die typologische Lektu¨re „auf das Verha¨ltnis zwischen Antikem als Pra¨figuration und Christlichem als Erfu¨llung u¨bertragen zu werden“ (ebd.). Ohlys anschließender Verweis auf Auerbachs Figura-Aufsatz macht deutlich, dass hier eine eschatologische Dimension mit veranschlagt werden muss. Im christlichen Geschichtsbewusstsein steht die Erfu¨llung im Reich Gottes noch aus, so dass man mit Auerbach eigentlich von einem „dreistufigen Vollzug“ sprechen muss, in dem erst das „ku¨nftige Eintreffen“ der durch die Figur Christi verheißenen „Ereignisse als endgu¨ltige Erfu¨llung“ gelten kann.31 Analog zur typologischen Lesart wird bei Ju¨nger alles und jede(r) als Pra¨figuration eines Kommenden verstanden. Dass dessen tatsa¨chliche zuku¨nftige Figur im Gegensatz zur christlichen Verheißung gleichwohl offen bleibt, zeigt sich bereits in ihrer rein formalen Bestimmung als Arbeit. So stellt sich Ju¨ngers Schreiben auf die zweite Stufe des dreistufigen Pra¨figurationsmodells, wobei sich die christlich-escha¨ berarbeitologische Verheißung in einen offen bleibenden Arbeits- und U tungsprozess verwandelt.32 „Typus“, einer der zentralen „Begriffe“, wenn nicht der Inbegriff des Arbeiter-Essays,33 meint so bei Ju¨nger im Gegensatz zu vielen der zeitgleich u¨blichen Typus-Konzeptionen kein u¨berzeitlich feststehendes Ideal, sondern eine Strategie der Umschrift, die die leeren Stellen und die zuku¨nftigen Gestaltungsmo¨glichkeiten in der Prosa des Lebens aufweisen soll. Das Ju¨nger 1964b, S. 588. Z. B. Ketelsen 1995, vor allem S. 89. Ohly 1958/59, S. 10. Auerbach 1967, S. 70. Hier ist auch die Fassungsproblematik von Ju¨ngers Œuvre zu verorten, vgl. Martus 2000. Sein Werk wird Ju¨nger in einem Brief an Edgar Traugott vom 21. 09. 1942 sogar in ein Altes und Neues Testament einteilen. Der Brief ist abgedruckt in Schwilk 1988, S. 187. Ju¨ngers pra¨figurative Textstrategie kann auch als Abwendung von der Apokalyptik der 20er Jahre gewertet werden, vgl. dazu Brokoff 2001. 33 Ju¨nger 1964a, S. 324.
28 29 30 31 32
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Interesse an deren Lektu¨re gilt ausschließlich einem Kommenden, welches dem Gegenwa¨rtigen und Vergangenen zwar letztlich fremd bleibt, die Vergangenheit und die Gegenwart aber durch die Lektu¨re mit seinem Index versieht. Der Strategie, die Prosa des Lebens derart als Pra¨figuration des Planetarischen deutbar zu machen, bedient sich spa¨ter auch Spivak.34 Dabei macht sie deren spezifische zeitliche Dynamik als diejenige eines future anterior, einer vorhergehenden Zukunft ausdru¨cklich. Spivaks Begriff des future anterior, der auf Derrida und Lacan zuru¨ckgeht,35 weicht entschieden vom gewo¨hnlichen Gebrauch des Tempus ab: To buttress the earlier notion of the future anterior, where one promises no future present but attends upon what will have happened as a result of one’s work, Derrida now adds a new kind of „perhaps,“ „the possibilization of [an] impossible possible [that] must remain at one and the same time as undecidable – and therefore as decisive – as the future itself“.36
Das future anterior soll nicht (gleich einem futurum perfectum) einen zuku¨nftigen Zustand festlegen, sondern auf den irreduziblen Mo¨glichkeitscharakter von Zukunft u¨berhaupt aufmerksam machen. Da nicht abzusehen sei, welche Folgen die gegenwa¨rtige Arbeit habe, gelte es von einem future present, das die Zukunft nur als Verla¨ngerung der Gegenwart betrachtet, Abschied zu nehmen. Dass Spivaks Zitat hier just den Text Derridas anfu¨hrt, der sich einer kritischen Lektu¨re von Carl Schmitts Feind-Begriff widmet, kann kaum Zufall sein. Die in Politiques de l’amitie´ aufgezeigten Spannungen, die Freundschaft und Feindschaft gleichermaßen innewohnen, sollen die nach Schmitt grundlegende politische Unterscheidung unterho¨hlen.37 In dieser Hinsicht steht Derrida, und mit ihm Spivak, Ju¨ngers Schmitt-Kritik nahe, zumal die Freundschaft und Feindschaft heimsuchenden Spannungen, wie Spivak betont, der politischen Einteilung in ein rechtes und linkes Lager strukturell vorangehen.38 Die Kritik an Schmitts Ruf nach klaren Scheidungen steht – und das, wie sich zeigen wird, ¨ berlewiederum kaum zufa¨llig – am Anfang und im Zentrum von Spivaks U 39 gungen u¨ber komparatistische „Collectivities“. Wie vor ihr Ju¨nger sieht Spivak in den Herausforderungen planetarischer Begegnungen nicht nur die Gefahren einer gleichzeitigen Invisibilisierung und Proliferierung von Feindschaften, sondern zugleich auch die Chance ungekannter, wenn auch preka¨rer, Freund34 Vgl. Spivak 2003, S. 49 und 71. 35 Schon bei Lacan kennzeichnet die Zeit des futur ante´rieur sowohl den Gegenstand als auch ¨ berarbeitungs-)Praxis des eigenen Schreibens: siehe Lacan 1966, S. 71 und 300. die (U 36 Spivak 2003, S. 29. 37 Vgl. Derrida 1994, S. 131 – 157. 38 Siehe Spivak 2003, S. 30. 39 So der Titel des zweiten Kapitels von Death of a Discipline, das mit einer Interpretation von Derridas Schmitt-Buch einsetzt (vgl. ebd., S. 25 – 32).
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schaften. Diese Chance bejahend wird Spivak die von Ju¨nger erprobte typologische Lektu¨re- und Schreibstrategie fu¨r die Institutionalisierung einer planetarischen Literaturwissenschaft mobilisieren.
3.
Eine planetarische Literaturwissenschaft
Die Aufgabe, Grenzen zu u¨berschreiten, zeichnete fu¨r Spivak schon die traditionelle Komparatistik aus: „Comparative literature must always cross borders“.40 Angesichts der neuen Art von Linienziehungen bedarf es nun einer neuen Literaturwissenschaft, welche es vermag, die blind gemachten und sich auslo¨schenden Linien zu erkennen und zu u¨berschreiten. Eine Schlu¨sselstellung muss die Literaturwissenschaft fu¨r Spivak schon deshalb einnehmen, weil sie die sich auslo¨schenden, planetarischen Linienziehungen auf ein sprachliches Modell zuru¨ckfu¨hrt. Grenzen liegen Spivak zufolge – auch hierin folgt sie Derrida – nicht nur zwischen Sprachen, sie durchziehen auch eine jede Sprache selbst;41 und sie sind ebenso wenig lokalisierbar wie die von der Globalisierung aufgelo¨sten Grenzen des Planeten. Verstehen (sei es einen Text oder einen anderen Menschen) ist immer nur u¨ber eine Vielzahl von zumeist unsichtbar bleibenden Grenzen hinweg mo¨glich. Da die sprachliche Formulierung von Gedanken unabdingbar zur Gedankenbildung geho¨rt, wird der sprachliche Ausdruck zur logisch nicht restlos auflo¨sbaren Figur ; und weil diese immer neu verstanden werden kann und muss, wird die Figur zur Pra¨figuration. „The meaning of the figure is undecidable, and yet we must attempt to dis-figure it […]. We know that the figure can and will be literalized in yet other ways“.42 Es ist die Literatur, die, dank eines pra¨figurativen Potentials, den Umgang mit solchen Figuren lehrt: „Literature cannot predict, but it may prefigure“.43 In diesem Sinn von Figur als Pra¨figuration, die das future anterior gegen das future present der Vorhersage ausspielt, versteht Spivak das Planetarische: Die Kollektive der zuku¨nftigen Literaturwissenschaft sollen sich „als planetarisch […] figurieren“.44 Hier lassen sich bei Spivak vor allem textstrategisch wichtige Parallelen zu Ju¨nger feststellen. Im Versuch, eine bestimmte Fronterfahrung zu universalisieren, oder vielmehr zu ‚planetarisieren‘, unterziehen Ju¨ngers Texte die zeitgeschichtlichen Entwicklungen einer pra¨figurativen Lektu¨re, die auf die kom40 41 42 43 44
Ebd., S. 16. Vgl. etwa Derrida 2006, S. 22. Spivak 2003, S. 71. Ebd., S. 49. Ebd., S. 72: „I will argue that, as presumed collectivities cross borders under the auspices of a Comparative Literature […], they might attempt to figure themselves […] as planetary rather than continental, global, or worldly.“
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mende Gestaltung durch die Arbeiter vorausdeutet. Erst in der Umschrift der Ereignisse werden diese zu Pra¨figurationen. Spivak geht es nun darum, mit dem Literaturunterricht eine bestimmte Klassenzimmererfahrung zu ‚planetarisieren‘.45 Ihr Schreiben folgt dafu¨r einem collagierenden „copy and paste“-Prinzip,46 das sich frei aus Klassikern wie A Room of One’s Own oder Heart of Darkness sowie aus weniger kanonischen Bu¨chern wie J. M. Coetzees Disgrace oder Mahasweta Devis Pterodactyl, Puran Sahay and Pirtha bedient. Legitimiert wird dieser Umgang mit Literatur durch deren pra¨figurative Potentiale, die sie der Verfu¨gungsgewalt des zuna¨chst Schreibenden immer schon entzogen haben: „The reader and writer are mulitple in constituting the unverifiable truth of the text“.47 Weil in dieser Umschrift immer auch ein „precarious and temporary transfer of agency“48 vom Text auf den Leser freigesetzt werde, stellt sich Spivaks Schreibstrategie auf die mittlere der drei Stufen der typologischen Lesart. Denn ihre Texte wollen ebenfalls gelesen werden. Deshalb fu¨hren sie, indem sie ZitatCollagen zusammentragen und um einen anvisierten, aber unbesetzt bleibenden ¨ bertragung der Deutungshoheit und HandlungsFluchtpunkt anordnen, die U macht an eine notwendig plurale Leserschaft vor. Auch hier geht es also darum, den Lesern das Fenster fu¨r „das Unvorhergesehene“49 offenzuhalten. In dieser Schreibpraxis verabschiedet Spivak zudem die klassische Rollenverteilung von Lehrer und Schu¨ler. In den singula¨ren, niemals im Voraus bestimmbaren Situationen einer gemeinsamen Lektu¨re von Literatur bildeten sich vielmehr preka¨re Kollektive mit einer nicht abzusehenden, als future anterior verfassten, Eigendynamik. Weil die hierbei zusammenfindenden Gruppen die „open-ended structure“50 der gelesenen Texte u¨bernehmen, schreiten sie genau die Grenze ab, wo die Texte pra¨figurativ u¨ber sich hinausweisen. Die von Spivak propagierte planetarische Literaturwissenschaft soll die Mo¨glichkeit solcher Lektu¨resituationen institutionalisieren. ‚Literatur‘ wa¨re in einem solchen Fach freilich auch nur das, was sich als Pra¨figuration eines, wiederum pra¨figurativ u¨ber sich (in eine planetarische Dimension) hinausgreifenden, Lesens und Schreibens anbietet. Das Ziel der literaturwissenschaftlichen Ausbildung liegt also darin, die offene Struktur literarischer Texte zum Anlass dessen machen zu ko¨nnen, was Spivak (in einem seltsamen Echo von Ju¨ngers Konzeption von ¨ berarbeitung) als „open-plan fieldwork“ bezeichnet und als eiArbeit als U gentliche Praxis der planetarischen Kollektive ausmacht.51 Die in der pra¨figu45 46 47 48 49 50 51
Siehe ebd., S. 28. Ebd., S. 33. Ebd., S. 42. Ebd. Ju¨nger 1961c, S. 186. Spivak 2003, S. 33. Ebd., S. 35. Fu¨r einen weitergehenden Vergleich von Spivak und Ju¨nger, der vor allem den
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rativen Lektu¨re- und Schreibpraxis ausgebildeten Literaturwissenschaftler sollen, so Spivaks Pla¨ne, eine Art embedded activist-translators bilden, die an den sprachlichen Grenzlinien, welche von einer „breakneck globalization“52 blind gemacht werden, vermitteln, vor allem um the subaltern eine Stimme zu verleihen. Die Fu¨rsprache fu¨r (das „speaking for“)53 diese Alterita¨t wird bei Spivak aber – wie zuvor Ju¨ngers Darstellung der Alterita¨t von Grenzerfahrungen – einzig und allein durch die Figur der Pra¨figuration legitimiert, so dass auch the subaltern nur als Pra¨figuration eines ihr oder ihm Fremden zur Geltung kom¨ bersetzungsarbeit der planetarisch figurierten Kollektive steht men kann. Die U unter dem kategorischen Imperativ einer typologischen Pra¨figuration. Weil strukturell offen bleiben muss, wie das future anterior sich figuriert haben wird, ¨ bersetzungspraxis neben unvorhergesehenen Chancen auch birgt eine solche U ebenso unvorhergesehene Gefahren.
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Michael Auer
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Fast jeder kennt den Schluss von Prousts beru¨hmter Madeleine-Szene, in der die unwillku¨rliche Erinnerung „tout d’un coup“ aus dem Nichts die vollsta¨ndige Wiederauferstehung der versunkenen Kindheit im Do¨rfchen Combray evoziert. Der besondere Reiz dieser Passage geht einerseits davon aus, dass sie durch die Abfolge der Verben, die Aufza¨hlung der entstehenden Erinnerungsobjekte und nicht zuletzt durch das mit „et“ konstruierte Polysyndeton den kettenartigen Automatismus der memoria anschaulich simuliert, andererseits aber davon, dass diese enumeratio nach Art einer mathematischen Induktion etwas suggeriert wie Vollsta¨ndigkeit: „tout Combray“: Et comme dans ce jeu ou` les Japonais s’amusent a` tremper dans un bol de porcelaine rempli d’eau de petits morceaux de papier jusque-la` indistincts qui, a` peine y sont-ils plonge´s s’e´tirent, se contournent, se colorent, se diffe´rencient, deviennent des fleurs, des maisons, des personnages consistants et reconnaissables, de meˆme maintenant toutes les fleurs de notre jardin et celles du parc de M. Swann, et les nymphe´as de la Vivonne, et les bonnes gens du village et leurs petits logis et l’e´glise et tout Combray et ses environs, tout cela qui prend forme et solidite´, est sorti, ville et jardins, de ma tasse de the´.1
‚Total recall‘ scheint noch immer und gerade wieder ein faszinierendes Thema fu¨r die Ku¨nste zu sein. Aber vielleicht ist das Erinnerungsmotiv mehr als nur ein ¨ sthetik noch Wohnrecht genießt, vielRefugium, wo das Totale innerhalb der A leicht ist die Suggestionskraft von Stellen wie der Proust’schen ein Indiz fu¨r die unterschwellige Macht, die das verdra¨ngte Totale noch oder wieder ausu¨bt, in der Literatur und vielleicht auch in der Literaturtheorie. Die folgenden vier Schritte werden um zentrale Passagen aus Texten von Thomas Bernhard, Michel Butor, Georges Perec und Heimito von Doderer organisiert.
1 Proust 1987, S. 47.
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1. Die Debatte um das ‚Wissen der Literatur‘2 ist eine differentielle und als eine der vielen letztlich defensiven Diskursformen der Selbstlegitimation, die der Geschichte der Ku¨nste einen Rhythmus verleihen, auch differentiell motiviert. Das bedeutet: Es geht beim ‚Wissen der Literatur‘ immer zuerst darum zu zeigen, dass die Belletristik durch eine ‚andere‘ Wirklichkeitswahrnehmung und -verarbeitung charakterisiert und dass das gut so ist. Dementsprechend wirkt die Definition des a¨sthetischen Wissens der Literatur zuna¨chst intensional; sie richtet sich darauf, was genau die Literatur speichern und mitteilen kann, und wie sie das tut. Eine extensionale Betrachtung ist dagegen eher unu¨blich; sie ha¨tte zu fragen, wie viel oder auch: was alles die Literatur wissen kann. Schon die meist stillschweigende Vorentscheidung fu¨r die Konzeption literarischen Wissens fu¨hrt also dazu, die Kategorie der Qualita¨t der der Quantita¨t u¨berzuordnen. Dies ließe sich – sehr vereinfacht – u¨berpru¨fen am Vergleich idealtypischer Definitionen des Lyrischen oder des Epischen, denn wa¨hrend letzteres Ausbreitung und Ausdehnung konnotiert, werden dem Lyrischen Punktualita¨t und Intensita¨t zugeschrieben, nicht selten mit Hilfe von Gema¨ldemetaphern (‚pastos‘ vs. ‚aquarellartig‘). Nun zieht sich durch die Geschichte der Ku¨nste – wie bereits die Sammelba¨nde von Lucien Da¨llenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig 1984 bzw. von Reto Sorg und Stefan Bodo Wu¨rffel 2006 verdeutlicht haben3 – die Dialektik von „Fragment und Totalita¨t“. Dabei scheint dem Fragmentarischen nicht nur das Moderne, Mutige, Desillusionierte zugeordnet, sondern auch das Realistische, das Offene, kurz: Jeder Ku¨nstler, der sich nicht durch holistisches Denken la¨cherlich machen will, wird inzwischen, abgesichert durch die fru¨hromantische Poetik,4 fu¨r das Bruchstu¨ckhafte, das Unfertige, ja Unabschließbare optieren. Man ko¨nnte sogar versucht sein, in der bina¨ren Codierung ‚ganz‘ vs. ‚fragmentarisch‘ diverse andere Dichotomien wiederzuerkennen, wenn man das Ganze mit dem Scho¨nen oder Vollkommenen assoziiert und das Fragmentarische wahlweise mit dem Ha¨sslichen oder auch dem Erhabenen. All dies wu¨rde die Verha¨ltnisse freilich sehr vereinfachen, schon, weil auch eine scho¨ne Totalita¨t leicht in Totalitarismus umzuschlagen scheint, wobei das lu¨ckenlose Erfassen das Stigma des Bo¨sen tra¨gt. Eine Episteme, die kein Außen kennt, eine Politik, die keine Andersheit zula¨sst, eine Welt ohne Heterotopie, diese Denkmodelle scheinen Totalita¨t zu einem Unwort zu stempeln. Umso wichtiger ist es fu¨r eine aufkla¨rende Kulturwissenschaft, die Gegenseite zu beleuchten, weil sie in der Kunst auch stets vorhanden ist, weil sie sogar den anthropologischen Gru¨nden 2 Vgl. Schlaffer 2005; Ho¨risch 2008. – Das vorliegende Thema macht es unmo¨glich, jeweils vertiefend Sekunda¨rliteratur anzufu¨hren; dies kann also nur paradigmatisch und selektiv geschehen. 3 Vgl. Sorg / Wu¨rffel 2006. 4 Vgl. z. B. Frank 1984, S. 212 – 224.
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der Existenz von Kunst na¨herkommt, vor allem aber, weil die Digitalita¨t mit ihren Mo¨glichkeiten einerseits, andererseits die Globalisierung mit ihren diversen Epipha¨nomenen eine neue Sichtweise auf Totalita¨t befo¨rdern. Das Ganze, das Totale, das Universale – man fragt sich, welche Vokabel die allerumfassendste sein ko¨nnte, und man kommt zwangsla¨ufig bei einer negativen Theologie aus, einer mystischen Sprachverwendung, die nur die Unmo¨g¨ ußere lichkeit benennen kann, das ‚ganze Ganze‘ zu meinen, denn das einzige A des Totalen ist das Unbegrenzte, „non circoscritto“ (Par. XIV, 30), wie es Dante nennt. Das Totale tra¨gt schon als Begriff einen Bekenntnisindex; es verschweigt nicht, dass es sich vom „Ganzen“ (totus) herleitet. Mindestens im Deutschen, der Verdacht liegt nahe, ist das Totale zudem moralisch verda¨chtig. Auch wenn dies etymologisch dramatisch in die Irre fu¨hrt5 – man wird kaum leugnen ko¨nnen, dass in der deutschen Sprache die scheinbare Identita¨t des Wortstamms „tot“ mit dem von „totus“ einen subliminalen Eindruck hinterla¨sst, zumal wir auch nicht mehr davon absehen / abho¨ren ko¨nnen, wie Goebbels den „totalen Krieg“ ausrief. Auch hat Totalita¨t via Ordnung und Kontrolle unleugbar mit Totalitarismus zu tun. Nicht zufa¨llig pra¨gten diese Begriffsableitung italienische Antifaschisten, die Mussolinis Staat ein „sistema totalitario“ nannten.6 Das beru¨hmte Diktum aus dem 100. Kapitel von Musils Mann ohne Eigenschaften aber, irgendwie gehe „Ordnung in das Bedu¨rfnis nach Totschlag u¨ber“,7 und die vorausgehende Bemerkung, „eine ganze universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommene zivilistische Ordnung“ sei a¨quivalent mit dem „Ka¨ltetod“,8 suggeriert dieselbe Gedankenverbindung gleich doppelt: Totale Ordnung ist Tod und erzeugt (was vermutlich Gewalt im Dienst der Schaffung von entropischer Unordnung meinte) Totschlag. „Es ist eine Kunst, nicht total zu lesen und nicht total zu ho¨ren und nicht total zu betrachten und zu schauen, sagte er.“ So heißt es in Thomas Bernhards Roman Alte Meister, und weiter : „Jahrzehntelang habe ich alles total tun wollen, das war mein Unglu¨ck, sagte er.“9 Man ko¨nnte die Hypothese wagen, dass Bernhards Skepsis heute so popula¨r ist, weil sie fu¨r jede Art von Reflex gegen das Totale eine Formel bietet. Thomas Bernhards Reger ist eine Figur, der man aufgrund des 5 Vgl. Kluge 1975, S. 784, wobei nur eine germanische Wurzel *dau ‚sterben‘ postuliert wird. „Totus“ hingegen (totalis, totalitas, totaliter stammen erst aus dem spa¨ten Mittelalter ; Du Cange 1887, S. 138) stammt aus einer Wurzel mit der Bedeutung „schwellen“ und wird auf das indogermanische Partizip *touetos „vollgestopft“ zuru¨ckgefu¨hrt. Vgl. Walde 1954, S. 695 f.; ˆ Pokorny 1959, S. 1080. 6 Wippermann 1997. 7 Musil 1978, S. 465. 8 Ebd., S. 464. 9 Bernhard 2008, S. 1256.
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Redegestus von Alte Meister eine fast totale Sprachrohrfunktion fu¨r ihren Autor zuschreibt, und dies ausdru¨cklich trotz der obsessiven Distanzierungskonstruktionen („sagte er“). Ob zu Recht, spielt angesichts der Evidenz des Phatischen – gesagt ist gesagt – keine Rolle. Wichtiger erscheint diese litaneiartige Ablehnung, ja Abwehr des Totalen an sich, jeder totalen Rezeption, weil diese die Unterstellung der Mo¨glichkeit eines totalen, d. h. total gelungenen Kunstwerks, beka¨mpft. Und weil dies sich so leicht zum Zitat eignet und von Bernhard schon als obstinate Formelsammlung komponiert worden ist, muss um so mehr darauf hingewiesen werden, dass sein Reger offene Tu¨ren einrennt. Es ist allemal einfacher, gegen jede Form von Totalita¨t in der Kunst aufzutreten, vor allem, wenn sich die prinzipielle Ablehnung mit dem Argument menschlicher Unvollkommenheit paart, zumal die allermeiste Kunst (dies mit Sicherheit) wenig gelungen, misslungen, schlecht, auf jeden Fall aber nicht vollkommen ist. Damit wa¨re aber u¨ber die Sehnsucht nach dem Totalen, z. B. nach Weltliteratur, noch nichts gesagt. Auch fa¨llt nicht schwer, Bernhards Formulierungen mit der thomistischen Theologie in Verbindung zu bringen, die die Vollkommenheit ohnehin nur Gott zuschreibt und deshalb jeder Handlungsrolle im Sozialsystem der Ku¨nste, ob Produzent oder Rezipient, das Streben nach Totalita¨t mit Verweis auf die Kardinalsu¨nde der superbia verbietet. Dass jede Art von ku¨nstlerischer Totalita¨t letztlich nur eine Metapher sein kann, versteht sich von selbst. Nur ein emphatischer Gottesbegriff ko¨nnte die gemeinte Totalita¨t in sich schließen. Unsere a¨sthetische Umgebung ist unsichtbar codiert, auch auf die Antithese ‚ganz‘ vs. ‚unvollsta¨ndig‘ hin. Man kauft ganze Bu¨cher und nach Mo¨glichkeit vollsta¨ndige Editionen. Das Ganze ist also das Normale, das Fragmentarische aber das Interessante. Im Alltag will niemand das Unvollsta¨ndige; ¨ sthetik, scheint es, ist darauf fixiert. Dort erscheint bereits das Nachnur die A denken u¨ber die Mo¨glichkeit von Totalita¨t als Hybris, die in einer ha¨ufigen ¨ sthetischen ins Pseudo-Theologische als moralische VerUmcodierung des A fehlung gewertet und als Su¨nde gestraft wird: mit Verlachen oder Verbot. Spa¨testens darum geht ein Reiz aus von dem Wort Totalita¨t, der seit dem 20. Jahrhundert ein Reiz des Tabuisierten ist, und deshalb u¨bt sich nicht nur die Ku¨nsteTheorie oder die Literaturwissenschaft im Heben der Augenbrauen, im skeptisch-besserwissenden Schmunzeln, sondern auch die Autoren kleiden ihre geheime Verfallenheit an den Traum des Totalen in gerahmte Fiktionen – Borges ist das beste Beispiel. Die Literatur hat, kurz gesagt, zum Ganzen ein melancholisches Verha¨ltnis. Der Schmerz u¨ber das Unvollsta¨ndige ist der Schmerz u¨ber die Sterblichkeit und die Verletzlichkeit des eigenen Ko¨rpers. Dabei scheint indes ein zweites Ideal verlorengegeben, das ebenfalls in der Kunst der Gegenwart kaum noch ernsthaft artikuliert wird, wa¨hrend seine Gegenteile, die Lu¨ge, die Fa¨lschung, die Ta¨uschung nicht nur als Analysebegriffe, sondern als a¨sthetische Leitbilder Konjunktur haben. Ein zentraler Punkt liegt
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na¨mlich in der engen und logisch komplexen Verbindung, die die Kategorien Ganzheit und Wahrheit haben. „Die ganze Wahrheit“ u¨ber etwas – das heißt auf Englisch „The whole story“. Totalita¨t als Dispositiv kompletter Information (‚full and complete information‘) bedeutet automatisch auch Wahrheit. Insofern eignet dem Totalita¨tsgedanken immer das Prinzip des vollsta¨ndigen Ausleuchtens der Dinge, na¨mlich welche alle sie sind und auch wie sie sind. Das sah Adorno radikal anders. ¨ sthetik scheint es nicht einmal selbstversta¨ndlich, 2. In neueren Werken zur A einen Begriff wie ‚Totalita¨t‘ zu behandeln. Immerhin begegnet er mitsamt synonymen Konstruktionen sporadisch im Register der zweiten Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte,10 und zwar als „Ganzheit“ des Gedichts, als epische „Ganzheit“, als „geschlossene“ Form sowie als „totale Welt“ ¨ sthetische Grundbegriffe aber wird des Epos. In dem wichtigen Sammelwerk A man pertinente Informationen eher in Justus Fetschers Artikel „Fragment“ finden. Dieser reflektiert natu¨rlich auch ausfu¨hrlich die Kunsttheorie Adornos, der ja in den Minima moralia aus der Diagnose eines „bescha¨digten Lebens“ gar ¨ sthetik ein Diktum wie „Das Ganze ist das Unnicht anders konnte, als der A 11 wahre“ aufzubu¨rden. Weil die Adorno-Rezeption selbst sich zu einem machtvollen Diskurs weiterentwickelte, sei gleich Fetschers Resu¨mee gewa¨hlt: „Fu¨r Adorno sind die authentischen Werke moderner Kunst so sehr von einem Unbehagen an sich selbst, vom Bewußtsein, ihrem Wahrheitsanspruch nicht zu genu¨gen, gezeichnet, daß sie den verso¨hnenden Schein der Geschlossenheit abwerfen und zum Fragment zerfallen“.12 Bezeichnenderweise gibt Fetscher aber am Ende seines Abschnitts zu Adorno Eberhard Ostermanns dialektischer Bemerkung ihr Recht: „Nirgendwo deutlicher als bei Adorno spielt die Kategorie des Fragments ihre Rolle als eine verdeckte Totalita¨tskategorie.“13 Diese Dialektik verra¨t sich in zahlreichen, nicht nur Adornos oder Benjamins, geschichtsphilosophischen Entwu¨rfen. Es scheint nun aber, dass zwar das Ganze seine Zerschlagung provoziert wie bei Musil und das Fragment seine Sehnsucht nach dem Ganzen nicht verleugnet, ¨ sthetik mindestens der Moderne noch nicht andeutet, wie dass sich aber in der A aus dieser Relation eine Symmetrie oder historisch eine dialektische Balance entstehen ko¨nnte. Es ist eben kein Zufall, dass Ostermann das Fragment als
10 Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1988, S. 129, 141 und 438. 11 Adorno 1997, S. 55. 12 Fetscher 2001, S. 584. Vgl. auch Paul de Mans Resu¨mee zu Walter Benjamin: „he is not saying that the fragments constitute a totality, he says the fragments are fragments, and that they remain essentially fragmentary. They follow each other up, metonymically, and they will never constitute a totality.“ De Man 2002, S. 91. 13 Ostermann 1991a, S. 164; vgl. Fetscher 2001, S. 585.
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„Leitmetapher der a¨sthetischen Moderne“,14 ja als „a¨sthetische[] Idee“ kategorisieren kann, wa¨hrend das „Ganze“ momentan einen Universalbegriff abgibt, der die Bindung zur Realita¨t verloren zu haben scheint. Und es ist auch kein ¨ sthetische Grundbegriffe zwar das Lemma Zufall, dass die Herausgeber von A „Fragment“ aufnahmen, aber weder das „Ganze“ noch die „Totalita¨t“ (allenfalls ist hier unter den Termini „Werk“ oder „Vollkommenheit“ weiterzulesen). Auch die meisten Beitra¨ge des Sammelbandes von Da¨llenbach und Hart Nibbrig widmen sich eher dem Fragment als der Totalita¨t, einige immerhin mit einer Verbeugung vor der programmierten Dialektik, z. B. Bazon Brock, der die „Ruine als Form der Vermittlung von Fragment und Totalita¨t“ untersuchte oder Hans Ulrich Gumbrecht, der Literaturgeschichte als „Fragment einer geschwundenen Totalita¨t“ konzeptualisierte.15 Noch deutlicher war dies 2006, als praktisch nur Ju¨rgen So¨ring ein „Pla¨doyer fu¨r a¨sthetische Ganzheit“ riskierte.16 200 Jahre zuvor, in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der scho¨nen Ku¨nste17 ist hingegen nicht nur ein Artikel „Ganz“ aufgenommen, sondern zusa¨tzlich das Lemma „Im Ganzen“, la¨sst sich doch die klassizistische Tradition der Vollkommenheit von Platons Timaios an verfolgen, wo „Scho¨nheit, Ganzheit und Vollkommenheit“ „interdependent“18 sind. Erwartungsgema¨ß befindet also Sulzer in den 1790er Jahren, dass „jedes Werk der Kunst ein wahres Ganzes seyn mu¨sse, weil es sonst nicht gefallen ko¨nnte“, und dass deshalb, also zur Erreichung der Ganzheit, zweierlei einem Kunstwerk eignen mu¨sse: „Verbindung oder Vereinigung der Theile, und vo¨llige Beschra¨nkung“, so dass „Einheit“ und „Vollsta¨ndigkeit“ gewa¨hrleistet sind.19 Interessant ist dabei einerseits die Begru¨ndung, dass na¨mlich nach der aristotelischen Rhetorik „das Unbeschra¨nkte nicht angenehm, ja so gar nicht begreiflich sey“,20 andererseits die rezeptionsa¨sthetische Beobachtung: „Was […] nicht als ein fu¨r sich bestehendes Ganzes, sondern als ein Theil eines weit gro¨ssern Ganzen erscheint, kann unsre Aufmerksamkeit nie ganz haben.“21 Auf Schritt und Tritt besta¨tigt sich u¨brigens in den Ganzheitsideen des 18. Jahrhunderts, dass die universellen Vorstellungen der scho¨nen Ku¨nste oft prima¨r von der bildenden Kunst abgeleitet sind, dass also etwa bei der Diskussion des Ganzen ein denkbares, nicht notwendigerweise ¨ lgema¨lde als Leitvorstellung diente. So nun – verallgemeinert großformatiges O auch Sulzer – „hat jede Kunst ihre besondern Veranstaltungen, um das, was sie 14 15 16 17 18 19 20 21
Ostermann 1991b, S. 189 – 205. Da¨llenbach / Nibbrig 1984. So¨ring 2006, S. 33 – 47. Sulzer 1967 – 1970, S. 291 – 296 und 296 f. Fru¨chtl 2005, S. 371. Sulzer 1967 – 1970, S. 292. Ebd., S. 291 f.; vgl. Aristoteles 1987, S. 186 Sulzer 1967 – 1970, S. 293.
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vorstellt, als etwas Ganzes und nicht blos als ein Stu¨k einer andern Sache erscheinen zu machen“.22 Auf die unscheinbare logische Falle, die darin besteht, dass man ein Fragment nicht notwendigerweise als ein Bruchstu¨ck „von einer andern Sache“ betrachten mu¨sste, sei nur en passant hingewiesen. Dass aber nun ein einzelnes Lemma „Im Ganzen“ heißt, ist genau die konsequente Fortsetzung des wirkungsorientierten Ansatzes. Fu¨r Sulzer ist eben beides gegeben, „Werke der Kunst“, die „die Wu¨rkung des Ganzen zur Absicht haben, so daß die Theile blos des Ganzen halber da sind“, und „andre Werke“, die „einzele [!] Theile zur Hauptabsicht haben“. So muss, wie ein nicht erkla¨rtes Beispiel Sulzers lautet, „die Odyssee mehr im Ganzen, und die Ilias mehr in einzeln Theilen betrachtet und beurtheilet werden“.23 Auch hier, im „betrachtet“, versteckt sich noch die bilda¨sthetische Basisvorstellung von Ganzheit als einer anzuschauenden Kategorie, ja, man ko¨nnte vermutlich zeigen, dass Totalita¨t immer eine optische Komponente mittra¨gt, einen kognitiven Panoramablick, und sei es „nur“ als Denkfigur. Freilich ist die Potentialita¨t dieser wissenspoetologischen Muster ja fast unbegrenzt. Noch Georg Luka´cs definierte das Konzept des ku¨nstlerischen „Werks“ als „wahre Totalita¨t, ein Sinnbild der Welt“,24 und dekretierte, das „Werk“ mu¨sse „intensive Totalita¨t“ haben.25 Dabei meinte er mit seinem Totalita¨tsbegriff nicht prima¨r den Weltbezug (obgleich dieser nicht ausgeblendet ist, sondern u¨ber die Vorstellung der lebensweltlichen Erfahrung einfließt),26 sondern das Umgreifen von „Chaos“ und „Form“. Luka´cs’ Na¨he zur romantischen Romantheorie ist nicht kontingent; Offenheit und Geschlossenheit in einem Komplex erzeugt einen modernen und dynamischen Werkbegriff. In ihrem Lexikonartikel „Totalita¨t“, von dem schon hervorzuheben ist, dass es ihn (u¨berhaupt wieder) gibt, hat Annette Simonis kurz nachgezeichnet, wie sich nach den Spa¨twirkungen ¨ sthetik“ mit Leitbegriffen wie „Ganzheit, Identita¨t und einer „klassischen A Einheit“ erst im 20. Jahrhundert „u¨berwiegend totalita¨tskritische Ansa¨tze durchsetzen“, die Fragment und Dissonanz privilegieren.27 Mit dem ‚Privileg‘¨ sthetik zwar offiziell alle anBegriff soll hier betont werden, dass die neuere A deren als deskriptive Verfahren weit von sich weist, zugleich aber sowohl durch lexikographische oder historiographische Schreibweisen wie durch Proportionalita¨t, ja schieres Ansprechen oder Nicht-Ansprechen von Aspekten ihre Sympathie fu¨r das Offene, Unfertige oder Destruierte kundtut. In Annette Simonis’ Artikel ist gro¨ßere Vorsicht erkennbar, denn nachdem sie die Totali22 23 24 25 26 27
Ebd., S. 296. Ebd., S. 297. Luka´cs 1971, S. 316. Luka´cs 1963, S. 231. Vgl. Hamm 2003, S. 834. Vgl. Simonis 2008, S. 723. Simonis 2008, S. 723.
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ta¨tsskepsis auch neuerer Theoriewellen begru¨ndet hat – die Vorliebe des new historicism fu¨r die Anekdote statt der ‚großen‘ Geschichtserza¨hlung, die dekonstruktive Abwehr jeder auf ein ‚ganzes‘ Verstehen zielenden Textlektu¨re –, schließt sie mit einem Verweis auf Foucaults Vorstellung ma¨chtiger Sprachdispositive, die als eine neue Totalita¨t erscheinen ko¨nnten.28 Freilich wohnt auch Foucaults Theorie ein kritischer Impuls inne – eine naive neue Ganzheitlichkeit ¨ sthetik. gibt es in der Esoterik, sicher nicht in der A 3. Um die Frage anzugehen, ob das Totale aus der Gegenwartskunst ein fu¨r alle Mal verbannt ist, ist noch einmal auf die eidetische Episteme des oder der Totalen zuru¨ckzukommen. Am 27. Mai 2011 fand am Wiener Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften ein Workshop zur Geschichte fotografischer Messbilder statt; sie trug den Titel „Die totale Erfassung der Welt“, denn der epistemologische Blick zuru¨ck hat im Zeitalter von google earth eine unmittelbare Evidenz. Generell herrschte bis ins spa¨te 19. Jahrhundert ein Wissensoptimismus, der die Taxonomie naturhistorischer Museen und die Wissensordnungen gewaltiger, oft kreisrunder Nationalbibliotheken entstehen ließ, eine Episteme der Ganzheit. Jegliche Sammelaktivita¨t, auch die Episteme der Taxonomie zielt auf eine vollsta¨ndige Erfassung. Daher auch repra¨sentiert gerade u¨ber fast das gesamte 19. Jahrhundert hinweg die Idee des Panoramas ¨ sthetik der Totalita¨t.29 Heute ist Totalita¨t meist zwischenzeitlich eine visuelle A nur ein subalternes Instrument; im Film geho¨rt die Totale zum Vokabular mo¨glicher Einstellungen, meist mit der Funktion der Orientierung, als establishing shot; im Comic erfu¨llt das splash panel, ein seitenfu¨llendes Einzelbild, a¨hnliche Aufgaben, und die mehrere Meter breiten Großfotos von Jeff Wall oder Andreas Gursky markieren die Tendenz der rezenten Fotografie zum wandfu¨llenden Tableau.30 Dass hingegen ein ganzes Verfahren, ein ganzes Medium, eine ganze Gattung im Modus der Totalita¨t funktioniert, scheint eine vergangene Praxis oder wenigstens Theorie. Totalita¨t liegt als literarische Episteme bestimmten Gattungen zugrunde: dem Epos, dem Roman, der Biographie,31 der Historiographie, dem Geschichtsdrama. Diesen Genres wurde einst die Fa¨higkeit, mindestens aber die Intention zugeschrieben, eine Ganzheit abzubilden. Da ist zuna¨chst das Epos, das schon an seiner Textoberfla¨che signalisiert, wie es darauf abzielt, eine ganze Geschichte 28 Ebd., S. 723. 29 Sternberger 1974; Pleesen 1993; Comment 2000. – Und deshalb ist es auch kein Zufall, dass gerade Mitte des 19. Jahrhunderts Ausgaben des Gesamtwerks von Autoren in Quartba¨nden mit Zweispaltdruck vorgelegt wurden, Gesamtwerke eben. 30 Vgl. Kemp 2011, S. 112 – 119. 31 Die Totalita¨t als Lebenssumme in Biographien betont Jacob Burckhardt: „erst die letzte Lebensstunde gewa¨hrt den abschließenden Spruch u¨ber diejenigen Menschen und Dinge, mit welchen wir in Beru¨hrung gekommen sind“. Burckhardt 1978, S. 251.
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von Anfang bis Ende zu berichten, mit allen zugeho¨rigen Details, ausdru¨cklich auch um den Preis der Langatmigkeit. Das Epos demonstriert dies in seiner textlichen Gestalt durch dichte Verskolonnen, die Anzahl der Bu¨cher, die als solche eine Kette in sich umfangreicher Texteinheiten bilden und spa¨testens durch die Philologen (etwa die alexandrinischen) so in einer Za¨hlung disponiert wurden, dass z. B. Ilias und Odyssee genau einem ganzen griechischen Alphabet entsprachen oder auch u¨berhaupt eine ‚runde‘ Zahl an Gesa¨ngen entstand. Das Epos zeigt Ganzheit durch die beru¨hmten Mittel der epischen Integration, durch Wiederholungen, Ru¨ckgriffe usw. Und wie die Rhetorik in der Synekdoche, im Pars pro toto (Schildbeschreibung) eine Abku¨rzungsform fu¨r das Ganze verfu¨gbar ha¨lt, so besitzt das Epos im Katalog eine Mikroform der Selbstabbildung, denn in der Liste entsteht – wie zuletzt Eco gezeigt hat – die rhetorische Beglaubigung von Vollsta¨ndigkeit oder gar Unendlichkeit.32 Das heißt in letzter Konsequenz, das epische Subjekt, die Sprechmaske des Rhapsoden ko¨nnte scheinbar endlos weiterberichten, in Wahrheit aber, bis alles gesagt ist, bis alle am Krieg teilnehmenden Vo¨lker oder ggf. alle in der Schlacht ka¨mpfenden Ma¨nner mit Namen genannt wa¨ren. Noch einschla¨giger als Heldenepen sind Universal- und Universum-Dichtungen. Unter ersteren darf man weltgeschichtliche oder mythologische Epen, etwa das Mahabharata verstehen, generell Titel, die „Das große…“ bedeuten, oder die mit „Ganz-“, „Welt-“, „Holo-“, „Panto-“ usw. beginnen. Letztere sind oft ebenfalls Epen, der Tendenz nach Lehrdichtungen. Man denke an Lukrez’ De rerum natura, an die Phainomena des Aratos oder deren Translation ins Lateinische, das Werk des Manilius, auch Ovids „carmen perpetuum“. Man denke auch an die heute fast vergessene, zu Beginn des 19. Jahrhunderts popula¨re Urania von Christoph August Tiedge und zahlreiche unausgefu¨hrte Pla¨ne allumfassender a¨sthetisch-mythologisch-ma¨rchenhafter Epen im Umkreis und Gefolge der Romantik. Man ahnte, dass man dabei in die Na¨he der Genesis oder gar der Bibeldichtung geriet, die ihrerseits als in der Spa¨tantike entstandenes Genre entweder das Leben Jesu in seiner gesamten unermesslichen Bedeutung nacherza¨hlte, bis hin zu Klopstock und Lavater, oder abstrakter und nicht selten allegorisch die Heilsgeschichte als Gesamtheit ausspannte. Schließlich sei an Dantes Divina Commedia, an Goethes Faust oder Ibsens Peer Gynt erinnert, die gemeinhin und vor allem in einer emphatischen Tradition von Literaturwissenschaft als totale Weltdichtungen rezipiert und durch Kommentierung gar ins Enzyklopa¨dische verschoben wurden. Als Erbe des Epos wird dem Roman ebenfalls eine besonders umfa¨ngliche Welthaltigkeit zugeschrieben. Volker Klotz umschrieb denn auch bewusst Epos
32 Eco 2009.
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und Roman als „Erza¨hlen im großen Ganzen“.33 Eine ganze Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Tod soll er im Idealfall mitteilen, oder gar einen ganzen Geschichtsabschnitt (wenn das kein Widerspruch zur Totalita¨t ist), eine ganze Familie mit allen ihren Mitgliedern, ein ganzes Milieu, eine ganze Stadt o. a¨. Die Mittel, die dem Roman dafu¨r zur Verfu¨gung stehen, sind bekannt: Zuna¨chst eine im Prinzip beliebige, vor allem unlimitierte La¨nge. Daher vermag, so Jo¨rg Wesche, „der Roman die Totalita¨t fiktiver Weltentwu¨rfe in ‚epischer Breite‘ zu entfalten“.34 Einschra¨nkend ist zu beachten, dass nur Romane gro¨ßeren Umfangs in der Lage sind, Totalita¨t auch physisch glaubhaft zu machen. Natu¨rlich erstreckt sich die Totalita¨t des Romans aber, vor allem im 20. / 21. Jahrhundert, nicht nur auf die quantitative Seite – vielmehr ist der Roman mit multiplen Darstellungsweisen, vielfa¨ltigen Arten der Weltbetrachtung gerade durch seine Vielgestaltigkeit ein Simulacrum der vielgestaltigen Welt. Dabei kann Totalita¨t im einzelnen ganz verschieden simuliert werden: durch ganze Romanzyklen, die die Diegese als potentiell jederzeit und nach allen Richtungen fortsetzbar erscheinen lassen, als Netz interner Referenzen, das – wie in den Romanwelten Balzacs und Zolas, in Jules Romains Les hommes de bonne volonte´ (1932 – 1946) oder Georges Duhamels Chronique des Pasquier (1933 – 1941) – die Geste der Vervollsta¨ndigung auch nach innen fortsetzt, als Chronikroman, der in Anlehnung an die angestrebte Lu¨ckenlosigkeit der Aufzeichnung von res gestae durch seine prononcierte Diachronie das Proust’sche „et… et“ als ein „und dann… und dann…“ inszeniert. Totalita¨t kann aber in Kontinuita¨t zum Chronik-Konzept die Vollsta¨ndigkeit der Geschichte eines Ortes (einer Bucht, der Stadt Salisbury) durch die Jahrtausende sein wie in den auf schlichte Weise polychron angelegten Romanen James Micheners oder Edward Rutherfurds oder in der raffinierteren Konstruktion von David Mitchells Cloud Atlas (2004). Performative Totalita¨t ist mindestens preka¨rer. In der Regel suggeriert schon der Bu¨hnenausschnitt, das Portal, dass das Vorgestellte nur ein Partikel der Wirklichkeit sei. Natu¨rlich hat der Sekundenstil des Naturalismus versucht, wenigstens den Moment und das Detail total zu erfassen; in diesem speziellen Sinn hieß Totalita¨t soviel wie 1:1. Eine ganz andere, seltene dramatische Anbahnung von Totalita¨t findet man in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. Hier wird versucht, das Individuelle der Personenfu¨hrung auf dem traditionellen Theater abzustreifen zugunsten der Massendarstellung, des Repra¨senta¨ brigens gab es das totale Theaterstu¨ck schon im ausgetiven, des Typischen. U henden Mittelalter, etwa in der Grande Passion des Arnoult Greban. Die in England u¨blichen zyklischen mystery plays versprechen, wenn sie sich u¨ber mehrere Tage erstrecken, nicht nur eine totale Abbildung der Geschichte im 33 Klotz 2006, S. 261 und 351. 34 Wesche 2010, S. 45.
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vorgespielten Geschehen, sondern auch eine totale Beteiligung der ausfu¨hrenden Gilden oder der ganzen Stadt. Dem kommt auch das Oberammergauer Passionsspiel noch recht nahe. Der zehnja¨hrige Abstand der dortigen Auffu¨hrungen suggeriert ja, dass ein solch vollsta¨ndiges Involviertsein nicht immer, sondern allenfalls einmal pro Dezennium mo¨glich sei. Das oft zitierte barocke „gran teatro del mundo“ hingegen kann Totalita¨t nur allegorisch-verweisend, nicht mimetisch repra¨sentieren. Doch zuru¨ck zur Erza¨hlprosa: Es konnte schon gezeigt werden, wo u¨berall die Idee einer „vollsta¨ndigen Beschreibung“ benannt und (natu¨rlich) letztlich ad absurdum gefu¨hrt wird.35 In ekphrastischen Texten wird diese Mo¨glichkeit gewissermaßen getestet, gerade im Nouveau Roman, z. B. in Michel Butors Degre´s (1960): Der 35-ja¨hrige Pierre Vernier, Geschichts- und Geographielehrer an einem Pariser Gymnasium, beschließt, ab dem 12. 10. 1954 in einer Art totaler Aufzeichnung die Schu¨ler, Lehrer, Unterrichtsstoffe, Beziehungen und Ta¨tigkeiten seiner Schulklasse, einer Sekunda aus etwa 30 Knaben, festzuhalten. Er la¨sst sich dabei, als er merkt, dass er alleine die Klasse nur aus seiner Lehrerperspektive sehen kann, auch von seinem Neffen und Schu¨ler Pierre Eller, und als dieser ihm keine Informationen mehr liefert, von seinem Schwager und Kollegen Henri Jouret helfen. Das liest sich so: „J’ai de´ja` situe´ l’activite´ de tous ces personnages lors de la deuxie`me heure de l’apre`s-midi, de trois a` quatre, le lundi 11 octobre 1954, le second lundi de cette anne´e scolaire, la veille du jour ou` j’ai commence´ a` re´diger ces notes, vingt-quatre heures exactement avant cette lec¸on pivot sur la de´couverte et la conqueˆte de l’Ame´rique.“36 Der Erza¨hler beklagt, dass er u¨ber seinen Kollegen Moret fu¨r seine Notate, die den Roman Degre´s bilden werden, nicht genug weiß und auch nicht genug wissen wird. „Vois-tu“, schreibt er seinem Neffen und Informanten, „si je laisse cette case a` peu pre`s vide, c’est que j’ai trop peu d’e´le´ments pour que mon imagination se dirige dans tel sens plutoˆt que dans tel autre, mais tu sais bien qu’il aurait fallu la remplir.“37 Darum geht es – den Imperativ, die Welt als einen Stundenplan mit Fa¨chern zu betrachten, alles Darzustellende, in diesem Fall die Schulklasse mit allen Schu¨lern, Lehrern, sozialen Bindungen, Stoffen und Handlungen, lu¨ckenlos zu repra¨sentieren, das Erza¨hlen als Pflichtaufgabe. Nach einer Erkrankung muss Vernier aufgeben. Dass dies vorprogrammiert war, schließt der Leser schon aus dem Geografie-Unterricht des Erza¨hlers, der der Schulklasse zur Mercator’schen Kartenprojektion erkla¨rt, „qu’il est impossible de repre´senter la terre avec pre´cision sans la de´former, de meˆme qu’il est impossible de faire
35 Vgl. Ho¨lter 2009. 36 Butor 1968, S. 62. 37 Ebd., S. 90.
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passer la re´alite´ dans le discours sans employer un certain type de projection“.38 Vernier weiß also um das programmierte Scheitern: „il faudrait que je note tout, et je ne puis pas tout noter, je ne puis meˆme pas noter tout ce dont je sais de´ja` que je pourrai en avoir besoin pour ce re´cit, pour cette description, cette ope´ration que je tente“.39 Definitiv wird das Unterfangen aussichtslos, als er beschließt, „de se procurer la totalite´ des manuels dont se servaient ses e´le`ves“.40 Im Kindler41 ist die Rede von der „Totalita¨t der Lebensa¨ußerungen innerhalb eines bestimmten Realita¨tsausschnittes“. Zugleich merkt der Kritiker skeptisch an, Butor selbst glaube der „qua¨lenden Wiederkehr des Immergleichen“ „nur durch eine totale Inventarisierung aller als ‚Fakten‘ erreichbaren Pha¨nomene beikommen zu ko¨nnen.“42 Im Verb „beikommen“ scheint die tiefe Ironie oder besser noch: Melancholie Butors Ende der 1950er Jahre nicht recht eingefangen zu sein; denken wir daran, dass Sisyphos der existentialistische Held schlechthin gewesen war. Aus der Tradition des Nouveau Roman leitet sich unmittelbar eine oulipistische Variante ab, die man etwa in den seitenlangen Keller-Inventaren von Georges Perecs La vie mode d’emploi findet, aber auch in der Tentative d’e´puisement d’un lieu parisien (dt. Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen) desselben Autors. Perecs an concept art erinnernde Aktion bestand darin, sich an drei Tagen des Oktober 1974 an der Place St. Sulpice niederzulassen, alles aufzuschreiben, was er sah, und zwar ausdru¨cklich komplementa¨r zu dem ohnehin vorhandenen Archiv : Un grand nombre, sinon la plupart, de ces choses ont e´te´ de´crites, inventorie´es, photographie´es, raconte´es ou recense´es. Mon propos dans les pages qui suivent a plutoˆt e´te´ de de´crire le reste: ce que l’on ne note ge´ne´ralement pas, ce qui ne se remarque pas, ce qui n’a pas d’importance: ce qui se passe quand il ne se passe rien, sinon du temps, des gens, des voitures et des nuages.43
Gerade die Oulipisten realisierten den von Roland Barthes so genannten „effet de re´el“ qua Detailfu¨lle. Die Idee ist, dass die nicht arrangierte, nicht immer interessante Masse an Details via totale Abbildung den Eindruck eines totalen Realismus erzeugt.44 Tentative d‘e´puisement d’un lieu Parisien ist der Originaltitel dieses Beschreibungstexts, der zu einem parodistisch erfundenen Stil geho¨ren ko¨nnte, dem Deskriptionismus, welchen niemand anderer als Borges45 38 39 40 41 42 43 44 45
Ebd., S. 56. Ebd., S. 118 f. Ebd., S. 325. Henschen 1989, S. 429. Ebd., S. 430. Perec 2000, S. 12. Barthes 1994, S. 479 – 484. Borges / Bioy Casares 1994, S. 22 – 28. Vermutlich beginnen nicht wenige Autoren mit
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1936 seinem fiktiven Autor Ramo´n Bonavena zuschrieb, angeblich Verfasser des am Ende sechsba¨ndigen Werkes Nor-noroeste, der mit durchschnittlichen Werkpla¨nen begonnen hat, sich jedoch aus Zweifel am realistischen und psychologischen Erza¨hlen darauf beschra¨nkt, die nordnordwestliche Ecke seines Schreibtischs auf 211 Seiten minutio¨s zu beschreiben (seinem Bleistift etwa widmet er 29 Seiten). Die totale Ekphrasis ist also als makro- und als mikroskopischer Blick vorstellbar, indes herrscht hier ein Maßstab-Problem, denn: Kann man bei sehr kleinen, wenn auch ganzen Dingen von Totalita¨t sprechen? Einen vo¨llig anderen Ansatz, weitaus weniger versta¨ndlich, bot Heimito von Doderer mit seinem Privatterminus vom „totalen Roman“. Doderer war spa¨testens seit den 1930er Jahren sensibel fu¨r die Varianten der Totalita¨t, denen er das gefa¨hrliche Suchtpotential einer Ideologie oder, wie er es ausdru¨ckte, einer „zweiten Wirklichkeit“ beimaß. In einem großen Essay reflektierte er u¨ber „Sexualita¨t und totaler Staat“.46 Der Untertitel seines spa¨ten Romans Die Merowinger lautet Die totale Familie, denn er handelt von einem Mann, der durch diverse Heiraten sein eigener Sohn, Enkel, Vater, Großvater, Neffe, Onkel, Schwiegersohn usw. wird.47 Und schon in Doderers Kurzroman Die erleuchteten Fenster wird der pensionierte Amtsrat Julius Zihal durch den Umzug in eine optisch gu¨nstige Wohnung zum Voyeur ; er spu¨rt „ein Gewimmel und Gekribbel [sic] das ihn hetzte – und zwar immer tiefer in das Streben nach absoluter Vollsta¨ndigkeit hinein: nichts durfte ihm entgehen. Es war ein Streben nach Totalita¨t.“48 Der totale Voyeur, der Fetischist mit totalem System auch,49 das erinnert am ehesten an die protokollarische Geste des Deskriptionismus. Doch was genau soll der „totale Roman“ sein? Doderer nimmt seine Idee von Friedrich Spielhagen her, und er misst den „totalen Roman“ offenbar an anderen Formen der Geschlossenheit, wobei er einerseits zu einem solchen Roman tendiert, sich andererseits aber absichert, dass es ihn nicht geben ko¨nne, ja, in seiner Rede Grundlagen und Funktion des Romans relativiert Doderer den Begriff sogleich wieder : „Jede Roman-Composition bewegt sich an der Grenze des Compositionslosen, also des ‚totalen‘ Romans, wenn man will, der freilich so wenig totalistisch ist, wie die Hellenen hellenistisch waren oder die Rationalisten rationell.“50 Henner Lo¨ffler hat denn auch wie mancher andere darauf verwiesen, dass
46 47 48 49 50
¨ bungen; Heimito von Doderer begann zu schreiben, indem er eines „deskriptionistischen“ U Tages „ganz genau“ beschrieb: „Zimmer, Sessel, Tisch, Beleuchtung, Geruch, das einfallende Licht, meine Gefu¨hle, vom Zustand meiner Leibesho¨hle bis zu meinen Assoziationen“, in: Der Spiegel v. 05. 06. 1957. Zit. nach: Weber 1987, S. 13. Doderer 1996, S. 273 – 298. Doderer 1977. Doderer 1978, S. 52 f. Vgl. die systematische Jagd nach „dicken Damen“, in: Doderer 1979. Doderer 1959, bes. S. 49 f. Vgl. Doderer 1996, S. 174.
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Doderers Begriff „nie klar wird“.51 Mit anderen Worten: Wenn alles in einen Roman geho¨rt, kann eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, aber auch zwischen Fiktion und Realita¨t, Kunst und „Leben“ nicht mehr statthaben. Ein totaler Roman wu¨rde sich selbst aufheben, insofern er sein Roman-sein ad absurdum fu¨hrte. Gleichwohl ist die Idee vorhanden, genau wie die Idee der Universalita¨t (was nicht mit Totalita¨t verwechselt werden sollte), die die Fru¨hromantiker ja ebenfalls am Roman erprobten, und immerhin verra¨t Doderers Idee indirekt etwas von sich. „Der totale Roman“, so fa¨hrt der Romancier fort, „sollte die Welt sehen mit einem fast schon verglasten Auge, welches alsbald nach oben brechen und in das sich dann nur mehr der leere Himmel schlagen wird. Jedoch dieser Augenblick des Abschieds, wo man noch ganz da ist, aber durchaus nichts mehr will, mu¨ßte wohl auch einzigartig sehend machen.“52 Diese beinahe an den fru¨hromantischen Fragmentenstil oder Kleist gemahnende Bildsprache hat nicht nur den Doderer-Philologen einige Ra¨tsel aufgegeben. Hier freilich ist die Metaphorik nachvollziehbar ; Doderer verschwistert Totalita¨t und Tod – der Roman wird total, wenn er, der Roman, den Blick eines Beinahe-schon-Toten einnimmt, bereits vo¨llig willenlos. Vielleicht ist es nicht ganz falsch, wenngleich dem Autor mo¨glicherweise nicht bewusst, dass er hier eine weitere mediale Vorstellung bemu¨ht, na¨mlich die des Roman-Blicks als Kamera-Blick, zu dessen Eigenheiten im von Bernd Stiegler rekonstruierten Diskurs der Fotografie u. a. geho¨rt, dass er wie ein vo¨llig interesseloses Objektiv die letzten Sinneseindru¨cke eines Toten auf dessen Netzhaut, will sagen: auf den Film gebannt hat, ein „Optogramm“.53 Totalita¨t als reine Objektivita¨t aus reiner Absichtslosigkeit. 4. Dass Totalita¨t nur einem toten Auge sichtbar sei, klingt wie die endgu¨ltige Absage an das Ganze, und das Bild des Optogramms erlaubt sogar die melancholische Spitzfindigkeit, dass ein Simulacrum dieses Ganzen eben indirekt an dem gebrochenen Auge ablesbar, ja sogar in ihm gespeichert bleibe. Wie auch immer – es scheint die Beobachtung wert, dass, so wie die Metaphysik-Skepsis heute einer scheuen neuen Liebe zu den Universalien Raum gibt,54 auch die Totalita¨t mindestens am Horizont wieder sichtbar wird. Die anhaltende BorgesRezeption ist keine Begru¨ndung, aber ein Symptom dafu¨r. Die Frage, was genau mit Totalita¨t unternommen werden ko¨nne, ist deshalb von ihrer denkerischen Unmo¨glichkeit insofern abzukoppeln, als es immerhin technisch-konzeptionelle, mathematische Wege zur Totalita¨t gibt und als u¨berhaupt ein Denken in
51 52 53 54
Lo¨ffler 2000, S. 357. Doderer 1996, S. 174 Vgl. Stiegler 2006, S. 159 – 161. Vgl. Stiegler 2011. Vgl. Ho¨lter 2011, S. XI – XXVI.
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Richtung Totalita¨t als Gegenteil eines apriorischen Kapitulierens in seiner plo¨tzlich wieder moralischen Erhabenheit erst erfasst werden muss. Totalita¨t ist zuna¨chst einmal als Masse wahrnehmbar. Der la¨ngste Text na¨hert sich dem totalen Text, dies vor allem veranschaulichen die zahllosen BibliotheksTexte der letzten Jahrzehnte. In einem hypothetischen gigantischen BibliotheksEpos ka¨men beide Kategorien zur Identita¨t. Denn Quantita¨t, bisher das Stiefkind der geisteswissenschaftlichen Kategorien – ist das wichtigste Simulans der Totalita¨t; eine unu¨bersehbare Menge von Elementen suggeriert: alle Elemente. Umberto Eco hat in seinem Buch La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea55 diverse fru¨hneuzeitliche (Lull, Bruno, Harsdo¨rffer, Clavius, Guldin, Mersenne) Entwu¨rfe von Kombinatorik rekapituliert, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie durch die mathematisch berechenbare, gemessen am menschlichen Leben aber unendlich große Zahl generierbarer Zeichen zu dem fu¨hrt, was dann Kurd Laßwitz als „Universalbibliothek“ und nach dessen Vorbild Borges ausphantasierten. Eco erla¨utert eine Reihe beeindruckender Beispiele, an ihrer Spitze sicher die Berechnung des Grazer Mathematikers Paul Guldin von 1622, der die Zahl aller aus 23 Buchstaben erzeugbaren Kombinationen, d. h. Wo¨rter zwischen zwei und 23 Buchstaben, egal, ob sinnvoll oder aussprechbar oder nicht, berechnet und zu dem Resultat kommt, dass man fu¨r sie 257 mal 1015 Bu¨cher beno¨tigte oder 8 Milliarden Bibliotheken fu¨r je 32 Millionen Ba¨nde, eng gedruckt und a` 1000 Seiten. Die Erde wu¨rde diese Bibliotheken nicht fassen.56 Wer denkt dabei nicht an Borges’ beru¨hmte Erza¨hlung La biblioteca de Babel? Diese aber trug in der Erstfassung den bezeichnenderen Titel La biblioteca total (1939). Ihr wa¨re, wollte man vereinfachend paraphrasieren, mit seiner Erza¨hlung vom libro de arena, vom Sandbuch,57 das ‚libro total‘ an die Seite zu stellen. Die totale Bibliothek, d. h. das vollsta¨ndige Archiv, ist ja nur eine der heute ga¨ngigen Denkfiguren von Totalita¨t. Totalita¨t kann gerade heute auch wieder die Vollsta¨ndigkeit eines Wo¨rterbuchs sein, das einen Diskurs oder eine Disziplin erscho¨pft, von A bis Z oder enzyklopa¨disch. Dem entspricht das aktuelle Subgenre des Lexikonromans (Milorad Pavic´, Andreas Okopenko) oder eben das der Stadtplanliteratur,58 wie sie vor einiger Zeit skizziert werden konnte; Beispiele fu¨r gewollt totalisierende Sichtweisen, so wie das Alphabet selbst59 oder der Plan selbst eine totalisierende Episteme verko¨rpert.60 Das Interesse an der Totalita¨t ist doppelt zuru¨ckgekehrt: in Gestalt der Be55 56 57 58 59 60
Eco 1994, S. 148 – 152. Ebd., S. 149 f. Borges 1989, S. 68 – 71. Vgl. Ho¨lter 2013. Kilcher 2003. Stockhammer 2007. Vgl. Ho¨lter / Pantenburg / Stemmler 2009.
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schreibungs-, Lexikon- oder Stadtplantexte, und in Gestalt der Literaturwissenschaft, die sich so damit befasst, dass schon wieder ein Muster erkennbar wird. Der Totalita¨tsdiskurs ist ein und derselbe. Hier sei die Prophezeiung gewagt, dass auch das Lehrgedicht, das in seinem begrenzten Volumen das Ganze eines Wissensgebiets ausschreitet, in modifizierter Form wiederkehren wird (als Ansatz denke man an Sebalds Nach der Natur)61. Dazukommt, dass die Digitalita¨t neue Mo¨glichkeiten ero¨ffnet hat, Totalita¨t zu konzipieren. 3D-Visualita¨t, die inzwischen mehrere Generationen durchlaufen hat, will der zweidimensionalen Projektion von Allem die Unvollkommenheit nehmen. Das Holodeck an Bord der Enterprise oder auf dem 13th floor soll ein komplettes Eintauchen in eine ku¨nstliche andere Wirklichkeit ermo¨glichen. Und second life, um das es still geworden ist, zeigte, wie eine im Prinzip vollsta¨ndige und unbegrenzte, wenngleich optisch noch stilisierte Simulation des ganzen Lebens mit allen seinen Aspekten, den Teilwelten Aussehen, Beruf, Wirtschaft, Sport, Hobby, Sex usw. ziemlich rasch langweilig werden kann. Reizvoll ist all dies nur, wenn die Grenze der Mo¨glichkeiten getestet wird. Das heißt, der a¨sthetische Stimulus entspringt nicht so sehr oder gar nicht der Totalita¨t als vielmehr ihrem programmierten Scheitern. Inzwischen gibt es mit Joel Surnows und Robert Cochrans Serie 24 (2001 – 2010), dem Echtzeit-Projekt 24 h Berlin, das den 5. 9. 2008 erfassen sollte und Ridley Scotts youtube-Unternehmen Life in a day, das sich den 24. 7. 2010 vornahm, verschiedene Spielarten der „totalen“ Erfassung im Maßstab eines Tages; andere sind das Kombinieren einer Handlung aus vielen verschiedenen Blickwinkeln, das schon bei Kurosawas Rashomon begann. Zu guter Letzt wird Totalita¨t aber auch heute noch buchtechnisch demonstriert. Ein dickes Buch, in Bibelanmutung oder Du¨nndruck, demonstriert genauso, dass es „die ganze Welt“ entha¨lt, wie etwa ein besonders harmonisch gestaltetes, breitrandiges, zweispaltiges o. a¨. Dafu¨r wird wohl als Leitmodell immer wieder eines der heiligen Bu¨cher der Menschheit zum Vorschein kommen, nach denen solche „Weltbu¨cher“ sich richten. Erinnern wir an Oswald Eggers Buchmonument unter dem Titel Die ganze Zeit (2010)62 oder an die ironisch-lockende Vorstellung der Komplettheit in Diethmar Daths 2009 vero¨ffentlichtem Roman Sa¨mmtliche [sic] Gedichte.63 Verschiedene Ku¨nste streben also mindestens gelegentlich an, in ihrem existentiellen Modus und nach spezifischen Konzepten die Welt ganz darzustellen. Totalita¨t ist deshalb eine der Kunst oft, und sei es im bewussten Verzicht, implizite Kategorie. Sie wird von Interesse, wo sie die Gattungswahl, rhetorische Werkzeuge oder die Themenfiguration eines Texts beherrscht. Und sie ist insbesondere heute relevant, weil der 61 Sebald 2008. 62 Egger 2010. 63 Dath 2009.
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Paradigmenwechsel von der Mimesis, aus der die Totalita¨tsidee bereits abgeleitet werden konnte, hin zu Techniken der Simulation ganz neue Totalita¨tsversprechungen bereitha¨lt, natu¨rlich immer im simulativen und approximativen Modus. Um nicht einseitig verstanden zu werden, soll dieser Text fragmentarisch schließen mit dem weltliterarischen Pendant zu Prousts Polysyndeton, jenen beru¨hmten Leopardi-Versen, die genauso die Plo¨tzlichkeit feiern, mit der das Ich von einem Allempfinden, vielleicht sogar vollsta¨ndiger Erinnerung u¨berrascht wird, des ganzen Lebens, eines Ganzen, in dem das Ich wie in einem erhabenen Meer ertrinkt, und das als Ganzes gerade durch die simple Reihung seiner Summanden („e… e“) unbestreitbar bewiesen wird, nur dass Leopardi nicht von Totalita¨t spricht, sondern bekanntlich von Unendlichkeit und Unermesslichkeit: „e mi sovvien l’eterno, / e le morte stagioni, e la presente / e viva, e il suon di lei. Cosı´ tra questa immensita` s’annega il pensior mio: / e il naufragar m’e` dolce in questo mare.“64
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Kirsten Kramer
Globalita¨t und Weltbezug in der franzo¨sischen Kulturanthropologie und der spanischen Erza¨hlliteratur der Gegenwart
1.
Einleitung: Globalita¨t und Weltbezug
Die literarische Produktion der europa¨ischen Gegenwartskulturen la¨sst auch im Bereich des romanischen Kulturraums seit einigen Jahren ein gezieltes Ausgreifen in globale Dimensionen erkennen und zeichnet sich durch eine versta¨rkte ‚Welthaltigkeit‘ aus, welche an der Darstellung weltumspannender Topographien zutage tritt, die die Erde in ihren ra¨umlichen Extensionen als geographische und kulturelle Ganzheit zu erfassen suchen. Die Frage nach den Mo¨glichkeitsbedingungen des neuartigen Weltbezugs der Literatur legt es zuna¨chst nahe, die daraus entstehenden Erza¨hlformen auf jene systematischen Bestimmungen des ‚Globalen‘, der ‚Globalita¨t‘ oder der ‚Globalisierung‘ zu beziehen, die die aktuellen wissenschaftlichen und (geo-)politischen Kontroversen beherrschen. Diesen Kontroversen liegen ho¨chst unterschiedliche Leitvorstellungen und -bilder des Globalen zugrunde: In der Alltagsrede – aber auch in zahlreichen Wissensdiskursen – herrscht vielfach ein o¨konomisches Versta¨ndnis globaler Interaktionsprozesse und Verflechtungen vor; der Begriff bezeichnet hier – oft in kritischer Perspektive – vor allem die weltumspannende Vernetzung der Finanz- und Absatzma¨rkte, deren zunehmend unu¨berschaubare Verflechtung im Zeichen der Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems der westlichen Welt steht.1 Betrachtet man Pha¨nomene der Globalita¨t oder Globalisierung2 1 Vgl. zu alltagssprachlichen und kritischen Deutungen, die sich vielfach auf einen o¨konomisch fundierten Globalisierungsbegriff beziehen, paradigmatisch Reichardt 2010, S. 11 f.; zu den wirtschaftshistorischen und sozialo¨konomischen Implikationen, die der Herausbildung des Globalisierungsbegriffs zugrunde liegen, vgl. ebenfalls Osterhammel / Petersson 2007, S. 7 – 15. Das o¨konomische Paradigma globaler Verflechtungen bildet auch den Ausgangspunkt der kulturwissenschaftlich bzw. kulturtheoretisch fundierten Globalisierungskritik, die – in jeweils unterschiedlicher Zielrichtung – von Gayatri Spivak und Jean-Luc Nancy formuliert wird; vgl. Spivak 2003, S. 71 – 102, sowie Nancy 2002, S. 9 – 64. 2 Zur terminologischen Differenzierung der Begriffe der Globalisierung und der Globalita¨t,
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hingegen prima¨r aus einer kultur- oder literaturwissenschaftlichen Perspektive, stellt sich ein grundlegend anderes Bild dar. Globalisierungsprozesse sind zuna¨chst nicht allein auf die modernen Gegenwartskulturen zu beschra¨nken; die globale Erschließung und Aneignung der terrestrischen Welt beginnt keineswegs erst im 20. oder 21. Jahrhundert, sondern hat ihren Ursprung spa¨testens in der Fru¨hen Neuzeit und ist seit dem Beginn der Moderne auf das Engste mit der Zirkulation von Menschen, Objekten und Zeichen im geophysischen oder territorialen Raum verbunden.3 Angesprochen ist damit vor allem die fru¨hneuzeitliche Expansionsdynamik, zu der die Entdeckung der ‚Neuen Welt‘ durch die europa¨ischen Kolonisatoren, aber auch die Erschließung neuer Sichtbarkeiten im Zuge der ‚Kopernikanischen Revolution‘ geho¨ren.4 Die Epoche markiert folglich den Beginn einer geora¨umlich fundierten Globalisierung, die allererst jene umfassenden sozialen, kulturellen und politischen Austauschbewegungen in Gang setzt, die noch bis heute andauern – und in den vergangenen Jahren bekanntlich zahlreiche Debatten u¨ber Nutzen und Grenzen globaler Vernetzungen auf den Plan gerufen haben. Diese Debatten geben in toto zu erkennen, dass sich ‚Welt‘ unter den Bedingungen der Globalita¨t ausgehend von zwei grundlegenden geopolitischen Ordnungssemantiken beschreiben la¨sst:5 Zum einen dominiert bereits seit einigen Jahrzehnten die Vorstellung einer homogenen Weltgesellschaft, einer von ¨ konomie u¨bergreifender Informations- und Finanzstro¨me gepra¨gten der O ‚Netzwerkgesellschaft‘ (in der Terminologie Manuel Castells’) bzw. eines global village (in der Diktion Marshall McLuhans), das soziale und kulturelle Differenzen negiert und ein weitgehend als macht- und differenzfrei gedachtes konsensuelles Gesellschaftsgefu¨ge darstellt, das im Zeichen der Deterritorialisierung,6 der Suspendierung fester physischer und sozialer Raumzuordnungen
3
4 5
6
deren Grenzen in den aktuellen Debatten zu globalen Vernetzungsprozessen freilich nicht immer trennscharf verlaufen, vgl. Beck 1997, S. 26 – 29. Die Annahme, dass Globalisierungsprozesse nicht erst die Gegenwart pra¨gen, sondern sich in unterschiedlichen, zeitlich variierenden historischen Schu¨ben ausdifferenzieren, geho¨rt zu den Gemeinpla¨tzen aktueller kulturwissenschaftlich oder –geschichtlich ausgerichteter Globalisierungstheorien; vgl. exemplarisch die monumentale Darstellung von Peter Sloterdijk ¨ berlegungen in Schu¨ttpelz 2009; vgl. hierzu auch Teil 2 1998 – 2003 sowie die systematischen U des vorliegenden Beitrags. Zu den Entstehungsbedingungen der ‚Wissenschaftlichen‘ oder ‚Kopernikanischen Revolution‘, die um 1600 ein spezifisch neuzeitliches Wissenschaftsversta¨ndnis generiert, vgl. paradigmatisch Lindberg / Westman 1990. Die hier und im Folgenden getroffene Unterscheidung geopolitischer Beschreibungssemantiken, die sich auf das Bedingungsgefu¨ge der globalen ‚Welt‘ und die ihr zugrunde liegenden Raumordnungen beziehen, wird in systematischer Form von Niels Werber entwickelt; vgl. Werber 2007. Vgl. zur geophilosophischen Fundierung der Begriffe der De- und Reterritorialisierung in ihren raumtheoretischen Implikationen Deleuze 2005, S. 82 – 108.
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steht. Dieser Beschreibungssemantik steht die alternative Vorstellung der globalisierten Welt als einer Raumordnung entgegen, die im Gegenteil durch mannigfaltige soziale Einschluss- und Ausschlussmechanismen gekennzeichnet ist und hegemoniale Machtverha¨ltnisse herstellt, welche sie durch materielle Grenzziehungen territorialer Art zu bekra¨ftigen sucht. In dieser Perspektive erscheint die gegenwa¨rtige Weltordnung als ein reterritorialisierter Raum sozialer Interaktionsformen, deren globales Funktionieren notwendig auf der ra¨umlichen Unterscheidung und Wechselwirkung proliferierender lokaler Zentren und ihrer jeweiligen Peripherien beruht.7 Gerade mit Blick auf den Zusammenhang, der zwischen der Literatur und ihrem spezifischen ‚Weltbezug‘ einerseits und kulturellen Pha¨nomenen der Globalita¨t oder Globalisierung andererseits besteht, erscheinen beide geopolitischen Deutungsmodelle jedoch als erga¨nzungsbedu¨rftig: So gilt es hinsichtlich der a¨sthetischen Praktiken der Weltdarstellung zuna¨chst die Operationsweise wissenschaftlicher und technischer Netzwerke zu beru¨cksichtigen, deren Funktion keineswegs auf die raumu¨berwindende Aufhebung grundlegender sozialer, politischer oder ethnischer Differenzen zu reduzieren ist,8 sondern im Gegenteil stets zugleich neuartige Formen der Erfahrung der globalen Welt in der Vielfalt ihrer lokalen und kulturellen Singularita¨ten ermo¨glicht.9 Zudem sind die durch die modernen Verkehrs- und Kommunikationstechniken hervorgebrachten Organisationsformen des kulturellen (Welt-)Wissens in den Blick zu nehmen: Dieses gewinnt vielfach eine ‚planetarische‘ Dimension, insofern es auf Formen einer perzeptiven Weltwahrnehmung zuru¨ckgeht, die auf die Erfassung der Welt, der Erde bzw. des Globus als einer Ganzheit abzielen und im gegenwa¨rtigen Zeitalter der beschleunigten Mobilisierung von Waren, Personen und Informationen grundlegenden Funktionsvera¨nderungen unterliegen, welche vor allem die divergierenden Techniken des „Sich-ein-Bild-von-der-Welt-Machens“ sowie den perspektivischen Standort betreffen, den das Subjekt in seiner Funktion als Weltbeobachter einnimmt.10 7 Die Interaktion multipler lokaler Zentren und ihrer Peripherien wird auch von Bruno Latour als grundlegendes Distinktionsmerkmal von ‚Welt‘ unter den Bedingungen globaler Netzwerkbildung bestimmt; vgl. Latour 2009; zur darin implizierten Vorstellung des konstitutiven Zusammenspiels des Globalen und des Lokalen in der globalisierten Welt vgl. Robertson 1992. 8 Die Vorstellung der raumaufhebenden Funktion gegenwa¨rtiger Verkehrs- und Kommunikationstechniken steht in engem Zusammenhang mit utopischen Visionen des Cyberspace ¨ berwindung der Verortung und Adressierung als eines virtuellen Raums, der auf der U materieller Ko¨rper beruht; vgl. dazu Werber 2007, S. 28 – 32. 9 Zur welterschließenden Funktion moderner Verkehrs- und Kommunikationstechniken und ihrer narrativen Verarbeitung am Beispiel von Jules Verne vgl. paradigmatisch Du¨nne / Kramer 2013. ¨ bersicht u¨ber variierende Konzeptualisierungen und Erscheinungsformen 10 Eine pra¨gnante U
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Differenziertere Deutungsansa¨tze, die in der Bestimmung des Globalen dem Bedingungsgefu¨ge von Kultur, Technik, Wissen und Wahrnehmung Rechnung tragen, zeichnen sich innerhalb des romanischen Kulturraums zum einen im Rahmen kulturanthropologisch und wissenssoziologisch fundierter Beschreibungsmodelle ab, die in den vergangenen Jahren insbesondere im Umfeld der Akteur-Netzwerk-Theorie entwickelt wurden, und treten zum anderen innerhalb der Literatur(en) der Gegenwart auf, die sich durch einen gesteigerten ‚Weltbezug‘ auszeichnen. Sowohl in den theoretischen Ansa¨tzen als auch in den literarischen Formen findet eine umfassende Reflexion auf die Entstehungsbedingungen der globalen Welt statt, deren Operationsformen im Zeichen einer Reterritorialisierung von Handlungszusammenha¨ngen stehen und darin zugleich in grundlegender Weise das (kultur-)anthropologische Verha¨ltnis sichtbar machen, das der Mensch zu den Pha¨nomenen der Natur und seiner physischen oder technischen Umwelt unterha¨lt. ¨ berlegungen haben daher das Ziel, einige zentrale Pra¨missen Die folgenden U dieser Reflexion auf die Emergenz der globalen Welt anhand zweier exemplarischer Lektu¨ren zu verfolgen: Zum einen sollen ausgehend von der von dem franzo¨sischen Philosophen, Soziologen, Wissenschafts- und Kulturtheoretiker Michel Serres verfassten, 1990 erschienen Schrift Le contrat naturel und im Ru¨ckbezug auf die dort getroffene begriffliche Unterscheidung der ‚mundanen‘ und der ‚mundialen‘ Welt knapp einige Bestimmungsmerkmale jenes Weltbegriffs rekonstruiert werden, der in der gegenwa¨rtigen franzo¨sischen Kulturanthropologie entwickelt wurde. Zum anderen wird der Roman Tokio ya no nos quiere (1999) des hierzulande wenig bekannten spanischen Autors Ray Loriga untersucht, der zahlreiche Romane sowie Drehbu¨cher verfasst hat; er geho¨rt der sogenannten Generacio´n X, einer Gruppe junger Autoren an, die noch der ersten ¨ ra postfrankistischer Literatur zugerechnet werden,11 und stellt in seinem A Roman eine Verbindung von Genrekonventionen der Reiseerza¨hlung einerseits und Elementen des Road Movie, des Science Fiction-Romans und der phantastischen Literatur andererseits her. Na¨herhin ist dabei zu zeigen, dass sich sowohl die theoretischen als auch die literarischen Entwu¨rfe von ‚Welt‘ mit den kulturanthropologischen Bedingungen gegenwa¨rtiger Globalisierungsprozesse auseinandersetzen, deren spezifische Konturen im Rahmen der theoretischen Beschreibungsansa¨tze vor allem im Kontext reflexiver Bestimmungen des Verha¨ltnisses von Mensch, Welt, Wissen und Technik zutage treten und im narrativen Text Lorigas zudem auf ihre spezifisch geora¨umlichen Implikationen gedes ‚Planetarischen‘ bietet Bergermann 2010; zum Begriff der Techniken des „Sich-ein-Bildvon-der-Welt-Machens“ vgl. Bergermann / Otto / Schabacher 2010, S. 8. 11 Zu Entstehung, programmatischen Zielen und narrativen Darstellungstechniken der Autorengruppe der Generacio´n X vgl. exemplarisch Colmeiro 2005, S. 228 – 246; Henseler / Pope 2007, xi–xxiii; Navajas 2002, bes. S. 91 – 111 sowie ders. 2007.
Globalita¨t und Weltbezug
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o¨ffnet werden, an denen sich exemplarisch der besondere Weltbezug der Gegenwartsliteratur dokumentiert.
2.
Globalita¨t, Natur und Welt in der franzo¨sischen Kulturanthropologie
Innerhalb der aktuellen franzo¨sischen Theorieansa¨tze kommt der kulturanthropologisch fundierten Beschreibung globalen Wandels, die von Michel Serres in seiner Abhandlung Le contrat naturel formuliert wird, eine paradigmatische ¨ berlegungen Bedeutung zu. Den Ausgangspunkt seiner kulturtheoretischen U bildet die Bestimmung globalisierter Formen des menschlichen Weltbezugs, die sich aus der Ausbreitung des Menschen u¨ber den gesamten Globus herleiten und bedingen, dass es keinerlei Zufluchtsort oder Ru¨ckzugsbereich gibt, in denen sich ein Außen konstituieren ko¨nnte, das dem Innenbereich des menschlichen Habitat entgegenzusetzen wa¨re.12 Der Grundbefund lautet: Moderne Globalisierung schafft ein neues Verha¨ltnis von Mensch, Welt und physischer oder technischer Umgebung. Der von Serres entwickelte Begriff von Welt beruht dabei auf einer Revision der traditionellen Zuordnung von Kultur und Natur, im Kontext derer letztere vor allem als das geophysikalische System des Erdplaneten, die Welt der unbelebten Dinge und physischen Objekte begriffen wird, die den Gegenstand der ¨ kologie bilden.13 Wissensdisziplinen der Mechanik, Thermodynamik und O Dieser Naturbegriff weist signifikante Parallelen zu jenem Begriff von Welt und Kosmos auf, den in der gegenwa¨rtigen Kulturtheorie auch die Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie postulieren, zu denen besonders der franzo¨sische Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour zu za¨hlen ist. Bei Latour impliziert die Vorstellung der Welt unter den Bedingungen der Globalisierung vor allem eine Ausweitung des traditionellen Kosmosbegriffs: Wie er in kritischer Auseinandersetzung mit Ulrich Becks Version eines ‚humanistisch‘ begru¨ndeten Kosmopolitismus und im affirmativen Rekurs auf Isabelle Stengers wissenschaftspragmatisch fundierten Begriff der cosmopolitiques darlegt,14 umfasst der Kosmos nicht lediglich den ‚mononaturalistischen‘ Handlungsraum humaner Akteure, sondern begreift vielfa¨ltige Kollektive menschlicher und nicht-menschlicher Entita¨ten ein, zu denen gleichermaßen unbelebte Dinge, tierische Wesen, physische Systeme, technische Artefakte und transzendente 12 Vgl. Serres 1992, S. 72 f. 13 Vgl. ebd., S. 11 – 84. 14 Zur wissenschaftshistorischen und -pragmatischen Fundierung des Konzepts der cosmopolitiques, auf den sich Latours Kosmosbegriff maßgeblich bezieht, vgl. Stengers 2003.
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Instanzen wie religio¨se Gottheiten za¨hlen.15 Zudem ist das Wissen von Welt auch in Neuzeit und Gegenwart nicht auf das Paradigma der modernen Naturwissenschaften reduzierbar, sondern begreift zugleich religio¨se und animistische Erfahrungsmodelle ein, die gewo¨hnlich der Vormoderne zugerechnet werden, bei Latour jedoch den Status gleichberechtigter experimenteller Heuristiken im Kontext der Erschließung und konstruktiven Erzeugung von Welt erlangen.16 Gerade die Ausweitung des Kosmos und die damit verbundene Erweiterung der Heuristiken des Wissens lassen erkennen, dass die von Serres und Latour entwickelten Konzepte von Welt unter den Bedingungen globalen Wandels keineswegs ex nihilo entstehen, sondern im Gegenteil komplexe genealogische Bezu¨ge zu tradierten Naturbegriffen und Kosmosmodellen aufweisen, die fru¨heren Zivilisationsstufen und Globalisierungsphasen angeho¨ren. Deren kulturgeschichtliche Abfolge ist in wohl umfassendster Form von Peter Sloterdijk in der mehrba¨ndigen Schrift Spha¨ren beschrieben worden,17 in der die Antike als erste Phase der Globalisierung erscheint, die durch die Vorstellung des ‚metaphysischen‘ Globus, des ‚Kosmos‘ als einer allumfassenden Seinsordnung, einer geordneten Ganzheit bestimmt ist. Die zweite Phase bezeichnet hingegen die bereits erwa¨hnte geophysische oder ‚terrestrische Globalisierung‘, im Rahmen derer die Erde weniger als kosmologische Sinneinheit denn als eine geora¨umliche Konfiguration begriffen wird, die den Erscheinungsort der imperial-kolonialen Wissens- und Expansionsdynamik bildet, welche von Europa in die Neue Welt fu¨hrt und in der Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts unter den Bedingungen des ‚Weltverkehrs‘ fortlebt,18 der im Zeichen einer verkehrs- und informationstechnischen Netzwerkbildung steht, die mit der Einrichtung der Transport- und Kommunikationstechniken der Eisenbahn, der Dampfschifffahrt und der Telegraphie eine im Prinzip lu¨ckenlose, den ganzen Globus umfassende Konnektivita¨t und Anschlusslogik erschließt. Wenngleich Latours Kosmosbegriff aufgrund der Annahme der Offenheit und der Multiplizita¨t der die Welt konstituierenden Entita¨ten innerhalb von Sloterdijks geschichtlichem Entwurf eher dem entra¨umlichten und jeder Abgeschlossenheit entbehrenden Weltbegriff der gegenwa¨rtig vorherrschenden
15 Vgl. zur Begru¨ndung des Kosmosbegriffs und zur Kritik an ‚mononaturalistischen‘ Handlungs- und Wissenspraktiken paradigmatisch Latour 2004; eine systematische Beschreibung der kulturhistorischen Entstehung und Wechselwirkung von soziotechnischen Kollektiven menschlicher und nicht-menschlicher Akteure bietet Latour 1999. 16 Vgl. Latour 2004. 17 Vgl. hierzu und zum Folgenden Sloterdijk 1998 – 2003, die Zusammenfassung in Sloterdijk 2005 sowie die pra¨gnante Synopse in Morin 2009. 18 Die Entstehungsbedingungen, Auspra¨gungsformen sowie zentralen verkehrs- und kommunikationstechnischen Implikationen des ‚Weltverkehrs‘ des 19. und 20. Jahrhunderts werden systematisch von Markus Krajewski beschrieben; vgl. Krajewski 2006.
Globalita¨t und Weltbezug
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dritten Phase der elektronischen Globalisierung entspricht,19 greifen seine ¨ berlegungen zugleich zentrale Leitvorstellungen und Wiskosmopolitischen U sensformen auf, die maßgeblich der ersten und zweiten Globalisierungsphase entstammen. Die kulturanthropologischen Weltbeschreibungen geben damit zu erkennen, dass sich die von Sloterdijk unterschiedenen Welt- und Globalisierungsmodelle nicht in einer strikt linearen historischen Sukzession situieren, sondern im Gegenteil durch vielfa¨ltige Verschra¨nkungen, Interferenzen oder ‚Kohabitationen‘ gekennzeichnet sind. In systematischer Form sind diese ‚Kohabitationen‘ in den vergangenen Jahren von dem franzo¨sischen Ethnologen Philippe Descola beschrieben worden, der die Entstehung einer spezifischen ‚Kosmologie der Moderne‘ in der Neuzeit skizziert.20 Diese ist vor allem durch die Emergenz des Wissenssystems des ‚Naturalismus‘ gepra¨gt, der mit der Privilegierung des Kontinuums der a¨ußeren Physis gegenu¨ber der Diskontinuita¨t innerer, geistiger Seinsformen und der darin angelegten radikalen Trennung des Menschen von allen anderen Seinsbereichen der Welt das Paradigma der modernen Naturwissenschaften bildet;21 zugleich kennzeichnet sich die Neuzeit jedoch durch die konstitutive Kopra¨senz von Erfahrungsmustern, die den gewo¨hnlich als gegenla¨ufig angesehenen Wissenssystemen des Analogismus, des Animismus und des Totemismus zugerechnet werden22 und die gemeinsam mit dem ‚Naturalismus‘ in eine komplexe Dynamik wechselseitiger Interferenzen und Verflechtungen heterogener Denkfiguren und Wissensformen eintreten. Descola entwickelt demnach a¨hnlich wie Latour einen ‚kosmologischen‘ Begriff von Welt,23 der weniger auf die Gegensa¨tzlichkeiten als auf grundlegende ¨ berlagerungen divergierender Erfahrungsschemata des Weltwissens innerhalb U gegebener historischer Kulturformationen abhebt. Diese Interferenz heterogener Seinsbereiche und Wissensformen wird in vera¨nderter Perspektive auch von Serres fokussiert, der die Implikationen mo19 Vgl. Morin 2009. 20 Zu Begriff und Vorstellung einer neuen ‚Kosmologie‘, die ihren Ursprung in der Moderne hat, sowie zum Terminus der ‚Kohabitation‘ vgl. pra¨gnant Descola 2005, S. 9 – 15. 21 Vgl. zur Fundierung des ‚Naturalismus‘, der wesentlich auf der Trennung von Mensch und Umwelt sowie der mit ihr verbundenen Dissoziation von Subjekt und Objekt (des Wissens) beruht, ebd., S. 241 – 279. 22 Zu den Wissensmodellen des Analogismus, der die Vielfalt singula¨rer Seinsformen auf den ¨ hnlichkeiten zu Ebenen des Materiellen und des Geistigen durch ein konnektives Netz von A ordnen sucht, des Animismus, der die Kontinuita¨t innerer, geistiger Dispositionen von Seinsformen bei gleichzeitiger Diskontinuita¨t ihrer materiellen Eigenschaften postuliert, und des Totemismus, der in den Bereichen des Physischen und des Geistigen ein u¨bergreifendes Kontinuum singula¨rer Entita¨ten voraussetzt, vgl. na¨herhin ebd., S. 183 – 240 und 280 – 320. 23 In der Begru¨ndung des eigenen ‚kosmopolitischen‘ Ansatzes nimmt Latour expressis verbis auf Descolas Bestimmung des ‚Naturalismus‘ sowie die Relativierung seiner Tragweite und Bedeutung innerhalb der Moderne Bezug; vgl. Latour 2004, S. 458.
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derner Globalisierung im Rekurs auf die terminologische Unterscheidung von ‚mundaner‘ und ‚mundialer‘ Welt na¨her spezifiziert. Die ‚mundane‘ Welt bezeichnet dabei den irdischen und menschlichen Bereich der Kultur, des Rechts und der vertraglich geregelten Sozialbeziehungen zwischen Menschen und Gesellschaften,24 wohingegen die ‚mundiale‘ Welt auf die u¨bergreifende, kosmische, universale Welt der Naturpha¨nomene, das geophysikalische Gefu¨ge der ‚Erde‘ verweist,25 das neben unbelebten Objekten auch die durch Wissenschaften und Techniken konstituierten Netzwerke der Welterschließung einbezieht und gleichermaßen den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften wie auch der Kybernetik definiert.26 Der spezifische Weltbezug des Menschen, der sich aus den kulturanthropologischen Bedingungen der Globalisierung herleitet, erschließt sich nach Serres ¨ ber Jahrhunderte beruhte dabei vor allem in der geschichtlichen Dimension: U die menschliche Gemeinschaft auf der Regulierung und Organisation der ‚mundanen‘ Welt der Kultur und des Rechts durch den Gesellschaftsvertrag, der als Ursprung und Garant menschlichen Zusammenlebens ein spezifisches Verha¨ltnis zur ‚mundialen‘ Welt der nicht-menschlichen Entita¨ten und Instanzen voraussetzt, insofern letztere nach Serres spa¨testens ab dem Beginn der Neuzeit auf den Status passiver und unbeteiligter Objekte reduziert sind, die dem Menschen als dem Subjekt des Wissens, der Wahrnehmung und Erkenntnis gegenu¨berstehen.27 Seit dem 17. Jahrhundert artikuliert sich das Verha¨ltnis von ‚mundaner‘ und ‚mundialer‘ Welt folglich im Sinne der klassischen SubjektObjekt-Relation, die innerhalb von Descolas Klassifikation dem ‚naturalistischen‘ Wissenstyp entspricht. Es ist diese einsinnige Festschreibung, die bei 24 Die Bestimmung der ‚mundanen‘ Welt wird von Serres in kritischer Auseinandersetzung mit der Hobbes’schen Gesellschaftstheorie formuliert und folgt maßgeblich der kontraktuellen Theorie, der zufolge menschliche Gemeinschaften auch im Zustand der Krise oder des ¨ bereinkunft beruhen; Krieges als Rechtsverha¨ltnisse gestaltet sind, die auf vertraglicher U vgl. hierzu Serres 1992, S. 30 – 33. 25 Vgl. zu den na¨heren Implikationen der begrifflichen Unterscheidung von ‚mundaner‘ und ‚mundialer‘ Welt bes. ebd., S. 28 f. und 41 – 45. Der franzo¨sische Begriff des „monde mondial“ ist nicht gleichbedeutend mit dem von Jean-Luc Nancy im Kontext seiner globalisierungstheoretischen Reflexionen verwendeten Terminus der „mondialisation“, der sich nicht auf die geophysikalische Dimension der Erde und die durch Wissenschaften und Technik ermo¨glichten Zuga¨nge zur Welt bezieht, sondern den Gegenbegriff zum o¨konomisch fundierten Konzept der „globalisation“, der weltweiten Ausdehnung kapitalistischer Finanzma¨rkte bildet und na¨herhin die durch menschliche Arbeit zu leistende Erschaffung einer erdumfassenden Immanenzspha¨re des Sinns bezeichnet; vgl. zu dieser im kritisch-konstruktiven Ru¨ckbezug auf die Marx’sche Analyse des Kapitalmarktes gewonnenen Deutung moderner Globalisierungsprozesse paradigmatisch Nancy 2002, S. 20 – 25. 26 Serres zieht daher folgerichtig den Schluss, dass die moderne Welt unter den Bedingungen der Globalisierung die Ersetzung des Politikers durch den Physiker oder Kybernetiker erfordere; vgl. Serres 1992, S. 73 – 76. 27 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., bes. S. 49 – 79.
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Serres eine kritische Revision erfa¨hrt: Aus der globalen Ausdehnung der sich zunehmend kreuzenden Objektwelten und Beziehungsnetze leitet sich aus seiner Sicht die Notwendigkeit eines modernen Naturvertrages ab, der die vera¨nderte Beziehung zwischen der ‚mundanen‘ Welt (den kulturellen und sozialen Interaktionsformen) und der ‚mundialen‘ Welt (den objektiven, physischen und technischen Gegebenheiten des Daseins) neu definiert und regelt. Serres formuliert damit als eine auf die Gegenwart und unmittelbare Zukunft gerichtete Forderung, was Latour im Anschluss an Descola spa¨testens seit dem Beginn der Moderne im 17. Jahrhundert bereits verwirklichkeit sieht:28 In der gegenwa¨rtigen Phase der Globalisierung sind die Pha¨nomene der Natur, die unbelebten Objekte und wissenschaftlich-technischen Artefakte der Welterschließung als gleichgeordnete Akteure einer sozialen Interaktion zu bestimmen, die wechselseitige Anna¨herungsprozesse zwischen dem Menschen und den physischen Bedingungen seiner Umwelt bedingen und darin einen neuartigen Zugang zur Welt ermo¨glichen. Serres’ Ansatz, so ist zu folgern, gru¨ndet in einer kulturanthropologischen Bestimmung der Implikationen moderner Globalisierung, die auf die Vermittlung zwischen der Welt als sozialem Handlungsraum und der Erde als geophysikalischem System abzielt,29 dabei aber – im Unterschied zu Sloterdijk und Latour – von konkreten geographischen Raumverha¨ltnissen und dem (trans-) kulturellen Austausch topographisch unterschiedener Territorien der globalisierten Welt weitgehend absieht. Territorialen Interaktionen und Konfrontationen kommt in seinem vor allem topologisch fundierten Denken des Globalen keine eigene Bedeutung zu. Ein anderes Bild zeichnet sich in den Narrativen der spanischen Literatur der Generacio´n X ab, wie dies eindrucksvoll Ray Lorigas Roman Tokio ya no nos quiere bezeugt. Im folgenden wird daher paradigmatisch aufzuweisen sein, dass der literarische Text nicht nur eine narrative Genealogie von Weltmodellen entwirft, denen ein je unterschiedliches anthropologisches Verha¨ltnis von Mensch, Natur und physischer oder technischer Umgebung in der globalisierten Moderne zugrunde liegt, sondern diese Genealogie zudem in einen dezidiert geora¨umlichen und transkulturellen Horizont einfu¨gt, innerhalb dessen vor allem variierende Formen der perzeptiven Weltwahrnehmung und Techniken des ‚Sich-ein-Bild-von-der-Welt-Machens‘ sowie unterschiedliche Mo¨glichkeiten der narrativen Relationierung von mundaner und mundialer Welt sondiert werden.
28 Zur historischen Situierung der modernen Verflechtungen von Mensch, Welt und Technik bei Latour vgl. Schu¨ttpelz 2006 sowie Latour 1991. 29 Zur systematischen Unterscheidung der Begriffe ‚Welt‘ und ‚Erde‘ vgl. den Beitrag von Robert Stockhammer im vorliegenden Band.
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Bildtechniken der Weltwahrnehmung in Ray Lorigas Tokio ya no nos quiere
Der Roman schildert im Rahmen einer losen Anordnung fragmentarischer Beschreibungssequenzen das Leben des anonymen Protagonisten und Erza¨hlers, der als Agent eines weltweit operierenden Pharmaunternehmens chemische Drogen verkauft und konsumiert, die jede individuelle Erinnerung auslo¨schen und bei den Konsumenten eine ko¨rperliche ‚Amnesie‘ auslo¨sen sollen. Zugleich werden im Text, der, wie erwa¨hnt, phantastische Elemente des Science FictionRomans mit Elementen der Reiseerza¨hlung bzw. des in der Generacio´n X sehr beliebten Genres des Road Movie verbindet,30 die ausgedehnten Reisen des Agenten beschrieben, die diesen in nicht weniger als acht La¨nder auf den drei Kontinenten Europa, Amerika und Asien fu¨hren, zu denen neben den westlichen Nationen Spanien, Deutschland und den USA insbesondere die ferno¨stlichen Kulturra¨ume Thailands, Japans und Malaysias mit ihren jeweiligen Megalopolen geho¨ren. Das anonyme Pharmaunternehmen, das u¨ber Email-Korrespondenz mit seinen Agenten verbunden ist, repra¨sentiert gewiss die unsichtbaren, weltweit verflochtenen Finanzstro¨me, die die aktuelle Netzwerkgesellschaft regulieren, und spielt damit ostentativ auf die o¨konomischen Globalisierungsprozesse der Gegenwart und die ihnen zugrunde liegenden Vernetzungen von Information, Macht, Technik und Kapital an.31 Im Zentrum des Romans steht jedoch vor allem die kulturelle Dimension der Globalisierung. So ist es zuna¨chst signifikant, dass der geora¨umliche parcours des Protagonisten, der im Zuge seiner Reisen auf die unterschiedlichsten Verkehrsmittel – wie Auto, Flugzeug, Jet-Boot oder Tuc Tuc – zuru¨ckgreift, zentrale verkehrstechnische Knotenpunkte und Verbindungslinien des Netzwerks des modernen ‚Weltverkehrs‘ sichtbar macht, die die Bewegungen des Agenten im geophysischen Raum unverkennbar in der Spa¨tphase der ‚terrestrischen Globalisierung‘ situieren. Es fa¨llt jedoch zugleich auf, dass die Syntagmatik der dargestellten Reisen nicht prima¨r im Zeichen der Konnektivita¨t, der lu¨ckenlosen Anschlusslogik zeitgeno¨ssischer Verkehrs- und Kommunikationstechniken steht, sondern die Topographie eines nicht-linearen Erza¨hlraums entwickelt, der von punktuell auftretenden, paradigmatischen Erinnerungsfragmenten und Wahrnehmungsereignissen strukturiert wird,32 die 30 Zum Einfluss des Road Movie auf den Roman der Generacio´n X vgl. Pe´rez 2007; zum Ru¨ckgriff auf Elemente des Phantastischen und der Science Fiction-Literatur vgl. Schmelzer 2009. 31 Diese Deutung wird auch von Jose´ F. Colmeiro vertreten, der das multinationale Pharmaunternehmen als „meta´fora de la globalizacio´n capitalista, de su implantacio´n universal, y de sus efectos destructores sobre las culturas locales“ beschreibt; Colmeiro 2005, S. 250. 32 Den fragmentarischen Charakter der Narration hebt auch Colmeiro hervor, der die Reisen
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vielfach an Techniken perzeptiver Welterfahrung gebunden sind; an ihnen treten je unterschiedliche Konfigurationen von Mensch, Natur und physischer oder technischer Umwelt zutage, die im Text die Welterschließung innerhalb der westlichen Hemispha¨re pra¨gen und einen spezifischen Bezug des ‚Mundanen‘ und des ‚Mundialen‘ aufweisen. Gleich die erste Sequenz von Beschreibungen am Romanbeginn entwirft eine solche Konfiguration, die sich im Kontext des fu¨r die moderne westliche Welterfahrung konstitutiven Umgangs mit den zeitgeno¨ssischen Techniken des ‚Sich-ein-Bild-von-der-Welt-Machens‘ dokumentiert. So nehmen die ersten beiden Sa¨tze des Romans Bezug auf eine Naturszenerie, die eine Winterlandschaft im Schnee pra¨sentiert;33 wenig spa¨ter werden kurze Erinnerungen an einen Aufenthalt in Phoenix, Arizona, sowie eine fru¨hlingshafte Szene beschrieben, die am Pool eines Hotels stattfindet, das sich ebenfalls in Phoenix zu befinden scheint. Zwischen beiden Passus erfa¨hrt der Leser, dass die eingangs aufgerufene Landschaft – anders als in der traditionellen Reiseliteratur oder im Road Movie34 – keinem realen Wahrnehmungserlebnis entspricht, sondern einer Videoaufnahme von Astrud Gilberto aus dem Jahr 1964 entstammt, in der die Sa¨ngerin vor einem Weihnachtsbaum das bekannte Lied „La garota de Ipanema“ singt.35 Der Text bildet demnach die Wahrnehmung des Protagonisten nach, in ¨ berlagerung der kulturell und territorial getrennten Ra¨ume der eine partielle U des Swimmingpools in Phoenix, der ku¨nstlichen Winterlandschaft der Videoaufnahme und der mythischen Strandszenerie in Rio de Janeiro in Brasilien stattfindet, auf die Titel und Text des Liedes Bezug nehmen. ¨ hnliche Interferenzen und U ¨ berlagerungen unterschiedlicher topographiA scher Ra¨ume und Wahrnehmungswelten kehren auch in spa¨teren Beschreibungen wieder, die sich ebenfalls auf den Aufenthalt des Protagonisten in den USA und den Umgang mit modernen Bildtechniken der Weltaneignung beziehen. So betont die Beschreibung der Photographie einer unbekannten Verka¨uferin, die der Agent in einem kleinen Gescha¨ft in Hong Kong entdeckt, vor allem die Unterschiede zwischen der auf dem Photo dargestellten Welt und der realen Umgebung des Gescha¨fts, und fokussiert so eine Differenz der wahrgenommenen Ra¨ume, die erst im Prozess der allma¨hlichen Identifikation der auf dem des Protagonisten und anderer Romanfiguren ebenfalls als Indiz zeitgeno¨ssischer Globalisierungserfahrungen deutet. Vgl. hierzu ebd., S. 251 f. 33 Loriga 1999, S. 11: „No nevaba. Sı´ nevaba en realidad, pero era nieve de mentira.“ 34 Vgl. zu Auspra¨gungsformen und Funktionen der Raumwahrnehmung im Road Movie Laderman 2002. 35 Loriga 1999, S. 11: „He visto ese extran˜o vı´deo de la Garota de Ipanema en el canal cla´sico. Astrud Gilberto cantando sin apenas moverse, la nieve artificial, los daiquiris, la banda, las sen˜oritas alineadas junto al pequen˜o escenario.“ – Das Video ist noch immer auf YouTube anzusehen: http://www.youtube.com/watch?v= kDGUZeZWKZo [31. 10. 2013].
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Photo dargestellten Figur mit der Person der ra¨umlich anwesenden Verka¨uferin graduell aufgehoben wird.36 Eine andere Konstellation pra¨sentiert sich im Hotelzimmer in Phoenix: Dort stellt der Erza¨hler zuna¨chst fest, dass sich exakt das gleiche Photo, welches auf seinem Fernsehgera¨t steht, auch im Zimmer des Kochs aus Stanley Kubricks Film Shining befindet, was ihn zu einem direkten Vergleich zwischen dem eigenen Hotelzimmer und dem im Film gezeigten Zimmer veranlasst. Im Zusammenspiel mit der Photographie generiert der Film ¨ berlagerung mit der folglich eine ku¨nstliche Bildwirklichkeit, deren graduelle U empirischen Wahrnehmungsumgebung des Erza¨hlers im Unterschied zum anfa¨nglich gesehenen Video nun auch explizit benannt wird37 und wenig spa¨ter ihren vorla¨ufigen Ho¨hepunkt findet, wenn der Erza¨hler im Fernsehen einen Mann erblickt, dem er kurz zuvor im Hotelflur begegnet zu sein scheint.38 Nimmt man die Beschreibungssequenz als ganze in den Blick, so ist festzustellen, dass der Text im Umgang mit den zentralen Bildtechniken der Welterzeugung eine spezifische Konstellation von Mensch, Welt und Technik zur Darstellung bringt, die auf einer Interferenz natu¨rlicher Wahrnehmungsra¨ume und technisch erzeugter Bildra¨ume beruht,39 in der sich zugleich die graduelle ¨ berlagerung differierender Kulturra¨ume abzeichnet. Die charakteristischen U Modi der Weltwahrnehmung, die das Wirklichkeitserleben in der westlichen Hemispha¨re kennzeichnen, mu¨nden folglich in eine Entdifferenzierung geographischer und kultureller Ra¨ume, die sich als Indiz einer grundlegenden Erfahrung der Deterritorialisierung des Raums der Welt unter den Bedingungen der Globalisierung beschreiben la¨sst, in der die Topologie der technisch generierten Bildra¨ume sukzessive die Topographie empirischer Handlungsra¨ume ersetzt und die ineins damit eigensta¨ndige lokale Kulturspha¨ren als grundsa¨tzlich austauschbare Ra¨ume im Zeichen globaler Vernetzung pra¨sentiert. Die na¨heren Implikationen der deterritorialisierenden Weltwahrnehmung, die in der westlichen Hemispha¨re vorherrscht, werden im weiteren Verlauf des Textes im Rahmen einer Beschreibung von Erfahrungen des Protagonisten deutlich, die nicht mehr in den USA, sondern am entgegengesetzten Ende der Welt, in Saigon, stattfinden und nun eine Konfiguration von Mensch, Welt und Technik zur Anschauung bringen, die weniger die Objekte der Weltwahrneh36 Loriga 1999, S. 16: „Evidentemente la chica de la foto y la chica de la tienda, sentada, junto a la ventana eran la misma chica.“ 37 Ebd.: „De hecho esta habitacio´n [del narrador, K. K.] y la habitacio´n de aquel hombre son casi ide´nticas, […].“ 38 Ebd.: „La televisio´n esta´ encendida, en la televisio´n sale un hombre parecido al hombre que acabo de ver en el pasillo. Esta man˜ana todo son coincidencias.“ 39 Zu derartigen Interferenzen, die im Roman wiederholt auftreten, vgl. auch Schmelzer 2009, S. 109 f. Vgl. allgemein zur Bedeutung technischer Bildmedien in den Romanen Lorigas Everly 2007 und Henseler 2007.
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mung als deren Subjekt in den Vordergrund ru¨ckt. Geschildert wird hier ein dem u¨berma¨ßigen Drogenkonsum geschuldeter epileptischer Anfall des Protagonisten, der zu einer Sto¨rung seiner sinnlichen Wahrnehmung fu¨hrt, da er infolge der plo¨tzlich eintretenden Dunkelheit auch mit geo¨ffneten Augen nicht mehr sehen kann, wa¨hrend der Ho¨rsinn intakt bleibt. Die lu¨ckenlose Konnektivita¨t, die die verkehrstechnisch garantierte geora¨umliche Welterschließung des Agenten kennzeichnet, bricht sich hier an einer sensorischen „desconexio´n momenta´nea“,40 einer Dissoziation von Sehen und Ho¨ren, die in der plo¨tzlichen Aufhebung der habituellen Synchronizita¨t der Wahrnehmungssinne punktuell den vollsta¨ndigen Verlust jeder perzeptiven Orientierung in Zeit und Raum zur Folge hat. Insofern diese Wahrnehmungssto¨rung in einer im Traum erlebten Fernseherfahrung vorgepra¨gt ist, bei der Bild und Ton unterschiedlichen Kana¨len zugeordnet zu sein scheinen,41 stellt sich die neuronale Dissoziation der Wahrnehmungssinne zugleich als unmittelbares ko¨rperliches Korrelat einer technisch bedingten Nicht-Koinzidenz von Bild- und Tonspur dar, die damit gleichsam die Matrix fu¨r die Mechanismen der natu¨rlichen sensorischen Perzeption und Erfahrung von Welt abgibt. Es la¨sst sich daher zuna¨chst folgern, dass die in den unterschiedlichen Konfigurationen von Mensch und technischer Umgebung und den variierenden Techniken des ‚Sich-ein-Bild-von-der-Welt-Machens‘ zutage tretende Erfahrung der Deterritorialisierung, die vor allem in den westlichen Kulturen die globale Dimension der Weltaneignung markiert, keineswegs einer euphorischen Entgrenzung der geophysisch erfahrbaren Welt entspricht, sondern im Gegenteil gleichermaßen als Signatur einer lokale Singularita¨ten suspendierenden Nivellierung von Kulturra¨umen wie auch eines beunruhigenden Orientierungsverlusts des wahrnehmenden Subjekts in seiner ra¨umlichen Umgebung erscheint. Im Zuge der geora¨umlichen Reiseaktivita¨t des Protagonisten wird mithin eine westlich gepra¨gte Erfahrung des Globalen in Szene gesetzt, die letztlich durch den signifikanten Ausfall aller Weltwahrnehmung, die Aufhebung aller raumzeitlichen Ortungen gekennzeichnet ist und darin das Beobachtersubjekt in der Spa¨tphase der terrestrischen Globalisierung unter den Bedingungen des ‚Weltverkehrs‘ – mit Sloterdijk gesprochen – als einen „Helden des Sekunda¨ren“, als ein Subjekt ohne „Erfahrung“ ausweist,42 dessen wenn nicht einziger, so doch vornehmlicher Bezug zu den lokalen Topographien der globalen Welt in deren bloßer materieller Durchquerung besteht. Dieser Ausfall der Weltwahrnehmung tritt im Roman zudem in der Frage 40 Loriga 1999, S. 83. 41 Ebd., S. 82: „Por alguna razo´n la imagen y el sonido de la televisio´n no coinciden. La imagen pertenece a un canal y el sonido a otro.“ 42 Sloterdijk 2005, S. 67 und 65.
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nach den Mo¨glichkeitsbedingungen einer planetarischen Außenwahrnehmung zutage, die den Erdglobus als ganzen in den Blick nimmt. Wenn der Text in knapper Form und in ironischer Manier auf die Versammlung von Personen verweist, die von Außerirdischen in Raumschiffen entfu¨hrt und wieder zur Erde zuru¨ckgebracht wurden,43 und der Protagonist seine Welt-, Drogen- und Reiseerfahrungen wiederholt in bildlichen Selbstvergleichen mit Astronauten artikuliert,44 so nimmt der Roman mit diesen Hinweisen auf die Raumfahrt auf jene Technik des modernen Weltverkehrs Bezug, die erstmals realiter einen archimedischen Blick von außen auf die physische Gestalt der Erde ermo¨glicht, der bereits in der Antike im Kontext der stoischen Meditationsu¨bung des ‚Blicks von oben‘ auf die Welt imaginiert wird.45 Dient die Vorstellung des kosmischen Blicks von oben, die sich vielfach mit der Idee des Gedankenfluges durch die Unendlichkeit des Raumes verbindet, in der antiken Philosophie vor allem dem Aufweis der Notwendigkeit, sich aus den Verstrickungen in die irdische Welt zu befreien, um so zu innerer Distanz und Seelenruhe zu gelangen, so wandelt sich dieses Bild bereits in der Fru¨hen Neuzeit. Wie paradigmatisch die Weltkarten des Ortelius mit den die dargestellte Erde umgebenden Wolken verdeutlichen,46 wird der imaginative Blick hier aus dem ethischen Kontext des contemptus mundi herausgelo¨st und mit der weltwa¨rts gerichteten Neugierde des fru¨hneuzeitlichen Subjekts in Einklang gebracht, das die geographischen Karten als Anleitung zur imaginativen Erkundung der terrestrischen Welt nutzen soll. Im 20. Jahrhundert entstehen schließlich im Zusammenhang mit den durch die Raumfahrt ermo¨glichten photographischen Aufnahmen der Ganzheit des ‚Blauen Planeten‘ geopolitische und -a¨sthetische Vorstellungen, die vornehmlich auf die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Biospha¨re der Erde abheben.47 Lorigas Roman greift mit den Verweisen auf die Raumfahrt diese Tradition ‚planetarischer‘ Weltbeobachtung zwar unverkennbar auf, verleiht ihr aber eine ga¨nzlich andere Wendung, insofern sich der Protagonist vor allem mit Astronauten vergleicht, die sich im Inneren des Raumschiffs befinden und die die Erde gerade nicht
43 Vgl. Loriga 1999, S. 39. 44 Vgl. hierzu paradigmatisch den Vergleich des Klinikaufenthaltes des Protagonisten mit dem Aufenthalt eines Astronauten wa¨hrend einer fiktiven Reise durch den Weltraum in ebd., S. 183, sowie den Vergleich des Realita¨tsgehalts der Liebe mit den „pesadillas de los astronautos“, ebd., S. 225. 45 Vgl. zur epikureischen und stoischen Tradition der kosmischen Reise und des ‚Blicks von oben‘ auf die Welt Hadot 1991; vgl. hierzu ebenso Cosgrove 2001, S. 29 – 52, sowie den Beitrag von Christian Moser im vorliegenden Band. 46 Zu Formen und Funktionen der kartographischen Imagination bei Ortelius vgl. paradigmatisch Du¨nne 2008. 47 Vgl. zur Entstehung solcher Einheitsvorstellungen, die sich mit dem Bild des ‚Blauen Planeten‘ verbinden, Heise 2008, S. 22 – 28.
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sehen ko¨nnen.48 Die im Roman zutage tretende Deterritorialisierung der ¨ berlagerung loWahrnehmungswelt bringt folglich nicht nur die punktuelle U kaler kultureller Topographien und den zunehmenden raumzeitlichen Orientierungsverlust des Subjekts, sondern ineins damit auch die prinzipielle Unmo¨glichkeit zur Anschauung, im Rahmen des globalisierten ‚Weltverkehrs‘ einen planetarischen Distanzblick auf die Ganzheit der Erde zu gewinnen, in dem die Welt in ihrer holistischen Einheit und geophysikalischen Geschlossenheit erfahrbar wa¨re. Nimmt man die skizzierten Wahrnehmungskonstellationen gemeinsam in den Blick, so la¨sst sich festhalten, dass sich im Umgang mit den aktuellen Bildund Verkehrstechniken der Weltaneignung eine spezifisch (kultur-)anthropologische Konfiguration von Mensch, Natur und Technik abzeichnet, die in der ostentativen Anna¨herung subjektiver Welterfahrung an technische Funktionssysteme zu erkennen gibt, dass in der westlichen Hemispha¨re wie auch in westlich gepra¨gten Teilen Su¨dostasiens die ‚mundanen‘ Verha¨ltnisse, der soziale und kulturelle Weltbezug des Menschen, im Wesentlichen nach dem Muster der ‚mundialen‘ Netzwerke geora¨umlicher Welterschließung organisiert sind, die vor allem in Gestalt der modernen technischen Bild- und Wahrnehmungsdispositive das Wirklichkeitserleben des Protagonisten maßgeblich steuern. Dieses gleichermaßen im Modus realer Erfahrung und imagina¨rer Traumvisionen artikulierte Bedingungsgefu¨ge ‚mundaner‘ und ‚mundialer‘ Lebensformen schafft ein Weltmodell des Globalen, das durch den signifikanten Ausfall differenzierender Weltwahrnehmung und die Aufhebung kultureller, territorialer und lokaler Singularita¨ten gekennzeichnet ist. Die Reiseerza¨hlung fungiert hier demnach nicht als ein Narrativ der raumgebenden Aneignung und Erkundung des Globus, sondern als ein literarisches Dispositiv, das in der Anpassung ‚mundaner‘ Erfahrungsschemata an die Netzwerke des ‚Mundialen‘ paradoxerweise gerade den unwiederbringlichen Weltverlust der Bewohner der westlichen Hemispha¨re zur Anschauung bringt.
48 Loriga 1999, S. 183: „Me siento como uno de esos astronautas hibernados en un viaje que dura cientos de an˜os. Mientras en la tierra la gente ve pasar los veranos, aquı´ dentro apenas pasa nada.“ Mo¨glicherweise handelt es sich hier zudem um eine Anspielung auf Buckminster Fullers beru¨hmte kybernetische Metapher des „Spaceship Earth“, deren Bedeutung im Kontext der Globalita¨tsdebatten von Sloterdijk und Heise untersucht wird: vgl. Sloterdijk 2009 sowie Heise 2008, S. 22 – 28.
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Kosmologien der Moderne: Phantastische Begegnungen zwischen Leben und Tod
Den skizzierten westlich kodierten Formen der Weltaneignung stehen im Roman indes kontra¨re Erfahrungsmuster entgegen, die im Zeichen einer anderen Zuordnung des ‚Mundanen‘ und ‚Mundialen‘ stehen und vornehmlich im Kontext der Reisen in die (fern-)o¨stliche Hemispha¨re zutage treten, die vielfach die phantastische Dimension des Reisenarrativs zum Vorschein bringen. So fu¨hrt der Besuch der Megalopolis Bangkok zur realen Begegnung mit der Mutter eines thaila¨ndischen Freundes, die kurz zuvor verstorben ist. Ermo¨glicht wird diese Begegnung mittels eines technischen „Reinkarnationsprogramms“,49 welches bewirkt, dass die Verstorbene als lebendiges Wesen auf einem Monitor in Erscheinung und von dort mit den Menschen vor dem Bildschirm in Kommunikation tritt. Die Begegnung mit der Erscheinung der Toten aktualisiert dabei eine weitere Form der Welterfahrung, die sich einem anders gearteten strukturalen Weltmodell und einer anders gearteten Konfiguration von Mensch, Umwelt und Technik zuordnen la¨sst. Zuna¨chst knu¨pft die Fiktion der Reinkarnationsprogramme, die auf der Verarbeitung zahlreicher Informationsdaten wie neuronalen Aufzeichnungen, graphologischen Proben oder Tagebuchnotizen beruht,50 in guter phantastischer Erza¨hltradition an eine Reihe wissenschaftlicher Experimente des 20. Jahrhunderts an.51 Implizit nimmt sie vor allem auf die wissenschaftliche Praxis der Elektroenzephalographie Bezug, die in der Hirnforschung in den 20er Jahren von dem deutschen Psychiater Hans Berger entwickelt wurde und erstmals die Aufzeichnung menschlicher Hirnstro¨me ermo¨glichte.52 Entscheidender fu¨r den vorliegenden Zusammenhang ist jedoch, dass sich in der Fiktion artifizieller Reinkarnationen erneut eine fu¨r das Weltwissen der Moderne spezifische Relation von Beobachter und Welt konturiert, insofern die phantastische Begebenheit auf das in den aktuellen Neuro- und Kognitionswissenschaften diskutierte Problem der Entstehungs- und Mo¨glichkeitsbedingungen der Erkenntnis der Außenwelt durch ein ko¨rperloses, im Innenraum positioniertes Beobachtersubjekt anspielt.53 Ex negativo wird dieses Modell in unmittelbarer Form in der Beschreibung der Begegnung des Protagonisten mit der Verstorbenen aufgegriffen: So vermag die technisch generierte Bildschirmerscheinung zwar in einen intensiven, nach romantischem Muster gestalteten Augenkontakt mit dem 49 Loriga 1999, S. 67. 50 Vgl. ebd., S. 68. 51 Zur wissenschaftlichen Fundierung phantastischer Narrationen vgl. pra¨gnant Lachmann 1995. 52 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Elektroenzephalographie Borck 2008. 53 Vgl. hierzu paradigmatisch Latour 1999, S. 1 – 23.
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Protagonisten zu treten und die Grenze des Bildschirms im kommunikativen Austausch mit den Personen der Außenwelt zu u¨berschreiten, doch im Unterschied zu diesen gelingt es ihr nicht, durch das Fenster der Wohnung nach außen zu blicken und die Panorama-Aussicht von Bangkok zu genießen.54 Gerade der Blick durch das ‚Fenster zur Welt‘, der seit Raffael Albertis beru¨hmtem Traktat u¨ber die Malerei aus dem 15. Jahrhundert die privilegierte Beobachterposition des abendla¨ndischen Wahrnehmungssubjekts definiert55 und dem Protagonisten wiederholt – nach Art fru¨hneuzeitlicher Veduten – in der Distanzsicht gewonnene Totalansichten urbaner Topographien erschließt,56 die sich hinter dem Fenster erstrecken, bleibt der im Monitor eingeschlossenen Person verwehrt. ¨ hnlich wie schon im Kontext der Verweise auf die moderne Raumfahrt erteilt A der Text damit jener nach Descola im ‚Naturalismus‘ angelegten Wissenskonstellation von Mensch und Umwelt eine Absage, die das a¨sthetische Subjekt seit der Renaissance als distanzierten Beobachter der Welt gegenu¨berstellt und ab dem 17. Jahrhundert das Grundmodell auch fu¨r das wissenschaftliche Welterkennen nach westlichem Standard abgibt. Die Episode demonstriert folglich die Aufhebung der im abendla¨ndischen Modell des Weltwissens verankerten Subjekt-Objekt-Konfiguration und die darin implizierte Topologie ‚naturalistischer‘ Welterschließung und -bema¨chtigung. Diese ‚naturalistische‘ Form globaler Weltaneignung wird in der Tat in den phantastischen Begegnungen des Protagonisten mit dem Reinkarnationsprogramm durch andere Heuristiken des Weltzugangs abgelo¨st, in denen sich alternative kosmologische Weltmodelle abzeichnen, die im Roman vor allem auf eine neuartige Zuordnung von Ko¨rper und Seele bezogen sind und ein spezifisches Verha¨ltnis von Lebenden und Toten voraussetzen. So veranschaulicht die Existenzform der verstorbenen Mutter des Freundes als Bildschirmwesen einen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod, welcher sie einerseits als immaterielle Geisterscheinung, andererseits aber als eine Person ausweist, die den Rhythmus der Tages- und Nachtzeiten in ihren Schlafgewohnheiten befolgt und damit ko¨rperliche Routinen einha¨lt, die sie als ein materielles oder physisches Wesen ausweisen.57 Damit gleicht die Gestalt zum einen jenen fleischlichen Wiederga¨ngern, deren Existenz sich bloßen Phantasmen mit nicht-materiellen 54 Vgl. Loriga 1999, S. 106: „La imagen en el monitor […] mira hacia la ventana como si pudiera ver Bangkok al otro lado y yo me pregunto si en realidad puede verlo y ella enseguida me dice que no. Que no puede. Que no ve nada ma´s que el cristal de la ventana.“ 55 Zur Bedeutung, die Albertis Bild des Fensters als grundlegendem Sinnbild des Ausblicks des Subjekts auf die Welt des Draußen zukommt, vgl. Belting 2001, S. 23 f. 56 Loriga 1999, S. 67: „Me despierto […] en una habitacio´n grande […] con una pared de cristal desde la que se ve todo Bangkok o mucho Bangkok, por lo menos, en el u´ltimo piso de las Gem Towers, la torre ma´s alta del mercado de las gemas.“ 57 Vgl. ebd., S. 107.
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Bild- oder Schattenko¨rpern entgegensetzt und in der abendla¨ndischen christlichen Tradition im Interesse des Dogmas der Wiederauferstehung des Geistes und der Seele beka¨mpft wurde.58 Insofern es sich bei der Verstorbenen um eine technisch generierte Bilderscheinung handelt, la¨sst sich die Begegnung mit dem Bildschirmwesen zum anderen auch auf jene spiritistischen photographischen Experimente beziehen, die bereits um 1900 entstanden und darauf abzielten, auf der Grundlage des phototechnischen Verfahrens der Aufzeichnung materieller Lichtspuren Kontakte zwischen Lebenden und Toten herzustellen, um damit die Grenze von Tod und Endlichkeit zu u¨berschreiten.59 Diese Experimente stehen im Zusammenhang mit eschatologischen Jenseitserwartungen, die sich in einer Zeit herausbilden, in der die Vorgaben der christlichen Religion ihre normative Geltungskraft unwiderruflich eingebu¨ßt haben, und weisen in dieser Hinsicht einen engen Bezug zum Verfahren der Kryogenisierung, der Konservierung von Ko¨rpern nach dem Tod auf, das im Roman explizit als gleichsam weltliches Korrelat des katholischen Totenkults figuriert.60 Schließlich fu¨gt sich die Begegnung mit der Toten in eine ganze Serie miteinander verflochtener Todeserfahrungen ein, insofern die technische Reinkarnation der Mutter ihre Entstehung und Existenz der Trauer des Sohnes um ihren ‚ersten Tod‘ verdankt, der sich ihrerseits die eigene Trauer um den zwischenzeitlich ebenfalls verstorbenen jungen Mann anschließt, welche zudem von der Furcht vor ihrem ‚zweiten Tod‘, der Abschaltung des Programms, begleitet wird.61 Es ist daher festzuhalten, dass das phantastische technische Bildschirmwesen einen besonderen Austausch von Lebenden und Toten ermo¨glicht, der gleichermaßen im Zeichen individueller Trauerarbeit wie auch eines kulturellen Totengedenkens steht, dessen potenzielle Unabschließbarkeit auf das im gesamten Roman thematisierte unendliche Herumirren fleischlicher Wiederga¨nger oder materieller ‚Phantasmen‘ in den Weltsta¨dten der vom Protagonisten durchreisten La¨nder verweist62 und sich im asiatischen Kulturkreis zudem als eine quasi-religio¨se Ausdrucksform des Zeitkonzepts der Ewigkeit deuten la¨sst, dessen sa¨kulares Pendant in der ironisch festgestellten Unmo¨glichkeit sichtbar wird, die auf den Ma¨rkten asiatischer Sta¨dte verkauften Billiguhren chronometrisch zu synchronisieren.63 Die innerhalb der Reise in die ferno¨stliche Welt stattfindenden phantastischen Begegnungen mit der technischen Reinkarnation der Verstorbenen fu¨gen sich damit 58 Vgl. Lecouteux 1998 und ders. 1995, S. 179 – 242. 59 Zu Verfahrenstechniken und Zielen der spiritistischen Praxis der sogenannten ‚Geisterphotographie‘ vgl. Fischer 2004, S. 29 – 44. 60 Vgl. zur Parallelisierung des Verfahrens der Kryogenisierung mit dem im Katholizismus verbreiteten Umgang mit dem Tod Loriga 1999, S. 254. 61 Vgl. ebd., S. 104 – 107. 62 Vgl. exemplarisch ebd., S. 66, 145 f., 159 u .a. m. 63 Vgl. ebd., S. 92.
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in den umfassenderen Entwurf einer neuartigen Kosmologie der Moderne ein, deren Konturen in den ostentativen Reflexionen des Erza¨hlers zu ‚Phantasmen‘, Wiederga¨ngern, lebendigen Toten oder Personen, die in ihrer Wahrnehmung unter Beibehaltung des eigenen Geistes fremde Ko¨rper annehmen,64 deutlich zutage treten; ausgehend von den Beschreibungen des Reinkarnationsprogramms zeichnet sich demnach eine alternative Heuristik des Weltwissens ab, die in besta¨ndig wechselnden Verweisen auf die Kontinuita¨t oder Diskontinuita¨t von Ko¨rpern und Seelen, von physischen und geistigen Existenzformen, die festgefu¨gten Grenzziehungen des ‚Naturalismus‘ in Frage stellt und je nach Kontext gleichermaßen animistische wie auch totemistische Zu¨ge annehmen kann. Dieser Entwurf einer neuartigen, vor allem an animistische Traditionen anknu¨pfenden Kosmologie der Moderne gewinnt im Roman zudem eine geora¨umliche Dimension, die die lokalen Besonderheiten wie auch die territorialen Grenzziehungen der durchreisten Kulturra¨ume betrifft: Insbesondere im Kontext der erza¨hlten Reisen des Protagonisten in die ferno¨stliche Hemispha¨re und die hochtechnifizierten Megalopolen des modernen Asien finden sich neben vielen Tiervergleichen, die auch in den Reisebeschreibungen der westlichen Welt auftreten,65 zahlreiche metaphorische Anspielungen auf phantastische Metamorphosen von Menschen, Artefakten und Tieren, die in der Weltwahrnehmung des Protagonisten immer wieder imagina¨re, mythische oder monstro¨se Gestalten hervorbringen.66 Bei diesen handelt es sich vielfach – a¨hnlich wie bei dem technischen Bildschirmwesen – um liminale Hybridfiguren, phantastische Mischwesen, die bereits in traditionellen geographischen und kartographischen Darstellungen der Erde seit der Antike zu finden sind und dort gewo¨hnlich an den Außenkanten, den topographischen Ra¨ndern oder Grenzen der bekannten Welt lokalisiert werden.67 Auch wenn die erza¨hlte Reise mit den Anspielungen auf derartige phantastische Wesen unverkennbar auf irreale mythische Vorstellungswelten der Vormoderne rekurriert, so mu¨ndet sie gleichwohl keineswegs in die Aufhebung aller geora¨umlichen Ortungen oder Orientierungen des reisenden Subjekts; vielmehr manifestiert sie sich zugleich als spa¨tmoderne 64 Vgl. zu letzteren etwa ebd., S. 42; den phantasmatischen Grenz- und Wiederga¨ngern geho¨rt auch der Erza¨hler selbst an, der sich als „medio vivo y medio muerto“ erfa¨hrt; vgl. ebd., S. 143. 65 So finden sich im Roman Vergleiche von Ha¨usern auf Pfa¨hlen mit einem „insecto gordo con las patas finas“ (ebd., S. 55), von Menschen mit anderen „insectos“ (ebd., S. 56), von Tennisschla¨gern mit „patas de un animal estu´pido“ (ebd., S. 75) u. v .m. 66 Vgl. paradigmatisch die Traumvision monstro¨ser Tiergestalten (ebd., S. 90), die Beschreibung thaila¨ndischer Kinder in Bordellen als „demonios“ (ebd., S. 92) oder die Verbildlichung der Drogenerfahrung als eines mythischen Kampfes gegen Drachen mit zwei Ko¨pfen (ebd., S. 154). 67 Vgl. hierzu Romm 1992.
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Fortfu¨hrung der terrestrischen Expansionsdynamik der neuzeitlichen Weltentdecker, die auch und gerade die schwer zuga¨nglichen Randzonen und territorialen Schwellenbereiche des Erdballs zu erkunden suchten, um in dieser Raumbewegung neue Wissensperspektiven auf die Strukturen der wahrgenommenen und vertrauten Welt zu erschließen. Es la¨sst sich damit folgern, dass der globale Weltbezug des Romans aus einer konstitutiven Ambivalenz erwa¨chst: Die modernen Techniken des ‚Sich-einBild-von-der-Welt-Machens‘ stehen in Lorigas Roman fu¨r eine anthropologische Konstellation von Mensch, Natur und Technik, die eine spezifisch westliche Pra¨gung aufweist und durch die sinnfa¨llige Anna¨herung der ‚mundanen‘ Lebensverha¨ltnisse, des kulturellen Weltbezugs des Menschen an die Operationsformen ‚mundialer‘ Bilddispositive und Netzwerke der Welterschließung gekennzeichnet ist; ineins damit zeichnet sie sich durch eine grundlegende Deterritorialisierung der Raumerfahrung aus, die den Prozess der Weltaneignung paradoxerweise als beunruhigende Erfahrung eines Weltverlusts ausweist. Im Kontext der Erza¨hlung der Reisen durch das moderne Su¨dostasien und des phantastischen Berichts u¨ber das Reinkarnationsprogramm, das die Verstorbene als Bildschirmwesen wiederauferstehen la¨sst, ist hingegen die exakt umgekehrte Bewegung einer zunehmenden Angleichung ‚mundialer‘ Bild- und Computertechniken an grundlegende ‚mundane‘ Regelwerke und Interaktionsformen menschlicher Kultur und Gemeinschaft zu beobachten, da gerade das technische Programm an tradierte Praktiken der Trauerarbeit und des Totengedenkens in der Welt des ‚Mundanen‘ anknu¨pft, die ohne den Einsatz des ‚mundialen‘ Dispositivs ku¨nstlicher Welterzeugung kulturell nicht realisierbar wa¨ren. Insofern die Operationsweise derartiger wissenschaftlich-technischer Dispositive im Zeichen einer neuartigen, animistisch und totemistisch gepra¨gten ‚Kosmologie‘ der Moderne steht, die vornehmlich die Lebensformen in der o¨stlichen Hemispha¨re kennzeichnen, ist zudem festzustellen, dass der Text ganz bewusst konkrete geo- und topographisch fundierte Raumzusammenha¨nge entwirft, die eine Reterritorialisierung des globalen Weltbezugs des Romans erkennen lassen. Es ist folglich die terrestrische Raumbewegung durch die westliche und o¨stliche Hemispha¨re, die in der Gegenu¨berstellung gegenla¨ufiger Heuristiken des Weltwissens die kontra¨ren Zuordnungen ‚mundaner‘ Interaktionsformen und ‚mundialer‘ Netzwerke der Weltaneignung ermo¨glicht und so allererst jene vielschichtigen und jederzeit umkehrbaren Beziehungsverflechtungen zur Sichtbarkeit bringt, die nach Bruno Latour und Michel Serres die gegenwa¨rtige Welt in ihren globalen Vernetzungen kennzeichnen. Die Erza¨hlung der Reisen, die den Protagonisten beinah u¨ber den gesamten Erdball fu¨hren, stellt damit ein literarisches Narrativ bereit, das im Modus realistischer Deskription und phantastischer Entgrenzung ein gleichermaßen geora¨umlich wie auch kulturanthropologisch bestimmtes Weltmodell des Globalen hervorbringt
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und erst in dieser doppelten Fundierung die Komplexita¨t der kulturellen, o¨konomischen und sozialen Austauschprozesse zu artikulieren vermag, die die Spa¨tphase der terrestrischen Globalisierung in der Gegenwart pra¨gen.
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Dominik Schreiber
Der Klimawandel – Aufstieg eines globalen Narrativs
Die Fakten des IPCC, der gro¨ßten Wissenschaftskommission der Erde, belegen: Die globale Erwa¨rmung hat in allen Erdregionen begonnen. Der Klimawandel nimmt unser Jahrhundert in den Griff. Gegenu¨ber dem vorindustriellen Zeitalter (1800) sind die mittleren Temperaturen von 14,5 ˚C auf heute ca. 15,3 ˚C angestiegen. In der unteren Lufthu¨lle der Erde, der Tropospha¨re, wird immer mehr Wa¨rme eingefangen. Du¨rren ¨ berschwemmungen, Hungersno¨te und Stu¨rme – die Extreme nehmen zu. Einund U deutig ist auch, welchen Anteil die einzelnen Faktoren an der Erderwa¨rmung haben. Fest steht: Der Mensch mit seinen wirtschaftlichen Aktivita¨ten und seiner chronischen Naturvergessenheit ist der Hauptverursacher. Er steuert die Welt auf eine Klimakatastrophe zu, wenn der Kollisionskurs mit der Natur nicht beendet wird. Das wissen wir. Deshalb mu¨ssen wir diese Menschheitsherausforderung annehmen, die Aufheizung des Treibhauses Erde stoppen und schnell zu einer Kehrtwende im Umgang mit der Natur kommen.1
Es droht die globale Erwa¨rmung der Erde, und Schuld daran hat der Mensch. So la¨sst sich das Narrativ vom anthropogenen Klimawandel2 zusammenfassen, dem innerhalb der letzten 35 Jahre offensichtlich ein rasanter Aufstieg gelungen ist, so dass es zu einer wirkma¨chtigen Erza¨hlung mit globaler Strahlkraft avancieren konnte. Nach naturwissenschaftlichen Forschungen, die zwar bis ins 19. Jahr1 Mu¨ller / Fuentes / Kohl 2007, S. 29 f. [Hervorhebung D. S.] Im Jahr 2007 sorgte der Vierte Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change weltweit fu¨r Aufsehen. Das IPCC, landla¨ufig besser bekannt als UN-Weltklimarat, stufte die Verursachung des Klimawandels durch den Menschen als sehr wahrscheinlich ein, was auf der Skala der Organisation einer Wahrscheinlichkeit von 90 % entspricht. Vgl. http://www.ipcc.ch/publications_and_data/publications_and_data_reports.shtml [14. 02. 2014]. 2 Im weiteren Verlauf wird es verku¨rzt als Klimanarrativ bezeichnet. Mit dieser kulturnarratologischen Betrachtungsweise soll keinesfalls die natu¨rliche Dimension des Klimawandels geleugnet und als reine Konstruktion abgetan werden. Eine solche Beurteilung entzieht sich literaturwissenschaftlicher Zusta¨ndigkeit, weshalb es vielmehr darum geht, die kulturelle Dimension und deren eigene Wirkweisen und Dynamiken zu erforschen. Denn Diskurse u¨ber das Klima „are always situated – geographically, historically and culturally. They are not imposed by nature, they are created through culture. Neither do they endure. They form, transform and dissolve. Sometimes they return in a different wrapping. They are unstable.“ Hulme 2008, S. 6.
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hundert zuru¨ckreichen, aber erst in den 1970er Jahren an Fahrt aufnehmen, gelingt dem Narrativ in den 1980er Jahren der Sprung in die Politik und mediale ¨ ffentlichkeit.3 Die Konferenz der Vereinten Nationen u¨ber Umwelt und EntO wicklung in Rio de Janeiro 1992 mit der Unterzeichnung der Klimarahmenkonvention und das daraus hervorgegangene, 1997 beschlossene Kyoto-Protokoll, u¨ber dessen Nachfolge auf den ja¨hrlichen Weltklimakonferenzen seit 2006 verhandelt wird, sind nur zwei Eckpunkte, die den globalen Aufstieg des Klimanarrativs bezeugen. Angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Globalisierungs- und Naturschutzdiskurs ist es ihm in beachtenswerter Weise gelungen, ¨ ffentlichkeit auf sich zu Aufmerksamkeiten der Wissenschaft, Politik und O ziehen, so dass der Klimawandel mittlerweile als eines der dringlichsten Probleme der Weltgesellschaft wahrgenommen wird. Wie ist dieser rasante Aufstieg nun zu erkla¨ren? Um dieser virulenten Frage nachzugehen und das Erfolgsgeheimnis des Klimanarrativs zu ergru¨nden, mu¨ssen dessen Argumentationsstrategien und taktischen Verfahrensweisen der Weltdeutung untersucht werden. Mit dem Begriff Klimakatastrophe liefert das obige Zitat ein erstes wichtiges Stichwort, um den Aufstieg des Narrativs zu verstehen. Dem metaphorischen Konzept der Katastrophe kommt na¨mlich eine zentrale Rolle im politischen und medialen Bereich des Klimanarrativs zu, wie Peter Weingart, Anita Engels und Petra Pansegrau fu¨r die diskursive Entwicklung in Deutschland aufzeigen. So wird das Katastrophenkonzept von den deutschen Massenmedien bereits in den 1970er Jahren verwendet, um die wissenschaftliche Hypothese eines bevorstehenden anthropogenen Klimawandels in die mediale Gewissheit der kommenden Klimakatastrophe [zu] transformier[en]. Die u¨ber den gesamten Untersuchungszeitraum [1975 – 1995, D. S.] fortdauernden zahlreichen wissenschaftlichen Ungewissheiten wurden in den deutschen Medien bagatellisiert und anstelle dessen die zentrale diskursive Transformation von der Hypothese zur Katastrophe vollzogen.4
Als dann 1986 der Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in der Frankfurter Rundschau eine Warnung vor der drohenden Klimakatastrophe vero¨ffentlicht und damit gro¨ßere mediale Resonanzen erzeugt, gera¨t auch die deutsche Politik unter Zugzwang und u¨bernimmt die dramatisierende Sichtweise.5 Mittels der Katastrophisierung des Klimawandels gewinnt das ¨ berblick fu¨r Deutschland geben Weingart / Engels / Pansegrau 3 Einen diskurshistorischen U 2002, S. 27 – 93. 4 Ebd., S. 76 [Hervorhebung im Original]. 5 Vgl. ebd., S. 35 ff., 51 ff., 96. Vgl. Arbeitskreis Energie (AKE) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft: Warnung vor der drohenden Klimakatastrophe, in: Frankfurter Rundschau v. 19. 09. 1986, S. 15.
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Narrativ an o¨ffentlicher Aufmerksamkeit, so dass nicht nur fu¨r Deutschland, sondern im globalen Maßstab gilt: We are living in a climate of fear about our future climate. The language of the public discourse around global warming routinely uses a repertoire which includes words such as ‚catastrophe‘, ‚terror‘, ‚danger‘, ‚extinction‘ and ‚collapse‘.6
Vor diesem Hintergrund ist das Augenmerk auf eine spezielle totalita¨re Argumentationsstrategie des Klimanarrativs zu lenken, die in engem Zusammenhang mit dem Katastrophenszenario steht und deren Bedeutsamkeit bisher anscheinend nicht erkannt wurde. Im Zentrum des Narrativs steht na¨mlich ein totalita¨rer Gedanke, der die Vorstellungen von Raum und Leben in einer Verschra¨nkung von Geopolitik und Biopolitik zusammenbringt. Der Planet Erde wird als ein allumfassender Raum entworfen, der das komplette Leben beinhaltet. So entsteht der unhintergehbare, totale Lebensraum, dem kein Mensch ¨ berzeugungskraft entwickelt das Narrativ, indem es entkommen kann. Seine U hier in Form der Klimakatastrophe eine totale Gefahr einfu¨gt. Der unikalisierte globale Raum und das in ihm aufgehobene Leben werden durch den Klimawandel einer totalen Bedrohung ausgesetzt. Auf dem Spiel steht nichts Gerin¨ berleben der Menschheit“7 und das „Wohl des gesamten Plageres als das „U 8 neten“, wie es der Wirtschaftsnobelpreistra¨ger Joseph Stiglitz in seinem Sachbuch Die Chancen der Globalisierung formuliert. ¨ hnlichkeit des Klimanarrativs mit Hier zeigt sich eine gewisse funktionale A ¨ ra des Kalten Krieges, da auch diese Erdem Nuklearkriegsnarrativ aus der A za¨hlung Sinn und Ordnung mittels der Behauptung einer totalen Bedrohung stiftete.9 Der wichtigste Unterschied liegt auf der Hand: Wa¨hrend das Nuklearkriegsnarrativ aufgrund der gegenseitigen atomaren Bedrohung von Ost und West eine geteilte, bipolare Welt stabil hielt,10 arbeitet das Klimanarrativ dagegen an der Herstellung eines Parteien, Nationen und Kulturen u¨bergreifenden globalen Kollektivs, an einer solidarisch vereinten Menschheit als Schicksalsgemeinschaft. So warnt beispielsweise Stiglitz: „Kein Umweltproblem ist so global
6 Hulme 2008, S. 5. Hulme datiert den Beginn der katastrophischen Sichtweise wie Weingart ¨ koauf Mitte bis Ende der 1980er Jahre (ebd., S. 11). Zur Entwicklung des allgemeinen O pessimismus vgl. Herman 1998, S. 394 – 447. 7 Stiglitz 2006, S. 221. 8 Ebd., S. 227. 9 Vgl. Sto¨ver 2007. „Die Menschheit als ganze ist to¨tbar“, fasst Gu¨nther Anders die Botschaft des Zeitalters der Atombombe zusammen. Anders 1956, S. 242. 10 Zur Frage, ob es sich beim Kalten Krieg um einen bipolaren oder eher multipolaren Konflikt handelt, vgl. Sto¨ver 2007, S. 22 – 25. Hulme (2008, S. 11) sieht sogar einen direkten Zusammenhang zwischen den beiden Narrativen und konstatiert, dass mit dem „collapse of the Soviet Union in 1989, fears of Cold War destruction were displaced around the turn of decade by those associated with climate change […].“
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wie die globale Erwa¨rmung: Alle Menschen auf der Erde atmen die Luft derselben Atmospha¨re.“11 Und weiter : „[W]enn wir alle versagen, werden wir auch alle unter den negativen Folgen zu leiden haben.“12 Neben dem Nuklearkriegsnarrativ weist ein weiterer Weltdeutungsansatz ¨ hnlichkeiten mit dem Klimanarrativ auf: Das Projekt der deutschen bedingte A Geopolitik um Karl Haushofer. Auch dieser Ansatz basiert auf der Konstruktion der Erde als eines totalen und unhintergehbaren Lebensraums, wobei hier explizit der Begriff Lebensraum eine zentrale Position einnimmt, wa¨hrend er innerhalb des Klimanarrativs nur sporadisch verwendet wird, was sicherlich mit dessen nationalsozialistischer Verwendung und Diskreditierung zusammenha¨ngt.13 Aus Sicht der Geopolitik wird jedenfalls auf der Erde ein Kampf um Raum14 zwischen Rassen und Vo¨lkern ausgetragen, die erfolgreiche Raumnahme hat daher als Existenz sicherndes Gebot oberste Priorita¨t. In diesem Sinne fu¨hrt der Mensch auch einen Kolonisationskampf gegen die Natur : Das „stolzeste [Ziel, D. S.], das sich der Mensch stecken kann“,15 sieht der Geopolitiker Otto Maull 1934 in der Umwandlung von Naturraum in menschlichen Kulturraum. Dem Klimanarrativ hingegen liegen solche territorialen Expansionsbestrebungen freilich fern, da der Naturraum Erde nicht mehr als ein zu eroberndes Brachland, sondern in seiner tragenden Rolle fu¨r das globale ¨ kosystem wahrgenommen wird. Anstatt wie Maull also u¨ber die klimatisch O bedingten Schwierigkeiten einer Kolonisation der Tropen zu sinnieren,16 geht es dem Klimanarrativ um das genaue Gegenteil, na¨mlich darum, den Regenwald vor einem Zugriff des Menschen zu schu¨tzen. Die Angst vor feindlicher Landnahme weicht einer Furcht vor der drohenden Zersto¨rung des gesamten globalen Lebensraums. An die Stelle des geopolitischen Kampfes um Raum zwischen Rassen und Vo¨lkern setzt das Klimanarrativ sein o¨kumenisches Konzept einer vereinten Weltgemeinschaft. Wenn der Feind aber nicht mehr in konkurrierenden Rassen 11 12 13 14
Stiglitz 2006, S. 212. Ebd., S. 235. Vgl. Schlo¨gel 2003, S. 52 – 59; Kletzin 2000, S. 11 f., 117 – 125; Lange 1965, S. 426 – 437. Diesen Topos, sowie den Begriff Lebensraum, u¨bernimmt die deutsche Geopolitik von Friedrich Ratzel: „Zwischen der Bewegung des Lebens, die nie ruht, und dem Raum der Erde, der sich nicht a¨ndert, besteht ein Widerspruch. Aus diesem Widerspruch wird der Kampf um Raum geboren. Das Leben unterwarf sich rasch den Boden der Erde, aber als es an seinen Grenzen angelangt war, stro¨mte es zuru¨ck, und seitdem ka¨mpft u¨berall und ohne Unterlaß auf der ganzen Erde Leben mit Leben um Raum.“ Ratzel 1901, S. 51 [Hervorhebung D. S.]. Vgl. auch Kletzin 2000, S. 10 – 12. 15 Maull 1934, S. 34. 16 Vgl. ebd., S. 33 f. Rassistisch bescheinigt Maull den „hellen Rassen, d[en] Weißen und Gelben, die man darum mit gutem Grunde als die eigentlich ‚herrschenden‘ bezeichnen kann, eine ungleich gro¨ßere Anpassungsbreite als [den] farbigen Rassen“ an extreme klimatische Bedingungen (ebd., S. 23). Vgl. auch Hulme 2008, S. 9 f.
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und Vo¨lkern gesehen wird, wo ist er dann hingekommen? Hier offenbart sich ein bemerkenswerter Clou des Klimanarrativs, mit dem ein bekanntes Diktum Carl Schmitts u¨berwunden wird. Schmitt hatte die Konstitution einer politisch geeinten Menschheit fu¨r unmo¨glich erkla¨rt, da hierzu ein a¨ußerer Feind fehle. Die politische Einheit kann ihrem Wesen nach nicht universal in dem Sinne einer die ganze Menschheit und die ganze Erde umfassenden Einheit sein. […] Die Menschheit als solche kann keinen Krieg fu¨hren, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten.17
Schmitts Ansicht wird von der Geopolitik besta¨tigt, da der Kampf um Raum stets zwischen menschlichen Rassen und Vo¨lkern ausgetragen wird, ohne dass eine u¨bergeordnete Einheit denkbar wa¨re. Indem das Klimanarrativ dieses alte Containerdenken verabschiedet und ein bemerkenswertes neues Feindschema einfu¨hrt, findet es einen Weg, Schmitts Diktum hinter sich zu lassen. Der neue Feind der Umwelt und des Lebens ist der Mensch selbst. Durch die globale Erwa¨rmung, so die Argumentation des Narrativs, wird das pflanzliche, tierische und menschliche Leben auf der Erde bedroht. Den Verursacher des Klimawandels, und damit den beno¨tigten Feind, stellt der Mensch dar, der den eigenen gemeinschaftlichen Untergang bewirkt. Um die Menschheit als Einheit zusammenzufu¨hren, entwirft das Klimanarrativ also keinen externen Angreifer, sondern integriert den Feind und la¨sst ihn im Kollektiv der Weltgemeinschaft aufgehen. Jeder Mensch ist Teil des bedrohten Ganzen und gleichzeitig Teil der totalen Bedrohung. Die Unterscheidung von Freund und Feind wird entpersonifiziert und kollektiv internalisiert, indem sie in jedes einzelne Mitglied der Weltgemeinschaft eingeschrieben wird.18 Wie beka¨mpft man aber einen solchen Feind? Die herko¨mmlichen Methoden sind nicht mehr anwendbar, da sie alle auf der Identifizierung des Feindes beruhen. Wenn man ihn jedoch nicht lokalisieren und isolieren kann, dann kann man ihn nicht angreifen. Man kann ihn weder to¨ten noch gefangen nehmen und vor ein Gericht stellen. Alle diese Strategien der Machtausu¨bung, die auf die Identita¨t und den Ko¨rper ausgerichtet sind, gehen ins Leere. 17 Schmitt 1963, S. 54. Aktuell an Schmitt anknu¨pfend: Voigt 2011. An der Imagination eines die Menschheit vereinenden Feindes arbeiten sich ganze popkulturelle Genres ab, in denen die Menschheit von Aliens, Zombies oder Vampiren heimgesucht wird. So etwa in Roland Emmerichs Blockbuster Independence Day (USA 1996), in dem der US-amerikanische Pra¨sident die Nationen der Welt zum gemeinsamen Widerstand gegen angreifende Aliens aufruft und ho¨chstperso¨nlich in die Luftschlacht zieht. Eine zynische Variante dieser imaginativen Kompensationsversuche liefert Alan Moores und Dave Gibbons’ Graphic Novel Watchmen (USA 1986/87), in der ein Superheld eine Alienattacke auf New York fingiert, um die Machtblo¨cke des Ostens und Westens im Kampf gegen den angeblichen extraterrestrischen Feind zu vereinen und den Kalten Krieg zu beenden. 18 Damit wird auch die Kategorie des Fremden egalisiert und von der des Feindes abgesondert.
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Das Klimanarrativ reagiert auf dieses Adressierungsproblem, indem es vom Kampf gegen Feinde auf die Maßregelung von Klima scha¨digendem Verhalten umstellt.19 Durch eine Verhaltensa¨nderung, so verspricht das Narrativ, erhalten die Menschen die Mo¨glichkeit, den Kampf ums Dasein aufzunehmen und die drohende Gefahr der globalen Erwa¨rmung abzuwenden. In dem Sachbuch mit dem plakativen Titel Wir Klimaretter – So ist die Wende noch zu schaffen beschwo¨ren Toralf Staud und Nick Reimer ihre Mitbu¨rger : Eine Halbierung der deutschen Treibhausgas-Emissionen ist also mo¨glich – dafu¨r ¨ nderungen in der braucht es mutige Entscheidungen der Politik und tief greifende A Wirtschaft. Und jeden Einzelnen – also Sie. Werden Sie Klimaretter! Es ist gar nicht schwer.20
Im Anschluss an diesen Appell pra¨sentieren Staud und Reimer einen ZehnPunkte-Plan, mit dem ein jeder Deutscher sein perso¨nliches KohlendioxidKonto entlasten kann. Der Plan umfasst unter anderem die Aufforderungen, ¨ kostrom zu verwenden, sparsam zu heizen, wenig zu fliegen und den O Fleischkonsum zu halbieren. In der Weltwahrnehmung des Klimanarrativs ist der Mensch Opfer, Ta¨ter und heroischer Weltenretter zugleich. Er ha¨lt sein Schicksal in den eigenen Ha¨nden. Ist diese Konstellation aber wirklich erfolgversprechend und zielfu¨hrend? Aus kommunikationstheoretischer Sicht stellen sich Zweifel ein, denn es wird eine Schwachstelle deutlich. Wer das Umweltverhalten der Menschen a¨ndern will, muss sich na¨mlich hauptsa¨chlich der moralischen Kommunikation bedienen und die Adressinstanz des Gewissens bemu¨hen. Und genau hier liegt das Problem. Menschliches Verhalten mittels Moral zu steuern, birgt einen großen Unsicherheitsfaktor in sich, da Moralvorstellungen, anders als juristische Maßnahmen, nicht verbindlich sind. Eine bestimmte moralische Ansicht kann abgelehnt werden, und selbst wenn sie akzeptiert wird, heißt das noch nicht, dass sich aus einem schlechten Gewissen auch wirklich eine Verhaltensa¨nderung ergibt. Dessen ist man sich auch innerhalb des Klimanarrativs bewusst. Staud und Reimer beispielsweise widmen diesem Problem ein ganzes Kapitel und zitieren den Harvard-Psychologen Daniel Gilbert. Als einen von vier Gru¨nden, weshalb die Menschheit bisher nicht angemessen auf den Klimawandel reagiert habe, fu¨hrt Gilbert an, dass die globale Erwa¨rmung das moralische Empfinden des Menschen nicht tangiere. „Wu¨rde der Klimawandel durch das Verspeisen von kleinen Ka¨tzchen verursacht, Millionen von Demonstranten gingen auf die Straße.“21 Der Klimawandel habe aber kein Ta¨tergesicht und werde wegen seines nur a¨ußerst langsamen Voranschreitens und seiner in ferner Zukunft liegenden 19 Vgl. Hulme 2008, S. 12. 20 Staud / Reimer 2007, S. 299. 21 Ebd., S. 60.
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Bedrohung von den Menschen nicht als Gefahr eingestuft, um auch die u¨brigen drei Gru¨nde Gilberts zu nennen.22 Das Klimanarrativ verla¨sst sich jedenfalls nicht allein auf das kollektivierte und entpersonifizierte Feindschema und die damit verbundene moralische Kommunikation. Parallel dazu hat es noch eine zweite Strategie entwickelt, die ein eher konventionelles Feindbild mit klar zu identifizierenden Gruppen konstruiert. Ins Visier genommen werden in erster Linie Wirtschaftszweige wie die Energiewirtschaft mit ihren Kohlekraftwerken oder die Autoindustrie und deren Unterstu¨tzer in der Politik. Damit zusammenha¨ngend wird auch generell dem industrialisierten Norden die Ta¨terrolle und dem Su¨den die Opferrolle zugeschrieben sowie unter dem Stichwort der Klimagerechtigkeit daru¨ber diskutiert, ob den Entwicklungs- und Schwellenla¨ndern ein ho¨herer CO2-Ausstoß zugebilligt werden sollte, um industriell aufholen zu ko¨nnen.23 Bernhard Po¨tters Sachbuch Tatort Klimawandel – Ta¨ter, Opfer und Profiteure einer globalen Revolution, der Titel verra¨t es bereits, setzt hauptsa¨chlich auf die zweite Strategie. In sechsundzwanzig Berichten von Tatorten des Klimawandels rund um die Welt werden Ta¨ter und Opfer benannt, da die Diskussion bisher zu unpolitisch sei. Eine politische Debatte daru¨ber, wer welche Verantwortung tra¨gt, findet kaum statt. […] Dass [der Klimawandel, D. S.] eine Menschenkatastrophe ist, dass die Gewinner oft die Ta¨ter und die Verlierer oft die Opfer einer Umwa¨lzung von globalem Ausmaß sind, bleibt im Dunkeln. Das vorliegende Buch beleuchtet gerade diese Umsta¨nde.24
Po¨tter fu¨hrt dabei vor Augen, dass auch diese zweite Strategie des Klimanarrativs ihre Probleme mit der Feindidentifizierung hat. Za¨hlen arme Kleinbauern, die den Regenwald gezwungenermaßen zersto¨ren, um ihre Existenz zu sichern, zu den Ta¨tern? Po¨tter will deshalb die Kategorien Ta¨ter und Opfer nicht moralisch, sondern rein analytisch verstanden wissen.25 Abschließend ist festzuhalten, dass sich der globale Erfolg des Narrativs vom anthropogenen Klimawandel einer doppelten Verfahrensweise verdankt. Beide Strategien, die innovative Kollektivierung und die eher traditionelle Identifizierung des Feindes, basieren auf dem Szenario der Klimakatastrophe. Fu¨r die weitere Forschung ergeben sich hier einige Anknu¨pfungspunkte.26 Es gilt, das 22 Vgl. ebd., S. 60 f. 23 Vgl. exemplarisch Meyer-Abich 1997, S. 207 – 211; Stiglitz 2006, S. 207 – 236. Weingart, Engels und Pansegrau zufolge untersucht die Klimaforschung bereits seit Mitte der 1970er Jahre, welchen Anteil Industrie- und Entwicklungsla¨nder an den CO2-Emissionen haben. Ende der 1980er Jahre wurden dann Verfahren entwickelt, um die Anteile einzelner Nationalstaaten zu bestimmen. Vgl. Weingart / Engels / Pansegrau 2002, S. 33 und 38. 24 Po¨tter 2008, S. 15. 25 Vgl. ebd. 26 Ebenfalls zu untersuchen wa¨re die diskursive Auseinandersetzung des Klimanarrativs mit
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Verha¨ltnis beider Strategien in diachroner und synchroner Hinsicht zu untersuchen und mo¨gliche Interferenzen und Wechselwirkungen zu betrachten. Angetrieben von seinem Ziel, die Welt vor dem Untergang zu retten, ist der Klimawandel als eines der wichtigsten globalen Narrative des 21. Jahrhunderts weiterhin im Auge zu behalten. Insbesondere eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft kann dazu einen wertvollen Beitrag leisten. Gegenu¨ber dem etwaigen Vorwurf, der Klimawandel vollziehe sich als reines Naturpha¨nomen und unabha¨ngig von den Erkenntnissen kulturwissenschaftlicher Forschungen, weshalb diese zu vernachla¨ssigen seien, ist zu bedenken, dass dies ebenso in umgekehrter Richtung gu¨ltig ist: Unberu¨hrt von der realen Existenz des Klimawandels wirken die Argumentationsstrategien des kulturellen Narrativs.
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Teil II: Rekonzeptualisierungen von Weltliteratur
Erhard Schu¨ttpelz
World Literature from the Perspective of longue dure´e1 In Memory of Thomas Geider
Today, as it was 200 years ago, the concept of world literature is intended to justify a selection of texts, genres and traditions from an inherited written corpus, or from a totality of all corpora of literature. However, in practice the idea can lead to insoluble problems, since a concept so closely associated with canonization should surely be the object of research, and not its foundation. So how can we obtain a concept of world literature that is not restricted to the task of canonization, and how can we grasp its own historicity without going round in the circles of its ‘Begriffsgeschichte’? This question concerned the Africanist Thomas Geider (2009) and me over a number of years. During this time, we came to adopt the view that an adequate conception of world literature could only be achieved by a new synthesis of the basic elements. In other words, we must look again at the question of the ‘world’, – as well as at the question of ‘world-wide literature’. In his historical analysis of ‘world economy’, the historian Fernand Braudel was faced with the ambiguity of a similar ‘world’ compound. For Braudel, the term ‘world economy’ could refer to the cumulative economic activities of the whole world: This would be the sum total of a ‘global economy’ or “e´conomie mondiale”. Alternatively, the term ‘world economy’ could also be understood to mean the specific stratum of economic activities which gave rise to the ‘global economy’, above all by fuelling intercontinental trade, and thus completely reshaping worldwide production and consumption (Braudel 1979, ch. 1). Braudel called this second ‘world economy’ the “e´conomie-monde”. His history of globalization concentrated on describing the laborious construction of this world-wide economy between 1500 and 1800. In doing so, Braudel not only addressed the manifold forms of economic activity and organization, but he also focused on the political, social, military and cultural developments which fed into the new system of world-wide distribution, production and consumption. It seems to me that it should be possible to develop a concept of world 1 Translated by Brian Hanrahan.
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literature along Braudelian lines, an approach which would also connect with the approach of Pascale Casanova and her concept of a modern World Republic of Letters (2004), though this concept is based on ideas of a literary hegemony, and not following Braudelian guidelines. I can here only briefly sketch out the research program corresponding to this idea of a ‘litte´rature-monde’. Nonetheless, I believe that even a short overview can lend insights into what a concept of world literature might look like from the perspective of universal history. Therefore, I will here begin with the basic components of the concept, first asking what is to be understood by the ‘world’ and a ‘world-wide context’ at any given time. And, second, within any such structure, what does ‘literature’ signify and where has it come from? So let us first turn to the ‘world’, and the time strata, rhythms and spaces of world history. (1.) The first globalization arose from the expansion of humanity across the globe. According to current scientific consensus, this came in several waves ‘out of Africa’, in fact out of East Africa. More specifically, ‘out of Africa’ refers to the passage of Homo sapiens sapiens from Africa to Asia and Eurasia, through Indonesia to Australia and the Pacific, and across the Siberian land bridge to North and South America. This diffusion, with its many migrations, constituted the first globalization. Given this fact, we might ask what humanity had in common, at this moment of its passage out of Africa and in the process of its world-wide diffusion. Anthropologically speaking, a certain number of cultural phenomena were already present – in fact, they were prerequisites for this first globalization and worldwide migration (Antweiler 2007). These include language, tool use, kinship structures, visual art, the burial of the dead and all the basic skills of hunting and gathering. Since the scientific confirmation of the ‘out of Africa’ hypothesis – that came as an archaeological surprise for historians – cultural world-history has been necessarily marked by a certain Afrocentricism, which will require many more excavations and decades of discussion to be properly understood. (2.) In the course of spreading across the earth, humankind entered into a wide variety of collective formations with other species – animals, plants and infectious agents. These formations, shaped on the one hand by environmental factors, on the other hand by human efforts, served to control and domesticate different realms of the organic world, including seeds, germs, plants and animals. This process which was the basis of the shift from hunting and gathering to settled agricultural formations (Diamond 1997) gave rise to the emergence of new social structures, both large and small, variously of an economic, religious, political and military nature, but always overlapping. The appropriate vocabulary for the emerging of larger regional structures is necessarily unclear, since the choice of terminology determines the particular
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emphasis of a given analysis. We might call them ‘empires’ or ‘kingdoms’, thus putting the accent on political order and centralization, but in fact these processes need not have been the decisive ones. If we call them ‘civilizations’, we put the focus on cultural or religious factors, perhaps even suggesting a kind of overarching stylistic consistency, one which often turns out to simply be a series of ‘family resemblances’. We might call them ‘trade networks’, thus perhaps coming closest to the underlying processes of exchange at work, but in doing so, we lose a sense of their territorial basis. Or we might even call them ‘partial world systems’, anachronistically discerning forerunners of modern ‘world systems’ (Frank / Gills 1993). For the regional clusters, large or small, I favor the term ‘ecumene’ (McNeill 1994), a word once applied to a specific ‘partial world system’ – the term employed by the Greeks to refer to their own ‘civilized world’. More significant than the particular name we give to the ecumene is the basic idea that the ecumene, in its various forms and scales, was a multi-levelled and overlapping phenomenon. We are not dealing with ‘Kulturkreise’, that is, welldefined and delineated ‘cultural spheres’. Rather, these forms of entanglement might include shared forms of transaction or means of exchange (as on the Eurasian silk route). They might involve a common language or, in particular, a common linguistic education (Renfrew 1992; Ostler 2005; Versteegh 1986), as in Hellenism or the linguistic structures of Latinitas or Arrabiya. It could be a common system of administrative education (as in the Chinese Empire), a shared religion or an inter-religious pacification of the trade routes (McNeill 1994). But mobility and exchange might also function by virtue of a common military education (as in the Roman Empire) or through routes ‘developed’ by a previous campaign of military terrorism (as in the Eurasian nomad expansions of the Mongols). The Old World of Eurasia and North Africa was only a composite of these various layers of entanglement and migration, both locally and regionally. (3.) Any representation of globalization’s next time stratum and its next spatial arrangement must also be heterogeneous and many-layered, although the epoch in question lasts only three to four centuries. I am referring here to the European globalization which begins in the fifteenth century. This emerged gradually out of the previous configuration of ecumenes, developing behind the back of other ‘partial world systems’, in particular the Asian ones. However, even between 1500 and 1750 Europe was subordinate to Asian states and systems as often as it was victorious over them. Even the exchange forms of this European globalization – at least in Africa and Asia – overlap with foreign intercontinental structures, expectations and desires (Bayly 2002). Within Europe, the central element in this transformation was the particular intra-continental shift of power diagnosed by Braudel, namely the move from a Mediterranean to a North Atlantic world system (Braudel 1997). In the context of this paper, this change is
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worth highlighting since – at least in my opinion – it had momentous consequences both for the modern concept of literature and for later forms of philosophy. (4.) The world-wide military, ideological, economic and political processes which drove European globalization reached their highpoint in the territorial takeovers of the imperial age, above all between 1880 and the First World War (Osterhammel 2004; Bayly 2004). As contemporary research confirms, this historical period saw, in proportional terms, the most intense global mobility of people and things (that is: commodities and artifacts) (Osterhammel / Petersson 2003). It was also, it seems to me, the period of modernity’s most lasting symbolic (or media) mobility. The flows of intercontinental migration took place above all, although not exclusively, within the context of the new empires, but they also newly extended the reach of older non-European ‘partial world-systems’, in particular those of Asia and East Africa (Hoerder 2002). This spread of things and techniques led to new types of creolization, which remain formative in our own time, for instance in popular music and the visual arts. (5.) At this point, we are very close to the present day, to our own so-called globalization. This is unquestionably comparable in importance to the globalization of the imperialist age, not least because it incorporates and re-forms characteristics of older world systems. We can observe this re-formation, for instance, in the return of old questions of Chinese superiority and East Asian variations of those questions (Hobson 2004), in the continuing hegemony of the Anglo-Saxon settlement colonies, notably their homogenizing effect on globalized elites, the English language, and so on. I will conclude this familiar list here, but not before recalling the historian’s warning – namely that the contemporary acceleration of the global mobility of people, things and media can easily be put into reverse. Such a reversal could, for instance, be observed in the twentieth century during the period between the Great Wars, in waves of disconnection and dissolution (Osterhammel / Petersson 2003). In short, the processes in all five of our time strata are not at all irreversible. In all of the regions examined here, flourishing connections and dynamic structures were restricted or even stopped, and they certainly can be today. The five time strata cannot therefore be regarded as ‘levels’ or ‘stages’ or ‘steps’; nonetheless, each of the five processes has global consequences, both then and now. I want now to turn to some of these effects, the effects these processes have on the literature of the world, on ‘world literature’. (i.) At the very least, the passage ‘out of Africa’ and the first global diffusion of humankind poses the questions of what humans had in common at the moment they left Africa, and what became of this common inheritance. This common legacy cannot simply be boiled down to a shared biological descent. Given the
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long period of time preceding the migration ‘out of Africa’, what we are dealing with is a common stock of cultural inventions and achievements. Whatever the particular detail of their future reconstruction by prehistorians, linguists and archaeologists, these cultural elements can be thought of as belonging to – and constituting – an early ecumene of humanity. But what is the literary heritage of that time? Can we in any sense speak of a common legacy of this first migratory diffusion? Or does this come later, in the course of re-convergence? Even if we can – and perhaps must – leave unanswered the questions of common heritage versus later convergence, nonetheless we do have a definite common focus for speculation. I am referring to hunting and gathering, and to the central fact that it was as hunter-gatherers that humankind first peopled the earth (Guenther 1999). As for the common literary inheritance of the hunter-gatherer world, we first might turn – in a manner both empirical and speculative – to the index of motifs compiled by folklorists. We can simply ask what remains of the period in question – what traces can be found in the reference work, but also what remains in the literature to which the index refers, be it oral literature or any other. I am thinking here of certain motifs and plot elements which recur across the globe, and specifically in the opening pages of the folklorists’ index (Thompson 1932), in the section dealing with magic. We might regard this as a common inheritance of our hunter-gatherer forebears, but we might equally speak of the hunter-gatherers’ eternal present, since our own time represents only 1 % or even less of human time on earth, in comparison with the vast preceding monopoly of human hunting and gathering. This would be a solid foundation – and a cultural and global one – for thinking about the roots of a literary legacy shared by the descendants of the early hunter-gatherers. It would touch on figures of magic and metamorphosis, ideas of etiology and cosmogony, stories of initiation and journey, of ‘liminality’ and ‘passage’. Finding these ideas, motifs and practices in all languages and literary corpuses over and over again, we think we understand them and thus inevitably misunderstand them (Bohannan 1967) – whether in Ovid’s Metamorphoses, in Indian, Australian or African stories, in Harry Potter’s spells or in Joseph Campbell’s mythic Hollywood scripts (Vogler 1998). In any case, without this notion of a shared legacy, we are in no position to interpret and understand even the most recent globally-consumed literature. To sum up: We cannot ignore the question of a literary stratum dating back to the ‘out of Africa’ period – however speculatively we might approach it – nor can we reduce it to a biological universalism. (ii.) The legacy of what I tentatively call ‘civilizations’, ‘empires’, ‘ecumenes’ or ‘partial world systems’ is more heterogeneous than the first ‘out of Africa’ globalization, but in terms of philology, its investigation is more straightforward. In many of the civilizational structures in question, we find not only
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reciprocal mobility of texts and trade-routes, but also a mobility of literate people, either socialized with and through texts, or simply belonging to a fundamentally textual ecumene. It is necessary to bear in mind that, at any given time, the referent of ‘ecumene’ and ‘world’ was variable: The known world – i. e. the experiencable, navigable, known and rumored world – was, in its largest accessible form, always a composite of various guarantees drawn from a common co-existence. Thus, the form of many-layered ecumenes cannot be easily boiled down to a single world model. Nonetheless, there are constants across the wide global variety of these ecumenes. Literacy, life in and between cities, and a readiness to migrate are all common factors among ‘partial world systems’ in the period between 1500 B. C. and 1500 A. D. These earlier ‘partial world systems’ should be the starting point for any attempt to establish historical relationships between migration, text and literary tradition, configurations which both precede and go beyond contemporary modes of nationalism and internationalism. The literacy and textuality of this period of three millenia – including the composition of profane and sacred literatures – was a matter of very small mobile elites, whose mobility was in turn based on commercial, religious, political and military networks and structures. Within these elites, the extension of written communications went hand in hand with the related possibilities of migration. Even where migration led to a removal across borders or to the provinces, into exile or banishment, it remained heavily marked by models of urban exchange and commerce. With respect to modes of literary mobility, we could thus regard the entire period between 1500 BCE and 1500 CE as a single unit. The literary historian Karl Bertau has worked from this premise in writing the history of Mediterranean literary traditions, which covers the three monotheistic religions of the Mediterranean littoral (Bertau 2005). The approach could be extended further by adding comparisons with the intercontinental Arab and Persian systems, with the Indian Ocean and the languages and literatures of East Asia. Here, we might cite Bertau’s characterization of the Phoenician Mediterranean, but only as a one example among others of this kind of interrelation of cities, literacy and a propensity to migrate, an interrelation that might be extended to the whole globe, at least as far as cities and literacy extended. The following summary deals with the period from 600 to 300 BCE, referencing a whole series of scripts, cities, diasporas and migrations which have become canonical in the European tradition. The primacy of the globally most prevalent script can also be ascribed to this Mediterranean community of migration, rather than to narrowly political, military or ideological factors: After the destruction of the Phoenician city states in the Eastern Mediterranean, the great seafarers of antiquity – who had circumnavigated Africa and reached the Azores –
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moved their bases to Carthage. They built up the Punic city, now the dominant force in the Mediterranean. After the destruction of the first Temple, the Jewish religion lived on in the diaspora. With the end of exile in 458, the Persian king ordered a copy made of the Torah for the second Temple, and installed a Jewish military colony at Elephantine, on the southern border of Persian-controlled Egypt. Here the word “Jahu” (or Jahweh) was coined as the name of God. Greek literature never developed a written cultic law, although it was heavily marked by piety, and possessed a theatre culture closely related to cultic rites. But Greece produced the great conceptual philosophy of Socrates, Plato and Aristotle, and through Alexander’s conquests, its written culture spread throughout the Eastern Mediterranean and as far as the borders of India. The subjugated cultures of Persia and Egypt shaped the autonomous successor states, and with it Hellenistic world culture. (Bertau 2005, p. 106; transl. by Brian Hanrahan.)
(iii.) What happened to these civilizational conditions – of literacy, cities and migration, or of the cosmopolitanism of an ecumene, when they were subjected to the general escalation that was European globalization, and above all to the transformations associated with the shift to the North Atlantic world system? First of all, there were specific material changes and reversals which would later have determining significance. Thus, although printing was invented in China and Korea, it was its alphabetic variant that spread throughout the globe. So in a quite concrete material sense, the outward spread of European globalization gave rise to a worldwide mobilization of literary texts. This mobilization was not at all one-sided – just as European texts could now travel around the globe, likewise non-European texts could be printed and distributed world-wide, including newly transcribed examples of oral literature and languages that had hitherto only existed in performance. It is at this point that a world literature came materially into effect, in the sense of a globally interconnected structure, a litte´rature-monde. Writings and printed texts could be transported all over the globe, even if they often moved in small quantities, in corrupted form or in poor translation. Therefore we can ask empirically – which is to say philologically – what did this ‘world literature’ consist of that came into existence after 1500, through European globalization and the worldwide spread of printing? When, for instance, were exemplary texts of non-European languages printed and when were they distributed? Which texts were translated? When were grammar books and new scripts developed for these languages? (Gruzinski 2004; Flores 2007) I will not develop these philological reflections any further at this point, since the methodological principle is quite clear. But it is worth attending to a second, far more controversial issue, one that has been a subject of discussion since the eighteenth century. The emergence of modern concepts of literature was the result of a break with the tradition of antiquity and its forms of rhetorical training. These forms had been the product of more than one Mediterranean ecumene – they were created in the encounter of Hellenism with the Roman
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Empire, which resulted first in its creolization, and second in its outright Latinization. Modern conceptions of literature destroyed the technical unity of production and reception, a unity that the entire rhetorical-poetical tradition from antiquity to the eighteenth century had taken for granted (Fumaroli 1980). Moreover, this dissolution took place just at the time of the supplanting of the Mediterranean by the North Atlantic world-system. In considering these two radical ruptures – first, the shift from a classicist to a North European model of literature, and second from Mediterranean empirebuilding to the North Atlantic unleashing of world trade – any comparison necessarily raises the question of correlation. There is no doubt that the shift of power from Southern Europe to the North-West was accompanied by a corresponding philosophical and literary change, a reordering of philosophical and poetological dominance (Holenstein 2004). This displacement – partly commercial, partly political, partly ideological – is what underlies our modern concept of literature. How are we to understand this concept, if we think of it in conjunction with the North Atlantic globalization that made it possible? Already by the eighteenth century, emerging ideas of literature presumed a media-historical narrative based on a global ‘Great Divide’ between illiterates on the one hand, and literate people on the other. Some of the key turning points have been identified by Richard Bauman and Charles Briggs in their book Voices of Modernity (Bauman / Briggs 2003): thus, once the separation of oral and literate cultures had created the hybrid known as ‘oral literature’, the latter could then – in the eighteenth century North Atlantic world – be turned into ‘folklore’. From these mutations/developments arises another point of confrontation within the manifold Great Divide; but where the Spanish explorers and conquerors in Central America and the Portuguese in West Africa had perceived a confrontation with the devil (Pietz 1985, 1987, 1988), ruler of the heathens abroad and even the peasants at home, the new world order staged the confrontation in the name of a newly secularized viewpoint which would have made no sense to its pious forerunners. ‘Folklore’ now consisted of superstitions, old wives tales, an oral tradition of habits and customs. In the new epoch, these matters were not (necessarily) regarded as a matter for punishment or the Inquisition; instead, it was a question of superseding the immaturity of orality through enlightenment and of a textualization which simultaneously legitimized and nostalgized them as past oral tradition, and literature. This categorization and its global suffusion are necessary conditions for modern concepts of literature and they remain operative within them, even today. As Bauman and Briggs outline, this is not separable from various deeprooted hierarchical distinctions – between population groups, the media they use and the literatures they produce. But if we look more closely at the development of North Atlantic conceptions of literature, it is clear that we today have
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not only inherited these hierarchies, we are also the heirs of constantly repeated attempts to invert them. New ideas of literature were a product of the eighteenth century, developed in a Franco-British-German triangle linking Paris, the Scottish Enlightenment and the German Bildungsrevolution, including its Baltic fringe (Herder 1976). Yet it is also here, among the new colonial centers and their privileged Protestant peripheries, that we see the emergence of the modern, programmatic inversion of literary hierarchies: The weaker side can be declared the stronger, precisely because of its weaknesses, with humour raised above the sublime, the novel elevated over lyric poetry, oral literature over the printed tradition, the periphery over the centre, the authentic over the crafted, document over fiction, heresy over orthodoxy. Without this poetological revaluation – i. e. the anti-classicist reversibility of all literary hierarchies – neither literary modernity nor the globalization of particular ideas of ‘literature’ can be understood. It is worth underlining that this reconfiguration took place in the context of northern European and North Atlantic globalization, although how this fact is to be integrated into wider social history remains an open question I shall return to in my conclusion. (iv.) The established literary order of the imperialist age directly resulted from this radical change, but so too did the literary disorders and discontents characteristic of that period. During the long nineteenth century and thereafter the modern idea of literature achieved world-wide dominance, not least because of the globalization of the nation state and of national literatures. As Benedict Anderson has shown, the idea of a national literature is a globalization effect (Anderson 1983), often appearing in colonial territories in synchrony with European revolutionary doctrines. A closely related process saw the establishment of the novel as the preeminent genre of the age of print. It is clear that this genre emerged in conjunction with modern institutions and organizations (Bayly 2004) – the nation-state, imperialism, the book market, journalism – but it was also affiliated with a typically modern opposition to these institutions – anti-nationalism, anti-imperialism, anti-journalism, anti-commercialism. As the institutions themselves were spread around the globe, they were accompanied by oppositional values, vectored by an international boheme and by the efforts of small political networks. And yet the imperialist epoch – and in this respect it is closely connected with the other time strata of globalization – saw the highpoint of documentation and scholarship of the world’s traditions of writing, and of ‘oral literature’ and ‘folklore’. This scholarly engagement implies a multiple break with Eurocentric globalization. This can be seen in the adoption of Indian grammars within the comparative study of grammar, around 1800, and also in the postulate of foreign ‘modes of thought’ which were neither condemned as irrational nor conceived of in terms of European rationality. It is difficult to come to a final assessment, but
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in the course of my own work on various protagonists of imperialism, I have come to believe that those who experienced globalization around 1900 were far more deeply troubled by it than we are today, not least in terms of literature and ideas of literature. The fundamental crises of literature and cultural scholarship accompanying Imperialism/induced by Imperialism had many consequences – the rise of modern anthropology is one, and we have yet to come to terms with them. (v.) Conversely, I feel that the period since the 1960s has seen a shrinking of the concept of literature, manifest in scholarly and theoretical debates, and also – perhaps above all – on the part of the publishing trade. In the competition for places in publishers’ catalogues, a small number of European and pre-Victorian genres clearly have won, albeit with something of a postmodern makeover – lyric poetry, lyrical prose, essays, drama, and above all the novel. Certainly there are texts and traditions from the first four time strata of globalization which are categorized by the book trade as ‘world literature’ – myths and legends of all sorts, of course, the Gilgamesh epic, or the ape novel of Wu Ch’eˆng’eˆn (1942), texts resulting from centuries of transfer between world ecumenes (Strickman 1982, Tsuen-Hsuin 1985). But if contemporary writers wish to label their own work as ‘new world literature’ – or, as Elke Sturm-Trigonakis puts it, if they want to become “global players” in today’s print world (Sturm-Trigonakis 2007) – then they can do so only within a narrowly limited range of genres. In this context, generic distinctions prove to be far more robustly persistent than in the early twentieth century, or, for that matter, in the world of Wu Ch’eˆng’eˆn. This no doubt is also a globalization effect, which the current book trade is hardly in a position to reverse, and which need not otherwise hamper literary multiplicity. Yet the question remains: For literary scholars at least, is it not imperative to work against these models of ‘new world literature’, precisely in order to take up the question of a ‘litte´rature-monde’? The twofold journey through the history of the world and of its world-wide literature sketched out above brings us to a final question: What in world literature is in danger of being lost in current processes of globalization? Therefore, in concluding this tour d’horizon or tour de force, I want to return to the constitution of our modern idea of literature, in the second half of the eighteenth century – to return to that anti-classicist generalizing tendency in which we can see the outline of the programmatic formation of a world-wide literary horizon. The universalization of the modern conception of literature, beginning in the eighteenth century, allowed observers to speak, on the one hand, of the worldwide totality of literatures and, on the other, of the formation of a world-wide textual canon. These are, of course, the two definitions of ‘world literature’ which can be found even today in literary reference works. At least three components were (are?) at work here – first, the universalization of poetry, in the narrow
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sense of verse, and its relativization by the success of literary prose. Second, the universalization of rhetoric, of both the technical and especially the natural varieties of eloquence. Third, and this was the most striking and unusual development, the universalization of the ‘oral tradition’ in the domain of literature. The universalization of poetry and rhetoric could refer back to models from the ancient world. The fact that poetry and natural or technical eloquence existed outside of Europe had been known ever since the classical tradition, and was now rediscovered time and again in encounters with the New World. However, the acceptance of the ‘oral tradition’ and the construction of what the nineteenth century would come to call ‘folk-lore’ was a far more complex and demanding process. Recent work by the British historian Alexandra Walsham (2008) has given pointed emphasis to the North-West European genealogy of this mode of universalization. I will here supplement her account by observations made by Peter Burke (2007) on the European history of science: All of the practices and workings of the study of culture – from archaeology and ethnology to historiography and its auxiliary disciplines – have a common genealogical forebear in the European scholarly movement known as ‘antiquarianism’. Switching metaphors, we might say it was the ‘primeval soup’ of all these disciplines. The motivation of the antiquarians lay first of all in a quite traditional humanist passion for the material, textual and social traces of antiquity : that is to say, the traces of Roman antiquity in Europe, above all Roman Italy and the Roman provinces. Their focus, as practiced in excavations, in collecting and editing, gradually expanded to include the non-Roman inhabitants of these provinces. It was then further expanded to encompass the physical, institutional and cultural traces – the ‘customs and traditions’ – of Roman-native interaction, which were now in turn excavated, collected and speculatively reconstructed. In this way, Europe was radically provincialized. Our modern disciplines of cultural studies are the heirs to this provincialization. In a sense, this was ‘cosmopolitanism in reverse’: tracing the remnants of an older time stratum of civilisation. Recent research into antiquarianism and its obsessions has emphasized the significance of its denominational neutrality, as well as its skepticism and intellectual distance in an era of Christian civil wars. Among the antiquarian networks which extended from central Europe into the far North, only England and Sweden, in the North-West of Europe, saw the codification of notions of folklore and oral tradition, allowing these ideas to pass ultimately into modern concepts of literature. In seventeenth century England, in the context of the Royal Society, the Oxonian scholar John Aubrey (1972) assembled the first monographic collection of native oral customs and traditions, focusing exclusively on local legends and superstitions. Aubrey, the virtuoso and amateur, was also the author of the first regional archaeological monograph as well as the first monograph on regional place-names. Here, we see
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an intensification of typically antiquarian knowledge and methods, culminating in the collection of a monograph. But why did this intensification take place in the late seventeenth century in England, and why did its theoretical generalization not take place until 70 years later, above all in the work of Johann Gottfried Herder? The answer lies in the specific history of the English reformation. In the context of the English break with Rome, anti-catholic polemicists – at least until the Restoration in 1660 – used the same methods as the antiquarians. To put it another way, many anti-catholic polemicists acted as local antiquarians, associating Roman Catholicism with ‘the Romans’ and in turn with paganism, in order to better destroy it. For these writers, ‘Roman’ meant ‘Roman Catholic’, which they saw as legitimating a residual pagan tradition found among the peasantry, and in parishes, monasteries and convents. Between them, by quoting and expanding on each other’s work in their collections and publications, anticatholic polemicists and local historians, on the one hand, and neutral antiquarians, royalists and Catholic antiquarians, on the other, created an object of research at the intersection of their common concern. This common object was called ‘antiquities’ or ‘popular antiquities’; it was also referred to as ‘oral tradition’ – so called because Catholic theologians defended many ‘unwritten verities’ which could not be documented in the Gospels by postulating their transmission through ‘oral tradition’. The later and ongoing success of the term ‘oral tradition’ contains within it a great historical irony, an irony that provides a link back to the era of the European religious wars. The textual doctrine of ‘Sola Scriptura’ and anti-catholic polemics against all ‘unwritten verities’ led, via antiquarianism and an emerging nostalgia for a destroyed past, to the designation of all ‘popular antiquities’ as ‘oral traditions’. In this way, they were neutralized in religious terms, recast as customs and traditions deriving not from the Christian Church but from a traditional native pagan world. Jacob and Wilhelm Grimm would invoke a similar justification – and similar ‘Alterthu¨mer’ – in their founding statements of German philology and ‘Volkskunde’ – then translated into English as ‘Folk-Lore’ – in the nineteenth century. From the early eighteenth century onwards, this oral tradition, and the corresponding antiquarian practices, could likewise be constructed in colonial settings – from the outset, ‘oral culture’ referred not only to the peasantry at home but to the ‘savages’ found in the colonies and along the trade routes. The religious neutrality operative in European concepts of folklore also functioned in the colonial realm. Phenomena which missionaries saw as ‘superstition’ or worse, could also be understood as literary tradition, as poetry or literature or rhetoric to be included within world literature, as in the exemplary analyses of Lafitau, the missionary and researcher of North American Natives.
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What can we learn from this puzzling North-Western entanglement, and from this still largely unknown incident in the history of the formation of world literature? At a minimum, I would suggest the following: the key generalizing factor associated with modern conceptions of literature and ‘world literature’ was not the generalization of ‘poetry’ or ‘literary prose’ or ‘fiction’ – notions which contemporary literary theory appears to be reverting to. Nor can we posit the universalization of rhetoric and its consequent ‘Aufhebung’ as central. Rather, the key factor was the capacity to provincialize one’s own past tradition as well as every other oral tradition in the world, making every imperial province a center of a world of one’s own, and of world literature. The modern concept of literature and of world literature is based on this puzzling European desire to provincialize its own territories – in the sense of the Roman term province as well as in the sense that each provincial oral tradition is in this way allowed a worldliterary claim and horizon. The title of Dipesh Chakrabarty’s book Provincializing Europe (2000) is entirely appropriate here. Yes, Europe did provincialize itself and the rest of the world – and it would now be a grave error to renounce this achievement in favor of the hegemony of an academic or artistic cosmopolitan elite. Without this capacity for an egalitarian literary ‘provincialization’ and the centering of each oral world, the concept of world literature will die. It will disappear just at the moment when the globalization of literature, along with its global institutions – the book trade, the university and UNESCO initiatives – appears to have been realized. The task of comparative literature and of literary studies remains the care and cultivation of the now untimely concepts of modern literature, including the idea of world literature. In doing so, it will contribute to the knowledge of world history, and vice versa.
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David Damrosch
Plus c¸a change? Die Komparatistik im globalen Zeitalter
Gegenwa¨rtig befindet sich die Komparatistik in einer rasanten Umbruchsphase. In einem historischen Paradigmenwechsel erweitert das Fach seinen traditionellen Horizont und la¨sst die einseitige Betonung der großen west-europa¨ischen Literaturen hinter sich. Wir befassen uns heute mit einer viel gro¨ßeren Bandbreite an Sprachen und Kulturen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der europa¨ischen Grenzen. Beglu¨ckend sind dabei die von dieser globalen Perspektive gebotenen Mo¨glichkeiten; ernu¨chternd hingegen die Schwierigkeiten solcher Forschungsvorhaben. Einige Vertreter unseres Fachs – zuletzt Emily Apter (Against World Literature, 2013) – nehmen diese Schwierigkeiten zum Anlass, die neuen ‚World Literature Studies‘, wie sie sich in den letzten Jahren in der amerikanischen Komparatistik herausgebildet haben, generell in Frage zu stellen. In der festen Annahme, dass unsere Disziplin in den Vereinigten Staaten in einer Art Zeitschleife gefangen sei, beurteilen sie die heutige Auseinandersetzung mit dem Konzept der Weltliteratur als eine bloße Wiederkehr bestimmter (nach ihrer Ansicht unproduktiver) a¨lterer Ansa¨tze: der Allgemeinen Literaturwissenschaft der 1950er Jahre, des Poststrukturalismus der 1960er Jahre oder des Multikulturalismus und der postkolonialen Theorie der 1970er und 1980er Jahre. Vielleicht a¨hnelt die Komparatistik den gegenwa¨rtigen Broadway-Spielpla¨nen, die seit Jahren von glitzernden Neuinszenierungen einschla¨giger Musical-Klassiker beherrscht werden: plus c¸a change, plus c’est les meˆmes shows? Diese Kritik an philologisch und kulturell unbegru¨ndeter literarischer Forschung befu¨rworte ich ohne Einschra¨nkung. Ebenso einhellig erachte ich es fu¨r unangebracht, literarischen Texten eine reduktionistische, multikulturelle Identita¨tspolitik aufzuerlegen oder ihnen vermeintlich universale, doch vornehmlich von europa¨ischen Normen ausgehende, Literaturtheorien aufzuzwingen. Ich finde diese Probleme allerdings weder symptomatisch fu¨r die gegenwa¨rtigen Ansa¨tze im Bereich der Weltliteratur noch kann ich einen grundlegenden Konflikt zwischen der Komparatistik und dem aufkeimenden Forschungsgebiet der Weltliteratur erkennen. Die Weltliteraturstudien vernachla¨s-
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sigen keineswegs die philologischen Standards der Komparatistik, vielmehr fu¨hren die besten Arbeiten auf dem Gebiet die Traditionen des Fachs fort und profitieren davon in einem sich vergro¨ßernden Feld nationaler Literaturen sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas. Das wiederauflebende Interesse an der Weltliteratur ist ein Indikator fu¨r unser sich weitendes Feld und die globalen Perspektiven unseres Fachs, und es ist damit kein Gegenentwurf, sondern eine sinnvolle Fortschreibung der Geschichte der Komparatistik. Bis in die Mitte der 1990er Jahre war die Welt der Vergleichenden Literaturwissenschaft in erster Linie eine westeuropa¨ische Welt. In seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der ‚Weltliteratur‘ aus dem Jahre 1960 behauptete der schweizerisch-amerikanische Komparatist und Begru¨nder des Yearbook of Comparative and General Literature Werner Friederich: Apart from the fact that such a presumptuous term makes for shallowness and partisanship which should not be tolerated in a good university, it is simply bad public relations to use this term and to offend more than half of humanity […]. Sometimes, in flippant moments, I think we should call our programs NATO Literatures – yet even that would be extravagant, for we do not usually deal with more than one fourth of the 15 NATO-Nations.1
Doch Friederich empfahl keineswegs eine territoriale Erweiterung der Vergleichenden Literaturwissenschaft u¨ber die wenigen beliebten NATO-Nationen hinaus, sondern wollte die Benennung ‚Weltliteratur‘ ganz und gar ad acta legen. In diesem Zusammenhang fa¨llt auf, dass fu¨r Friederich der Begriff ‚Allgemeine Literatur‘ keineswegs eine globale Weltliteratur – die er perso¨nlich ablehnte – bedeutete; in seiner Zeitschrift war ‚General Literature‘ vielmehr als ein umfassender Begriffsrahmen fu¨r Gattungstheorie und Poetik zu verstehen. In diesem Sinne hat die Allgemeine Literaturwissenschaft den Weg fu¨r den Theorieboom der spa¨ten 1960er und der 1970er Jahre gebahnt, und fo¨rderte so eine Ausweitung des Forschungsgegenstandes u¨ber die engen Grenzen der „e´cole franc¸aise“ hinaus, deren detailreiche literaturhistorische Arbeiten Rene´ Wellek mit spitzer Feder als einen eingeschra¨nkten „Außenhandel“ („foreign trade“) verspottete.2 ¨ bereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Zeitgeist bemu¨hte sich In U auch die AILC / ICLA in den ersten vier Jahrzehnten ihrer Existenz vor allem um die europa¨ischen Sprachen und Literaturen, wie man an ihrem herausragenden mehrba¨ndigen Editionsprojekt Comparative History of Literatures in European Languages sehen kann, das nach 40 Jahren auf beeindruckende 26 Ba¨nde und fast 17.000 Seiten angewachsen und keineswegs abgeschlossen ist. Erst 1995 begann die ICLA mit der Gru¨ndung eines „Committee on Intercultural Studies“ 1 Friederich, S. 14 f. 2 Wellek 1960.
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außereuropa¨ische Sprachen und Literaturen ernsthaft zu erforschen. Diese Initiative wurde nur wenige Jahre nach der ICLA-Tagung in Tokyo (1991) ergriffen – der ersten Zusammenkunft des Verbandes an einem nicht-westlichen Ort. Seit Tokyo wurde bewusst jede zweite ICLA-Tagung an einem Ort außerhalb der europa¨isch-nordamerikanischen Welt veranstaltet. Die Perspektivenerweitung der ICLA fiel nicht ohne Grund zusammen mit einem globalen Interesse der Komparatistik, u¨ber ‚Weltliteratur‘ als Begriff und als methodischen Rahmen neu nachzudenken. Wie die ICLA war auch die American Comparative Literature Association bis zur Mitte der 90er Jahre in ihrer Ausrichtung eurozentrisch und wurde von (nord-)amerikanischen Mitgliedern dominiert; oftmals nahmen nur ein paar internationale Teilnehmer an den ja¨hrlichen Kongressen teil. In den letzten Jahren hat sich die ACLA bezu¨glich ihrer Mitglieder wie auch im Themenspektrum weit geo¨ffnet; Literaturwissenschaftler aus mehr als 50 La¨ndern kommen auf unseren Kongressen zusammen. Es steht außer Frage, dass ernsthafte komparatistische Forschung Texte unter Bezugnahme auf den sprachlichen und kulturellen Kontext ihrer Entstehung behandeln muss – doch mo¨chte ich hinzufu¨gen, dass Texte eine authentische Pra¨senz in verschiedenen Kontexten erlangen und somit nicht auf nur eine Originalsprache verengt werden ko¨nnen. In der amerikanischen Komparatistik ¨ bersetzungen in Lehre und Forwird daher kontrovers diskutiert, inwieweit U schung in Betracht gezogen werden sollten (siehe z. B. Apter 2013 und Brown 2011). Es bleibt jedoch dabei, dass die u¨berwiegende Mehrzahl der mir bekannten Literaturforscher zu Texten arbeiten, die sie im Original lesen ko¨nnen. Wie Gerald Gillespie 2004 argumentiert: To the degree possible, we should approach these in the original language of expression, but aspects of their movement over various boundaries may make attention to translated versions especially pertinent; and it is preferable to fall back on translations of languages of lesser diffusion in one’s host culture rather than totally ignore literary expression in them.3
Ein Vorteil der neuen weltliterarischen Orientierung ist die Tatsache, dass Forscher sich nun versta¨rkt Sprachen ‚kleinerer Diffusion‘ zuwenden. Oftmals begegnen uns jetzt Forschungen zu wichtigen Werken, die ehemals in der Vergleichenden Literaturwissenschaft vernachla¨ssigt, wenn nicht gar ausgeschlossen wurden, z. B. zu Literatur, die in den antillischen Kreolsprachen geschrieben ist (Apter, Lionnet), zu zeitgeno¨ssischer tu¨rkischer Literatur (Kadir, Ertu¨rk) und zum Gebrauch des Altjavanischen innerhalb der „arabischen Kosmopolis“ (Ricci). In diesem Zusammenhang kann ich aus perso¨nlicher Sicht sagen, dass sich 3 Gillespie 2004, S. 264.
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die Lage seit Mitte der 1970er Jahre entscheidend verbessert hat. Als ich als Doktorand um die Erlaubnis bat, einen Kurs in Nahuatl zu belegen, drohte mir der fu¨r Studienbelange in Yale zusta¨ndige Professor, A. Bartlett Giamatti, noch – nur halb im Spaß – mich aus dem Fenster zu werfen. Als Princeton University Press hingegen 2003 mein Buch What Is World Literature? verlegte, schaffte sich der Verlag ohne Murren einen Hieroglyphenschriftsatz an, der fu¨r das Kapitel u¨ber alta¨gyptische Dichtkunst no¨tig war. Trotz seiner bereits u¨ber fu¨nfzigja¨hrigen Tradition, in der der Verlag Bu¨cher von Auerbach, Curtius, Northrop Frye und weiteren Komparatisten verlegt hatte, ergab sich nie die Gelegenheit, in einer komparatistischen Monographie alta¨gyptische Lieder im Original wiederzugeben. (Meines Wissens gilt dies ebenso fu¨r aztekische Dichtung in Nahuatl.) Erst der Rahmen der Weltliteratur gab mir die Mo¨glichkeit, diese herrli¨ gypchen poetischen Traditionen jenseits des kleinen Kreises eingeweihter A tologen oder Altamerikanisten zu diskutieren. Im genannten Buch charakterisiere ich meinen Zugang zu zeitlich oder kulturell entfernten Literaturen als eine Lektu¨re „with a detached engagement“. Diese Formulierung bedarf einer Erkla¨rung: Sie soll ein wirkliches Engagement, eine Einlassung in philologischer wie kultureller Hinsicht, beschreiben, auch wenn sich der Gegenstand dem unmittelbaren Erlebnis entzieht. Eine gute Kenntnis der Originalsprache kann die Alterita¨t eines entfernten Werkes nie vo¨llig auflo¨sen. Dieses Bewusstsein wird von George Seferis in seinem herrlichen Gedicht zu Homers Odyssee eloquent zum Ausdruck gebracht, wenn er „P\my ¨ ber eine ausla¨ndische Strophe“) spricht. Ohne Frage s’]mam n]mo st_wo“ („U wollen wir so vielen weltliterarischen Werken wie mo¨glich in der Originalsprache und mit gru¨ndlicher Kenntnis ihrer Ursprungskultur begegnen, doch mu¨ssen wir auch Werke, Zeiten und Kulturen, die uns ferner erscheinen, betrachten. Selbst wenn wir u¨ber die relevante Sprache und das kulturelle Wissen nicht perso¨nlich (oder nur eingeschra¨nkt) verfu¨gen, sind wir keineswegs dazu verdammt, bei dilettantischen Impressionen stehen zu bleiben oder der weniger vertrauten Literatur unsere eigenen Normen aufzuzwingen. Die Zusammenarbeit mit erfahrenen Wissenschaftlern verschiedener Gebiete ist hier der gebotene Ausweg und wird von einer Vielzahl der in der Weltliteratur Forschenden erfolgreich praktiziert. Selbst wenn die Mo¨glichkeit eines direkten Austausches nicht gegeben ist, steht uns immer noch der reiche Schatz der Fachliteratur zur Verfu¨gung, um uns mit den speziellen kulturellen Gegebenheiten vertraut zu machen. So greift Franco Moretti in seiner Studie zur globalen Verbreitung des Romans auf seinen Ansatz des „distant reading“ zuru¨ck und verwendet explizit das gesammelte Wissen einer Vielzahl spezialisierter Literaturgeschichten. Wie Moretti in seinen „Conjectures on World Literature“ unterstreicht, besitzt die Gesamtheit der Literaturhistoriker dieser Welt das philologische und kulturelle
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Wissen, das sich kein Einzelwissenschaftler (und auch keine kleine Forschungsgruppe) aneignen kann.4 *
Bereits in Death of a Discipline a¨ußert Gayatri Spivak die Befu¨rchtung, dass die gewachsene philologische Kompetenz der Vergleichenden Literaturwissenschaft, die feinko¨rnige Analyse der Texte in ihren verschiedenen Originalsprachen, heute von einer philologisch wie kulturell ignoranten Weltliteraturforschung (vor allem an US-amerikanischen Anglistik-Instituten angesiedelt) verdra¨ngt werden ko¨nnte. Spivak warnt vor der durch ein globales Englisch befo¨rderten, weltweiten Ausbreitung der provinziellen amerikanischen Perspektive. Doch verhindert der Aufstieg des Englischen an sich keineswegs die genaue Kenntnis vieler Sprachen und Literaturen. So gibt es ambitionierte Weltliteratur-Studienga¨nge auf Chinesisch an der Universita¨t Peking und auf Da¨nisch in Aarhus, um nur zwei Beispiele zu nennen. Außerdem bietet Englisch als lingua franca ein wertvolles Kommunikationsmittel u¨ber viele Sprachgrenzen hinweg; mittels Englisch ko¨nnen Wissenschaftler/innen weltweit ihre besonderen Fachkenntnisse miteinander teilen. Das konnte ich ju¨ngst bei Besuchen in Bukarest, Hanoi, Seoul und Teheran feststellen, wo Gelehrte aus verschiedenen La¨ndern ihre Forschungsergebnisse austauschen konnten und dies oftmals u¨ber „kleine Literaturen“, die von fru¨heren Generationen der Komparatistik kaum wahrgenommen wurden. Auf sinnvolle Weise genutzt, bietet Englisch ein wirksames Gegenmittel gegen den Eurozentrismus. Es ist wahr, dass Einfu¨hrungskurse an nordamerikanischen Universita¨ten ¨ bersetzungen verlassen, doch ist dies kein neuer Besich hauptsa¨chlich auf U fund. Immer schon haben Studenten in Seminaren u¨ber die ‚Westliche Zivili¨ bersetzung gelesen. Die sation‘ die Bibel, Platon, Cervantes und Dostojewski in U Namen vietnamesischer oder yorubasprachiger Autoren auf den Seminarpla¨nen schreiben somit eine erprobte Praxis fort und sind eigentlich keine beunruhigende Neuigkeit. Neu hingegen ist der Aufstieg des Englischen zur Weltsprache, der die Angst schu¨rt, dass dessen linguistische Vormachtstellung andere literarische Kulturen verschlingen ko¨nnte. In der US-amerikanischen Hochschullandschaft befinden sich die Weltliteraturkurse keinesfalls in der ‚Geiselhaft‘ der Anglistik. Heute gibt es in Nordamerika drei maßgebliche weltliterarische Anthologien, von denen nur eine (Bedford) als eine Zusammenarbeit von fu¨nf Anglistikprofessoren (noch dazu an nur einer Institution) diesem Muster ent-
4 Morettis Programm hat erhebliche Kontroversen provoziert; fu¨r eine gerechte, unpolemische Bewertung, siehe Thomsen 2012. Beispiele innovativer Forschung, die von Moretti angeregt wurde, bieten Tanoukhi 2008 und Thomsen 2008.
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spricht. Ganz anders ist es um die Longman Anthology of World Literature5 bestellt: Unter den Redakteuren finden sich Namen wie Sheldon Pollock (Sanskrit und weitere indische Sprachen), Pauline Yu und Haruo Shirane (Ostasien), Sabry Hafez (arabische Literatur) und der vielsprachige Polyhistor Djelal Kadir; zu ihnen gesellen sich noch ein halbes Dutzend Fachleute, deren Kompetenz sich von den europa¨ischen Literaturen der klassischen Antike bis zur Gegenwart erstreckt. Nicht einer dieser zwo¨lf Redakteure und Redakteurinnen steht der multikulturellen Identita¨tspolitik nahe. In der Tat erfreute sich der Multikulturalismus einer gewissen Beliebtheit bei einigen Komparatisten der 1980er Jahre und fru¨hen 1990er Jahre,6 doch ist diese Modewelle in den letzten beiden Jahrzehnten fast vo¨llig verebbt. Die Entwicklung weg vom Eurozentrismus der Anglistik zeigt sich deutlich anhand der meistgekauften Norton Anthology of World Literature. Erstmals unter dem Titel The Norton Anthology of World Masterpieces (unter der Leitung des Yale-Anglisten Maynard Mack) vero¨ffentlicht, konzentrierte sich die Norton Anthology auf die traditionellen westlichen literarischen ‚Großma¨chte‘: antikes Griechenland, Italien, Frankreich, Deutschland, Russland und England. Nichtwestliche Texte waren schlicht nicht vertreten, aber auch keine einzige Schriftstellerin gleich welcher Herkunft fand sich im Inhaltsverzeichnis. Doch 1995 – genau im Jahr der Gru¨ndung des „Committee on Intercultural Studies“ bei der ICLA – wurde die Norton Anthology neu vero¨ffentlicht. Unter Mitwirkung der Komparatistin Sarah Lawall wurden in die stark erweiterte Neuauflage eine Reihe asiatischer, afrikanischer und arabischer Schriftsteller (und Schriftstellerinnen!) aufgenommen, und mit den Nachtgesa¨ngen der Navaho-Indianer ließ die Auswahl selbst die Grenze der Schriftlichkeit als vermeintlich literaturbestimmender Gro¨ße hinter sich. 2012 erschien die Norton Anthology neu kompiliert von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Martin Puchner, mit wichtigen Vertretern vieler außereuropa¨ischer sowie ‚kleinerer‘ europa¨ischer Literaturen. Unabha¨ngig von der Unterrichtssprache sollte ein guter Einfu¨hrungskurs die Studenten anregen, neue Sprachen zu lernen und danach im Ausland ihre neuerworbenen linguistischen Fa¨higkeit zu verfeinern. So erging es zumindest mir, als ich mich als Erstsemester in einem Einfu¨hrungskurs in die Kunstgeschichte wiederfand. Wa¨hrend der Vorbereitung meiner Semesterarbeit u¨ber aztekische Malerei entdeckte ich Miguel Leo´n-Portillas eloquentes Buch Aztec Thought and Culture, in dem er viele Nahuatl-Gedichte zitiert, um die aztekische Denkwelt zu erla¨utern. Ich war bezaubert von diesen Gedichten, obwohl ich sie ¨ bersetzung las, die wiederum auf Leo´n-Portillas spanischer in einer englischen U 5 Damrosch (u. a.) 2004. 6 Vgl. Bernheimer 1993.
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¨ bersetzung aus dem Nahuatl beruhte. Ich beschloss, die Sprache eines Tages zu U lernen. Diese Gelegenheit ergab sich vier Jahre spa¨ter in einem Anthropologiekurs fu¨r Doktoranden, dessen Teilnehmerzahl sich verdoppelte, als ich mich – da mein Betreuer Giamatti mich trotz seiner Drohung nicht aus dem Fenster geworfen hatte – dafu¨r einschrieb. Wenn ich meine eigene Einfu¨hrung in die Weltliteratur unterrichte, kann ich nie voraussehen, welcher Schriftsteller oder welche Schriftstellerinnen von welchem Studenten oder welcher Studentin als besonders ansprechend empfunden werden, doch hoffe ich, dass sich fu¨r viele eine a¨hnlich unvorhersehbare Erfahrung einstellt. Abgesehen von einigen „heritage“-Studenten, die bereits eine familiengeschichtliche Verbundenheit zu einem Gegenstand mitbringen, wird sich kaum eine Studentin fu¨r ein Sanskritstudium und kaum ein Student fu¨r die Lektu¨re von Hindi-Lyrik – oder deutschen Romanen – entscheiden, wenn sie ¨ bersetzungen nicht vorher bereits Kalidasa oder Kabir oder Kafka in guten U gelesen haben. Der aktuelle Bericht der Association of Departments and Programs in Comparative Literature zum Stand der Lehre im Bereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft zeigt, dass viele Studienga¨nge weiterhin das Sprachstudium verpflichtend vorschreiben.7 In Harvard verlangen wir von unseren B. A.-Studenten seit langem neben Englisch eine zweite Sprache; bei unserer letzten hausinternen Evaluation konnten wir feststellen, dass manche unserer Studenten tatsa¨chlich in zwei oder sogar mehr Fremdsprachen arbeiten. Wir haben unsere Studienordnung daraufhin vera¨ndern mu¨ssen, um Raum fu¨r solche mehrsprachigen Kurspla¨ne zu schaffen. Heute studieren Komparatisten viel mehr Sprachen als in der eurozentrischen Epoche, in der ich Doktorand war. An meinem Institut studiert man jetzt u. a. Altslawisch, Arabisch, Deutsch, Hindi, Japanisch und Wolof. Nicht nur an den Eliteuniversita¨ten prosperieren weltliterarische Studienprogramme. Exemplarisch fu¨r die Erweiterung unseres Faches ist der ACLAKongress 2011, ausgerichtet von der Simon-Fraser-Universita¨t (Vancouver) unter dem Thema „Weltliteratur, Vergleichende Literatur“. Das Weltliteraturprogramm der SFU ist ein herausragendes Beispiel fu¨r eine innovative Studienprogrammatik. Die SFU gru¨ndete ihren noch recht neuen Studiengang vor einigen Jahren auf dem Satellitencampus in Surrey am Rande Vancouvers, einem Campus, dessen Studentenschaft sich vornehmlich aus den umliegenden Arbeiter- und Immigrantenfamilien zusammensetzt. Die SFU-Komparatisten erkannten schnell, dass ein traditioneller Komparatistikstudiengang mit dem typischen Akzent auf Theorie und einigen wenigen Sprachen sich fu¨r den Standort kaum eignet. Stattdessen entschieden sie sich fu¨r ein ‚World Literature Program‘, das seinen zuku¨nftigen Studenten auf der hauseigenen Homepage verspricht, 7 Scheiner / Aragon / Baum 2006.
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die globalisierte Welt besser verstehen zu lernen.8 Sprachstudium und Auslandssemester sind integraler Bestandteil des Studienganges. Nach nur einigen Jahren sind die Studentenzahlen dreimal ho¨her als erwartet und mit Sicherheit hat das Programm viel mehr Arbeiter- und Immigrantenkinder als ein klassischer Studiengang in Vergleichender Literaturwissenschaft haben ko¨nnte. Aufgrund des Erfolges konnte die SFU zusa¨tzlich junge Fachleute fu¨r arabische und persische Literatur einstellen – Sprachen und Literaturen, die man ohne die weltliterarische Ausrichtung sonst nie auf diesem Campus (wie auch nicht in der Mehrzahl a¨lterer Komparatistikprogramme) finden wu¨rde. In einer rasanten Umbruchphase ist der beste Maßstab fu¨r das Potential des Faches die Arbeit junger Nachwuchswissenschaftler. In den ju¨ngsten weltliterarischen Studien finden wir ein ansteigendes Interesse an Sprache und Kultur in globaler Dimension. Hier seien nur einige Beispiele genannt. Nach ihrem ersten Buch u¨ber chinesische philosophische Texte verknu¨pfte Wiebke Denecke (Boston University) ihre Expertise aus ihrem Go¨ttinger Studium der Altphilologie mit ihrer spa¨teren Ausbildung in Sinologie und Japanologie in ihrer Monographie Classical World Literatures, einem Buch, das weit u¨ber die wertvolle a¨ltere vergleichende Poetik von Earl Miner hinausgeht, indem sie das Verha¨ltnis des fru¨hen Japans zu seiner literarischen Referenzkultur Chinas mit dem Verha¨ltnis ro¨mischer Kultur zur griechischen Rhetorik und Poetik vergleicht. Als zweites Beispiel mo¨chte ich meine Kollegin Karen Thornber anfu¨hren, deren erstes Buch Empire of Texts in Motion (2009) international ausgezeichnet wurde, u. a. mit Preisen der ICLA und der Japanese Studies Association. Dank ihrer Sprachkenntnisse des Japanischen, Chinesischen und Koreanischen war sie in der Lage, mit vielen nicht u¨bersetzten Werken in allen drei Sprachen zu arbeiten, und dabei gelang es ihr, fu¨r das fru¨he 20. Jahrhundert literarische Wechselbeziehungen im ostasiatischen Raum in einer bisher unbekannten Dichte und Komplexita¨t zu belegen. Nach einer zweiten komparatistischen Monographie, die den Ecocriticism fu¨r die ostasiatischen Literaturen fruchtbar gemacht hat (Ecoambiguity, 2012), forscht Thornber neuerdings auch zu Hindi und Urdu, um in einem neuen Projekt den ostasiatischen Raum mit Indien in Beziehung zu setzen. Denecke und Thornber sind nur zwei Beispiele, die die im Rahmen der neuen Weltliteraturstudien ero¨ffneten Mo¨glichkeiten veranschaulichen; beide sind Forscherinnen der Weltliteratur. Thornber arbeitet zu transkulturellen Literaturbeziehungen in globaler Perspektive, wa¨hrend Denecke als Herausgeberin in der ju¨ngsten Auflage der Norton Anthology of World Literature fu¨r den ostasiatischen Raum verantwortlich war. Eine solch beeindruckende wissenschaftliche Arbeit na¨hert sich der Grenze dessen, was Einzelwissenschaftler leisten ko¨nnen. Es trifft sicherlich zu, dass es 8 http://www.fass.surrey.sfu.ca/wl1 [30. 01. 2014].
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einer erho¨hten wissenschaftlichen Kooperationsbereitschaft bedarf, um eine Literaturwissenschaft mit globaler Perspektive zu entwickeln. Immer mehr Komparatisten arbeiten zusammen an der weltliterarischen Perspektive in Lehre und Forschung. Mit beiden Bereichen befasst sich das neu gegru¨ndete World Literature Institute.9 Das IWL veranstaltet einmonatige Programme zur Theorie und Pa¨dagogik der Weltliteratur an wechselnden Veranstaltungsorten in Asien, Nordamerika, Europa und dem Mittleren Osten. Nach einer ersten Zusammenkunft in Beijing (2011) fand im Juli 2012 die zweite Tagung in Istanbul mit u¨ber 100 Teilnehmer(innen) aus 25 La¨ndern statt. Eine wachsende Gruppe von Universita¨ten und Forschungszentren – bisher 42 – unterstu¨tzen die Arbeit des IWL weltweit. All die Beispiele gemeinschaftlicher Weltliteraturforschung, ob unter dem Dach der ICLA, der ACLA oder des IWL, geho¨ren zu den Leuchttu¨rmen der Komparatistik. *
Ich hoffe, auf diesen Seiten etwas aus dem anregenden Bereich der neuen Weltliteratur-Forschung und -Lehre vorgestellt zu haben. Mehr kann man leicht im neuen Routledge Companion to World Literature finden,10 aber auch in den verschiedenen neuen Studien zum Begriff der Weltliteratur, vor allem bei Je´roˆme David, Theo D’haen (2012), Dieter Lamping und John Pizer, und in den wichtigen fru¨heren Artikeln von Hendrik Birus. Zum Schluss: Im Seminarraum, auf den Kongressen von ICLA und ACLA und in einer stetig wachsenden Zahl anspruchsvoller Forschungsarbeiten kann man wohl beobachten, wie die philologischen und kulturellen Kompetenzen echter Komparatistik praktisch umgesetzt werden. Unbestritten stoßen wir in dem Bemu¨hen, eine globale Perspektive der Literaturforschung zu entwickeln, auf große Herausforderungen. Bisweilen regen diese Schwierigkeiten heftige Debatten an, jedoch befo¨rdern dieselben Schwierigkeiten zugleich innovative pa¨dagogische und wissenschaftliche Lo¨sungsansa¨tze. Um unsere Welt besser zu verstehen und um unsere Disziplin sinnvoll weiterzuentwickeln, mu¨ssen in den folgenden Jahren Komparatisten aller Regionen, Spezialisten fu¨r alle Epochen, Literarhistoriker und Literaturtheoretiker, Deutsche und Amerikaner, mehr und besser zusammenarbeiten.11
9 www.iwl.fas.harvard.edu [30. 01. 2014]. 10 D’haen / Damrosch / Kadir 2011. 11 Ich danke Bjo¨rn Ku¨hnicke fu¨r die stilistische Bearbeitung dieses Essays.
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Die Welt der Weltliteratur. Denotationen und Konnotationen eines suggestiven Begriffs
1. Keine andere Begriffsbildung des spa¨ten Goethe hat eine so große Resonanz gefunden wie sein Wort von der Weltliteratur, das er gegen Ende seines Lebens, seit 1827, in Umlauf brachte. Im Vokabular der Literaturkritik hat der Ausdruck schnell seinen Ort gefunden, ebenso wie in der Terminologie der Literaturwissenschaft. Bis heute ist er einer ihrer wenigen auratischen Begriffe. Mit der Geschichte der Komparatistik ist er auf das Engste verknu¨pft, nicht zuletzt durch die ungefa¨hr gleichzeitige Entstehung der ‚litte´rature compare´e‘ in Frankreich.1 Bis heute sind mit dem Begriff zentrale Probleme – nicht nur, aber vor allem – der Vergleichenden Literaturwissenschaft verbunden: die Einteilung der Literatur in einzelne Literaturen, deren Verha¨ltnis zueinander, ihr Zusammenhang und Zusammenhalt. Insbesondere das Verha¨ltnis von National- und Weltliteratur, die Internationalita¨t mancher Literatur und die Internationalisierung einzelner Literaturen bis hin zur Globalisierung bescha¨ftigen die Komparatistik mit unverminderter Dringlichkeit.2 Bezeichnenderweise wurde in vergleichsweise kurzer Zeit das neue deutsche Kunstwort ein Welterfolg. Im 19. Jahrhundert ist der Ausdruck erst in das Lexikon der deutschen Sprache eingegangen, dann als ‚litte´rature mondiale‘ oder ‚universelle‘ ins Franzo¨sische und als ‚world literature‘ ins Englische u¨bersetzt worden,3 außerdem etwa als ‚letteratura mondiale‘ ins Italienische,4 als ‚literatura universal‘5 ins Spanische oder als ‚mirowaja literatura‘ ins Russische. Weltliteratur ist la¨ngst ein geradezu weltla¨ufiger Ausdruck. Im Unterschied zu vielen anderen Vorstellungskomplexen des 19. Jahrhun1 2 3 4
Vgl. dazu etwa Birus 2007, S. 61 – 81. Vgl. dazu etwa Konstantinovic´ 1979; außerdem Ru¨diger 1972. Vgl. dazu etwa Pradeau / Samoyault 2005, oder Prendergast 2004. Vgl. etwa Gnisci 1991, darin insbes. die Beitra¨ge von Farinelli (S. 57 – 70) und Benedetto (S. 71 – 88). 5 Vgl. etwa Valbuena Prat 1965.
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derts ist der Begriff der Weltliteratur noch in Gebrauch und selbst außerhalb gelehrter Zirkel gela¨ufig. Autoren, sogar Politiker haben sich immer wieder, bis heute, auf ihn berufen. Im Nachwort zu seiner Anthologie Museum der modernen Poesie schreibt etwa Hans Magnus Enzensberger, die Lyriker der Moderne ha¨tten „unter sich ein Einversta¨ndnis erreicht, das wie nie zuvor die nationalen Grenzen der Dichtung aufgehoben und dem Begriff der Weltliteratur zu einer Leuchtkraft verholfen hat, an die in anderen Zeiten nicht zu denken war“.6 Andre´ Franc¸ois-Poncet, der spa¨tere erste franzo¨sische Botschafter in Bonn, nannte 1949 Goethe einen „Leitstern“ fu¨r ein „einiges Europa“7 – vor allem wegen seiner Idee der Weltliteratur, die der promovierte Germanist eingehend und kundig wu¨rdigte. Sich auf Goethe zu berufen, wenn die Rede auf Weltliteratur kommt, ist noch immer die Regel. Nicht jedes Mal ist das jedoch so triftig wie im Fall Enzensbergers und Franc¸ois-Poncets. Tatsa¨chlich hat sich der Ausdruck im Lauf seiner bald zweihundertja¨hrigen Geschichte mit mancherlei Bedeutungen angereichert, die bei Goethe nicht zu finden sind. Zwei Bedeutungen haben sich fru¨h herausgebildet und sind bis heute dominant geblieben: die qualitative und die quantitative.8 Weltliteratur, qualitativ verstanden, meint die ‚großen‘, die ‚unverga¨nglichen‘, die ‚Zeiten u¨berdauernden‘ Werke der Literatur :9 den Kanon10 der klassischen Texte, die, mit den Worten Fritz Strichs, „nicht nur eine u¨bernationale, sondern auch eine u¨berzeitliche Gu¨ltigkeit“11 erlangt haben. Fu¨r dieses Versta¨ndnis von Weltliteratur hat am Ende des 19. Jahrhunderts Georg Brandes die Formel vom literarischen „Weltruhm“12 gefunden. Neben dem qualitativen ist heute auch ein quantitatives Versta¨ndnis von Weltliteratur ga¨ngig. So gebraucht, meint der Ausdruck nichts anderes als die Summe aller Literaturen der Welt, alter wie neuer, großer wie kleiner, mu¨ndlich wie schriftlich u¨berlieferter. In der Komparatistik verbindet sich mit einem solchen Begriff von Weltliteratur seit Rene´ E´tiembles viel beachtetem Einspruch gegen den traditionellen Kanon13 Kritik an einem zumindest literarischen – letztlich aber wohl auch kulturellen und politischen – Eurozentrismus und ein Pla¨doyer fu¨r die Einbeziehung insbesondere afrikanischer und asiatischer Literatur. 6 Enzensberger 2002, S. 773. 7 Goethe-Feier 1949, S. 19. 8 Diese inzwischen weitgehend gela¨ufige Unterscheidung findet sich in der Sache schon bei Ru¨diger 1972, S. 51. 9 Vgl. z. B. Geppert 1990. 10 Zum Problem des literarischen Kanons vgl. z. B. Moog-Gru¨newald 1997, sowie Kaiser 2001. 11 Strich 1957, S. 16. 12 Brandes 1899, S. 1 – 5. 13 Vgl. E´tiemble 1975, S. 15 – 36. Zur Fortfu¨hrung der Diskussion vgl. etwa Riesz 1983, S. 140 – 148, sowie ders. 2002, S. 251 – 259.
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Wa¨hrend sich die Literaturwissenschaft mit dem normativen Begriff schwertut, auch wenn er nur die praktische Seite ihrer theoretischen Diskussion der Kanon-Probleme darstellt, hat sie den quantitativ-globalen in verschiedener Hinsicht empirisch weiterentwickelt. Dabei hat sie zum einen die Distribution und Rezeption von Literatur in den Mittelpunkt gestellt. David Damrosch etwa benutzt den Begriff ‚world literature‘, um Werke zu bezeichnen, die außerhalb der Literatur und der Sprache, in der sie geschrieben wurden, Verbreitung gefunden haben: „to encompass all literary works that circulate beyond their culture of origin, either in translation or in original language“.14 ‚Weltliteratur‘ bekommt so eine weit gefasste Bedeutung: „In its most expansive sense, world literature could include any work that ever reached beyond its home base“.15 Einen thematischen Akzent haben dagegen neuere, soziologische und politische Konzepte von Weltliteratur, die vor dem Hintergrund des Postkolonialismus und der Globalisierung entstanden sind. Was diesen Versuchen einer Aktualisierung von Goethes Idee gemeinsam ist, bei allen Unterschieden im Einzelnen, ist die Festlegung der Weltliteratur auf einen mo¨glichst globalen Diskurs, in dem die Probleme der Welt verhandelt werden. Fu¨r sie ist – pointiert formuliert – Weltliteratur, mehr noch als eine Ware fu¨r den Weltmarkt, ein herrschaftsfreies Medium interkulturellen Ausgleichs oder eine politikkritische Reflexionsinstanz der Globalisierung. Weltliteratur wird so an politische und o¨konomische Entwicklungen gebunden, denen sie nach diesen Theorien ihre Entstehung und ihre Eigenart verdankt. Mit Goethes Versta¨ndnis von Weltliteratur haben diese Konzepte oft nur noch ¨ berlegungen, die entfernt, mitunter gar nichts mehr zu tun. Im Zentrum seiner U ich hier nicht detailliert darlegen muss, stehen Vorstellungen von einem Austausch zwischen Autoren.16 Goethe erkannte am Ende seines Lebens, dass durch a¨ußere Umsta¨nde, politische, o¨konomische, technische, sich neue Mo¨glichkeiten grenzu¨berschreitender Kommunikation unter Schriftstellern ero¨ffneten. Sie schienen u¨ber gro¨ßere Entfernungen schneller und leichter miteinander in Kontakt treten, sich auch perso¨nlich kennenlernen und ihre Werke austauschen zu ko¨nnen. Goethe sah dabei durch die wechselseitigen Bezugnahmen von Autoren verschiedener Nationalita¨t auf ihre Texte eine Literatur entstehen, die mit nationalen Kategorien nicht mehr zu beschreiben ist. Er nahm an, dass die einzelnen Nationalliteraturen durch diese Weltliteratur vera¨ndert und in ihrer Entwicklung vorangetrieben wu¨rden. Zugleich war er u¨berzeugt, dass sie aber auch die Versta¨ndigung zwischen den Nationen fo¨rdern und vor allem zu wechselseitiger Toleranz beitragen werde. 14 Damrosch 2003, S. 4. 15 Ebd., S. 4. 16 Vgl. dazu ausfu¨hrlicher Lamping 2010.
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Durch die konzeptionelle Differenz zwischen Goethes Vorstellung und der ¨ spateren Verwendung von ‚Weltliteratur‘ wird die Eigengesetzlichkeit augenfa¨llig, die die Geschichte dieses Begriffs kennzeichnet. Die Akzente sind schon im 19., erst recht im 20. Jahrhundert durchweg anders gesetzt worden, als Goethe es getan hat. Die von ihm eingefu¨hrte Bezeichnung hat sich schnell von der Bedeutung abgelo¨st, die er mit ihr verbunden hat. Der Erfolg des Ausdrucks gru¨ndet auf erheblichen Bedeutungsverschiebungen. Diente er Goethe noch dazu, eine aktuelle, eben erst einsetzende Epoche zu bezeichnen, so wurde er schon bald auch auf fru¨here Literatur, nicht selten sogar auf die gesamte Geschichte angewendet. Diese Bedeutungs-Erweiterung ging mit einem Wechsel der Kategorien einher. Bezeichnete Goethe mit dem Wort Kontakte zwischen Autoren und deren Texten, meinen fast alle spa¨teren Benutzer zuna¨chst, ja oft ausschließlich Texte, kaum einmal Kontakte. Mitunter verlor das Wort dann nicht nur seine historische Signatur, indem es typologisch fu¨r eine geschichtlich nicht begrenzte Gruppe von Werken benutzt wurde, sondern auch noch seinen empirischen Charakter, indem es in einen normativen Ausdruck verwandelt wurde. Am Ende ist Goethes spezielles Versta¨ndnis fast nur den Literarhistorikern in Erinnerung geblieben. Die diversen Auslegungen, die der Begriff der Weltliteratur in seiner beinahe zweihundertja¨hrigen Geschichte erfahren hat, lassen ihn als einen ebenso erfolgreichen wie dehnbaren Ausdruck erscheinen, der durch die unterschiedlichsten Verwendungsweisen hindurchgegangen ist und sich dabei vor allem als anregend erwiesen hat. Die ‚Wandelbarkeit‘ des Begriffs ist offenbar die Voraussetzung fu¨r seinen Erfolg gewesen.
2. Dass Goethes Begriff von Weltliteratur bis heute nicht anna¨hernd derselbe Erfolg beschieden gewesen ist wie dem Wort, das sich semantisch verselbsta¨ndigt und stetig von seiner urspru¨nglichen Bedeutung entfernt hat, ist nicht schwer zu erkla¨ren. Den Ausdruck zu verwenden war sehr viel leichter, als sich des Sinnes zu vergewissern, den Goethe ihm gegeben hat. Seine verstreuten Bemerkungen waren nicht immer alle zuga¨nglich und sie in eine sinnvolle Ordnung zu bringen verlangt eine gewisse Mu¨he. Dagegen scheint das Wort, suggestiv, wie es ist, zum ungefa¨hren Gebrauch geradezu einzuladen, zumal es angesichts der unsyste¨ ußerungen Goethes sehr viel offener erscheinen mag, als es anfangs matischen A gemeint war. ‚Weltliteratur‘ ist schon sprachlich ein imposanter Ausdruck, von dem eine ganz eigene Faszination ausgeht. Das Wort selbst geho¨rt zu einem ganzen Feld a¨hnlicher Komposita, die Goethe gebrauchte: von der ‚Weltfro¨mmigkeit‘, dem ‚Weltgeist‘ und dem ‚Welt-
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gott‘ u¨ber die ‚Weltgescha¨fte‘, die ‚Weltkenntnis‘ und das ‚Weltkind‘ bis hin zu dem ‚Weltmann‘ (und der ‚Weltdame‘), dem ‚Weltschicksal‘ und dem ‚Weltverstand‘ – ga¨ngige Ausdru¨cke wie ‚Weltgeist‘ oder ‚Weltgeschichte‘ nicht zu vergessen. Allein in der 1821 erschienenen Fassung von Wilhelm Meisters Wanderjahre finden sich die Wo¨rter „Weltreligion“,17 „Weltszenen“,18 „Weltgegenden“,19 „Weltwanderer“,20 „Weltlauf“,21 „Weltbewegung“,22 „Weltteile“.23 Offensichtlich liegt diesen Wo¨rtern nicht bloß eine Bedeutung von ‚Welt‘ zugrunde. Wie sehr das Wort auch spa¨tere Autoren angeregt hat, beweist stellvertretend Thomas Mann, der seit den 1920er Jahren immer wieder auf Goethes Idee zuru¨ckgekommen ist – nicht ohne a¨hnliche Komposita zu bilden. In „Goethe und die Demokratie“ mahnte er bei den Deutschen „Weltsinn“ an, „die Kenntnis und Bewunderung, das Aufnehmen und Verarbeiten des Fremden“.24 In der „Phantasie u¨ber Goethe“ bezeichnete er das Wort ‚Weltliteratur‘ als Ausdruck von Goethes Zug „ins Weltweite, der sich im Alter mehr und mehr versta¨rkt – sehr erkla¨rlich bei einem Autor, dessen Laufbahn mit einem so ausgreifenden Erfolge wie dem ‚Werther‘ begann“.25 In seiner Rede „Goethe als Repra¨sentant des bu¨rgerlichen Zeitalters“ hat Thomas Mann Weltliteratur bestimmt als das „Allgemeingu¨ltige“ und „Weltfa¨hige“, das „eigentlich an der Tagesordnung sei und in Betracht komme“.26 Das ist offenbar zugleich das, was auf ein „Weltecho“27 trifft, also international wahrgenommen und aufgenommen wird. Viel mehr la¨sst Thomas Mann allerdings u¨ber diesen Aspekt der Weltliteratur nicht verlauten – nur noch die Warnung, das „Weltfa¨hig-Weltgu¨ltige“ nicht mit dem „nur Weltla¨ufigen“28 zu verwechseln. Das sind keineswegs alle Welt-Wo¨rter, die Thomas Mann, von Goethes Idee sprechend, benutzt oder erfunden hat. Eine solche Faszination durch das Wort ‚Weltliteratur‘ hat aber nicht nur er empfunden. Offensichtlich verdankt sich ihr noch Enzensbergers Formel von der ‚Weltsprache‘ der modernen Poesie. Dieses mehr phantasievolle als philologische Fortschreiben hat nicht nur mit der Lust der Schriftsteller an Wo¨rtern zu tun. Tatsa¨chlich liegen den Verwendungsweisen von ‚Weltliteratur‘ bestimmte Auslegungen des ersten Wortteils zugrunde. Fast 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Goethe 1991, S. 89. Ebd., S. 125. Ebd., S. 135. Ebd., S. 208. Ebd., S. 231. Ebd., S. 233. Ebd., S. 234. Mann 1960, S. 756. Ebd., S. 750. Ebd., S. 326 f. Ebd., S. 327. Ebd.
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alle Fu¨rsprecher der Idee scheinen den Ausdruck gleichsam zerlegt zu haben, um herauszufinden, was es mit der ‚Welt‘ in der ‚Weltliteratur‘ auf sich habe. Das quantitative und das qualitative Versta¨ndnis von Weltliteratur knu¨pfen an bestimmte Bedeutungen des Wortes ‚Welt‘ an, das gerne als Ausdruck fu¨r etwas Großes in doppeltem Sinn aufgefasst wird: fu¨r etwas Großartiges und fu¨r etwas Weites. Wie verwandte Komposita, die ungefa¨hr zur gleichen Zeit in Umlauf waren oder kamen, etwa ‚Welthandel‘, ‚Weltgeschichte‘ oder ‚Weltbu¨rger‘, wurde ‚Weltliteratur‘ bald extensiv-ra¨umlich verstanden. Dabei spielen auch Konnotationen von Totalita¨t eine Rolle, wie sie in die Bedeutungen von ‚Weltliteratur‘ als weltweit verbreiteter oder als die Probleme der ganzen großen, also nicht nur unserer kleinen Welt verhandelnder Literatur eingegangen sind. Dieses Versta¨ndnis von ‚Welt‘ und daraus folgend ‚Weltliteratur‘ ist im Wesentlichen ra¨umlich. Es ist heute zunehmend, mehr oder weniger programmatisch, dem ‚spatial turn‘ verpflichtet, der nicht nur in den US-amerikanischen Geisteswissenschaften zu beobachten ist. Er verdankt sich einem Denken in Begriffen einer Kulturgeografie, die in den USA von durchaus (außen-)politischen Interessen her als ‚area studies‘ konzipiert worden ist. Die Literatur, wenn sie nicht nur als ein mehr oder weniger zuverla¨ssiges Auskunftsmedium betrachtet wird, erha¨lt in solchen Zusammenha¨ngen die Aufgabe zugewiesen, internationale Probleme zu verhandeln, im besten Fall jenseits politischen und kulturellen Hegemonialstrebens. Ein solches Konzept von Weltliteratur als Diskursalternative zur internationalen Politik ist allerdings unu¨bersehbar selbst politisch. Es scheint mir durchaus fraglich, ob Goethe ein solches oder auch nur a¨hnliches Versta¨ndnis von ‚Welt‘ im Sinn hatte. Sein Begriff von Weltliteratur ist zuna¨chst offenkundig sozial; er zielt, modern gesprochen, auf Kommunikation, dann auch auf Gruppenbildung. Der soziale Zusammenhang sollte allerdings letztlich einem a¨sthetischen Zweck dienen: der Produktion einer neuen Literatur, die nicht nur eine Nation anzusprechen vermag, ja von deren jeweils besonderen Bedu¨rfnissen absieht. Darin verweist Goethes Ausdruck auf a¨ltere Bedeutungen von ‚Welt‘ als ‚Kreis der Erdbewohner‘ – oder, mit einem Wort: von ‚Menschheit‘. Goethe ging es weniger um ein Projekt von geografischer als von humanistischer Bildung.29 Die geografische verschma¨hte er keineswegs; den Vorzug gab er jedoch der humanistischen. Was Goethes Idee heute vielen anfechtbar, ja anachronistisch erscheinen la¨sst, liegt auf der Hand: Sie ist unpolitisch, elita¨r-hochliterarisch und obendrein noch universalistisch begru¨ndet… Sein Kosmopolitismus ist ein a¨sthetischer Humanismus, kein politischer Internationalismus, der sich auf Vorstellungen von Egalita¨t, Demokratie und Menschenrechten gru¨ndet. Fast unno¨tig zu er29 Zu der Opposition vgl. Guthke 2005.
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wa¨hnen, dass man Goethe auch Eurozentrismus vorgeworfen hat und mangelnde Mobilita¨t im Alter – bekanntlich war er nie in Afrika, nicht im Orient und nicht einmal in Paris. Was gegen seine Idee vorgebracht worden ist, mag mehr oder weniger triftig ¨ berlegungen einen Aspekt von Weltliteratur sein. Gleichwohl lassen Goethes U deutlich hervortreten, der heute hinter dem, mit Horst Ru¨diger zu sprechen, „extensiv-geographischen Begriff von den ‚Literaturen der Welt‘“30 zu verschwinden droht: den literarischen. Goethe hat seine Idee nicht von der Gesellschaft, auch nicht von der Politik, sondern von der Literatur her gedacht. Sein Interesse an Weltliteratur war zuna¨chst nicht das des Weltbu¨rgers, als den er sich durchaus verstand, es war das des Autors, der die Beschra¨nkung u¨berwinden wollte, die in der Zugeho¨rigkeit zu nur einer Literatur liegt. Gerade als Dichter ¨ ber allen Versuchen, den Begriff ‚Weltlitehat Goethe nicht national gedacht. U ratur‘ fu¨r eine geografische, soziologische und politische Vermessung der Welt dienstbar zu machen, gera¨t leicht in Vergessenheit, dass er auch ein nicht weniger legitimes literarisches Projekt bezeichnen kann: das einer internationalen Arbeitsgemeinschaft von Autoren, die sich nicht durch bestimmte politisch relevante Erkenntnisziele definiert. Weltliteratur, wie Goethe sie konzipierte, ist keineswegs nur eine Idee; sie ist auch ein literarisches Faktum. Er selbst hat Weltliteratur geschaffen und erlebt – im Austausch vor allem mit Alessandro Manzoni, Lord Byron und Thomas Carlyle, und zwar in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten seines Lebens. Begonnen hat solche internationale Kommunikation und Kooperation fu¨r ihn aber schon fru¨her : mit dem Besuch Germaine de Stae¨ls in Weimar 1803 / 1804, der ihm allerdings manchen Verdruss bereitete. Goethes Widerstreben gegen sie, das angemessen vielleicht nur in einer Komo¨die darstellbar wa¨re, hatte nicht allein mit ma¨nnlichem Behauptungswillen und einer Art gesellschaftlicher Angst vor der ‚Weltdame‘ zu tun. Schiller ließ er wissen, ‚die Stahl‘, wie beide sie, bezeichnenderweise, gern nannten, geriert sich mit aller Artigkeit noch immer grob genug als Reisende zu den Hyperboreern, deren kapitale alte Fichten und Eichen, deren Eisen und Bernstein sich noch so ganz wohl in Nutzen und Putz verwenden ließe, indessen no¨tigt sie einen doch die alten Teppiche als Gastgeschenk, und die verrosteten Waffen zur Verteidigung hervorzuholen.31
Diese ironische und selbstironische Beschreibung la¨sst erkennen, warum sich Goethe eine Arbeitsgemeinschaft mit der beru¨hmten franzo¨sischen Schriftstellerin nicht vorstellen konnte. Er verda¨chtigte sie unter anderem eines eth-
30 Ru¨diger 1972, S. 51. 31 Brief von Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller v. 23. 01. 1804 (Goethe 1990, S. 967).
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nologisch-literarischen Hochmuts, der in seiner Konzeption eines a¨sthetischen Austausches nichts zu suchen hatte. Goethe wollte seine Weltliteratur von Politik, auch von Literaturpolitik freihalten – weshalb er selbst auch bereit war, sogar europa¨ische Romantiker einzubeziehen, deren deutsche Kollegen ihm suspekt blieben. Weltliteratur, wie er sie konzipierte, hat es auch nach seinem Tod, also ohne seine Beteiligung, gegeben, als grenzu¨berschreitende Kontakte und Arbeitsbeziehungen zwischen Autoren, etwa zwischen Charles Baudelaire und Algernon Charles Swinburne, im Kreis um Ste´phane Mallarme´, zu dem beispielsweise William Butler Yeats, Gabriele d’Annunzio und Stefan George Zutritt hatten, zwischen Filippo Tommaso Marinetti und den deutschen Autoren um die Zeitschrift Der Sturm, zwischen Klaus Mann und Andre´ Gide, Heinrich Bo¨ll und Alexander Solschenizyn, Joseph Brodsky und Stephen Spender, Yoram Kaniuk und Emil Habib, John Irving und Gu¨nter Grass – um nur sie zu nennen. Nicht wenige Autoren haben spa¨ter, sogar innerhalb Europas, die Idee der Weltliteratur gelebt. Das bekannteste moderne Beispiel dafu¨r du¨rfte Rilke darstellen, ohne dass er sich mit Goethes Idee auseinandergesetzt ha¨tte. Am auffa¨lligsten mag zuna¨chst sein „sta¨ndiges Wohnen im Ausland“32 sein. Er hat in vier europa¨ischen Metropolen, in Prag, Wien, Berlin und Paris, und in vier ¨ sterreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich La¨ndern fu¨r la¨ngere Zeit gelebt, in O und der Schweiz, weitere wie Russland, Schweden, Da¨nemark, Spanien, Italien bereist. Mit keiner Stadt und keinem Land war er untrennbar verbunden. Politische Neigungen fu¨r eine der Nationen, auf deren Territorium er lebte, hat er nicht ausgebildet; das wilhelminische Deutsche Reich stieß ihn nicht weniger ab als die k. u. k. Monarchie. „Fu¨r mich war die offene Welt die einzig mo¨gliche“, schrieb Rilke in einem Brief vom 21. 01. 1920.33 Und im selben Jahr erkla¨rte er, seit er denken ko¨nne, liege ihm „das Nationale unendlich fern“.34 Rilke hat es immer wieder vorgezogen, in einer fremdsprachigen Umwelt zu leben und dabei ein Werk zwischen den Sprachen und Literaturen geschaffen. Er hat aus neun Sprachen u¨bersetzt, außer auf Deutsch auch auf Franzo¨sisch gedichtet, es außerdem auf Russisch und Italienisch versucht. Er hat Kontakte gepflegt zu russischen Dichtern wie Leo Tolstoi, Maxim Gorki, Boris Pasternak und Marina Zwetajewa, zu franzo¨sischen wie Andre´ Gide und Paul Vale´ry. Wie wenige deutschsprachige Autoren ist Rilke ein Dichter der europa¨ischen Moderne, dessen Eigenart, auch dessen Rang als Dichter sich allein im Zusammenhang einer, der deutschen Literatur, nicht angemessen bestimmen lassen. 32 Brief von Rainer Maria Rilke an Gra¨fin Margot Sizzo-Noris-Crouy v. 17. 03. 1922 (Rilke 1980, S. 770). 33 Brief von Rainer Maria Rilke an Leopold von Schlo¨zer v. 21. 01. 1920 (Rilke 1992, S. 297). 34 Brief von Rainer Maria Rilke an Reinhold von Walter v. 04. 06. 1921 (Rilke 1992, S. 349).
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Eine solche Existenz im Zeichen der Weltliteratur haben a¨hnlich ein Yvan Goll und ein Elias Canetti gefu¨hrt, in gewisser Weise auch ein Fernando Pessoa und ein Konstantin Kavafis, auf jeden Fall ein Samuel Beckett und ein Vladimir Nabokov, eine Tanja Blixen und ein Joseph Brodsky. Die internationalen Kontakte und Existenzen, die fu¨r Goethe eine neue „Epoche der Welt-Literatur“35 ausmachen sollten, haben in der Literaturwissenschaft jedoch nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die er sich fu¨r sie gewu¨nscht ha¨tte. Kaum eine von ihnen ist von der Komparatistik intensiv erforscht worden. Dafu¨r mag es viele Gru¨nde geben – angefangen bei der schnell selbstversta¨ndlich gewordenen Verbesserung der Kommunikation im industriellen und erst recht im postindustriellen Zeitalter bis hin zur wenigstens zeitweiligen Abkehr von der Kategorie des Autors in den neueren Philologien. Mit einem akzentuiert aktuell-politischen Begriff wird man einer sozial verstandenen Weltliteratur kaum gerecht. Denn zuna¨chst stellt sie eine Form der ¨ bersetzungen, produktiven Kommunikation dar, die sich genuin literarisch in U Rezeptionen und meist essayistischen Vermittlungen realisiert. Sie ist zuvo¨rderst ein literarisches Faktum – auch wenn es nicht zu u¨bersehen ist, dass sie mit vielerlei anderen, zumal politischen Diskursen verknu¨pft ist. Doch in denen erscho¨pft sich diese Weltliteratur nicht. In ihr manifestiert sich vielmehr wesentlich literarische Internationalita¨t, der vor allem die Aufmerksamkeit einer Komparatistik gelten sollte – wenn sie nicht Gefahr laufen will, zu einer letztlich austauschbaren, der Spezifik ermangelnden Kulturwissenschaft zu werden. Mit dem Blick auf die globalisierte Welt mo¨gen sich manche neuen Prospekte ero¨ffnen; manche, nicht zuletzt literarische, ko¨nnen sich aber auch einfach verschließen. Der Komparatist hat, von Haus aus, die Literatur der Welt im Blick, heutzutage allerdings manchmal mehr die Welt als die Literatur. Wenn er jedoch die Weltliteratur nicht verfehlen will, sollte er bedenken, dass nicht der Raum, auch nicht die Gesellschaft oder die Kultur, sondern die Literatur seine Welt ist.
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Fu¨r? eine? Welt? -! Literatur? auf Franzo¨sisch? Thesen und Fragen zum Manifest von Michel Le Bris und seinen 43
Um die Diskussion des im deutschsprachigen Raum bisher kaum rezipierten Manifests Pour une litte´rature-monde en franc¸ais mo¨glichst pra¨gnant und anregend zu gestalten, werden im Folgenden das in manchem irritierende Manifest sowie die nicht sehr homogene Buchpublikation mo¨glichst knapp in Form von Thesen und Fragen vorgestellt und befragt.
1.
Ein wichtiges – inhaltlich vages, gleichwohl produktives – Weltliteratur-Manifest
Wer manifestierte, wann und wo, was und wogegen? Am 16. Ma¨rz 2007 erschien in der Tageszeitung Le Monde das Manifest ‚Pour une litte´rature-monde en franc¸ais‘.1 44 Schriftsteller hatten es unterzeichnet. Federfu¨hrend war Michel Le Bris, bekannt vor allem als Herausgeber von Buch-Reihen und Zeitschriften zur Reiseliteratur sowie als Gru¨nder des Literaturfestivals ‚Etonnants Voyageurs‘.2 Dieses – neben dem Pariser Salon des Livres mittlerweile zweitgro¨ßte franzo¨sische – Literaturevent existiert seit 1990 in Saint Malo. Es veranstaltet seit zehn Jahren auch Tochterfestivals in Bamako (Mali) und auf Haiti. Zu den Unterzeichnern des im Herbst 2006 in Bamako verabredeten Mani1 Der Text findet sich nunmehr auch online, etwa unter : http://www.fabula.org/actualites/pourune-litterature-monde-en-francais_17941.php [28. 07. 2013]. 2 Michel Le Bris’ Werdegang erscheint selbst gleichsam als u¨beraus welthaltiger Roman und wie ein gewichtiges Stu¨ck franzo¨sischer Kultur- und Mediengeschichte nach 1968: Er war in den spa¨ten 1960ern nach abgeschlossenem Wirtschaftsstudium an der Eliteschmiede HEC Redakteur bei Jazz-Hot, wo er den Free-Jazz propagierte; dann Mitarbeiter des Magazine Litte´raire in dessen Gru¨ndungsphase. Er amtierte als Direktor der verbotenen Maoisten-Zeitung La Cause du Peuple (wofu¨r er acht Monate ins Gefa¨ngnis ging – und von Jean Paul Sartre beerbt wurde als unbelangbarer Verantwortlicher der verbotenen Zeitung), aus der dann die von ihm mitbegru¨ndete Tageszeitung Libe´ration hervorging. Langja¨hrig war er Mitarbeiter beim Nouvel Observateur, Verlagsberater bei Grasset – mithin ein in Paris bestens vernetzter Mann, der 1990 die Reiseliteraturzeitschrift Gulliver und das Festival in St. Malo gru¨ndete.
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fests geho¨rten sowohl bestens etablierte Schriftsteller wie noch unbekanntere Autoren, zum Teil mit biographischem Background in den ehemaligen Kolonien (u. a. E´duard Glissant, Maryse Conde´, Tahar Ben Jelloun, Dany Laferrie`re, Alain Mabanckou), ferner Hexagonal-Franzosen (u. a. Erik Orsenna, Jean Rouaud, Michel Le Bris und der Nobelpreistra¨ger Le Cle´zio), Belgier (z. B. Gre´goire Polet), Que´be´cois (z. B. Jacques Godbout) aber auch Schriftsteller aus Ungarn (Eva Almassy) oder Vietnam (Anna Moı¨). Das mitten im franzo¨sischen Pra¨sidialwahlkampf zum ‚Tag der Francophonie‘ vero¨ffentlichte Manifest rief sofort Stellungnahmen hervor, etwa die des Vorsitzenden der internationalen ‚Francophonie‘-Vereinigung, Abdou Diouf. Und es provozierte Debatten unter Autoren und Politikern. Zwei Monate nach der Manifestpublikation in Le Monde erschien ein Buch nahezu gleichen Titels bei Gallimard in der Collection nouvelle revue franc¸aise. Die vermeintliche Außenseiterbande publizierte ihr Kollektivwerk also erneut keineswegs an peripherem Ort (etwa in einem der auf postkoloniale Texte spezialisierten Kleinverlage oder in der Gallimard-Buchreihe Continents noirs). Auch das Buch erschien, wie schon das Manifest in der Zeitung Le Monde, erneut an unu¨berbietbar zentralem Ort, versehen mit gro¨ßtmo¨glichem kulturellen Verlagskapital. Der Buchtitel lautet Pour une litte´rature-monde. Den Zusatz ‚en franc¸ais‘ hatten die Buchherausgeber Jean Rouaud und Michel Le Bris ohne na¨here Begru¨ndung fallen gelassen. Der Sammelband bringt Beitra¨ge von 27 der 44 Manifest-Unterzeichner. Texte, in denen sie sich mit divergierendem thematischen Fokus und Furor den Fragen widmen, warum sie auf Franzo¨sisch schreiben, was sie von dem Label ‚Francophonie‘ halten, welche Erfahrungen sie mit dem franzo¨sischen Literaturbetrieb gemacht haben, welche Art von Literatur sie produzieren und rezipieren. Die Sache der Weltliteratur – oder gar eine eingehende Arbeit an Begriff, Spezifik und Reichweite derselben – beru¨hrte nur ein Teil der Texte; die meisten kreisen eher um individuelle Positionierungen und Schwierigkeiten im franzo¨sischsprachigen literarischen Feld. Sowohl die poetischen und a¨sthetischen Bestimmungen von ‚Literatur‘ wie die Definitionen von ‚Welt‘ und vor allem die kardinale Bedeutung des Bindestrichs zwischen den beiden Kategorien (litte´rature-monde) wurden kaum direkt adressiert, noch weniger literaturwissenschaftlich ergru¨ndet. Vielmehr wurden diese Leitbegriffe in den einzelnen Texten entweder schlicht umgangen oder aber metaphorisch, essayistisch und subjektivistisch verwendet, ohne sie na¨her, belastbar und systematisch zu definieren. Dabei tra¨gt der begriffshistorisch neue Bindestrich eine erhebliche Last. Er verweist auf die vertrackte Verbindung oder Trennung oder Bezugnahme zwischen Literatur und Welt. Er o¨ffnet, u¨berspannt oder schließt (wohl vorschnell) den Raum (oder : Abgrund) zwischen Zeichen und Dingen, zwischen Semiologie und Ontologie, zwischen Texten und Leben.
Fu¨r? eine? Welt? -! Literatur? auf Franzo¨sisch?
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Da die einzelnen Buchbeitra¨ge so unterschiedlich sind, vor allem in Bezug auf Wert und Rolle des Konzepts der ‚Francophonie‘ und ihrer politischen wie kulturellen Institutionen, konzentriere ich mich auf das Manifest selbst und auf seine la¨ngere Buchfassung; also auf den Buchbeitrag gleichen Titels von Michel Le Bris. Wa¨hrend das Manifest recht vage, offen und unterbestimmt blieb in der Bestimmung und Abgrenzung der gewu¨nschten Weltliteratur, waren Le Bris wie Rouaud doch in einem Punkt unmissversta¨ndlich, na¨mlich in ihrer Polemik gegen einen angeblich autistischen Pariser Literatur- und Kritikbetrieb. Die Adressen ihrer Gegner (oder ihrer zurechtgemachten Pappkameraden) werden weit klarer pra¨sentiert als die Konturen ihrer Wunsch- und Weltliteratur. Rouaud und Le Bris polemisieren gegen eine angeblich narzisstische, weltvergessene, elita¨r-nationale (metropolen-provinzielle), sich selbst und ihre e´criture bespiegelnde Pariser Literatur, die sich, so der Vorwurf, so wenig um die Welt ku¨mmere, wie die globalisierte Welt sich heute fu¨r die Pariser e´criture-Narzissten interessiere. Die beiden Herausgeber polemisieren gegen den Nouveau Roman, gegen die Psychoanalyse, gegen den Strukturalismus und den Poststrukturalismus, die als sterile Theorien angeblich zum Weltverlust der franzo¨sischen Literatur und Literaturkritik wie zu ihrem folgerichtigen Ansehensund Verbreitungsverlust gefu¨hrt ha¨tten. Sie fordern neben der Abkehr von den indizierten weltflu¨chtigen Theorien die Anerkennung, Aufwertung und Kanonisierung einer franzo¨sischsprachigen Literatur, die sich an der englischsprachigen world literature und an erlebnissatten Reisetexten orientieren soll. Sie proklamieren eine (angeblich) neue franzo¨sischsprachige Erza¨hlliteratur, die sie vor allem bei Schriftstellern aus fernen La¨ndern oder mit einem Migrationshintergrund zu finden glauben. Diese nicht auf Paris fixierten Texte von nicht aus Paris stammenden (meist postkolonialen) Autoren seien bislang von den Pariser Verlagen und Preisjurys diskriminiert worden. Aufha¨nger des Manifests war u¨brigens die Pariser Literaturpreis-Bilanz im Herbst 2006. Erstmals gingen fu¨nf der sieben wichtigsten Literaturpreise an franzo¨sischsprachige Romane von Autoren nicht-franzo¨sischer Herkunft. Der emotionsrhetorische Ho¨hepunkt des Manifests liegt in der ku¨hnen Behauptung, die franzo¨sische Literatur sei ‚tot‘. Nur die neuen Welt-Romane der Welt-Autoren mit ihren hybriden und erfahrungsgesa¨ttigten Welt-Identita¨ten ko¨nnten diesen ‚corps agonisant‘ retten. Im Jahr 2010 erschien ein Folge-Buch von Rouaud und Le Bris, welches unter dem Titel Je est un autre. Pour une identite´monde die ersehnte grenzu¨berschreitende Weltla¨ufigkeit, Hybridita¨t und Buntheit nunmehr nicht mehr prima¨r fu¨r Texte sondern auch fu¨r Individuen als Forderung der Zeit reklamiert. Explizites literarisches Vorbild des Manifests Pour une litte´rature-monde ist die Commonwealth-Literatur, die durch Kanonisierung peripherer Autoren schon in den 1980ern wiederbelebt worden sei – etwa mit den Booker-Preisen fu¨r
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Naipaul, Rushdie und weitere postkoloniale Autoren. Michel Le Bris’ pathetisch mitreißende, doch letztlich blumige Beschwo¨rung von Niedergang (durch semiotischen Autismus) und Wiedergeburt der franzo¨sischen Literatur (mittels Welthaltigkeit und Kraftauffrischung aus den Provinzen) strapaziert vitalistische und mortalistische Metaphern: Nous savions alors, d’expe´rience ve´cue, de quoi peut mourir la litte´rature, e´crivais-je: de s’eˆtre faite la servante des ide´ologies, sous le pre´texte de l’engagement, de se noyer dans le trop-plein de soi, sous le pre´texte de psychologie, ou, a` l’inverse, de se satisfaire de n’eˆtre plus que ‚litte´rature‘: jeux de mots. Lui resterait peut-eˆtre, pour retrouver son sens, ses e´nergies, apre`s des de´cennies d’asservissment au Signe-Roi, a` retrouver le monde.3
Als Vorbild oder Geburtshelferin der franzo¨sischen Literatur-Renaissance fungiert die englischsprachige World Literature von Romanciers wie Kureishi, Ishiguro, Okri u. a.: Car ce qui fascinait, excitait, enthousiasmait, e´tait cette sensation qu’a` travers ces œuvres diverses, foisonnantes, de´rangeantes se disait le monde d’aujoud’hui, avec ses rythmes, son e´nergie, ses langages vrais. Transfuges, immigre´s, nomades, ne´s d’une culture que les hasards de l’histoire ou la volonte´ personelle avaient fait abandonner pour vivre dans une autre, de´chire´s entre leurs communaute´s, en e´quilibre instable entre les traditions […] tous ces auteurs s’affirmaient a` la fois les cre´ateurs et les produits d’un nouvel ordre international.4
2.
Das Manifest erzeugt große Aufmerksamkeit und produktive Debatten in Frankreich
Nicht nur der Ex-Pra¨sident Senegals, Abdou Diouf, respondierte am 19. 03. 2007 in Le Monde als Generalsekreta¨r der Internationalen ‚Francophonie‘ auf das Manifest, dem er vorwarf ‚exception culturelle‘ und ‚diversite´ culturelle‘ zu verwechseln und so zum Totengra¨ber der fu¨r letzteres doch fruchtbaren ‚Francophonie‘ zu werden.5 Auch der Pra¨sidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy nahm in Le Figaro am 22. 03. 2007 Stellung und erkla¨rte: „La Francophonie n’est pas morte“.6 Bemerkenswerterweise schlug der Kandidat der Konservativen vor, in Frankreich nunmehr nachzudenken u¨ber ‚Francophonie‘-Lehrstu¨hle; denn 3 Le Bris 2007, S. 28 [Hervorhebung im Original]. 4 Ebd., S. 34 f. 5 Abdou Dioufs Kritik am Manifest findet sich (auszugsweise und erga¨nzt um ausfu¨hrliche Internet-Diskussionen) online unter http://www.congopage.com/Litterature-monde-en-fran cais [07. 01. 2012]. 6 Der Figaro-Artikel von Sarkozy ist online verfu¨gbar unter der URL: http://www.etonnantsvoyageurs.com/IMG/pdf_figaro_sarkosy.pdf [08. 01. 2012].
Fu¨r? eine? Welt? -! Literatur? auf Franzo¨sisch?
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das Herz der ‚Francophonie‘ schlage paradoxerweise eher in den USA, wo ‚literarische Talente‘ [so Sarkozys linkische Kategorisierung] wie Maryse Conde´, Alain Mabanckou und Achille Mbembe lebten und lehrten. 2008 publizierte der Essayist Camille de Toledo seine mit Verve und Vehemenz geschriebene Polemik gegen das Manifest-Buch bei den PUF (Visiter le Flurkistan ou les illusions de la litte´rature-monde); zudem als Kurzfassung seiner Kritik an der literaturpolitischen Ideologie des Manifests einen Artikel in Le Monde (12. 11. 2008). Er weist die pathologisierende Kritik der ManifestVerfasser am franzo¨sischen Literaturbetrieb und an den Humanwissenschaften als naiv und als ideologisch zuru¨ck. De Toledo ha¨lt die vielen Literaturpreise, die im Jahr 2006 an minorita¨re Nicht-Pariser vergeben wurden, fu¨r einen Zufall und nicht fu¨r einen historischen Umbruch. Ferner kritisiert er die brachiale geschichtsphilosophische Rhetorik des Manifests.
3.
Das Manifest erregt internationale Aufmerksamkeit und provoziert Echos
Vor allem in den englischsprachigen French Departments, von denen manche la¨ngst umbenannt waren in Departments of French and Francophone Studies, wurde das Manifest intensiv diskutiert. Zwei Sondernummern akademischer Journals erschienen.7 Zudem fanden Tagungen daru¨ber an der UCLA (wo Alain Mabanckou lehrt), in Florida und in New Brunswick (Kanada) statt. Aber auch in anderen La¨ndern widmeten sich Konferenzen dem Manifest und dem Buch, so etwa in Algier und in Da¨nemark an der Universita¨t Aarhus. Diese akademischen Debatten kreisten vor allem um folgende literatura¨sthetischen, literatursoziologischen und literaturpolitischen Fragen: Ist das litte´rature-monde-Konzept exotisierend, weil es sich an alten Reise- und Realismus-Konzepten orientiert, ohne deren kolonialistische Erblast explizit zu reflektieren? Welche humanistischen, egalita¨ren und globalistischen Worthu¨lsen entha¨lt das Manifest, insbesondere im Hinblick auf die kaum thematisierten u¨beraus unterschiedlichen Positionen der Unterzeichner im literarischen Feld?8 Wie anachronistisch und wie (un-)berechtigt ist die Kritik am Nouveau Roman und an den zeichentheoretisch orientierten Literaturwissenschaften? Zudem wurde gelegentlich nach Reichweite und Grenzen der Inklusions- und Egalita¨tsanspru¨che der Manifesteure gefragt. Wer blieb im Manifest mit seinem vagen Universalismus der Vielstimmigkeit und Welthaltigkeit ausgeschlossen? So wurde etwa bemerkt, dass unter den 44 keine Beur-Autoren aus den franzo¨si7 Vgl. Cloonan / Hargreaves 2010. 8 Vgl. Kleppinger 2010.
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schen Vorsta¨dten beteiligt waren. Waren sie, ihre Themen und Bu¨cher, womo¨glich nicht so exotisch wie Autoren der Karibik oder Afrikas? Weithin begru¨ßt wurde hingegen die Infragestellung der ‚Francophonie‘Kategorie im Verlagsbetrieb, wo in Buchhandlungen, Bibliotheken und Verlagsreihen immer noch franzo¨sischsprachige Autoren mit gallischem Background von gleichfalls franzo¨sisch schreibenden Autoren aus dem Rest der Welt separiert werden. Wobei Christine de Pisan, Casanova, Ionesco, Julien Green, Cioran und Beckett einfach der franzo¨sischen Literatur zugerechnet werden; Aime´ Ce´saire, Leopold Senghor, Patrick Chamoiseau, Tahar Ben Jelloun und Maryse Conde´ jedoch in Regionalschubladen (Afrika, Maghreb, Karibik) sortiert werden, oder eben in die ‚Francophonie‘-Regale.
4.
Im deutschsprachigen Betrieb findet das Manifest keine Resonanz
Weder die Texte noch ihre internationale Rezeption wurden in den vier Jahren seit ihrem Erscheinen hierzulande wahrgenommen; zumindest wurden sie nicht o¨ffentlich rezipiert, nicht publizistisch diskutiert. Dabei wurde das Zeitungsmanifest selbst in der so umtriebigen wie wenig verbreiteten Wiener Literatur¨ bersetzung zeitschrift VOLLTEXT immerhin halbwegs zeitnah in deutscher U 9 publiziert. Weder im Feuilleton oder Literarturbetrieb, noch in der deutschen Romanistik, Komparatistik oder den Weltliteratur- und Globalisierungszirkeln der Postcolonial Studies wurde das Buch bisher sichtbar verhandelt. Abgesehen von zehn Zeilen in einer internationalen Zeitschriftenrundschau der Welt (die einen guten Artikel von Blaise Wilfert-Portal aus La Vie des Ide´es schlecht referierten),10 einem weiteren Welt-Artikel am 14. 11. 2008 von Johannes Wetzel, der das ‚Francophonie‘-Thema anhand der Pariser Literaturpreis Vergabe des Jahrgangs 2008 verhandelt,11 und einem franzo¨sischsprachigen Beitrag in einem deutschen Peter-Lang-Sammelband u¨ber Kreolisierung blieb das Manifest und das nachfolgende Buch in Deutschland bisher unbemerkt – zumindest soweit ich, Google und der vorzu¨gliche Primo-Katalog der FU Berlin sehen ko¨nnen.12 9 Vgl. VOLLTEXT 2007/32. Fu¨r den Hinweis auf die – mir bis zur DGAVL-Tagung nicht be¨ bersetzung danke ich Nicole Po¨ppel (Siegen). kannte – deutsche U 10 Der Welt-Artikel ist online verfu¨gbar unter : http://www.welt.de/welt_print/article2189039/ Waterboarding_im_Selbstversuch.html [07. 01. 2012]. 11 Online unter : http://www.welt.de/kultur/article2721859/Literaten-streiten-ueber-das-Franzoesisch-sein.html [07. 01. 2012]. 12 Zu den Ausnahmen von den weitestgehend ausgebliebenen Reaktionen in Deutschland za¨hlt ferner die in Portugal erschienene franzo¨sischsprachige Publikation der Mainzer Romanistik-Professorin und Francophonie-Spezialistin Veronique Porra: „‚Pour une litte´rature-
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Dieses ausgebliebene Echo scheint erstaunlich und erkla¨rungsbedu¨rftig angesichts der internationalen Aufmerksamkeit und der zahlreichen Reaktionen, die das Manifest und seine Thesen provozierten. Wie kann man die deutsche Funkstille erkla¨ren? ¨ ber Ursachen und Hintergru¨nde fu¨r die ausgebliebenen Diskussionen und U Publikationen kann man, da es sich um potentielle Kausalita¨ten fu¨r Nicht-Ereignisse handelt, nur spekulativ mutmaßen. Folgende Hypothesen fu¨r die weitestgehend unterbliebene deutsche Verhandlung der litte´rature-monde-Debatten scheinen denkbar und ko¨nnten diskutiert werden: Erstens, die franzo¨sischsprachige Literatur und der frankophone Literaturbetrieb interessieren hierzulande außerhalb enger Spezialistenkreise kaum mehr (was, wenn es denn zutrifft, wohl kein gutes Zeichen wa¨re fu¨r unsere Offenheit fu¨r Weltliteratur). Zweite Hypothese: Die spezifische Gemengelage der frankophon-postkolonialen Literaturverha¨ltnisse und der Pariser Literaturdebatten betrifft Deutschland mo¨glicherweise kaum. Vielleicht arbeiten die deutschsprachigen Verlage und Literaturpreis-Gremien nach ganz anderen, weniger zentralistischen Spielregeln? Fa¨nde deswegen die Kritik an (angeblichem) Pariser Autismus und Weltvergessenheit in unserem weltoffenen Fo¨deralismus schlichtweg keine Analogien, die eine vergleichende Rezeption und Debatte verlockend oder notwendig machten? Schließlich meine dritte Hypothese: Die deutsche Migrationsliteratur und interkulturelle Germanistik sind zwar gut etabliert,13 doch interessieren sich diese literaturbetrieblichen und akademischen Szenen womo¨glich nicht fu¨r die Nachbarla¨nder vielleicht weil die Kolonial- und Migrationsgeschichten, die Arbeitssituationen, Literaturdiskurse und Betriebsprozesse jenseits des Rheins andere sind als diesseits? Jedenfalls erscheint mir das Ausmaß der deutschsprachigen Funkstille zu diesem in Frankreich und der Welt diskutierten Manifest weiterhin etwas ra¨tselhaft und erkla¨rungsbedu¨rftig.
5.
Fragwu¨rdig ist der geschichtsvergessene Pra¨sentismus des Manifests
Denn die franzo¨sischen litte´rature-monde-Aktivisten erwa¨hnen oder bearbeiten weder Goethes alten sachlich so naheliegenden Begriff der Weltliteratur, noch befassen sie sich eingehender mit den schon lange wa¨hrenden Debatten u¨ber ‚Francophonie‘ und Neokolonialismus. Das Manifest macht seine Anleihen monde en franc¸ais‘: Les limites d’un discours utopique“ (2008) – die freilich so abgelegen vero¨ffentlicht wurde, dass sie kaum fu¨r Publizita¨t in Deutschland sorgen konnte. 13 Belege fu¨r die weitgehend vollzogene Etablierung und Kanonisierung interkultureller Autoren und einer diesbezu¨glichen Theoriebildung finden sich in Blaschke 2010.
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historisch eher unreflektiert und literaturpolitisch offenbar nur an der Gegenwart und am Literaturmarkt orientiert, vor allem bei der ju¨ngeren englisch¨ berrasprachigen World Literature respektive Commonwealth Literature. U schend ist hierbei allerdings, dass auch die deutschsprachige Migrationsliteratur von Feridun Zaimoglu, Zsuzsa Ba´nk, Sherko Fatah, Vladimir Kaminer u. a. in Le Bris’ Buchbeitrag en passant erwa¨hnt und gelobt wird.14 Diese Autoren nichtdeutscher Herkunft haben, so Le Bris vitalistisches, nun auf Deutschland bezogenes Renaissance-Argument, die von den Vorga¨nger-Giganten erstickte und verschattete deutschsprachige Literatur zu neuem Leben erweckt.
6.
Problematisch sind der Welt-Begriff und der wenig differenzierende Universalismus
Gerade die von Rouaud und Le Bris attackierten Postrukturalisten haben systematisch und mit sehr guten Argumenten die Schwierigkeiten sprachlicher Referenz auf ‚Welt‘ analysiert. Und diese Human- und Literaturwissenschaftler haben die Asymmetrien, Hierarchien und Differenzen in Allgemeinkategorien wie ‚Welt‘ aber auch in Semantiken und Rhetoriken wie denen der Gleichheit, des Universalismus und des Internationalismus offengelegt. Insofern scheint die ungebrochene Bezugnahme auf ein ersehntes ‚Erza¨hlen der Welt‘, auf die vermeintlich unmittelbare Vermittlung von Zusta¨nden und Reisen, von Buntheit der Erfahrungen und Lebendigkeit der Erlebnisse, wie sie Le Bris und Rouaud durchgehend proklamieren, allemal heikel. Auch wenn klar ist, dass sie ihre egalita¨re Weltliteratur durchaus im Sinne einer Aufhebung von hinderlichen Mauern und Ghettos im Literaturbetrieb wu¨nschen und dass sie trotz des Kollektivsingulars ‚une litte´rature-monde‘ von der Polyphonie und Buntheit der Erfahrungen schwa¨rmen, lauern hier blinde Flecken, Naivita¨t und kaum reflektierte ideologisch-politische Abgru¨nde der ¨ sthetik und des Weltbezugs. Kathryn Kleppinger, Cageforderten Realismus-A mille de Toledo und andere haben darauf hingewiesen, dass die grobschla¨chtige Ideologiekritik, die das Manifest an den sowohl politischen wie semiotischen wie psychologischen Ideologisierungen der Literatur der 1970er Jahre u¨bte, keinesfalls zur freien, welthaltigen und wahren Literatur jenseits der Ideologie fu¨hre, sondern mit unreflektierten eigenen ideologischen Setzungen operiere. Dominique Combe hat (wie de Toledo) verdeutlicht, wieweit das im Gestus der vermeintlichen Außenseiter auftretende Manifest vor allem Paris-interne Rechnungen begleiche und dabei selber keinesfalls aus der weiten Welt oder aus Le 14 Vgl. Le Bris 2007, S. 38 f.
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Bris’ Bretagne zu verstehen sei, sondern vielmehr eine typische Kapitalen- und Kapitalien-Angelegenheit darstelle; kurz und u¨berpointiert: eine Kriegsmaschine Gallimards gegen den Nouveau Roman-Verlag Les E´ditions de Minuit.15 Allerdings annulliert diese Metakritik (also eine Kritik an den Kritikoperationen des Manifests) nicht den Wert des Manifests als Auslo¨ser grundsa¨tzlich wichtiger Diskussionen; etwa der u¨berfa¨lligen Debatte u¨ber den Nutzen und Schaden der Rubrifizierung unter Verlags- und Betriebs-Label wie ‚Francophonie‘, ‚Regionalliteraturen‘ oder eben ‚Weltliteratur‘.
7.
Litte´rature-monde en franc¸ais ist eng und reflektiert zu wenig ¨ bersetzungen auf U
Die kommunikative, a¨sthetische und politische Bedeutung von Sprachwahl und ¨ bersetzungen, die seit Goethe bekanntlich einen Haupt- und Knotenpunkt von U des Weltliteratur-Paradigmas ausmachen, adressiert das Manifest kaum. Was Pascale Casanova in ihrer an Bourdieus Theorie kultureller Kapitalien orientierten Analyse globaler Reputations-, Vermarktungs- und Rezeptionsprozesse ausfu¨hrlich bearbeitete, wird auch im ausfu¨hrlicheren Sammelband zum Manifest nur vereinzelt, vor allem von Autoren der Periphere, die zwischen den Sprachen leben und schreiben, thematisiert.16 Emily Apter hat schon die dem ¨ bersetWeltliteratur-Begriff selbst innewohnenden Unu¨bersetzbarkeiten und U zungsschwierigkeiten (besonders in nicht-indogermanische Sprachen, aber auch zwischen westlichen Sprachen) und damit den konzeptionell und trans¨ bersetzbarkeit in Weltliteraturprolatorisch heißen Kern der Fragen von U 17 grammen ausgelotet.
8.
Ein deutsches Roman-Manifest von 2005 zeigt, dass die franzo¨sische litte´rature-monde-Debatte hier nicht irrelevant ist
Wir hatten hypothetisch vermutet, dass die Attacke der Verfasser des Manifestes ¨ sthetigegen den Nouveau Roman und gegen einen angeblich dominanten A zismus und Provinzialismus der Pariser uns im deutschsprachigen Literaturraum womo¨glich nicht wirklich betreffe. Dem mo¨chte ich widersprechen, denn auch in Deutschland gab es vor nicht allzu langer Zeit eine in manchem ver15 Vgl. Combe 2010, bes. S. 239 f. 16 Vgl. Casanova 1999. 17 Vgl. Apter 2010.
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Bernd Blaschke
gleichbare literaturpolitische und literara¨sthetische Intervention. Zwei Jahre vor dem litte´rature-monde-Manifest erschien ein deutsches Manifest fu¨r einen ‚Relevanten Realismus‘. Es wurde in der ZEIT (23. 06. 2005) publiziert und anschließend dort und in anderen Medien diskutiert.18 Seine vier Autoren geho¨rten der sogenannten Generation der 78er an: Matthias Politycki, Martin Dean, Thomas Hettche und Michael Schindhelm. Unter dem Titel Was soll der Roman? reklamierten sie die Bescha¨ftigung mit Themen und Erza¨hla¨sthetik einer ‚gesellschaftlichen Mitte‘, die freilich recht diffus blieb. Sie forderten zudem die Verhandlung migrantischer Lebensweisen, die pra¨gend seien in einer globalisierten Welt. Den franzo¨sischen Manifest-Verfassern war dieses Manifest offenbar nicht bekannt, jedenfalls erwa¨hnen sie es nirgends. Die deutsch-franzo¨sische Funkstille scheint mithin wechselseitig, bedauerlich konsequent. Zitieren wir hier zentrale Globalisierungssa¨tze der Relevanten Realisten: An den vorlauten Zeitgeistverlautbarungen [gemeint ist: die Popliteratur ; B. B.] und den Beru¨hrungsa¨ngsten der Sprachartisten vorbei ist unser Ziel eine relevante Narration, denn wir glauben, dass dem Roman heute eine gesellschaftliche Aufgabe zukommt: Er muss die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache machen, er muss die Problemfelder, ob in lokalem oder globalem Kontext, in eine verbindliche Darstellung bringen. Die Forderung nach mehr Relevanz leiten wir nicht nur aus unserem Alter ab, sondern auch aus dem Zustand einer „unheimlich“ gewordenen Welt. […] Die Aufgabe ist deshalb, Bru¨cken zu bauen, in diesem Falle nicht ¨ sthetik. Weil nur zwischen Realita¨t und Fiktion, sondern auch zwischen Moral und A wir weder an den Tod des Autors glauben noch einfache Ich-Posen behaupten, sehen wir uns eher als Mittler zwischen Subjekt und Gesellschaft. Und da sehen wir, jetzt und in Zukunft, Menschen, die von einem Ort zum anderen unterwegs sind. Reisende, Nomaden, Migranten mit unterschiedlich schwerem Gepa¨ck. Sie kommen aus unterschiedlichen Nationen, Ethnien, Milieus und Mentalita¨ten. Sie durchqueren Wu¨sten ¨ berfu¨hrung, befinden sich in Vor(auch solche der Zivilisation), gehen auf einer U ¨ ¨ stadten: Der Ort der Narration ist ein fur unsere Gegenwart typischer Nicht-Ort, ein offener und immer neu zu beschreibender Zwischenraum. Dieser weite Blick fu¨r neue Gruppierungen und globale Zwischenra¨ume ist gegenu¨ber den engen Ta¨lern und den technikfreien Naturreservaten zu reklamieren.19
18 Das deutsche Manifest „Was soll der Roman?“ von Dean / Hettche / Politycki / Schindhelm ist online verfu¨gbar unter : http://pdf.zeit.de/2005/26/Debatte_1.pdf [09. 01. 2012]. 19 Ebd.
Fu¨r? eine? Welt? -! Literatur? auf Franzo¨sisch?
9.
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¨ bersetzung statt einer Fu¨r Welt-Literaturen auch in U litte´rature-monde en franc¸ais. Fu¨r den -!
Ich mo¨chte meinen Beitrag schließen mit dem Pla¨doyer fu¨r die noch ausstehende Debatte u¨ber das franzo¨sische Buch auch im deutschsprachigen Betrieb. ¨ berleDiese sollte mit gru¨ndlichen – vor allem auch literaturtheoretischen – U gungen u¨ber den Bindestrich, u¨ber den ‚Welt‘-Begriff und u¨ber die Literatura¨sthetik verbunden werden. So ko¨nnte aus einer guten Werbekampagne, die das franzo¨sische Pamphlet fraglos war, und aus den fragwu¨rdigen Abrechnungen mit dem Nouveau Roman und mit der Kapitale Paris ein auch literaturwissenschaftlich produktiver Diskurs erwachsen. In den USA, in Australien, in England, in englisch- und franzo¨sischsprachigen Publikationen hat eine solche Debatte, angeschoben durch das in der Sache u¨beraus ambivalente Manifest, schon einige literatursoziologisch und begriffsgeschichtlich pra¨zisierende Beitra¨ge hervorgebracht. Die deutschsprachige Komparatistik und Romanistik sollten sich – und die deutschsprachigen Potentiale der Weltliteraturkonzepte von Goethe u¨ber die Migrationsliteratur, die von Ottmar Ette postulierte ‚Literatur in Bewegung‘ (nebst seiner Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft) und die interkulturelle Germanistik, bis zum Relevanten Realismus – hier einbringen. Vor allem aber sollten wir u¨ber die Rolle und Funktion von Weltliteratur und literarischer Globalisierung in Schule, Universita¨t und Literaturbetrieb ernsthaft nachdenken. Denn gerade die gro¨ßere Offenheit des Weltliteratur-Begriffs macht ihn attraktiv gegenu¨ber den manches festlegenden und einiges ausschließenden Begriffen des ‚Postkolonialismus‘ oder der ‚Interkulturalita¨t‘, die beide bisher viel sta¨rker im Zentrum der Literaturwissenschaft stehen, die beide aber fu¨r Deutschland und fu¨r die aktuelle globalisierte Literatur und Kultur problematische Implikationen haben. Dieser weitere Skopus des Begriffs Weltliteratur (der eine Verhandlung postkolonialer Asymmetrien und historischer Lasten keineswegs ausschließt) spricht dafu¨r, dass ein profilierteres Konzept von Weltliteratur ku¨nftig eine gro¨ßere Rolle in der Literaturforschung, der Literaturvermittlung, in der Kanondiskussion sowie in der schulischen Bildung und universita¨ren Lehre spielen sollte. Der Bindestrich, den das franzo¨sische Manifest (im Gegensatz zu Goethes Kompositum ‚Weltliteratur‘ und zur u¨blichen englischsprachigen Worttrennung) einfu¨hrte, indiziert auf ho¨chst anregende Weise die so unverzichtbare wie schwer zu pra¨zisierende Relation, Referentialita¨t und Distanz von Literatur und Welt. Diesen Bindestrich und den aktuellen Sinn der beiden Kollektivsingulare, die ihn rahmen, zu denken, zu beschreiben, zu kritisieren und ihn belastbar zu
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Bernd Blaschke
machen – darin scheint mir heute eine der wichtigsten Herausforderungen fu¨r die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zu liegen.
Literaturverzeichnis Apter, Emily : „Afterword. The ‚World‘ in World Literature“, in: Contemporary French and Francophone Studies 2010/14, Special Issue: Litte´rature-monde. New Wave or New Hype?, S. 287 – 295. Blaschke, Bernd: „Modelle der Kanonisierung von Interkulturalita¨t in Literaturgeschichten und Handbu¨chern. Strategien zur Verortung des Liminalen in der Germanistik“, in: Heimbo¨ckel, Dieter / Honnef-Becker, Irmgard / Mein, Georg / Sieburg, Heinz (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalita¨t als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. Mu¨nchen / Paderborn 2010, S. 205 – 220. Casanova, Pascale: La Re´publique mondiale des lettres. Paris 1999. Cloonan, William J. / Hargreaves, Alec G. (Hg.): Litte´rature-monde. New Wave or New Hype? Contemporary French and Francophone Studies. Special Issue. 2010/14. Combe, Dominique: „Litte´ratures francophones, litte´rature-monde en franc¸ais“, in: Modern and Contemporary France 2010/18, S. 231 – 249. Dean, Martin R. / Hettche, Thomas / Politycki, Matthias / Schindhelm, Michael: „Was soll der Roman?“, in: zeit online v. 23. 06. 2005. http://pdf.zeit.de/2005/26/De batte_1.pdf [09. 01. 2012] Kleppinger, Kathryn: „What’s Wrong with the Litte´rature-Monde Manifesto?“, in: Contemporary French and Francophone Studies 2010/14, S. 77 – 84. Le Bris, Michel: „Pour une litte´rature-monde en franc¸ais“, in: Le Bris, Michel / Rouaud, Jean (Hg.): Pour une litte´rature-monde. Paris 2007, S. 23 – 53. „‚Litte´rature-monde en franc¸ais‘: Abdou Diouf re´pond aux 44 e´crivains qui ‚choisissent de se poser en fossoyeurs de la Francophonie‘“, in: congopage blog v. 21. 03. 2007. http://www.congopage.com/Litterature-monde-en-francais [07. 01. 2012] Porra, Veronique: „‚Pour une litte´rature-monde en franc¸ais‘: Les limites d’un discours utopique“, in: Intercaˆmbio, Se´rie II, 2008/1, S. 33 – 54. „‚Pour une litte´rature-monde en franc¸ais.‘ Points de vue et de´bats“, in: fabula v. 18. 03. 2007. http ://www.fabula.org/actualites/pour-une-litterature-monde-en-fran cais_17941.php [28. 07. 2013] Sarkozy, Nicolas: „Pour une francophonie vivante et populaire“, in: Le Figaro v. 22. 03. 2007. http://www.etonnants-voyageurs.com/IMG/pdf_figaro_sarkosy.pdf [08. 01. 2012] Volltext 2007/32. „‚Waterboarding‘ im Selbstversuch“, in: Die Welt v. 08. 07. 2008. http://www.welt.de/ welt_print/article2189039/Waterboarding-im-Selbstversuch.html [07. 01. 2012] Wetzel, Johannes: „Literaten streiten u¨ber das Franzo¨sisch-sein“, in: Die Welt v. 14. 11. 2008. http://www.welt.de/kultur/article2721859/Literaten-streiten-ueber-das-Franzoe sisch-sein.html [07. 01. 2012]
Joseph O’Neil
Nomos oder Medium der Erde? Zur Geopoetik der Weltliteratur
So viel steht fest: Die Weltliteratur ist eine Figur des Globalen. Schon Goethe hat das so aufgefasst: Die Bildung einer Weltliteratur sei „bey der sich immer vermehrenden Schnelligkeit des Verkehrs unausbleiblich“,1 dieselbe befinde sich „auf dem Markte wo alle Nationen ihre Waaren anbieten“.2 Daraus folgt ein Gebot, na¨mlich dass „jeder […] dazu wirken [muss], diese Epoche [der Weltliteratur] zu beschleunigen“.3 Im ra¨umlichen Umfang sowie in den wiederholten Evozierungen des ‚veloziferischen‘ Zeitalters4 tra¨gt Goethes Begriff der Weltliteratur das doppelte Mal der Modernita¨t und der Globalisierung. Hinzu kommt noch das ethische Moment, die Aufforderung, die ohnehin von sich aus schneller werdende Moderne zu fo¨rdern. Eine a¨hnliche Verschra¨nkung von zwei Ebenen – der Beobachtung der Umsta¨nde und des Gebots, etwas hinsichtlich jener Umsta¨nde zu tun – markiert auch einige kritische Beitra¨ge zur Festlegung des Begriffs der Weltliteratur in ihrer nordamerikanischen Auspra¨gung als world literature. Eine Seite dieses Pha¨nomens scheint sich mit Goethes Metaphern auseinandersetzen zu wollen, na¨mlich mit dem von ihm konstatierten Verlangen, „[…] auch in den mehr oder weniger freyen geistigen Handelsverkehr mit aufgenommen zu werden“.5 Goethes Wort wurde von Marx und Engels wieder aufgenommen; zum „allseitige[n] Verkehr“ der Gu¨ter unter den Nationen ka¨men a¨hnliche Verha¨ltnisse in der „geistigen Produktion“ hinzu: „Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschra¨nktheit wird mehr und mehr unmo¨glich, und aus den vielen nationalen und lokalen
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Goethe 1999b, S. 866. Goethe 1999a, S. 434. Goethe: Gespra¨ch mit Johann Peter Eckermann v. 31. Januar 1827 (Goethe 1999d, S. 225.) So dru¨ckt sich Goethe in den Jahren 1825 – 1827 in zahlreichen Briefen (vgl. z. B. Brief an Streckfuß, Goethe 1908, S. 136; Brief an Meyer, Goethe 1908, S. 93) sowie in Wilhelm Meisters Wanderjahren (Goethe 1991, S. 289) aus. 5 Goethe 1999c, S. 870.
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Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“6 Es gibt also keine Weltliteratur, die nicht unter Bedingungen der geistig-kommerziellen Globalisierung entstanden wa¨re. Die politisch negative Auffassung vom freien Handelsverkehr des Geistes kommt im kapitalismuskritischen Zeitalter gut an. Es gelte, dem Kommerz zu widerstehen und daher auch der Weltliteratur in ihrer Gestalt als world literature. Im Eine-Welt(literatur)-Laden wu¨rden die Vo¨lker und deren Literaturen so zum Konsumgut. Solche Ansichten befeuern auch die Debatten zur world literature, in denen sprachliche und kulturelle Kompetenz gegen vermarktungsfa¨higen Multikulturalismus ausgespielt wird.7 Es geht in diesem kritischen Ansatz also nicht darum, ob eine Weltliteratur entsteht oder wie diese aussieht, sondern darum, was Komparatisten machen sollen. Mit was fu¨r einer Welt haben es die Komparatistinnen und Komparatisten zu tun, wenn von der Weltliteratur die Rede ist? Und was bedeutet es, u¨ber die Berufsethik in die Debatte zur Weltliteratur / world literature einzugreifen? Dies sind die zentralen Fragen meines Beitrags. Um eine Antwort auf diese Frage zu versuchen, kann man die Weltliteratur als eine exemplarische Figur des Globalen behandeln, indem man sich auf die vermutlichen Folgen fu¨r das Subjekt konzentriert. Was fu¨r ein Subjekt impliziert die Weltliteratur? Den Kommerz als Medium der Weltliteratur fu¨r verda¨chtig zu halten, ist eine Teilantwort auf diese Frage. Das Subjekt des Kommerzes – auch der alte Goethe – soll in sich ausdehnenden Netzen der Kommunikation wie des Gu¨terverkehrs verstrickt sein. Wenn man aber dieses Bild der Verstrickung im innerweltlichen Geschehen zum Leitbild erhebt und dazu noch moralisch negativ besetzt, dann betrachtet man diese Verstrickung als tragisch auch fu¨r das Subjekt. Eine solche Position vertritt Djelal Kadir, der frei nach Heidegger den Begriff ‚Welt‘ zum Verb ‚welten‘ macht. Bei Kadir geht es auch um den Beruf des Komparatisten – aber nicht mehr auf der institutionellen, sondern auf der individuellen, subjektiven Ebene. Nach Kadir ist der Prozess des ‚Weltens‘ die Konstruktion von kulturellen – aber auch marktbedingten – Ausschlußkriterien, „specific and shifting cultural criteria that precondition our world-generating impulses and the market viability of their cultural products“.8 Wir stecken hier in einem moralischen Doublebind.9 Es ist nicht nur der Fall, 6 Marx / Engels 1972, S. 466. Dieter Lampings Deutung des Zitats sieht darin eine Kritik an der ¨ berbaupha¨nomen“ und Symptom der marktbedingten Ausbeutung, die Weltliteratur als „U dazu fu¨hrt, dass die Literatur zur Ware wird. Obschon diese Beschreibung zur marxistischen Theorie im Allgemeinen passt, heben Marx und Engels an dieser Stelle das Fortschrittliche der ¨ berwinden nationaler Beschra¨nktheit hervor – eher ein no¨tiger bu¨rgerlichen Revolution im U Schritt zur Bildung einer Weltliteratur im Goetheschen Sinne wie auch zur Diktatur des Proletariats als die „Entzauberung eines großen Wortes“ (Lamping 2010, S. 129 f.). 7 Vgl. Figueira 2010, S. 29 – 36. 8 Kadir 2004, S. 8. 9 Eine Doppelbindung oder ein Doublebind ist eine Figur, die die Ungleichheit der Parteien in einer kommunikativen Situation beschreibt, die so konstituiert ist, dass die schwa¨chere Partei
Nomos oder Medium der Erde? Zur Geopoetik der Weltliteratur
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dass man daru¨ber streiten kann: Die Regeln des Streits sind ausschließlich durch die vorher ausgemachte Schuld der ‚Globalisierer‘ bestimmt. Indem man das Gegenteil behauptet, stellt man nur sein schlechtes Gewissen oder mauvaise foi zur Schau; eine Beteuerung des eigenen guten Willens ist nur „a fetish of our worlding desire, or an alibi for a realpolitik that we embody, symptomatically or opportunistically“.10 Auch die besten Absichten seien nur Erkla¨rungen, die nach diesem Muster jederzeit offensiv re-codierbar seien: „kein richtiges Leben im falschen“,11 ko¨nnte man vielleicht auch sagen. So gelangt man gerade durch die moralische Aufwertung des Partikularen an eine Figur des Globalen, die durch und durch moralisiert ist: einen Globus-Entwurf, der die Totalita¨t der Ethik postuliert. Unmoralisch – nicht nur als analytische Feststellung, sondern im Sinne des Verwerflichen, des Bo¨sen sogar – wa¨re das Auslassen von Moral. Frappierend an diesem Doublebind ist eine Umkehr der Kategorie der Totalita¨t: Um kulturelle Differenz zu schu¨tzen, wird die Differenz von der anderen Seite ausgeho¨hlt. Die nicht ganz latente Gefahr in der Umkehr des Schemas ist diese: Entweder ist alles moralisch oder nichts ist es. Aber kann so ein totalisierendes Schema noch irgendwie von Belang sein? Das ist ein Unterschied, der keinen Unterschied mehr macht, denn auch diese Unterscheidung unterliegt dem Vorwurf der mauvaise foi – es sei denn, der Kritiker, der den Vorwurf ausspricht, befindet sich auf einer ho¨heren Stufe, derjenigen der Ethik, von der aus unterschieden wird, wann man zwischen gut und schlecht unterscheiden darf.12 Dies ist aber nur eine Intensivierung des moralischen Paradoxons, keine Lo¨sung. Wozu ko¨nnte dieses Subjekt sich noch berufen fu¨hlen?
Geopoetik als Antwort auf die Moralisierung des Globus Wenn man dieses Ergebnis nicht als tragisch betrachtet, nicht als Real- oder sogar Kolonialpolitik eines jeden imperial ‚weltenden‘ Subjekts, sondern als eine Tatsache des modernen Berufslebens, ist es vielleicht doch noch sinnvoll, eine Lanze fu¨r die Komparatistik brechen zu wollen als berufsspezifisches Argument. Aber die Aufgabe der Wissenschaft ko¨nnte es vielleicht doch auch sein, unter den vielen globalen Sinnofferten zu unterscheiden, indem man den marktkritischen mit dem pha¨nomenologischen Ansatz kombiniert, um diese Sinnofferten auf die Beschaffenheit des Subjekts hin zu untersuchen, von dem in den jeweiligen von der sta¨rkeren vor eine Wahl gestellt wird, aber eigentlich keine Wahl treffen kann, die die sta¨rkere zufriedenstellen ko¨nnte. In der Psychologie stammt der Begriff „double bind“ von Gregory A. Bateson. Siehe dazu Bateson 1972. 10 Kadir 2004, S. 8. 11 Adorno 2003, S. 43. 12 Siehe Luhmann 1989.
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Joseph O’Neil
Ansa¨tzen ausgegangen wird. So sollte man am Ende ein Werkzeug haben, mit dem man nicht nur nach dem Zweck (der immer nur „Sei moralisch“ sein kann) unterscheiden, sondern auch nach den Mitteln beurteilen kann, ob der Zweck erreichbar oder auch nur erstrebenswert ist. Wie verha¨lt sich diese Idee der Welt und des Weltens zur Figur des Globalen? Und – angenommen, dass es nicht immer um die freie Scho¨pfung, sondern auch um Regulierungsprozesse geht – wie werden Literaturwissenschaftler/innen in der Ausu¨bung ihres Berufs durch den Begriff der Weltliteratur interpelliert? Was bedeutet die eigenartige Beschaffenheit dieses Konstrukts fu¨r die berufliche Ta¨tigkeit im nicht ganz stahlharten Geha¨use der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft? Die Frage der Weltliteratur als Figur des Globalen versuche ich hier in einer differentiellen Konstellation durch die u¨bergeordneten Kategorien Nomos und Medium zu ero¨rtern. Das Ergebnis nenne ich vielleicht etwas u¨bertrieben eine Geopoetik,13 da es mit Konstruktion (poiesis) zu tun hat nicht nur als operative Schließung einer Welt im Sinne der Kybernetik, in der Wahrnehmung oder Setzung (mit dem Welten im außermoralischen Sinne), sondern im Hinblick auf eine Figur der absoluten, materiellen Totalita¨t, der Erde. Mit Hilfe solcher Kategorien kann man die berufliche Bestimmung der Komparatisten sowohl von der Voreinnahme durch den allgemeinen Welthandel wie auch von der moralisierenden Tragik einer absoluten Ethik befreien.
Nomos und Medium Als sittliche Erscheinung einer Mentalita¨t oder umgekehrt als geistiges Produkt gemeinschaftlich gelebter Regeln hat der Begriff Nomos viele semantische Register. Als Folklore wa¨re der Nomos jene Fiktion, die nach dem Prozess der Provinzialisierung emergiert: das System der Werte einer abgetrennten Kultur, die Annahme, dass es solche Kulturen u¨berhaupt gibt.14 So schla¨gt sich eine geistig geschlossene Realita¨t in sozialen Erscheinungen nieder : Sitten, Bra¨uche, Gesetze. Man ko¨nnte Nomos auch als kollektive, hegemoniale Meinung auffassen, die die Meinung einzelner bestimmt oder von der die Meinung einzelner sich abzusetzen hat, die die Gemeinschaft also nicht durchga¨ngig bestimmt – eine Definition, die die Vielfalt der Meinungen sowie die politischen Akte des Dissens hochscha¨tzt.15 Nach dem Juristen und einstigen NSDAP-Mitglied Carl 13 Mein Ansatz hat nichts mit der auf mittel- und osteuropa¨ische Literaturen bezogenen Geopoetik zu tun. Stellvertretend fu¨r diese Forschungsrichtung siehe: Marszalek / Sasse 2010. Es gibt noch spezifischere Anwendungen des Begriffs der Geopoetik wie z. B. im Sinne der Geologie bei Schellenberger-Diederich 2006. 14 Vgl. die Darstellung dieses Prozesses in Erhard Schu¨ttpelz’ Beitrag im vorliegenden Band. 15 Vgl. Wetters 2008.
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Schmitt ist der Nomos auch in diesem Sinne keine Frage der Mentalita¨t, sondern an erster Stelle eine der konkreten Gesetzgebung. Er schla¨gt sogar eine neue Lesart der Odyssee (I,3) vor,16 nach welcher Odysseus nicht die nooi, sondern die nomoi der Sta¨dte und Menschen kennenlernt, die ihm auf seiner Reise begegnen – also als Beleg fu¨r unterschiedlich verfasste Staaten, nicht als Erzeugnis individueller Perso¨nlichkeiten.17 Diese Feststellung der Vielfalt der Kulturen und Verfassungen mu¨ndet bei Schmitt in die historische Feststellung einer internationalen Ordnung, des „Nomos der Erde“ im europa¨ischen Rechtssystem des 17. Jahrhunderts. In dieser Ordnung herrschen gewisse Vorstellungen vom Konflikt, nach denen Konflikte juristisch oder wenigstens durch Achtung eines „gerechten Feinds“, der nach den Regeln des Kriegs zu behandeln und nicht ganz zu vernichten ist, zu lo¨sen sind. Der Nomos soll sich, so wu¨nscht es Schmitt in der Nachkriegszeit, auf die ganze Erde erstrecken, nicht um alle unter eine Gesetzgebung zu bringen, sondern um alle Menschen als Subjekte des Gesetzes zu definieren und daher auch im Konfliktfall als „gerechte Feinde“ zu betrachten, die noch zur Gemeinschaft der Menschen za¨hlen. Die Alternative wa¨re, die Gegner als unmenschlich zu definieren, da der Krieg im Namen der Menschheit den Feind zum Unmenschen macht und ihn dadurch in einen rechtsfreien Raum außerhalb jeglichen Nomos verweist. Fu¨r Schmitt ist der Gegensatz Nomos der Erde – Nomos-freier Raum von einem medialen Unterschied gekennzeichnet: dem Gegensatz Land–Meer. Das Meer ist fu¨r ihn der Nomos-freie Raum schlechthin. Zum Medium der politischen Differenz taugt nur das Land, weil es die Spuren, die dem Nomos zugrunde liegen, aufnimmt und lange Zeit behalten kann: Zaunpfosten, Grenzmarkierungen, die Pflugspuren auf dem Acker. Das Medium Meer ist dagegen eher ein schlechtes Medium, wenn es um den Erhalt solcher Markierungen geht, und daher – nach Schmitt – nicht geeignet, um eine dauerhafte Ordnung herzustellen, innerhalb derer der „gerechte Feind” erkennbar und mit Wu¨rde und Achtung des Kriegsrechts zu behandeln wa¨re. Schmitt wirft man oft und nicht ganz zu Unrecht eine gewisse Mythologisierung im Umgang mit dem Medium „Land“ vor, als ob es sich um die Blut-und-BodenIdeologie handelte. Aber Schmitt insistiert darauf, dass der Nomos der Erde gleichgu¨ltig gegenu¨ber ethnischen, kulturellen, und vermeintlich rassischen Unterschieden ist, analog zum jus publicum europaeum, das die multikonfessionelle und polyzentrische Staatenwelt Europas zum Gegenstand nahm.18 In diesem Sinne wiederholt Schmitt die Kritik an der Herrschaft universaler Ka¨ konomie, die im Gegensatz zu seiner Kernthese vom tegorien wie Moral oder O ¨ bersetzung von Voß geht es um „die Sitten“. 16 Nach der U 17 Vgl. Schmitt 1997, S. 45 – 47. 18 Siehe die Mehrheit der Beitra¨ge in der Sondernummer von The South Atlantic Quarterly 2005/104, insbes. den Beitrag von Srinivas Aravamudan, „Carl Schmitt’s The Nomos of the Earth: Four Corollaries“.
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Primat des Politischen und daher auch des Partikularen stehen.19 Solche Kategorien machen den Feind zum Unmenschen – nicht mehr justus hostis, sondern hostis humani generis – oder verdammen ihn zum Elend in der globalen Unterschicht, ein ‚Welten‘, um Kadirs Begriff wiederaufzunehmen, das sein eigenes Außen nicht zula¨sst. Gilles Deleuze und Fe´lix Guattari vertreten dagegen eine Nomos-Konzeption, die das Gegenteil von Schmitts Nomos der Erde ist: ein staatenloser Raum, in dem territorialisiert und deterritorialisiert wird, ein Raum, den man nur als Erde oder Globus bezeichnen kann, weil er keine Grenzen kennt. Der Nomos ist fu¨r Deleuze und Guattari weder Nomos im Sinne von Gesetzgebung noch von territorialer Differenz, so wie sie der ethnologische Ansatz in der Komparatistik betrachtet. Ihr Nomos markiert vielmehr die Verschiebung einer semantischen Grenze: Im politischen Denken der Neuzeit seit Hobbes sind die universale, allen zuga¨ngliche Vernunft (Logos) und die kontingente und partikulare Setzung politischer und gesellschaftlicher Ordnung (Nomos) miteinander im Streit. Fu¨r Hobbes besteht die Gefahr, dass die Gegner des absolutistischen Staates sich auf ho¨here Eingebungen durch Gott, das Gewissen, oder die Vernunft berufen. Bei Deleuze und Guattari bezeichnet Nomos aber nur noch das Medium solcher kontingenten Ordnungen, nicht die Ordnungen selbst. Der Nomos widersteht einer jeden Ordnung. Bei Deleuze und Guattari ist dieser Gegensatz vor allem durch einen anderen Gegensatz, den zwischen „espace lisse“ und „espace strie´“, definiert. Der Staat ist charakterisiert durch den gekerbten Raum, wa¨hrend die Nomaden bekanntlich im glatten Raum leben.20 Dieser Raum wa¨re in Schmitts Sinne als Raum ohne Nomos zu verstehen und in Schmitts bina¨rem Land-Meer Schema als planetarisches Meer zu verbildlichen. Die Immanenz der Zirkulationen der globalen multitudo fassen Deleuze und Guattari als Invasion einer Horde auf, wa¨hrend sie dem Staat einen nicht-spezifischen Universalismus zuschreiben: Die staatliche Souvera¨nita¨t sorge nicht, wie bei Schmitt, fu¨r ein Pluriversum, ein mehrstaatliches Weltbild, sondern geba¨re die Denkform des universalen Rechts, wa¨hrend der Souvera¨n die ¨ kumene gebiert, deren Umfang potenziell die ganze Welt ist. Denkform der O Deleuzes und Guattaris Ausfu¨hrungen zum Nomos mu¨nden in eine ‚Geophilosophie‘, die auch eine Art ‚Welten‘ ist: ein Welten, das die Positivita¨t eines sogenannten plan d’immanence postuliert, um die Ta¨tigkeit des Weltenden technisch zu beschreiben, d. h. als moralisch nicht vorbelastete Konstruktion einer kontingenten und verga¨nglichen Welt. Statt das Wesen des Weltens im immer schon gegebenen, schicksalhaften „Schuldzusammenhang von Lebendigem“21 einer beruflichen Ta¨tigkeit auszumachen, wie das bei Kadir der Fall ist, 19 Vgl. Schmitt 1932. 20 Vgl. Deleuze / Guattari 1980, S. 598 – 601. 21 Benjamin 1974, S. 138.
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verlagern Deleuze und Guattari den Schwerpunkt auf das Nachher der „cre´ation d’une nouvelle terre a` venir“22 sowie der Revolution bezogen auf ein „nouveau peuple“.23 Die Erde (la terre) ist in diesem Zusammenhang eine Fla¨che, auf der Entterritorialisierungen und Re-territorialisierungen (de´territorialisations/ re´territorialisations) stattfinden, die nur insofern ‚welten‘, als sie eine tempora¨re Einheit konstruieren. ‚Terre‘ verha¨lt sich zu ‚territoire‘ wie Raum und Material zur Struktur. Dieser Ta¨tigkeit bewusst, ist keine erdru¨ckende oder auch nur hemmende Schuld- bzw. Verantwortungslast mit dieser Art von ‚Welten‘ verbunden. Ein etwas pauschaler Vergleich mit Niklas Luhmanns Begriff des Mediums mag vielleicht den Sinn des Ganzen fu¨r die Debatte um den Beruf des allgemein oder komparatistisch Weltenden ergeben. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium hat bei Luhmann die Funktion, durch die Erschaffung und Verdichtung eines semantischen Kontextes die Annahme von ¨ ußerungen (wie in der romantischen Liebe: Ich liebe dich ohne absurden A Grund, einfach so, weil du der / die bist, der / die du bist) wahrscheinlicher zu ¨ hnlich wie im Falle des sich verdichtenden Verbreitungsnetzes, das machen. A Goethe Anfang des 19. Jahrhunderts diagnostiziert, bleibt das Medium ein Substrat von einer gewissen Dichte, das Eindru¨cke aufnehmen und behalten kann. Deleuze und Guattari einerseits, Schmitt andererseits bieten konkurrierende Versionen des Mediums sowie des Nomos. Diese Versionen werden bei allen drei Autoren literaturwissenschaftlich angewandt: z. B. in Schmitts Shakespeare-Studie Hamlet oder Hekuba?24 oder in Form der Kleist-Deutungen, ¨ berlegungen zum Nomos im Zusammendie Deleuze und Guattari in ihren U hang mit einer nomadischen Kriegsmaschine anbieten.25 Ob diese Interpretationen u¨berzeugen, hat wahrscheinlich mehr mit der Affinita¨t des Lesers zu den jeweiligen Standpunkten von Deleuze und Guattari oder Schmitt zu tun. Die Modulation dieser konkurrierenden Systeme durch Luhmanns konstruktivistische Soziologie des Wissens zeigt jenseits solcher Affinita¨ten, was die Begriffe Nomos und Medium fu¨r ein Versta¨ndnis der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft als Beruf – modifiziert durch die Idee der Weltliteratur – zu leisten vermo¨gen. In beiden der obengenannten Fa¨lle – wie auch bei Kadir oder Figueira – handelt es sich um ein politisches Gebilde, das Konsequenzen fu¨r eine berufliche Ta¨tigkeit haben soll. Fu¨r Luhmann unterscheidet sich das politische System von anderen Systemen, indem es einen Universalita¨tsanspruch stellt: Der Staat kann mo¨glicherweise alles regulieren, von Krieg und Frieden u¨ber die Verkehrsordnung bis hin zu Babynahrung. Das heißt aber la¨ngst nicht, 22 23 24 25
Deleuze 1991, S. 85. Ebd., S. 97. Vgl. Schmitt 2008. Vgl. Deleuze / Guattari 1980, S. 449 f.
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dass alles vom Staat regulierbar ist. Man ko¨nnte genau den Begriff, durch den Luhmann den Staat charakterisiert, auch auf die Literatur anwenden: Die Literatur hat – ko¨nnte man sagen – eine spezifische Universalita¨t: Ihr Gegenstand ist potenziell alles, aber dieses ‚Alles‘ wird – wie alle Poetiken annehmen – immer durch gewisse Schemata verarbeitet und dargestellt, also nie als „Alles“ erkannt oder dargestellt. Bei einer Geopoetik geht es also um den Charakter und Umfang des ‚Geo‘. Kann man dieses ‚Geo‘ als Weltganzes, als Globus konzipieren? Im pha¨nomenologischen Ansatz ist man in gewissem Sinne zuru¨ck beim Welten als das, was in den diskursiven Akten des Subjekts passiert, denn die Welt als Ganzes ist nach Luhmann nicht das Thema oder die Summe der Themen, nicht das „Aggregat“, sondern das „Korrelat der in ihr stattfindenden Operationen“.26 Die Weltgesellschaft ist also immer von der Kommunikation u¨ber sie mitgetragen, oder, wie er sagt, „die Weltgesellschaft ist das Sich-Ereignen von Welt in der Kommunikation“.27 Im Vergleich zu Kadir entbehrt dieses Sich-Ereignen von Welt der Tragik; es ist einfach so, weil die Kommunikation nur auf diese Art und Weise geschieht. Dies ergibt sich nach Luhmann aus der Vereinheitlichung der Weltzeit im spa¨ten 19. Jahrhundert: seitdem sind Unterschiede als funktional zu begreifen, in einer Pluralita¨t von Gesellschaftssystemen (z. B. Recht, Wirtschaft, Erziehung). Regional bleiben nur noch die Ausdrucksweisen dieser Systeme. So sehr man sich hier auch an Deleuzes und Guattaris schuldfreie Art von Nomos erinnert fu¨hlen mag, passt Luhmanns Figur der oberfla¨chlich regional differenzierten Weltgesellschaft nicht ganz in ihr Nomos-Schema, denn der Nomos fu¨r Deleuze und Guattari ist erstens die ganze Erde – nicht ein Substrat von spezifischen Kommunikationen, sondern eine ra¨umliche Figur des Globalen als Erde. Zweitens ist dieser Nomos implizit auch etwas, das entsteht, nicht nur eine ra¨umliche sondern eine zeitliche Figur, eine zuku¨nftige Erde. Deleuze und Guattari erschaffen also eine Figur des Globalen, die die Inversion von Luhmanns Medium-Begriff ist, indem sie das Weltganze mit dem Ziel der Geschichte verschra¨nken: nur eine ga¨nzliche Transformation kann das „nouveau peuple“ sowie die „nouvelle terre“ hervorbringen. Da „Volk“ und „Erde“, wie „Nomos“, das Medium bezeichnen, sind es nicht mehr die Formen, die sich nach der Konsistenz oder Dichte des Mediums a¨ndern, sondern das Medium selbst, das sich abschafft, um einem neuen Medium Platz zu machen. Fu¨r Luhmann ist diese messianische Temporalita¨t genauso wenig interessant wie die Zeitra¨umlichkeit von Goethes Prognose, „daß eine Weltliteratur sich bilde“,28 denn die interkulturelle Kommunikation, so Luhmann, „hat nichts mit dem Entstehen einer Weltgesellschaft zu 26 Luhmann 1998, S. 152. 27 Ebd., S. 150. 28 Goethe: Brief an Streckfuß (Goethe 1907, S. 28).
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tun“.29 Die Welt ist in diesem Sinne keine Erde, und Luhmanns Konstruktivismus keine beliebige Neugestaltung einer immanenten Fla¨che, sondern die Welt wird gepra¨gt durch Akte der Beobachtung. Interne Differenzierung wird nach zwei Pra¨missen hergestellt: Die Welt ist nie ein Ganzes, aber jedes Subjekt beobachtet (‚weltet‘) immer auf die gleiche Art und Weise. Alle modernen Gesellschaften zeigen demnach eine a¨hnliche Aufsplitterung in funktional differenzierte Systeme. In diesem Sinne a¨hnelt Luhmanns Modell dem Gesellschaftsbild von Max Weber. In seinem Aufsatz „Wissenschaft als Beruf“ mahnt Weber gegen das Versta¨ndnis des Berufs als Verku¨ndung eines Heilsversprechens oder Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Entgegen dem messianischen Versprechen einer neuen Erde sowie dem moralischen Gebot des „Einen, das not tut“ sieht Weber ein neues Zeitalter eher nichtmessianischen Charakters entstehen, in dem die Gesellschaft durch eine Vielfalt von notwendig partiellen, jedem Beruf eigenen Zielsetzungen bestimmt ist: „Die alten vielen Go¨tter, entzaubert und daher in Gestalt unperso¨nlicher Ma¨chte, entsteigen ihren Gra¨bern, streben nach Gewalt u¨ber unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“30 Webers Berufsethik antizipiert den Subjektentwurf Luhmanns, in dem nur mehrere, funktional differenzierte Welten entstehen ko¨nnen, die den Globus nicht untereinander aufteilen, sondern im selben Raum miteinander konkurrieren. Die Wissenschaft als Beruf ernst zu nehmen heißt also nach Weber, sich nicht von anderen einreden zu lassen, dass man ein Gedicht moralisch falsch gedeutet hat oder dass man der Revolution widersteht, indem man seiner Arbeit nachgeht. Die Spaltung einer o¨ffentlichen Berufsausu¨bung von den anderen o¨ffentlichen Ta¨tigkeiten, die Kant noch als ‚privaten Gebrauch der Vernunft‘31 verstanden hat, scheint notwendig, wenn ein Beruf als solcher mo¨glich sein soll.32
29 30 31 32
Luhmann 1998, S. 170. Weber 1988, S. 605. Vgl. Kant 1964, S. 55. Mein Beitrag fußt im Wesentlichen auf der Argumentation von William Rasch. Rasch fragt sich zum Beispiel, ob die angeblich materialistische und sa¨kulare Befu¨rwortung der reinen Immanenz (in diesem Fall durch Michael Hardt und Antonio Negri) nicht doch eine ReTheologisierung der Welt ist, und zwar als chiliastische Sehnsucht, „quasi-theological longing for a post-political world“. Siehe das Kapitel „Persistent sovereignty : Hardt and Negri“, in: Rasch 2004, S. 103 – 117, hier :107.
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Nomos, Medium, und Weltliteratur als Beruf ¨ berlegungen zum Thema der Weltliteratur greift Djelal In seinen spa¨teren U Kadir das Lexem ‚Welt‘ nochmals als Verb auf, aber diesmal um anzudeuten, dass ‚worlding‘ die unvermeidbare Ta¨tigkeit eines jeden Wissenschaftssubjekts ist: „it is invariably the constructed outcome of our particular performative interventions“.33 So kann das Performative als dem Beruf innewohnende Ta¨tigkeit verstanden werden, vielleicht ohne diese Ta¨tigkeit so stark in der tragischen Richtung, geschweige denn als eine Verallgemeinerung des Partialen zu verstehen, die einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichka¨me. Die Unterschiede, die von Gegnern der universita¨ren ‚World Literature‘ polemisch ¨ konomie und Kultur oder Theorie und Lihervorgehoben werden, zwischen O teratur, ko¨nnen durch allgemeine Theorien des Nomos und des Mediums moduliert werden, die gerade in der Sprache von Goethes Ausfu¨hrungen zum Thema – Zirkulation von Gu¨tern, Schriften, und Informationen sowie die Geschwindigkeit derselben – formuliert sind. Goethes gelegentliche Bemerkungen zum Thema der Weltliteratur u¨bernehmen diese Sprache metaphorisch vom wirtschaftlichen Denken seiner Zeit.34 Dass solche Figuren auch im literarischen Erdenken fiktiver Welten vorkommen, liegt meiner Auffassung nach auf der Hand. Der theoretisch abstrahierende Ansatz, den ich hier verfolgt habe, mag propa¨deutisch auf die Analyse solcher fiktiven Welten – nicht nur der literarischen Utopien, sondern auch reflexiver Texte z. B. bei Borges oder bei Goethe – hinfu¨hren, die sich als genauso triftige Beschreibungen einer globalisierten Welt erweisen ko¨nnten.35 Konsequent im Sinne Deleuzes und Guattaris sowie auch nach Luhmann kann man aus diesen Ausfu¨hrungen zum Thema Nomos und Medium Folgendes schließen: Je nachdem, wie das Medium konzipiert wird, a¨ndert sich die Konzeption des Nomos. Nomos und Medium beschreiben also die Anschlussmo¨glichkeiten zwischen dem Spezifischen und dem Universalen, ob in der Politik oder in der Literaturwissenschaft. Wenn man diese Verha¨ltnisse auf die urspru¨ngliche Figur der Weltliteratur anwendet, hat man spezifisch unterschiedliche Figuren des Globalen, die nicht leicht miteinander zu verso¨hnen sind. Man kann nicht fu¨r eine oder die andere pla¨dieren, ohne seine ontologischen Pra¨missen explizit oder implizit zu entdecken. Wie dies im Raum sowie in der Zeit konzipiert wird, kommt also immer noch auf die Notwendigkeit einer Entscheidung an, wie es Max Weber in seiner Wissenschaftslehre aus33 Kadir 2010, S. 5. 34 Vgl. Lamping 2010, S. 134 – 135. 35 Es sei dahingestellt, ob dieser Zustand vielleicht doch in Goethes Werk thematisiert ist. Man ko¨nnte aufgrund genau derselben Zusammenha¨nge, denen ich hier nachgehe, z. B. bei Vogl 2004 oder Dotzler 1996 Goethe’sche Motive auf eine an Deleuze und Guattari orientierte Art und Weise gedeutet finden – und sie auch kritisieren.
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dru¨ckt, die „letzten, inneren sinnhaften Konsequenzen“ der Entscheidung fu¨r diesen oder jenen letzten Standpunkt deutlich zu machen und dadurch „den Einzelnen [zu] no¨tigen, sich Rechenschaft zu geben u¨ber den letzten Sinn seines eigenen Tuns“.36 Die Versuchung ist aber, nicht das Subjekt sein zu wollen, das in jeder dieser ontologischen Figuren implizit ist: bei Luhmann ein Beobachter – sei es erster, sei es zweiter Ordnung –, der die changierenden Interaktionen von Spezifikation und der Auflo¨sung von Spezifikation in einer Weltgesellschaft beobachtet; bei Schmitt ein prima¨r staatspolitisch denkender Mensch, der fu¨rchtet, dass das absolute Recht auch rechtsfreie Ra¨ume schaffen muss; oder drittens einer, der sich zum Anwalt einer reinen Immanenz mit Totalita¨tsanspruch stilisiert, welcher Anspruch zur totalen Transformation des Globus fu¨hren soll. Entgegen dem Dra¨ngen nach einer ‚neuen Erde‘, wo alle gleich sind – d. h., wo die Differenz ra¨umlich unbeschra¨nkt, zeitlich unhaltbar ist – ‚ oder der Totalisierung der Schuld als Grund der Subjektivita¨t, kann man von Webers Berufsethik ausgehend eine kontingente Lo¨sung suchen, die auf beide Seiten der Frage, die des Subjekts wie die des Nomos oder der globalen Ordnung, eine Antwort bietet. Der Aufruf, unsere Pra¨misse zu identifizieren und konsequent zu bleiben, soll einen notwendigen Konflikt thematisieren, ohne diesen Konflikt als moralisch zu verstehen; denn wenn man die Berufsethik moralisiert (ich sage nicht: politisiert), verweist man seine Gegner in den rechtsfreien Raum, wo die Bo¨sen sind, oder aber man spielt nur mit einer moralischen Rhetorik, die keinen Anschluss an die Außenwelt herzustellen vermag und daher auch nicht u¨ber die einfache Berufsethik erhaben ist.
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Teil III: Poetiken des Globalen
David Damrosch
Geopoetics: World Literature in the Global Mediascape
Figure 1: Girugaamesshu. Photograph by David Damrosch.
In contemplating “Figuren des Globalen” in comparative studies today, we can begin with the action figure shown here: Girugaamesshu, a leading character in the Japanese video game series Final Fantasy (Fainaru Fantajı¯ in Japanese), first released by Nintendo in 1987, with over a hundred million units sold since then. Girugaamesshu is none other than Gilgamesh, hero of the world’s first major work of world literature. Now reincarnated as a warrior in Hironobu Sakaguchi’s bestselling game, Girugaamesshu is a figure in whom global traditions meet. His eight arms recall the iconography of ancient Hindu divinities, while his weapons have a truly international pedigree. A travelling sword collector, he is equipped
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with “Genji equipment” based on medieval Japanese narratives such as The Tale of the Heike (somewhat oddly assimilated to Murasaki Shikibu’s poetic hero Genji), and in the Final Fantasy series he is often shown searching for Excalibur, King Arthur’s famous sword. What is a comparatist to make of such a figure, with its imploding of the world’s literary traditions? Can – or should – we engage with such materials, or are they only so much cultural noise we can just as well ignore? More ominously, do they represent the approaching end of literary studies as we know them? As literature course enrollments dwindle, how much value is there to our continuing to analyze Arthurian legends or debating the inclusion of Gilgamesh and The Tale of Genji in our world literature courses if all that our students really want is to play the video game? My argument here will be that we need not face a stark either/or choice between abandoning our literary heritage or burying our heads in the sand and carrying on with a fit audience though fewer and fewer. Instead, we need to engage much more actively than we have done so far in interrelating old and new media and the methods of their analysis. Extending our work to engagement with the global mediascape can reanimate the field of comparative literature, if we carry out these analyses in a serious way, both using our literary-critical skills and adapting them to these new materials, and to the new material conditions they reflect. To date, the rapidly growing field of media studies has predominantly been developed by scholars in disciplines other than literature: in Germany, especially by sociologists, political scientists, and film scholars, and in the United States also within departments of Communication or American Studies. Some scholars in both countries have begun to apply or adapt literary analysis to new media, as can be seen in essays such as Ernest Hess-Lu¨ttich’s “Netzliteratur – ein neues Genre?” (2007), and in the more literary contributions to Corneliussen and Rettberg’s 2008 collection Digital Culture, Play, and Identity: A “World of Warcraft” Reader, only one of whose thirteen contributors is actually based in a department of literature. Overall, it is fair to say that the great majority of literary scholars in both countries have remained loyal to their studies of novels, plays, poetry, and related texts. My argument here will not be that the study of classic literary texts is fated to wither away in the internet age; on the contrary, literary studies can thrive in the newly expansive media environment, bringing new audiences to our favorite authors and giving new contexts for their study. In addition, literary scholars have much to offer new-media studies, which often touch upon issues of language, narrative, and representation in an unreflective and undeveloped way. Our changing mediascape will very likely entail the redirection and even replacement of some of our approaches, and not all of the literary classics of the pre-internet age will survive the transition. Yet others will: classic works have
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persisted over the centuries precisely through their adaptability to new times and new media. Entranced by the eloquence of a blind bard’s recitation of The Iliad, an ancient Mycenaean listener might have thought it impossible for Homer’s poetry to be conveyed effectively in the strange new technology of graphesis or writing, but through that medium the epic survived long after the death of the last illiterate Greek bard. Buried in the sands of Iraq for two millennia, The Epic of Gilgamesh skipped the entire era of the transition from clay tablet and scroll to the codex and the invention of printing a millennium later, coming to light just at the dawn the modern media age. Thanks to the new technology of film and video, millions of viewers have heard Gilgamesh’s story retold by Star Trek’s Captain Picard to a dying Tamarian on the distant planet of El-Adrel. No mere window-dressing in this scene, “the oldest story in our world” (as Picard calls it) provides a key moment of interspecies understanding, as the Tamarian language consists entirely of metaphors. Having gotten nowhere with direct statements, Picard discovers that he can only communicate through poetic language and storytelling.1 As an example of the reframing of the literary canon today, consider Dante’s Inferno – not the first part of Dante’s Commedia, but the video game. In December 2009, Electronic Arts, Inc., put out an advertisement to announce the game’s pending release: Attention PlayStation 3 owners: Satan will see you now! And thank you for waiting! “Gates of Hell”, the playable demo for the upcoming Dante’s Inferno, is now available as a free download on the PlayStation Network today. SPEND THE HOLIDAYS IN HELL WITH THE DANTE’S INFERNO DEMO!
Muscular Christianity goes steroidal in this game, in which a heavily armed Dante battles his way through Hell to rescue a buxom Beatrice. The game’s “official website” gave the following summary of the game at the time of the demo’s release: Players will experience fast-paced hack-n-slash combat as they fend off waves of enemies before taking on the ultimate battle against Death. After defeating this boss, Dante will be armed with Death’s scythe, a powerful holy cross, and will be ready to tear open the Gates of Hell. […] “Our main goal from the start of this project has been to create a journey that will make gamers truly feel like they are going through hell,” said executive producer Jonathan Knight.2
Plundering the classics at will, video game makers do show signs of an anxiety of influence, though they aren’t anxious about the radical changes they make to 1 “Darmok”, Episode 102 of Star Trek: The Next Generation; http://www.startrek.com/databa se_article/darmok, accessed March 24, 2012. 2 http://www.dantesinferno.com, accessed March 9, 2010.
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their source texts; instead, their concern is to differentiate themselves from their immediate predecessors in the video game market. Thus the box of the 2006 video game Genji: Days of the Blade assures prospective buyers that “Genji: Days of the Blade unveils beautiful next generation graphics and vastly improved game play on your PlayStation 3. Step away from the traditional gaming experience as you discover a new level of action and adventure for the PS3.”3 Here, “the traditional gaming experience” means “two years ago”, and “next generation graphics” means “better than your older brother has.” Of course, the Genji has long circulated in illustrated versions and has even been turned into manga and anime in recent decades, but Genji: Days of the Blade goes much farther. The game transforms Genji into a sword-wielding Samurai, a figure radically removed from Murasaki’s sensitive hero, who was far more skillful in composing poems and blending perfumes than in swordplay. The overwhelming of literature by the dark electronic arts is a source of real anxiety in Haun Saussy’s wide-ranging and thoughtful lead essay in the ACLA’s 2006 report on the state of the discipline, published as Comparative Literature in an Age of Globalization. There, Saussy says that We live in an era of plentiful information, information so readily available as to be almost worthless. […] What would Marcel have made of the inaccessibility of Albertine’s mind if he had always before him her GPS location, heart rate, probable serotonin level, last 500 Google searches, past year’s credit card transactions, status on Friendster, speed-dial list, and 25 most-played songs? The problem would become not one of having clues but of sorting them out. Marcel’s desire for Total Information Awareness would need to be assuaged by ever more profound connections among ever larger groups of data. […] In such a perspective, most of literature looks like a relic of an earlier, data-poor, low-bandwidth era of communications. The reader of literature is a paleontologist, scraping and fitting together a few poor bones to imagine a ten-story beast.4
What is the place of literature in the information age, when Dante and Derrida alike may be swamped in our hard drives by an overwhelming mass of sound bites and text bytes? As Saussy develops his theme, popular music appears not once but twice in his catalog of the competition that great books face today : A plain-text version of War and Peace, downloadable gratis thanks to the Gutenberg Project, contains only 1.15 megabytes of data in ZIP format. What carries an ordinary reader through weeks of immersion and intimidates non-readers by its bulk on the library shelf takes up the same amount of informational space as […] a freeware program that organizes your resume, any of 19 songs in MP3 format posted by Eric and
3 Genji: Days of the Blade. Sony Computer Entertainment, 2006. 4 Saussy 2006, pp. 31 sq.
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the Thin Line, [or] a one-minute sample from “The Sounds of Moo: The Young Polish Real Electronic Music.”5
Saussy soberly concludes that “The close readings and paradoxes of traditional literary criticism must have been symptoms of the information-poor communications networks of the past, when details mattered”.6 I believe that we will do better to engage with the new media than retreat into a paleontological stance of regret for the loss of the long, difficult novels now threatened with extinction in the curriculum. If we can foster a meaningful connection between older texts and newer media, we will find that our traditions of literary analysis, even of close reading, will be useful and needed. Already a decade ago, Jan Van Looy and Jan Baetens published a collection entitled Close Reading New Media: Analyzing Electronic Literature (2003), and students of the new media are increasingly taking what Simon Egenfeldt-Nielsen and his colleagues have described as “a cultural turn in video games studies.” They argue that “a close reading of a video game is not only possible, but that it also yields interesting insights about how a game that makes use of stories is experienced by a player,” and they go so far as to advocate exploration of “the poetics of game design”.7 If literary scholars attend to the new electronic media, we will be refining a symbiosis that already exists between digital and print culture. To take the example of Dante’s Inferno, even though its producers took extreme liberties with the original, they also introduced a paperback edition of Dante’s actual Inferno into American bookstores, brought out by no less a publisher than Random House (Dante 2010). Electronic Arts published their Dante edition some three months before the release of the video game, so that the book could serve as a lead-in or teaser for the game itself (Figure 2). In this edition, Electronic Arts supplements the poem with an essay by the game’s “executive producer” and a color insert showing scenes from the game, as well as a hundred and fifty pages of scholarly notes on the cantos. Like the video game box, the front cover is adorned with a warrior Dante in a spiked helmet, naked to the waist and with a blood-red cross painted over his rippling pectoral muscles (perhaps a distant echo of Spenser’s Red Crosse Knight?). This Samurai Dante holds a huge, gleaming scythe with which he is about to vanquish several zombie-like devils against a backdrop reminiscent of Hieronymus Bosch’s paintings of hell. The book’s back cover invites the reader to savor the poem as “the timeless classic of a journey through the horrors of hell,” and Dante’s poem becomes, in effect, the prequel to the game, “the literary classic 5 Ibid, p. 32. 6 Ibid. 7 Egenfeldt-Nielsen / Smith / Tosca 2008, pp. 189 – 192.
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Figure 2: Cover to the Visceral Games edition of Dante’s Inferno. Photograph by David Damrosch.
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that inspired the epic video game from Electronic Arts,” as the front cover puts it. The back cover copy displays a prophetic optimism befitting the upward trajectory of the original Dante’s journey, announcing the video game’s smashing success months before its actual release: All hell is breaking loose. Electronic Arts’ thrilling video game Dante’s Inferno has exploded on the scene and this is the book that provides unique insight into its creation. Go back to the source with Henry Wadsworth Longfellow’s celebrated translation of Dante’s epic poem. Presented in its entirety, here is the foundation and inspiration for the game. Then learn how the game’s creators turned Dante’s notorious Nine Circles of Hell into the hottest game around.
What should we make of this overheated Inferno? I would not want to propose that we uncritically embrace this marketing ploy, but neither should we piously refuse to engage with Electronic Arts’ Dante’s Inferno as though it could appeal only to the most naı¨ve and credulous consumer. In fact, the major lines of response to the appropriation of Dante’s poem were already being debated in the gaming community itself around the time of the game’s release. Three postings on the gaming fan site Destructoid.com can suggest the range of views. A gamer writing under the name Paustinj clearly felt misled by the pre-publication of Dante’s text: “WTF is this shit?” he writes, adding: “Expect a lot of that from people who buy this book.”8 Paustinj had apparently been looking for a player’s guide, something along the lines of the Dante’s Inferno Strategy Guide published by Prima Games (another division of Random House), and so he was annoyed to have been misled into buying a foundational text of Western culture. Other gamers, however, expressed very different views. A gamer called Uzzy took a high, Arnoldian line, declaring: “Words simply cannot express just how wrong this is.” Though Uzzy’s principled rejection of the debasement of the Western Canon is impressive, the most interesting of the Destructoid postings presents a more nuanced view. SirMonster210, whose thumbnail photo shows a heavily bearded man wearing sunglasses with scarlet lenses, is a hard-core gamer to all appearances, but he is hardly an uncritical one: this game’s pending release did inspire me to read the original work. i dont see the game as “ruining” anything. the poem is great and will continue to be great. and the game might be great too. the book will probably be a quick cash in, but who knows… the hardcopy AVP: three world war has me by the balls and wallet right now. if i can fall for that marketing scheme, who knows.
So SirMonster210 reads Dante as a result of Electronic Arts’ promotion, but he remained skeptical concerning the game itself. He was surely not alone in 8 http://www.destructoid.com/blogs, accessed March 9, 2010.
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finding his way to Dante’s poem thanks to the game. In a major marketing push, Electronic Arts bought a thirty-second advertisement for the Super Bowl broadcast in February 2010, the most expensive televised event of the year. On his own, Dante would never have made such a splash on American television, and we can expect that SirMonster210 was only one of many consumers who were brought to Dante by the promotion of the game. We can also see the video game as something more than an excuse to seduce some viewers into reading a classic book. No one would mistake the game’s cartoonish characters and violent action for Dante’s originals, but the game’s vivid visual artistry might be another matter, and it can actually enrich the experience of the poem for visually attuned readers. The game’s visual success stemmed from Electronic Arts’ decision to commission designs from Wayne Barlowe, a writer and illustrator known for his Dantesque fantasy work Barlowe’s Inferno (1999). One admirer of both Dante and Barlowe writes online about this fruitful conjunction: The thing about their design that I am absolutely beside myself about is that they had Wayne Barlowe doing the concept. The man is amazing and has basically built his career out of conceptualizing Hell and you can find his books of Hell re-imagined on Amazon as well, which I highly recommend if you’re a Dante (the actual poet) fanatic like myself. […] Honestly, the attention to detail is simply fantastic. The walls made of trapped sinners, Minos shouting out verdicts in the background as you approach, the screams of sinners, a man calls out for Ulysses in the bowels of Charon’s boat, the detailed backgrounds such as a giant skull spitting out the corpses of the damned at the start. It’s simply on a massive, grand scale and if you’ve ever read Dante and lived to see his Hell brought to the big screen […] you will NOT be disappointed playing this video game.9
Even the most commercial enterprises, then, may have genuine aesthetic value, and today’s electronic games present remarkably rich worlds for scholars as well as consumers to explore. As Jesper Juul says in his book Half-Real: Video Games between Real Rules and Fictional Worlds: “The worlds that video games project are often ontologically unstable, but the rules of video games are very ontologically stable […]. That the majority of fictional game worlds are incoherent does not mean that video games are dysfunctional providers of fiction, but rather that they project fictional worlds in their own flickering, provisional, and optional way”.10 *
9 Anonymous review on http://www.amazon.com/Dantes-Inferno-Divine-Playstation-3/dp/ B001NX6GBK, accessed August 10, 2011. 10 Juul 2005, p. 169.
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Teachers as well as scholars can find ways to enter these flickering worlds. A particularly ambitious melding of literature and new media can be found in a performance piece called Grand Theft Ovid, which has been presented in various forms in New York City and elsewhere since 2009. Grand Theft Ovid is the brainchild of Edward Kim, a drama teacher at a private high school in Connecticut. Kim generally teaches classic drama from Aeschylus to Shakespeare to Eugene O’Neill, but he observed that many of his students, boys especially, were spending more time playing online video games than reading literature, and he decided to challenge them to put these interests together. He assigned his class to pick episodes from Ovid’s Metamorphoses and adapt them to one or another of their favorite online video games, creating avatars for each character and then finding appropriate settings and props for each tale within the game world. One game the class used was Grand Theft Auto, which provided the basis for the work’s witty title; other games used included World of Warcraft and Halo 3. The results were so successful that Kim was able to take the results on the road as a theater piece in its own right. I saw Grand Theft Ovid in an experimental theater in New York City in July 2010, where it was performed live by half a dozen students seated at laptop computers connected to the internet, with the game projected onto a wall-sized screen (Figure 3).
Figure 3: Performance of Grand Theft Ovid, Brick Theater, New York City, July 2010. Courtesy Edward Kim.
As the students played each episode, another student read Ovid’s text aloud. All of the pieces involved line-by-line attention to The Metamorphoses, and the students often found inventive settings for the tales (Icarus, for instance, becomes a military pilot whose helicopter crashes). Interesting juxtapositions
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occurred in scenes set in World of Warcraft, where unrelated teams periodically came through the spaces being used by the Grand Theft Ovid group. The game allows players to post comments to whoever is online in a given room, and several exchanges took place between Kim’s students and puzzled Warcraft veterans, some of whom were amused while others were annoyed to learn that Ovid had invaded their mythological realm. All of the episodes were interesting, but particularly effective was the story of Niobe, who refuses to worship the goddess Latona, mother of Apollo and Diana. Niobe boasts that she herself should be more deserving of worship, having fourteen children to Latona’s two, whereupon an enraged Latona has her son Apollo take his bow and kill Niobe’s children. The group set this tale within Halo 3, “a first-person shooter video game,” to give its proper generic designation. The effect of this choice was uncanny : we viewers found ourselves in an arid landscape of hills and stone structures, behind the barrel of a machine gun, helplessly joining the unseen god as he pulled the trigger to exterminate Niobe’s seven sons and then her seven daughters, one by one, as each would appear from some hiding place, seeking to flee or hurrying to comfort a dying sibling. The result was a kind of uncanny overlay of the Iraq War and King Lear – “As flies to wanton boys are we to th’ gods, / They kill us for their sport,” as Gloucester grimly remarks late in the play (4.1.36 f.).11 Grand Theft Ovid’s Niobe episode powerfully counters the dulling effect of virtual-reality violence, of the sort that several contributors are concerned about in Petra Grimm and Heinrich Badura’s 2011 collection, Medien – Ethik – Gewalt. In its live staging of the game play and accompanying recitation of Ovid, Grand Theft Ovid also complicates the imposition of virtuality on reality that Andrzej Kiepas discusses as “reale Virtualita¨t” in his contribution to Grimm and Badura’s volume. Developed through a creative teacher-student collaboration, Grand Theft Ovid differs from Electronic Arts’ Dante’s Inferno in important ways, both in its fidelity to its source and in its version of the text. In publishing their Inferno prequel, Electronic Arts used the plodding translation of Henry Wadsworth Longfellow, no doubt simply to avoid paying a permissions fee for any one of the excellent contemporary translations. By contrast, Grand Theft Ovid used an eloquent modern translation, which was beautifully read during the performance to a melancholy backdrop of minimalist electronic music. Talking later with one of the student performers, I learned that he was particularly happy to take part in the production, as he had been reading Ovid in his Latin class and was able to use the original while planning his contributions to the piece. 11 Appropriately, this quotation provides the title and epigraph for an online short story by a video game fan, based on the Final Fantasy video game: Iknopeiston, “As Flies to Wanton Boys,” http://www.fanfiction.net/s/2637122/1/, accessed December 31, 2011.
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Electronic Arts was roundly criticized by Dante specialists for so dramatically altering the poem, especially in the portrayal of Beatrice, who is reduced from Dante’s savior to a damsel in distress needing him to save her. As Teodolinda Barolini of Columbia University sardonically commented in Entertainment Weekly, “Of all the things that are troubling, the sexualization and infantilization of Beatrice are the worst. […] She’s this kind of bizarrely corrupted Barbie doll”.12 Yet Electronic Arts had brought in a Dante specialist, Guy Raffa of the University of Texas at Austin, who served as the game’s literary consultant and who wrote historical commentary for its website. Raffa was a good choice; he had already developed an extensive website devoted to Dante,13 and his site is full of excellent images and information. It includes links to online texts of the Commedia, including a bilingual edition giving both the Italian text and also the splendid translation by Robert Hollander. Perhaps Raffa couldn’t save Beatrice from her sexist fate at the hands of the video game makers, but at least he should have insisted that Electronic Arts use Hollander’s translation, whose permissions cost would hardly have strained their lavish budget. *
Whether we critique Electronic Arts’ Dante’s Inferno or appreciate Edward Kim’s Grand Theft Ovid, we are at least bringing these contemporary works onto familiar literary territory, but classic authors are hardly the dominant presences in the new media. What possibilities are there for engagement with contemporary work that doesn’t have any such literary base? Recalling Haun Saussy’s concern about the survival of Tolstoy amid “The Sounds of Moo: The Young Polish Real Electronic Music”, I would like to take the example of world music today, looking in particular at the pervasive genre of hip-hop. Born in African-American ghetto culture, hip-hop has gone global in recent years, and it has become a leading force in the spread of American pop culture as it sweeps around the world. To date, world music has been studied largely by ethnomusicologists and sociolinguists, with little input from literary scholars, even those interested in globalization. What can we make of this phenomenon? How do we even read lyrics such as the following, from J-pop star Namie Amuro’s 2005 album Queen of Hip-pop? Ain’t nobody stoppin’ me 夢見たんじゃない そんな甘くない life し続けてるわ fight keep my head up to the sky 誰より強い my pride 数え切れない prize 時には troublesome night それでも not gon’ cry 12 Barolini 2010, p. 79. 13 http://danteworlds.laits.utexas.edu/index2.html, accessed January 30, 2014.
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I’m on top 追いつけない I’m so hot 間違いない I can’t stop 縛られない that’s my way (Ain’t nobody stoppin’ me) U feel the heat そうよこんな beat ただの dream? 違うこれは real 信じない ならば消えて please Cuz I’m a Queen of Hip-Pop […]
The words alone, of course, don’t give the full effect, which can be seen in Namie Amuro’s videos on YouTube and elsewhere. Yet her fist-pumping performances, backed by frenetic dancers, strobe lights, and fireworks, probably won’t give any greater sense of connection to humanist traditions than do the lyrics alone. Such songs can thus serve as a kind of limit case for literary study, and what I would like to argue is that what ordinary listeners may hear as nothing more than a dance tune can become a true research opportunity for the comparative literary scholar. I first became intrigued by this music thanks to my daughter Eva, who was studying Japanese in high school, when I happened to overhear a bilingual song that she was listening to, recorded by a Japanese-Hawaiian hiphop group. Initially I was baffled by the multilingual me´lange created by artists such as Namie Amuro, but I discovered that I could gain a better understanding by applying my training as a comparatist to examples of multilingual hip-hop from different regions. The key to decoding Namie Amuro’s songs proved to be the work of Cyril Kumar, a Lebanese-Canadian artist who performs under the stage name K-Maro. Listening to his 2004 album La Good Life, I came on a song called “Walad b’Ladi”: Que tu viennes d’ici ou que tu viennes de loin Eh! tous passe´ par le meˆme chemin Eh! Ah! les gays c notre destin K-Maro chante fort au nom des miens C’est la musique qui nous unis y’a pas d’race Eh! C’est la musique qui nous unis on n’a pas de face Eh! C’est l’temps de stopper les tabous Nous on se`tien a vous J’voulais me voir briller tout la haut Sous mon e´toile j’ai su trouver les mots Si tu n’a pas cru moi j’ai sauve´ ma peau Sur ce son j’me bat pour mes ide´aux Walad b’ladi Walad b’ladi oh oh Walad b’ladi chante fort si tu m’entends
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Walad b’ladi Walad b’ladi oh oh Walad b’ladi chante fort si tu m’entends Viens pas me jouer les gangsters Eh! C’est pas sur un fre`re que tu va l’faire Eh! J’ai pas oublie´ d’ou` j’viens pas l’bec au bercail la rue m’gaˆte pose ta main. Oh mec on a la meˆme couleur Eh! meˆme taille mais pas la meˆme saveur J’fais c’que j’ai a` faire gays j’fais ma vie Why front on me? It’s not necessary. […]
The song’s title means “Son of My Country” in Arabic, but what country does KMaro have in mind? In his song he enriches the American hip-hop idiom with Middle Eastern rhythms and instrumentation to assert a common humanity rising above national and racial divisions. In K-Maro’s song, music itself becomes a new space to bring people together, and he exhorts his audience to sing out if they understand his message. Later in the song, K-Maro asserts that Tu sais dans ma teˆte je n’suis jamais parti Je suis toujours ici Parmi vous mes amis Dans mon bled Tu sais dans ma teˆte je n’suis jamais parti Je suis toujours ici Parmi vous mes amis Dans ton bled Walad b’ladi Walad b’ladi oh oh. […]
Addressing his listeners both as the intimate “tu” and the plural “vous”, K-Maro declares that he has never really left home but is always “here” (ici), at once in his own ’hood and in his listeners’ “bled” as well. K-Maro’s use of the hip-hop idiom arises from his personal trajectory. His family emigrated to Paris at the time of the Lebanese civil war, ending up in Montreal in 1991. There, the adolescent Cyril Kumar developed the ambition to become a musician, but as a Middle Eastern immigrant, he faced enormous obstacles to being treated seriously as a singer in French. He found a way out of this ethnic bind in hip-hop, since he could become just as African-American as any Canadian singer – even more so, as he could bring the urban underclass idiom to bear on his own immigrant experience in Paris and Montreal. As Mala Sarkar (2009) has shown, in the 1980s and 1990s Montreal became a center of creative interaction of French and USA hip hop influences, and after his Parisian sojourn, K-Maro was well placed to take up this double heritage. In the early
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2000s, he began his career as a multinational hip-hop artist with a double identity, at once French and American. On the front cover of La Good Life, his debut album, he appears in full ghetto mode, complete with tattoos and bling; naked to the waist like Electronic Arts’ Dante, he sports silver crosses rather than red ones on his chest. On the back of the CD, however, he is pictured in an elegantly cut navy-blue pinstriped suit, complete with pocket handkerchief, a suave Charles Aznavour for a new generation. In his liner notes, K-Maro thanks friends and family on three continents. But what has K-Maro’s multicultural, border-crossing identity got to do with the light-hearted dance tunes of Namie Amuro, who has never lived outside Japan and rarely even performs abroad? In comparing their work, it becomes evident that what K-Maro does with ethnicity resembles what Namie Amuro does with gender and with her own provincial origins. Namie Amuro was born in 1977 on Okinawa to a Japanese father and a half-Italian mother ; she was “discovered” at age 14 and was installed as the lead singer in a short-lived group called “Super Monkeys.” She had national popularity for several years performing in a bubblegum-pop mode, but then in her early twenties her popularity declined, a typical situation given the usually short shelf life of female stars in the Japanese music industry. At that point she broke away from her original producer and shifted toward American-style hip-hop and R&B, reinventing herself as “the Queen of Hip-pop” with a long series of successes. Much like K-Maro, then, Namie Amuro found in hip-hop a way out of the confines of her original packaging as a Super Monkey. A provincial girl in the male-dominated Tokyo music scene, she succeeded in becoming a larger-than-life, shape-shifting figure, complete with tattoos of her own and with many images of herself in double personas (Figure 4). Now in her thirties, she is the only Japanese pop artist to have had million-selling albums in three different decades of her life. As Ian Condry has observed in his study of Japanese hip-hop, the few women artists in the Japanese scene have gravitated to hip-hop as a way out of the pressure on mainstream female pop singers to be cute, kawaii, which is to say “sweet, adorable, innocent, pure, simple, genuine, gentle, vulnerable, weak, and inexperienced”.14 In her songs, Namie Amuro regularly uses the American idiom to push the boundaries of gendered behavior for Japanese girls in general and for female pop stars in particular. Consider her song “Want Me, Want Me”, also from the 2005 Queen of Hip-pop album: Want me, want me hajike tobu mune no botan aserisugite Waitaminute chotto matta ochitsuite tedori ashidori 14 Condry 2006, p. 170.
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Figure 4: Namie Amuro doubled. From www.ontd.livejournal.com
tekozuru futari wa like a virgin demo wasurenaide ne Trojan I am oochie, la la poppin’ coochie osaekirezu ni want me, baby Oh boy, you are sooooo hot konna kibun wa hisashiburi mou nando mo kurikaeshiteru noni Ah….. hey gimme one mo’ stroke
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Ah ah I can do you Yeah yeah you can do me Anything you want me to do I can do you, I can do you sumi kara sumi made ura kara omote made doko mo kashiko mo Baby, let me taste it, taste it kotoba no nai kaiwa Up & down, in & out kouyatte bounce wit me Oh boy, sukoshi tobashisugi Why don’t we tryna go nice & slow 1 2 3 4 take a breath, look @ my eyes shigeki ni narete kuru made slow down Ooo […]
Though at first the singer presents herself as little more than a sex toy for her boyfriend, she soon starts to press against the stereotype of the passive, compliant Japanese girl. She increasingly takes charge of the sexual encounter, controlling its rhythms, slowing the boy down, making him look into her eyes. This new-found control extends as well to Namie Amuro’s fan base. This transcription of the song comes from a website called “Cori’s J-pop Lyrics” (www. corichan.com), and the underlined words in the first stanza are actually hyperlinks. So readers wishing to know the meaning of the technical term “coochie” can click on the word for an online dictionary definition. Clicking on “Trojan”, meanwhile, brings up an advertisement for condoms, thereby encouraging the listener/reader to practice the sexual control of which Namie Amuro sings. As Daniela Fobelova´ and Pavel Fobel argue in their 2011 article “Kulturelle ¨ ra”, global music is a leading indicator of the deterriIdentita¨t und Digitale A torialization of cultural identity. At the same time, the global flow of world music rapidly becomes reterritorialized in each locale, a point emphasized for Japan by Ian Condry : “In the end, hip-hop in Japan produces no single, linear progression toward localization (or toward global convergence), but, rather, competing styles that are enacted through language. […] In fact, we need a sense of the speakers’ genba [local scene] to even understand what they are saying in English”.15 We also need to understand the varieties of English or other languages that our artists may be using. In “‘Still Rappin’ Por Mi Gente”, Mela Sarkar identifies no fewer than nine different linguistic and dialect layers in a single
15 Ibid., p. 163.
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Montreal song, ranging from standard English and French to several different varieties of minority English, French, Spanish, and que´be´cois.16 Complex multilingualisms can also be found in a wide range of new-media works. A particularly intriguing use of African-American musical traditions can be found in the digital narratives of the Korean-American duo Young-hae Chang and Marc Voge, who produce their works under the title Young-hae Chang Heavy Industries. Since 1999 “YHCHI” has created an impressive body of web-based work, amounting to more than sixty pieces. Eschewing complex programs or elaborate visual elements, their works typically consist only of text streamed across the screen using basic Flash technology, enlivened with an mp3-derived soundtrack of spoken words or of music, usually classic American jazz. As Jessica Pressman has written (in the only published work on them to date by a literature professor), Chang and Voge reject the elaborate technologies and lush virtual worlds favored by video games; instead, their works “resist the alignment of electronic literature with hypertext, evade reader-controlled interactivity, and favor the foregrounding text and typography, narrative complexity, and an aesthetic of difficulty” derived in part from modernist literary aesthetics.17 The majority of YHCHI’s works have been composed in English, though some have been done in Korean or Japanese, and many have been translated into all three languages and sometimes into others as well, including German, usually when they have had a workshop or installation in a non-English-speaking country. The multiple translations assist them in reaching a global audience, and their pieces are all available online at their website, yhchang.com. Chang and Voge use English as a valuable means to reach a global audience, but many of their works relate to Korean concerns as well as to general issues of art and commerce in the digital age. Some of their most striking pieces concern the division between North and South Korea. “Miss DMZ” tells a haunting story of a journey down into one of the secret tunnels beneath the DMZ, which leads to a subterranean shopping mall and dance hall on the North Korean side of the zone; “DMZ Bus Tour with Bulgogi Lunch” shows repeated video clips from a dispiriting tour, with the soundtrack giving information in awkward tour-guide English, uneasily juxtaposed against a Korean translation of the tour guide’s spiel, which is superimposed on the images of the tourists milling around the observation spots on their tour. One particularly vivid work, “Cunnilingus in North Korea”, mixes standard and African-American English to satirize the social and political divisions within both North and South Korea. This piece consists of blocks of text that build up and scroll across the screen, purporting to be a speech commissioned 16 Sarkar 2009, pp. 145 sq. 17 Pressman 2008, p. 303.
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by “our Beloved Leader Kim Jong-Il” praising cunnilingus as the highest expression of Communist equality between the sexes among North Koreans, who have been freed to relate on an elemental human level thanks to their rejection of the deadening force of Western-style consumerism blighting the South. This earnest speech, outrageously parodying Communist officialese, is accompanied by a soundtrack consisting of “See-line woman”, a song by the African-American jazz singer Nina Simone, from her 1964 album Broadway Blues Ballads. The words are difficult to make out at first, and they seem completely incongruous, having nothing to do with Korean politics or even sex: yeah yeah yeah yeah yeah alright ye see-line woman she drink coffee she drink tea and then go home see-line woman see-line woman dressed in green wears silk stockings with golden seams see-line woman
As the song proceeds, however, we learn that the “see-line woman” is a powerful seductress, controlling men’s desire, their wallets, and even their sanity : see-line woman dressed in red make a man lose his head see-line woman see-line woman black dress on for a thousand dollars she wail and she moan see-line woman […] see-line woman take it on out now empty his pockets and she wreck his days
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and she make him love her then she sure fly away she got a black dress on for a thousand dollars she wail and she moan […]
The African-American ballad presents a powerful woman who asserts her sexuality, vocalizing her pleasure in her wailing and moaning. As the video proceeds, the language of the soundtrack increasingly erupts into the earnest written text on the screen. The text’s animation takes on a propulsive rhythm that brings out the sexuality of the song’s “yeah yeah yeah yeah” and Nina Simone’s half-moaning delivery of the lyrics.18 African-American jazz provides YHCHI with a powerful counterpoint to Korean rhetoric. “Cunnilingus in North Korea” is built on stark black-and-white dichotomies, which it ironically undercuts even as it seems to reinforce them. The dominant pattern of the video is of black letters on a white background, but the text increasingly is shot through with flashes of color mentioned in the song (the see-line woman’s red and green dresses, her gold-seamed stockings). It is further destabilized by figure-ground reversals in which the words suddenly turn white and the background goes black, sometimes with the words flashing stroboscopically as if they are pulsing with orgasmic energy. The satire on North Korean rhetoric is heightened by the demotic liveliness of the Black English of the soundtrack. Nina Simone performs the song in a creolized English propelled by verbs shifted toward Black American speech. Most significantly in terms of the song’s lexicon, the song’s title and opening line, “See-line woman”, is an enigmatic phrase with no real meaning in English at all. It appears to be a corruption (or a dialect normalization) of the title found in some earlier versions of the song, “Sea-lion woman” or else “She lyin’ woman.” Nina Simone’s version gives the phrase in more directly usable terms, emphasizing seeing rather than the sea; “see-line” leads toward the description in the second stanza of the woman’s allure in her green dress and her “silk stockings / with the golden seam.” As it stands, “see-line woman” belongs to no one dialect at all but hovers in between the standard English “sea-lion woman” and the Black English “she lyin’ woman.” Nina Simone took this Southern folksong and popularized it as a cross-over hit among white audiences located especially in the North (a location signaled in her album’s title, Broadway Blues Ballads). As reused by Young-hae Chang Heavy Industries, the song further unsettles the North-South opposition within Korea itself. This double-voiced satire brilliantly mocks North and South Korean social and sexual politics alike. “Cunnilingus in North Korea” sends up the 18 http://www.yhchang.com/CUNNILINGUS_IN_NORTH_KOREA.html [March 26, 2012].
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failures of North Korean economic policy, as we see a desperate Kim Jong-Il abandoning his usual social repression, reduced to praising oral sex as one of the few pleasures available to the population he has liberated from – or deprived of – the capitalist seductions of consumer goods. At the same time, the piece’s uncanny interplay of North Korean political rhetoric and African-American blues attacks South Korean consumerism and the South’s own sexual politics, not necessarily fully liberated from traditional patriarchal values even in an era of economic progress and political liberalization. *
As the preceding examples should suggest, the electronic new media, and the world music intertwined with them, provide rich fields for literary study. Comparatists have a special role to play in the study of these fields, given the complex patterns of globalization and localization seen around the world in the uses of these new media. With a few exceptions, such as Tony Mitchell’s 2003 article on “resistance vernaculars” in France, Italy, and New Zealand, existing scholarship on world music rarely looks beyond the presence of global trends within a single local culture. A comparative approach, whether to Namie Amuro and K-Maro or to Dante’s Inferno and Grand Theft Ovid, will yield results not available to analysis of any one of these works alone. A whole new world awaits comparative study ; much can be gained for classic literature and new creations alike, if we can start to develop a geopoetics of the Figuren des Globalen multiplying around us in the world today.
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David Damrosch
Illustrations Fig. 1: Girugaamesshu. Photograph by David Damrosch. Fig. 2: Cover to the Visceral Games edition of Dante’s Inferno. Photograph by David Damrosch. Fig. 3: Performance of Grand Theft Ovid, Brick Theater, New York City, July 2010. Courtesy Edward Kim. Fig. 4: Namie Amuro doubled. From www.ontd.livejournal.com
Frederike Felcht
Eine globale Gegenwartshymne – Zur Poetologie von H. C. Andersens Det nye Aarhundredes Musa [Die Muse des neuen Jahrhunderts] (1861)
1.
Einleitung Man sagt, daß die dialektische Methode darum geht, der jeweiligen konkret-geschichtlichen Situation ihres Gegenstandes gerecht zu werden. Aber das genu¨gt nicht. Denn ebensosehr geht es ihr darum, der konkret-geschichtlichen Situation des Interesses fu¨r ihren Gegenstand gerecht zu werden. Und diese letztere Situation liegt immer darin beschlossen, daß es selber sich pra¨formiert in jenem Gegenstande, vor allem aber, daß es jenen Gegenstand in sich selber konkretisiert, aus seinem Sein von damals in die ho¨here Konkretion des Jetztseins (Wachseins!) aufgeru¨ckt fu¨hlt.1
¨ berlegungen sind geleitet von dieser Methodenreflexion, aus Die folgenden U Walter Benjamins Passagen-Werk. Das hat zwei Gru¨nde. In Det nye Aarhundredes Musa [Die Muse des neuen Jahrhunderts] (1861) pra¨formiert sich ein aktuelles Interesse, ein Interesse an Globalisierung. Daru¨ber hinaus vollzieht Andersens Text selbst die von Benjamin fu¨r die Geschichtsschreibung beschriebene Konkretion von Gewesenem, eine „Verdichtung (Integration) der Wirklichkeit“,2 und weist darin eine zeitliche Struktur auf, die Globalisierung durch diesen literarischen Text des 19. Jahrhunderts in Benjamins Spuren zu denken erlaubt: als augenblickliches Zusammentreten von Vergangenem und Gegenwa¨rtigem, das Wahrheiten auf die Probe stellt. Ich werde zuna¨chst kurz auf die bestehende Globalisierungsforschung eingehen und sie zu Andersens Eventyr og Historier [Ma¨rchen und Geschichten] in Beziehung setzen, bevor ich mich Det nye Aarhundredes Musa zuwende, einem Text, der ausgehend von technologischen Neuerungen und der Einbindung der Literatur in kapitalistische Strukturen nach der Zukunft der Poesie fragt und darauf eine globale Antwort gibt.
1 Benjamin 1991, S. 494 f. [Hervorhebung im Original] 2 Ebd., S. 495.
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2.
Frederike Felcht
Globalisierung als Perspektive und Prozess
Angesichts konkurrierender Ansa¨tze und definitorischer Unscha¨rfen fordern Ju¨rgen Osterhammel und Niels Petersson vom Globalisierungsbegriff, dieser mu¨sse „als ‚Suchscheinwerfer‘ in die Vergangenheit hineinleuchten, ohne das Ergebnis der Suche bereits vorwegzunehmen.“3 An dieser Forderung, die sich mit Benjamins Geschichtsdenken verbinden la¨sst, orientiert sich mein Versta¨ndnis von Globalisierung. Im Anschluss an die Historiker Osterhammel und Petersson, Sebastian Conrad und Andreas Eckert sowie den Literaturwissenschaftler Svend Erik Larsen wird unter Globalisierung im Folgenden sowohl ein la¨ngerfristiger geschichtlicher Prozess als auch eine wissenschaftliche Perspektive verstanden.4 Der geschichtliche Prozess der Globalisierung zeichnet sich durch die Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen aus.5 Im 19. Jahrhundert ist er gepra¨gt von der industriellen Warenproduktion und dem Aufkommen neuer Transport- und Kommunikationstechnologien. Andersens Texte haben daran in doppelter Hinsicht teil: Einerseits sind sie selbst ein industriell vervielfa¨ltigtes Gut in einem wachsenden literarischen Markt, der sich ¨ bersetzungsprozesse globalisiert. Andererseits reflektieren Andersens durch U Texte inhaltlich und formal die Entstehung neuer Netzwerke und die Verschiebungen, die sie mit sich bringen. Globalisierung als Perspektive bedeutet, solche grenzu¨berschreitende Austauschprozesse zu beobachten, den nationalen Rahmen zu verlassen. Daru¨ber hinaus macht sich eine globale Perspektive die Verortung und die Grenzen des eigenen Wissens bewusst. Dazu geho¨rt auch die Fa¨higkeit, eurozentrische Modelle von Geschichte und Literatur infrage zu stellen. Eine solche Infragestellung geschieht in Andersens Texten in unterschiedlichen Formen. Hinsichtlich der Problematisierung eurozentrischer Modelle von Geschichte skizziere ich drei Strategien. Die Globalisierung der Perspektive auf Literatur wird im Anschluss meine Analyse von Det nye Aarhundredes Musa herausarbeiten. Erstens beziehen sich viele Eventyr og Historier auf die im 19. Jahrhundert durch die Nationalisierung an Bedeutung gewinnende Historiographie, brechen deren nationale Narrative jedoch auf, indem sie auf die ununterbrochenen grenzu¨berschreitenden Austauschprozesse hinweisen, die moderne Warenwirtschaften auszeichnen. So wird die Konstruktion nationaler Identita¨ten in
3 Osterhammel / Petersson 2007, S. 15. 4 Vgl. Conrad / Eckert 2007; Larsen 2007, S. 19 und 23; Osterhammel / Petersson 2007. 5 Vgl. Osterhammel / Petersson 2007, S. 10.
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Laserne [Die Lumpen] (1868)6 persifliert. Darin begegnen sich ein norwegischer und ein da¨nischer Lumpen an einer Papiermu¨hle und unterhalten sich u¨ber die Vorzu¨ge ihrer jeweiligen Nation. Ihre nationalistischen Selbstdarstellungen werden als widerspru¨chliche und großspurige Konstruktionen erkennbar, wa¨hrend ihr weiteres Schicksal nach dem Recycling zu Papier sie zu Medien transnationaler Kommunikation werden la¨sst: Auf dem ehemaligen norwegischen Lumpen schreibt ein Norweger einen Liebesbrief an ein da¨nisches Ma¨dchen; der da¨nische Lumpen wird zur Grundlage eines da¨nischen Manuskriptes, das die norwegische Herrlichkeit preist. Das materielle Unterlaufen nationalistischer Abgrenzungsbestrebungen wird also zweitens, hier in Gestalt des norwegischen und des da¨nischen Lumpens, um satirische Darstellungen heimatverbundener Borniertheit erga¨nzt. In anderen Eventyr og Historier stehen solchen Typen provinzieller Engstirnigkeit positive Figuren von Reisenden oder Auswanderern gegenu¨ber. Drittens werden in einigen Eventyr og Historier unterschiedliche Zeitmodelle verhandelt. So finden sich zyklische und lineare, fortschrittsoptimistische und romantisch-vergangenheitssehnsu¨chtige Zeitkonzeptionen, die in ihrem Widerstreit als Alternativen erkennbar werden. Andersens Texte reflektieren den Wandel der Zeitwahrnehmung durch die Beschleunigung der Bewegung von Menschen und Dingen im Zeichen einer weltumspannenden Warenwirtschaft und verdeutlichen zudem den Zusammenhang von Geschichtsversta¨ndnis und Zeitkonzeptionen. So diskutiert der Oldefa’er [Urgroßvater] (1870) Vorzu¨ge und Nachteile der modernen Beschleunigung und erza¨hlt, wie die mechanische Zeitmessung andere Zeitkonzeptionen abgelo¨st hat. In diesem Zusammenhang wird klar, dass das moderne Zeitmodell einer linearen, homogenen und leeren Zeit historisch bedingt und damit auch nur begrenzt gu¨ltig ist.7 Andererseits zeigen die Ma¨rchen und Geschichten vielfach an, wie Europa selbst durchdrungen ist von zeitlichen Konstellationen, die in der Regel als vormodern oder primitiv begriffen wurden.
6 Auch das da¨nische „Laserne“ bezeichnet Stoffreste ebenso wie schlechte Menschen und der Text spielt mit dieser Polysemie (vgl. Anz 2005, S. 49). Fu¨r eine ausfu¨hrliche Interpretation von Laserne vgl. Felcht 2013, S. 260 – 266. ¨ ber den Begriff der Geschichte setzt 7 Walter Benjamins Historiographiekritik in den Thesen U an der Vorstellung einer homogenen und leeren Zeit an; vgl. Benjamin 1974, S. 700 f. Fu¨r eine ausfu¨hrliche Interpretation von Oldefa’er vgl. Felcht 2009.
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3.
Frederike Felcht
Die globale Zukunft der Poesie
Det nye Aarhundredes Musa erschien 1861 in einem von Andersens Ma¨rchenheften – ein eher ungewo¨hnlicher Erscheinungsort, denn der Text entwirft ein poetologisches Programm.8 Der Text fragt nach der Zukunft der Poesie, der Muse des neuen Jahrhunderts. Dieser zuku¨nftigen Muse stehen die Gegenwartsdichter gegenu¨ber, deren Schriften vom Vergessen bedroht und einem wachsenden Druck ausgesetzt sind. Einerseits besteht die Forderung an Literatur, in aktuelle Parteika¨mpfe einzugreifen, andere erwarten sich Entspannung oder soziale Distinktion von ihr. Das Lesen unterliegt zudem den Regeln des Marktes: Wer seinen o¨konomischen und kulturellen Reichtum sichtbar zum Ausdruck bringen mo¨chte, sendet einen Boten in den Buchladen und la¨sst diesen kaufen, was empfohlen wurde; andere lesen, was sie umsonst bekommen ko¨nnen, die Reste.9 Angesichts einer zunehmend o¨konomisch ausgenutzten Zeit scheint die Frage nach einer „Fremtids Poesie, som Fremtids Musik, […] til Donquixotiaderne“ („Zukunftspoesie, wie Zukunftsmusik, […] zu den Donquijotiaden“)10 zu geho¨ren, das Reden u¨ber sie wird mit Berichten u¨ber Reiseentdeckungen auf dem Uranus verglichen. Dieses Projekt der Beschreibung einer Zukunftspoesie wird vom Text dennoch unternommen. Dazu wird der Mensch zuna¨chst als Saitenspiel vorgestellt, durch das ein go¨ttlicher Geist weht. Dieser Klang wird von den anderen Saitenspielen verstanden und sie geraten in Schwingungen, es kommt zu einem Zusammenklang oder Dissonanzen. So geht „den store Menneskeheds Fremadskriden i Friheds Bevidsthed!“ („das Voranschreiten der großen Menschheit im Freiheitsbewußtsein“)11 vor sich. In diesem Voranschreiten Richtung Freiheitsbewusstsein la¨sst sich ein Nachklingen von Hegels Geschichtsphilosophie vernehmen. Die Metaphorik des Zusammenklanges wird noch einmal in der Beschreibung einer transnationalen Ordnung der Poesie aufgegriffen. Das Programm der neuen Muse wird zuna¨chst u¨ber Negationen definiert: Sie will nicht als Epigone vergangener Zeiten auftreten, sich nicht mit irrationalen, kunstvollen Einfa¨llen einschmeicheln, ist keine Regelpoesie, kein (romantisches) Wiederaufgreifen von Saga-Motiven. Den franzo¨sischen Romanen steht sie ebenso fern wie der langweiligen da¨nischen Alltagsprosa.12 Ihre positive Bestimmung fa¨llt dagegen scheinbar knapp aus:13 8 Vgl. Depenbrock / Detering 1991; Detering 1999, S. 51 f., 57 – 60; de Mylius 1995, S. 322 f.; Schwarzenberger 1962, S. 35. 9 Vgl. Andersen 2003a, S. 382; Andersen 2003b, S. 129 f. 10 Andersen 2003a, S. 382; Andersen 2003b, S. 130. Vgl. auch Grage 2009, S. 222 f. 11 Andersen 2003a, S. 382 f.; Andersen 2003b, S. 130. 12 Vgl. Andersen 2003a, S. 386; Andersen 2003b, S. 135. „Hverdagshistoriernes Chloroform“
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en Livs-Elixir vil hun bringe! hendes Sang i Vers og Prosa vil være kort, klar, rig! Nationaliteternes Hjerteslag, hver er kun eet Bogstav i det store Udviklings-Alphabet, men hvert Bogstav griber hun med lige Kærlighed, stiller dem i Ord og slynger Ordene i Rythmer til sin Nutids Hymne. (ein Lebenselixier will sie bringen! ihr Lied in Vers und Prosa wird kurz sein, klar, reich! der Herzschlag der Nationalita¨ten, jede ist nur ein Buchstabe im großen Entwicklungsalphabet, aber jeden Buchstaben ergreift sie mit gleicher Liebe, ordnet sie zu Worten und verknu¨pft die Worte im Rhythmus zu ihrer Gegenwartshymne.)14
Das Herz schla¨gt national verschieden, die neue Muse verbindet jedoch diese einzelnen Buchstaben und ordnet aus ihnen die Worte, die sie im Rhythmus zu ihrer Gegenwartshymne verknu¨pft. Die nationale Besonderheit ist also in eine transnationale Ordnung eingebunden. Und diese transnationale Ordnung steuert auf eine gewaltige Transformation hin: Snart falder den chinesiske Muur ; Europas Jernbaner naae Asiens aflukkede CulturArchiv, – de to Cultur-Strømme mødes! da maaskee bruser Fossen med sin dybe Klang, vi Nutids Gamle ville skjælve ved de stærke Toner og fornemme deri et Ragnarok, de gamle Guders Fald, glemme, at hernede maae Tider og Folkeslægter forsvinde, og kun et lille Billede af hver, indesluttet i Ordets Kapsel, svømmer paa Evighedens Strøm som Lotus-Blomst, og siger os, at de Alle ere og vare Kjød af vort Kjød, i forskjellig Klædning; Jødernes Billede Straaler [sic] fra Bibelen, Grækernes fra Iliade og Odyssee, og vort –? (Bald fa¨llt die chinesische Mauer ; Europas Eisenbahnen na¨hern sich Asiens verschlossenem Kulturarchiv, – die zwei Kulturstro¨me begegnen einander! da vielleicht tost der Wasserfall mit seinem tiefen Klang, wir Gegenwarts-Alten wu¨rden zittern unter den starken To¨nen und darin ein Ragnaro¨k erkennen, den Sturz der alten Go¨tter, wu¨rden vergessen, daß hienieden Zeiten und Geschlechter verschwinden mu¨ssen und daß nur ein kleines Bild von jedem, eingeschlossen in die Kapsel des Wortes, auf dem Strom der Ewigkeit schwimmt wie eine Lotosblu¨te und uns sagt, daß sie alle Fleisch waren und sind von unserem Fleisch, in verschiedener Kleidung; das Bild der Juden leuchtet aus der Bibel, das der Griechen aus Ilias und Odyssee, und unser eigenes –?)15
Die entscheidende Transformation der Muse erwartet der Text fu¨r einen Moment kultureller Begegnung, der durch die Eisenbahn ermo¨glicht wird. Diese Begegnung umfasst hier Asien und Europa. Schon zuvor war erkla¨rt worden, dass die Muse genauso aus Amerika oder Australien hervorgehen ko¨nnte. Bemer(„[Das] Chloroform der Alltagsgeschichten“) ist eine Anspielung auf die Hverdagshistorier, ¨ bereine Bezeichnung fu¨r die Romane und Novellen Thomasine Gyllembourgs. Nur die U setzung kursiviert; auch im Folgenden finden sich zwischen der ju¨ngsten kritischen Ausgabe ¨ bersetzung Abweichungen in den Hervorhebungen. und Deterings U 13 Insbesondere Heike Depenbrock und Heinrich Detering vertreten die Auffassung, es ga¨be kaum positiv bestimmte Eigenschaften der neuen Muse. Vgl. Depenbrock / Detering 1991, S. 382 – 384; Detering 1999, S. 61 f.; Schwarzenberger 1962, S. 35 f. 14 Andersen 2003a, S. 386; Andersen 2003b, S. 135. [Hervorhebung im Original] 15 Andersen 2003a, S. 387; Andersen 2003b, S. 135 f. [Hervorhebung im Original]
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kenswert kritisch ist die in diesem Zusammenhang gelieferte Beschreibung Amerikas als „Frihedsland[et], hvor de Indfødte bleve et jaget Vildt og Afrikanerne Trældyr“ („Freiheitsland, wo die Eingeborenen zu Jagdwild geworden sind und die Afrikaner zu Sklavenvieh“).16 Die Muse erreicht die La¨nder „paa Lokomotivets Drage“ („auf dem Lokomotivdrachen“), reist „paa den pustende Delphin“ („auf dem prustenden Dampfdelphin“) u¨ber das Meer oder „gjennem Luften paa Montgolfiers Fugl Rok“ („durch die Luft, auf Montgolfiers Vogel Rock“).17 Die Reise mit Eisenbahn, Dampfschiff oder Ballon ist Voraussetzung des Auftretens der neuen Muse; sie bewegt sich in den Spuren der transporttechnologischen Erschließung der Welt. Moderne wird dabei als Verbindung von Ma¨rchenhaft-Mythischem und Technologie gedeutet. In den technologischen Voraussetzungen la¨sst sich eine Parallele zur Weltliteraturdiskussion erkennen, wenn man Weltliteratur im Anschluss an die ¨ berlegungen von Horst Steinmetz und Gerhard Kaiser mit Industrialisierung U und Kapitalismus in Beziehung setzt und die Entstehung der neuen Poesie in deren Gefolge ansiedelt.18 Det nye Aarhundredes Musa beschreibt die Transnationalisierung von Literatur und verortet – a¨hnlich wie Pascale Casanovas Studie La re´publique mondiale des lettres – die literarischen Zentren zuna¨chst im europa¨ischen Raum.19 Der Text verdeutlicht von Beginn an, dass der Buchmarkt einen kapitalistischen Charakter hat. Europa ist ein Ort der Konzentration von o¨konomischem, kulturellem und literarischem Kapital. Das Konzept einer neuen Literatur ist insofern eurozentrisch, als es in Konsequenz dieser Kapitalkonzentration von Europa ausgehend denkt. In der Beschreibung Amerikas wird jedoch die Gewaltsamkeit des europa¨ischen Expansionsprozesses dargestellt; die Begegnung mit China setzt ungeheure Energien auf beiden Seiten frei und fu¨hrt schließlich zur Entstehung einer neuen Poesie. Es handelt sich also nicht um einen „blind Eurocentrism“,20 wie dies Christopher Prendergast im Zusammenhang mit Goethes Weltliteraturbegriff bezeichnet und auch fu¨r diesen verneint hat. Machtungleichgewichte und Konflikte werden in Det nye ¨ berlegenheit EuroAarhundredes Musa keineswegs ignoriert; eine kulturelle U pas wird nicht behauptet. Vielmehr wird die Expansion, die als Ausbeutungszusammenhang erkennbar ist, zum Ausgangspunkt globaler Wechselwirkungen. Das von den sogenannten Gegenwarts-Alten, zu denen „vi“ („wir“) geho¨ren, erkannte Ragnaro¨k ist ein Ru¨ckgriff auf die nordische Mythologie und be16 Andersen 2003a, S. 386; Andersen 2003b, S. 134. Vgl. Schwarzenberger 1962, S. 27. 17 Andersen 2003a, S. 386; Andersen 2003b, S. 134. Die Vorsilbe „Dampf-“ fehlt im da¨nischen Original. 18 Vgl. Kaiser 1980, S. 15, 21; Steinmetz 1988, S. 103 – 126, Anm. auf S. 136 – 141. 19 Vgl. Casanova 1999. 20 Prendergast 2004, S. 3.
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schreibt ein apokalyptisches Szenario, einen Kampf, auf den eine neue glu¨ckliche Welt folgen wird.21 Dabei vergessen die Gegenwarts-Alten laut Text, dass Zeiten und Geschlechter verschwinden mu¨ssen und sich im Neuen nur als kleines Bild, eingeschlossen in die Kapsel des Wortes, erhalten. In dieser Form erinnert das Kommende an seine Gemeinsamkeit mit dem Vergangenen. Der Text stellt der apokalyptischen Perspektive der Gegenwart ein anderes Versta¨ndnis von Geschichte gegenu¨ber, das ein punktuelles Zusammentreffen von Altem und Neuem nach umfassenden Umwa¨lzungen erwartet und der Vermischung von Texten aller Kulturen hoffnungsfroh entgegensieht. Demgegenu¨ber verlieren nationale Narrative an Bedeutung. Die Go¨tter der Islandsagas sind bereits zuvor zu toten Go¨ttern erkla¨rt worden, mit denen in der neuen Zeit weder Sympathien noch Verwandtschaften bestehen.22 Diese Ablehnung der Isla¨ndersagas, die im zeitgeno¨ssischen skandinavischen nation building eine zentrale Rolle einnahmen, erlaubt es, die dem Text in der Interpretation von Heike Depenbrock zugeschriebene „Stabilisierung bestehender Diskurse“23 infrage zu stellen. Im Unterschied zu Depenbrocks Interpretation, die einen affirmativen geschichtsphilosophischen Gehalt in dem Ma¨rchen ausmacht, lese ich die glo¨ ffnung der Literatur, die der Text in ihren Konsequenzen ausmalt, als eine bale O Alternative gegenu¨ber dem nationalistischen und eurozentrischen Denken, welches das 19. Jahrhundert dominierte. Det nye Aarhundredes Musa schließt mit folgendem Bild: Vær hilset, Du Musa for Poesiens nye Aarhundrede! vor Hilsen løfter sig og høres, som Ormenes Tanke-Hymne høres, Ormen, der under Plovjernet skæres over, idet et nyt Foraar lyser og Ploven skærer Furer, skærer os Orme sønder, for at Velsignelsen kan groe for den kommende nye Slægt. Vær hilset, Du det nye Aarhundredes Musa! (Sei gegru¨ßt, du Muse des neuen Jahrhunderts der Poesie! unser Gruß erhebt sich und wird geho¨rt, wie die Gedankenhymne des Wurms geho¨rt wird, des Wurms, der unter der Pflugschar zerschnitten wird, wa¨hrend der neue Fru¨hling ergla¨nzt und der Pflug die Furchen zieht und uns Gewu¨rm kurz und klein schneidet, damit der Segen wachsen kann fu¨r das kommende neue Geschlecht. Sei gegru¨ßt, du, die Muse des neuen Jahrhunderts!)24
Johan de Mylius wertet diese Passage als Ausdruck eines weitreichenden Pes¨ berleben, keine simismus. Andersen verstehe unter Poesie nur noch ein bloßes U 21 Vgl. Andersen 2003a, S. 511 f.; Sturluson 1971, S. 68 – 77. 22 Vgl. Andersen 2003a, S. 386; Andersen 2003b, S. 135 und Detering 1999, S. 59 f. Ausfu¨hrungen zur paradoxen Struktur der Ragnaro¨kmetaphorik. 23 Depenbrock / Detering 1991, S. 389, Endnote 24 [Hervorhebung im Original]. Dass Depenbrock diesen Teil des Aufsatzes verfasst hat, geht aus Depenbrock / Detering 1991, S. 386, Endnote 1 hervor. 24 Andersen 2003a, S. 387; Andersen 2003b, S. 136.
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Macht u¨ber das Leben oder Erkla¨rung desselben mehr. Die Geschichte sei aufgelo¨st in Fragmente. Aus dieser Auflo¨sung schaffe Andersen einen textuellen Gestus, der seine Sta¨rke aus dem Nichts beziehe.25 Demgegenu¨ber betont Heinrich Detering die Begru¨ßung der Zersto¨rung. Das Neue bleibt jedoch auch in dieser Interpretation „almost empty“.26 Ich pla¨diere dafu¨r, die Entstehungsgeschichte der Muse genauer zu betrachten, als dies in der Sekunda¨rliteratur bisher der Fall ist. Dabei relativiert sich die scheinbare Gehaltlosigkeit des poetologischen Programms. Im Unterschied zu ¨ ußerungen zur Weltliteratur, die sich vor allem auf die Goethes verstreuten A Produktion und Verbreitung literarischer Texte beziehen, benennt Det nye Aarhundredes Musa durchaus mo¨gliche Inhalte einer neuen Literatur. Diese Inhalte speisen sich teilweise aus den Entdeckungen der Forschung, die der Muse zuteil werden: Herlige Faddergaver bleve lagte paa hendes Vugge. I Mængde er strøet der som Bonbons Naturens skjulte Gaader med Opløsning; af Dykkerklokken er rystet vidunderligt „Nips“ fra Havets Dyb. Himmelkortet […] blev lagt aftrykt som Vuggeklæde. Solen maler hende Billeder ; Photographien maa give hendes Legetøj. (Herrliche Taufgeschenke sind ihr in die Wiege gelegt. Reichlich wie Bonbons sind daru¨ber die verborgenen Ra¨tsel der Natur mitsamt ihrer Auflo¨sung hingestreut, aus der Taucherglocke ist wunderbarer Nippes aus den Meerestiefen ausgeschu¨ttet. Die Himmelskarte […] ist ihr als bedruckte Wiegendecke hingelegt. Die Sonne malt ihr Bilder ; die Photographie gibt ihr Spielzeug.)27
Hier ist Technologie ein Kinderspielzeug, das aufgelo¨ste Ra¨tsel der Natur erscheint als Bonbon. Von den Tiefen des Meeres bis zum Himmel wird alles gesammelt, kartographiert, photographisch erfasst und verfu¨gbar gemacht. Als miniaturisierter Nippes und kindgerechtes Taufgeschenk lassen die Resultate der Entdeckungen die ihnen u¨blicherweise zugeschriebene heroische Gro¨ße vermissen. Die europa¨isch-rationalistischen Forscher behandeln die Welt als Spielplatz, ihr Treiben ru¨ckt so in die Na¨he der kindlichen Vergnu¨gungen, die sie den vermeintlich primitiven Anderen gerne unterstellten. Dabei geben sie der Muse die Mittel zur Abschaffung des Gegenwa¨rtigen in die Hand, die auf die Begegnung mit Asien folgen wird. Die Muse ist weiterhin „Folkets Barn paa Faders Side, sund i Sind og Tanker, Alvor i Øiet, Humor paa Læben. Moderen er den høibaarne academi-opdragne, Emigrantens Datter med de gyldne Rococo Erindringer.“ („[v]on der va¨terlichen Seite her […] ein Kind des Volkes, gesund in Sinn und Verstand, Ernst im Blick, Humor auf den Lippen. Ihre Mutter ist die hochwohlgeborene, akademieerzo25 Vgl. de Mylius 2004, S. 264 f. 26 Detering 1999, S. 61. 27 Andersen 2003a, S. 383; Andersen 2003b, S. 131 f. [Hervorhebung im Original]
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gene Emigrantentochter mit den goldenen Rokokoerinnerungen.“)28 In ihr durchmengen sich soziale und politische Gegensa¨tze. Kunstscha¨tze und Musik erfu¨llen die Kinderstube der Muse. Vor allem aber liest sie: „Skrækkeligt Meget har hun læst, altfor Meget, hun er jo født i vor Tid, grumme Meget maa glemmes igjen og Musaen vil forstaae at glemme.“ („Schrecklich viel hat sie gelesen, viel zuviel, sie ist ja in unserer Zeit geboren, entsetzlich viel muß wieder vergessen werden, und die Muse wird zu vergessen wissen.“)29 In diesem „altfor Meget“ spiegelt sich die wachsende Produktivita¨t des Buchmarktes wider. Der Text stellt einen Prozess von Lesen (genannt werden beispielsweise 1001 Nacht, die Bu¨cher Mose, Bidpais’ Fabeln, Shakespeare, Holberg, Molie`re und Aristophanes) und Vergessen (hierunter fa¨llt alles, was in der negativen Bestimmung des Programms bereits genannt wurde) vor. Damit beschreibt er die Produktion eines kulturellen Geda¨chtnisses, das sich durch geographische und soziale Inklusivita¨t und den Verlust vieler europa¨ischer Texte – gewissermaßen eine literarische Provinzialisierung Europas – auszeichnet.30 Auf den Technologien der Vernetzung rast die Muse des neuen Jahrhunderts einer Transformation der Literatur entgegen. Der Klang unterschiedlicher Nationen verbindet sich zu einer globalen Gegenwartshymne. Außereuropa¨ische Traditionen sind darin nicht mehr nur Opfer des europa¨ischen Expansionsprozesses, sondern Gegenma¨chte, welche die gesamte Gestalt des Literarischen vera¨ndern. Eine Auflo¨sung der nach Nationalkulturen differenzierten Literatur im Wasserfall der Zeit ist eine Mo¨glichkeit, diese Vera¨nderung zu denken. Der Text beschreibt eine sich globalisierende Poesie, die durch transport- und kommunikationstechnologische Vernetzungen ermo¨glicht und durch weltumfassende Austauschprozesse zunehmend hybrid wird. Die Muse des neuen Jahrhunderts hat ihre Einheit in einem gemeinsamen Rhythmus, dem Rhythmus der Gegenwart. Obgleich die Gegenwart des Textes erfu¨llt ist von „klapprende Maskiner, Locomotivets Piben, Sprængning af materielle Klipper og Aandens gamle Baand“ („klappernden Maschinen […], dem Pfeifen der Lokomotiven, 28 Andersen 2003a, S. 383; Andersen 2003b, S. 131. Emigrant ist eine zeitgeno¨ssische Bezeichnung fu¨r einen Flu¨chtling vor der Franzo¨sischen Revolution, vgl. Andersen 2003a, S. 509. 29 Andersen 2003a, S. 384; Andersen 2003b, S. 132. 30 Provincializing Europe ist der Titel von Dipesh Chakrabartys postkolonialer Historiographiekritik. Mein Begriff von kulturellem Geda¨chtnis unterscheidet sich hier von Jan Assmanns. Der in Det nye Aarhundredes Musa beschriebene Prozess des Vergessens und Erinnerns ist eher nicht „identita¨tskonkret“, da er weniger von abgrenzbaren Kulturen ausgeht, ¨ bersetzungs- und Durchmischungsprozesse anerkennt, die sich sondern die kulturellen U mit Globalisierung verbinden, und kommt vor diesem Hintergrund zu einem globalen Geda¨chtniskonzept. Vgl. Assman 2001; vgl. auch Welzer 2004, S. 167 – 169. Heinrich Detering weist auf den kosmopolitischen Charakter dieser Passage hin, vgl. Detering 2001, S. 175 – 177.
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den Sprengungen der materiellen Klippen und der alten Bande des Geistes“),31 ist es kein industriell-technologischer und antitraditioneller La¨rm, der die neue Muse auszeichnen wird. Sie wird zwar geboren in „vor store Nutids Fabrik […], hvor Dampen øver sin Kraft, hvor Mester Blodløs og hans Svende slide Dag og Nat“ („unserer großen Gegenwarts-Fabrik […], wo der Dampf seine Kra¨fte erprobt, wo Meister Blutlos und seine Knechte Tag und Nacht schuften“),32 umfasst aber eine komplexere zeitliche Struktur von Erinnern und Vergessen, die der Text selbst seine Leser praktisch vollziehen la¨sst: Die Anspielungen auf Kunst, Musik und Literatur lassen die Leser genau den Selektionsprozess durchlaufen, den der Text beschreibt. Was aktualisiert wird, entscheidet nicht allein der Text, sondern seine zuku¨nftige Leserin. Andersens poetologisches Programm ist erstaunlich treffsicher in der Einscha¨tzung dessen, was sich im kulturellen Geda¨chtnis erhalten und was dem Vergessen anheimfallen wird. Die Aktualisierung der Geschichte in der Erinnerung bleibt jedoch in jedem Fall an die zeitra¨umliche Position ihres Erkennens und die Interessen der Erinnernden gebunden. Damit la¨sst der Text ¨ ber den im Vollzug begreiflich werden, was Walter Benjamin in seinen Thesen U Begriff der Geschichte als „eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit“ beschreibt, die sich „aus dem Kontinuum der Geschichte“ heraussprengen la¨sst.33 Fu¨r meine Lektu¨re bedeutet dies: Sie erkennt die globale Dimension der neuen Muse. Ihren Nachfolgern offenbart sich vielleicht eine andere.
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Ulrich Ernst
Eugen Gomringer und das Konzept einer Globalisierung der Poesie. Eine Re-Lektu¨re des Manifests vom vers zur konstellation
I.
Die Konstellation als ‚Genus novum‘
Nachdem Globalisierung bislang vorwiegend unter o¨konomischen, kommunikativen und politischen Perspektiven betrachtet wurde,1 soll bei den folgenden Ausfu¨hrungen der Akzent auf der Kultur und insbesondere der Literatur liegen.2 Da außerdem die Bedeutung der Avantgarden3 fu¨r den Internationalismus noch weitgehend unerforscht ist, wird eine in dieser Hinsicht konzeptionell und in praxi besonders engagierte Neo-Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg, na¨mlich die Konkrete Poesie, in das Blickfeld geru¨ckt.4 Der Fokus ruht dabei auf dem ‚Vater‘ dieser Bewegung, Eugen Gomringer,5 der maßgeblichen Anteil daran hatte, dass der Konkretismus in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer internationalen Bewegung avancierte. Da Gomringer 1925 als Sohn eines Schweizers und einer Bolivianerin in Cachuela Esperanza (Bolivien) geboren wurde, ko¨nnte man sagen, dass ihm die Globalisierung in die Wiege gelegt war. Von 1946 bis 1950 studierte Gomringer Volkswirtschaftslehre und Kunstgeschichte in Bern und Rom, fraglos eine sel¨ konomie tene Fa¨cherkombination, die auf einen Mann vorausweist, fu¨r den O ¨ und Asthetik keine Gegensa¨tze sind, sich vielmehr bruchlos ineinander fu¨gen und erga¨nzen. Als kunsthistorisch vorgebildeter Dichter wurde Gomringer fru¨h und dauerhaft durch die Konkrete Malerei und einige ihrer renommiertesten Repra¨sentanten beeinflusst: Im Jahr 1968 vero¨ffentlichte er ein Buch u¨ber den 1 Vgl. Niederberger / Schenk 2011. 2 Vgl. Schmeling / Schmitz-Emans / Walstra 2000; Amann / Mein / Parr 2010; weder die Konkrete Poesie allgemein noch Eugen Gomringer speziell sind in dem Sammelband von 2010 beru¨cksichtigt. 3 Vgl. Metzler Lexikon Avantgarde 2009. 4 Ernst 1999, S. 273 – 304 bes. Kap. II: „Globalisierung und Interkulturalita¨t“, S. 282 – 289; Ernst 1991. 5 Gomringer 1995 – 2006; vgl. Schnauber 1989.
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Deutsch-Amerikaner Josef Albers und 1973 eine Monographie u¨ber den Schweizer Paul Lohse. Besonders verehrte er den schweizerischen Maler, Architekten, Designer und Plastiker Max Bill (1908 – 1994), der 1954 als Rektor an der Hochschule fu¨r Gestaltung in Ulm bestellt wurde, welche die Tradition des 1919 von Walter Gropius gegru¨ndeten, 1925 von Weimar nach Dessau verlegten und 1933 von den Nationalsozialisten aufgelo¨sten Bauhauses fortfu¨hrte. An der fu¨r internationale Kontakte offenen Ulmer Hochschule, an der u. a. der DeutschAmerikaner Lyonel Feininger und der Russe Wassilij Kandinsky lehrten, wurde Gomringer 1954 Sekreta¨r des Rektors Bill. Dem Bauhaus-Konzept einer funk¨ sthetik, die vor allem tionalistischen, alle Gestaltungsschichten umgreifenden A um eine Synthese von Kunst und Handwerk, Hoch- und Gebrauchskunst bemu¨ht war, blieb Gomringer zeitlebens verpflichtet. Mit avantgardistischen Richtungen auf dem Gebiet der Architektur wie dem sogenannten ‚Neuen Bauen‘ oder, was in diesem Kontext von besonderem Interesse ist, auch dem in USA, Su¨damerika und Japan verbreiteten sogenannten ‚Internationalen Stil‘ war das Bauhaus vor dem Zweiten Weltkrieg eng verbunden. Bestimmte Ideen der Architektur-Avantgarden des fru¨hen 20. Jahrhunderts wie Sachlichkeit, Funktionalita¨t und Verzicht auf das Ornament spiegeln sich deutlich noch in Gomringers konkretistischer Lyrik. Von 1962 bis 1967 war Gomringer Gescha¨ftsfu¨hrer des schweizerischen Werkbundes in Zu¨rich, der sich ebenfalls den BauhausIdeen verschrieben hatte, und danach wechselte der studierte Nationalo¨konom in die Wirtschaft und arrivierte zum Kulturbeauftragten einer Weltfirma, der 1879 gegru¨ndeten Rosenthal-AG in Selb (Bayern), die mit Spitzenerzeugnissen in der Porzellanmalerei fru¨h auf den globalen Markt dra¨ngte; den Bauplan fu¨r den Neubau der Fabrik im Jahr 1965 erstellte bezeichnenderweise der Begru¨nder des Bauhauses Walter Gropius. Das Unternehmen erlangte auch deshalb internationales Ansehen, weil Entwu¨rfe fu¨r das hochwertige Porzellan von international renommierten Ku¨nstlern wie dem Engla¨nder Henry Moore und dem Spanier Salvador Dalı´ erstellt wurden. Gomringer, konstant an Kunst- und Literaturtheorie interessiert, wirkte schließlich von 1977 bis 1990 als Professor fu¨r ¨ sthetik an der Staatlichen Akademie zu Du¨sseldorf, wobei er in Theorie der A dieser Zeit (1986) eine Gastprofessur fu¨r Poetik an der Universita¨t Bamberg bekleidete. In seinem Manifest vom vers zur konstellation aus dem Jahr 19546 postuliert Eugen Gomringer fu¨r die moderne sprachliche Versta¨ndigung eine a¨ußerst knappe, konzentrierte und sowohl akzelerativ wie auch global rezipierbare Form. In dem Statement am Eingang seiner theoretischen Programmschrift verbindet er den Aspekt der Beschleunigung der Kommunikation, der schon im 6 Gomringer 2009, S. 155 – 160. Nachweise von Zitaten aus dieser Ausgabe erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle G und der Seitenzahl.
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Futurismus eine wichtige Rolle spielt, mit anthropologischen und demographischen Erwa¨gungen sowie einer mediengeschichtlichen Betrachtungsweise: der heutige mensch will rasch verstehen und rasch verstanden werden, und viele menschen – die zahl der menschen wird sich betra¨chtlich vermehren – wollen zudem rasch von vielen andern menschen verstanden werden. das mittel ist die direkte sprache und die schrift, das schreiben und das lesen sind u¨bel, die viel aufwand erfordern. mit andern worten: fu¨r schnelle kommunikation ist das ferngespra¨ch geeigneter als der brief, der funk geeigneter als die presse. (G 155)
Dass Gomringer im Jahr 1954 mit seiner Einscha¨tzung der Medien und ihrer Zukunft richtig lag, zeigt sich daran, dass das Ferngespra¨ch heute durch das Mobiltelefon in seinen kommunikativen Mo¨glichkeiten noch extrapoliert und ¨ bermittlung von Nachrichten technisch perfektioniert wurde, die schriftliche U ¨ den medialen Ruckstand inzwischen durch die Internetkommunikation, insbesondere durch die E-Mail als neue Form des Briefes, aufgeholt und auch die Presse als Printmedium durch Online-Berichte vor dem Erscheinen im Druck (z. B. ‚Spiegel online‘) gegenu¨ber anderen Medien Boden gut gemacht hat. Gomringer hatte, wie zu resu¨mieren ist, im Jahr 1954, was die Entwicklung zur Mediengesellschaft angeht, das Ohr auf den Schienen. Die Tendenz zur Globalisierung sieht Gomringer im Bann einer neuen, im Aufschwung befindlichen Sprachwissenschaft7 und Sprachphilosophie8 vor allem durch die Entwicklung hin zur Vereinfachung und Formalisierung der Sprachen sowie durch die Dezimierung der Sprachenvielfalt besta¨tigt: unsere sprachen befinden sich auf dem weg der formalen vereinfachung. es bilden sich reduzierte, knappe formen. oft geht der inhalt eines satzes in einen ein-wort-begriff u¨ber, oft werden la¨ngere ausfu¨hrungen in form kleinerer buchstabengruppen dargestellt. es zeigt sich auch die tendenz, viele sprachen durch einige wenige, allgemeingu¨ltige zu ersetzen. (G 155)
Auch hier gibt ihm die moderne Entwicklung recht, denkt man an die zunehmende Verknappung der Kommunikation: im Gebrauch von Abbreviaturen bei E-Mails, in visuellen Leitsystemen von modernen Geba¨uden, bei Anzeigetafeln auf Bahnho¨fen und Flugha¨fen und in den mit Buchstaben operierenden Diagrammen der verschiedenen Wissenschaften. Die Reduktion der Sprachenvielfalt manifestiert sich, wie Gomringer richtig prognostiziert hat, in der wachsenden Bedeutung des Englischen als Welt-, Wirtschafts- und Wissenschaftssprache.
7 Vgl. Weinrich 1968. 8 Grundlegend hierfu¨r war der Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein; vgl. Wittgenstein 1975.
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Stand bisher die orale Kommunikation im Mittelpunkt von Gomringers Betrachtungen, so wendet er sich jetzt skripturalen Formen zu, wenn er expliziert: durch ihren modernen zeichencharakter hat sich […] die schrift an die notwendigkeit der schnelleren kommunikation angepasst. sie wird neben der gesprochenen sprache so notwendig, wie es optische eindru¨cke neben akustischen sind. zugleich tritt sie in den bereich praktisch-a¨sthetischer wertung. die schlagzeile und das schlagwort schlagen nicht nur durch lautkombination und inhalt, sie schlagen auch durch das schriftbild. (G 155)
Nachdem Gomringer im Kontext mit der modernen Semiotik, wie sie durch Charles Sanders Peirce (gest. 1914) und Charles William Morris (gest. 1979) vertreten wurde, den Blick auf die skripturale Zeichenhaftigkeit und die revolutiona¨re Typographie der Presse als Massenmedium im Besonderen gelenkt hat, schaut er wieder in die mediale Zukunft: „es la¨ßt sich u¨brigens denken, dass zuku¨nftig noch andere visuelle ausdrucksmittel in den dienst der kommunikation gestellt werden oder dass die bewa¨hrten – wie die schrift – auf neuartige weise verwendung finden.“ (ebd.) Was letzteres angeht, so kennen wir heute den Gebrauch von Schrift bei der sekundenschnellen Verschickung von SMS, dem sogenannten ‚Simsen‘, das sogar schon in die politische und diplomatische Korrespondenz eingedrungen ist. Den von Gomringer beschriebenen oder prophezeiten neuen Formen einer globalen Kommunikation soll sich nun seiner Meinung nach auch die Dichtung akkommodieren, der quasi von ihm ein ‚Update‘ verpasst wird. Auf dem Weg zu neuen Ufern der Poesie ist z. B. die Verwendung des Verses absolut hinderlich, statuiert doch der Autor : das gedicht in versform ist entweder eine historische gro¨ße oder, wenn heutig, eine kunsthandwerkliche reminiszenz. ein lebendiges ordnungsprinzip der sprache ist der vers nicht mehr. seine besondere sprache ist abgetrennt von der sprache des gelebten lebens. zwischen dem vers-gedicht und der gesellschaft besteht keine beziehung. (G 156)
¨ konomie der neuen Dichtung Angesichts der postulierten Rationalita¨t und O grenzt sich Gomringer, ohne Ross und Reiter zu nennen, von der internationalen irrationalistischen „dichtung“ der 50er Jahre ab, „zu der sich ein Großteil der jungen deutschen, spanischen und su¨damerikanischen dichter bekennt.“ (ebd.) Fu¨r deren Texte sind der „individualistische ausdruck“, insbesondere die „ha¨ufung von genitivischen metaphern“ kennzeichnend, die ungeeignet sind fu¨r „die dichtung der zukunft, einer wahrscheinlich noch bewußter organisierten zeit“, und an denen nur „einige eifrige interpreten interessiert sind,“ (ebd.) weil, wie man erga¨nzen kann, selbige sonst bescha¨ftigungslos wu¨rden. Den Erfordernissen globaler Poesie widersprechen somit als Gegenstand „individualistische Gefu¨hle“, (ebd.) elitaristische Adressierung an ein bloß akademisches
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Publikum und verklausulierte Metaphorik, die auch dem zuku¨nftigen Bedu¨rfnis nach effektiverem Zeitmanagement – nota bene das rezente Multitasking – im Wege stehen.
II.
Multinationale Genealogien
Wiewohl Gomringer darauf insistiert, dass die von ihm favorisierte neue, nonemotionalistische, auf globale Kommunikation angelegte Dichtung die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung und den Zeitgeist widerspiegelt, bemu¨ht er sich doch, fu¨r sie eine Genealogie mit deutschen, franzo¨sischen, italienischen und amerikanischen Vorfahren zu rekonstruieren: die neue dichtung ist entwicklungsgeschichtlich begru¨ndet. ihre anfa¨nge sind in den versuchen eines arno holz (phantasus-gedichte) wie in denen des spa¨ten mallarme´ und in den „calligrammes“ von apollinaire zu sehen. sie ku¨ndet sich bei diesen dichtern durch eine neugestaltung der gedichte an. sie beruht bei arno holz darauf, dass rhythmisch zusammengeho¨rige worte in einer zeile versammelt wurden, wodurch das bekannte bild der kurz- und langzeilen der phantasus-gedichte entstand. mallarme´ und apollinaire bezweckten, mit verschiedener absicht, durch komplizierte typografische anordnungen, das einzelne wort aus der einebnenden syntax zu lo¨sen und ihm – oder der einzelnen letter – das eigengewicht und die individualita¨t zu geben. daß diese dichtung damit zu einem parallelfall eines in der bildenden kunst bekannten vorgangs wurde (kandinsky, klee, mondrian), beweist ihre teilnahme an einem allgemeineren prozeß: den großen reinigungsprozeß, der da wie dort die elemente des aufbaus neu entdecken ließ. (G 157)
Nach dem bekannten Dreigestirn der visuellen Poesie, Arno Holz mit seiner auf Mittelachse gesetzten und weder gereimten noch metrifizierten PhantasusDichtung (1898/1899), dem spa¨ten Mallarme´ mit seinem abstrakten Figurengedicht Un Coup de de´s (1897) und Apollinaire mit seinen figurativen Calligrammes (1918), die allesamt das Wort bzw. den Buchstaben aus dem Korsett der konventionellen Typographie lo¨sen,9 ru¨ckt Gomringer die neue konkrete Dichtung in eine Parallele zu der kontempora¨ren Malerei, die wieder durch eine Trias, diesmal abstrakter Maler, vertreten ist: den Russen Wassilij Kandinsky, den schweizerisch-deutschen Maler Paul Klee und den Holla¨nder Piet Mondrian als wichtiges Vorbild fu¨r die konkreten Maler. Was Gomringer unter dem ‚großen Reinigungsprozess‘ der Ku¨nste versteht, meint die in Malerei und Dichtung zu beobachtende Tendenz zur Autonomisierung des Kunstwerks, insbesondere zur Konzentration auf die Eigengesetzlichkeit seiner malerischen oder sprachlichen Mittel. In der Dichtung findet 9 Vgl. Adler / Ernst 1990, S. 212 – 253.
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diese Theorie eines interartistischen Purifikationsprozesses ihren pra¨gnanten Ausdruck in der Formel von der ‚Poe´sie pure‘, die in der Nachfolge von Mallarme´ u. a. den Selbstzweck des sprachlichen Kunstwerks, seine Freiheit von verlegerischen Interessen und ideologischen Vorgaben sowie seine Independenz von der außersprachlichen Wirklichkeit betont.10 Doch damit nicht genug, Gomringer sieht auch in den historischen Avantgarden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts dezidiert Vorla¨ufer seiner transnationalen konkreten Poesie: in der dichtung wurde das element „wort“ neu entdeckt. die futuristische dichtung des kreises um marinetti, zum teil auch die expressionistische, ganz besonders aber die dadaistische dichtung erkannten und ergriffen das aus dem zusammenhang gelo¨ste wort, unter anderem mit der bezeichnenden begru¨ndung – von hugo ball –, daß die besonderen umsta¨nde jener zeit eine begabung von rang nicht ruhen und reifen ließen, sondern auf die pru¨fung der mittel verwiesen. die weltanschauliche begru¨ndung und der ausdruckswille, der hinter dieser dichtung steht, sind uns nicht mehr zugeho¨rig und sind nicht mehr zeitgema¨ß. wenn aber heute vorbehalte gegen die dichtung dieser typischen bewegungen einer umbruchzeit zu machen sind – sie war sehr oft stimmungsdichtung und ist es leider bei gottfried benn auch heute noch –, so kann deren leistung innerhalb der entwicklung der neuen dichtung, ihr experimentieren mit den lo¨sungen, die fu¨r mallarme´, apollinaire und holz entdeckungen waren, nicht verkannt werden. (G 157)
Fu¨r den Futurismus steht bei Gomringer namentlich der Italiener Emilio Filippo Tommaso Marinetti (1876 – 1944), dessen Parole in liberta` eine Loslo¨sung der Wo¨rter von orthographischen, grammatischen und syntaktischen Zwa¨ngen bedeuten. Der italienische Futurismus ist in dieser Zeit geradezu ein Schrittmacher auf dem Weg zu einer Globalisierung in der Kunst, denkt man z. B. an einen Ableger wie den russischen Futurismus. Auch der 1916 in Zu¨rich emergierte Dadaismus ist eine internationale Kunst- und Literaturstro¨mung, mit der sich Gomringer, selbst Schweizer, am sta¨rksten identifiziert, wie auch sein Zitat aus Hugo Balls Tagebuch Die Flucht aus der Zeit11 zeigt. Vorbehalte gegenu¨ber den Avantgarden beziehen sich auf weltanschauliche Grundlagen, wobei Gomringer vielleicht auf faschistische Inhalte im Futurismus abhebt, oder auf Formen der ‚Stimmungsdichtung‘, bei der er an die pathosgeladene Lyrik des Expressionismus denken ko¨nnte, dem auch der von ihm geschma¨hte Gottfried Benn (1886 – 1956) mit seiner Lyrik der Nachkriegszeit entstammt.12 Der europa¨ische Kanon wird von Gomringer durch den Hinweis auf zwei 10 Vgl. Vale´ry 1975. 11 Ball 1927, Eintrag 18. VI. 12 Gomringer musste in Benn einen Konkurrenten sehen, nachdem dieser 1948 im Schweizer Arche-Verlag seine Statischen Gedichte vero¨ffentlicht hatte, 1951 den Georg-Bu¨chner-Preis erhielt und ihm 1953 das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde.
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amerikanische Dichter, Edward Estlin Cummings (1894 – 1962) und William Carlos Williams (1883 – 1963), komplementiert, die ebenfalls als Pioniere der neuen Dichtung pra¨sentiert werden: „in amerika hat die mit dem wort und dem wortbild schaffende dichtung in e.e. cummings und william carlos williams zwei vertreter gefunden, die, in grundsa¨tzlicher verschiedenheit, die neue dichtung in die gegenwart u¨berfu¨hrt haben.“ (G 175) Allerdings ist Gomringers Position gegenu¨ber den beiden Autoren zwiespa¨ltig, heißt es doch: der beitrag cummings’ ist besonders dort bedeutend, wo seiner dichtung ein semiotisches interesse zugrunde liegt. dadurch, dass cummings aber seine gedichte unter die bestimmung ‚for you and for me‘ stellte, bekennt er sich zur menschlichen und artifiziellen entru¨ckung, in welcher niemals das ziel der neuen dichtung gesehen werden kann. (G 157 f.)
So sehr Gomringer den epistemischen Kontext der damals noch relativ jungen Disziplin der Semiotik bei Cummings wu¨rdigt, auf dessen visualistisch-typographischen Experimente nicht explizit eingegangen wird – implizit zielt darauf der hier kritisch verwendete Begriff des Artifiziellen –, so wenig behagt ihm die elitaristische Tendenz zur ‚menschlichen Entru¨ckung‘, wobei er auf Cummings’ Statement: „The poems to come are for you and for me and are not for most people“13 abzielt. Auch Gomringers Verha¨ltnis zu William Carlos Williams erweist sich als ambivalent, wenn er ausfu¨hrt: bedeutender ist eine anzahl gedichte von carlos williams. er hat die aussage so weit objektiviert, dass er mit seinem sparsamen, konzentrierten mittel „wort“ eine welt allta¨glicher amerikanischer tatsachen darstellen kann, zu der jeder zutritt hat. der nachteil seiner dichtung ist allgemein darin zu sehen, dass sie, als nachfahre des imagismus, abstrahierte beschreibungen gibt – mit einer impressionistischen note – und deshalb eigentlich nicht konsequente dichtung aus dem wort ist, auch wenn das ihre form auf den ersten blick vermuten la¨ßt. (G 158)
Wa¨hrend Cummings das Wort in nur schwer entzifferbare, dispers angeordnete Buchstaben auflo¨st, bleibt es bei Williams unangetastetes Fundament seiner leichter zuga¨nglichen Dichtung, was Gomringers Beifall findet. Das positive Votum gilt auch fu¨r den sogenannten ‚Objektivismus‘ von Williams, auf den Gomringer alludiert, na¨mlich die Ausrichtung auf ein Objekt, z. B. die beru¨hmte ‚rote Schubkarre‘ (a red wheelbarrow), verbunden mit einer Akzentuierung des Aktes der Beobachtung. Kritisiert wird, dass die Ding-Lyrik von Williams noch zu sehr der literarischen Dichtung des Imagismus mit ihrer Konzentration auf ein Bild bzw. einen Tropus verhaftet und damit letztlich noch beschreibend ist, was Gomringers Antideskriptionismus widerspricht. Wenn Williams, der in der 13 Cummings 1938, Introduction, unpaginiert, erster Satz.
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Tat auf das Anregungspotential der Malerei fu¨r seine Verse zuru¨ckgreift – man ¨ . (gest. 1569) denke nur an seine Bildgedichte nach Gema¨lden Pieter Bruegels d. A –, „eine impressionistische Note“ bescheinigt wird, wirkt das fast wie eine Schutzbehauptung Gomringers, der, selbst auch nicht konsequent verbalistisch dichtend, die konkretistischen Bildwerke eines Max Bill und Josef Albers als Inspirationsquellen fu¨r seine Konstellationen nutzt. Weiter konstatiert Gomringer, fast romantisierend und die Idee der Volksdichtung beschwo¨rend: die form der neuen dichtung ha¨ngt vom mittel ab – dem wort – wie vom zweck, welcher der dichtung in der heutigen gesellschaft zugeschrieben werden kann. zweck der neuen dichtung ist, der dichtung wieder eine organische funktion in der gesellschaft zu geben und damit den platz des dichters zu seinem nutzen und zum nutzen der gesellschaft neu zu bestimmen. da dabei an die formale vereinfachung unserer sprachen und den zeichencharakter der schrift zu denken ist, kann von einer organischen funktion der dichtung nur dann gesprochen werden, wenn sie sich in diese sprachvorga¨nge einschaltet. (G 158)
Die Emphase des Innovatorischen beibehaltend, postuliert Gomringer von der neuen Dichtung, dass sie den angestammten Elfenbeinturm verla¨sst und dem Nutzen der Gesellschaft dient, in die sich auch der seiner Verantwortung bewusst werdende Dichter integrieren soll. Mag Gomringer hier mit seiner funktionalistischen Poetik auch vom englischen Utilitarismus, repra¨sentiert durch Jeremy Bentham (1748 – 1832) und John Stuart Mill (1806 – 1873), und vom Pragmatismus, vertreten durch William James (1842 – 1910) und John Dewey (1859 – 1952), beeinflusst sein – letzterer hat auf den Behaviorismus eingewirkt, auf den Gomringer andernorts rekurriert –,14 so korreliert dieses Zweckdenken doch auch stark mit der Theorie des Design von der zu optimierenden Fungibilita¨t ¨ sthetik der menschlichen Dingwelt, in die sich seiner Ansicht nach auch und A das Gedicht einzuordnen hat. Eine gesellschaftskritische oder gar subversive Rolle fa¨llt diesem affirmativen Gebilde nicht zu. Im Bann des sich in den 1950er Jahren herausbildenden Linguistic Turn beschwo¨rt Gomringer die progredierende formale Vereinfachung der Weltsprachen, wie sie sich bekanntlich in der Tendenz zu Formeln, Diagrammen oder Plansprachen – man denke an das 1954 von einer UNESCO-Resolution als Mittel der Vo¨lkerversta¨ndigung empfohlene Esperanto –, aber auch hin zur Semiotik von Skripturalita¨t auspra¨gt, um der obsolet gewordenen Lyrik einen neuen Weg hin zur Globalisierung zu weisen: das neue gedicht ist deshalb als ganzes und in den teilen einfach und u¨berschaubar. es wird zum seh- und gebrauchsgegenstand: denkgegenstand – denkspiel. es bescha¨ftigt 14 „grundlage guter sprachlicher kommunikation sind analoge denkstruktur- oder behavioristisch gesprochen: analoge patternstruktur- und analoge materielle (zeichen-)struktur.“ (G 162)
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durch seine ku¨rze und knappheit. es ist memorierbar und als bild einpra¨gsam. es dient dem heutigen menschen durch seinen objektiven spiel-charakter, und der dichter dient ihm durch seine besondere begabung zu dieser spielta¨tigkeit. er ist der kenner der spiel- und sprachregeln, der erfinder neuer formeln. durch die vorbildlichkeit seiner spielregeln kann das neue gedicht die alltagssprache beeinflussen. (G 158)
Dass die neue Konstellation auf Synopse disponiert, also u¨berschaubar sein soll, erinnert an die schon von avantgardistischen Malern, etwa Robert Delaunay, vertretene Idee der Simultaneite´, wa¨hrend die Vorstellung des Gedichts als Sehund Gebrauchsgegenstand wegen der pointierten Pragmatik wohl weniger aus der Objektkunst als aus der vom Bauhaus entwickelten Design-Theorie (‚Gebrauchsgegenstand‘) herru¨hrt. Sofern das Gedicht auch rationalistisch als „denkspiel“ klassifiziert wird, du¨rfte Gomringer hier weniger von LudistikTheorien des literarischen Manierismus15 oder von Johan Huizingas bahnbrechendem anthropologischen Werk Homo ludens16 ausgehen als in origineller Weise Ludwig Wittgensteins Begriff des ‚Sprachspiels‘ adaptieren, den dieser in seinen 1953 postum erschienen Philosophischen Untersuchungen17 entwickelt hat.18 Nicht auszuschließen ist bei dem nicht nur philosophisch, sondern auch nationalo¨konomisch interessierten und beschlagenen Gomringer außerdem ein Einfluss der in den 50er Jahren schon in der Volkswirtschaftslehre etablierten Spieltheorie. Wie aus den folgenden Sa¨tzen des Manifests hervorgeht, ist Gomringers Dichtungstheorie auch eine Memorialpoetik, welche neben der Forderung nach sprachlicher ‚Brevitas‘ durch ihre zwei Prinzipien, ra¨umliche Ordnung und abstrakte ‚Imago‘, die auf eine Synthese von Topo- und Ikonogramm zielen, noch an die vormoderne ‚Ars memorativa‘ anknu¨pft19 – ob beabsichtigt oder nicht, sei dahingestellt. Der Spielbegriff wird im Folgenden von ihm noch einmal aktualisiert und auf die Produktions-, Werk- und Wirkungspoetik projiziert. Der neue Dichter ist in seiner Sicht als Kenner der Regeln ein ‚Magister ludi‘, sein Gedicht besitzt eine regelorientierte ludistische Struktur, wobei Gomringer als Verehrer Hermann Hesses an den Roman Das Glasperlenspiel (1943) und dessen Protagonisten, den ‚Magister Ludi‘ Josef Knecht, denken mochte, und Adressat ist schließlich der ‚heutige Mensch‘, der Mensch der fu¨nfziger Jahre, der mit Ideologien wie dem Nationalsozialismus und Kommunismus gebrochen hat – ein anthropologischer Ansatz, der hier gleichwohl auch von Huizingas Konstrukt des ‚Homo ludens‘ inspiriert ist. Der Globalisierung der Poesie korrespondiert ihre auch untere Schichten ansprechende Demokratisierung, er15 16 17 18 19
Vgl. Liede 1992. Vgl. Huizinga 1956. Wittgenstein 2003, § 27, 66; (I, 23). Vgl. Gomringer 1988. Vgl. Ernst 1993.
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tra¨umt sich doch der Autor euphorisch, dass seine Konstellation sogar auf die Alltagssprache ausstrahlen ko¨nnte. Gomringer will den Zaun zwischen Hochsprache und Volkssprache, Ho¨henkamm- und Gebrauchsliteratur oder, wie es spa¨ter im Gefolge des britischen Soziolinguisten Basil Bernstein heißt, ‚elaboriertem und restringiertem Code‘20 niederreißen – zu der favorisierten Gebrauchsliteratur za¨hlen fu¨r ihn in der Folgezeit sogar Werbetexte –,21 was sich in dieser utopischen Anlage zum Teil auch als Revival romantischer Vorstellungen von Volkspoesie erkla¨ren la¨sst: der zweck der neuen dichtung ist viel direkter als der der individualistischen dichtung. der unterschied zwischen der sogenannten gebrauchsliteratur und der designierten dichtung fa¨llt nicht mehr ins gewicht, zwischen beiden besteht nahe verwandtschaft, ja es ist nicht abwegig zu denken, dass der unterschied einmal verschwindet, dass es in zukunft u¨berhaupt nur noch eine art wirklicher gebrauchsliteratur geben wird. der beitrag der dichtung wird sein die konzentration, die sparsamkeit und das schweigen: das schweigen zeichnet die neue dichtung gegenu¨ber der individualistischen dichtung aus. dazu stu¨tzt sie sich auf das wort. (G 158 f.)
Selbst wenn Gomringers mit Leerfla¨chen operierende Konstellationen von Mallarme´s ‚Blancs‘ im Coup de de´s beeinflusst sind, ist pointierter als bei dem Franzosen in seiner Dichtungstheorie das Schweigen letztes Glied einer Klimax, konsequentes Telos von sprachlicher Konzentration und stilistischer Sparsam¨ ußerungen entnehmen kann, profitiert Gomringers keit. Wie man spa¨teren A global konzipierte konkretistische Poetik des Schweigens nicht nur von der Sprachphilosophie Wittgensteins mit ihrem zentralen Diktum: „Wovon man nicht sprechen kann, daru¨ber muss man schweigen“,22 sondern auch – dies ein typischer ‚Globalismus‘ mit ferno¨stlicher Konnotation – von der Idee des meditativen Schweigens im Zen-Buddhismus, der ebenso wie das geheimnisvolle, aus visuellen Orakelfiguren bestehende ‚I Ging‘ auf die europa¨ischen und amerikanischen Konkretisten große Faszination ausgeu¨bt hat.23 Es folgen Statements elementaristischer Art zum Wort als prima¨rem Baustein des Gedichts: das wort: es ist eine gro¨ße. es ist – wo immer es fa¨llt und geschrieben wird. es ist weder gut noch bo¨se, weder wahr noch falsch. es besteht aus lauten, aus buchstaben, von denen einzelne einen individuellen, markanten ausdruck besitzen. es eignet dem wort die scho¨nheit des materials und die abenteuerlichkeit des zeichens. es verliert in gewissen verbindungen mit anderen worten seinen absoluten charakter. das wollen wir in der dichtung vermeiden. wir wollen ihm aber auch nicht die pseudoselbsta¨ndigkeit verleihen, die ihm die revolutiona¨ren stile gaben. wir wollen es keinem stil unterord20 21 22 23
Vgl. Bernstein 1970. Vgl. Meyer 2010, S. 299 – 303. Wittgenstein 1975, Schlussparagraph 7, S. 115. Vgl. Fenollosa 1972; Gomringer 1971.
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nen, auch dem staccato-stil nicht. wir wollen es suchen, finden und hinnehmen. wir wollen ihm aber auch in der verbindung mit anderen worten seine individualita¨t lassen und fu¨gen es deshalb in der art der konstellation zu anderen worten. (G 159)
Das von Gomringer fast fetischisierte, wenn nicht gar metaphysizierte Wort als Baustein des Textes ist ethisch wie auch gnoseologisch indifferent, zeichnet sich vielmehr pra¨dominant durch seine akustische und visuelle Materialita¨t als Laut und Buchstabe aus. Ihm eignet, wie es programmatisch heißt, die „Scho¨nheit des Materials und die Abenteuerlichkeit des Zeichens“,24 d. h. einerseits wird das a¨sthetische Sensorium des Lesers angesprochen, andererseits wird der Rezipient zu ku¨hnen Deutungen eingeladen. Statt das Wort in die Zwangsjacke einer elaborierten Syntax zu sperren, soll sein autonomer Charakter in der Konstellation so weit wie mo¨glich erhalten bleiben. Gomringers Konzept bleibt gleichwohl moderat: Er wendet sich sowohl gegen die Pseudo-Absolutheit des Wortes, etwa im Dadaismus, wie auch gegen seine Unterwerfung unter einen futuristischen oder expressionistischen Staccato-Stil. Im diskursiven Kontinuum des Manifests folgt als theoretisches Herzstu¨ck eine mit definitorischen Aussagen durchsetzte, sowohl plakative wie normative Beschreibung der Konstellation: die konstellation ist die einfachste gestaltungsmo¨glichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. sie umfasst eine gruppe von worten – wie sie eine gruppe von sternen umfasst und zum sternbild wird. in ihr sind zwei, drei oder mehr, neben- oder untereinandergesetzten worten – es werden nicht zu viele sein – eine gedanklich-stoffliche beziehung gegeben. und das ist alles! die konstellation ist eine ordnung und zugleich ein spielraum mit festen gro¨ßen. sie erlaubt das spiel. sie erlaubt die reihenbildung der wortbegriffe a, b, c, und deren mo¨gliche variationen. so wird auch beispielsweise die inversion erst in der konstellation zu einer bewegenden gro¨ße, zu einem problem. die konstellation la¨ßt auch die elementare satzverbindung zu: also vor allem das kleine und große wort „und“. auch es wird in der konstellation zu einer gro¨ße und steht statt der leere. (G 159)
Gomringer knu¨pft hier an die alte globalistische, astrologisch, kosmologisch und theologisch konnotierte Vorstellung von der Sternenschrift an,25 die Mallarme´, in Gedichtform u¨bersetzt, der Moderne vermittelt hat: Das aus Einzelsternen bestehende Sternbild wird fu¨r Gomringer zum Vorbild fu¨r die aus wenigen Wo¨rtern gebildete Konstellation, deren Projektionsfla¨che die Buchseite ist und deren Ordnung eine kreative Raumsyntax u¨bernimmt. Regulierende Prinzipien der Komposition sind, zum Teil aus der konkreten Malerei u¨bernommen, Serialita¨t, Varianz und Inversion.
24 Ebd., unpaginiert. 25 Vgl. Ernst 2008.
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Im Fortgang des Diskurses spricht Gomringer produktions- und rezeptionsa¨sthetische Aspekte der neuen Lyrik an: die konstellation wird vom dichter gesetzt, er bestimmt den spielraum, das kra¨ftefeld und deutet seine mo¨glichkeiten an. der leser, der neue leser, nimmt den spielsinn auf und mit sich: denn um die mo¨glichkeiten des spielers zu wissen, ist heute gleichbedeutend dem wissen um eine endgu¨ltige klassiker-satzung. der dichter kann die konstellation auch so ausrichten, dass ihr der leser punkt um punkt folgt: er wird dadurch nicht vergewaltigt, denn die konstellation ist das letztmo¨gliche absolute gedicht. (G 159)
In seiner ganz auf die Idee der Innovation abgestellten Poetik wird die Vorstellung eines neuen Lesers kreiert, der einerseits das Gedicht als bloße Spielanleitung goutieren, andererseits aber auch den Vorgaben des Dichters getreu folgen kann; denn – und hier folgt der Autor begrifflich der modernen Formel von der ‚Poe´sie absolue‘ – die Konstellation ist das absolute Gedicht schlechthin. Es folgt, dezidiert zugespitzt und auf den Punkt gebracht, die Proklamation einer globalen Poesie auf der Basis der Konstellation: die konstellation ist inter- und u¨bernational. ein englisches wort mag sich zu einem spanischen fu¨gen. wie gut paßt die konstellation auf einen flughafen! zu u¨bersetzen ist die konstellation nicht, sie meint es wo¨rtlich, einmalig. (Ebd.)
Die von Gomringer erfundene Konstellation wird hier programmatisch als ein internationales Genus definiert, was von der Substanz her in der Geschichte der poetologischen Gattungstheorie einzigartig ist, mag auch das hier dokumentierte Gattungsversta¨ndnis insistierend, normativ und pra¨skriptiv sein. Garant der Internationalita¨t ist die konstitutive Multilingualita¨t der Gattung,26 fu¨r die das dichterische Œuvre Gomringers zahlreiche Beispiele liefert: z. B. seine Sammlung die konstellationen les constellations the constellations las constelaciones27 oder sein stundenbuch (1980), das vielleicht auch nach dem Vorbild mehrsprachiger mittelalterlicher Psalterien fu¨nfsprachig (dt., engl., franz., span., norweg.) publiziert wurde. Gomringer, dem bei seiner Dichtung immer auch im Sinne der Bauhaus-Philosophie materielle Architekturen vorschweben, in die man Konstellationen inskriptional einbinden kann,28 denkt als idealen Ort einer textlichen Pra¨sentation an den Flughafen, Knotenpunkt des internationalen Verkehrs, was sich u. a. als Reflex auf die futuristische Aviatik, die Verherrlichung des Fliegens, deuten la¨sst, die wieder in Zusammenhang mit der neuen Erfahrung der Beschleunigung zu sehen ist, die bei Gomringer das Stilideal der Ku¨rze erkla¨rt. Nicht zu vergessen ist aber im Kontext mit dem durch 26 Vgl. Ernst 2004. 27 Vgl. Gomringer 1962. 28 Vgl. Ernst 2006.
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Wa¨hrungsreform und Marshallplan initiierten ‚Wirtschaftswunder‘ der 1950er Jahre die rapide Zunahme des zivilen Flugverkehrs in Deutschland, gerade auch nach der Neugru¨ndung der Deutschen Lufthansa im Jahr 1953, nicht nur zu o¨konomischen und politischen, sondern auch zu touristischen und kulturellen Zwecken. Weil sich die Konstellation reduktionistisch nur aus wenigen Worten rekrutiert, zudem oft auch polyglott konzipiert ist, erledigt sich das fu¨r eine ¨ bersetzung gleichsam von internationale Gattung sonst diffizile Problem der U selbst. Schließlich hatten die Linguisten Benjamin Lee Whorf (gest. 1941) und Edward Sapir (gest. 1939) ja auch die in den 1950er Jahren als Sapir-WhorfHypothese bekannt gewordene Auffassung vertreten, dass fremdsprachige Texte prinzipiell nicht u¨bersetzbar seien. Gomringer fa¨hrt im Textkontinuum des Manifests mit der Beschreibung und Funktionsbestimmung der Konstellation fort, wobei sich manches wiederholt, auf das na¨her einzugehen sich eru¨brigt: die konstellation ist zur niederschrift und zum memorieren. sie ist zeichensprache wie abstrakt-gedankliches werkzeug. es ist der fehler fru¨herer versuche einer reinen wortdichtung, daß sie entweder einseitig ans papier gebunden waren – als reine typografische elaborate – oder nur klanglich wirksam waren und dann dem bereich der dichtung entfielen. die konstellation kennt keine negation. denn jedes wort, das der dichter hinsetzt, ist! ein wort wie „nichts“ wird in der konstellation unsinnig, kann nicht gebraucht werden: es hebt sich selbst auf, mit der konstellation wird etwas in die welt gesetzt. sie ist eine realita¨t an sich und kein gedicht u¨ber… (G 160)
Summa summarum: Die Konstellation zeichnet sich aus durch Skripturalita¨t, Memorierbarkeit, semiotische Struktur sowie abstrakte Rationalita¨t und unterscheidet sich dabei von anderen Formen der Wortdichtung, die rein typographischer oder einseitig klanglicher Art sind, wobei Gomringer mit seiner Kritik vermutlich vor allem die futuristischen Parole in liberta` im Visier hat. Demgegenu¨ber verleiht Gomringer der Konstellation eine ho¨here Weihe, indem er ihr einerseits einen quasi ontologischen Status und andererseits den Charakter der Selbstreferentialita¨t zuspricht. Das internationale Gattungsmodell exemplifiziert er dann an einem von ihm stammenden spanischen Text, den er kurz vorstellt und anschließend kurz kommentiert: ein beispiel der konstellation: gegeben sind die sechs spanischen worte: avenidas (straßen), flores (blumen), mujeres (frauen), admirador (bewunderer), y (und), un (ein). die konstellation, die ich vorschlage, sieht so aus: avenidas avenidas y flores flores flores y mujeres avenidas avenidas y mujeres
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avenidas y flores y mujeres y un admirador man erkennt, daß die kombinatorik ein hilfsmittel der konstellation ist: ein direkter einfluß auf die dichtung war der mathematik nie mo¨glich. und man erkennt ferner, daß sich in der konstellation mechanistisches und intuitives prinzip in reinster form verbinden ko¨nnen. (G 160)
Bei seinem Versuch einer Kontextualisierung der kombinatorischen Konstellation mit der Mathematik, die mit seinem naturwissenschaftlichen Weltbild konvergiert, u¨bersieht Gomringer allerdings die bis in die Antike zuru¨ckreichende Tradition der Proteusverse, u¨bergeht auch den starken Einfluss der ‚Ars combinatoria‘ des Raimundus Lullus auf die moderne Literatur und ignoriert rezente Ansa¨tze bei Raymond Queneau.29 Außer dem Prinzip der Permutation erwa¨hnt der Autor unter verschiedenen Aspekten weitere generistische Spielarten der Konstellation: andere konstellationen zeigen, daß sie mit ihrem schriftbild die zeit aus dem gedicht entfernen, ein versuch, der dieses jahrhundert in der literatur, vor allem durch james joyce (ulysses) unternommen wurde. sieht man die psychische frage in der konstellation?die konstellation ist kein rezept, weder formal noch thematisch, sie nennt die „allzumenschlichen“, sozialen und erotischen probleme nicht. wenn diese probleme nicht weitgehend im leben gelo¨st werden ko¨nnen, geho¨ren sie vielleicht in die fachliteratur. die konstellation ist eine aufforderung. (G 160)
Fu¨r den Versuch mancher Konstellationen, die Zeit aus der Dichtung zu expedieren – in diese Richtung deuten z. B. die serielle Rekapitulation eines einzelnen Wortes oder der Verzicht auf Verben als Pra¨dikate mit bestimmten Tempora –, nennt Gomringer als Parallele James Joyce und seinen Ulysses, einen Roman, der bekanntlich an einem einzigen Tag, dem 16. 06. 1904, spielt, durch typographische Figuren zu Synopsen einla¨dt und mit der Technik des ‚Stream of Consciousness‘ ein neues Modell von Synchronizita¨t anhand sich u¨berlagernder intramentaler Prozesse entwickelt hat. So sehr die Na¨he zum modernen experimentellen Roman von Gomringer begru¨ßt wird, so nachdru¨cklich wehrt er sich gegen die Appropriation der Psychologie und delegiert alle menschlichen Seelenprobleme, sonst bevorzugter Gegenstand der herko¨mmlichen Lyrik, ungeru¨hrt an die Fachliteratur. Die Konstellation ist als absolute Dichtung in seiner Sicht kein Rezept zur Lo¨sung menschlicher Probleme, sondern besitzt in kommunikationstheoretischer Hinsicht einen offenen, appellativen Charakter. Claus Bremer wird spa¨ter sagen: „die konkrete dichtung liefert keine ergebnisse. sie liefert den prozess des findens“.30 29 Vgl. Queneau 1947. 30 Kopfermann 1974, S. 7.
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III.
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Gomringer und das Netzwerk der konkreten Poesie: Versuch einer Systematik
Zum Schluss seien wichtige Strukturen von Gomringers Programmatik der Konkreten Poesie als einer internationalen Gattung ausdifferenziert und systematisiert: I. Werka¨sthetisch wird seine Poetik durch folgende Komponenten gepra¨gt: 1. Gomringers Konzept einer globalen Poesie funktioniert prima¨r auf der Basis einer Art von ‚Lingua universalis‘ mit reduzierter Grammatik, Morphologie und Syntax, wobei der Autor aber nicht an eine Liquidierung der Nationalsprachen denkt. 2. Zentral ist bei ihm das Postulat nach einer mehrsprachigen Dichtung, die nicht nur aufgrund ihres Reduktionismus, sondern auch aufgrund ihrer Polyglossie Angeho¨rige verschiedener Nationalita¨ten anspricht und das ¨ bersetzungsproblem jeder Literatur mit transnationaler Pra¨leidige U tention expediert. 3. Besonders relevant ist fu¨r seine Konzeption die Bedeutung von Visualita¨t, die schon im Begriff der Konstellation liegt, von Gomringer andernorts auch an der chinesischen ‚Bilderschrift‘ exemplifiziert wird: Das ‚Bild‘ als globales Idiom wird zum Medium und Vehikel internationaler Literatur, wie der Autor u. a. am Beispiel der Verkehrszeichen illustriert. 4. Die konkretistische Poesie wird von Gomringer erstmals auch unter wirtschaftlichen Aspekten der Effizienz und Optimierung von Nachrichtenu¨bermittlung gesehen, ihre internationale Expansion in Analogie zum Welthandel begriffen und funktionell im Rahmen einer nicht nur o¨konomischen, sondern auch o¨kologischen Poetik als Mittel der Umweltgestaltung gedeutet – inskriptional gebunden an artefaktische oder architekturale Tra¨ger. 5. Fu¨r die internationale Dissemination ist die Konstellation durch ihre sprachliche ‚Brevitas‘ und ihr auf einen Blick u¨berschaubares visuelles Arrangement auch deshalb besonders disponiert, weil sie, wie schon in der vormodernen ‚Ars memorativa‘ immer wieder pointiert, auf diese Weise fu¨r die Rezipienten spezielle mnemotechnische Vorzu¨ge gewinnt: Eines der Gu¨tesiegel der Konstellation ist ihre besondere Merkfa¨higkeit. 6. Wenn Gomringer schließlich trotz seiner Propagierung der Polyglossie, gleichsam als Kehrseite der Medaille, auch konkretistische Dialektdichtungen befu¨rwortet – es gibt von ihm Gedichte im Schwyzerdu¨tsch –, kann man bei ihm auch den Begriff der sog. ‚Glokalisierung‘ als Mixtur von Globalisierung und Lokalisierung in Anschlag bringen.
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II. Historisch-genealogisch lassen sich fu¨r Gomringer u. a. folgende Vorbilder ausmachen, die statt nationaler Monogenese als dominierende Struktur multinationale Polygenese erkennen lassen: 1. der Naturalismus, ein franzo¨sischer Import, vermittelt durch den experimentellen Lyriker Arno Holz; 2. der Symbolismus, vertreten durch Mallarme´, an dessen ‚Mardis‘ Vertreter verschiedener Nationalita¨ten, z. B. Stefan George und Oscar Wilde, teilnahmen; 3. der italienische Futurismus, der, wie das Beispiel Guillaume Apollinaires zeigt, auf Frankreich und, wie im Fall Gottfried Benn belegt, auch auf Deutschland ausgestrahlt hat; 4. der gegenstandsbezogene Objektivismus des Amerikaners William Carlos Williams und die visuelle Lyrik von E. E. Cummings; 5. der schweizerische Dadaismus mit Wirkung auf Deutschland und Frankreich bis hin zu ‚Dada New York‘; 6. der 1945 von dem Franzosen Isidore Isou in Paris gegru¨ndete Lettrismus, dem sich 1972 der deutsche Mike Rose (= Klaus Viktor Gottfried Rose) anschloss, u¨ber den Eugen Gomringer spa¨ter notiert hat: „Er darf sich heute ganz richtig als ‚Der deutsche Beitrag zum Lettrismus‘ bezeichnen lassen“;31 7. die brasilianische Neo-Avantgarde der Noigandres-Gruppe, mit der die Konkrete Poesie quasi gleichzeitig aus der Taufe gehoben wurde: Die Kooperation der deutschen Konkretisten mit dem su¨damerikanischen Dichterkreis erscheint aus der Sicht der kontempora¨ren Makroo¨konomien als eine Art von ‚Joint Venture‘; 8. Richtungen der internationalen bildenden Kunst: a) die abstrakte Malerei, fu¨r die der Name und das Werk Kandinskys stehen, ¨ sthetik und seiner Fu¨lle b) das Bauhaus mit seiner funktionalistischen A von internationalen Kontakten und c) die konkrete Malerei, die stark von dem Holla¨nder Piet Mondrian initiiert wurde, Gomringer aber vor allem in Gestalt des Schweizers Max Bill beeinflusst hat. Zum geistigen Profil Gomringers geho¨rt neben einer romantischen Komponente32 vor allem ein stark naturwissenschaftliches und mathematisch gepra¨gtes 31 Gomringer 1979, unpaginiert. 32 Dass Gomringer auch die klassische Auffassung Goethes kannte, darf man voraussetzen, da die Abhandlung von Fritz Strich „Goethe und die Weltliteratur“ 1946 in Bern erschien, wo der Germanist auch gelehrt hat. Zu Goethe vgl. Lamping 2010.
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Weltbild. Religionen oder Ideologien spielen bei ihm keine Rolle, wohl vor allem, weil sie einer Globalisierung eher trennend im Wege stehen. Sein szientifisches, cartesianisches Denken bewegt sich viel mehr in den Bahnen moderner epistemologischer Disziplinen wie Sprachphilosophie, Semiotik, Informationstheorie, Kommunikationstechnologie, Kybernetik etc., die er fu¨r global rezipierbar ha¨lt. Gomringers Poesie hat nicht nur transnationale Wurzeln, sondern fand auch eine sogar in der subversiven Kunst des Ostblocks spu¨rbare transnationale ¨ sterreich (Wiener Resonanz: Seine Wirkung in Europa erstreckt sich u. a. auf O Gruppe), Frankreich (Spatialisme), Italien (Poesia concreta), Tschechoslowakei (Prager Gruppe), England (z. B. Ian Hamilton Finlay), Nordamerika (z. B. Dick Higgins), Brasilien (Gruppe Noigandres) und Japan (Gruppen VOU und ASA). Auch in der internationalen Kunstszene, etwa im Fluxus und in der Concept Art, hat Gomringer Spuren hinterlassen33 und sich daru¨ber hinaus durch Kooperationen mit Buchku¨nstlern verschiedenster Nationalita¨t bei der Durchsetzung einer neuen globalen Gattung, dem Ku¨nstlerbuch – Livre d’artiste, Artist Book –, große Verdienste erworben, doch das steht auf einem anderen Blatt…34
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Beatrice Nickel
Avantgarde-Lyrik und Universalsprache: Die Konkrete Poesie in Brasilien und Frankreich als globales Pha¨nomen
1.
Vorbemerkung
Die Konkrete Poesie stellt eine praktische Antwort auf die Frage nach der Mo¨glichkeit einer nicht nationalsprachigen Dichtung dar. Der Begriff ‚Konkrete Poesie‘ wird im Folgenden nicht in einem historischen Sinne verwendet, na¨mlich als Bezeichnung fu¨r eine seit Ende der 1970er Jahre abgeschlossenen Phase der Dichtung, sondern er wird all jenen Gedichten zugeordnet, die ihr Material – sei es visueller, akustischer oder haptisch-taktiler Natur – bewusst in den Prozess der Sinnkonstitution einbeziehen. Dieses Charakteristikum ha¨ngt insofern eng mit dem Aspekt der Internationalita¨t zusammen, als linguistische Codes in den Hintergrund ru¨cken, wenn das Material selbst in den Vordergrund ru¨ckt. Hierfu¨r ein einfaches Beispiel: Wenn ein Wort typographisch auffa¨llig gestaltet ist, beispielsweise durch die Verteilung der Lettern auf der Seite, den Schriftsatz, die Gro¨ße und Farbe etc., dann geht diese visuelle Ebene maßgeblich in den Rezeptionsvorgang ein, der sich bei einer dem ‚normalen‘ Satzspiegel fu¨r Gedichte entsprechenden Gestaltung eines Wortes ausschließlich auf die semantische Ebene beschra¨nkt. Wenn es nun um die konkrete Umsetzung des Zieles der Internationalita¨t geht, so ergibt sich folgerichtig, dass eine Sprache – oder besser – ein Zeichensystem gefunden werden muss, das universal anwendbar und supranational verstehbar ist. Eugen Gomringer, der als einer der ersten fu¨r eine universale Gemeinschaftssprache eingetreten ist, hat fu¨r diese bezeichnenderweise das Modell internationaler Verkehrszeichen und Anweisungen auf Flugha¨fen gewa¨hlt.1 Prinzipiell ging es darum, eine Poesie zu schaffen, die unabha¨ngig von einem bestimmten nationalen linguistischen Code versteh- und rezipierbar ist. 1 Vgl. Gomringer 1969b, S. 292: „der sinn der reduzierten sprachen ist nicht die technik der reduktion an sich, sondern die gro¨ßere beweglichkeit und freiheit […] der mitteilung, die im u¨brigen so allgemeinversta¨ndlich wie nur mo¨glich sei, wie anweisungen auf flugha¨fen oder straßenverkehrszeichen.“
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Das Visuell-Ideographische sollte zu einer neuen internationalen Sprache bzw. Schrift, einer „scriptura franca“,2 werden. Analog gilt fu¨r die Lautpoesie, dass ein von den Nationalsprachen unabha¨ngiger phonetischer Code das angestrebte Ziel wurde. Auch die Lautpoesie bildet „jenen bereich von literatur, die keiner u¨bersetzung bedarf, die sich u¨ber alle sprachschranken hinweg unmittelbar mitteilt“.3 Eugen Gomringer hat diese allgemeine Zielsetzung in Poesie als Mittel der Umweltgestaltung (1968) wie folgt beschrieben. Die Konkrete Poesie, die er allerdings historisch fasst, „verstand sich als […] das a¨sthetische Kapitel in der Entwicklung einer universalen Gemeinschaftssprache.“4 Schon ein flu¨chtiger Blick in eine der drei großen Anthologien la¨sst an der Internationalita¨t der Konkreten Poesie keinen Zweifel.5 Bereits die ‚Geburtsstunde‘ der Konkreten Poesie la¨sst sich zu Recht als „transatlantic baptism“,6 na¨mlich durch Eugen Gomringer und De´cio Pignatari in der Hochschule fu¨r Gestaltung in Ulm (1955), bezeichnen. In den fru¨hen 1950er Jahren simultan in Deutschland und in Brasilien entstanden, wenden sich auch in fast allen europa¨ischen La¨ndern, in Nordamerika und in Japan zahlreiche Dichter – wenn in einzelnen Fa¨llen auch nur fu¨r kurze Zeit – den Verfahren der Konkreten Poesie zu. Im Folgenden soll zuna¨chst am Beispiel der Gruppe Noigandres und Pierre Garniers die theoretische Grundlage fu¨r die internationale Ausrichtung der Konkreten Poesie transparent gemacht werden. Danach werden verschiedene Mo¨glichkeiten der Internationalisierung aus unterschiedlichen Teilbereichen der Konkreten Poesie mittels einzelner Beispiele vorgefu¨hrt. Ich werde mich dabei auf Gedichte aus Frankreich und Brasilien, und zwar sowohl aus dem visuellen als auch dem akustischen Bereich konzentrieren. Ich lege den folgenden Ausfu¨hrungen zwei prinzipielle Mo¨glichkeiten einer Internationalisierung der Dichtung in der visuellen und der akustischen Konkreten Poesie zugrunde: Erstens die Reduktion sprachlicher Zeichen, die einem bestimmten nationalsprachigen linguistischen Code entstammen, auf ein Minimum. Die zweite Mo¨glichkeit besteht im radikalen Verzicht auf sprachliche Zeichen. Kommen wir zuna¨chst jedoch zu zwei theoretischen Reflexionen u¨ber die internationale Ausrichtung der Konkreten Poesie durch ihre Dichter selbst.
2 3 4 5
Assmann 1994, S. 139. Ru¨hm 2001, S. 236. Gomringer 1969a, S. 16 f. Bei diesen drei handelt es sich um An Anthology of Concrete Poetry (1967), Concrete Poetry : An International Anthology (1967) und Concrete Poetry : A World View (1970). 6 Clu¨ver 2000, S. 33.
Avantgarde-Lyrik und Universalsprache
2.
Theoretische Positionen
2.1
Die Gruppe Noigandres
265
Die Gruppe Noigandres entwickelte in ihrem wichtigsten und bekanntesten Manifest, dem plano-piloto para poesia concreta (1958), genaue Vorstellungen von der in der Konkreten Poesie zu verwendenden Sprache: o poema concreto, usando o sistema fone´tico (dı´gitos) e uma sintaxe analo´gica, cria uma a´rea lingu¨´ıstica especı´fica – „verbivocovisual“ – que participa das vantagens da comunicac¸a˜o na˜o-verbal, sem abdicar das virtualidades da palavra. com o poema concreto ocorre o fenoˆmeno da metacomunicac¸a˜o: coincideˆncia e simultaneidade da comunicac¸a˜o verbal e na˜o-verbal, com a nota de que se trata de uma comunicac¸a˜o de formas, de uma estrutura-conteu´do, na˜o da usual comunicac¸a˜o de mensagens. a poesia concreta visa ao mı´nimo mu´ltiplo comum da linguagem, daı´ a sua tendeˆncia a` substantivac¸a˜o e a` verbificac¸a˜o: „a moeda concreta da fala“ (sapir). daı´ suas afinidades com as chamadas „ı´nguas isolantes“ (chineˆs): quanto menos grama´tica exterior possui a lı´ngua chinesa, tanto mais grama´tica interior lhe e´ inerente (humboldt via cassirer). o chineˆs oferece um exemplo de sintaxe puramente relacional baseada exclusivamente na ordem das palavras (ver fenollosa, sapir e cassirer).7
Die Sprache der Konkreten Poesie soll den gemeinsamen Nenner aller Sprachen beinhalten. Des Weiteren soll sie am Modell der chinesischen Schriftzeichen orientiert sein und somit ideogrammatischer Natur sein. Den a¨sthetischen Wert der chinesischen Schriftzeichen und deren hieraus abgeleitete Eignung als Medium der Dichtung hatte bereits Ernest Fenollosa in seiner Studie The Chinese Written Character As A Medium For Poetry (Manuskript vor 1908, Erstpublikation 1918) betont. Fenollosa vertritt daru¨ber hinaus schon lange vor den Noigandres die Ansicht, dass die ideale Sprache keinen verbalen, sondern einen pikturalen Charakter aufweisen sollte: „Such a pictorial method, whether the Chinese exemplified it or not, would be the ideal language of the world.“8 Die Anspielung im Manifest der Noigandres auf das Chinesische zusammen mit dem Hinweis, dass die Schrift der Konkreten Poesie sowohl das, was man traditionellerweise als Schrift bezeichnet, als auch bildliche Elemente („comunicac¸a˜o verbal e na˜o-verbal“) entha¨lt, impliziert einen erweiterten Text- und Schriftbegriff, der so oder so a¨hnlich von allen Dichtern der Konkreten Poesie vertreten und praktiziert wurde. Dieser Textbegriff beha¨lt das Merkmal der Textualita¨t nicht mehr nur skripturalen Zeichen vor, sondern spricht es prinzipiell den Zeichen jedes beliebigen menschlichen Zeichensystems zu: „‚Text‘ muß […] ¨ bersetzung ins Deutsche von Elisabeth 7 Campos / Pignatari / Campos 1987, S. 157. Eine U Walther-Bense ist unter folgendem Link abrufbar : http://www.stuttgarter-schule.de/pilotplan.htm [10. 12. 2011]. 8 Fenollosa 1936, S. 31.
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gebraucht werden im allgemein semiotischen Sinn als eine koha¨rente Zeichenmenge beliebiger Zeichen aus beliebigen Zeichenrepertoires nach beliebigen Verknu¨pfungsregeln.“9
2.2
Pierre Garnier
Pierre Garnier hat ein Manifest zum internationalen Status von konkreter respektive ‚spatialer‘ Dichtung verfasst: Position 3 du spatialisme: pour une poe´sie supranationale (1966),10 das von Dichtern aus 14 La¨ndern unterzeichnet wurde. Die hier beschriebene nationale Grenzen u¨berschreitende Dichtung basiert auf der Grundlage einer global versta¨ndlichen und universal anwendbaren Sprache. Beispielsweise findet man in diesem Manifest die folgende Aufforderung: „le poe`te doit ‚expatrier‘ les langues.“11 Wie Gomringer stellt auch Garnier einen Zusammenhang zwischen der allgemeinen Sprachentwicklung und der Dichtung her. Fragt man sich nun, wie die angestrebte ‚Supranationalisierung‘ der Sprache sich vollziehen ko¨nnte, so bietet Pierre Garnier folgende visiona¨re Erkla¨rung: Le poe`te cre´e dans chaque langue […] des cristaux linguistiques, avec les informations esthe´tiques que peut fournir, sur l’aile linguistique la plus vaste, la langue conside´re´e. Par cette cre´ation d’objets linguistiques, par le travail objectif des langues conside´re´es comme matie`re, le poe`te de´pouille ces langues d’un contenu sentimental ou historique, expressionniste ou psychique. Seules subsistent les structures, c’est-a`-dire une esthe´tique.12
Allen geschichtlichen und sentimentalen Gehaltes entledigt, kommuniziert die von Garnier supranationale Sprache keine Inhalte mehr, sondern nur ihre eigenen Strukturen. Wie Eugen Gomringer, der mit dem Hinweis auf Verkehrsschilder und Flughafenpiktogramme auf den pikturalen Anteil in der neu zu entwerfenden Universalsprache aufmerksam macht, und die Dichter der Gruppe Noigandres betont auch Garnier, dass diese Sprache sich nicht auf skripturale Zeichen zu beschra¨nken brauche und solle, sondern sowohl pikturale, akustische als auch mimische: „[…] des infra-langages, signes, articulations, souffles, gestes, communs souvent a` toute l’humanite´ […].“13 9 10 11 12 13
Weiss 1984, S. 169. Abdruck in: Garnier 1968, S. 147 – 149. Ebd., S. 147. Ebd. Ebd., S. 149.
Avantgarde-Lyrik und Universalsprache
267
Fu¨r Garnier besteht eine Konsequenz einer inter- oder supranationalen Dichtung darin, dass sie nicht u¨bersetzbar, sondern nur mitteilbar ist: „Le Spatialisme a pour but le passage des langues nationales a` une langue supranationale et a` des œuvres qui ne sont plus traduisibles mais transmissibles sur une aire linguistique de plus en plus e´tendue.“14
3.
Beispielgedichte
3.1
Globalita¨t jenseits linguistischer Codes im Bereich der visuellen Konkreten Poesie
Wie bereits erwa¨hnt, besteht eine Mo¨glichkeit der Internationalisierung von Gedichten in der Reduktion des sprachlichen Materials bzw. – konkreter – im hier gewa¨hlten Bereich der visuellen Dichtung des skripturalen Materials in der maximalen Reduktion des Zeichenbestandes. Diese Mo¨glichkeit hat Pierre Garnier im folgenden Beispiel gewa¨hlt. Sein Selbstkommentar in der Anthologie Le Spatialisme en chemins (1990)15 zu diesem Gedicht lautet folgendermaßen: „Un tableau constitue´ du mot lys. Le nom lui-meˆme sugge`re une parfaite blancheur. Une espe`ce de vitrail ou` la seule ombre est celle de l’e´criture.“16
14 Ebd., S. 148 [Hervorhebung im Original]. 15 Diese Anthologie hat Pierre Garnier mit seiner Frau Ilse Garnier herausgegeben. 16 Garnier / Garnier 1990, unpaginiert [Hervorhebung im Original].
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Abb. 1: Pierre Garnier : lys, 1965.17
Diese zuna¨chst etwas lapidar erscheinenden Sa¨tze enthalten wichtige Hinweise fu¨r die Rezeption dieses ‚Textes‘. Den Begriff an dieser Stelle in Anfu¨hrungszeichen zu setzen, ist deshalb angebracht, weil Pierre Garnier im oben genannten Zitat nicht – wie gewo¨hnlich – den Terminus ‚poe`me‘ verwendet, sondern stattdessen den Terminus ‚tableau‘ gewa¨hlt hat. lys stellt also den Versuch dar, mit poetischen Mitteln ein Bild zu erzeugen. Im Ergebnis liegt ein ganz 17 Abdruck in: Garnier 2008, S. 214.
Avantgarde-Lyrik und Universalsprache
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praktisches Beispiel fu¨r Intermedialita¨t vor. Der Dichter macht ja selbst darauf aufmerksam, dass sein Bild nur aus einem einzigen Wort besteht. Er konkretisiert im Folgenden den pikturalen Charakter von lys noch weiter, denn es handelt sich nicht um ein beliebiges tableau, sondern um „une espe`ce de vitrail“, ¨ hnlichkeiten zu also um eine Art Kirchenfenster. Viele seiner Gedichte weisen A solchen Fenstern auf: „Pierre Garniers Werk erinnert an die Tradition der Glasfenster […] gotischer Kathedralen in Frankreich, Chartres oder auch an die Kathedrale von Amiens, in deren Na¨he Ilse und Pierre Garnier wohnen.“18 An dieser Stelle ist an den Titel der Sammlung, dem dieser ‚Text‘ entnommen ist, zu verweisen: Prototypes / Textes pour une architecture. Diese Gedichte sind also explizit dazu bestimmt, an Geba¨uden oder vielleicht sogar in Kirchen angebracht zu werden. Darum handelt es sich streng genommen weniger um tableaux als um architektonische Texte. Garnier selbst hat dies wie folgt beschrieben: „Collaboration poe`te-architecte rendue possible par la suppression de l’inscription qui sollicitait la lecture et rompait l’espace.“19 Worauf es hier besonders ankommt, ist der Begriff inscription, denn fu¨r den vorliegenden Fall heißt dies, dass der Begriff lys nicht die Funktion einer Inschrift erfu¨llt. Das bedeutet wiederum, dass dieser Begriff nicht als Erkla¨rung des tableau dient, sondern sich „Schrift und Raum gegenseitig bedingen. Das Wort lys ist […] ein raumimmanentes Element“.20 Betrachtet man lys na¨her, so stellt man fest, dass Pierre Garnier mit dem dreibuchstabigen Wortmaterial ein Rechteck erzeugt hat, dem durch eine bestimmte Anordnung der Buchstaben l, y und s zwei weiße Lilien eingeschrieben sind. Der vorliegende ‚Text‘ stellt fu¨r Pierre Garnier nicht nur durch seine typographische Gestaltung, die augenscheinlich die im Titel benannte Blume zweifach nachbildet, ein Bild dar, sondern auch durch den Verweis auf die Suggestionskraft des Wortes lys. Obgleich der ‚Text‘ in gewo¨hnlichem Schreibmaschinenschwarz gedruckt ist, wird laut Garnier der Eindruck einer parfaite blancheur erzeugt, die fu¨r eine Lilie charakteristisch ist. Auf diese Weise kommt ein neuer Aspekt der intermedialen Verknu¨pfung zwischen Wortdichtung und Malerei hinzu, na¨mlich der der impliziten Farbgebung. Durch die Nachbildung der beiden Lilien im ‚Gedichtinnern‘ entstehen weitere Bedeutungsebenen. Mit dem Begriff lys ruft Pierre Garnier vor allem zwei Bedeutungskontexte auf: die christliche Ikonographie und die Heraldik. In der christlichen Ikonographie, auf die Garnier in seinem Selbstkommentar durch den Begriff vitrail implizit verwiesen hat, dient die Lilie als Symbol der Un18 Gappmayr 2004, S. 135. 19 Garnier 2008, S. 209. Vgl. Gappmayr 2004, S. 134: „Die harmonische Durchdringung von Text und architektonischem Raum ist […] Thema dieser Werkgruppe.“ 20 Gappmayr 2004, S. 135 [Hervorhebung im Original].
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schuld, Reinheit und Jungfra¨ulichkeit – vor allem im Kontext der Marienverehrung –, aber auch als Symbol der Gnade und Gottesehrfurcht. Die weiße Lilie verko¨rpert außerdem neben der roten Rose eine der beiden Hauptfarben der Scho¨nheit. In der Heraldik spielt die stark stilisierte Lilie besonders in Frankreich eine wichtige Rolle: „Die Lilie als Symbol der reinen Muttergottes war das Hauptemblem der Ko¨nige von Frankreich.“21 Garnier stellt sich somit in eine christliche und eine speziell franzo¨sische Tradition des Liliensymbols. Eine weitere Bedeutungsebene ero¨ffnet sich dadurch, dass die weiße Lilie ein weit verbreitetes Symbol fu¨r Licht darstellt. Dies ist deshalb konsistent, weil lys fu¨r ein Kirchenfenster konzipiert wurde, das Sonnenlicht, das in die Kirche eindringen wu¨rde, also durch die Glasscheibe bzw. genauer die Schrift und das Textarrangement brechen wu¨rde. Auf diese Weise wu¨rde das Licht dann tatsa¨chlich in Form zweier Lilien auf der gegenu¨berliegenden Wand erscheinen. Weisen auch viele der poetischen Produktionen Pierre Garniers einen zur Meditation einladenden Charakter auf, so gilt dies fu¨r lys in besonderem Maße: „Der meditative, fast mystische Charakter des Werkes wird sichtbar in der Wechselbeziehung zwischen architektonischem Raum und der transparenten Schrift als Lichtfilter und Trennung zwischen Außen- und Innenraum.“22 Kommen wir nun zur bereits angeku¨ndigten zweiten Mo¨glichkeit, im Bereich der visuellen Konkreten Poesie dem Anspruch auf Universalita¨t und Internationalita¨t zu genu¨gen. Diese besteht darin, ganz auf skripturales Material zu verzichten. Dies ist in Avelino de Arau´jos Apartheid Soneto (1988) der Fall. Hier erscheint die Ikone des Stacheldrahtes als ein international versta¨ndliches Zeichen.
21 Neubecker 1980, S. 122. 22 Gappmayr 2004, S. 135.
Avantgarde-Lyrik und Universalsprache
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Abb. 2: Avelino de Arau´jo: Apartheid Soneto, 1988.23
Jeweils das Bild eines Stu¨cks Stacheldraht ersetzt die traditionellen Verse. Das Sonett beha¨lt insofern die kanonisierte Form der Gattung bei, als die 14 Stacheldra¨hte den 14 Versen des Standardsonetts entsprechen, und das 4-4-3-3Schema als eines der in der Tradition als am wichtigsten befundenen Charakteristika des Sonetts eingehalten ist. Diese gattungstypische Binnengliederung erzielt Arau´jo jedoch nicht dadurch, dass er eines der im Laufe der Sonettgeschichte konventionalisierten Reimschemata durch visuelle Mittel abzubilden oder vielmehr diese in den Bereich des Non-Verbalen zu transponieren sucht. Er 23 Abdruck in: Kru¨ger / Ohmer 2006, S. 163.
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erreicht die sonetttypische Strukturierung zuna¨chst einmal vielmehr dadurch, dass die 14 Stacheldra¨hte zu Gruppen von zweimal vier und zweimal drei Dra¨hten zusammengefasst sind. Außerdem sind die Stacheldrahtanordnungen der ersten vier Dra¨hte nicht identisch mit denjenigen der na¨chsten vier Dra¨hte, wa¨hrend die Terzette in der Struktur identisch sind. Diese feinen Unterschiede im Arrangement der Stacheln fallen zuna¨chst kaum ins Auge, sind jedoch konstitutiv fu¨r den poetischen Formwillen, der hier zum Ausdruck kommt. Somit ergibt sich das Reimschema: abac – bbac – bac – bac. Wie bei einem aus Sprachzeichen verfertigten Sonett muss die Struktur der Verse vom Leser genauestens zur Kenntnis genommen werden, damit eine allgemeine Aussage u¨ber die Kompositionsregel des Sonetts getroffen werden kann. Die Quartette weisen also ein Maximum von Abweichung gegenu¨ber der traditionellen Ordnung auf, wa¨hrend die Terzette ein durchaus ga¨ngiges Schema aufweisen. Dieses Verfahren, poetische und formale Spannung zwischen Konventionalita¨t und Innovation vorzufu¨hren und zu erzeugen, ist spa¨testens seit Baudelaire in der avantgardistischen Sonettistik u¨blich. Inhaltlich handelt es sich – wie so oft bei Arau´jo – um einen hochgradig politisch und sozial engagierten Text: „Tema´ticamente el tı´tulo en relacio´n con la imagen gra´fica del poema denuncia el apartheid y visualmente se denuncia cualquier forma de represio´n de las libertades del individuo.“24 Dass es sich bei Arau´jos Vorliebe fu¨r eine sozial und politisch engagierte Dichtung um keine Randerscheinung, sondern ein Merkmal der Konkreten Poesie in Brasilien handelt, belegt die Dichtung der Noigandres-Gruppe, die bevorzugt soziale und politische Misssta¨nde in Brasilien anprangert: „The Brazilian Noigandres group never put aside its concern with social commitment (political engage´ poems) […].“25 Es scheint, dass sich gerade in der Transgression der Dichtung zur Visualita¨t und der Imitation des skripturalen Gestus politische Absichten besonders gut realisieren lassen.
3.2
Globalita¨t jenseits linguistischer Codes im Bereich der Konkreten Lautdichtung
Die absolute Reduktion des skripturalen Zeichenmaterials wird im Falle des folgenden Beispiels niemand bestreiten wollen. Das Gedicht26 stammt aus Pierre Garniers Sammlung Ozieux 2 (1976) und ist onomatopoetisch gestaltet, ohne semantisch aufgeladene Wo¨rter zu enthalten. 24 Lo´pez Ferna´ndez 2006, S. 108. 25 Campos 2005, S. 9 [Hervorhebung im Original]. 26 Garnier 2009, unpaginiert.
Avantgarde-Lyrik und Universalsprache
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Zumal im vorliegenden Beispiel Vogelstimmen nachgeahmt werden, steht Garnier in einer langen Tradition im Bereich der Lautdichtung, na¨mlich derjenigen, die sich der lautgestalterischen Imitation von Tierstimmen verschrieben hat. Hierbei nehmen seit jeher Vogelstimmen eine zentrale Rolle ein.27 Diese wurden in zahlreichen Lautgedichten auf onomatopoetische Weise abgebildet. Die entsprechende Tradition beginnt in der Antike und dauert bis zum heutigen Tag an.28 Eine der Hochphasen der poetischen Vogelstimmen-Imitationen stellt die Dichtung nach 1945 dar. Bob Cobbing hat sie programmatisch zu einem Motto der concrete sound poetry erhoben: „We aspire to Bird Song.“29 Die poetische Vogelstimmen-Imitation verfu¨gt prima¨r deshalb u¨ber eine starke Pra¨senz in der Lautdichtung nach 1945, weil auch sie sich dem allumfassenden Thema der Sprachkritik – und somit dem treibenden Motor dieser Dichtung – eingliedern la¨sst: Die Wahl der Vogelsprache la¨sst sich zugleich als „Kritik am verrotteten Sprachzustand der Zeit [der Nachkriegszeit; B. N.]“30 auffassen. Betrachten wir nun Garniers optophonetisches Vogelgedicht – optophonetisch deshalb, weil das Lautgedicht visuell notiert ist:
Abb. 3: Pierre Garnier : pivert, 1976.31
Das Textarrangement ist als Rechteck gestaltet, wobei dieses aus vier vertikalen Textblo¨cken gebildet wird, die jeweils fu¨nfmal die Buchstaben-Unterstrich-Kombination „pic_bou“ enthalten. Diese vier Textblo¨cke sind in regelma¨ßigen Absta¨nden auf der Papierseite angeordnet. Die auf diese Weise entstehenden unbedruckten Zwischenra¨ume ko¨nnten dabei auf das charakteristische Element von Vo¨geln hinweisen: Luft. Bei einer Rezeption, die vom Titel 27 28 29 30 31
Vgl. Riha 1995, S. 92 f. und Hausmann 1978, unpaginiert. Vgl. Riha 1995, S. 110 f. Cobbing 1969, verfu¨gbar unter : http://www.ubu.com/papers/cobbing.html [24. 04. 2011]. Riha 1995, S. 115. Abdruck in: Garnier 2009, S. 267.
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absieht, ist allerdings nicht klar, dass das Gedicht den Ruf eines Vogels nachahmt. Der Titel, der den Vogelnamen entha¨lt, erfu¨llt daher die Funktion eines sprachlichen Indikators, der die Silben „pic“ und „bou“ als die poetische Inszenierung des Rufes eines Gru¨nspechtes zu erkennen gibt. Den charakteristischen Ruf dieses Vogels bildet Garnier dadurch lautpoetisch ab, dass die beiden Silben „pic“ und „bou“ durch einen Unterstrich eng miteinander verbunden werden und die weißen Zwischenra¨ume zwischen den Textblo¨cken jeweils Pausen bewirken. Dabei ist nicht zu entscheiden, ob es sich um einen o¨fters rufenden Gru¨nspecht oder aber eine große Anzahl von Gru¨nspechten handelt. Das Textmaterial la¨sst diese beiden Mo¨glichkeiten gleichermaßen zu. Denkbar wa¨re es jedenfalls, dass jeder Ruf einem anderen Vogel zugeordnet wird. In diesem Fall ko¨nnte die Konstellation der skripturalen Zeichen auf dem Papier an die – wenn auch als zu geordnet dargestellte – Flugformation eines Vogelschwarmes von Gru¨nspechten erinnern. Das na¨chste Beispiel zeichnet sich durch den weitgehenden Verzicht auf sprachliches Material aus. Es handelt sich um ein kurzes (1’56’’) und gerade deshalb eindrucksvolles Gedicht des Brasilianers Philadelpho Menezes, na¨mlich Poema na˜o mu´sica (1998).32 Neben dem Aspekt der Internationalita¨t beleuchtet dieses Lautgedicht den intermedialen Status von Lautdichtung zwischen Poesie und Musik. Betrachten wir zuna¨chst den Titel: Poema na˜o mu´sica, d. h. das ku¨nstlerische Produkt wird als Gedicht und nicht als Musikstu¨ck angeku¨ndigt. Zwar besteht in der Lautdichtung immer eine intermediale Verknu¨pfung zwischen Dichtung und Musik, wobei diese recht unterschiedlich stark ausgepra¨gt sein kann, aber dennoch du¨rfte es den einen oder anderen Rezipienten wundern, warum der Titel des vorliegenden Lautgedichtes explizit darauf hinweist, dass es sich nicht um Musik handelt. Warum dies no¨tig ist, wird klar, sobald man die Aufnahme abspielen la¨sst: Sofort erto¨nt ein bekanntes Musikstu¨ck, na¨mlich Mozarts Sinfonie Nr. 40 in g-moll (KV 550), allerdings nicht ausschließlich, sondern begleitet von einer menschlichen Stimme. Wir haben es hier mit einem Beginn in media res zu tun, der sogleich die beiden Hauptkomponenten des Lautgedichtes vorstellt: die Musik und die menschliche Stimme. Beide vereinen sich nicht so miteinander, dass ein harmonischer Wohlklang entsteht, sondern das Ergebnis ist eine eher als unangenehm empfundene Kakophonie. Das liegt prima¨r daran, dass die menschliche bzw. – konkreter – die ma¨nnliche Stimme (des Dichters) die Musik nicht dezent begleitet, wie es beispielsweise durch ein melodisches
32 Menezes 1998a, verfu¨gbar unter : http://www.ubu.com/sound/spt.html [18. 04. 2011]. Erstmals vero¨ffentlicht wurde dieses Lautgedicht auf der von Philadelpho Menezes im Jahre 1998 vero¨ffentlichten CD Sound Poetry Today : An International Anthology (Menezes 1998b).
Avantgarde-Lyrik und Universalsprache
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Summen ha¨tte geschehen ko¨nnen. Statt zu summen, gro¨lt und schreit die ma¨nnliche Stimme vielmehr vor sich hin. Zwar scheint die Lautsta¨rke des Gro¨lens sich an den Vorgaben der Sinfonie zu orientieren, jedoch setzt die menschliche Stimme die Lautsta¨rkea¨nderungen zeitversetzt – verfru¨ht oder verspa¨tet – um, so dass kein Wohlklang entstehen kann. Ein solcher wird auch dadurch verhindert, dass das Gro¨len ca. ab der neunten Sekunde durch ein lautes Klatschen mit den Ha¨nden erga¨nzt wird, das mehr zu einer brasilianischen Samba als einer Sinfonie der Wiener Klassik passt. Dieser Eindruck wird auch dadurch versta¨rkt, dass etwa ab der dreißigsten Sekunde im Hintergrund weitere menschliche Stimmen auszumachen sind. Diese artikulieren Rufe, die die ma¨nnliche Stimme im Vordergrund und das Klatschen anzufeuern scheinen. Zu identifizieren sind die Rufe jedoch nicht. Mit diesem, seinem ‚Publikum‘ tritt der Dichter kurzzeitig (1’34’’ bis 1’44’’) in eine Art von Dialog. Bei dem, was er wa¨hrend dieser zehn Sekunden artikuliert, scheint es sich um Wo¨rter zu handeln, allerdings sind diese nicht erkennbar, weil sie zu stark von der Musik u¨berto¨nt werden. Es ist noch nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, dass es sich dabei um portugiesische Wo¨rter handelt, was allerdings sehr wahrscheinlich ist. Diese bewusst offen gestaltete linguistische Zuordnung des akustischen Zeichenmaterials hebt den internationalen Status dieses Lautgedichtes hervor. Durch die inszenierte Interaktion des Dichters mit seinen Zuho¨rern kann der Eindruck einer Performance erheblich gesteigert werden. Ganz zum Schluss schließen sich die verschiedenen Stimmen den asemantischen Rufen der ma¨nnlichen ‚Solostimme‘ an, und das Gedicht endet ebenso abrupt, wie es begonnen hat. Insgesamt wird im Rahmen dieser lautpoetischen Performance eine starke Diskrepanz zwischen dem musikalischen Pra¨text (Mozarts Sinfonie) und den im Gedicht zu vernehmenden menschlichen Ausdrucksmo¨glichkeiten (Gro¨len und Rufen eines Mannes und Ha¨ndeklatschen) geschaffen. Kommen wir nochmals zum musikalischen Pra¨text zuru¨ck: Wie gesagt, es handelt sich dabei um eine bekannte Sinfonie der Wiener Klassik. In dieser Zeit ist die Gattung ‚Sinfonie‘ noch als Stu¨ck fu¨r Orchester ohne Solisten und vor allem durch den Verzicht auf Gesangstimmen definiert.33 Menezes kommt diesen Vorgaben insofern nach, als er in seinem Lautgedicht, in dem die Gattung der Sinfonie ja eine zentrale Rolle spielt, fast ausschließlich darauf verzichtet, Wo¨rter zu artikulieren und die menschliche Stimme stattdessen als eine Art Instrument zur Hervorbringung von Lauten einsetzt. Eine mo¨gliche Deutung dieses Lautgedichtes ko¨nnte nun so aussehen, dass im Medium der Lautpoesie Dichtung und Musik zwar eine enge intermediale Ver33 Vgl. Gruber / Schmidt 2006. Erst seit Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie geho¨rt auch der Einsatz von Gesangstimmen zur ga¨ngigen sinfonischen Praxis. Vgl. Kloiber 1976.
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bindung miteinander eingehen, beide aber dennoch eigensta¨ndig fortbestehen: Die Elemente, die eindeutig der Dichtung zuzuordnen sind, weil sie mehr oder weniger dem verbalen Bereich entstammen (Gro¨len, Klatschen und Rufen), sind an der musikalischen ‚Begleitung‘ orientiert, bilden mit dieser aber eben keine harmonische Einheit, sondern gehen mit dieser eine kakophone Verbindung ein. Schon der Titel benennt die Dialektik zwischen der Eigensta¨ndigkeit der beiden ¨ hnlichkeit, denn bestu¨nde eine solche Ku¨nste Dichtung und Musik und ihrer A nicht, mu¨sste der Dichter nicht darauf aufmerksam machen, dass es sich bei der vorliegenden Produktion um eine (laut)poetische und keine musikalische handelt: Poema na˜o mu´sica. Diese Eigensta¨ndigkeit impliziert zugleich eine kategoriale bzw. gattungsma¨ßige Trennung beider. Zugleich wird eine solche strikte Trennung durch das Gedicht selbst in Frage gestellt, denn die menschliche Stimme bildet mehr oder weniger die Sinfonie nach bzw. setzt ihre Lautsta¨rkea¨nderungen um, wenn auch – wie beschrieben – zeitversetzt. Insofern bietet auch dieses Gedicht einen großen Interpretationsspielraum. Besonders durch den fast vollkommenen Verzicht auf verbales Material besteht die Mo¨glichkeit einer polysemantischen Deutung.
4.
Schlussbetrachtung
Der globale Charakter der Konkreten Poesie nach 1945, die den Gegenstand der vorliegenden Analyse gebildet hat, manifestiert sich nicht nur in den unterschiedlichen Herkunftsla¨ndern der entsprechenden Dichter, sondern auch bzw. vor allem in den Gedichten selbst. Diese sind gro¨ßtenteils so konzipiert, dass sie universal anwendbar und international versta¨ndlich sind. Dies ist am einfachsten dadurch zu erreichen, dass das eingesetzte Zeichenmaterial Zeichensystemen entstammt, die nicht an einen bestimmten nationalsprachigen linguistischen Code gebunden sind. Werden skripturale Zeichen verwendet, dann in einer solchen Reduktion, dass in den meisten Fa¨llen ein Glossar zum Versta¨ndnis ausreicht. Schließlich soll in dieser Art von Dichtung der Bereich der Denotation auf Kosten desjenigen der Konnotation gesta¨rkt werden.
Literaturverzeichnis Assmann, Aleida: „Die Ent-Ikonisierung und Re-Ikonisierung der Schrift“, in: Kunstforum international 1994/127, S. 135 – 139. Bann, Stephen (Hg.): Concrete Poetry : An International Anthology. London 1967. Campos, Augusto de / Pignatari, De´cio / Campos, Haroldo de: Teoria da poesia concreta. Textos crı´ticos e manifestos 1950 – 1960. Sa˜o Paulo 1987.
Avantgarde-Lyrik und Universalsprache
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Beatrice Nickel
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Teil IV: ‚Weltgenres‘
Karl Maurer
Die Divina Commedia als Weltgedicht Fu¨r Karlheinz Stierle zum 22. 11. 2011
Es ist schwer zu sagen, welcher literarischen Gattung Dantes Commedia zuzuordnen ist. An Vorschla¨gen fehlt es nicht. Der Dichter selbst hat – wenn er denn identisch ist mit dem Verfasser des lateinischen Widmungsbriefs der dritten Cantica, des Paradiso, an den Go¨nner Can Grande della Scala – im Wesentlichen zwei negative Kriterien angefu¨hrt: sein Gedicht ist keine „Tragedia“ (oder wie er das Wort betont: keine tragedı´a), weil es einen glu¨cklichen Ausgang hat und somit keine Katastrophe am Ende steht und weil es nicht den Restriktionen des hohen Stils unterliegt – es ist geschrieben in der „locutio vulgaris in qua et muliercule comunicant“ (Epistule XIII, 10, 31).1 Er stellt sich gleichwohl mit eben dieser Alternative implizit in die Nachfolge des Autors der Aeneis, des großen ro¨mischen Nationalepos, das der Tod des Aeneas-Gegners Turnus beschließt und das der Dante’sche Vergil nach seinem poetischen Gestus ausdru¨cklich als „l’alta mia tragedı`a“ (Inf. 20, 113) und „li alti versi“ (Inf. 26, 82) bezeichnet. Der Vorbildcharakter der Aeneis ist mit Ha¨nden zu greifen. Als unmittelbare narrative Vorlage dient zwar nur das sechste Buch mit dem Descensus in die Unterwelt und der Wiederbegegnung mit dem Vater im Elysium, aber pra¨gend ist vor allem beide Male das Ethos des Protagonisten, worauf hinzuweisen Dante denn auch nicht mu¨de wird: Aeneas soll Rom gru¨nden, das der Sitz der christlichen Weltreligion werden wird, Dante soll sein Zeitalter zur Umkehr und zur Wiederherstellung der einstigen Gro¨ße Italiens aufrufen, beide werden im Jenseits die entsprechenden Einblicke gewinnen und von den Abgeschiedenen ihre Anweisungen erhalten. Dem tut keinen Abbruch, dass Dante zuna¨chst zo¨gert mit der Begru¨ndung, er sei nicht Aeneas und nicht Paulus; sein fo¨rmlicher Einspruch unterstreicht erst recht die Parallele. Aber ist die Aeneis auch das Gattungsvorbild der Commedia? 1 Dantes Werke werden zit. nach: Dante 1960. In den Nachweisen der Quellenzitate werden die in der Dante-Forschung u¨blichen Abku¨rzungen verwendet: Inf. = Inferno, Purg. = Purgatorio, Par. = Paradiso (Nachweise mit Gesang- und Versangaben in Klammern im Text).
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Karl Maurer
Dass Dante von der lateinischen Epik seines Jahrhunderts nichts hielt, wissen wir positiv.2 Es ist aus seinen letzten Lebensjahren ein versifizierter Briefwechsel mit dem Bologneser Rhetorikprofessor Giovanni del Virgilio erhalten, der ihn aufforderte, von seiner Dichtung in der unansehnlichen Volkssprache abzulassen und stattdessen einen der Feldzu¨ge oder einen der großen Siege, versteht sich: der ghibellinischen Seite in einem lateinischen Hexameterepos, zu preisen. Dann wolle er ihm in seinem Bologneser Studium feierlich den Lorbeerkranz aufsetzen. Dante antwortet mit einem lateinischen bukolischen Gedicht, also in der „niedersten“ Gattung in der mittelalterlichen Hierarchie, lehnt ab, bietet statt des Epos die fertiggestellten ersten zehn Gesa¨nge seines Paradiso an, vergebens. Den Dichterlorbeer bekam ein anderer, Albertino Mussato. Dante hat seine Ablehnung von Krieg und Kriegsdichtung noch sehr viel deutlicher in seiner Commedia selbst artikuliert, im 28. Gesang des Inferno, in direkter Auseinandersetzung mit dem großen Provenzalen Bertran de Born, den er noch in seiner fru¨hen Schrift De vulgari eloquentia als den Meister in dieser Disziplin aufgefu¨hrt hatte, mit dem Zusatz, Italien habe hier (noch) nichts zu bieten (De vulgari eloquentia II, 2, 9: „Arma vero nullum latium adhuc invenio poetasse“). Vergil ist fu¨r Dante mehr als ein Epiker. Er glaubt wie sein Zeitalter, dieser habe mit seiner vierten Ekloge die unmittelbar bevorstehende Geburt des Erlo¨sers vorausgesagt (Purg. 22, 70 – 72). Der Dichter der Aeneis ist in seinen Augen, so wie um die gleiche Zeit bei den byzantinischen Griechen Homer,3 der Inbegriff aller menschlichen Einsichten, „[i]l mar di tutto ’l senno“ (Inf. 8, 7). So kann der aus dem „nobile castello“ der Vorho¨lle herbeizitierte jenseitige Vergil auch den verirrten Dante souvera¨n durch alle Bereiche fu¨hren, die der irdischen Vernunft zuga¨nglich sind, als der beru¨hmte Weise („famoso saggio“, Inf. 1, 89), als der er gleich zu Beginn angefleht wird. Die Wegleitung durch Vergils Dichtung kann bis in den Vorhof der Glaubenserleuchtung fu¨hren: „Per te poeta fui, per te cristiano“, „durch dich wurde ich zum Dichter, durch dich zum Christen“, schwa¨rmt Statius bei der jenseitigen Begegnung (Purg. 22, 73). Es ist allerdings nur der Vorhof: Auf der Ho¨he des La¨uterungsbergs bleibt Vergil angesichts des allegorischen Triumphzugs der Kirche ratlos zuru¨ck (Purg. 29, 55 – 57). Ist am Ende in Dantes Augen die Aeneis und nach ihr die Divina Commedia gar kein Epos, sondern ein Lehrgedicht? Die Dichotomie von Epos und Lehrgedicht ist im mittelalterlichen Kontext nicht zwingend, zumal schon in der vorchristlichen Antike die homerischen Epen als die große Wissensquelle ihren Platz im Kanon hatten. Jedes Lehrgedicht 2 Zum Folgenden siehe Maurer 1986. 3 Fu¨r den großen griechischen Scholiasten Ioannes Tzetzes (12. Jahrhundert) ist Homer b nlgqor, b p\msovor, B h\kassa t_m kºcym (Chiliades XIII,626), ohne Stellenangabe zit. nach: Gudeman 1909, S. 146, Anm. 2.
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entha¨lt narrative Partien, jedes Epos entha¨lt deskriptive und erkla¨rende Passagen. Ein entscheidender Unterschied besteht allerdings weiter : Der Sa¨nger des Epos bleibt in aller Regel im Hintergrund und ist in keiner Weise in die von ihm berichteten Geschehnisse involviert, das Lehrgedicht setzt einen wissenden Autor voraus, mit dem der Ho¨rer oder Leser dauernd konfrontiert ist, er kann sich allenfalls hinter einem Gro¨ßeren als seinem Gewa¨hrsmann verstecken wie der Lukrez von De rerum natura hinter Epikur. Wenn im Epos ein Teil des Berichts dem Protagonisten zugeschoben wird, wie dem Odysseus im neunten bis zwo¨lften Gesang der Odyssee oder dem Aeneas des zweiten und dritten Buchs der Aeneis, so wird immer nur Vorgeschichte nachgeholt, und der erza¨hlende Held ist von Anfang bis zu Ende eingebunden in seine aktuelle Umgebung. Ein Aeneas, der von Anfang an sich und seine Mission vorstellte, die Wechselfa¨lle seines Geschicks selbst darstellte und am Ende befriedigt auf die erfu¨llte Aufgabe zuru¨ckblickte, ist schlechterdings nicht vorstellbar, so wenig wie ein Camo˜es, der statt der Entdeckerfahrt des Vasco da Gama sein eigenes bewegtes Leben beschriebe, etwa die legenda¨re Episode, wie er nach einem Schiffsuntergang das Manuskript seiner Lusiaden in die Ho¨he hielt und nur mit dem andern Arm gegen die Wellen ka¨mpfte. ¨ ra schon Lehrgedichte, in denen sich der Nun gibt es in der christlichen A Autor mit seinem biographischen Ich oder mit einem vorgeschobenen, an seiner Stelle erlebenden Ich einbringen muss: die Visionserza¨hlungen. Als eine solche ist die Commedia von Anfang an angelegt und man muss auch nicht lange nach dem Gattungsvorbild suchen, es ist der unvollendete Tesoretto, den sein Lehrer Brunetto Latini als volkssprachlich gereimtes Komplement auf sein Hauptwerk, das in trockener franzo¨sischer Prosa geschriebene Livres dou tresor, folgen ließ.4 Brunetto erfa¨hrt auf der Ru¨ckreise von einer Auslandsmission, dass seine Auftraggeber, die guelfische Stadtregierung von Florenz, gestu¨rzt worden sind und ihm die Heimkehr in seine Vaterstadt somit verwehrt ist, und wendet sich daraufhin der „natura“ zu als der allen irdischen Dingen u¨bergeordneten Instanz: Ed io, ponendo cura, tornai a la natura. (v. 163 f.)5
Die Natura empfa¨ngt ihn denn auch leibhaftig, nachdem er, in Gedanken versunken, in einem tiefen Wald den Weg verloren hat. Sie gewa¨hrt ihm Einblick in das Ganze der Welt, damit er seine Aporie u¨berwindet. Die Analogien am Anfang
4 So Stierle 2007b, S. 345: „Der Tesoretto fungiert als Katalysator fu¨r Dantes eigene Verschmelzung von Epos und Enzyklopa¨die.“ [Hervorhebung im Original] 5 Der Tesoretto wird zit. nach: Contini 1960, S. 175 – 277.
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der beiden Gedichte sind unu¨bersehbar, vor allem dann, wenn man Dantes tatsa¨chliche historische Situation, in der er zu schreiben beginnt, an die Stelle der allegorisch verklausulierten Rahmensetzung restituiert, hinter der er die la¨ngst eingetretenen Schicksalsschla¨ge verschleiert (sie werden sein ganzes Gedicht hindurch immer wieder als Prophezeiungen ex eventu aufscheinen). Der erste Gesang des Inferno ist der klassische Anfang eines visiona¨ren Lehrgedichts, das seine spa¨tmittelalterliche Herkunft nicht verleugnet. Man ko¨nnte auch sagen, dass die Commedia so ha¨tte weitergehen ko¨nnen, ha¨tte Dante nicht um eben diese Zeit die Aeneis wiedergelesen, oder wie sein zeitweiliger Vertrauter Francesco da Barberino das hymnische Bekenntnis bei der ersten Begegnung mit Vergil vorsichtig relativiert, vielleicht zum ersten Mal genau gelesen und dort das Modell fu¨r seine – epische – Heldenrolle gefunden, in Gestalt des Vergilischen Aeneas, der auf der Ho¨he seines Lebens angelangt, nicht davor zuru¨ckscheut, den ihm vorgegebenen Weg in die jenseitige Welt zu gehen, um sich dort die Weisungen fu¨r seine historische Mission zu holen. Diesen Aeneas feiert das vierte Buch des Convivio, ehe es abbricht, um der nunmehr Gestalt annehmenden Commedia Platz zu machen.6 Es ist nicht der Kriegsheld, der zuletzt die Seinen aus dem brennenden Troja rettet, und auch nicht der Sta¨dtegru¨nder und Bezwinger des Turnus; er macht dieselbe Wandlung durch wie seine Gegenfigur, der homerische Odysseus, der bei Dante gleichfalls am Ende seines Lebens seine virtu` ganz in den Dienst der canoscenza stellt, allerdings eines Erkenntnisdrangs, der glaubt, ohne go¨ttliche Sendung auskommen zu ko¨nnen.7 Hier liegt der entscheidende Unterschied zur ‚alten‘ Epik: Erkenntnis, nicht ¨ berwindung der eigenen Geistestra¨gheit und des Seefahrt und Eroberung, U eigenen Kleinmuts, nicht eines a¨ußeren Feindes sind Gegenstand der Dichtung. Am Anfang der dritten Cantica beansprucht der Dichter, mit dem gottgegebenen Ho¨henflug seiner Verse die legenda¨re Fahrt der Argonauten ins ferne Kolchis in den Schatten zu stellen: L’acqua ch’io prendo gia` mai non si corse, „Die See, in die ich mich aufmache, wurde noch nie befahren,“
heißt es da (Par. 2, 7), und: Que’ gloriosi che passaro a Colco non s’ammiraron come voi farete, quando Iason vider fatto bifolco. (vv. 16 – 18)
6 Vgl. Leo 1957, bes. S. 94 – 100. 7 Vgl. Stierle 2007a.
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Die Leser, die ihm folgen, werden noch ganz anders verblu¨fft sein als die Fahrtgenossen Iasons, die am Ziele angelangt, ihren Anfu¨hrer mit den flammenspeienden Rossen des Aetes pflu¨gen sahen. Dante als ‚Held‘ und Dichter dieses neuen Epos nimmt sich mehr vor als irgendeiner seiner Vorga¨nger. Am Ende seiner ‚Fahrt‘ steht fu¨r ihn die „vollsta¨ndige Erfahrung“ („esperienza piena“, Inf. 28, 48) aller drei Jenseitsreiche, die es ihm wiederum erst ermo¨glicht, alle diesseitigen Dinge richtig einzuordnen. Diese doppelte Zielsetzung ist konstitutiv fu¨r sein Gedicht, das er ru¨ckblickend auf die Formel bringt: ’l poema sacro al quale ha posto mano e cielo e terra (Par. 25, 1 f.)
– „das heilige Gedicht, an das Himmel und Erde Hand angelegt haben“.8 Zwar ‚vermisst‘ Dante – mit Daniel Kehlmann zu reden9 – nur die jenseitige Welt, und dies in solcher Konkretheit, dass der junge Galilei im Jahre 1588 im Auftrag der florentinischen Akademie danach die Dimensionen seines Inferno exakt nachrechnen konnte (Lezioni circa la figura, sito e grandezza dell’Inferno di Dante),10 aber die Bezu¨ge zur diesseitigen Realita¨t sind allgegenwa¨rtig, so sehr, dass der große Danteforscher Erich Auerbach geradezu von „Dante als Dichter der irdischen Welt“ sprechen konnte.11 Fu¨r Dante liegt das Jenseits ja auch nicht auf einer ganz anderen Seinsebene, sondern innerhalb derselben einmal geschaffenen Welt, nur so, dass der gewo¨hnliche Sterbliche nicht an die entsprechenden Orte gelangen kann: in den Tiefen der Erde die Ho¨lle, auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel, auf einem vielstufigen Berg der Ort der La¨uterung, und zuoberst das Paradies, aus dem Adam und Eva einst vertrieben wurden. Von dort aus sind die himmlischen Spha¨ren fu¨r die Erlo¨sten im Aufflug erreichbar. Der Wanderer Dante nimmt seinen perso¨nlichen zeitgebundenen, provinziellen Hintergrund mit in diese abgeschiedene Welt, und dasselbe gilt fu¨r das ganze Personarium seines Jenseits, vor allem natu¨rlich fu¨r die Verdammten seiner Ho¨lle, die in Ewigkeit die bleiben mu¨ssen, die sie waren, immer noch von den gleichen Anliegen besessen, die buchsta¨blich nicht mehr ‚aus ihrer Haut herausko¨nnen‘, so wie der Gottesla¨sterer Kapaneus, der, wie der Dante’sche Vergil kommentiert, am meisten da¨ berheblichkeit nicht nachla¨sst: durch bestraft ist, dass seine U
8 9 10 11
¨ bersetzung K. M. U Vgl. Kehlmann 2005, S. 71, 114 – 117. Galilei 2011. Vgl. dazu zuletzt: Maurer 2008, S. 21 f. Auerbach 1929.
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O Capaneo, in cio` che non s’ammorza la tua superbia, se’ tu piu` punito: (Inf. 14, 63 f.)
Die Schatten der beiden anderen Jenseitsreiche sind wiederum durch ihre zunehmende Distanzierung von ihrer einstigen irdischen Existenz definiert: die Pilger des La¨uterungsbergs durch die Aufarbeitung ihrer Fehlorientierungen,12 die Seligen durch die la¨chelnde Vergegenwa¨rtigung ihrer u¨berwundenen Konflikte. Die eigentliche Schwierigkeit des Dante’schen Weltgedichts besteht vielmehr darin, dass dem Dichter fu¨r sein Tableau der jenseitigen Welt wieder nur Versatzstu¨cke des erfahrbaren Diesseits zur Verfu¨gung stehen. Dies ist um so misslicher, als er sich hier an seinem Anspruch messen lassen muß, Welten zu beschreiben, die Gott selbst vor aller Zeit erschaffen hat, ohne das Zwischentreten der fehlbaren Natura. Er kann sich da im Grunde immer nur wieder mit Superlativen helfen. Allerdings lo¨st er diese Aufgabe souvera¨n: Sein Jenseits u¨berho¨ht die irdische Welt visiona¨r, nicht nur in der ra¨umlichen Ausgestaltung, wo etwa das visibile parlare der vom Scho¨pfer gemeißelten Wandreliefs auf dem Sims der Hochmu¨tigen nicht nur Polyklet, sondern auch die modellgebende Natur selbst bescha¨men wu¨rden (Purg. 10, 32 f.: „[…] intagli sı`, che non pur Policreto, / ma la natura lı` avrebbe scorno“). Seine Figuren u¨berragen samt und sonders ihre verga¨nglichen diesseitigen Entsprechungen, weil sie diese in ein jenseitiges Definitivum u¨berfu¨hren, das eine ganz andere Dignita¨t besitzt – sie so zeigen, ha¨tte Mallarme´ gesagt, wie sie die Ewigkeit endlich in sie selbst verwandelt.13 Der Dante der Divina Commedia ist nicht einfach ein enzyklopa¨disch ausgreifender ‚Dichter der irdischen Welt‘ (das hatte Auerbach auch nicht gemeint), sein Weltgedicht ist vielmehr das Werk eines Visiona¨rs, der sein ganzes Hier und Jetzt noch einmal sub specie aeternitatis wiederauferstehen la¨sst. Er ist darin dem Balzac der Come´die humaine nicht ganz una¨hnlich.
12 Auch hier hat der historische Vergil die Commedia vorweggenommen: Schon bei ihm arbeiten sich die abgeschiedenen Seelen an ihrer irdischen Individualita¨t ab, ehe sie ins Elysium eintreten du¨rfen, Aeneis VI, V. 743: „quisque suos patimur manes“ (Vergil 2009, S. 189). 13 In eben diesem Sinne liest Auerbach die Farinata-Cavalcante-Episode im zehnten Gesang des Inferno: „[…] dadurch, daß das irdische Leben angehalten ist, so daß an ihm nichts mehr sich entwickeln und a¨ndern la¨ßt, wa¨hrend die Leidenschaften und Neigungen, die es bewegten, doch fortdauern, ohne sich handelnd zu entladen, entsteht gleichsam eine ungeheure Aufspeicherung derselben; eine sehr gesteigerte, fu¨r die Ewigkeit in ungeheuren Maßen festgelegte Gestalt des jeweils eigenen Wesens wird sichtbar, wie sie in dieser Reinheit und Auspra¨gung in keinem Augenblick des einstigen irdischen Lebens anzutreffen gewesen wa¨re.“ Auerbach 1964, S. 184. Vgl. auch Maurer 1965, bes. S. 112 – 114.
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Joachim Harst
Welttheater und Weltmacht. Christlicher Universalismus bei Gryphius und Caldero´n
I. In der ersten Abhandlung von Andreas Gryphius’ Ma¨rtyrerspiel Catharina von Georgien1 steht der persische Tyrann Abas vor einer unerho¨rten Situation: Obwohl er ma¨chtiger als jeder andere weltliche Fu¨rst ist, schla¨gt seine Gefangene, die christliche Ko¨nigin Catharina, sein Werben um ihre Hand unbewegt aus. Der resultierende harte Gegensatz zwischen Heide und Christ fu¨hrt schließlich zur Hinrichtung der Christin, die den Ma¨rtyrertod in Kauf nimmt, um Keuschheit und Glauben zu bewahren, und dementsprechend nach christlicher Logik u¨ber die Tyrannei des Fleisches zu triumphieren. Um dies auch dem Zuschauer augenfa¨llig zu besta¨tigen, sucht sie Abas in der Schlussszene als Gespenst heim und sagt ihm ein kurzes, aber qualvolles Leben zur Strafe seiner Su¨nden voraus. So endet das Spiel mit der Apotheose der Gefangenen und der Verdammung des Tyrannen: Kaum ko¨nnte die universale Geltung der christlichen Religion deutlicher exemplifiziert werden. Seine Begru¨ndung erha¨lt dieser Geltungsanspruch bereits in der Stichomythie, die aus der ersten Konfrontation zwischen Heide und Christ resultiert. Die dabei angewendete theologisch-juristische Gedankenfigur zeigt zugleich die Grundform der Problematik christlichen Universalismus auf, die ich in diesem Beitrag diskutieren mo¨chte. Catharina weist den Antrag des Tyrannen mit dem Hinweis ab, „der Christen Recht verknu¨pfft nur Zwey durch dieses [na¨mlich der Ehe] Band“ (1,781), der Perserfu¨rst aber sei bereits mit mehreren Frauen verheiratet und komme daher fu¨r eine christliche Ehe nicht mehr in Frage. Abas 1 Das Trauerspiel wurde 1647 verfasst, aber erst 1657 vero¨ffentlicht. Ich zitierte nach der Ausgabe Gryphius 1966. Nachweise von Zitaten aus dieser Ausgabe erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe des Aktes und des Verses. Die Versza¨hlung beginnt in Powells Ausgabe mit jedem Akt neu. Im Folgenden stelle ich eine Detailskizze zu einem Grundproblem barocken Theaters vor, das ich umfassender in meinem Buch Heilstheater. Figur des barocken Trauerspiels zwischen Gryphius und Kleist (2012a) untersucht habe. Eine wichtige Gesamtinterpretation des Stu¨cks liefert Schings 1968.
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Joachim Harst
stellt daraufhin die Gu¨ltigkeit des christlichen Rechts in Frage: „Der Persen Recht gilt mehr. Wir sind in ihrem Land!“ (1,782; Hervorhebung J. H.) Doch dieses Argument, das die Rechtsgu¨ltigkeit mit dem Territorialbesitz verbindet, wird von Catharina augenblicklich gegen den Heiden gewendet: „Noch mehr des Ho¨chsten Recht! wir stehn auff seiner Erden.“ (1,783; Hervorhebung J. H.) Der kurze Schlagabtausch zeigt scho¨n, wie im barocken Trauerspiel der stichomy¨ berbieten verstanden wird: So wird Gott thische Konflikt als rein quantitatives U in eine Linie mit dem ungla¨ubigen Tyrannen gestellt und unterscheidet sich zuna¨chst nur dadurch von ihm, dass sein Recht mehr Geltung hat, weil er eben die ganze Erde besitzt. In Konsequenz wa¨re dem christlichen Gott auch der heidnische Herrscher unterworfen; dessen Recht, soweit es dem christlichen widerspricht, wa¨re grundsa¨tzlich und paradoxal „ungerechtes Recht“ (1,681). So wird es von den Christen denn auch genannt. In dem widerspru¨chlichen Begriff eines „ungerechten Rechts“ tritt die Problematik eines christlichen Universalismus, wie ihn das Ma¨rtyrerspiel veranschaulicht, deutlich zutage. Eine tatsa¨chlich universelle Gu¨ltigkeit des christlichen Rechts kann nur dargestellt werden, wenn es nicht allein die Gla¨ubigen, sondern eben auch die Ungla¨ubigen umfasst; letztere haben ebenfalls, obschon sie es nicht wissen, dem christlichen Gott zu unterstehen.2 Da sie aber zugleich von den Gla¨ubigen deutlich geschieden werden mu¨ssen, resultiert die umfassende Vereinnahmung in einer inneren Spaltung des zugrunde liegenden Rechtsbegriffs. Sie kommt bei Gryphius in dem Oxymoron eines heidnischen „ungerechten Rechts“ einerseits, dem Pleonasmus eines christlichen „rechten Rechts“ andererseits deutlich zum Ausdruck. So ruft Abas, durch die Erscheinung von Catharinas Geist im Schlussakt unwillku¨rlich, wenn auch vergeblich bekehrt, reumu¨tig aus: „Schauet! Schaut! Der Himmel bricht! / Die Wolckenfeste reist entzwey / Das rechte Recht steht ihrer Sachen bey!“ (5,385 – 387) Im Folgenden mo¨chte ich zeigen, inwiefern diese Selbstentzweiung des Rechts Voraussetzung der anschaulichen Darstellung von universalistischen ¨ berlegung aus, dass die EntGeltungsanspru¨chen ist. Dabei gehe ich von der U zweiung des Oxymorons und die Dopplung des Pleonasmus sich als Figuren der Theatralisierung verstehen lassen, wenn man letztere als Andeutung einer Unterscheidung zwischen Maske und Wesen, Schein und Sein versteht. Das „ungerechte Recht“ ist ganz offensichtlich nur scheinbar „Recht“ zu nennen, wa¨hrend das „rechte Recht“ aufgrund der pleonastischen Formulierung die Mo¨glichkeit seines Gegenteils bekundet. Wenn aber auch das „ungerechte Recht“ 2 Die Problematik des christlichen Universalismus, wie sie sich hier abzeichnet, la¨sst sich bis zu Paulus zuru¨ckverfolgen; dort ist die Argumentation jedoch bezeichnenderweise umgekehrt ausgerichtet: Der Messias hebt das mosaische Gesetz auf und bricht den Bund mit dem erwa¨hlten Volk, um auch die Heiden in ihn eintreten zu lassen. Vgl. bspw. Ro¨m 11,25 f. und dazu Agamben 2000 und Badiou 1997.
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noch Recht heißen darf, la¨sst sich nicht endgu¨ltig zwischen Recht und Unrecht scheiden. Daher verscha¨rft sich das Problem der Theatralita¨t zu einer Unentscheidbarkeit zwischen Schein und Sein, fu¨r die nicht die Maske, sondern das Gespenst die angemessene Repra¨sentation wa¨re. Das Gespenst na¨mlich, wie es bei Gryphius auftritt, ist zugleich Schein und Sein: Die Wiederkehr von Catharinas ra¨chendem Geist und ihre Verdammung des Tyrannen bewa¨hrt das Recht der Christin mit der absoluten Autorita¨t des Jenseits; zugleich aber ist das Gespenst als Wahnerscheinung des von Gewissensbissen gepeinigten Tyrannen zu deuten. Apodiktische Objektivita¨t und wahnhafte Subjektivita¨t sind daher im Gespenst untrennbar verbunden. Aus dieser Beobachtung mo¨chte ich den vorla¨ufigen Schluss ziehen, dass der Universalita¨tsanspruch der christlichen Religion bei Gryphius mit der Problematik einer Theatralisierung zusammenha¨ngt, die sowohl begrifflich als auch anschaulich zu fassen ist, in beiden Fa¨llen aber den Bereich des Gespenstischen beru¨hrt: Die christliche Heilsgewissheit (als deren Ausdruck man das Ma¨rtyrerspiel u¨blicherweise versteht3) scheint sich nicht anders denn in der Erscheinung des Zweideutigen veranschaulichen zu ko¨nnen.
II. Die Weltherrschaft christlichen Rechts ha¨ngt also auch bei Gryphius mit dem Problem einer Theatralisierung von Welt, einer Art „Welttheater“ zusammen, wenn es sich auch deutlich von dessen gela¨ufigem Begriff unterscheidet, fu¨r den das Werk Caldero´ns repra¨sentativ ist.4 Dessen Comedia El prı´ncipe constante (1636), die historische Ereignisse im Licht der christlichen Heilsgeschichte inszeniert,5 fu¨hrt die juridisch-theologische Gedankenfigur aus dem Gryphschen Trauerspiel zum selbstbewussten Paradox fort; das fu¨hrt auch zu einer Thematisierung von Theatralita¨t, die schließlich – dies ist der gewichtige Unterschied gegenu¨ber Gryphius – explizit fu¨r die universelle Geltung der christlichen Religion einsteht. Fernando, ein portugiesischer Infante, ist nach der Eroberung Ceutas (1415) 3 Vgl. etwa Wiese 1967, S. 14, der den Wesensunterschied zwischen Trago¨die und Trauerspiel eben in der „Heilsgewißheit“ des Christentums begru¨ndet: „Damit muß sich die Trago¨die notwendig in Mysterienspiel, Passionsdichtung und Ma¨rtyrerdrama wandeln, Schmerz und Tod werden in einer Umkehr der Vorzeichen die Voraussetzung fu¨r das himmlische Heil […] Hier findet eine Erlo¨sung vom Tragischen statt.“ 4 Man denke nur an dessen bekanntes Spiel El gran teatro del mundo. Vgl. zum barocken „Welttheater“ allgemein Alewyn 1985. 5 Fu¨r eine detaillierte Interpretation der Comedia im Vergleich mit den historischen Quellen Caldero´ns vgl. Ku¨pper 1990, S. 305 – 382.
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in muslimische Gefangenschaft geraten; der maurische Ko¨nig will ihn dazu ¨ bergabe der Stadt Ceuta zu erzwingen, doch Fernando schla¨gt einsetzen, die U die Befreiung aus: Um die gerade errichtete Kirche in Nordafrika nicht preiszugeben, will er Gefangenschaft und Tod in Kauf nehmen. Mit dieser Geste will er Gott in einem ganz juristischen Sinn verpflichten, ihm das ewige Leben zu schenken.6 Wenn daher Fernando in einer zentralen Passage den maurischen Ko¨nig um „piedad“,7 also Milde und Barmherzigkeit bittet, so muss man mit einem Hintergedanken Fernandos rechnen: Der Infante kann gar nicht wollen, dass ihm der maurische Ko¨nig das Leben schenkt, denn damit ha¨tte er die Chance auf das ewige Leben verspielt. Was also kann „piedad“ im vorliegenden Kontext bedeuten? Fernando begru¨ndet seine Bitte unter Bezugnahme auf ein universales Naturgesetz („ley de naturaleza“), dem auch der maurische Ko¨nig unterworfen sei. Als Beispiel nennt Fernando den Lo¨wen, Ko¨nig der Tiere: Selbst die Bestie sei dieser „ley de naturaleza“ unterworfen, verschone großmu¨tig den deutlich Unterlegenen und zeige darin die ihrem ko¨niglichen Status entsprechende „piedad.“8 Als weitere Beispiele werden Delphin, Adler, ja sogar der Granatapfel und der Diamant genannt: Sie alle wu¨rden den ihnen zukommenden Adel durch „piedad“ beglaubigen. Woraus Fernando schließt: Pues si entre fieras y peces, plantas, piedras y aves usan esta majestad de rey, la piedad, no sera´ injusta entre los hombres, sen˜or, porque el ser no te disculpa de otra ley, que la crueldad en qualquiera ley es una. (vv. 2476 – 2483)
Belege fu¨r ein solches „Naturgesetz“ findet man wohl nur in barocken Emblembu¨chern;9 im vorliegenden Zusammenhang aber ist vor allem die Zweideutigkeit der zentralen Begriffe entscheidend, mit denen Fernando seine Argumentation verfolgt: „piedad“ bezeichnet ja nicht nur „Milde“ oder „Barmherzigkeit“, sondern auch „Fro¨mmigkeit“ im religio¨sen Sinn;10 und „ley“ wird 6 So a¨ußert Fernando die Hoffnung, „que aunque hoy cautivo muero, / rescatado he de gozar / el sufragio del altar, / que, pues yo os he dado / a vos tantas Iglesias, mi Dios, / alguna me habe´is de dar“ (vv. 2660 – 2662). 7 Vv. 2395 – 2607. Vgl. dazu auch Ku¨pper 1990, S. 370 – 373. 8 „y ası´ vemos / en repu´blicas incultas / al Leo´n rey de las fieras, / que cuando la frente arruga / de guedejas, se corona; / es piadoso, pues que nunca / hizo presa en e´l, rendido“ (vv. 2428 – 2434). 9 Vgl. dazu Brancaforte 1997. 10 Vgl. Diccionario de la lengua espan˜ola 1992, s. v. „piedad“: „1. f. Virtud que inspira, por el
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im vorliegenden Kontext zugleich als „(Natur-)Gesetz“ und als „Glauben“ verwendet.11 So erscheint die Milde des Lo¨wen zugleich als verborgene Fro¨mmigkeit – das „Naturrecht“, fu¨r das er steht, ist religio¨s grundiert. Daher kann der Maure als „de otra ley“ anerkannt werden, wird aber nichtsdestotrotz u¨ber die „ley de naturaleza“ unter der Hand christianisiert: Von ihm wird dieselbe (christliche) ¨ hnlich wie der Tyrann Abas Fro¨mmigkeit erwartet, die auch dem Lo¨wen eignet. A ¨ kann sich der Maurenkonig dem christlichen Anspruch nicht entziehen. Damit ist die Zweideutigkeit des Begriffes „piedad“ aber noch nicht ausgescho¨pft. Nachdem Fernando die Verpflichtung des Ko¨nigs zur Milde aus dem Naturrecht hergeleitet hat, vollzieht er eine abrupte Kehrtwendung: Nicht um das Leben, sondern um den Tod bitte er. Selbst wenn der Ko¨nig sich also der natu¨rlichen „piedad“ widersetzte und den Infanten im Ja¨hzorn hinrichten ließe, ha¨tte er in bestialischer „crueldad“ nur den himmlischen Willen und Fernandos „deseo de morir / por la Fe“ (vv. 2533 f.) erfu¨llt. Weil der Ma¨rtyrertod aber als christliches Opfer („sacrificio“) verstanden wird, wu¨rde die Grausamkeit des Ko¨nigs nur der Verherrlichung Gottes und mithin der „piedad“ dienen: „No has de triunfar de la Iglesia, / de mı´, si quisieres, triunfa; / Dios defendera´ mi causa, / pues yo defiendo la suya“ (vv. 2574 – 2577). Damit sind dem Heiden sa¨mtliche „heidnischen“ Handlungsoptionen genommen: Egal wie er sich verha¨lt, seine Reaktion wird der Verherrlichung des christlichen Gottes dienen.12 Diese an einer konkreten Textstelle entwickelte universalisierende Strategie der Comedia kann auch allgemeine Geltung fu¨r Caldero´ns Geschichtsversta¨ndnis und besonders seinen Umgang mit dem Pha¨nomen beginnender Globalisierung beanspruchen: Die mit der europa¨ischen Expansion entdeckten ‚neuen Welten‘, deren schiere Existenz den christlichen ‚ordo‘-Gedanken erschu¨ttern musste, insofern sie eine potentiell unendliche Pluralisierung der Welt
amor a Dios, tierna devocio´n a las cosas santas, y, por el amor al pro´jimo, actos de amor y compasio´n. 2. f. Amor entran˜able que consagramos a los padres y a objetos venerandos. 3. f. La´stima, misericordia, conmiseracio´n.“ 11 Vgl. ebd., s. v. „ley“: „1. f. Regla y norma constante e invariable de las cosas, nacida de la causa primera o de las cualidades y condiciones de las mismas. […] 4. f. En el re´gimen constitucional, disposicio´n votada por las Cortes y sancionada por el jefe del Estado. 5. f. Religio´n, culto a la Divinidad.“ 12 Dass die Heiden bei Caldero´n grundsa¨tzlich in das christliche Weltbild einbezogen sind (und nicht wie bei Gryphius außerhalb seiner stehen), zeigt sich auch an der Figurenkonstellation: Der Christusfigur Fernando steht die maurische Prinzessin gegenu¨ber, deren Name Fe´nix auf eine traditionelle Christusallegorie verweist – der Vogel Phoenix, der aus seiner Asche neu geboren wird, veranschaulicht die Auferstehung Christi (vgl. bspw. Physiologus, S. 14 – 17). Darin zeigt sich die heidnische Welt als der christlichen grundsa¨tzlich kompatibel; in ihr wird nicht (wie bei Gryphius) das widerchristliche Bo¨se, sondern der noch unerlo¨ste Mensch und mithin eine Phase der Heilsgeschichte veranschaulicht, die durch Fernando / Christus u¨berwunden werden wird.
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nahelegen.13 Sie kann nur durch ein Geschichtsbild gesteuert werden, das im ‚Neuen‘ den ‚Schatten‘ des Alten erkennt und es auf diese Weise in die vorausgesetzte Ordnung einbettet. Aus Caldero´ns Sicht sind die Neue Welt und die dort sich ereignende Geschichte eben nicht jenes ‚aliquid de novo‘, dessen nunmehr erwiesene Existenz der nominalistischen Pra¨misse zu definitivem Triumph verhelfen ko¨nnte, sie sind vielmehr nichts anderes als eine ‚Auspra¨gung‘ der fu¨r alle Zeit geordneten und insofern bereits gewußten Welt. Caldero´n bela¨ßt den Neuen Welten den Reiz des Neuen und des Individuellen, aber er enthu¨llt ihn zugleich als ‚umbra‘, durch die der stets identische Typos hindurchscheint.14
Der christliche Universalismus geht bei Caldero´n also deutlicher als bei Gryphius nicht nur mit einem totalen religio¨sen Geltungsanspruch, sondern auch mit einer imperialistischen Globalisierungsbewegung zusammen: Auf seiner Grundlage ist eine Entdeckung (und Unterwerfung) des ‚Neuen‘ denkbar, ohne zugleich die alte Ordnung zu schwa¨chen. ¨ hnlich wie bei Gryphius bleibt dagegen der Universalismus in der inneren A Spaltung eines Begriffs begru¨ndet: Der Heide mag glauben, mit der To¨tung des Christen eine grausame, unmenschliche und unfromme Tat zu begehen; der Ma¨rtyrer hingegen weiß sie als ho¨chste Gnade und Fro¨mmigkeit zu scha¨tzen. „Crueldad“ wa¨re hier also der innere Gegensatz universaler „piedad“, der die Darstellung der letzteren erst ermo¨glicht: Kein Ma¨rtyrer ko¨nnte seinen Glauben auf der Bu¨hne bewa¨hren, ga¨be es nicht den Tyrannen, dem er die Hinrichtung verdankt. Insofern Fernando dieses Abha¨ngigkeitsverha¨ltnis explizit macht, ist seine Rede an den maurischen Fu¨rsten zugleich Reflexion auf die Grundstruktur des Ma¨rtyrerspiels; so bringt er gewissermaßen die Situation Catharinas auf den (freilich zweideutigen) Begriff. Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch Caldero´ns Comedia mit der Erscheinung eines Gespenstes endet. Wie Catharina bei Gryphius in der Schlussszene dem Tyrannen erscheint, um die absolute Gu¨ltigkeit des christlichen Rechts an dem Ungla¨ubigen zu exemplifizieren, so kehrt auch der verstorbene Fernando christusgleich auf den irdischen Schauplatz zuru¨ck, um seine Glaubensbru¨der und damit auch die Kirche zum Sieg gegen die Heiden zu fu¨hren. Der Zweideutigkeit des universalen Begriffes entspricht also erneut die Er13 Ku¨pper verbindet daher die europa¨ische Expansionsbewegung mit dem Gedanken Giordano Brunos, einem wahrhaft allma¨chtigen Gott mu¨sse es freistehen, unendlich viele Welten zu schaffen. Die Konsequenz dieser Allmacht aber wa¨re „die Eskamotierung des personalen Gotteskonzepts“: „Ist die Erde nicht la¨nger Zentrum eines wohlgeordneten, sondern kontingenter Bestandteil eines beliebigen Kosmos, wird die Annahme heilsgeschichtlicher Geordnetheit zu einer Anmaßung“ (Ku¨pper 1990, S. 308). 14 Ku¨pper 1990, S. 310. ‚Umbra‘ und ‚Typos‘ sind Begriffe aus der christlichen Figuraldeutung, vgl. dazu grundlegend Auerbach 1967.
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scheinung eines Gespenstes. Allerdings ist sie hier – anders als bei Gryphius – nicht als subjektiver Wahn gefasst: Fernando erscheint nicht dem ungla¨ubigen Ko¨nig allein, sondern auch den Christen; die Gu¨ltigkeit der christlichen „ley“ wird also nicht in einer Vision, sondern in einem objektiven Wunder demonstriert. Damit wird die Problematik der Theatralita¨t jedoch nur scheinbar zuru¨ckgenommen: Da es sich bei dieser Stelle um eine offenkundige Modifikation der historischen Quellen seitens Caldero´ns handelt,15 wird hier eher Geschichte zur Darstellung des christlichen Heilsgeschehens theatralisiert: Die fundamentale Zweideutigkeit von „piedad“ kehrt in der Zweideutigkeit christlich verstandener Geschichte, in der eine brutale Niederlage als Triumph dargestellt werden kann, wieder. Auch aus diesem Grund kann man in Caldero´ns Welttheater eine Reflexion auf das Problem der Theatralita¨t erkennen, wie ich es anfangs bei Gryphius vorgestellt habe.
III. Um den Status der Theatralita¨t bei Gryphius und Caldero´n noch genauer zu fassen, mo¨chte ich abschließend einen kontrastierenden Vergleich mit einer antiken Trago¨die ziehen, in der ebenfalls die Frage eines universalen Gesetzes auf dem Spiel steht: In der sophokleischen Antigone vertritt Kreon die Position, dass der weltliche Machthaber u¨ber die Bestattung bzw. Nicht-Bestattung der Kriegsleichen bestimmen kann, wa¨hrend Antigone fu¨r die universale Geltung des Bestattungsritus eintritt. Deren Darstellung setzt auch hier eine innere Spaltung voraus: Nur weil Polyneikes zum Verra¨ter und Ausgestoßenen wurde, la¨sst sich jetzt der Anspruch stellen, dass ihm dennoch ein Begra¨bnis zuteil werde. Allerdings tra¨gt sich diese Spaltung anders in die Personenkonstellation ein, als das beim barocken Trauerspiel der Fall gewesen ist: Wa¨hrend sich bei Gryphius Tyrann und Ma¨rtyrer antithetisch gegenu¨ber stehen, ist der Verra¨ter in Antigone Familienmitglied; zwar versucht Kreon, ihn durch die Verweigerung der Bestattung nachtra¨glich aus der Familie auszuschließen, ra¨umt aber in seiner eigenen Darstellung des Geschehens implizit ein, dass sich der Konflikt nicht antithetisch schematisieren la¨sst: ftû owm 1je?moi pq¹r dipk/r lo_qar l_am jahû Bl]qam ¥komto, pa_samt]r te ja· pkgc]mter aqt|weiqi s»m li\slati (vv. 170 – 172). 15 Bei Caldero´n muss sich der maurische Ko¨nig den portugiesischen Truppen unter der Fu¨hrung Fernandos ergeben; historisch stehen der Tod Fernandos in der Gefangenschaft und der erste, zudem erfolglose Angriff auf Tanger (1437) in keinem Zusammenhang. Erst 1471 gelingt die Eroberung.
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Kreon betont in seiner Schilderung die Wechselseitigkeit der Tat: „schlagend und geschlagen in der eigenha¨ndigen Befleckung“ seien die Bru¨der „durch doppeltes Schicksal an einem Tag zugrunde gegangen“; der Akzent liegt also auf der Feststellung, dass jeder der Bru¨der zugleich Handelnder und Leidender ist, ja dass hier das eigene Schlagen zugleich ein Geschlagen-Werden ist, weil es sich gegen den Bruder als ein anderes Selbst richtet. Aus diesem Grund la¨sst sich der Konflikt nicht in einem fremden Außerhalb lokalisieren, wie es der persische Tyrann bei Gryphius repra¨sentiert, sondern entzu¨ndet sich im inneren ‚Selbst‘ der Trago¨die – auch deshalb wird er als „eigenha¨ndige Befleckung“ bezeichnet.16 Sprachlich stellt sich diese innerliche Entzweiung in der Zweideutigkeit des zentralen Verbs s]beim dar, das – a¨hnlich wie „piedad“ – Ehrfurcht vor Satzungen und Bra¨uchen ausdru¨ckt.17 Der dem Wort implizite Gegensatz wird in der Stichomythie zwischen Kreon und Haimon ausgesprochen, wenn Kreon seine eigene Unnachgiebigkeit als ein Respektieren der politischen Herrschaft (t±r 1l±r !qw±r s]bym) darstellt, der Sohn dagegen das Wort allein aus der religio¨sen Spha¨re bestimmt: Jq]ym "laqt\my c±q t±r 1l±r !qw±r s]bym; AVlym oq c±q s]beir til\r ce t±r he_m pat_m. (vv. 744 f.) Mit seinen Worten: „du s]beir nicht, wenn du die Ehre der Go¨tter mit Fu¨ßen trittst“ stellt Haimon explizit die „Ehrfurcht“ des Vaters in Frage; der Konflikt des Stu¨cks resultiert also auch aus der Problematik, wie das Verb s]beim bzw. das entsprechende Substantiv eqs]beia zu verstehen sei. Seine Scha¨rfe dru¨ckt sich in der verzweifelten Klage der verurteilten Antigone aus, ihr sei die Pflichterfu¨llung zum Frevel, die eqs]beia zur duss]beia geworden: 1pe_ ce dµ tµm duss]beiam eqseboOsû 1jtgs\lgm (vv. 923 f.) – sie hat „Gottlosigkeit aus Fro¨mmigkeit empfangen“, wie Ho¨lderlin u¨bersetzt.18 Freilich scheint das Ende der Trago¨die mit dem Untergang Kreons Antigone Recht zu geben. Der universale Richtspruch des Chores – wqµ d³ t\ cûeQr heo»r lgd³m !septe?m („es tut Not, niemals den Go¨ttern zu freveln,“ vv. 1349 f.) – ra¨umt der religio¨sen Pflichterfu¨llung den Vorrang gegenu¨ber der politischen ein, auch wenn der Chor auf der Ha¨lfte des Stu¨cks das genaue Gegenteil behauptet hat. Umso interessanter ist es, dass der Antagonismus zwischen Kreons und Antigones Deutung von eqs]beia von einem Parallelismus ihrer Schicksale kom16 Zu dieser Auffassung des ‚Selbst‘ der Trago¨die, untersucht am Beispiel des bemerkenswert ha¨ufigen Einsatzes von Komposita mit aqt|r, vgl. Loraux 1986. 17 Das entsprechende Substantiv eqs]beia wird folgendermaßen bestimmt: „1. reverence towards the gods or parents, piety or filial respect; 2. loyalty ; 3. = lat. pietas“ (A Greek-English Dictionary, s. v. eqs]beia). 18 Ho¨lderlin 1988, S. 361.
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plementiert wird, der sich in der Doppelstruktur der Trago¨die ausdru¨ckt: Wa¨hrend Antigone die erste Ha¨lfte des Stu¨cks bis zu ihrer Verurteilung dominiert, tritt Kreon in der zweiten Ha¨lfte in den Vordergrund; weiterhin schließen beide ihre Bu¨hnenexistenz mit Klagegesa¨ngen, in denen sie sich als lebende Tote darstellen. Das liegt in Bezug auf Antigone nahe, die ja zum Begra¨bnis bei lebendigem Leib verurteilt wurde, doch auch Kreon beschreibt sich zum Schluss als „zersto¨rten Mann“, der durch die Nachricht vom Selbstmord seiner Frau Iokaste „noch einmal zersto¨rt“ werde: aQa?, akyk|tû %mdqû 1peneiqc\sy (v. 1288); zuvor wurde er bereits von dem Boten als „beseelte Leiche“19 angesprochen. Sprachlich werden also beide Figuren in dem gespenstigen Bereich zwischen Lebenden und Toten angesiedelt; das verstehe ich als einen Hinweis darauf, dass sowohl die Protagonistin wie auch ihr Antagonist im Anspruch jenes universalen Gesetzes untergehen, das eqs]beia einfordert, ohne eindeutig genug bestimmt zu sein, um erfu¨llt werden zu ko¨nnen. Zugleich hebt der Schluss der Trago¨die noch einmal hervor, dass die Personenkonstellation aufgrund der Zweideutigkeit des Streitpunkts nicht antithetisch gedacht werden kann, sondern aus dem „Selbst“ der Trago¨die entspringt: Kreon, der die Leiche seines Sohns in den Armen ha¨lt, beklagt sein Schicksal mit Worten, die seiner Beschreibung des Bruderkampfes strukturell analog sind: § jtam|mtar te ja· | ham|mtar bk]pomter 1lvuk_our, „ach, die To¨tenden und die Geto¨teten seht ihr, gleichen Bluts“ (v. 1263 f.). Denn auch hier ist das To¨ten zugleich Geto¨tet-Werden – sowohl im Selbstmord des Sohns20 wie auch in der Selbstwahrnehmung des Vaters, der sich als den To¨tenden beschreibt und eben deswegen als Geto¨teten empfindet. Der Bruderkrieg, den Kreon durch sein Gesetz entscheiden wollte, setzt sich mithin strukturell im Schicksal des Ko¨nigs fort; sein Versuch, eine endgu¨ltige Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht durch den Ausschluss Polyneikes’ einzufu¨hren, wird durch die wiederholte problematische Identita¨t von Ta¨ter und Opfer unterlaufen. In dieser Perspektive wu¨rde also das sprachlich evozierte ‚Gespenst‘ in Antigone das genaue Gegenteil dessen bewirken, was es im christlichen Trauerspiel veranschaulichen soll: Wenn es dort dazu dient, den Triumph des christlich19 oq t_hglû 1c½ | f/m toOtom, !kkû 5lxuwom BcoOlai mejq|m („nicht nenne ich lebend diesen, sondern halte ihn fu¨r einen beseelten Leichnam“, vv. 1166 f.). 20 Bezeichnenderweise fragt der Chor, nachdem der Tod Haimons ausdru¨cklich als „von eigener Hand“ (aqt|weiq, v. 1175) bestimmt wurde, noch einmal nach, wer der To¨tende gewesen sei – Sohn oder Vater ; in beiden Fa¨llen, so muss man schließen, la¨ge jene Identita¨t von To¨tendem und Geto¨tetem vor, die den Begriff Selbstmord rechtfertigte (v. 1175 f.; vgl. dazu Loraux 1986, S. 176 f.). Dass auch der Tod der Bru¨der Polyneikes und Eteokles als aqt|weiq bezeichnet wird, knu¨pft den Parallelismus noch enger (v. 172) und verbindet beide Stellen mit dem Selbstmord Euridikes (aqt|weiq, v. 1315), fu¨r den Kreon alsbald ebenfalls die Verantwortung u¨bernimmt: 1c½ c\q sû 1c½ 5jamom („ich na¨mlich, dich habe ich geto¨tet“, v. 1319).
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universalen Rechts und die Erlo¨sung seiner Subjekte zu beglaubigen, so wird es in Antigone beschworen, um den Untergang der Figuren im Anspruch des universalen Gesetzes sprachlich vor Augen zu stellen; wa¨hrend ein zentraler Begriff der Trago¨die trotz des Chorspruches zweideutig bleibt, zielt das Trauerspiel auf anschauliche Vereindeutigung. Aus diesem Grund nimmt man oft einen Wesensunterschied zwischen Trago¨die und Trauerspiel an, der sich auch darin zeige, dass die christliche Heilsgewissheit die Zweideutigkeit des „tragischen Schicksals“ u¨berwunden und damit, wie Benno von Wiese schreibt, eine „Erlo¨sung vom Tragischen“ erreicht habe.21 Wa¨hrend dieser Gedanke auf theologischem Gebiet einsichtig sein mag, wird ihm auf der Bu¨hne sowohl von der Trago¨die als auch vom Ma¨rtyrerspiel durch das Gespenstische widersprochen. Denn der Konflikt in Antigone besteht ja gerade nicht in einer a¨ußeren Schicksalhaftigkeit – die Protagonistin wird im Gegenteil als aqt|molor (v. 821) bezeichnet22 – sondern darin, dass ihre eqs]beia zugleich duss]beia ist. Antigone und Kreon werden „Gespenster“, weil die basale Unterscheidung zwischen Einhaltung und Bruch des universalen Gesetzes nicht aufrecht zu erhalten ist. Eine a¨hnliche Zweideutigkeit ist bei Caldero´n und Gryphius mit den Begriffen „piedad“ und „Recht“ zentral; doch hier soll die Zweideutigkeit – man mo¨chte sagen: ausgerechnet – durch die Erscheinung des Gespenstes gelo¨st werden. Gerade das Gespenst als Manifestation des Zweideutigen kann aber die Ambivalenz nicht lo¨sen, sondern ho¨chstens gewaltsam ausschließen: Zwar regiert sie nicht mehr das „Selbst“ der Trago¨die, aber wird nurmehr in den theatralen Apparat – lgwam^ und exir – des Trauerspiels verlagert.23 Hier soll der institutionierte Schein des Gespenstes fu¨r die umfassende Eindeutigkeit von „Recht“ und „piedad“ einstehen – was im Ru¨ckschluss bedeutet, dass die von solcher Fro¨mmigkeit regierte Welt gespenstiges „Welttheater“ wird. Die Affirmation dieses Zusammenhangs, die durch seine Umkehrung zum Gottesbeweis mo¨glich wird (das Welttheater fordert einen Gott als Regisseur), macht den Erfolg der jesuitischen Mission aus: So besta¨tigt die Entdeckung und Unterwerfung jeder „Neuen Welt“ erneut den Universalismus des Christentums. Dessen tiefe Problematik wird besonders scharf bei Gryphius deutlich, der nicht ohne Grund jeden expliziten Hinweis auf das „Welttheater“ unterdru¨ckt: Das Gespenst Catharinas, das Abbas verflucht und darin zugleich 21 Vgl. Wiese 1967, S. 14. 22 Wobei, wie deutlich geworden sein sollte, dies nicht als „Autonomie“ im modernen Sinn, sondern als Gesetz des (tragischen) Selbsts verstanden werden muss. Vgl. zur Vokabel auch Loraux 1986, S. 171 f. 23 In diesem (aristotelischen) Sinn kann man das Trauerspiel gegenu¨ber der Trago¨die als dasjenige Theater bestimmen, in dem die materiellen Rahmenbedingungen des Schauspiels einen zentralen, eben „erlo¨senden“ Stellenwert erhalten. Vgl. dazu ausfu¨hrlich Harst 2012b und ferner Menke / Menke 2007, bes. S. 6 – 15.
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die Erlo¨sung der Christin bewa¨hrt, ist als Wahnbild des Tyrannen beschrieben. Das christliche Publikum kann sich also der ihm verheißenen „Erlo¨sung“ visuell nur versichern, wenn es den Standpunkt des Verdammten einnimmt.
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Kristina Mendicino
Break-Dance. (Ein Schritt von Homer und Rousseau zu Goethe)
In der freien Republik wird o¨ffentlich gefeiert, wird getanzt. „Les feˆtes publiques“ sind die einzigen Spektakel, die in einer Republik stattfinden, wo Freiheit und Zusammensein von den Freien und Zusammengekommenen zugleich dargestellt und genossen werden. Die festliche Zusammenkunft beschreibt einen Kreis, kreist in einem Tanz: vor allem – so Jean-Jacques Rousseau in seinem Brief an d’Alembert von 1758 – unter den jungen Ma¨nnern und Ma¨dchen „a` marier.“1 Das besondere Fest, das hier stattfindet, ehe die Jugend in die Ehe tritt, bringt Familien und Bu¨rger zusammen, verbindet die a¨ltere Generation der Zuschauer mit der ju¨ngeren Generation der Teilnehmer2 und bereitet letztere auf einen heiligen Bund vor, der das Fortleben der „socie´te´“ garantiert: „certainement le premier et le plus saint de tous les liens de la Socie´te´ est le mariage.“3 Wenn aber die freie Republik den Tanz nicht nur veranstaltet, sondern sich ihm verdankt, ist der Tanz selbst der erste und heiligste Bund der Gesellschaft – vor dem Familie und Gesellschaft stiftenden Bund der Ehe. Das besta¨tigt Rousseau, wenn er den Tanz mit einer privaten Familienfeier vergleicht: „[C]es Bals ainsi dirige´s ressembleroient moins a` un Spectacle public qu’a` l’assemble´e d’une grande famille, et du sein de la joye et des plaisirs naitroient la conservation, la concorde et la prospe´rite´ de la Re´publique.“4 Hier, wo die Grenze zwischen der privaten und der o¨ffentlichen Spha¨re aufgelockert wird, erfu¨llen schon die o¨ffentlichen Ta¨nze 1 Rousseau 1995, hier S. 116 f. Allerdings lobt Rousseau kurz zuvor das o¨ffentliche Fest, das spontan stattfindet, sobald man „au milieu d’une place un piquet couronne´ de fleurs“ pflanzt ¨ konomie seiner eigenen Darstellung aber widmet Rousseau die gro¨ßere (ebd., S. 115). In der O Aufmerksamkeit dem fu¨r Ju¨nglinge und Ma¨dchen veranstalteten Tanzabend. 2 Rousseau schreibt, „Je voudrois qu’on formaˆt dans la salle une enceinte commode et honorable, destine´e aux gens age´s de l’un et de l’autre se´xe, qui ayant de´ja donne´ des Citoyens a` la patrie, verroient encore leurs petits enfans se pre´parer a` le devenir. Je voudrois que nul n’entraˆt ni ne sortit sans salu¨er ce parquet, et que tous les couples de jeunes gens vinssent, avant de commencer leur danse et apre`s l’avoir finie, y faire une profonde re´ve´rence, pour s’accoutumer de bonne heure a` respecter la vieillesse“ (Rousseau 1995, S. 117). 3 Ebd., S. 116. 4 Ebd., S. 120.
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die Funktion der Familie, vor und deshalb ohne die Familie.5 Durch den Tanz wird der Staat selbst zum bu¨rgerlichen Haushalt, das Publikum selbst zur Familie. Da der Staat aber auch von der Familie abha¨ngt, wird der Staat zum Haushalt vor und ohne den Staat. Alle Kreise und Bu¨nde drohen sich aufzulo¨sen, gerade weil der Tanz eine Zusammenkunft erst stiften sollte. Aber statt diesen antizipatorischen, idyllischen, sich selbst auflo¨senden Familien-Staat-Tanz weiter zu beschreiben, wendet sich Rousseau den Festen Spartas zu, wie sie in Plutarchs Leben des Lykurgus geschildert werden. Ohne die offensichtlich problematische spartanische Nacktheit zu thematisieren, erkla¨rt Rousseau plo¨tzlich die Feste Spartas zum Vorbild. So sieht der Tanz der freien Republik zwar wie eine moderne Familienfeier aus, bekleidet aber eigentlich die nackte Feier der Antike; er scheint ein bu¨rgerliches Idyll zu sein und wird doch mit dem strengsten der griechischen Staaten verbunden: Es gibt einen Bruch und eine Spannung zwischen den beiden Ta¨nzen, mit denen Rousseau seinen Brief schließt, zwischen dem modernen Tanzabend und dem spartanischen Chor, der Plutarch zufolge nur aus Ma¨nnern besteht und ideale Sta¨rke verko¨rpern soll.6 Mit diesem Widerspruch stellen sich einige wichtige Fragen: Wenn die freie Republik tanzen soll – nein, tanzen muss – wie muss sie dann tanzen? Und wenn sich das Tanzfest mit einer Familie vergleichen la¨sst, knu¨pft es dann den Bund der Ehe oder ersetzt es ihn – so dass es sowohl den Bund als auch die Republik, die auf ihm beruhen sollte, endlos verschiebt? Ist der Tanz modern oder antik, ein idyllischer Ball oder ein maskulines Kriegsfest? Neben diesen Alternativen gibt es eine dritte, die in den beiden Ta¨nzen Rousseaus nachhallt: Der Chor, der in der Ilias auf dem Schild erscheint, den Hephaistos fu¨r Achill herstellt und mit einer Abbildung des Kosmos verziert. Nachdem Hephaistos Erde, Himmel, Meere und Gestirne auf dem Schild geschaffen hat; nachdem er weiterhin zwei Sta¨dte geschaffen hat – in der einen finden eine Hochzeit und ein Prozess statt; in der anderen wird Krieg gefu¨hrt – umgibt er das Dargestellte mit einem woq|r oder Tanzplatz, „wo Ju¨nglinge und Jungfrauen, die Ochsen bringen, tanzten, einander am Handgelenk die Ha¨nde haltend“ (5mha l³m A_heoi ja_ paqh]moi !kves_boiai / ¡qweOmt, !
5 Diese Grenze hat Rousseau seit je bea¨ngstigt, wie Jean Starobinski und Jacques Derrida ausfu¨hrlich besprochen haben. Vgl. Starobinski 1957, bes. S. 114 – 120; Derrida 1967, S. 432 ff. 6 Rousseau beschreibt die „divertissemens publics“ Spartas folgendermaßen: „Il y avoit, dit-il [Plutarque], toujours trois danses en autant de bandes, selon la diffe´rence des aˆges; et ces danses se faisoient au chant de chaque bande. Celle de vieillards commenc¸oit la premie´re, en chantant le couplet suivant, Nous avons e´te´ jadis, / Jeunes, vaillans, et hardis. Suivoit celle des homes, qui chantoient a` leur tour, en frappant de leurs armes en candence. Nous le sommes ` l’e´preuve a` tout venant. Ensuite venoient les enfans qui leur re´pondoient, et maintenant, / A chantant de toute leur force. Et nous bientoˆt le serons, / Qui tous vous surpasserons“ (Rousseau 1995, S. 124; Hervorhebung im Original).
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kk^kym 1p· jaqp` we?qar 5womter, Ilias 18,593 – 594).7 Und „eine Menge steht um den begehrenswerten Chor, sich freuend“ (pokk¹r d’ Rleq|emta woq¹m peqi_stah’ elikor / teqp|lemoi, Ilias 18,603 f.). Auf den ersten Blick scheint es sich hierbei um ein republikanisches Tanzfest zu handeln. Sicherlich ist dies nicht eine der Stellen, die Platon dem Dichter der Ilias vorwirft und aus seinem Staat verbannen mo¨chte – eine Praxis, die Rousseau in seinem Brief an d’Alembert zitiert und ausdru¨cklich unterstu¨tzt.8 Eine freie Republik – in Griechenland wie in Frankreich – mu¨sste vor allem den (epischen) Chor des Hephaistos beibehalten, der hier den Kosmos in einem wo¨rtlichen Sinn zusammenha¨lt, wie der Tanz bei Rousseau den Zusammenhalt der Gesellschaft stiften soll. Insofern der Chor auf dem hephaistischen Schild eine Institution darstellt, die die moralische, o¨konomische und familia¨re Stabilita¨t der Gemeinschaft schu¨tzt, ist er seinerseits ein unverzichtbarer Schild. Jedoch ist dieses Bild eines Chors zugleich Schild und Schutz von etwas Anderem. In dem Tanz, diesem vorletzten Stu¨ck der kleinen Welt, die Hephaistos auf dem Schild erschafft, finden auch die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert gela¨ufigen – aber gerade am Ende des achtzehnten Jahrhunderts durch die Studien Friedrich August Wolfs fragwu¨rdig gewordenen – Vorstellungen des Epos als eines abgeschlossenen, einheitlichen „Ganzen“, das eine ganze Welt darstellt und das Versprechen eines solchen Ganzen artikuliert, Verteidigung.9 Der eine allma¨chtige Poietes – Hephaistos – schafft eine totale Welt, die durch den Tanz begrenzt und zusammengehalten wird; sie kann zugleich als Bild der epischen Ganzheit verstanden werden, wie sie von Goethe, Schiller oder Hegel gegen Wolf verteidigt wird. Dann aber wa¨re nicht Homer, sondern Hephaistos der Scho¨pfer eines solchen Ganzen; das ideale Weltbild der Ilias wa¨re nicht auf dem Schlachtfeld Trojas zu finden, sondern auf dem Schild Achills, also einem privilegierten Teil des Homerischen Gedichts – jenem Teil, der bezeichnenderweise Scho¨nheit und Abwehr zugleich gewidmet ist. Rousseau wiederholt dieses Bild des homerischen Epos als ideales Ganzes, wenn er den Tanz als zusammenhaltende Kraft der vorbildlichen Gesellschaft darstellt – noch einmal Scho¨nheit und Abwehr. Daher die Bedeutung des homerischen (besser : hephaistischen) Tanzes: Er erhebt Anspruch auf totale ku¨nstlerische Bindung und
7 Nachweise von Zitaten aus diesem Werk (Homer 1920) erfolgen fortan parenthetisch im ¨ bersetzungen aus der fortlaufenden Text unter Angabe des Gesangs und der Verszeile. Alle U Ilias stammen von mir, K. M. 8 Nachdem er die verderblichen Aspekte des Theaters aufgelistet hat, schreibt er : „Quoi! Platon bannissoit Home´re de sa Republique, et nous souffrirons Molie´re dans la noˆtre!“ (Ebd., S. 106) 9 Fu¨r den bildlichen Zusammenhang der verschiedenen Teile des Schildes, vgl. Fittschen 1973; fu¨r den Totalita¨tsanspruch des Schildes vgl. Hubbard 1992; Moog-Gru¨newald 2001.
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totalen Schutz – und stellt die Republik als einen harmonischen, a¨sthetischen Weltkreis dar. Was mit dem Tanzfest Rousseaus und dem epischen Tanz auf dem Schild Achills auf dem Spiel steht, geht u¨ber die freie Republik hinaus und beru¨hrt die verschiedenen philologischen, philosophischen, politischen und a¨sthetischen Projekte des neunzehnten Jahrhunderts. Dieser Tanz la¨sst sich auch nicht auf eine bestimmte Politik beschra¨nken, da er sowohl den republikanischen Zwecken Rousseaus als auch den eher konservativen Zwecken Goethes dient. Damit zerbricht der kreisfo¨rmige Zusammenhang zwischen Tanz und freier Republik, mit dem dieser Aufsatz begonnen hat, in einander gegenu¨berstehende Reihen – und dies mit Recht, denn auch der Reigen des Hephaistos lo¨st sich rhythmisch auf: oR d’ bt³ l³m hq]nasjom 1pistal]moisi p|dessim Ne?a l\k’, ¢r fte tir tqow¹m %qlemom 1m pak\l,sim 2f|lemor jeqale»r peiq^setai, aU je h],sim · %kkote d’ aw hq]nasjom 1p· st_war !kk^koisim. Manchmal liefen sie leicht mit geschickten Fu¨ßen, wie wenn ein sitzender To¨pfer, das gefu¨gte Rad in den Ha¨nden, pru¨ft, ob es la¨uft; und manchmal liefen sie in Reihen aufeinander zu. (Ilias 18, 599 – 602)
Obwohl im Ganzen der Akzent auf der kreisfo¨rmigen Einheit liegt, unterbricht auch dieser Chor den Kreistanz, um sich in kriegerischen Reihen gegenu¨berzustehen: Das Wort st_wor (Reihe) hat im Griechischen auch milita¨rische Bedeutung. So wird auch auf dem Schild Achills die freie Republik zugleich geformt und zerbrochen – ihr Tanz wa¨re ein Break-Dance. *
Das Fest der freien Republik und der Festtanz ku¨nftiger Ehepartner kommen wieder zusammen in Goethes Herrmann und Dorothea (1797) – einem hexametrischen Epos, das wie die Ta¨nze Rousseaus und Hephaistos’ zugleich idyllisch und kriegerisch ist:10 Einerseits handelt es von der Verlobung Herrmanns und Dorotheas, andererseits von dem durch die Franzo¨sische Revolution ausgelo¨sten Krieg, der zu dem ersten Treffen des Paars fu¨hrt (und die Mo¨glichkeit eines stabilen Ehelebens bedroht). Der Topos des Tanzes kommt immer wieder an entscheidenden Stellen vor, skandiert also das Gedicht, so dass man ohne ¨ bertreibung behaupten ko¨nnte, Goethes Auseinandersetzung mit dem Epos sei U eine Auseinandersetzung mit einem Tanz, in dem Antike und Gegenwart zusammenkommen (sollen). Sein episches Vorbild wa¨re freilich nicht der Rhapsode Homer, dessen improvisierte, zusammengeflickte Verse oft in losen Fa¨den 10 Das Problem der Gattung wird in vielen Untersuchungen zu Herrmann und Dorothea behandelt, vgl. z. B. Schneider 2008.
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ausfransen,11 sondern der go¨ttliche Hephaistos. Und dennoch ist es wichtig zu ¨ sthetik zu Bru¨chen fu¨hrt, die eine Verbindung bemerken, dass die Goethesche A von Scho¨nheit und Abwehr, Idylle und Krieg sto¨ren – wie auch die Schmiedearbeit des Hephaistos in den Schla¨gen des Hammers und dem Einschmelzen der Metalle destruktive Zu¨ge tra¨gt. Daher konzentriert sich die folgende Lektu¨re auf die – manchmal kaum merklichen – Bru¨che in der Goetheschen Darstellung. Denn sein Gedicht reproduziert und bricht den Tanz Hephaistos’ und Rousseaus zugleich; auch sein Tanz ist ein Break-Dance. Wie auf dem Schild Achills gibt es auch in Herrmann und Dorothea zwei Sta¨dte; in der einen herrscht Frieden, in der anderen Krieg. Aber das Epos fa¨ngt nicht mit einer Darstellung dieser Gemeinschaften (geschweige ihrer Feste) an, sondern mit der Umkehrung des republikanischen Tanzes: Mit einem Flu¨chtlingszug, der die Bevo¨lkerung der linksrheinischen Stadt zum anderen, sicheren Ufer fu¨hrt. Dort wird sie von den Bu¨rgern empfangen, die ihrerseits einen Zug bilden, um den Vertriebenen Hilfe anzubieten – und sie zu besichtigen. Dabei wird – in Umkehrung des familia¨ren Staatsfestes bei Rousseau – notgedrungen auch der private Haushalt zum o¨ffentlichen Spektakel; so beschreibt der erste Zeuge des Zugs nicht die Vertriebenen selbst, sondern ihre Wagen, auf denen die verschiedensten ha¨uslichen Gegensta¨nde aufgeha¨uft wurden: Traurig war es zu sehn, die mannigfaltige Habe, Die ein Haus nur verbirgt, das wohlversehne, und die ein Guter Wirt umher an die rechten Stellen gesetzt hat, Immer bereit zum Gebrauche, denn alles ist no¨tig und nu¨tzlich; Nun zu sehen das alles, auf mancherlei Wagen und Karren ¨ bereilung geflu¨chtet. Durch einander geladen, mit U ¨ ber dem Schranke lieget das Sieb und die wollene Decke; U In dem Backtrog das Bett, und das Leintuch u¨ber dem Spiegel. (1,113 – 120)12
So verwandelt sich auf inhaltlicher Ebene der Rousseausche Tanz in Goethes Revolutionsgedicht; ein weiteres tut Goethes Darstellungsweise. Denn das Epos beginnt mit der direkten Rede von Herrmanns Vater, der selber an der Schwelle zwischen privater und o¨ffentlicher Spha¨ren sitzt – „unter dem Tore des Hauses sitzend, am Markte“ (1,20): Hab ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen! Ist doch die Stadt wie gekehrt! wie ausgestorben! Nicht funfzig, Deucht mir, blieben zuru¨ck, von allen unsern Bewohnern. Was die Neugier nicht tut! So rennt und la¨uft nun ein jeder, Um den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen. […] 11 Der Rhapsode ist im Griechischen derjenige, der zusammenflickt (N\ptei). 12 Nachweise von Zitaten aus diesem Werk (Goethe 1988b) erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe des Gesangs und der Verszeile.
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Mo¨cht’ ich mich doch nicht ru¨hren vom Platz, um zu sehen das Elend Guter fliehender Menschen […]. (1,1 – 15)
Offensichtlich kritisiert der Vater die Neugierde seiner Mitbu¨rger, die das Mo¨ sthetischen vermischt. Damit betont er auch seine eigene ralische mit dem A Blindheit; betont, wie er die Sensation des Flu¨chtlingszuges und das Leben seiner eigenen Stadt weder sieht noch sehen will. Der Vater wa¨re ein blinder Sa¨nger, wie Homer, der Vater des Epos. Nachdem die Mutter die Gu¨ter aufgeza¨hlt hat, mit denen sie ihren Sohn Herrmann zu den Vertriebenen schickte, stimmt sie ihm zu – auf eine Weise, die das ganze Gedicht abzubrechen droht: „Mo¨cht’ ich doch auch, in der Hitze, nach solchem Schauspiel so weit nicht / Laufen und leiden! Fu¨rwahr, ich habe genug am Erza¨hlten.“ (1,42 f.) Sie braucht die Flu¨chtlinge nicht zu sehen, weil ihr das Erza¨hlte reicht, sie genug daran hat; oder hat sie gar genug davon, so dass sich alles weitere Erza¨hlen eru¨brigt? Ihre Distanzierung vom Spektakel wu¨rde dann nicht nur die Rede ihres Mannes wiederholen, sondern das Epos abzubrechen drohen, das ja vom Erza¨hlen abha¨ngt. Doch ebenso nimmt das Gedicht von seinen Figuren Abstand, indem es deren Verhalten widerspru¨chlich beschreibt. Denn einige Zeilen spa¨ter ¨ ber das heißt es: „Und so saß das trauliche Paar, sich, unter dem Torweg, / U wandernde Volk mit mancher Bemerkung ergetzend.“ (1,60 f.) Und auch weitere Widerspru¨che durchziehen den Text wie Risse, worauf ich zuru¨ckkommen werde. Zuna¨chst ist jedoch wichtig, dass es sich hier nicht um einen einfachen Widerspruch handelt, der dem zuvor Gesagten einfach Abbruch tun wu¨rde. Darauf verweist das zweitha¨ufigste Verb des Sagens im Gedicht, „versetzen“ – ein Wort des Antwortens, mit dem das Gespra¨ch zugleich fortgesetzt und, distanzierend, an einen anderen Ort versetzt wird.13 So werden die einzelnen Aussagen auseinander gesetzt – und selbst die Weigerung, weiter zu erza¨hlen, kann zur Fortsetzung des Epos dienen. Ferner gibt es noch eine weitere Weise, auf die der epische und republikanische Tanz bei Goethe zugleich evoziert und abgebrochen – fortgesetzt – wird. Als na¨chstes wende ich mich jener Szene zu, wo sich Ju¨ngling und Ma¨dchen, Herrmann und Dorothea treffen – und das homerische Epitheton fu¨r die Ma¨dchen wo¨rtlich genommen wird. Genau wie die Ju¨nglinge auf dem Schild Achills mit „ochsbringenden“ Ma¨dchen tanzen, trifft Herrmann auf ein Ochsen bringendes Ma¨dchen: Als ich [Herrmann] nun meines Weges die neue Straße hinanfuhr, Fiel mir ein Wagen ins Auge, von tu¨chtigen Ba¨umen gefu¨get, Von zwei Ochsen gezogen, den gro¨ßten und sta¨rksten des Auslands, Neben her aber ging, mit starken Schritten, ein Ma¨dchen, 13 Das ha¨ufigste Aussageverb ist „sagen“. Es kommt zweimal so oft wie „versetzen“ vor. Siehe z. B. 1,32; 1,44; 1,61; 1,69; 1,78; 1,151; 1,185 (sagen); 1,22; 1,38; 1,102; 1,189 (versetzen).
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Lenkte mit langem Stabe die beiden gewaltigen Tiere, Trieb sie an und hielt sie zuru¨ck, sie leitete klu¨glich. (2,21 – 26)
Wenn Dorothea die Ochsen auch nicht wirklich besitzt, ist ihre Fa¨higkeit, Ochsen zu treiben, doch ein o¨konomischer Wert, der sie als begehrenswerte Partnerin auszeichnet. Als Herrmann ihr spa¨ter eine Stelle als Magd in seinem Haus anbietet – aus Furcht, dass sie einen Heiratsantrag ablehnen wu¨rde – begru¨ndet er sein Angebot mit ihrer offensichtlichen Sta¨rke.14 Dorotheas Ochsen sind also eine „Fortsetzung“ der ochsbringenden Ma¨dchen Hephaistos’ – die sich zugleich vom Hephaistischen Vorbild absetzt, indem das homerische Epitheton hier in ein pragmatisches und materialistisches Prinzip verwandelt wird. Die Begegnung zwischen Herrmann und Dorothea wirkt auch dadurch als Fernund Fortsetzung des hephaistischen Tanzes – ohne den Tanz, denn die Begegnung der beiden (Tanz-)Partner verdankt sich hier einem Antitanz und Antifest. Sie brechen von dem Zug der Vertriebenen und dem Zug der bu¨rgerlichen Zuschauer ab, die eine Verkehrung des rousseauschen und epischen Tanzes bilden. Deshalb ist die Zusammenkunft von Herrmann und Dorothea undenkbar ohne diese Zu¨ge und zugleich von den Zusammenku¨nften, die diese Zu¨ge bilden, grundverschieden. Von allen Zu¨gen und allen Gesellschaften brechen Herrmann und Dorothea ab; in einem Niemandsland treffen sie sich, fern von dem Tanz und der Revolution. Und wenn dieses Niemandsland auch nur voru¨bergehend existiert – sobald Herrmann und Dorothea verlobt werden, ist es nicht mehr da, wie bald gezeigt wird – la¨sst es sich mit keinem anderen Land oder Tanzplatz identifizieren. Diese Unmo¨glichkeit der Identifikation wird klarer mit einem Blick auf die anderen Ta¨nze, die in Goethes Epos vorkommen. In Herrmann und Dorothea beschreibt der Richter – einer der Vertriebenen, die die Ausbreitung der franzo¨sischen Revolution zuerst begru¨ßt haben, sie dann aber fliehen mussten – die Ankunft der Franzosen in seiner Stadt: Sie pflanzten mit Lust die munteren Ba¨ume der Freiheit, […] Hoch erfreute sich da die Jugend, sich freute das Alter, Und der muntere Tanz begann um die neue Standarte. […] […] die Hoffnung umschwebte vor unsern Augen die Ferne, Lockte die Blicke hinaus in neuero¨ffnete Bahnen. 14 Er sagt ihr : „Nun, als ich heut’ am Wagen dich sah, in froher Gewandtheit, / Sah die Sta¨rke des Arms und die volle Gesundheit der Glieder, / Als ich die Worte vernahm, die versta¨ndigen, war ich betroffen“ (7,67 – 69). Dass diese Eigenschaften auch fu¨r eine Braut wichtig sind, wird spa¨ter von Dorothea besta¨tigt, als sie Herrmann die Aufgaben einer Hausfrau und Mutter darstellt: „Dienen lerne bei Zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung, / Denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen, / Zu der verdienten Gewalt die doch ihr im Hause geho¨ret. Dienet die Schwester dem Bruder doch fru¨h, sie dienet den Eltern, / Und ihr Leben ist immer ein ewiges Gehen und Kommen, / Oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen fu¨r Andre“ (7,114 – 19).
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O, wie froh ist die Zeit, wenn mit der Braut sich der Bra¨ut’gam Schwinget im Tanze, den Tag der gewu¨nschten Verbindung erwartend! (6,24 – 35)
Das epische Echo Rousseaus klingt hier unverkennbar nach;15 hier soll der Tanz (nach dem Muster der Ehe) eine Welt der Freiheit zusammenbringen, sie binden und schu¨tzen. Dieser Tanz bezieht sich auch auf das Verha¨ltnis zwischen Deutschen und revolutiona¨ren Franzosen; sie tanzen miteinander, kommen in einen Bund zusammen, der allerdings nur die gewu¨nschte Verbindung als Erwartung und Wunsch aufstellen kann. In diesem Sinne erinnert diese Stelle auch an die Fortsetzung der Republik und der Familie, die sich in Rousseaus Text ereignet, wenn das voreheliche Tanzfest die Familie verdoppelt und durch Antizipation sowohl die Familie als auch die Republik verschiebt. Der vom Richter beschworene Tanz kann die Republik na¨mlich nicht schu¨tzen; und wenn das gefeierte, revolutiona¨re Frankreich einerseits vom Richter als „Hauptstadt der Welt“ benannt wird (6,15), ist dies zugleich die Sta¨tte, wo die Ha¨upter fallen, und wo die spa¨ter angesprochene „Zersto¨rung der Welt“ beginnt (5,97). Kurz nach dem Tanz erweisen sich die franzo¨sischen Sieger gerade nicht als Freiheitsbringer und Stifter eines neuen Staats und Festes. Wa¨hrend der Schilderung des Tanzes brechen gegenseitiger Mord, Raub, und Gewalt aus. Der Richter fa¨hrt fort: „Aber der Himmel tru¨bte sich bald. […] Sie ermordeten sich und unterdru¨ckten die neuen / Nachbarn und Bru¨der, und sandten die eigennu¨tzige Menge“ (6,40 – 43). Statt einer Zusammenkunft findet eine Auflo¨sung statt, so dass man in der Erza¨hlung des Richters Deutsche und Franzosen bald nicht mehr auseinanderhalten kann – beide werden unterschiedslos mit dem Pronomen „sie“ bezeichnet. So wird die Zusammenkunft zum Widerspruch – ein „sie“ gegen „sie;“ ein „sie“ gegen sich. Dieser Widerspruch steigert sich, wenn der Richter seine Erza¨hlung fortsetzt: Er sagt, die Franzosen ha¨tten sich auf die Flucht begeben – obwohl zuvor erza¨hlt wurde, dass es sich um Deutsche handelt. Offensichtlich ist es unmo¨glich, die Franzosen von den Deutschen zu unterscheiden; und damit wird es auch unmo¨glich, den Anfangspunkt des Goetheschen Epos zu erkla¨ren. Er ist weit entfernt von dem Reigen der Revolutiona¨re und den Reihen der Flu¨chtlinge. Allerdings wird der revolutiona¨re Tanz noch einmal an anderer Stelle fortgesetzt. In diesem Gedicht, das mit der Verlobung des Bu¨rgers Herrmann und der Vertriebenen Dorothea endet, haben Fest und Tanz noch einen anderen Sinn. Herrmanns Vater, auf den Frieden und die Verma¨hlung seines Sohnes hoffend, sagt seinen Tischgenossen, dem Apotheker und Pfarrer, im ersten Gesang des Gedichts: Mu¨de schon sind die Streiter, und alles deutet auf Frieden. Mo¨ge doch auch, wenn das Fest, das lang’ erwu¨nschte, gefeiert 15 Diese Stelle ist auch ein Echo der Feste der historischen Revolution. Vgl. Ozouf 1976.
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Wird, in unserer Kirche, die Glocke dann to¨nt zu der Orgel, Und die Trompete schmettert, das hohe Te Deum begleitend, – Mo¨ge mein Herrmann doch auch an diesem Tage, Herr Pfarrer, Mit der Braut, entschlossen, vor Euch, am Altare, sich stellen, Und das glu¨ckliche Fest, in allen Landen begangen, Auch mir ku¨nftig erscheinen, der ha¨uslichen Freuden ein Jahrstag! (1,198 – 205)
Der Vater stellt sich kein Freiheitsfest vor, das etwa die Morgenro¨te einer neu etablierten Republik anku¨ndigen wu¨rde. Im Gegenteil ist es der Ru¨ckzug der Revolutiona¨re und die Ru¨ckkehr zur traditionellen Ordnung, die als Anlass des Festes angesprochen werden. Damit kehrt sich das epische Bild des Festes selbst um: eine Revolution. Abgebrochen von einem festen Zusammenhang la¨sst sich das Fest und der Tanz als ein Bild fu¨r entgegengesetzte Ordnungen wiederholen. Fest und Tanz sind gleichgu¨ltige, kraftlose Abwehr – genauso gu¨ltig fu¨r die Revolutiona¨re wie fu¨r ihre Gegner. Sie alle tragen denselben Schild, dieselbe Schilderung vor. Als allerdings der Vater seine Hoffnung auf Herrmanns Ehe a¨ußert, benennt er als Hindernis Herrmanns Abneigung gegen den Tanz.16 Der Tanz seines Sohnes – die Vorbedingung der Ehe und des Festes – steht von Anfang an in Zweifel. Gerade deshalb bewahrheitet sich kein Versprechen des Festes oder Tanzes im Gedicht selbst. Der Tanz zu Ehren der Freiheit ist schon la¨ngst vergangen, als das Gedicht beginnt; und die erhoffte Mo¨glichkeit eines Friedens bleibt auch am Ende offen. Nur in dem Moment, in dem Herrmann sich in der Gesellschaft (der Vertriebenen) zeigt, ohne sich irgendjemandem außer Dorothea zu zeigen; nur als der Held des Gedichtes ein Ochsen bringendes Ma¨dchen trifft, ohne mit ihr an irgendeinem Tanz teilzunehmen, kommt eine andere Gemeinschaft, fu¨r die es vielleicht keinen Namen und bestimmt keinen Tanz gibt, voru¨bergehend zusammen. Selbst wenn Herrmann spa¨ter Gelegenheit bekommt, „an die Brust […] das Ma¨dchen noch vor der Verlobung“ zu dru¨cken (9,3), findet dies nicht im Rahmen eines Tanzes statt: die Zusammenkunft ist hier eher ein Zufall, denn Dorothea, die den Laubgang eines Weinbergs im Dunkeln hinabsteigt, fa¨llt: „unkundig des Steigs und der roheren Stufen, / Fehlte [sie] tretend“ (8,89 f.). Die Musik ist ein Knacken – „es knackte der Fuß, sie drohte zu fallen“ (8,90) – Herrmann streckt die Arme aus und „[h]ielt empor die Geliebte“ (8,92). Hier, als „Brust […] gesenkt an Brust und Wang’ an Wange“ [war], (8,93) folgt jedoch kein Tanz, sondern eine La¨hmung: „So stand er, / Starr wie ein Marmorbild“ (8,94). Die Zusammenkunft von Herrmann und Dorothea bleibt allerdings nicht lange außerhalb der bu¨rgerlichen, revolutiona¨ren und milita¨rischen Felder, die in Goethes Epos angesprochen werden: Am Ende, sobald Herrmann und Dorothea verlobt werden, ku¨ndigt Herrmann seine Absicht 16 Er sagt „Ja er vermeidet sogar der jungen Ma¨dchen Gesellschaft, / Und den fro¨hlichen Tanz, den alle Jugend begehret“ (1,210 f.).
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an, Deutschland und sein Eigentum (d. h. seinen Haushalt mitsamt Dorothea) im Notfall in Kriegesru¨stung zu verteidigen. Den fast spartanischen Schwur leitet er mit den Worten ein: „Du bist mein. Nun ist das Meine meiner als jemals“ (9,311) – und schreibt sich damit dem bu¨rgerlichen, nationalen Rahmen zu. Aber auch wenn der singula¨re Moment der Zusammenkunft von Herrmann und Dorothea nicht lange bestehen bleibt, gibt er einen wichtigen Hinweis fu¨r Goethes Auseinandersetzung mit dem epischen und republikanischen Tanz: Weder Fest noch Tanz finden bei Goethe tatsa¨chlich statt; der erhoffte Bund bleibt also aus, auch wenn er versprochen wird. Sogar der beschra¨nkteste Bund, der Ehebund, beginnt mit einem Bruch im wo¨rtlichsten Sinne: „es knackte der Fuß.“ Wenn der letzte Augenblick eines mo¨glichen Tanzes – eines mo¨glichen Epos, eines mo¨glichen Festes im Sinne Rousseaus – hier mit dem Knacken des Fußes bricht, stellt sich die Frage, inwiefern auch die epischen Fu¨ße des Gedichts, die Hexameter, die alles zum Ganzen verbinden sollen, an diesem Knacken teilhaben. Als der ju¨ngere Johann Heinrich Voß Goethe einen unregelma¨ßigen, na¨mlich siebenfu¨ßigen Hexameter aus dem zweiten Gesang in Herrmann und Dorothea vorwirft, antwortet Goethe: „Diese siebenfu¨ßige Bestie mo¨ge als Wahrzeichen stehen bleiben!“17 Ein unregelma¨ßiger Vers, der die Form des antiken Hexameters bricht und fortsetzt, soll also als Wahrzeichen dienen. Im modernen Epos scheint es, der Fuß mu¨sse brechen bzw. knacken du¨rfen. Ferner, da Daktylen (auch nach Voßens strengsten Regeln) mit Trocha¨en frei vertauscht werden du¨rfen, stro¨mt im modernen Epos der Rhythmus nicht so fort, wie der gleichgewogene Hexameter Homers; er stockt und schleppt sich ungleich weiter. Wie der hinkende Hephaistos selber – und nicht wie seine Reigenta¨nzer. Man ko¨nnte also das Knacken der Fu¨ße als „Wahrzeichen“ fu¨r Hephaistos ansehen; was heißen wu¨rde, dass das Gedicht nicht so sehr versucht, ein Epos zu sein, als sich dem hinkenden, epischen Gott zu na¨hern und statt der epischen Welt die epische Werkstatt zu o¨ffnen. In einem Brief an Johann Heinrich Meyer besta¨tigt Goethe diese Deutung, indem er sein Projekt zum Teil in eine hephaistische Werkstatt versetzt und die dichterische Arbeit mit der Bearbeitung des Metalls vergleicht – also der Materie des Hephaistos. „Ich habe das rein menschliche der Existenz einer kleinen deutschen Stadt in dem epischen Tiegel von seinen Schlacken abzuscheiden gesucht, und zugleich die großen Bewegungen und Vera¨nderungen des Welttheaters aus einem kleinen Spiegel zuru¨ck zu werfen getrachtet.“18 Mit diesem Vergleich erscheint die Arbeit des epischen Dichters nicht mehr als Erschaffung eines Ganzen, sondern als Abscheiden und 17 Brief von Johann Wolfgang Goethe an Johann Heinrich Meyer v. 05. 12. 1796 (Goethe 1988a, S. 1085). 18 Ebd.
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Trennen; oder genauer noch: das epische Werk selbst ist abscheidend, trennend – eine Werkstatt. Denn der epische Hexameter unterscheidet den Rhythmus des Gedichts von der allta¨glichen Prosa; die epischen Epitheta sondern die „versta¨ndige Mutter“ und den „trefflichen Vater“ zugleich von allgemeinen Nomen und singula¨ren Eigennamen; und vor allem das „ochsbringende“ Ma¨dchen und der Tanz erfu¨llen die scheidende Funktion eines Tiegels, lassen sich nicht zu einem Ganzen fu¨gen. Sie sind Werkzeuge – nicht eines hephaistischen oder rousseauschen Tanzes, sondern eines Break-Dance. Was bedeutet dieser Befund fu¨r das patriotische Ende des Goetheschen Epos, dessen Ton sich ebenso plo¨tzlich zum Milita¨rischen wendet wie Rousseaus Lettre a` d’Alembert nach Sparta? Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Goethes poetologische Aussage sich auf Funktionen und Operationen beschra¨nkt, deren Materie offensichtlich gleichgu¨ltig ist. Offensichtlich kann das Goethesche Epos jegliche, auch widerspru¨chliche Materie in den „epischen Tiegel“ werfen. Das bedeutet, dass es keine notwendige Grenze des Werkes ga¨be, sondern nur Fernsetzungen, Fortsetzungen – und endlich einen Abbruch. Die letzten Worte Herrmanns wa¨ren dann kein endgu¨ltiger Schluss, sondern ein weiteres, widersprechendes Fragment der Werkstatt. Und tatsa¨chlich widerspricht die Aussage des Bu¨rgers Herrmann der unmittelbar vorhergehenden Aussage Dorotheas, die eine Rede ihres fru¨heren, in Paris geto¨teten Verlobten, wiedergibt. Wa¨hrend Herrmann seinen Besitz verteidigen mo¨chte – „Nun ist das Meine meiner als jemals“ – hat Dorotheas fru¨herer Verlobter sie gewarnt, sich auf Besitz zu verlassen: „alle Gu¨ter sind tru¨glich.“ Solche widerspru¨chlichen Nebeneinanderstellungen sind fu¨r Goethes Epos geradezu typisch: Dorothea wird den Ring Herrmanns neben dem Ring ihres ehemaligen Verlobten tragen. Zuvor hat die Mutter, wie oben erwa¨hnt, das Erza¨hlen abgebrochen, nur um es noch weiterzufu¨hren; der Vater wu¨nscht sich die Niederlage der Franzosen – und stellt diese zugleich als ein revolutiona¨res, voreheliches Tanzfest vor. Weil solche Widerspru¨che – fernsetzende Fortsetzungen – zu zahlreich sind, um sie hier vollsta¨ndig aufzuza¨hlen, beschra¨nke ich mich auf einen, der fu¨r den Text bestimmend ist. Als die Mutter die Absicht Herrmanns lobt, ein Ma¨dchen zu wa¨hlen, sagt sie ihm: „Darum lob’ ich dich Herrmann, daß du mit reinem Vertrauen / Auch ein Ma¨dchen dir denkst in diesen traurigen Zeiten, / Und es wagtest zu frein im Krieg und u¨ber den Tru¨mmern“ (3,155 – 157). Obwohl ihre Familie in der Stadt wohnt, die vom Krieg relativ unberu¨hrt geblieben ist,19 stellt sie die epische Welt als zertru¨mmert 19 Die Revolutiona¨re sind noch nicht auf diese Seite des Rheins gekommen, aber viele junge Ma¨nner sind pflichtma¨ßig in das Milita¨r eingezogen, wie Herrmann am Anfang berichtet. Er ist nur davon „entschuldigt“, weil er „der einzige Sohn“ in der Familie und „die Wirtschaft […] groß“ ist (4,91 f.).
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dar – und widerspricht so der ganzen Welt des Epos. Aber es sind gerade diese Tru¨mmer, die das Vertrauen reinigen, weil sich „u¨ber Tru¨mmern“ kein Gewinn, ¨ ber den kein Verlust, kein Versprechen und kein Kalku¨l machen la¨sst. „U Tru¨mmern“ entginge Herrmann – wenn auch nur voru¨bergehend – jedem System von Werten und Erwartungen, das seinem Vertrauen einen positiven Inhalt verleihen ko¨nnte. Ein solches „reines Vertrauen“ (3,155) wu¨rde die zufa¨llige Zusammenkunft von Herrmann und Dorothea auszeichnen, die von keiner gesellschaftlichen Ordnung – sei sie revolutiona¨r oder bu¨rgerlich – bestimmt und daher unberechenbar ist; es wa¨re das Vertrauen, Dorothea als Geschenk (d_qom) Gottes (he|r) anzunehmen. Ein reines Abbrechen von den Ta¨nzen der Gesellschaft, des Krieges und sogar der Waren wa¨re die Bedingung eines reinen Bundes, oder genauer gesagt: eines „reinen Vertrauens“ (3,155), das frei von jedem gesellschaftlichen und privaten Bund bleibt. Solch einem Vertrauen und solch einem Abbruch widerspricht Herrmanns Rede von Eigentum und Besitz am Abend seiner Verlobung. Kurz nach seinem Aufbruch von dem Haus seines Vaters und ihrem Abbruch von dem Zug der Vertriebenen werden die widerstreitenden Systeme wieder fortgesetzt – aber nicht ohne diese wichtige, allerku¨rzeste Fernsetzung ihres Treffens. Sowohl die Tru¨mmer wie auch die erste Zusammenkunft von Herrmann und Dorothea sind aber Ereignisse und keine Zusta¨nde. Goethes Herrmann und Dorothea ist ein blendender, verwirrender (weil gebrochener) Spiegel einer deutschen Kleinstadt; ein epischer Tiegel, der den Stoff formt und dabei zerbricht; ein a¨sthetischer Prozess, dessen Scho¨nheit keine Abwehr leistet – um ein einziges Moment des Vertrauens auszusprechen und aufzulo¨sen. Vielleicht sind die Zeilen des Goetheschen Textes selber Tru¨mmer, damit dies Vertrauen – voru¨bergehend – gedacht werden kann, ehe alles in den Tanz zuru¨ckfindet; ehe die Jugend in die Ehe eintritt und ehe der Reigen der Zusammenkunft in die Reihen eines Revolutionsheers und Flu¨chtlingszuges zerbricht. Gewiss setzt Goethes Break-Dance den anderen Ta¨nzen kein endgu¨ltiges Ende. Aber er wirft die Frage auf, ob und wie sich eine Freiheit, die sich von der ‚freien Republik‘ sowie den revolutiona¨ren, konservativen, o¨ffentlichen und privaten Spha¨ren unterscheidet, bewegen ko¨nnte.
Literaturverzeichnis Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris 1967. Fittschen, Klaus: Der Schild des Achilleus. Go¨ttingen 1973. Goethe, Johann Wolfgang: Sa¨mtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Mu¨nchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Go¨pfert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder. Bd. 4,1: Wirkungen der Franzo¨sischen Revolution, 1791 – 1797 I. Hg. v. Reiner Wild. Mu¨nchen 1988. [= Goethe 1988a]
Break-Dance. (Ein Schritt von Homer und Rousseau zu Goethe)
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Ders.: Herrmann und Dorothea [1797], in: Goethe, Johann Wolfgang: Sa¨mtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 4,1, S. 551 – 629. [= Goethe 1988b] Homer : Ilias, in: Homeri Opera. Hg. v. David B. Monro u. Thomas W. Allen. Bd. 1 – 2. Oxford 31920. Hubbard, Thomas K.: „Nature and Art in the Shield of Achilles“, in: Arion 1992/2, S. 16 – 41. ¨ ber den Grund ekphrasti¨ newald, Maria: „Der Sa¨nger im Schild – oder : U Moog-Gru schen Schreibens“, in: Dru¨gh, Heinz J. / Moog-Gru¨newald, Maria (Hg.): Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder. Heidelberg 2001, S. 1 – 19. Ozouf, Mona: La feˆte re´volutionnaire, 1789 – 1799. Paris 1976. Rousseau, Jean-Jacques: J. J. Rousseau Citoyen de Gene`ve, a` M. d’Alembert […] [1758], in: Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres Comple`tes. E´d. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. T. 5: E´crits sur la musique, la langue et le the´aˆtre. Paris 1995, S. 1 – 125. Schneider, Helmut: „Archaik und Moderne. Goethes Formexperiment Herrmann und Dorothea“, in: Zeitschrift fu¨r deutschsprachige Kultur & Literaturen 2008/17, S. 7 – 35. Starobinski, Jean: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Paris 1957.
Alexander Nebrig
Die Welt als Lied. Der globale Anspruch von Herders Volksliedern
Sie ist dahin! jene blu¨hende Zeit, da der kleine Kreis unserer Urva¨ter, um die Patriarchen, wie Kinder um ihre Eltern wohnten: jenes Alter, in dem, nach der einfa¨ltigerhabnen Nachricht unsrer Offenbarung alle Welt nur eine Zunge und Sprache war.1
Die weltliterarische Deutung der von Herder begru¨ndeten Gattung des Volksliedes, wie sie im Folgenden vorgenommen wird, ist nicht deckungsgleich mit der Wirkungsgeschichte des Volksliedes. Der globale Anspruch wurde rasch verdra¨ngt. Dieser wa¨re offensichtlicher geblieben, wa¨re nicht der Volksbegriff seiner Mittlerfunktion im Dienste der Menschheit, die Herder auch Humanita¨t nannte, entledigt worden. Der Begriff also, mit dem Herder seine neue, integrative Liedgattung etablieren wollte, das Volk, entzog sich bereits dem Verfasser ¨ berarbeitung sichtbar wird, selbst permanent,2 was an der steten begrifflichen U und wurde von der auf ihn folgenden und sich auf ihn berufenden philologischen Praxis benutzt, um nationale Eigentu¨mlichkeiten zu legitimieren, nicht um sie zu u¨berwinden.3 Dass der „universale Ansatz Kants“, bei dem Herder zwischen 1762 und 1764 in Ko¨nigsberg anthropologische Vorlesungen geho¨rt 1 Johann Gottfried Herders Rede fu¨r die Rigaer Domschule „Ueber den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen“ erschien zuerst in: Gelehrte Beytra¨ge zu den Rigischen Anzeigen aufs Jahr 1764, XXIV. Stu¨ck, und wird hier nach der Handschrift der Schulrede zitiert: Herder 1985, S. 22. 2 Herders zirkula¨re Bewegung von Begriffsaneignung und Begriffsablehnung hat nachge¨ brigen liest Lugowski Herders Bemu¨hungen um das Volkslied zeichnet Lugowski 1938. Im U als den Versuch, eine nationale, d. h. deutsche Zukunft wiederzugewinnen, geho¨rt also unmissversta¨ndlich und zeitbedingt der Traditionslinie an, die Herders globalen Anspruch nicht wahrnehmen wollte, wohlwissend, dass Herder „keineswegs nur von deutschen Liedern“ (Lugowski 1938, S. 274; Hervorhebung im Original) spricht: „Er fragt nicht zuerst theoretisch nach der Deutschheit einer Haltung. Er fragt: wie muß ich sprechen, um recht zu sprechen? Das ist ihm unlo¨sbar von der anderen Frage: wie muß ich leben, um recht zu leben? Seine Antwort ist fu¨r ihn fraglos immer die eines Deutschen.“ 3 Dieser Ambivalenz (in Anlehnung an Muthu 2003, S. 211) widmet sich zuletzt Kohns 2008, bes. S. 203 f., allerdings ohne auf das Volkslied-Projekt einzugehen.
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hatte, Herder „zeitlebens gepra¨gt“4 hat, ist ein literaturgeschichtlicher Gemeinplatz, und doch ist kaum ein Autor so in den Dienst des Nationalen eingespannt worden wie Herder. Was die philologische Praxis des neunzehnten Jahrhunderts zu Tage fo¨rderte, sollte die Abgrenzung der Nationen und Kulturen zementieren, weshalb von einer Verkehrung des urspru¨nglich universalen Anspruchs Herders gesprochen werden kann. Das allgemeine methodische Paradigma in den philologischen Wissenschaften, in welchem das Volkslied wie auch das Nationalepos aufgingen, zielte auf Distinktion und eben nicht wie heutzutage auf Integration und kulturellen Ausgleich. Gleichwohl zeigte die Volksliedphilologie, die eng verbunden mit der neuphilologischen Disziplinbildung verschiedener nationaler Wissenschaftskulturen war, notgedrungen komparatistische Bemu¨hungen, aber eine systematische Aufwertung Herders als Komparatisten setzte erst spa¨t mit Viktor M. Zˇirmunskij (1891 – 1971) ein. Diese Doppelcodierung von Herders Autorschaft als Fu¨rsprecher des Universalen und des Nationalen entspricht der geistesgeschichtlichen Konstellation der Aufkla¨rung, welche beide Denkfiguren als Seiten derselben Medaille in Umlauf brachte,5 indem sie den alten humanistisch-gelehrten Universalismus der Renaissance verabschiedete, dem nationalen Denken Freira¨ume ero¨ffnend, und zugleich die Anthropologie als neue Verbindungsgro¨ße setzte, die einen neuen Universalismus ermo¨glichte. Ein Mittel Herders, um eine globale Perspektive auf die Poesie zu gewinnen, ist das Volkslied und gerade nicht die (scho¨ne) Literatur, weil durch sie eben nur wenige Schriftkulturen miteinander den Raum einer ‚Weltliteratur‘ ausmachen wu¨rden. Das Volkslied als Ort auf dem Globus der Poesie ist dagegen universaler gefasst, indem es die mu¨ndliche und die schriftsprachlich basierte Poesie als Einheit begreift. Der politische Zweck, welcher der Nobilitierung von Kulturen innewohnt, die von der literarischen Kritik ausgeschlossen waren, besteht darin, ¨ berlegenheit der dass Herder mit der Aufwertung zugleich die zivilisatorische U europa¨ischen, von der Antike gepra¨gten Kultur fu¨r nichtig erkla¨rt. Denn als Schriftkultur ist diese nicht etwa u¨berlegen, sondern hat sich nur von der Muttersprache der Menschheit, als welche Herder die Poesie versteht, entfremdet. Die Poesie ist keine Form, sondern ein universales Vermo¨gen, das im Volkslied erfahrbar wird. Sie besitzt performativen Charakter, ihre Schriftlichkeit ist nur Notbehelf, aber nicht Voraussetzung wie fu¨r die Literatur, die gesteuert wird von Prozessen der literarischen Tradierung und Bildung und Teil einer institutionellen Praxis ist. Herder akzentuiert jedoch nicht den kulturellen 4 Jørgensen / Bohnen / Øhrgaard 1990, S. 363. – Zu Herders hochwertigen, weil einzigartigen Notizen zu Kants Vorlesungen zwischen 1762 und 1764 vgl. Suphan 1873; Martin 1936; Irmscher 1964. 5 Vgl. Krauss 1965 und daran anknu¨pfend Kelletat 1984, bes. S. 11.
Die Welt als Lied. Der globale Anspruch von Herders Volksliedern
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Regress, verfolgt also keinen reaktiona¨ren Anspruch, sondern vielmehr einen progressiven und integrativen, wenn er die prinzipielle Egalita¨t zwischen den Kulturen auf dem Gebiet der Poesie betont. Das Nicht-mehr wird in ein Nochnicht gewendet. Die Idee der Welt als Lied formuliert Herder im vierten Buch des nicht publizierten Vorla¨uferprojekts der Alten Volkslieder. Aus der Aporie, in welche die scho¨ne Literatur als Teil der Letternkultur geraten war,6 sieht er nur einen ¨ berschrift lautet. Die Ausweg: den Ausweg zu Liedern fremder Vo¨lker, wie die U Begru¨ndung dafu¨r ergibt sich aus den epistemologischen Vera¨nderungen, die durch die Reiseliteratur herbeigefu¨hrt worden waren: Daß wir mehr Vo¨lker des Erdbodens kennen, als die Alten kannten; ist Vorzug unsrer Zeit, und wie man sie auch kennen gelernt? was sie oder wir sonst dabei verloren? die Kenntnis selbst, die daher aufgekeimt, ist gut: die Karte der Menschheit ist ungeheur verbreitet. Was war Erdkunde unter Griechen und Ro¨mern? und was ist sie jetzt.7
Nur erkennt Herder den entscheidenden Mangel dieser Reiseberichte: Sie zeigen Menschen von außen, bisweilen fratzenhaft, als Kuriosita¨ten, aber nicht als Menschen und Bru¨der, die Seele, Empfindung und Sprache haben. Nur im Lied lasse sich aber hiervon Zeugnis ablegen: Uns treues Abbild ihrer Denkart, Empfindungen, Seelengestalt, Sprache, nicht durch fremdes Gewa¨sch, wie jedem durchjagenden Europa¨ernarren etwa der Kopf steht, sondern in eignen treuen Merkmalen und Proben geben – Wir sind bei ihren Liedern!8
Herders Anthologie, die 1778 und 1779 in zwei Ba¨nden unter dem Titel Volkslieder anonym in Leipzig erschien und in zehnja¨hriger Vorarbeit konzipiert worden war, versammelt Texte aus Kulturra¨umen bzw. Literaturen, die bis zu diesem Zeitpunkt miteinander wohl kaum vereint und schon gar nicht egalita¨r bewertet worden wa¨ren. Oden der Sappho, ein Hochzeitsgedicht Catulls neben Liedern und Szenen aus Shakespeares Dramen, Litauisches und Estnisches neben Su¨dslavischem und Wendischem, englische und schottische Balladen neben spanischen Romanzen, Gongo´ra neben deutschen Kriegs- und franzo¨sischen Liebesliedern. Wenn nicht die ganze Welt vertreten ist, dann hat das pragmatische Gru¨nde, die an die schwierige Quellensituation Herders erinnern, Lieder aus Sprachen zu versammeln, fu¨r die entweder keine gedruckten Zeug¨ bersetzungen oder greifbare Exemplare existierten. Wenig wa¨re nisse oder U daher gewonnen, wollte man fragen, warum bestimmte Literaturen innerhalb
6 Hierzu Grimm 1998, S. 307 – 330. 7 Herder 1990, S. 59 [Hervorhebung im Original]. 8 Ebd., S. 60 [Hervorhebung im Original].
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dieser neuartigen, anthropologisch fundierten,9 Menschheit und Poesie korrelierenden ‚Blumenlese‘ fehlten. Der integrative, die Partikularita¨t u¨berwindende Anspruch dieser AnthropoAnthologie kommt in dem vorangestellten Motto aus dem Sachsenspiegel zur Sprache, wo der Chronist fragt: „Wer ku¨nnt bringen an Einen Sinn, / Die da Gott gescheiden hat, / der wa¨r nu¨tzer, dann ich bin.“10 Nun ist es nicht verwunderlich, ¨ berwindung der poetischen Sprachenvielfalt dass der Theologe Herder die U biblisch zu legitimieren sucht, indem er auf die babylonische Sprachverwirrung anspielt. Doch abgesehen von dem biblischen Topos verfolgt Herder ein genuin dichterisches Projekt, weil er als die adamitische Ursprache die Poesie erkannt hatte. Mit der Akzentverschiebung von der theologischen auf die poetologische Reflexion findet auch eine geschlechtliche Verschiebung vom ma¨nnlichen zum weiblichen Prinzip statt. Nicht ist Herder auf der Suche nach der adamitischen Ursprache, sondern nach der Muttersprache des Menschengeschlechts. In dieser Akzentverschiebung liegt das fu¨r das 18. Jahrhundert noch Skandalo¨se des Satzes, Poesie sei die Muttersprache des Menschengeschlechts. Die Suche nach der neuen Einheitssprache hat als erster Dichter der Neuzeit Dante in De vulgari eloquentia aufgenommen, und so lassen sich denn auch ¨ hnlichkeiten zu Herders Projekt erkennen. Beide Autoren sind auf strukturelle A der Suche nach einer Sprache, die sich von der auf Ku¨nstlichkeit und Grammatik basierenden Literatursprache ihrer Zeit abgrenzen soll und als deren sprachlicher Tra¨ger ein Volk angenommen wird,11 also nicht mehr nur die Gemeinschaft der literarisch Gebildeten. Das Konzept ist jedem Naturalismus abgeneigt, und es geht nicht darum, eine besondere sprachliche Realita¨t zu nobilitieren – bei Dante nicht einen der verschiedenen Dialekte, bei Herder nicht die Sprache des ‚Po¨bels‘. Gesucht wird vielmehr nach einer Sprache, die noch gar nicht existiert bzw., bei Herder, die schon existiert hat, nun aber verschu¨ttet ist und restituiert werden muss. Dante hat dafu¨r das Bild des Panthers gefunden, den er durch den Wald der italienischen Dialekte jagt und fangen will.12 Es ist ein utopischer Entwurf in die Zukunft, der, eng verknu¨pft mit Gemeinschaftskonzepten, im ¨ ber die neue Sprache der Poesie lassen sich neue hohen Grade politisch ist. U Gemeinschaften stiften, was bei Herder die nationalistische Fehldeutung impliziert, ein besonderes Volk ko¨nne tatsa¨chlich Tra¨ger des ‚Volksliedes‘ sein, das Herder in seiner Sammlung entwirft. In diesem Punkt scheiden sich auch die Auffassungen der Weltbu¨rger Herder
9 Die Parallelita¨t des Volksliedprojekts zu Herders politisch-anthropologischem Universalismus betont Kelletat 1984, S. 120. 10 Herder 1990, S. 15 und 70. 11 Zum Topos der kollektiven Autorschaft bei Herder vgl. Deiters 2002. 12 Dante 2011, S. 15.
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und Dante.13 Denn obgleich der exilierte und damit heimatlose Dante die Literatur als neue politische Heimat sich denkt und damit die Vision einer Weltliteratur formuliert, zielt seine Konzeption des vulgare auf das Italienische als Sprache ab, sie ist also keine literarische Gattung wie bei Herder, der einen ganz anderen historischen Standpunkt hat – den der Aufkla¨rung. Eigentlicher Tra¨ger des von Herder geschaffenen Volksliedes ist nicht die politische Einheit eines besonderen Raumes, sondern die Menschheit und der ihr zugeho¨rige Raum der ganzen Welt. Die weltliterarische Bedeutung der Gattung des Volksliedes korreliert mit einem anthropologisch universalen Versta¨ndnis der anthologischen Unternehmung. Das anthropologisch ausgerichtete ‚Volk‘ meint in den Volksliedern ein gattungsa¨sthetisches Kriterium, das Heterogenita¨t im Zeichen der Natu¨rlichkeit und der Urspru¨nglichkeit aufhebt und Vergleichbarkeit erzeugt. Ein solches Kriterium gewinnt seine Energie aus der Frontstellung gegen eine Literatur als ars, welche nur u¨ber die philologisch-grammatische Kenntnis der jeweiligen Literatursprache erschließbar ist und ein auf Schriftlichkeit reduziertes Menschenbild hat. Notwendig fu¨r das Konzept der ‚Volkspoesie‘ und ihre ¨ bersetzung. Das Volkslied generiert als Kleinform des ‚Volksliedes‘ wird die U Gattung im besten Sinne Texte, die von historischer und kultureller Fremdheit ¨ berlieferungszusammenhang befreit sowie von ihrem schriftlich tradierten U sind, indem sie der von den Gesetzen der Volksliedgattung konditionierten Schrift aufbu¨rden, Mu¨ndlichkeit, Sinnlichkeit und kulturelle Alterita¨t zu simulieren.14 Die Literarisierung der Poesie, die in der Renaissance begann,15 tra¨gt ihre eigene Kritik in sich, und so muss in der anthropologischen Aufkla¨rungsepoche, die die Sinnlichkeit des Menschen als universale Qualita¨t wieder betont,16 auch die Entfremdung vom Ursprung sichtbar werden, welche die Schrift in die Welt der Poesie gebracht hatte. Die Literatur ist die eigentliche babylonische Sprachverwirrung. Das Bedu¨rfnis nach poetischen Ausdrucksweisen, fu¨r die der Text nicht mehr Zentrum ist oder die ga¨nzlich auf ihn verzichten, steigt mit dem 13 Vgl. Dante 2011, S. 92: Dantes Hinweis in De vulgari eloquentia I, Buch vi, 3: „Nos autem, cui mundus est patria velut piscibus equor“. 14 Zur Simulation von Mu¨ndlichkeit siehe Deiters 2002, S. 196 – 199. 15 Foucault 1974, S. 70, sieht „das Auftauchen einer Literatur, die nicht mehr fu¨r die Stimme oder fu¨r die Auffu¨hrung geschaffen war, noch von ihnen bestimmt wurde“, in der Renaissance. 16 Vgl. Herder 1773, S. 46: „Da die Gedichte der alten, und wilden Vo¨lker so sehr aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne, und der Einbildung entstehen, und doch so viel Wu¨rfe, so viel Spru¨nge haben: so hat mich dies la¨ngst, aus vielen Wahrnehmungen, auf die Gedanken gebracht, die ich Ihnen hier mittheile. Zuerst, sollten also wohl fu¨r den sinnlichen Verstand, und die Einbildung, also fu¨r die Seele des Volks, die doch nur fast sinnlicher Verstand und Einbildung ist, dergleichen lebhafte Spru¨nge, Wu¨rfe, Wendungen, wie Sies nennen wollen, so eine fremde bo¨hmische Sache seyn, als uns die Gelehrten und Kunstrichter beibringen wollen?“
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Grad der literarischen Bildung, und das Selbstbewusstsein, einer Spa¨tkultur anzugeho¨ren, besta¨rkt den Drang, zu den Urspru¨ngen zu gehen, und fu¨hrt zu jener vielbeschriebenen Schriftskepsis.17 Paradoxerweise ist aber der Ursprung nur im Sekunda¨rmedium der Schrift erfahrbar. ¨ bersetzung mo¨gliche Gattung des Volksliedes wird zum Medium Die nur als U der Raumaneignung und der Welteroberung. Herder versteht dabei die Vo¨lker nicht als teilend, sondern als fu¨r die Menschheit integrativ. Welt kann nur u¨ber ihre Vo¨lker erfahrbar werden, der Raum der Menschheit nur aus seinen kulturellen und sprachlichen Grenzen, die Raumkonzeption ist relational bzw. differentiell. Mit dieser Neigung zum Ra¨umlichen korreliert ein Entzug des Zeitlichen. Auch wenn am Schluss des zweiten Bandes Herder von der ‚Schwindel erregenden‘ Lektu¨re abra¨t, die Sammlung „in Einem Atem fortzulesen“,18 und stattdessen empfiehlt, „jedes Stu¨ck an seiner Stelle und Ort“19 zu betrachten, ist das kein Pla¨doyer fu¨r eine historisierende Lektu¨re. Denn potentiell zeugen alle versammelten Texte von der universal anthropologischen Sprechsituation, aus welcher Poesie entsteht. Herder geht u¨ber seine beiden zeitgeno¨ssischen Vorbilder Thomas Percy und Jean Monnet, die 1765 ihre Sammlung jeweils national und historisch fokussierten, hinaus. Reliques of Ancient Poetry bzw. Anthologie Franc¸oise, ou chansons choisies, depuis le 13e sie`cle jusqu’a` pre´sent sind ra¨umlich indifferent, insofern in ihnen der Raum unsichtbar bleibt bzw. nicht problematisiert ist. Es geht nicht um poetischen Raumgewinn, sondern um Zeitgewinn. Die Tilgung des zeitlichen Moments in Herders Sammlung zeigt sich nicht bloß in der antiphilologischen Ordnung der Sammlung, die ihre Stu¨cke von der ¨ berwindung des MusiKommentarbedu¨rftigkeit befreit, sondern auch in der U ¨ bersetzung, trotz der kalischen. Denn trotz Herders Insistieren auf den Ton der U oralen Metaphorik, die Rede in Gesang und das Lesen in Ho¨ren verwandelt, bleiben seine Volkslieder zu lesen und eben nicht zu singen. Da, wo Herder Angaben zur Melodie macht, wird er vage.20 Monnet etwa gab den versammelten franzo¨sischen chansons Notenschemata bei. In Sammlungen, wo dies aus drucktechnischen, rezeptionsa¨sthetischen oder schlicht finanziellen Gru¨nden ausgeschlossen ist, besteht weiterhin die Mo¨glichkeit, die ‚Sing-Weise‘ anzuge17 Vgl. Mainberger 1997. Vgl. auch Deiters 2002, S. 182: „zum Genialita¨tsparadigma geho¨rt als komplementa¨rer Pol wesentlich die Orientierung auf eine Spha¨re, die im Horizont des Gelehrsamkeitsparadigmas außerhalb des Blickfeldes geblieben war: jene des aliteralen Volks ¨ hnlich Meyer-Kalkus 2001, S. 58. ¨ berlieferung.“ A und der mu¨ndlichen U 18 Herder 1990, S. 427. 19 Ebd. 20 Vgl. die Anmerkung zum ersten Lied der Volkslieder (Herder 1990, S. 217): „Aus dem Munde des Volks in Elsaß. Die Melodie ist traurig und ru¨hrend; an Einfalt beinah ein Kirchengesang.“ Es handelt sich um eines der von Goethe aufgezeichneten Lieder.
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ben.21 Bei diesem Verfahren erhalten verschiedene Texte dieselben Weisen, und es wird vorausgesetzt, dass der Leser die angegebene Weise kennt. „Allen diesen Liedern“, so Herder in der Vorrede zum zweiten Band, „sind ihre Weisen genannt, und diese abermals Titel sehr bekannter Volkslieder : ja meistens hat das neue Lied ganz den Ton des vorhergehenden, d. i. seine Weise.“22 Die Behauptung von Herders Amusikalita¨t steht seiner eigenen Emphase auf ‚Weise‘ und ‚Ton‘ zwar entgegen, aber bei genauerer Betrachtung wird man zugeben mu¨ssen, dass es sich um eine metaphorische Verwendung des Ausdrucks ‚Weise‘ handelt, um den Text zu verlebendigen, aus den Grenzen der Schrift im Moment der Lektu¨re zu befreien: „Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gema¨lde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen ko¨nnte.“23 So entsteht die paradoxe Situation, dass die Schrift alles unternimmt, ihre Distanz zum Ethos des Liedes zu u¨berwinden, in Wirklichkeit aber die Distanz nicht gro¨ßer sein ko¨nnte, denn die ra¨umliche Schrift wird zur Vermittlerin der zeitlichen sowie kulturellen Differenz und der Musikalita¨t des Liedes. Der Satz „Lied muß geho¨rt werden, nicht gesehen“,24 verkennt, dass Herders Volkslieder tatsa¨chlich fu¨r nichts weniger geschaffen sind als fu¨r das Auge eines hermeneutisch geschulten Lesers. Genau genommen hat Herder nicht notwendig ein akustisches Pha¨nomen im Sinn, sondern ein inneres Ohr : „geho¨rt mit dem Ohr der Seele, das nicht einzelne Sylben allein za¨hlt und mißt und wa¨get, sondern auf Fortklang horcht und in ihm fortschwimmet.“25 Zu dieser distanzierten Einstellung Herders gegenu¨ber der eigentlichen Musikalita¨t und Mu¨ndlichkeit des Liedes passt, dass er kaum Gesa¨nge transkribiert hat, sondern in der Regel auf Textquellen zuru¨ckging. Es war sein Schu¨ler Goethe, der ihm in Straßburg wirkliche Lieder aus dem Elsass besorgte. Herder erzeugt, worauf hier nochmals hinzuweisen ist, seine Welt vor¨ bersetzung. Interpunktion, Metaphorik, Titelhermeneutik nehmlich in der U ¨ werden in der Ubersetzungsform, die von einer unverkennbaren „Indifferenz gegenu¨ber der Form der Originale“26 gepra¨gt ist, synthetisiert und qua Einfu¨hlungshermeneutik legitimiert.27 Sie bildet die eigentliche Transferleistung, 21 Ein Beispiel dafu¨r ist die von Herder benutzte Anthologie von Paul von der Aelst: Blumm und Außbund Allerhandt Außerlesener Weltlicher, Zu¨chtiger Lieder und Rheymen […]. Deventer 1602. Ein Exemplar liegt in der Bayerischen Staatsbibliothek {4 L.sel.I 6 – 14}. 22 Herder 1990, S. 237. 23 Ebd., S. 246. 24 Ebd., S. 247. 25 Ebd. ¨ bersetzungstheorie und 26 Kelletat 1984, S. 48. Kelletat rekonstruiert in Kapitel II Herders U -praxis. 27 Zu Herders Hermeneutik siehe Herz 1997.
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u¨ber welche die Grenzen der Zeitlichkeit aufgehoben werden ko¨nnen. Eine historisch-philologisch korrekte Anthologisierung ha¨tte die massiven Eingriffe ¨ bersetzung entstehen, vermerkt oder aber und Vera¨nderungen, die durch die U gleich das Original gedruckt. Herder dagegen will enthistorisieren,28 um Weltraum zu gewinnen. Dafu¨r aber muss er einen stabilen und in sich koha¨renten Textraum schaffen. Nicht mehr die Welt eines Dichters oder eines Volkes, sondern die Welt der gesamten Menschheit gilt es, lesbar zu machen. Der Herausgeber der zweiten Auflage von 1807, die Herder nicht mehr erlebte, hat daher treffend den Titel Stimmen der Vo¨lker in Liedern gewa¨hlt. Fu¨r diese gewaltige Aufgabe, die Stimmen der Menschheit ho¨rbar zu machen, wird der ethopoetische Ansatz Herders wirksam.29 Denn sein Ausgangspunkt ist noch der rhetorische, dass sich der Charakter, die Seele oder der Geist eines Autors oder eines Volkes in der Rede artikuliere. Man kann in den Geist eines Autors u¨ber seine Poesie vordringen wie in den Charakter eines Menschen, denn u¨ber die Reden artikuliert sich erst, wonach einer strebt, d. h. was seine Sitte, seine Gewohn¨ bertragen auf die Volkslieder der Menschheit heiten und seine Bra¨uche sind. U bedeutet das, dass sie eine Schlu¨sselbedeutung fu¨r den Geist der Menschheit besitzen. An diesem Punkt ist es geboten, vom Gegenstand auf seinen Autor zuru¨ckzugehen, um die Fiktion zu durchschauen, die Herder ersinnt. Denn die Volkslieder sind aufgrund ihres wissenschaftlich mangelhaften Erscheinungsbildes nicht so sehr poetischer Ausdruck der Menschheit bzw. ihres Ethos, sondern der ¨ bersetzers Herder. Jener Druckfehler in der Ausdruck ihres Sammlers und U ersten Auflage des Ossian-Briefwechsels, der die von Herder spa¨ter selbst bemerkte Verwechslung von Psychologie mit Philologie anzeigt, verweist auf ein zentrales Problem des Volksliedprojekts, das die Menschheitsseele im Ausdruck der Volkskunst fassen soll, ihre philologische Konstruktionskraft aber verkennt: „und nehmen Sie sich nur in Acht, daß ich Sie nicht na¨chstens mit einer Philologie aus den Gedichten Ossians heimsuchte.“30 Herders Utopie, welche die ¨ bersetzung ins Volkslied jedoch kulturelle Alterita¨t zwar beansprucht, in der U aufhebt, kann nur in ihrem Anspruch gewu¨rdigt werden, wenn man sie als subjektive Vision ihres Verfassers zu akzeptieren bereit ist. Herder hat selbst genu¨gend Hinweise auf eine Lesart gegeben, nach welcher die Lieder nicht vom Ethos der Menschheit, sondern von seiner globalen Vision ku¨nden, die von eigener beruflicher Enge zeugen: Die ‚Spha¨re‘ bzw. der institutionelle Raum des Schullehrers „war [fu¨r] mich zu enge, zu fremde, zu unpassend, und ich fu¨r 28 Vgl. Martinez 2000, S. 211. 29 Proß 1988, S. 173: „Kunst ist fu¨r ihn – um seinen Ausdruck zu gebrauchen – ‚Ethopo¨ie‘, eine Scho¨pfung, die aus Lebensgewohnheiten und Normvorstellungen eines Volkes notwendig hervorgeht“. 30 Herder 1773, S. 18.
Die Welt als Lied. Der globale Anspruch von Herders Volksliedern
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meine Spha¨re zu weit, zu fremde, zu bescha¨ftigt.“31 Dieser biographische Konflikt, der zum Fortgang aus Riga fu¨hrte, wird parallel gefu¨hrt mit der eigenen Autorschaft, die ebenfalls ins Weite gehen soll, und so erkla¨rt Herder im Journal meiner Reise von 1769 den Autor zum neuen Ideal, der sich dem ‚menschlichen Herzen‘ na¨hert: „und das ist ein Schriftsteller der Menschheit! O auf dieser Bahn fortzugehen, welch ein Ziel, welch ein Kranz!“32 Dass sich Herder als Medium versteht, zeigt folgende Passage: „Da will ich die Gesa¨nge eines lebenden Volks lebendig ho¨ren, sie in alle der Wu¨rkung sehen, die sie machen, die Oerter sehen, die allenthalben in den Gedichten leben, die Reste dieser alten Welt in ihren Sitten studiren! eine Zeitlang ein alter Kaledonier werden […] wie freute ich mich auf den Plan!“33 Die zehn Jahre spa¨ter erschienenen Volkslieder haben diesen Plan umgesetzt als den Entwurf eines imagina¨ren Raums, unentdeckt, zu entdecken, neu zu beschreiben: „auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend“.34 Herder, beflu¨gelt von der anthropologischen Welle der Aufkla¨rung, hat versucht, ihre Konsequenzen fu¨r Poesie und Literaturgeschichte nicht nur diskursiv zu theoretisieren, sondern fu¨r sie eine neue poetische Sprechweise zu finden. Im Volkslied gewinnt dieser Versuch seine gattungsa¨sthetische Form. Es ist ein Vorschlag, wie eine Poesie aussehen ko¨nnte, die von der ganzen Menschheit ohne Ru¨cksicht auf literarische Tradition und Bildung verstanden werden soll. Wenngleich der philologische Zweifel es unmo¨glich macht, dieser Utopie Glauben zu schenken, weil man die Konstruktionsmechanismen, sobald man historisch-kritisch zu analysieren bega¨nne, durchschaut, ist Herders Figur des Globalen fu¨r die Frage zu beru¨cksichtigen, von welchem Standpunkt aus sich Weltliteratur u¨berhaupt betrachten ließe? Der universal-anthropologische Standpunkt jedenfalls erlaubt es Herder, die von der Geschichtlichkeit der Poesie hergestellte Heterogenita¨t und Singularita¨t, die herauszustellen gerade ihm als Pionier des historischen Denkens ein Anliegen war, im anthologischen Weltraum des Volksliedes aufzuheben.
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Alexander Nebrig
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Martin Go¨tze
Das Gedicht als a¨sthetische Rede. Zum Problem der Welthaltigkeit von Lyrik
Stellen wir uns die Frage nach der Welthaltigkeit, nach dem Weltbezug von Dichtung, und vergegenwa¨rtigen wir uns zudem die Fa¨higkeit der Literatur, Welten mit Hilfe sprachlicher Verfahrensweisen sogar regelrecht zu konstruieren, so denken wir heute zuna¨chst und vor allem an die literarischen Formen des Erza¨hlens. Die meisten unter uns hegen die Vorstellung, Erza¨hlen impliziere eine letztlich mimetisch zu nennende Referenz auf Welt. Und insbesondere von der epischen Großform des Romans erwarten wir die Darstellung einer raum-zeitlich ausdifferenzierten Spha¨re, eine Verknu¨pfung mannigfaltiger Bestimmtheiten historischer, kultureller, sozialer und personeller Art zu einer Totalita¨t, die man eben als ‚Welt‘ beschreiben kann.1 Nicht viel anders sieht es mit dem Drama aus: Der durch szenische Einrichtung angedeutete Raum, in dem die dramatische Handlung durch handelnde Personen vollzogen wird, ist ebenfalls als Welt zu denken – ein Aspekt, auf den gerade die Illusionsbu¨hne des neuzeitlichen Theaters Wert gelegt hat. Dramatische Handlung, so kann man sagen, findet vornehmlich in einem welthaltigen Raum statt. Betreten wir nun das Feld der Lyrik. Die Referenz auf Welt, die wir Epik und Dramatik mehr oder minder selbstversta¨ndlich unterstellen, scheint hier ungleich problematischer zu sein und ist fu¨r sich gesehen auch selten einmal Thema literaturwissenschaftlicher Betrachtung. Ich denke, es sind vor allem 1 ‚Welthaltigkeit‘ fasse ich hier als Bezugnahme auf eine außerhalb des Textes existierende Welt, die unsere reale (gegenwa¨rtige oder historisch gewesene) Lebenswelt sein kann oder auch eine fiktive und imagina¨re Welt, die lediglich als außerhalb des Textes existierend vorgestellt wird. ¨ ußerung von Lahn / Zur Voraussetzung dieses Weltbezugs in der Erza¨hltheorie vgl. folgende A Meister : „Erza¨hlungen sind symbolische Repra¨sentationen; sie verwenden (Sprach-)Zeichen, um auf etwas zu verweisen, was (real oder imagina¨r) außerhalb des Symbolsystems existiert und geschieht“ (Lahn / Meister 2008, S. 5; Hervorhebung im Original). Etwas lapidarer heißt es bei Martinez / Scheffel: „Die Handlung eines narrativen Textes […] ist Teil der erza¨hlten Welt, in der sie stattfindet“ (Martinez / Scheffel 2007, S. 123).
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zwei als ‚typisch lyrisch‘ geltende Merkmale, die der Frage nach der Welthaltigkeit von Lyrik gleichsam im Weg stehen. Diese zwei Merkmale lassen sich mit den Termini ‚Performanz‘ und ‚Subjektivita¨t‘ benennen. Performanz soll hier als Oppositionsbegriff zu ‚Mimesis‘ im Sinne von Realita¨tsnachahmung verstanden werden. Mimetische Techniken sta¨rken die Referenz sprachlicher Zeichen auf eine als außerhalb der Sprache vorgestellte Realita¨t. Performative Techniken hingegen fu¨hren im Prinzip zur Abschwa¨chung dieser Form von Referenz. Denn sie bezeichnen solche Darstellungsmittel, die der Tendenz nach den Eindruck erwecken oder besta¨rken, der Gegenstand der Darstellung wu¨rde erst eigentlich im Darstellungsakt geschaffen. Anders gesagt: Wenn sich der Gehalt eines Textes nicht oder kaum noch von den spezifischen Mitteln seiner Darbietung trennen und als außersprachliche Gegebenheit objektivieren la¨sst, kann man von erho¨hter Performanz sprechen. Dieser nachlassende Objektbezug geht mit einer versta¨rkten Selbstbezu¨glichkeit der Sprache einher, so dass der Darstellungsakt selbst zum eigentlichen Gegenstand der Darstellung wird. Selbstbezug statt Weltbezug, so lautet hier gewissermaßen die Devise. Freilich ist in der Moderne bei allen literarischen Gattungen ein von der Mimesis sich abwendender Trend zur Performanz beobachtbar. So sind moderne Erza¨hltexte oft durch das gekennzeichnet, was Stanzel in seiner Theorie des Erza¨hlens die „gestaltete Mittelbarkeit“ nennt.2 Das heißt: Da, wo sich der Vermittlungsakt von Seiten des Erza¨hlers aufgrund elaborierter Darstellungsmittel gleichsam vor die erza¨hlte Welt schiebt und erho¨hte Aufmerksamkeit beansprucht, findet im versta¨rkten Maße Performanz statt. Dennoch: Die Lyrik ist vom Pha¨nomen der Performanz offensichtlich in besonderer Weise betroffen. Selbstbezug, nicht Weltbezug: Das gilt ebenso mit Blick auf die bis heute tradierte Meinung, Gedichte seien vor allem und wesenhaft unmittelbare Selbstaussprache von Subjektivita¨t, intimer und authentischer Ausdruck individueller Empfindungen und Gedanken. Damit ha¨ngt na¨mlich die weitere Vorstellung zusammen, dass Referenz auf Welt entweder lediglich in engster Beziehung zur subjektiven Selbstaussprache, somit als sekunda¨re Referenz auftaucht oder gleich ganz in die Stimmung aufgelo¨st wird, was ja tatsa¨chlich eine Mo¨glichkeit lyrischen Sprechens ist. Subjektivita¨t und Performanz als die zwei prominentesten Paradigmen der Lyriktheorie wie auch der lyrischen Praxis treten historisch gesehen zwar phasenverschoben auf. Doch schließen sie sich weder aus noch lo¨st das eine das andere vollsta¨ndig ab. Ich glaube, dass beide Pha¨nomene Seiten derselben Medaille sind, und diese Medaille heißt eben Selbstbezu¨glichkeit. Hinsichtlich 2 Stanzel 2001, S. 17.
Das Gedicht als a¨sthetische Rede. Zum Problem der Welthaltigkeit von Lyrik
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klassisch-romantischer Erlebnislyrik ließe sich Selbstbezug im Wesentlichen als Einheit von Sprecherinstanz und Besprochenem auffassen, hinsichtlich der performativen, mit dem franzo¨sischen Symbolismus anhebenden Lyrik der Moderne hingegen vornehmlich als Einheit von Sprechakt und Besprochenem. Vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Problemlage mo¨chte ich nun ¨ berlegungen zum Begriff der Lyrik vorstellen und einige gattungstheoretische U dabei insbesondere der Frage nach der Welthaltigkeit von Lyrik nachgehen. Ich versuche zuna¨chst plausibel zu machen, dass die Neigung der Lyrik zu Performanz und Subjektivita¨t – und somit zu abgeschwa¨chter Weltreferenz – in der Struktur lyrischer Rede angelegt ist und letztere das Moment der Selbstbezu¨glichkeit zwar nicht erzwingt, aber doch begu¨nstigt. Ich werde in diesem Zusammenhang die sprachliche Darbietungsform des Gedichts als ‚a¨sthetische Rede‘ charakterisieren. Zum Schluss mo¨chte ich wenigstens andeuten, dass meines Erachtens die a¨sthetische Rede des Gedichts nicht nur trotz, sondern gerade aufgrund ihrer Strukturiertheit und der von ihr bevorzugten Verfahrensweisen durchaus als welthaltige Rede, die ihren Rezipienten eine spezifische Mo¨glichkeit der Welterschließung ero¨ffnet, verstanden werden kann. Zuna¨chst zum Gedicht als a¨sthetischer Rede. Die rhetorische Rede im Sinne der als ‚Rede‘ bezeichneten Textsorte hat mit der ¨ berstruktua¨sthetischen Rede des Gedichts die Tendenz zur sprachlichen U riertheit gemein, sofern es sich bei ihr um absichtsvoll gestaltete und meist auch ¨ berstrukturiertheit geschmu¨ckte Rede handelt. Im Unterschied hierzu ist die U des Gedichts unter anderem deshalb a¨sthetisch zu nennen, weil sie von der pragmatischen Mitteilungsfunktion und der unmittelbaren Wirkungsabsicht ¨ berstrukturiertheit der rhetorischen des Rhetorischen entbunden ist. Ist die U ¨ sthetischen ein hohes Maß an Rede noch Mittel zum Zweck, so kommt ihr im A Eigenwert zu. Außerdem steht Rede, die a¨sthetisch ist, weder unter einem logischen noch unter einem nach empirischer Verifikation verlangenden Wahrheitsanspruch. Trotz ihrer Entbindung von der pragmatischen Referenzfunktion der Sprache verliert aber auch die a¨sthetische Rede schon alleine qua Sprachlichkeit nie ganz den Charakter der Mitteilung, des Bedeutsamen. Ohne kommunikativen Aspekt ko¨nnte sie nicht sinnvoll Rede genannt werden. Wir sehen das beispielsweise daran, dass wir als Leser oder Interpreten selbst die Verweigerung des Sinns, wie sie im modernen Gedicht oft inszeniert wird, prinzipiell noch als deutbare, ja sogar als Deutung fordernde Aussage begreifen. Ich verstehe daher das Gedicht in dieser Hinsicht als Sinnangebot. Jedoch hat die a¨sthetische Rede keinen bestimmten Adressaten. Auch steht sie ohne Anlass da, denn sie findet in keiner lebensweltlichen und konkreten Situation statt, die sie motiviert, obgleich An-
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lass und Situation textimmanent fingiert sein ko¨nnen. Diese Situationsungebundenheit ist ein auffa¨lliger Unterschied zu anderen Formen der Rede. Wie die rhetorische Rede ist die a¨sthetische Rede in dem Sinne monologisch, dass sie Einzelrede ist. Sie muss allerdings nicht notwendig Rede eines Einzelnen sein, auch wenn dies wahrscheinlich die am ha¨ufigsten auftretende Form ist. Sie bleibt aber alleinige Rede. Das kann man sich am Typus des Wir-Gedichts klar machen, das gewissermaßen einen Chor, eine Mehrzahl von Sprechern suggeriert. Bei der Einzelrede la¨sst sich ein ‚wir‘ ohne Problem durch ein ‚ich‘ ersetzen, obgleich es fu¨r die Interpretation natu¨rlich einen Unterschied bedeutet, ob ein Ich oder ein Wir Sprecher des Gedichts ist. Auf die Sprecherzahl bezogen muss es also im Falle der Einzelrede logisch immer mo¨glich sein, dass die gesamte Rede auch von einem Einzelnen gesprochen werden kann. Einzelrede steht folglich nicht in Wechselwirkung mit anderer Rede, sie ist nicht Dialog. Hinzu kommt, dass sie keine andere Rede vermittelt, ho¨chstens in der Form des Zitats. Auch wird sie selbst nicht wiederum durch andere Rede vermittelt und so durch letztere eingerahmt. Sie ist daher als Ganzes gesehen wesentlich einfache, nicht aus mehreren Reden zusammengesetzte Rede. Schließlich hat Vereinzelung noch eine weitere Bedeutung: Die Gedichtrede steht – anders als der dramatische Monolog – nicht im Zusammenhang anderer Rede. Es gibt also keine vor oder nach ihr stehende Rede, auf die sie bezogen wa¨re.3 Natu¨rlich sind auch die erza¨hlende und die dramatische Rede a¨sthetisch. Als strukturell einfache und vereinzelte Rede, die sozusagen rein dasteht und andere Rede ho¨chstens indirekt oder als Zitat vermittelt, selbst aber unvermittelt ist, wu¨rde ich das Gedicht indes als idealtypische Rede bezeichnen, als stilisierte und fingierte Form des isoliert genommen ebenfalls in sich einfachen lebensweltlichen Sprechakts der einzelnen Person.4 Doch nur die a¨sthetische Rede des Gedichts ist radikal vereinzelt. Ich meine nun, dass sich aus dieser Verselbsta¨ndigung der Rede die Tendenz 3 Mit dem Begriff der ‚Einzelrede‘ schließe ich an Lamping an, der das lyrische Gedicht als „Einzelrede in Versen“ definiert (Lamping 1993, S. 63). Sofern sich letztere grundsa¨tzlich vom Dialog als Wechselrede unterscheidet und ebenso von solcher Rede, die eine oder mehrere ¨ ußerungen vermittelt, nennt Lamping sie auch strukturell einfache Rede (ebd., S. 63). andere A Wie schon angedeutet, schließt dies die Mo¨glichkeiten von Zitat und Wir-Rede ein. Hinzu tritt noch die Mo¨glichkeit zur Anrede eines ‚du‘ oder ‚ihr‘. Natu¨rlich klammert diese Perspektive sa¨mtliche dialogische und viele Formen erza¨hlender Gedichte aus. Allerdings betrachte ich die Einzelrede als Zentrum der Gattung, sofern sich ein Großteil derjenigen Texte, die der Lyrik subsumiert werden, diesem Typus zuordnen la¨sst. 4 Die monologische Einzelrede ist sogar eine vielleicht nicht ha¨ufig, aber doch gelegentlich realisierte Mo¨glichkeit lebensweltlichen Sprechens. Auf die Na¨he des Gedichts zum alltagssprachlichen Monolog verweist schon Petersen 1996, S. 120 f.
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zu poetischen Strategien der Unmittelbarkeit, der subjektiven und performativen Selbstbezu¨glichkeit ergibt. Und daraus ergibt sich auch das, was ich mit Blick auf die Welthaltigkeit von Lyrik die Neigung zur schwachen Referenz nennen mo¨chte. Als reine Rede, die weder auf Adressat und Situation noch auf andere Rede Ru¨cksicht nehmen muss, bietet sich das Gedicht geradezu an, es zum Vehikel der Selbstaussage eines wie auch immer gearteten Subjekts oder aber zum Vehikel der experimentellen Selbstaussage der Sprache, also zur Darbietungsform der Sprache nur um der Sprache willen zu machen. Die Selbstbezu¨glichkeit ist allerdings beileibe kein Pha¨nomen, das zwingend aus der lyrischen Redestruktur hervorgeht. Immerhin ist vor allem die vormoderne europa¨ische Lyrik von der Antike bis in die Aufkla¨rung hinein zu großen Teilen referentiell. Aber die Form absolut gesetzter Einzelrede macht die Lyrik zu einem literarischen Genre, das sich besonders fu¨r Verfahren der Abschwa¨chung außersprachlicher Referenz eignet. Auf die lyrischen Strategien der Vertextung kann ich hier nur in Stichworten eingehen: Schon aufgrund der historischen Konvention relativer Ku¨rze neigt das lyrische Sprechen dazu, einen Welthorizont mittels fragmentarischer und punktueller Referenz allenfalls zu evozieren. Man kann in diesem Zusammenhang von Pha¨nomenen der lyrischen Reduktion sprechen. So wird in sehr vielen Gedichten die raum-zeitliche Deixis, durch die sich die textimmanente Redesituation und das vom Sprecher Dargebotene konkret in einem lebensweltlichen Raum fixieren ließen, eigentu¨mlich entleert. Hierhin geho¨rt auch der oft beim Lesen von Gedichten entstehende Eindruck einer Verflachung der zeitlichen Dimensionen, sofern angesichts der Entdifferenzierung von Sprechakt, Sprecher und besprochenem Inhalt das Pra¨sens die eigentliche Tempusform des Gedichts zu sein scheint. Daru¨ber hinaus neigt insbesondere moderne Lyrik zur Metaphorisierung jeglicher Bezugnahme aufs Objektive und Empirische. Hierbei handelt es sich um Akte der Transformation, der Deformation und Verfremdung, der Verschiebung sprachlicher Zeichen in neue, von der Alltagssprache abweichende syntagmatische Verbindungen und damit auch in neue semantische Kontexte. Interessanterweise sind diese lyrischen Techniken der Entleerung des Raums, der Verflachung der Zeit, der Entstofflichung und Verfremdung der Gegensta¨nde in der Regel solche Techniken, die mit typischen Verfahrensweisen des Erza¨hlens kontrastieren. Man kann im Unterschied zu den epischen Strategien der Herstellung von Mittelbarkeit und Weltbezug lyrische Strategien der Herstellung von Unmittelbarkeit und Selbstbezug geltend machen.5 5 Wenn auch die Anwendung erza¨hltheoretischer Analyseverfahren auf Gedichte durchaus zu interessanten Resultaten fu¨hren kann, so ist doch die Differenz zwischen lyrischen und
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Ich komme nun kurz zur Frage nach dem Status der Sprecherinstanz in der Lyrik und beru¨hre somit die Problematik des sogenannten ‚lyrischen Ich‘. Margarete Susman, die diesen Begriff eingefu¨hrt hat, verwendet ihn in Abgrenzung zum empirischen Ich des Autors, und in dieser Bedeutung macht er auch Sinn.6 Schwierig ist allerdings die Fixierung auf die Ich-Rede. Letztere ist zwar eine ha¨ufige Form, in der sich der Sprecher des Gedichts bemerkbar macht. Er kann aber auch genauso als anonymes, rein logisch gesetztes Aussagesubjekt erscheinen, das nicht explizit auf sich selbst referiert, oder aber als Wir, als fingierter Chor. Mag der Anlass zum Schreiben des Gedichts ein wie immer geartetes Erlebnis des Autors sein und sein Gehalt, seine Intention, Ausdruck der perso¨nlichen Meinung oder Gestimmtheit des Autors, so ist die Sprecherinstanz des Gedichts doch immer eine vermittelte Konstruktion, eine Funktion des Textes, die im Text ein Eigenleben fu¨hrt und sich nicht bruchlos auf die Individualita¨t des Verfassers zuru¨ckfu¨hren la¨sst. Im Grunde ist das lyrische Ich gar keine Individualita¨t, auch da nicht, wo es sich als ‚ich‘ ausdru¨cklich thematisiert. Denn das lyrische Aussagesubjekt ist ebenfalls vom Pha¨nomen jener referenziellen Unterbestimmtheit ¨ berbedes Gedichts betroffen, die eigentu¨mlich mit dessen sprachlicher U stimmtheit divergiert. Wie alles, was das Gedicht sagt, ist auch das lyrische Aussagesubjekt nichts als thetische Behauptung, die in der Regel nicht einmal vorgibt, etwas anderes als Behauptung zu sein. Das Gedicht verwendet na¨mlich nie oder doch nur selten Illusions- und Beglaubigungstechniken, die eine Realita¨tsfiktion erzeugen. Diese Art von Illusionserzeugung ist aber grundlegend fu¨r Drama und Erza¨hlung, und das macht beide zu literarischen Sprechweisen, welche auf Seiten des Lesers die Vorstellung eines nachdru¨cklichen Weltbezugs hervorrufen. Zur Fiktionalita¨t literarischer Texte geho¨ren Strategien der fingierten Realita¨t und Authentizita¨t. Sie machen ihren fiktionalen Charakter gerade dadurch besonders bewusst, dass sie sich den Schein verschaffen, keine fiktionalen Texte zu sein. Der Ich-Erza¨hler eines Romans beispielsweise gibt mo¨glicherweise Auskunft u¨ber seine Biographie, u¨ber sein Schicksal vor und nach den Ereignissen, die Gegenstand der Erza¨hlung sind. Er wird zudem bestrebt sein, sich in der erza¨hlten Welt ra¨umlich und zeitlich zu lokalisieren, sein Dasein zu konkretisieren. narrativen Texten hervorzuheben. In diesem Zusammenhang wa¨re die narratologische Lyrikanalyse zu diskutieren, was hier leider aus Platzgru¨nden unterbleiben muss. Zur methodischen Grundlegung dieses relativ neuen Ansatzes vgl. Mu¨ller-Zettelmann 2002, S. 129 – 153; sowie Hu¨hn / Scho¨nert, 2007, S. 1 – 18. 6 Susman 1910, bes. S. 15 – 20. Zu Karriere, Wandlungen und Kritik des Begriffs vgl. im ¨ berblick Fricke / Stocker 2000, S. 509 – 511. U
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Derartige Verfahrensweisen zur Erzeugung eines objektiven Rahmens sind dem Gedicht so gut wie unbekannt. Das lyrische Aussagesubjekt hat kein Vorher und kein Nachher, es gibt nicht vor, außerhalb der besprochenen Situation zu existieren, es existiert nur in der Rede – es ist diese Rede. Das Ich des Gedichts ist kein beglaubigtes, sich legitimierendes und beweisendes Ich, sondern nur die apodiktische Behauptung eines Ich. Auch das ist letztlich eine Vertextungsstrategie, die den Eindruck von Unmittelbarkeit hervorruft und das Aussagesubjekt des Gedichts ebenfalls einen performativen Akt sein la¨sst, der nur in und als Sprechvorgang erscheint und nichts als den Sprechvorgang zum Inhalt hat. So betrachtet, ist das lyrische Ich als nicht-individuelles, Individualita¨t allenfalls evozierendes auch zugleich ein allgemeines, exemplarisches Ich. Besonders interessant daran ist das sich abzeichnende rezeptionsa¨sthetische Potential: Gerade, weil das lyrische Ich gewissermaßen Leerstelle ist, kann es im Rezeptionsakt durch die Vorstellungskraft des Lesers aktualisiert und konkretisiert werden.7 Dieser Punkt fu¨hrt nun abschließend zu meiner These u¨ber die lyrische Form der Welthaltigkeit, die spezifisch lyrische Mo¨glichkeit der Welterschließung: Das Gedicht bietet meines Erachtens eine Bewusstseinshaltung dar, die vom Leser in der a¨sthetischen Erfahrung als eine Mo¨glichkeit seiner selbst, als Mo¨glichkeit des eigenen Bewusstseins, wahrgenommen werden kann. Das ist das Sinnangebot des Gedichts. Natu¨rlich muss der Sprecher des Gedichts kein Ich oder Wir sein und sein Gehalt nicht notwendig die subjektive Selbstaussage des Sprechers. Aber das Gedicht ist immer als Darbietung einer Bewusstseinshaltung lesbar. Und eine solche Darbietung ist prinzipiell in der Lage, einen Welthorizont zu ero¨ffnen, sofern Bewusstsein nicht nur in der Welt stattfindet, sondern sich auch immer zur Welt und zu sich selbst verha¨lt. ,Welt‘ im Sinne einer wie auch immer aufzufassenden Objektivita¨t steht nie fu¨r sich. Sie ist relativ, na¨mlich relativ im Hinblick auf das Bewusstsein, auf das ‚Subjektive‘, wenn wir es so nennen wollen. Natu¨rlich gilt dieselbe Relativita¨t vice versa auch fu¨r die Subjektseite. Die Lyrik kann zwar die Referenz auf Welt infolge ihrer Redestruktur und ihrer Verfahrensweisen abschwa¨chen und auf ein Minimum reduzieren; sie kann ebenso das Aussagesubjekt vermeintlich zum Verschwinden bringen. Aber sie ist nicht freigestellt von der eben angesprochenen Subjekt-Objekt-Relation. Ich erla¨utere diesen Gedanken in aller Ku¨rze: Auch der scheinbar reinen und 7 Vgl. dazu auch den Ansatz von Spinner 1975. Spinner betrachtet im Anschluss an die Sprachtheorie Karl Bu¨hlers das lyrische Ich als „Leerdeixis“, die erst im Rezeptionsakt durch ¨ hnlich Schlaffer 1995, S. 38 – 57. den Leser gefu¨llt werde (ebd., bes. S. 17 f.). A
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subjektlosen Deskription eines Dinggedichts ist durch den a¨sthetischen Kompositionsakt die Betrachterperspektive eingeschrieben, denn die Beschreibung ist Resultat von Auswahl, Anordnung und Verknu¨pfung, ist Ergebnis einer Perspektivierung und dru¨ckt Perspektive aus. Am symbolistischen Dinggedicht kann man u¨brigens sehen, dass die implizite Thematisierung von Perspektive gerade auch durch die performative Deformation und Verfremdung des Gegenstandes geleistet wird. Das scheinbar rein Gegensta¨ndliche steht somit in Ru¨ckbeziehung zum Betrachter, ist gedacht auf ein betrachtendes Subjekt hin. Umgekehrt ist die vermeintlich reine lyrische Selbstaussprache des Subjekts nie absolut leere Selbstbezeichnung, denn solch absolut leere Referenz wa¨re allenfalls in pra¨dikatsfreien und tautologischen Formeln wie ‚ich bin‘ oder ‚ich bin ich‘ mo¨glich. Durch die Vertextung wird die Selbstaussage zugleich auch kontextualisiert, und darin erscheint ebenfalls – wie verfremdet und entstofflicht auch immer – ein Welthorizont, eine Beziehung zu etwas, das nicht das Subjekt und somit Objekt ist, denn Selbstaussage ist immer Selbstaussage in der Welt. Was in beiden genannten Fa¨llen, der Konzentration der Darstellung auf das Objektive oder auf das Subjektive, thematisch wird, mo¨chte ich abschließend als Bewusstseinsdiegese beschreiben. Die Erza¨hltheorie verwendet den Begriff der ‚Diegese‘ zur Bezeichnung des Dargestellten, was meist die erza¨hlte Welt mitsamt der in ihr stattfindenden Geschehnisse und agierenden Figuren meint.8 In diesem Sinne spreche ich bezu¨glich des Gedichts von Bewusstseinsdiegese, sofern das Dargestellte im Gedicht als eine mit Hilfe sprachlicher Verfahren strukturierte und spezifisch perspektivierte Bewusstseinshaltung lesbar ist. Ich will den Ausdruck ‚Diegese‘ noch in einer anderen Hinsicht rechtfertigen. Dabei greife ich auf Platons Unterscheidung von die´gesis und mı´mesis zuru¨ck. Mimesis als Nachahmung bezieht sich hier speziell auf die epische oder dramatische Figurenrede im Gegensatz zur Erza¨hlerrede, welche Diegese genannt wird. Wo der Erza¨hler eine Figur sprechen la¨sst, als sei nicht er, sondern eben die Figur der Sprechende, findet Mimesis statt. Je weniger sich also der Vermittlungsakt von Seiten des Erza¨hlers bemerkbar macht, desto mimetischer. Das Drama ist, zumindest als Bu¨hneninszenierung gedacht, in dieser Perspektive reine Mimesis, wa¨hrend das Epische Mimesis und Diegese verbindet.9 Ich mo¨chte nun erga¨nzend hinzufu¨gen: Die lyrische Rede ist nicht als Figurenrede, sondern am ehesten als diegetische Rede und somit bezu¨glich des Redekriteriums als Gegenpol des Dramas aufzufassen. Der Begriff der Figu8 Vgl. z. B. die einschla¨gige Definition bei Schmid 2008, S. 86 f., bes. Anm. 35. 9 Vgl. Platons Ausfu¨hrungen im Dialog Politeia, 3. Buch, 393a–393d sowie 394b–394c (nach der Stephanus-Za¨hlung).
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renrede macht na¨mlich nur in der Differenz zur Erza¨hlerrede Sinn oder aber da, wo Figuren im dramatischen Illusionsraum auftreten, wobei sich zudem in aller Regel Figurenrede von anderer Figurenrede abgrenzen la¨sst. Die Rede des Gedichts – ob als Ich-Rede, als Wir-Rede oder als anonymes Sprechen einer bloß logischen Sprecherinstanz – ist in dieser Hinsicht keine Mimesis, denn sie ist nicht die Rede einer Figur, nicht durch die Rede eines Erza¨hlers vermittelt und sie steht auch nicht im Zusammenhang anderer Rede.10 Bewusstseinsdiegese hat also in meinem Versta¨ndnis folgenden Sinn: Es handelt sich um diegetische Rede, die eine Bewusstseinshaltung artikuliert, und zwar auch schon in der Redekomposition und der stilistischen Textur. Und diese Bewusstseinshaltung geho¨rt wesentlich zum vermittelten Gehalt des Gedichts – ganz gleich, ob wir es auf der semantischen Oberfla¨che mit einem Natur- oder Liebesgedicht oder mit einer vermeintlich subjektlosen lyrischen Deskription zu tun haben. Die Bewusstseinsdiegese der Ich-Rede ist hierbei ein spezieller Fall, den ich als Bewusstseinssequenz beschreiben mo¨chte. Ha¨ufig ist diese Bewusstseinssequenz in einer Form stilisiert, die sich vielleicht mit derjenigen des dramatischen Monologs vergleichen ließe, sofern dabei zerstreute kognitive und emotive Elemente (die in der Realita¨t des Denkens und Empfindens oft punktuell, undeutlich und zeitlich auseinander liegend aufscheinen) in zumeist konziser Weise verbunden werden. Einen letzten Punkt mo¨chte ich noch ansprechen: Ich denke, dass die Perspektivierung des Gedichts als Perspektive des Einzelbewusstseins oder aber des fingierten Kollektivbewusstseins im Prinzip monoperspektivisch ist und auch darin mit der lebensweltlichen Rede u¨bereinkommt, sich darin aber wiederum von Dramatik und Epik unterscheidet. Wenn es nicht gerade Monodrama ist, vermittelt das Drama schon aufgrund der Pluralita¨t dargebotener Figurenrede eine Pluralita¨t von Perspektiven. Auch das Erza¨hlen ist polyperspektivisch, sofern es in der Regel die Haltung, perso¨nliche Ansicht, ideologische Position oder psychische Disposition mehrerer Figuren exponiert. Im Gedicht ko¨nnen zwar ebenso unterschiedliche Perspektiven kontrastiert und gegebenenfalls synthetisiert werden, sie sind aber meines Erachtens zur Haltung eines Bewusstseins verklammert, wobei diese Haltung eben auch durch Ambivalenz und Wider-
10 Der Sprecher des Gedichts steht daher in struktureller Analogie zur Erza¨hlerinstanz ho¨chster Ordnung, die sa¨mtliche Inhalte vermittelt, selbst aber nicht wiederum vermittelt, d. h. erza¨hlt wird. Mit dem erla¨uterten Unterschied, dass (von der Sonderform des Erza¨hlgedichts abgesehen) die Sprecherinstanz des Gedichts keine Rede darbietet, die streng genommen als Figurenrede gelten kann.
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Martin Go¨tze
spru¨chlichkeit gekennzeichnet sein kann. Ich will ein Beispiel hierfu¨r bringen, na¨mlich ein Gedicht Detlev von Liliencrons aus dem Jahre 1883: Siegesfest11 Flatternde Fahnen Und frohes Gedra¨nge. Fliegende Kra¨nze Und Siegesgesa¨nge. Schweigende Gra¨ber, Vero¨dung und Grauen. Welkende Kra¨nze, Verlassene Frauen. Heißes Umarmen Nach schmerzlichem Sehnen. Brechende Herzen, Erstorbene Tra¨nen.
Dieses Gedicht entha¨lt keine explizite Selbstbekundung des Aussagesubjekts und vermeidet jegliche Wertung. Es offeriert in elliptischer Sprechweise entgegengesetzte Perspektiven, um dann durch die Zusammenfu¨hrung von Erleichterungsgefu¨hl und Verlustschmerz innerhalb der dritten Strophe den Kontrast noch zu verscha¨rfen. Der Text konfrontiert den Massentaumel der im Titel als Thema gesetzten Siegesfeier nach gewonnenem Kriege durch die Konstruktion von allerlei semantischen Oppositionen mit seiner verdra¨ngten Kehrseite, na¨mlich Einsamkeit, Angst, Trauer und Tod. Diese Perspektiven sind zwar mit dem entsprechenden Personal assoziiert (Feiernde, Heimkehrer und Angeho¨rige, die Hinterbliebenen der Kriegsopfer), dennoch liest sich das Gedicht als die Einzelrede dessen, der das gesamte dargebotene Sujet in einer Beobachterposition u¨berschaut und das Konglomerat seiner Eindru¨cke zur ambivalenten Haltung eines Bewusstseins vereint. Und diese Haltung ist es auch, zu deren ¨ bernahme das Gedicht als Sinnangebot seine Leser gewissermaßen auffordert. U Mein Vorschlag lautet, Lyrik – und zwar im spezifischen Sinne monologischer, absolut vereinzelter a¨sthetischer Rede – als Darbietung einer Bewusstseinshaltung zu deuten, deren prima¨res Formelement der Vers ist.12 Dabei kann die vom Gedicht vorgenommene Perspektivierung explizit oder implizit als eine 11 Liliencron 1977, S. 193. 12 Allerdings ist die akzentuierende, segmentierende und semantisierende Funktion des Verses fu¨r alle Spielarten der Gedichtrede konstitutiv, d. h. auch fu¨r Erza¨hlgedichte (wie die Ballade) und dialogisch strukturierte Gedichte. Wo kein Vers, da kein Gedicht und keine Lyrik, sondern allenfalls lyrisch anmutender Sprachgebrauch. Denn Lyrik ist heute de facto die einzige Gattung, die formal durch den Vers bestimmt wird.
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Perspektivierung von Welt verstanden werden, welche auf Seiten der Rezeption als Erschließung und Aktualisierung der dargebotenen Bewusstseinsdiegese und damit zugleich als Fu¨llung des mit ihr korrelierten Welthorizonts beschreibbar ist.
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Teil V: Fiktionen des Globalen: Zwischen Weltbezug und Welterzeugung
Christine Ivanovic
Weltgeschichte und Weltliteratur. Hannah Arendts „Welt“-Konzept im Kontext ihrer literarischen Analysen
1.
Theoriebildung und geschichtliche Erkenntnis aus Literatur
Als Hannah Arendt im Jahr 1968 an der New School in New York ein Seminar zum Thema „Political Experience in the Twentieth Century“ anku¨ndigt, stehen auf der umfangreichen Leseliste kaum theoretische Texte. Stattdessen fordert sie die Lektu¨re ausgewa¨hlter Gedichte von Bertolt Brecht und William Butler Yeats, von Ernst Ju¨ngers In Stahlgewittern, William Faulkners A Fable, Jean Paul Sartres La Nause´e, Andre´ Malraux’ La Condition Humaine, George Orwells 1984, Hemingways For Whom the Bell Tolls sowie weiterer Texte von Aleksandr Solzˇenicyn, Joseph Heller und Rene´ Char. Dem Dichter und Widerstandska¨mpfer Char widmet sich Arendt auch im Einleitungsessay ihrer im selben Jahr ¨ bungen im politischen unter dem Titel Between Past and Future erschienenen U Denken (1968; dt. 1994); hier stellt sie die Besprechung zweier Aphorismen von Char aus den in der Re´sistance entstandenen Feuillets d’Hypnos ihrer Lektu¨re einer von Kafkas Prosaminiaturen aus dem Konvolut Er gegenu¨ber. Die von Kafka beschriebenen zwei Gegner, die „Ihn“ bedra¨ngen, identifiziert Arendt dabei als die Kra¨fte der Vergangenheit und der Zukunft. Vergleichbare literarische Analysen durchziehen wie ein roter Faden nahezu alle politischen und geschichtskritischen Arbeiten Hannah Arendts. In der Schrift On Revolution (1963) ist es anla¨sslich ihrer Auseinandersetzung mit der „Sozialen Frage“ ein Kapitel u¨ber Melville und Dostoevskij; in The Human Condition (1958) sind es Mottos von Kafka (der archimedische Punkt), Dante, Isak Dinesen und (nur in der deutschen Ausgabe, Vita activa, 1960) Brecht, wa¨hrend ihre Studie zu den Origins of Totalitarianism (1951) an Schlu¨sselpositionen mehr oder weniger umfangreiche Analysen zu Marcel Proust, Joseph Conrad und Rudyard Kipling entha¨lt. Arendts Insistieren auf Belegstellen aus der Literatur, die sich an unza¨hligen weiteren Stellen ihres Werkes nachweisen lassen und die ihre Argumentation oft allererst strukturieren, ko¨nnen nicht einfach als bildungsbu¨rgerliche Reminiszenz oder als Geste der Ru¨ckversicherung der eigenen theoretischen Position durch das besta¨tigende Zitat abgetan werden. Was Arendt in
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ihren Analysen aufzudecken und was sie den Studenten im New Yorker Seminar zu vermitteln sucht, ist eine Erfahrung mit Weltliteratur, die sie selbst bereits seit Jahrzehnten theoretisch fruchtbar gemacht hat: „u¨ber jedes Ereignis, das u¨berhaupt erinnert wird, wird nachgedacht“, erla¨utert Arendt ihren Ansatz. „Das Erza¨hlen einer Geschichte ist der geeignete Weg, daru¨ber nachzudenken. Daraus entsteht Theorie.“1 Arendt liest und analysiert ‚erza¨hlte Geschichte‘ in literarischen Texten; Arendt praktiziert das ‚storytelling‘ aber auch selbst als darstellerische Methode in ihren eigenen Untersuchungen. Die Intention dieses ‚storytelling‘ entspricht ihrem Credo: „ich will verstehen“.2 Arendt zielt aber in und mit ihren Schriften nicht auf das ‚storytelling‘ selbst. Sie nutzt es als ein Mittel der Erkenntnisgewinnung. Sein Ziel ist Theoriebildung und Kritik, dies ¨ sthetik, sondern immer im Blick auf Geschichte und im aber nie im Feld der A Blick auf das, was Arendt unter dem Begriff des Politischen zu rekonstruieren versucht.
2.
Texte als „Weltdinge“
In den literarischen Texten, die sie liest und analysiert, erfasst Arendt die Spuren einer historischen Erfahrung, die das Historisch-Faktische weit u¨berschreiten. Als „verdinglichte Sprache“ sind Texte „Weltdinge“. Sie lassen „das weltlich Dauerhafte transparent“3 werden und erweisen sich zugleich als Zeugnisse dessen, wie die Welt im Sprechen und Handeln allererst hervorgebracht worden ist. Dabei unterscheidet Arendt drei prozessuale Zusammenha¨nge: Das Herstellen von Welt im Sprechen und Handeln; die Konstitution von Welt im Raum ¨ ffentlichen, des Politischen, als Akt der Freiheit; das Erza¨hlen davon, das des O erst eigentlich den Raum des Geschichtlichen verbu¨rgt. Es ist der unhintergehbare Zusammenhang von Welt und Geschichte in der Literatur, der nach Arendts Auffassung deren besondere Wertigkeit nicht nur fu¨r die politische Analyse begru¨ndet. Diese Auffassung ist an ein sehr spezifisches ‚Welt‘-Konzept gebunden, das Arendt in ihrem theoretischen Hauptwerk The Human Condition umfassend entwickelt hat, und auf welches sie in ihren literarischen Essays immer wieder erla¨uternd zuru¨ckkommt, so schon ein Jahr spa¨ter in der in Hamburg gehaltenen Rede zum Lessing-Preis.
1 Seminarnotizen von 1965. Unvero¨ffentlichter Nachlass Hannah Arendt, Library of Congress, Washington D.C., Blatt 023762. Zit. nach: Heuer 2007, S. 210. 2 Ebd. 3 Arendt 1981, S. 202. Nachweise von Zitaten aus dieser Ausgabe erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle VA und der Seitenzahl.
Weltgeschichte und Weltliteratur
2.1.
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Arendts Weltbegriff
Anders als beispielsweise Heidegger in Sein und Zeit begreift Arendt ‚Welt‘ weder im ontischen Sinne als Summe des Seienden noch im transzendentalen Sinne als Bedingung der Mo¨glichkeit aller Erfahrung. ‚Welt‘ wird von Arendt ausschließlich und in qualifizierender Bedeutung im Bezug auf den Menschen gebraucht. „Die Welt und die Weltdinge“, so Arendt, stellen die „Bedingungen her, unter denen dies Leben als ein spezifisch menschliches auf der Erde wohnen kann“ (VA 159). Aufgabe der ‚Welt‘ in diesem emphatischen Sinne sei es, laut Arendt, „sterblichen Menschen eine Behausung zu bieten, die besta¨ndiger und dauerhafter ist als sie selbst“ (VA 180). Dabei grenzt sie ihr Konzept dezidiert ab von jener „rein menschliche[n] Freude an der Welt der Dinge“, wie sie Hofmannsthal 1902 in seinem Chandos-Brief entworfen hatte; auf ihr lastet das Verdikt des Privaten: „diese Ausweitung des Privaten, dieser Zauber, den gleichsam ein ganzes Volk u¨ber den Alltag gebreitet hat, stellt keinen o¨ffentlichen ¨ ffentliche aus dem Raum bereit, sondern bedeutet im Gegenteil nur, dass das O Leben des Volkes nahezu vollsta¨ndig geschwunden ist, so daß u¨berall das Entzu¨cken und der Zauber, und nicht Gro¨ße oder Bedeutung vorwalten.“ (VA 65) Eine Volte, die im Hinblick auf Arendts Auffassung von Geschichte sehr be¨ ffentliche merkenswert erscheint. Nach Arendt ermo¨glicht erst das O die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir Privateigentum nennen. Doch ist dies weltlich Gemeinsame keineswegs identisch mit der Erde oder der Natur im Ganzen, wie sie dem Menschengeschlecht als ein begrenzter Lebensraum und als Bedingtheit seines organischen Lebens angewiesen sind. Die Welt ist vielmehr sowohl ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten, die handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen. In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist. (VA 65 f.)
Welt ist nach Arendt also nichts natu¨rlich Gegebenes, vielmehr ein von den Menschen selbst geschaffener und gestalteter „zwischen-menschlicher“ Raum, der gleichzeitig Distanzierung / Differenzierung und Teilnahme / Teilhabe ermo¨glicht. In der Lessing-Preis-Rede definiert sie dementsprechend erneut Welt als „de[n] spezifische[n] und meist unersetzliche[n] Zwischenraum, der sich zwischen [dem] Menschen und seinem Mitmenschen“4 bildet, und immer 4 Arendt 1989, S. 18. Nachweise von Zitaten aus dieser Ausgabe erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle MFZ und der Seitenzahl.
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wieder betont sie, dass „Welt“ (wie der o¨ffentliche Raum selbst) nur als Teilendes und Geteiltes, als ein Gemeinsames denkbar sei: „Der o¨ffentliche Raum wie die uns gemeinsame Welt versammelt Menschen und verhindert gleichzeitig, dass sie gleichsam u¨ber- und ineinanderfallen.“ (VA 65 f.) Diese Art des Gemeinsamen ist insofern conditio sine qua non fu¨r das Welt-Sein, als „Wirklichkeit der Welt [erst] durch die Gegenwart einer Mitwelt garantiert ist, in der eine und dieselbe Welt in den verschiedensten Perspektiven erscheint“ (VA 251). Das Teilen / Geteiltwerden wird somit auch zur Bedingung fu¨r die kommunikative Mitteilung, den Austausch, geht es doch nach Arendt laut ihrer Lessing-PreisRede nicht allein darum, die „gemeinsame Welt […] zu teilen“ (MFZ 41), sondern einen Raum zu schaffen, „in dem es viele Stimmen gibt und wo das Aussprechen dessen, was ‚Wahrheit du¨nkt‘, sowohl verbindet wie voneinander distanziert, ja diese Distanzen zwischen den Menschen, die zusammen dann die Welt ergeben, recht eigentlich schafft“ (MFZ 48). Dementsprechend kann ‚Welt‘ allein im Zusammenspiel eines polyphonen und polyperspektivischen Sprechens und Handelns in einem geteilten (o¨ffentlichen) Raum mo¨glich werden. Es sind jene Ta¨tigkeiten, in denen die Menschen jeweils „offenbaren […] wer sie sind“, indem sie als persona „auf die Bu¨hne der Welt treten“ (VA 219), eine Bu¨hne, die sie umgekehrt aber erst durch ihren Auftritt, sprechend und handelnd, konstituieren: „So steht das Handeln nicht nur im engsten Verha¨ltnis zu dem o¨ffentlichen Teil der Welt, den wir gemeinsam bewohnen, sondern ist diejenige Ta¨tigkeit, die einen o¨ffentlichen Raum in der Welt u¨berhaupt erst hervorbringt.“ (VA 249) Arendt beschreibt hier also ein reziprokes Verha¨ltnis zwischen dem sprechend-handelnden je einzelnen Menschen und der von ihm dadurch hervorgebrachten vielgestaltigen Welt: Einerseits „realisiert sich das spezifisch menschliche Leben, die Zeitspanne, die ihm zwischen Geburt und Tod zugemessen ist, in den Ta¨tigkeiten des Handelns und Sprechens“ (VA 211), andererseits wa¨ren „ohne die Besta¨ndigkeit der Welt, die die den Sterblichen zugemessene Frist auf der Erde u¨berdauert,“ so Arendt in Anspielung auf Brahms, „die Geschlechter der Menschen wie Gras und alle Herrlichkeit der Erde wie des Grases Blu¨te.“ (VA 211 f.)
2.2.
Literatur und Geschichte
Damit kommt nun ein weiterer, fu¨r Arendts Konzept entscheidender Aspekt mit ins Spiel: der Zusammenhang von Literatur und Geschichte. Denn die weltkonstituierende Fa¨higkeit des sprechenden und handelnden Menschen kann allein im Akt des erinnernden Erza¨hlens, in der verdinglichenden Sprache dessen Zeitlichkeit „u¨berdauern“ und in Geschichtlichkeit transformieren. In der Lessing-Preis-Rede hebt Arendt diesen Gedanken besonders hervor, wenn
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sie betont, dass „der Sinn eines Gehandelten erst [erscheint], wenn das Handeln selbst zum Abschluß gekommen und als eine Geschichte erza¨hlbar geworden ist“ (MFZ 37 f.). Daraus folgert sie: „Die Dichter in einem sehr allgemeinen, die Geschichtsschreiber in einem sehr speziellen Sinn haben die Aufgaben, dies Erza¨hlen in Gang zu bringen und uns in ihm anzuleiten [sic]“ (MFZ 37 f.). Welterkenntnis ist fu¨r Arendt eben deshalb gerade anhand literarischer Texte sinnvoll mo¨glich, weil in ihnen „das Handeln selbst zum Abschluß gekommen und als eine Geschichte erza¨hlbar geworden ist“. Abschließend formuliert sie ihr Konzept in der Schlusspassage des vierten Kapitels der Vita activa folgendermaßen: […] ohne die Dichter und Geschichtsschreiber, ohne die Kunst des Bildens und die des Erza¨hlens, ko¨nnte das Einzige, was redende und handelnde Menschen als Produkt hervorzubringen vermo¨gen, na¨mlich die Geschichte, in der sie handelnd und sprechend auftraten, bis sie sich so weit gefu¨gt hat, dass einer sie als Geschichte erza¨hlen kann, niemals sich so dem Geda¨chtnis der Menschheit einpra¨gen, daß sie Teil der Welt wird, in der Menschen leben. Insofern aber Sprechen und Handeln die ho¨chsten und menschlichsten Ta¨tigkeiten der Vita activa sind, ist die Welt eine wirkliche Heimat fu¨r sterbliche Menschen nur in dem Maße, als sie diesen in sich flu¨chtigsten und vergeblichsten Ta¨tigkeiten eine bleibende Sta¨tte sichert, als sie sich dafu¨r eignet, Ta¨tigkeiten zu beherbergen, die nicht nur vo¨llig nutzlos fu¨r den Lebensprozeß als solchen sind, sondern auch prinzipiell anderer Natur als die mannigfaltigen herstellenden Ku¨nste, durch die die Welt selbst und alle Dinge in ihr hervorgebracht sind. (VA 212)
Nicht bereits die Faktizita¨t seines Sprechens und Handelns verbu¨rgt also die Geschichtlichkeit des Menschen, sondern allein sein Vermo¨gen, diese als Geschichte zu erza¨hlen. Damit entspricht Arendts Weltbegriff recht genau der Position von Jacques Derrida, der im Rahmen einer von der UNESCO kurz vor der Jahrtausendwende initiierten Diskussion u¨ber „Die Zukunft der Werte“ den Begriff „Welt“ einer kritischen Revision unterzog, um ihn in der franzo¨sischen Pra¨gung ‚mondialisation‘ von dem rekurrenten Terminus der Globalisierung abzuheben. Das Wort ‚Welt‘ habe, so Derrida, „eine Geschichte, ihm wohnt ein Geda¨chtnis inne, das es von Begriffen wie ‚Globus‘, ‚Universum‘, ‚Erde‘ oder auch ‚Kosmos‘ unterscheidet.“5 Im Gegensatz zu jenen bezeichne der Begriff „Welt“ nach Derrida „eine ra¨umliche und zeitliche Konstellation, eine zielgerichtete Erza¨hlung u¨ber die Gemeinschaft der Menschen.“6 Gerade im Vermo¨gen, die vom Menschen hervorgebrachte Welt im Erza¨hlen allererst geschichtlich werden zu lassen, gru¨ndet fu¨r Arendt dann die eminente Bedeutung von Literatur – in diesem Sinne ist Literatur immer schon Weltliteratur. Fu¨r die historische Analyse bedeutet dies, dass der literarische Text einerseits Er5 Derrida 2007, S. 189. 6 Ebd., S. 190.
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kenntnis u¨ber die geschichtliche Welt im Hinblick auf die Faktizita¨t eines abgeschlossenen Geschehens ermo¨glicht. Er la¨sst daru¨ber hinaus im erinnernden Erza¨hlen selbst die Spezifika auch jener schon geschichtlichen „Welt“ sichtbar hervortreten als den diese allererst konstituierenden Zusammenhang von Handeln und Sprechen. Und schließlich wird, indem Arendt den Begriff ‚Welt‘ so dezidiert auf die menschliche Welt bezieht, die Erkenntnis von Geschichte, wie sie anhand des literarischen Textes mo¨glich ist, auch als politische Aufgabe im Hinblick auf das sich im Geschichtlichen abzeichnende Zuku¨nftige bestimmt und ethisch begru¨ndet. Welt und Geschichte haben definitorische Bedeutung fu¨r das, was Arendt in Vita activa als „conditio humana“ zu bestimmen sucht.
3.
Heart of Darkness
Um diese Zusammenha¨nge an einem Beispiel zu veranschaulichen, mo¨chte ich nun im zweiten Teil meines Beitrags auf die wohl umstrittenste von Hannah Arendts literarisch begru¨ndeten Geschichtsanalysen eingehen, na¨mlich auf die Joseph Conrad zitierende Passage im zentralen Kapitel ihrer Studie Origins of Totalitarianism (1951). Weltbildung im geschichtlichen Sinne nicht allein strukturell zu erfassen als Produkt aus menschlichem Handeln und dessen diskursiven Verhandlungen, sondern auch analytisch darzustellen im Hinblick auf den ethisch-politisch begru¨ndeten Auftrag des Menschen, Welt zu bilden, ist wohl der Grundgedanke, der auch diese Untersuchung Arendts schon maßgeblich bestimmte. Im Gegensatz zu einem linearen Modell historischer Rekonstruktion von Ereigniszusammenha¨ngen fokussiert Arendt hier die diskontinuierlichen Formen diskursiver Vermittlung, denen legitimatorische Funktion im Hinblick auf geschichtlich relevante Entscheidungen und Abla¨ufe zugeschrieben wurde. Daher interessiert sie sich nicht allein fu¨r Handlungen, sondern auch fu¨r die ihnen korrespondierende Sprache und beruft sich neben den „Geschichtsschreibern“ immer wieder auch auf die „Dichter“. Im ersten Teil ihrer Studie hebt sie zur Begru¨ndung dieses Ansatzes explizit hervor, dass gerade von jenen „gesellschaftlichen Faktoren”, die „den Lauf des politischen Antisemitismus zweifellos entscheidend beeinflusst und bis in seine Substanz hinein vera¨ndert” haben, „die politische und wirtschaftliche Geschichte schweigt“, da diese sich „unter der Oberfla¨che verzeichenbarer Ereignisse verbergen“. Daher seien wir auf das Zeugnis der „Dichter und Schriftsteller angewiesen“, um die substantielle Vera¨nderung des politischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, der im
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20. Jahrhundert im „Extrem der Ausrottung“7 gipfelte, allererst zu begreifen; die Kronzeugen ihrer Analysen sind dann, wie eingangs schon erwa¨hnt, Proust, Conrad und Kipling. Dabei werden die von ihr jeweils herangezogenen Texte, dem oben skizzierten Welt-Konzept entsprechend, nicht allein ihrem Inhalt nach als historische Zeugnisse begutachtet. Vielmehr hat die Erfassung von deren sprachlichen Strategien eine Schlu¨sselfunktion fu¨r Arendts gesellschaftspolitische Analysen. Dies umso mehr, als die literarischen Darstellungsverfahren, die sie analytisch erfasst, ihrerseits auf ihre eigene Schreibweise zuru¨ckwirken. Erstrangig la¨sst sich dies beobachten am Beispiel des Joseph Conrad zitierenden Unterkapitels „Die Gespensterwelt des Schwarzen Erdteils“, das sich methodisch von den Passagen der Elemente und Urspru¨nge totaler Herrschaft, in denen Arendt auf Proust und Kipling eingeht, in mehrfacher Hinsicht unterscheidet. Wa¨hrend Arendt deren Texte explizit und vergleichsweise ausfu¨hrlich im Blick auf die historische Position wie die darstellerische Intention der beiden Autoren bespricht, wird die Bezugnahme auf Heart of Darkness (1899) vollsta¨ndig in den argumentativen Kontext des Kapitels integriert. Die Argumentation wird dabei mit Conrads Diktion so intensiv verwoben, dass sie nun als eine Art Subtext fungiert. Anders als in ihren Ausfu¨hrungen zu Proust und Kipling wird also im Rekurs auf Heart of Darkness ein historischer Zusammenhang als sprachliches Ereignis identifiziert und performativ rekonstruiert. Arendts knappe Referenz auf Heart of Darkness im Kapitel „Rasse und Bu¨rokratie“ hat exemplarische Funktion fu¨r ihre Rekonstruktion der Urspru¨nge des modernen Rassismus. An Conrads Text kommt auf besonders dichte Weise gleich eine ganze Reihe preka¨rer Verha¨ltnisse und Asymmetrien zum Vorschein: das Verha¨ltnis zwischen den (historisch bedingten) Traumata von Individuen ¨ ngsten von Kollektiven; zwischen dem Anerkennungsbedu¨rfnis des und den A Einzelnen und dem Zwang zur Identifikation mit einer ihn stu¨tzenden Gruppe; ¨ berlegenheitsdiskursen zur Stu¨tzung von Machtanspru¨chen und zwischen U daraus resultierenden Unterdru¨ckungsmechanismen; zwischen den Maximen ¨ sthetik, wie auch zwischen der der Politik und dem Autonomieanspruch der A Forderung nach Wahrheit (in) der Sprache und ihrer Manipulation bis hin zu Lu¨ge oder Verleugnung. Gerade die immer wieder von Autoren in der Forschung hervorgehobene Sprachma¨chtigkeit Conrads aber erhebt seine Texte zu einer Art Lehrstu¨ck u¨ber Legitimationsstrategien, die allererst hervorzubringen Funktion eben jener Narrative ist, die die Modellierung von Erinnerung und Geschichte zu identita¨tsstiftenden Modellen fu¨r einzelne Individuen und fu¨r Kollektive steuern. 7 Arendt 1986, S. 210 f. Nachweise von Zitaten aus dieser Ausgabe erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle EU und der Seitenzahl.
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Denn der Roman ist historisches Zeugnis dessen, ‚was damals geschah‘, und er ist historisches Zeugnis in Bezug auf die Art und Weise, wie dieses Geschehen sprachlich verhandelt und vermittelt wurde. Dies betrifft gleich zwei Ebenen: Einmal betrifft es auf der Ebene des Erza¨hlten die vom Erza¨hler als erlebtes Geschehen referierte Perspektive der im Kongo agierenden Kolonisatoren und der „hollow men“,8 mithin das Sprechen, das die Rassisten entlarvt; dies umfasst auch den vielfach inkriminierten konsequenten Ausschluss der Subalternen von der Sprache, den Conrads Roman exemplarisch manifestiert. Zum anderen betrifft es auf der Ebene des Autors die Strategien, mit deren Hilfe er das Wissen, u¨ber das er verfu¨gt, gleichzeitig vermittelt und ‚durchstreicht‘. Er la¨sst seinen Erza¨hler Marlow na¨mlich das Erlebte offen legen (gegenu¨ber den Lesern des Romans respektive, auf der Erza¨hlebene, gegenu¨ber den ma¨nnlichen Zuho¨rern in der Rahmenhandlung auf dem Schiff auf der Themse), er la¨sst ihn das Erlebte aber auch im Erza¨hlen selbst verleugnen. Zuru¨ckgekehrt nach Belgien u¨bermittelt Marlow Kurtz’ hinterbliebener Braut gerade nicht das Wissen um den Schrecken, welches seinen signifikanten Ausdruck in dessen Todesschrei „The horror! The horror!“9 fand. Vielmehr ersetzt er diese Worte durch den Namen der ehemaligen ‚Zuku¨nftigen‘, wodurch er den ‚roll-back-effect‘ des ‚Horrors‘, der das ‚Mutterland‘ zu erreichen droht, zuru¨ckweist, und die gesto¨rte Ordnung durch die Restituierung des Namens wiederherstellt. Mit dieser performativen Geste u¨bermittelt Conrad seinen Lesern nicht allein die Kunde vom Schrecken in Afrika; er vermittelt ihnen zugleich ein Schema des Umgangs mit diesem Wissen. Arendt liest Conrads Roman in zwei Zeitrichtungen: Einmal retrospektiv im Bezug auf die hier zum Ausdruck gebrachten Erfahrungen mit der kolonialen Praxis im Kongo, aber auch noch weiter zuru¨ck im Blick auf ihre eigene Regressionstheorie in Bezug auf die Buren, welche sie mit ihrer Conrad-Lektu¨re stu¨tzt. Es ist Conrads Diktion, die ihr auf paradigmatische Weise die Einfu¨hlung in eine Argumentationsstruktur ermo¨glicht, aus der heraus sie ihre Thesen zur Entstehung des Rassebegriffs formuliert. Diese Thesen bringt sie dann in prospektiver Lektu¨re mit Kurtz’ Pamphlet „Exterminate all the brutes“ und mit dem an dieser Figur exemplifizierten Herrenmenschen-Gedanken zusammen, in welchem sich (unter explizitem Verweis auf die historische Person Carl Peters), nun u¨ber Conrads Epoche hinausgreifend, der zuku¨nftige Rassenbegriff der 8 Vgl. das auf Conrads Roman zuru¨ckgehende gleichnamige Gedicht von T. S. Eliot, dessen Titel in diesem Zusammenhang zum geflu¨gelten Wort geworden ist („The Hollow Men“, T. S. Eliot 1925, S. 123 ff.). Arendt bezieht sich explizit auf Conrads Wortlaut in The Origins of Totalitarianism („they were ‚hollow to the core‘“, Arendt 2004, S. 247) bzw. in Elemente und Urspru¨nge totaler Herrschaft („[…] waren sie ‚durch und durch leer und hohl […]‘“; Arendt 1986, S. 413). 9 Conrad 2006, S. 69.
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deutschen Nationalsozialisten abzeichnet. In diesem Sinne hat der Roman fu¨r Arendt den Status eines historischen Dokuments, das u¨ber seinen realhistorischen Ort hinaus Vergangenheit und Zukunft lesbar macht. Es ist schriftlich manifestes Zeitzeugnis des Kolonialismus, das als solches Kenntnis daru¨ber nach Europa vermittelt hat. Gleichzeitig ist dem Roman aber auch ablesbar, welche Denkstrukturen den Kolonialismus pra¨gen: Auf paradigmatische Weise offenbart er den kolonialistischen Blick, der den Anderen auslo¨scht; er la¨sst den Typus jener „hollow men“ hervortreten, die Faszination und Schrecken in sich vereinen; er offenbart die Macht jener faschistischen Denkweise, die sich in Kurtz’ Pamphlet manifestiert, um nur die Aspekte hervorzuheben, die Arendt in ihrer Analyse beru¨hrt. Wenn Arendt sich auf Dichter und Geschichtsschreiber im Hinblick auf deren historisches Zeugnis beruft, dann verweist sie aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive schon fru¨h auf den Konstruktionscharakter von Geschichte, nun aber nicht allein im Bezug auf den geschichtswissenschaftlichen Diskurs selbst, sondern im Bezug auf das historische Geschehen in statu nascendi. Erst von hier aus gewinnt ihre Aufmerksamkeit fu¨r die Diktion Conrads und das Entsetzen, das Heart of Darkness vermittelt, ihre eigentliche Brisanz: Es gibt keine Rechtfertigung des Rassewahnes, weder eine theoretische noch eine politische; will man daher das Entsetzen begreifen, aus dem er entstand, so wird man sich Auskunft weder bei den Gelehrten der Vo¨lkerkunde holen du¨rfen, da sie ja von dem Entsetzen gerade frei sein mußten, um mit der Forschung u¨berhaupt beginnen zu ko¨nnen, noch bei den Rassefanatikern, die vorgeben, u¨ber das Entsetzen erhaben zu sein, noch schließlich bei denen, die in ihrem berechtigten Kampf gegen Rassevorstellungen aller Art die versta¨ndliche Tendenz haben, ihnen jegliche reale Erfahrungsgrundlage u¨berhaupt abzusprechen. Joseph Conrads Erza¨hlung „Das Herz der Finsternis“ ist jedenfalls geeigneter, diesen Erfahrungshintergrund zu erhellen, als die einschla¨gige geschichtliche oder ethnologische Literatur. (EU 408)
Hervorstechender Begriff dieses Passus, zu dem es in der englischen Fassung der Origins of Totalitarianism kein Pendant gibt, ist „das Entsetzen“, das Arendt als Ursprungsereignis des Rassewahns ansieht. Dieses Entsetzen darzustellen, entzieht sich nach Arendt den ga¨ngigen historiographischen wie ethnologischen Diskursen. Im Gegensatz dazu wird Conrads Roman die besondere Eignung zugesprochen, das Entsetzen als „Erfahrungshintergrund“ des Rassewahns „erhellen“ zu ko¨nnen. In der englischen Fassung des Vorspanns zum Kapitel wird auf Conrad zwar nur in einer Anmerkung verwiesen; auch hier aber betont Arendt die erhellende Funktion von Heart of Darkness, wenn sie den Roman als „the most illuminating work on actual race experience in Africa“10 bezeichnet. 10 Arendt 2004, S. 242. Nachweise von Zitaten aus dieser Ausgabe erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle OT und der Seitenzahl.
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Das gerade in seinem Schrecken illuminierende Potential versucht Arendt nun nicht diskursiv zu ero¨rtern, sondern durch das Aufgreifen von Conrads Diktion in die eigene Redeweise neu vernehmbar zu machen; sie sprengt also gleichsam dessen geschichtlichen Gehalt aus dem Kontinuum des Textes heraus. In Arendts ¨ berbetonung des „Schemenhaften“ in diesem Kapitel vielfach inkriminierter U und „Schattenhaften“ werden die Konturen dessen sichtbar, nicht was wahrgenommen wurde, sondern wie das Wahrgenommene als irreal oder irrsinnig deklariert, wie Entsetzen sprachlich hervorgerufen und wie damit letztlich der Weg zur Vernichtung geo¨ffnet wurde. Nicht im historisch erza¨hlten Faktum erkennt Arendt das eigentliche historische Ereignis. Vielmehr situiert sie es in der Verschra¨nkung jener Handlungen, die im Kongo Geschichte wurden, mit den sprachlichen Bewa¨ltigungsstrategien, von denen Conrads Roman wie kein zweites Dokument Zeugnis ablegt. Damit wird, was dort geschah, zu einer Urszene der Geschichte auch des 20. Jahrhunderts. Es bleibt offen, ob Arendt nicht in der die Diktion Conrads wiederholenden, erneut entsetzenden Schreibweise ihres eigenen Textes dem Prinzip „rettender Kritik“ folgte, wie es Habermas erst spa¨ter in Bezug auf Benjamin formuliert hat.11 Indem sie den Leser ihres Buches so nah an die Diktion Conrads heranfu¨hrt, vermag sie jedoch zweifellos – das belegt nicht zuletzt die anhaltende Kritik an ihrer Darstellungsweise – ihn erneut zu ‚entsetzen‘, und zwar in einer Weise, die aufkla¨rerisch wirken will. Wenn Arendt Conrads Roman derart als psychologisch aufschlussreiches Dokument einer real-historischen Erfahrung liest, dann u¨berpru¨ft sie seine Darstellung immer weniger hinsichtlich der historischen Fakten, als im Hinblick auf die dabei referierten Argumentationsstrategien, die die Handlungen und Haltungen der damaligen Europa¨er in Afrika begleiteten und zu legitimieren suchten. Dabei durchsetzt Arendt auch Aussagen aus Conrads Roman, die sich auf dessen fiktiven Protagonisten beziehen, mit Aussagen der realen Person Carl Peters, um – ungeachtet des Status’ einer literarischen Konstruktion – daraus modellhaft die Bedingungen hervortreten zu lassen, die den modernen Massenmo¨rder entstehen ließen und zugleich die Mittel zu seiner (Selbst)rechtfertigung bereitstellten. In welchem Sinne dem literarischen Text in diesem Zusammenhang ein gleichwohl dokumentarischer Wert zuerkannt wird, wird wenig spa¨ter nochmals verdeutlicht, wenn Arendt Conrads Beschreibung des „Entsetzen[s] vor dem Treiben der Eingeborenen“ (EU 416; kein wo¨rtliches ¨ quivalent in der englischen Fassung) teils paraphrasiert, teils ausfu¨hrlich ziA tiert, nicht um dessen Sachgehalts willen, sondern um den Gestus seiner Schreibweise und deren Pra¨missen aufzudecken. Zweifelsohne dient Arendts Verfahren der Entlarvung der hier dargebotenen ‚Argumentation‘ und ihrer bereits rassistisch pra¨formierten Wahrnehmung, wie sie Conrad paradigmatisch 11 Habermas 1987.
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in Heart of Darkness formuliert hat. Es handelt sich um eine Konstruktion, die in der Sprache selbst aufzusuchen ist. Arendt o¨ffnet durch ihre Analyse in bis dahin nicht gekannter Weise den Blick auf die Funktion der Sprache in Bezug auf die Konstruktion des Rassismus und seiner realhistorischen Folgen innerhalb wie außerhalb Afrikas. Die Sensation von Conrads Roman besteht, wie Arendts Lektu¨re zeigt, nicht in der Offenlegung der grausamen Fakten des Kolonialismus en de´tail, die man Conrad zugute halten konnte. Sie liegt in der Selbstentlarvung der – von der Sprache untrennbaren – Mechanismen der Legitimationsbemu¨hungen, die den zutiefst menschenverachtenden Kern des Kolonialismus offen zutage treten la¨sst. Der Roman Conrads – anerkanntermaßen ein Stu¨ck ‚Weltliteratur‘ in der kanonischen Bedeutung dieses Begriffs – hat fu¨r Arendt als solcher eben darum mehr Beweiskraft als die Darstellungen der Vo¨lkerkundler oder der „Rassefanatiker“ oder deren realita¨tsblinder Gegner von Rassevorstellungen. Was sie an Conrads Roman interessiert, ist nicht das historische Zeugnis selbst, das Conrad u¨ber den Horror ablegt, dessen er in der Zeit seines Aufenthalts im Kongo ansichtig wurde. Was sich hingegen anhand von Conrads Schreibweise auf einmalige Weise erfassen la¨sst, ist das eigentliche Neue des hier produzierten Schreckens. Es lag nicht in der im Kongo stattfindenden und von Conrad nur vage u¨berlie¨ berbietung aller bisher bekannten menschlichen Grausamkeiten und ferten U Verfehlungen. Es lag in der Art und Weise der diskursiven Bewa¨ltigung der hier gemachten Erfahrungen. Es lag in der damit einhergehenden Begru¨ndung eines Legitimationsdiskurses, der das Geschehende zum System machte. Diesen historischen Schlu¨sselmoment im sprachlichen Zusammenhang seines Romans festgehalten und sichtbar gemacht zu haben, kann als die einmalige Leistung von Conrads Roman anerkannt werden. Die einmalige Leistung von Hannah Arendt bleibt es, dies analytisch aufgezeigt zu haben. Heart of Darkness manifestiert das Vermo¨gen der Literatur, Welt herzustellen, in einem preka¨ren Sinne: Der Roman konstituiert sich na¨mlich im Zwischenraum zwischen dem erlebten Schrecken, den der Autor hinter sich zu lassen und den er im Erza¨hlakt selbst auszustreichen versucht, und der Ahnung eines in diesem Schrecken bereits aufscheinenden Zuku¨nftigen. Hierin liegt das u¨ber die historische Erkenntnis noch hinausreichende Potential geschichtstheoretischer Erkenntnis, auf das Arendt bei ihrer Lektu¨re von Heart of Darkness schließlich sto¨ßt. In ihrer Analyse des literarischen Texts entdeckt sie dessen geschichtliches Wesen in doppelter Perspektivierung: Als Dokument einer vergangenen Erfahrung und als Dokument der Pra¨formation zuku¨nftiger Handlungen und Erfahrungen. So bringt ihre Lektu¨re schlussendlich eine doppelte Erkenntnis hervor: Eine auf die Realhistorie bezogene Erkenntnis qua Literatur und eine theoretische Erkenntnis im Hinblick auf den Ort der geschichtlichen Konstruktion.
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Literaturverzeichnis Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism. With a new introduction by Samantha Power. New York 2004 [1951]. Dies.: Elemente und Urspru¨nge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totale Herrschaft [abweichend auf dem Innentitel: Totalitarismus]. Ungeku¨rzte Ausgabe. Mu¨nchen 1986 [1955]. Dies.: The Human Condition. Chicago 1958. Dies.: „Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten“. LessingpreisRede gehalten 1959 [1960], in: Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz. Mu¨nchen / Zu¨rich 1989, S. 17 – 48. Dies.: „Seminarnotizen von 1965“. Unvero¨ffentlichter Nachlass Hannah Arendt, Library of Congress, Washington, D. C., Blatt 023762. Zit. nach: Heuer, Wolfgang: „Verstehen als Sichtbarmachen von Erfahrungen“, in: Heuer, Wolfgang / Lu¨he, Irmela von der (Hg.): Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Ku¨nste. Go¨ttingen 2007, S. 197 – 212. Dies.: Vita activa oder Vom ta¨tigen Leben. Mu¨nchen 21981 [1967]. Dies.: Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought. Introduction by Jerome Kohn. New York 2006 [1968]. ¨ bungen im politischen Denken 1. Hg. v. Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. U Ursula Ludz. Mu¨nchen 1994. Conrad, Joseph: Heart of Darkness. An Authoritative Text, Backgrounds and Sources, Criticism. Ed. by Paul B. Armstrong. New York / London 42006 [1899]. Derrida, Jacques: „Mondialisation, Frieden und Kosmopolitik“, in: Binde´, Je´roˆme (Hg.): Die Zukunft der Werte. Dialoge u¨ber das 21. Jahrhundert. Aus dem Engl. bzw. Franz. u¨bers. v. Frank Sievers u. Andreas Jandl. Frankfurt a. M. 2007 [2004], S. 184 – 210. Habermas, Ju¨rgen: „Bewußtmachende oder rettende Kritik“, in: Habermas, Ju¨rgen: Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1987 [1971], S. 336 – 376.
Barbara Ventarola
Zwischen situationaler Repra¨sentation und Multiadressierung – Marcel Proust und Jorge Luis Borges als Paradigmen der Weltliterarizita¨t
1.
Weltliteratur zwischen Abstraktion und Konkretion
Weltliteratur ist ein vielgestaltiger Begriff. Niklas Luhmann etwa versteht darunter eine Form der Beobachtung zweiter Ordnung, die vor allem die inkommensurable Undarstellbarkeit der Einheit der Welt vor Augen fu¨hre.1 Ihre Universalita¨t gewinnt Weltliteratur in diesem Modell durch eine Kappung aller „kosmologischen und gesellschaftlichen Abha¨ngigkeiten“,2 die die Konstruktion einer autonomen und damit situationsunabha¨ngigen Welt ermo¨gliche. Damit extrapoliert der Differenztheoretiker Luhmann letztlich spezifisch europa¨ischmoderne, autonomiea¨sthetische Konzepte auf die gesamte Welt. Er erkauft seinen Universalismus durch eine Abstraktion, die paradoxerweise fu¨r globale Differenzen blind bleibt. Ganz anders etwa die postkoloniale Weltliteraturkonzeption von Homi Bhabha. Gegenu¨ber der eurozentristischen Hypostasierung des Einheitlichen, des Abstrakt-Universellen und des Kanonischen betont er nun – nicht zuletzt unter Ru¨ckgriff auf Edward Saids Konzept der „Weltlichkeit“ und Fredric Jamesons Konzept des „situationale[n] Bewußtsein[s]“3 – die Vielfalt des Konkreten und des Hybriden. ‚Weltliteratur‘ ist fu¨r ihn eine Form der ‚Drittra¨um1 Vgl. dazu Luhmann 2008. 2 Ebd., S. 220. 3 Beide Zitate in: Bhabha 2000, S. 209. Saids Konzept der Weltlichkeit definiert Bhabha dort – Said zitierend – als eine Betrachtungsweise, „in der ‚sinnlich wahrnehmbare Partikularita¨t sowie historische Kontingenz […] auf derselben Ebene der Oberfla¨chen-Partikularita¨t existieren wie das textliche Objekt selbst‘“ [Hervorhebung im Original]. Der genaue Quellennachweis fehlt. Zur Erkla¨rung von Jamesons Konzept des situationalen Bewusstseins, das ich im Titel meines Aufsatzes in etwas abgewandelter Form aufgreife, zitiert er folgende Worte: Es handle sich hierbei um eine Schreibweise, „bei der das Erza¨hlen der individuellen Geschichte und die individuelle Erfahrung schließlich das ganze mu¨hsame Erza¨hlen der Gemeinschaft selbst beinhalten werden“ (ebd., S. 209 f.). Er beruft sich hierfu¨r auf Jameson 1986, S. 69 ff. Hieran anknu¨pfend verstehe ich unter ‚situationaler Repra¨sentation‘ eine Darstellungsweise von Welt, die gleichsam in der Erfahrungswelt einer konkreten (individuellen, aber durchaus auch gemeinschaftlichen) Partikularrealita¨t verankert ist.
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lichkeit‘ (third space), die systemische Ordnungen gleichsam migrativ durchkreuzt und so kritisch außer Kraft setzt.4 Auf ihre je eigene Weise sind beide Positionen bei all ihrer instruktiven Subtilita¨t meines Erachtens ein wenig zu extrem, da sie je nur bestimmte Seiten von ‚Weltliterarizita¨t‘ beru¨cksichtigen: Luhmann vor allem das Abstrakt-Universelle; Bhabha das Partikula¨r-Konkrete. Wenn ich im Folgenden die Werke von Proust und Borges vergleiche, so vor allem mit Blick auf die Frage, welchen Beitrag sie jeweils fu¨r die Erarbeitung eines ‚neuen‘ Konzepts von Weltliteratur zu leisten vermo¨gen – eines Konzepts, das sich zwischen den beiden erwa¨hnten Extrempositionen ansiedelt und damit der multilateralen Komplexita¨t einer globalisierten ‚Welt aus Welten‘ besser gerecht wird.
2.
Auf der Suche nach einer neuen Weltliteratur: Marcel Prousts Recherche (1913 – 1927)
Der vielba¨ndige Monumentalroman Prousts scheint sich zuna¨chst nicht als Grundlage fu¨r interkulturelle Fragestellungen globalen Zuschnitts zu eignen. Die vom Ich-Erza¨hler ‚Marcel‘ beschriebene Welt ist historisch und kulturell eng definiert – es ist das gutbu¨rgerliche bzw. adlige Frankreich des Fin de sie`cle, in dem der Autor selbst aufgewachsen ist. ‚Marcel‘ stellt in dieser fiktiven Autobiographie in vielerlei Hinsicht das Alter Ego Prousts dar. Leitend fu¨r die Darstellung scheint zudem weniger ein theoretischer Impetus als eine quasi-romantische Nostalgie zu sein, in der sich ein extremer Individualismus und ein platonisierendes Streben nach einer vordenklichen, totalen Einheit kreuzen. Der Erza¨hler scheint vor allem daran interessiert, in seinen ganz perso¨nlichen Erinnerungen zu schwelgen und dort die ‚Totalita¨t‘ der erlebten Zeit wiederzufinden. Wenn der Text mit dem ‚totalisierenden‘ Weltbezug seiner unendlichen Zeichenflut auf den Globalisierungsschub um 1900 reagiert,5 so scheinbar vor allem im Sinne einer Verdra¨ngung. Beru¨cksichtigt man allerdings die Selbstaussagen Prousts und gleicht diese mit den zentralen Strukturen des Werks ab, dann ergibt sich ein anderes Bild. Ich mo¨chte dieses in aller gebotenen Ku¨rze skizzieren:6 4 Vgl. dazu bes. die Einleitung und Kap. 8 in Bhabha 2000. Ein ausfu¨hrlicher kritischer Vergleich des systemtheoretischen und des postkolonialen Konzepts von Weltliteratur findet sich ¨ berlebei Ventarola 2014 (im Druck). Das dort vorgeschlagene Lo¨sungsmodell liegt den U gungen dieses Aufsatzes implizit zugrunde. 5 Zum historiographischen Konzept des Globalisierungsschubs vgl. bes. Schu¨ttpelz 2005. 6 Die folgende Lektu¨re kann kaum mehr als einige grobe Linien skizzieren. Fu¨r eine ausfu¨hrlichere Begru¨ndung meiner Neudeutung der Recherche vgl. Ventarola 2012; sowie dies. 2013, Zweiter Teil, Kap. V.
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Als ‚Marcel‘ endlich seine Berufung zum Schriftsteller gefunden hat (na¨mlich ganz am Ende des letzten Romans Le temps retrouve´), denkt er intensiv u¨ber die Parameter seiner zu schreibenden Literatur nach. Besonders treibt ihn dabei auch das Verha¨ltnis von Partikularita¨t und Allgemeinheit um: Mais puisque nous vivons loin des eˆtres individuels, puisque nos sentiments les plus forts, comme avait e´te´ mon amour pour ma grand-me`re, pour Albertine, au bout de quelques anne´es nous ne les connaissons plus, […], falluˆt-il […] les transcrire d’abord en un langage universel mais qui du moins sera permanent, qui ferait de ceux qui ne sont plus, en leur essence la plus vraie, une acquisition perpe´tuelle pour toutes les aˆmes? Meˆme cette loi du changement qui nous a rendu ces mots inintelligibles, si nous parvenons a` l’expliquer, notre infirmite´ ne devient-elle pas une force nouvelle?7
Und zuvor schon: Je n’e´tais pas indiffe´rent a` ces derniers exemples, comme chaque fois que sous le particulier on me montrait le ge´ne´ral. (Recherche II, S. 416)8
Bei aller Feier individualistischer Partikularita¨t gibt ‚Marcel‘ / Proust hier ein erstaunliches Interesse an Verallgemeinerungen und einer ‚allgemein‘ versta¨ndlichen Sprache zu erkennen. Den Impetus einer gar theoretischen Welterforschung, der mit dem Wunsch nach erkla¨renden Gesetzma¨ßigkeiten anklingt, formuliert er an anderer Stelle noch programmatischer aus: Puisque j’avais de´cide´ qu’elle ne pouvait eˆtre uniquement constitue´e par les impressions ve´ritablement pleines, celles qui sont en dehors du temps, parmi les ve´rite´s avec lesquelles je comptais les sertir, celles qui se rapportent au temps, au temps dans lequel baignent et changent les hommes, les socie´te´s, les nations, tiendraient une place importante. (Recherche IV, S. 510)9
Wenn die Poetik der Recherche also, wie die Forschung immer wieder zeigt, so irritierend heteroklit ist, wenn sich dort Weltflucht und Weltbezug, Situations¨ bersetzung: 7 Proust 1987 – 1989 [im Folgenden zitiert als Recherche], IV, S. 482. Deutsche U „Da wir aber fern von den Individuen leben, da wir unsere sta¨rksten Gefu¨hle, wie meine Liebe zu meiner Großmutter, zu Albertine es gewesen waren, nach einigen Jahren nicht mehr kennen, […], wa¨re es dann nicht no¨tig, sie […] zuna¨chst in eine allgemein versta¨ndliche, aber wenigstens besta¨ndige Sprache zu u¨bersetzen […]? Wird nicht sogar, wenn es uns gelingt, das Gesetz der Wandlung zu erkla¨ren, das uns jene Worte unversta¨ndlich gemacht hat, unsere Schwa¨che zu einer neuen Sta¨rke werden.“ (Proust 2000, Bd. 3, S. 3996 [im Folgenden zitiert als Suche]) 8 „Ich war nicht unempfindlich fu¨r diese letzten Beispiele, wie ich es nie war, wenn man mir unter dem Besonderen das Allgemeine zeigte.“ (Suche, Bd. 2, S. 1406) 9 „Da ich in mir entschieden hatte, daß dieser Stoff nicht einzig aus wirklich erfu¨llten Eindru¨cken bestehen ko¨nne, solchen, die außerhalb der Zeit gelegen waren, wu¨rden unter den Wahrheiten, mit denen ich sie hier und da aufzufu¨llen gedachte, auch solche, die sich auf die Zeit beziehen, auf die Zeit, in welcher die Menschen, die Gesellschaften, die Nationen weben und sich wandeln, einen bedeutenden Raum einnehmen.“ (Suche, Bd. 3, S. 4035)
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gebundenheit und Autonomie, Fu¨lle des individuell erlebten Augenblicks und forschende Beobachtung, Individualismus und ‚Klassizismus‘ so eng verflochten finden, dann ist dies offenbar das Ergebnis eines pra¨zise durchdachten strategischen Kalku¨ls. Der Roman ist ebenso als eine Feier a¨sthetischer Imagination wie auch als eine recherche im engen Sinn konzipiert: als eine quasiwissenschaftliche Forschungsstudie. Und obwohl das schreibende Ich mit seinen konkreten, vielfach sehr ko¨rperbetonten Erinnerungen immer wieder im Frankreich des Fin de sie`cle verankert wird, erha¨lt das inszenierte Spiel zwischen „Finden und Erfinden“10 mit dem Hinweis auf die Vielfalt der „Gesellschaften“ und „Nationen“ explizit eine globale, weltumspannende Ausrichtung. Mit der Makrostruktur der Recherche realisiert Proust dieses Projekt auf umfassende Weise. Denn hinter der augenscheinlichen Chaotisierung ist die Abfolge der einzelnen Teilromane, wie er selbst schreibt, „dogmatisch durchkonstruiert“.11 Jeder Einzelroman dieses großangelegten Roman-Netzwerks ist nicht nur einer bestimmten biographischen Phase des Protagonisten gewidmet, sondern auch einem thematischen Schwerpunkt. Am Ende der Lektu¨re hat man von der Bewusstseinstheorie (Combray) u¨ber die Zeichentheorie (in den beiden ‚Namensromanen‘ Noms de pays), die Soziologie und die Theorie kultureller Evolution (Le coˆte´ de Guermantes und Sodome et Gomorrhe), die Theorie der Liebe und der Fremdwahrnehmung allgemein (in den Albertine-Romanen), bis hin zur Reflexion u¨ber das (Kriege heraufbeschwo¨rende) Scheitern (inter-) kultureller Kontakte, die Wissenschaftstheorie sowie natu¨rlich die Theorie der Literatur und Kunst (in Le temps retrouve´) alle Bereiche des Wirklichen durchmessen. Ein erneuter Blick auf die paratextuellen Selbstaussagen Prousts belegt, dass auch dies gewollt ist, und zwar mit dem Ziel, ein ganz bestimmtes Weltmodell zur Darstellung zu bringen: Non, je n’avais pas de croyances intellectuelles, si je cherchais simplement a` me souvenir et a` faire double emploi par ces souvenirs avec les jours ve´cus, je ne prendrais pas, malade comme je suis, la peine d’e´crire. Mais cette e´volution d’une pense´e, je n’ai pas voulu l’analyser abstraitement mais la recre´er, la faire vivre.12 10 Zur Fiktion als Spiel zwischen Finden und Erfinden vgl. Waldenfels 1987, S. 167 – 169. 11 Vgl. dazu Proust / Rivie`re 1976, S. 27: „Enfin je trouve un lecteur qui devine que mon livre est un ouvrage dogmatique et une construction“ [Hervorhebung im Original]. Deutsche ¨ bersetzung: „Endlich finde ich einen Leser, der erra¨t, daß mein Buch ein dogmatisches, U durchkonstruiertes Werk ist.“ (Proust 1964, S. 292) [Hervorhebung im Original]. – Fu¨r die folgende Deutung ist nicht ohne Belang, dass ‚Marcel‘ / Proust zur metaphorischen Visualisierung der Konstruktionsprinzipien der Recherche das zuna¨chst verwendete Bild der Kathedrale (Suche, Bd. 3, S. 4174) durch jenes eines niemals fertiggestellten Flickenstoffes ersetzt (ebd., S. 4176). Vgl. dazu auch Ventarola 2012. ¨ bersetzung: „Nein, ich ha¨tte keine geistigen U ¨ ber12 Proust / Rivie`re 1976, S. 28. Deutsche U zeugungen, suchte ich mich lediglich zu erinnern und durch diese Erinnerungen hindurch die gelebte Zeit doppelt zu nu¨tzen, dann na¨hme ich in meinem kranken Zustand mir nicht die
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Wenn der Recherche also ein weltumspannender Impetus zugrundeliegt, dann im forschenden Erfragen aller Konstituenten der Realita¨t. Die Art der Befragung nun ist eine ganz besondere. An anderer Stelle habe ich gezeigt, dass Proust damit eine umfassende liminale Poetik der Zwischenra¨ume realisiert, die alle Wirklichkeitsbereiche betrifft und sich u¨berdies dezidiert in den Horizont des zeitgeno¨ssischen Pluralismus einschreibt:13 Die Polarita¨ten werden bewusst nicht als bina¨re Oppositionen begriffen, sondern als Fluchtpunkte von semantischen Achsen, die sich in unendlich viele Zwischenzonen aufbla¨ttern und auf vielfache Weise mit anderen Achsen kreuzen ko¨nnen. Dergestalt werden sowohl die implizite Bewusstseinstheorie als auch die Theorie der ¨ berZeichen, der Gesellschaften und der Nationenbildung vor allem auf die U lappungszonen, die Interaktionen und die Logiken des Sowohl / Als-auch fokussiert, und die Welt erscheint als ein multiperspektivisches, multivektoriales, mehrfach vernetztes Universum aus Partikularrealita¨ten: Zwar stellen die einzelnen ‚Entita¨ten‘ (Bewusstseine, Ichs, Zeichen, Nationen etc.) je eigene (perspektivische) Welten dar ;14 genau in ihrem ‚monadischen‘ Charakter sind sie jedoch auch miteinander vernetzt, da sie in sich aus heterogenen sowie partiell analogen Elementen bestehen, mit denen sie gleichsam poro¨s werden und aufeinander einwirken ko¨nnen. Emblematisch verdichtet sich diese Weltsicht in folgenden Sa¨tzen: Comme la plupart des eˆtres, d’ailleurs, n’e´tait-elle pas comme sont dans les foreˆts les ‚e´toiles‘ des carrefours ou` viennent converger des routes venues, pour notre vie aussi, des points les plus diffe´rents? Elles e´taient nombreuses pour moi, celle qui aboutissaient a` Mlle de Saint-Loup et qui rayonnaient autour d’elle. (Recherche IV, S. 606)15
Mit dieser Poetik des Liminalen suggeriert Proust ein Konzept von (Inter-) ¨ hnlichkeiten und ein Denken in Subjektivita¨t, in dem sich ein Denken in A 16 Differenzen komplementa¨r verbinden. Proust selbst benennt die Zielsetzung,
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Mu¨he zu schreiben. Aber die Entfaltung eines Denkens wollte ich nicht abstrakt zergliedern, sondern scho¨pferisch gestalten, zum Leben bringen.“ (Proust 1964, S. 294) Vgl. Ventarola 2012. Vgl. dazu auch Recherche II, S. 366: „[…] que je compris que ce n’est pas le monde physique seul qui diffe`re de l’aspect sous lequel nous le voyons; que toute re´alite´ est peut-eˆtre aussi ¨ bersetzung: „[…], daß dissemblable de celle que nous croyons percevoir […].“ Deutsche U ich mit einem Male begriff, wie nicht nur die physische Welt vollkommen anders ist, je nachdem, von wo aus wir sie sehen, sondern daß jede Wirklichkeit […] verschieden erscheint, […].“ (Suche, Bd. 2, S. 1340) „War sie nicht u¨brigens wie die meisten Wesen dem a¨hnlich, was in Wa¨ldern die Markierungen an Kreuzwegen sind, an denen – wie auch in unserem Leben – Wege, die von den verschiedensten Punkten herkommen, sich vereinigen? Sie waren zahlreich fu¨r mich, die Wege, die bei Mademoiselle de Saint-Loup zusammentrafen oder von ihr sich strahlenfo¨rmig erstreckten.“ (Suche, Bd. 3, S. 4169) Proust nimmt damit Wittgensteins Konzept der Familiena¨hnlichkeiten und letztlich auch
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die hinter dieser polyperspektivischen Netzwerk-Poetik steht: „Car nous sentons que la vie est un peu plus complique´e qu’on ne dit, et meˆme les circonstances. Et il y a une ne´cessite´ pressante a` montrer cette complexite´.“ (Recherche III, S. 495)17 Inwiefern sind damit nun Parameter fu¨r ein ‚neues‘ Konzept von Weltliteratur gegeben? Stark vereinfacht ko¨nnte man sagen, dass sich der Weltbezug von Weltliteratur in drei Aspekten konkretisiert: In der Vorstellung von der Welt, in der Darstellung der Welt und in der Rezeption durch die Welt. Auf der Basis seines liminalen Denkens entwickelt Proust in allen drei Aspekten nutzbare Denkoptionen. a) Die Vorstellung von der Welt: Je mehr sich der Horizont ausdehnt, desto sta¨rker ru¨ckt derzeit die Vielfalt kultureller Partikularrealita¨ten in den Blick. Mehr und mehr wird erkannt, dass ein Universalismus, der ausschließlich auf ¨ hnlichkeiten zwischen dem Differenten abhebt, der globalen Vielfalt undie A terschiedlicher (kultureller) Lebensformen nicht gerecht wird. Eine zu große Abstraktion invisibilisiert wichtige, situationsgebundene Differenzen und erlaubt es nicht, die Welt als eine Welt aus Welten zu erkennen. Auf die immer dringlichere Frage, wie sich mit dem globalen Blick stattdessen vor allem auch die einzelnen „Spha¨ren“18 sowie die u¨berlappenden Kontaktra¨ume zwischen ihnen beru¨cksichtigen lassen, vermag ein u¨bertriebenes Einheitsdenken keine befriedigenden Antworten zu liefern. Proust la¨sst in seiner Recherche neue Lo¨sungsmo¨glichkeiten erahnen, indem er eine Vorstellung von der Welt entwirft, die dieser Komplexita¨t Rechnung tra¨gt. Da er in allen Bereichen gerade das Spiel zwischen Analogien und Differenzen hervorhebt und – unter Ru¨ckgriff auf Leibniz’ Weltmodell – den unendlichen graduellen Abstufungen des Wirklichen, ¨ berlappungen und Kompleden multivektoriellen Interaktionen, Osmosen, U mentarita¨ten nachspu¨rt, verbindet er Einheit und Vielfalt, das Lokale und das Globale auf zukunftstra¨chtige Weise. Proust siedelt sich gleichsam zwischen einem u¨bertriebenen Universalismus und einem hypostasierten Pluralismus an: Die Welt, die er entwirft, ist eine polykontexturale Welt aus vernetzten Welten, ein komplexes, dynamisches Gewebe aus interagierenden, sich u¨berlappenden wesentliche Erkenntnisse der Prototypentheorie vorweg. Zugleich knu¨pft er konstruktiv an die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz an. Doch dazu an anderer Stelle mehr. Vgl. Ventarola 2012 und 2013. 17 „[…] wir spu¨ren, daß das Leben wohl doch etwas komplizierter ist, als man sagt, und daß auch die Umsta¨nde es sind. Es besteht nun aber eine dringende Notwendigkeit, diesen komplexen Charakter einmal aufzuzeigen.“ (Suche, Bd. 3, S. 4014) 18 Vgl. dazu Sloterdijk 1998; 1999; 2004. Vor allem im dritten Band versucht sich Sloterdijk an einer Theorie des Globalen „unter dem Gesichtspunkt, daß das ‚Leben‘ sich multifokal, multiperspektivisch und heterarchisch entfaltet“ (vgl. Sloterdijk 2004, S. 23).
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und besta¨ndig verschiebenden Partikularrealita¨ten, die einerseits zwar individuell sind, aber dennoch basale Gesetzma¨ßigkeiten teilen.19 b) Die Darstellung der Welt: Prousts Vorstellung von der Welt mu¨ndet schlu¨ssig auch in seine narrativen Darstellungsprinzipien. So bleibt der Weltbezug der Recherche zwar vordergru¨ndig auf das Frankreich des Fin de sie`cle eingegrenzt. Doch bei genauem Besehen werden alle Beschreibungen, Reflexionen und Darstellungen so realisiert, dass die entstehenden Bilder und Ra¨ume trotz ihrer situationsgebundenen ‚Welthaltigkeit‘ stets offene Stellen aufweisen, Leerstellen, die sowohl logischer als auch semantischer und / oder biographischer Art sein ko¨nnen. Bei aller ‚totalisierenden‘ Zeichenfu¨lle wird die dargestellte Wirklichkeit auf diese Weise gleichsam mit offenen Stellen durchlo¨chert, die vom Leser mit seinen eigenen Assoziationen gefu¨llt werden ko¨nnen. Es ¨ bersetzung des entstehen Unbestimmtheitsra¨ume, die einen Transfer bzw. eine U Gelesenen in andere (Leser-)Kontexte ermo¨glichen und den Text somit multipel anschlussfa¨hig und adressierbar machen. Grundlage dieses Verfahrens ist eine ganz besondere – ebenfalls liminale – Zeichenkonzeption, wie sie sich in folgenden Zeilen besonders scho¨n zu erkennen gibt: […]; dans le nom de Balbec, comme dans le verre grossissant de ces porte-plume qu’on ache`te aux bains de mer, j’apercevais des vagues souleve´es autour d’une e´glise de style persan. Peut-eˆtre meˆme la simplification de ces images fut-elle une des causes de l’empire qu’elles prirent sur moi. Quand mon pe`re eut de´cide´, une anne´e, que nous irions passer les vacances de Paˆques a` Florence et a` Venise, n’ayant pas la place de faire entrer dans le nom de Florence les e´le´ments qui composent d’habitude les villes, je fus contraint a` faire sortir une cite´ surnaturelle de la fe´condation, par certains parfums printaniers, de ce que je croyais eˆtre, en son essence, le ge´nie de Giotto. […] – parce qu’on ne peut pas faire tenir dans un nom beaucoup plus de dure´e que d’espace – […]. (Recherche I, S. 382)20 19 Mit diesen Komplexionen setzt sich Proust dezidiert von den zeitgeno¨ssischen Kulturraumstudien und Vo¨lkertheorien ab, die den jeweiligen Milieueinfluss (also die konkrete situationale Verankerung) zur Grundlage fu¨r ein allzu essentialistisches Konzept des Volksoder Nationalcharakters machen. Vgl. dazu etwa Recherche II, S. 488: „Mais, au reste, parler de permanence de races rend inexactement l’impression que nous recevons des Juifs, des Grecs, des Persans, de tous ces peuples auxquels il vaut mieux laisser leur varie´te´.“ Deutsche ¨ bersetzung: „Im U ¨ brigen entspricht die Formulierung ‚Fortdauer des Rassischen‘ nur U ungenau dem Eindruck, den wir von Juden, Griechen oder Persern erhalten: von allen jenen Vo¨lkern, denen man besser ihre Vielgestaltigkeit bela¨ßt.“ (Suche, Bd. 2, S. 1506) 20 „[…]; in dem Namen Balbec sah ich wie auf den kleinen hinter einem Vergro¨ßerungsglas angebrachten Photographien in den Federhaltern, wie man sie in Seeba¨dern kauft, Wogen, die eine Kirche in persischem Stil umdra¨uten. Vielleicht war gerade die Vereinfachung ein Grund, weshalb diese Bilder solche Macht u¨ber mich gewannen. Als mein Vater in einem Jahre einmal entschieden hatte, daß wir die Osterferien in Florenz und Venedig verbringen wu¨rden, boten die Namen mir nicht genu¨gend Raum, um alle Elemente darin unterzubringen, und damit war ich gezwungen, eine Art u¨berweltlicher Stadt aus der Verma¨hlung gewisser Fru¨hlingsdu¨fte mit dem, was ich fu¨r den Genius Giottos hielt, willku¨rlich zu er-
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Auch die Zeichen werden also als liminale Gro¨ßen konzipiert: Konkretion und Abstraktion, Subjektivita¨t und Intersubjektivita¨t, Einheit und Vielfalt sind in ihnen komplex verflochten. Es sind mikrotische Projektionsfla¨chen, Archive fu¨r je wandelbare Vorstellungen, die sowohl in der konkreten, situationsgebundenen Erfahrungswelt wurzeln als auch aus dem u¨berindividuellen kulturellen Wissen (Bu¨cher, Photographien, Kunstwerke) gespeist werden. Die Evidenz, ja die ‚Essenz‘ der Zeichen ist somit wandelbar, da sie zugleich situational verankert und fu¨r die Multiadressierung offen sind: „Ainsi, a` tous les moments de sa dure´e, le nom de Guermantes, […], subissait des de´perditions, recrutait des e´le´ments nouveaux […]“ (Recherche IV, S. 548).21 Indem Proust noch in den semiotischen ‚Entita¨ten‘ eine innere Vielfalt, Heterogenita¨t und Wandelbarkeit aufspu¨rt, macht er deutlich, dass die Reflexionen durch den Austausch einiger weniger Merkmale in zahlreiche differente Kontexte u¨bersetzt werden ko¨nnen. Demgema¨ß verwendet Proust auch seine eigenen poetischen Zeichen: Die Darstellungen sind von einer frappierend konkreten Pra¨zision und dennoch so offen, dass jeder Leser ‚Elemente‘ aus seinem eigenen (gelebten, angelesenen und ku¨nstlerisch vermittelten) Erfahrungsschatz darin unterbringen kann. Dass diese multiple Adressierbarkeit durchaus gewollt ist, macht er ebenfalls explizit: Il e´tait triste pour moi de penser que mon amour auquel j’avais tant tenu, serait, dans mon livre, si de´gage´ d’un eˆtre que des lecteurs divers l’appliqueraient exactement a` ce qu’ils avaient e´prouve´ pour d’autres femmes. (Recherche IV, S. 481)22
Sowie: Car ils ne seraient pas, selon moi, mes lecteurs, mais les propres lecteurs d’eux-meˆmes, mon livre n’e´tant qu’une sorte de ces verres grossissants […]; mon livre, graˆce auquel je leur fournirais le moyen de lire en eux-meˆmes. (Recherche IV, S. 610)23
Damit bin ich bereits beim dritten Punkt angelangt: c) Die Rezeption durch die Welt: Mit dieser Poetik, in der situationale Repra¨sentation und Multiadressierbarkeit intrikat verflochten sind, realisiert Proust dezidiert eine bestimmte Form der Rezeptions- bzw. Wirkungsa¨sthetik. zielen. […] – da man ja in einen Namen ebensowenig Dauer wie Weite hineinzwingen kann – […].“ (Suche, Bd. 1, S. 515) 21 „So erlitt der Name Guermantes […] in jedem Moment Verlust; aber ebenso nahm er auch immerfort neue Elemente auf […].“ (Suche, Bd. 3, S. 4087) 22 „Es war traurig fu¨r mich zu denken, daß meine Liebe, auf die ich so großes Gewicht gelegt hatte, in meinem Buche derart von einem bestimmten Wesen losgelo¨st auftreten werde, daß die verschiedensten Leser meine Gedanken daru¨ber genauso gut auf das wu¨rden anwenden ko¨nnen, was sie selbst fu¨r andere Frauen empfunden hatten.“ (Suche, Bd. 3, S. 3995) 23 „Denn sie [meine Leser, B. V.] wu¨rden meiner Meinung nach nicht meine Leser sein, sondern die Leser ihrer selbst, da mein Buch nur etwas wie ein Vergro¨ßerungsglas sein wu¨rde, […] – mein Buch, durch das ich ihnen ermo¨glichen wu¨rde, in sich selbst zu lesen.“ (Suche, Bd. 3, S. 4174 f.)
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Mit Blick auf interkulturelle, globale Fragestellungen ist diese allerdings avant la lettre ‚avancierter‘ als etwa jene von Hans Robert Jauß oder Wolfgang Iser. Ein wesentliches Problem ihrer Form der Beru¨cksichtigung des Lesers liegt im allzu analogistischen Intersubjektivita¨tskonzept, auf dem sie fußt. So wird Literatur dort zwar grundsa¨tzlich als ein Potentialis fu¨r unendlich viele Lesarten angesehen, doch zugleich findet man Sa¨tze wie: „Textstruktur und Aktstruktur verhalten sich zueinander wie Intention und Erfu¨llung“,24 die recht unverblu¨mt eine implizite und monosystematische Teleologie zum Ausdruck bringen: Das Lesen eines Textes wird hier weitgehend als ein Nachvollzug begriffen, der einen gemeinsamen kulturellen Horizont erfordert.25 Indem das dahinterstehende Weltmodell also letztlich einem ontologischen Einheitsdenken verpflichtet ist – bekanntlich sind Husserl und Gadamer die wichtigsten Gewa¨hrsma¨nner der ‚herko¨mmlichen‘ Rezeptionsa¨sthetik –, und indem die Geschichte ganz folgerichtig als ein kontinuierlicher, unidirektionaler Prozess angesehen wird, der aus einer zentralen Quelle emaniert, ist das Modell fu¨r die Beschreibung von Lektu¨reprozessen in einer polykontexturalen Welt nicht genu¨gend pra¨pariert. Prousts Text ist hier bei aller Zeichenflut offener. Denn da er im Ru¨ckgriff auf Leibniz und den zeitgeno¨ssischen philosophischen Pluralismus gerade das Spiel zwischen Analogien und Differenzen auslotet und von einer multivektoriellen, polyzentrischen Welt ausgeht, durchdenkt er die Mo¨glichkeit einer Vielfalt kreativer Rezeptionsvorga¨nge, die kulturelle Grenzen und Traditionen dezidiert u¨berschreiten und durchkreuzen ko¨nnen. Neben dem identifikatorischen Nachvollzug ermo¨glicht sein Text (sehr viel schlu¨ssiger als von Jauß und Iser ¨ bersetzung, ja selbst die letheoretisch bedacht) auch den Transfer und die U sende ‚Umschrift‘ und damit die eigenma¨chtige Erzeugung imagina¨rer, ‚neuer‘ ¨ berblendung des Gelesenen mit dem selbst Erleben reWelten, die aus der U sultieren kann. Mit seiner Recherche reagiert Proust folglich durchaus konstruktiv auf den Globalisierungsschub um 1900.
24 Iser 1976, S. 63. 25 Noch deutlicher wird dies bei Jauß 1970. Denn dort perspektiviert er die Akkumulation wiederholter Lektu¨ren explizit als Prozess einer „fortwa¨hrenden Totalisierung“ des Vergangenen (ebd., S. 164) und geht u¨berdies davon aus, dass der je gegenwa¨rtige Horizont des Lesers genau deshalb fu¨r die ‚Objektivierung‘ vergangener Horizonte genutzt werden ko¨nne, weil beide derselben Wurzel entstammten und sich somit auf ein und derselben historischen Fluchtlinie befa¨nden (ebd., S. 192). Fu¨r eine etwas ausfu¨hrlichere und differenziertere Kritik vgl. Ventarola 2013, Erster Teil, Kap. III, 3.
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Performative Reisen ‚um die Welt‘: Das Werk Jorge Luis Borges’
In der Forschung wird der ‚Weltliterat‘ Borges zumeist als Opponent von Proust gesehen: Mit der extremen Reduktivita¨t seiner Kurzgeschichten komme eine Zersplitterung und Fragmentierung der Welt zur Darstellung, die jene universelle Einheit als endgu¨ltig verloren ausgebe, der Proust durchaus noch nachspu¨re. Nach der vorangegangenen Relektu¨re der Recherche werden nun jedoch erstaunliche Affinita¨ten sichtbar. Zwar verfasst Borges ausschließlich kurze Texte, doch in diesen evoziert er ganze Welten (wie z. B. in La biblioteca de Babel oder in Tlo¨n, Uqbar, Orbis tertius). Zudem durchmisst er mit seinen Kurzgeschichten und Essays alle Kulturen, Religionen, Mythen und Philosophien des Globus. Im Gesamtwerk entsteht so – wie bei Proust – ein System aus Systemen, die alle miteinander vernetzt sind und sich ineinander spiegeln.26 Dass auch bei diesem Weltmodell Leibniz mit seiner Philosophie Pate steht, kann ich hier leider nicht mehr zeigen. Offenbar zelebriert Borges also weniger eine schlichte Abkehr von Proust, als vielmehr just jene eigenma¨chtige Fortfu¨hrung, die Proust selbst seinen Lesern implizit ans Herz gelegt hat.27 Er spu¨rt die Potentiale in Prousts Programm auf und treibt sie in verschiedene Richtungen weiter : Indem er in seinen Texten eine Fu¨lle verschiedener Erza¨hlerrollen aufruft und so alle Kulturen, Religionen, Mythen und Philosophien der Welt zu Wort kommen la¨sst, multipliziert er gleichsam die situationale Repra¨sentation. Prousts impliziter Polyperspektivismus wird explizit transkulturell ausgeweitet. Mit der Kurzform erho¨ht er zugleich das Potential der Multiadressierung. Zum einen, da die Leerstelle so zum zentralen poetischen Prinzip erhoben wird; und zum anderen, da er die je evozierten Welten auf diese Weise direkt miteinander konfrontieren kann – es entstehen zahlreiche Perspektivenkreuzungen, und dies nach eigenen Aussagen dezidiert mit dem Ziel, die interaktive Performativita¨t seiner Texte zu erho¨hen und die Leserschaft zu eigenma¨chtigen dialogischen Welterzeugungen anzuregen: „Un libro de esta ´ındole es necesariamente incompleto; cada nueva edicio´n es el nucleo de ediciones futuras, que pueden multiplicarse hasta el infinito.“28
26 Ausfu¨hrlicher dazu bei Ventarola 2010, S. 181 – 206. 27 Aus Platzgru¨nden kann ich Borges’ intertextuelle Bezugnahme auf Proust hier nicht ausfu¨hrlich belegen. Dies soll in einer spa¨teren Vero¨ffentlichung nachgeholt werden. ¨ bersetzung: „Ein Buch dieser Art kann nur unvollsta¨ndig sein; 28 Borges 1967, S. 7. Deutsche U jede neue Ausgabe ist der Kern spa¨terer Ausgaben, die sich ins Unendliche vervielfa¨ltigen ko¨nnen.“ (Borges 2008, S. 7).
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Und an anderer Stelle: Llegamos ahora a la nocio´n des los ‚clasicos‘. Debo confesar que no creo que un libro sea verdaderamente un objeto inmortal, que hay que asimilar y venerar como es debido, sino ma´s bien una ocasio´n para la belleza.29
Besonders gut la¨sst sich dies an seinen kulturvergleichenden, kosmopolitischen Anthologien zeigen, die von der Forschung zumeist vernachla¨ssigt werden.30 Auf eine davon – die Historia de la eternidad – mo¨chte ich (sehr kurz) etwas genauer eingehen. Die Abfolge der Themen scheint in diesem heterokliten Text zuna¨chst – a¨hnlich wie in der Recherche Prousts – vo¨llig chaotisch zu sein: Der kritische Durchlauf durch verschiedene Ewigkeitsvorstellungen (Platon, Neuplatonismus, Christentum, Nietzsche und die eigene), der im Titel angeku¨ndigt wird, wird recht bald durch Reflexionen u¨ber die Metapher und die altnordischen Kennigar (eine bestimmte Art der Metaphernverwendung) unterbrochen; es folgt die ¨ bersetzungen von 1001 Nacht; sodann Darstellung verschiedener europa¨ischer U eine Erza¨hlung im indischen Gewand, die Borges als Buchrezension tarnt; und schließlich eine „Kunst des Schma¨hens“, in der er verschiedene Techniken sprachlicher Gewalt dem Fremden gegenu¨ber untersucht und hierbei die transkulturellen Gemeinsamkeiten herausarbeitet. Doch auch hinter dieser vermeintlich chaotischen ‚Reise um die Welt‘ verbirgt sich, wie bei Proust, ein konzises Programm. Denn damit setzt Borges genau jenes Ewigkeitskonzept um, mit dem er das platonische, das christliche und dasjenige Nietzsches letztlich hinter sich la¨sst. Die Ewigkeit der Welt ergibt sich fu¨r ihn na¨mlich (a¨hnlich wie bei Proust) aus der Verbindung von Wiederholung, Variation und je neuer Hinzufu¨gung. Dies zeigt er vor allem anhand seiner Analyse der altnordischen Kennigar und der daran sich anschließenden Theorie der Metapher : Die konkrete Analyse zielt zuna¨chst darauf ab, die erstaunlichen Gemeinsamkeiten zwischen den Kennigar und der Metaphernpraxis des barocken Konzeptismus aufzuzeigen. Indem er die vorgefundene Metaphernvielfalt auf einige wenige universelle Muster reduziert, betont er das Moment der ana¨ bersetzung: „Kommen wir nun zur Vorstellung von ‚Klassi29 Borges 2010, S. 25. Deutsche U kern‘. Ich muss gestehen, ich halte ein Buch wirklich nicht fu¨r ein unsterbliches Objekt, das man erheben und geziemend verehren muß, sondern eher fu¨r Mo¨glichkeit von Scho¨nheit.“ (Borges 2002, S. 13) 30 Es sind dies: El libro de los seres imaginarios, eine bestiariumartige Sammlung der weltweiten Vorstellungen phantastischer Wesen; El libro del Cielo y del Infierno sowie das Libro de suen˜os, in denen Borges die Jenseitsvorstellungen und -visionen unterschiedlichster Provenienz religionskomparatistisch zusammenstellt; und schließlich die Historia universal de la infamia und die Historia de la eternidad. Erstere ist eine Sammlung freier Nacherza¨hlungen von Geschichten beru¨hmter weltliterarischer ‚Schurkenfiguren‘, Letztere eine vergleichende Zusammenschau verschiedener Zeit- und Ewigkeitsvorstellungen.
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logischen Wiederholung. Doch in der hieraus gewonnenen Metapherntheorie verschiebt sich die Perspektive. Denn nun hebt Borges vor allem die Vielfalt der unendlichen Variierbarkeit hervor und erwa¨gt sogar die Mo¨glichkeit, ganz neue Metaphernmuster zu erfinden. In seiner Arte poe´tica macht er dies in griffigen Sa¨tzen explizit: „Lo verdaderamente importante no es que exista un nu´mero muy reducido de modelos, sino el hecho de que esos pocos modelos admitan casi un nu´mero infinito de variaciones“, schreibt er dort na¨mlich (Borges 2010, S. 50 f.).31 Und etwas spa¨ter : „Pero tambien podrı´a sernos concedida – y por que´ no esperarlo – la invencio´n de meta´foras que no pertenecen, o que no pertenecen todavı´a, a modelos aceptados.“ (Borges 2010, S. 59)32 Gegen Nietzsche kann er deshalb (wieder zuru¨ck in der Historia de la eternidad) schlussfolgern, dass der Kosmos trotz der ‚ewigen Wiederkehr‘ nie einto¨nig sei, da stets unza¨hlige Mo¨glichkeiten von Kombinationen und Variationen bestu¨nden. An dieser Stelle schimmert Leibniz besonders deutlich durch: „Si una partı´cula casi infinitesimal de universo es capaz de esa variedad, poca o ninguna fe debemos prestar a ¨ bersetzungen von una monotonı´a del cosmos.“33 Seine Analyse verschiedener U 1001 Nacht fu¨hrt dies eindru¨cklich vor Augen, ergibt diese doch, dass jede ¨ bersetzung von Traditionen immer auch eine Anreicherung und HervorU bringung des Neuen bedeutet: „Para mayor asombro, esas cabezas adventicias ¨ bersetzungen, B. V.] pueden ser ma´s concretos que el cuerpo.“ de la Hidra [die U (Borges 1965, S. 133)34 Die darauffolgende eigene Geschichte exemplifiziert dies: Indem ein Argentinier (Borges) eine indische Geschichte schreibt, u¨berlagern sich die kulturellen Perspektiven. Die entstehende Geschichte ist von irritierend scho¨ner Hybridita¨t und bleibt als fiktive Rezension eines noch nicht existierenden Buches zugleich seltsam leer. Damit sind die Leserinnen und Leser aller Kulturen aufgefordert, die Leerstellen je nach Kontext und Gusto selbst zu fu¨llen und die Geschichte so – sie unendlich vervielfa¨ltigend – frei weiterzuschreiben.35 Es ist also offenbar eine dezidiert performative Multiadressierung, auf die 31 „Wirklich wichtig ist jedoch nicht die Tatsache, daß es einige Muster gibt, sondern daß man diese Muster nahezu unendlich variieren kann.“ (Borges 2002, S. 29) 32 „[…] es ko¨nnte uns aber auch gegeben sein, Metaphern zu erfinden, die nicht, oder noch nicht, zu akzeptierten Mustern geho¨ren.“ (Ebd., S. 35) ¨ bersetzung: „Wenn ein nahezu unendlich kleines Partikelchen 33 Borges 1965, S. 76. Deutsche U des Universums dergestalt sich variieren la¨ßt, brauchen wir der Behauptung, der Kosmos sei einto¨nig, nur geringen oder keinen Glauben zu schenken.“ (Borges 2003, S. 152) – Zwar widerspricht Borges dieser Aussage noch auf derselben Seite. Doch mit den folgenden makrostrukturellen Bewegungen streicht er diesen Einwand sodann selbst wieder durch. 34 „Noch erstaunlicher ist der Umstand, daß diese nachwachsenden Ko¨pfe der Hydra [die ¨ bersetzungen, B. V.] konkreter sein ko¨nnen als der Ko¨rper, aus dem sie hervorgehen.“ U (Borges 2003, S. 195) 35 Man erinnere sich noch einmal an Borges’ oben zitierten Satz: „Un libro de esta ´ındole es necesariamente incompleto; cada nueva edicio´n es el nucleo de ediciones futuras, que pueden multiplicarse hasta el infinito.“ (Borges 1967, S. 7)
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Borges abzielt. Die abschließende „Kunst des Schma¨hens“ gibt dem Ganzen eine ethische Wendung. Der Aufweis transkulturell analoger Verfahren gewaltta¨tiger Stereotypenverwendung kritisiert diese implizit und zielt damit selbst auf die Erzeugung zuku¨nftiger Welten, in denen gewaltta¨tige Unterdru¨ckungs- und Exklusionsmechanismen einen weniger großen Raum einnehmen als bisher. Oder mit den (fu¨r viele sicherlich erstaunlichen) Worten von Borges: En tiempos de auge la conjetura de que la existencia del hombre es una cantidad constante, invariable, puede entristecer o irritar ; en tiempos que declinan (como e´stos), es la promesa de que ningu´n oprobio, ninguna calamidad, ningu´n dictador podra´ empobrecernos. (Borges 1965, S. 97)36
Ich hoffe, trotz der Ku¨rze u¨berzeugend gezeigt zu haben, dass Borges keineswegs jener eskapistische Nihilist ist, als der er ha¨ufig wahrgenommen wird. Er verfolgt in seiner Literatur vielmehr eine dezidiert zukunftsorientierte Pragmatik, mit der auch er (wie Proust) konstruktiv auf den Globalisierungsschub um 1900 reagiert und dem Konzept von Weltliteratur neue Facetten hinzufu¨gt. Natu¨rlich wa¨re dies in weiteren Analysen zu vertiefen. Doch ich muss zum Schluss kommen.
4.
Fazit
Der unternommene Vergleich zwischen Proust und Borges hat unter den auffa¨lligen formalen Differenzen ihrer Texte erstaunliche Affinita¨ten zum Vorschein gebracht. Beide reagieren – auf je eigene und doch a¨hnliche Weise – konstruktiv auf den Globalisierungsschub, der sich um 1900 ereignet hat. Beide ersetzen die ga¨ngige Opposition zwischen Universalismus und Pluralismus durch ein komplexes Sowohl / Als-auch und ko¨nnen damit einen instruktiven Beitrag zur Erarbeitung eines neuen Weltliteraturkonzepts leisten. Wie mu¨sste dieses nun aussehen? Um der Vielfalt mo¨glicher ‚weltliterarischer‘ Pha¨nomene gerecht zu werden, ist offenbar ein Konzept no¨tig, das weder zu abstrakt (Luhmann) noch zu konkret (Bhabha) ist; ebenso sollte es weder nur den Kanon beru¨cksichtigen (Luhmann) noch nur den Gegen-Kanon (Bhabha). Die multidimensionale innere Pluralisierung des Konzepts, die David Damrosch vornimmt, ist ein Schritt in die richtige Richtung.37 Allerdings sollte man hier 36 „In Zeiten hoher Blu¨te mag die Mutmaßung, daß die Existenz des Menschen eine besta¨ndige, unvera¨nderliche Quantita¨t ist, etwas Bedru¨ckendes oder Aufreizendes haben; in Zeiten des Niedergangs (wie der heutigen) ist sie die Verheißung, daß keine Kra¨nkung, kein Unglu¨ck, kein Diktator uns je a¨rmer machen ko¨nnen.“ (Borges 2003, S. 167 f .) 37 Vgl. dazu etwa Damrosch 2003, insbes. S. 1 – 36; und ders. 2009 – Damrosch unterscheidet zwei Dimensionen, na¨mlich die Extension (global, regional, national und individuell) und
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meines Erachtens – unter Ru¨ckgriff etwa auf Proust und Borges – prototypentheoretisch fortfahren. Indem man ein Mehrkomponentenmodell entwickelt, das es erlaubt, verschiedene Dimensionen in skalierter Form flexibel zu beru¨cksichtigen, erho¨ht man die Differenzierungsleistung des Modells, ohne auf ein prinzipielles Ordnungsdenken verzichten zu mu¨ssen.38 Denn auf diese Weise ru¨cken unza¨hlige Variationen, Kombinationen und Gewichtungen der einzelnen Dimensionen in den Blick, die nun weiter typologisiert werden ko¨nnten. Weltliteratur ko¨nnte damit als ein lebendiges, offenes, multizentrales, globales Netzwerk von zahlreichen Unterarten der ‚Weltliterarizita¨t‘ begriffen werden – gleichsam eine offene Vernetzung von verschiedenen Weltliteraturen, die sich ¨ berkreuzungen von Beobachtungsformen verdurch polyperspektivische U schiedener Art und Situierung auszeichnen.
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Alice Stasˇkova´
Zum Weltbezug als Textbezug des modernen Romans (Hermann Broch – Georges Perec – Michal Ajvaz)
Im Mittelpunkt der folgenden Ausfu¨hrungen steht die Frage nach dem Weltbezug von drei Romanen des 20. und 21. Jahrhunderts, und zwar mit Blick auf die Darstellung des Raums. Es handelt sich um die Trilogie Die Schlafwandler von Hermann Broch aus den Jahren 1928 – 1931, um das 1978 erschienene Werk La vie mode d’emploi von Georges Perec (im Untertitel als „romans“ im Plural bezeichnet) und um den Roman Cesta na jih [Die Reise in den Su¨den] des tschechischen Romanciers und Philosophen Michal Ajvaz, erschienen 2008. Es geht darum zu u¨berlegen, inwieweit die Darstellungen in diesen Texten verschiedene historische Weltauffassungen indizieren. Ich konzentriere mich dabei auf zwei Momente, in denen die genuin literarische Dimension der Befragung von (Raum-)Darstellung und Weltbezug aufscheint. Zuna¨chst geht es darum, wie die Romane mit der eigenen Lektu¨re umgehen. Dieser erste Aspekt fu¨hrt dann zur Reflexion der Spannungen, die zwischen einer intentio auctoris und der von dieser unabha¨ngigen Bewegung der Romantexte entstehen. In diesen literarischen Werken zeigt sich nun der Weltbezug jeweils daran, dass ihre Darstellung historische Formen anspruchsvoller Lektu¨re einfordert. Jan Mukarˇovsky´ hat den doppelten Charakter eines literarischen Textes, als a¨sthetisches Objekt und als Sache, hervorgehoben. Als a¨sthetisches Objekt bildet der Text ein autonomes Zeichen, das als System die Strukturen in sich selbst reguliert. Als fait social bleibt dieser Text jedoch eine Sache und vollzieht an seiner Struktur etwas Historisches.1 Das geschieht nicht mittels Denotation oder Referenz; es sind vielmehr konkrete Prozesse im Werk – wie etwa die Art der ¨ quivalent in der LebenspraDarstellung –, die nach Mukarˇovsky´ jeweils ihr „A 2 xis“ besitzen. Am Werk bzw. an seiner jeweils eigentu¨mlichen Zeichenorganisation werden Modi des Fungierens von Zeichen mitsamt der Wahrnehmung 1 Vgl. Mukarˇovsky´ 1974a; zum Werk als Zeichen und Sache zugleich vgl. ebd., S. 45. 2 Mukarˇovsky´ 1974b, S. 286. Mukarˇovsky´ zeigt dies hier an der Zeichenstruktur in der Dichtung ¨ quivalent in der Epoche, die Nezvals. Das Zeichenspiel bzw. die besondere Semiose habe sein A das Zeichen schlechthin hervorhebt.
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und Deutung dieser Zeichen und Funktionsmodi im jeweiligen historischen Moment offenbar. Zum Beispiel an der Verselbsta¨ndigung von Signifikanten und an der Bedeutung der Synekdoche zeigen sich in mehreren surrealistischen Werken der 1930er Jahre3 nach Mukarˇovsky´ die Mechanismen der fu¨r diese Zeit charakteristischen semiotischen Prozesse: konkret die zunehmende Bedeutung des Stellvertretungsprinzips, kraft dessen das zu Vertretende an Bedeutung verliert, etwa in der Nationalo¨konomie oder der Naturwissenschaft.4 Somit orientiere die Kunst den Menschen im „scheinbaren Chaos“5 seiner Zeit und bereite ihn auf die zuna¨chst unabsehbare Zukunft vor ; am Werk scheint auf, wie die Praxis im konkreten geschichtlichen Augenblick verfa¨hrt. An den drei Romanen wird, wie gezeigt werden soll, die jeweilige zeitgeno¨ssische Praxis reflektiert und somit transzendiert. Es stellt sich dabei jeweils die Frage, auf welche ¨ berschreitung verweist. Da im Weltbezug der Bezug zur Literatur Praxis diese U inbegriffen ist, soll zuna¨chst u¨berlegt werden, von welchen zeitgema¨ßen Rhetoriken der Lektu¨re6 diese Romane ausgehen, welche Winke und „Direktiven“ sie, mit Roman Ingarden gesprochen,7 dem Leser parat halten und welche Strategien und Praktiken der Lektu¨re sie andeuten. Das Thema von Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler ist die abendla¨ndische Geschichte. In der Handlung wie in der Darstellung erweist sich diese Geschichte als ein Prozess, der in eine Krise – in eingebetteten philosophischen Exkursen als „Zerfall der Werte“ bezeichnet – mu¨ndet. Der Text zeigt an sich selbst, was er verhandelt: Auf ein relativ homogenes Erza¨hlverfahren in der Nachfolge des Bildungsromans im ersten Teil folgt ein an zeitgeno¨ssischen Darstellungen orientierter zweiter Roman, im dritten Teil entsteht ein zerfallendes, zentrifugal angelegtes Aggregat, in dem sich unterschiedliche Genres, Gattungen und Stile der abendla¨ndischen Literatur begegnen, um auseinanderzudriften: Erza¨hlung, dramatische Szenen, philosophische Dialoge, Gedichte, philosophische Abhandlung. Die philosophischen Traktate versuchen dabei explizit, in diesem Prozess des Zerfalls eine Orientierung zu bieten, im Epilog wird ein Ausgang aus der Krise in pathetisch-mystischen Redensarten ¨ berwindung der Krise kann nicht la¨nger bildlich oder heraufbeschworen – die U logisch vermittelt werden. Es gibt nur einen Aspekt, an dem sich eine dem Zerfall entgegengesetzte Tendenz zeigt: die Bewegung der Romanpersonen im dargestellten geographischen Raum. Alle drei Titelfiguren – Pasenow, Esch und Huguenau – stammen aus den Randgebieten Deutschlands – aus Ostpreußen, aus dem Elsass und aus Luxemburg. Am Ende der Romanhandlung begegnen sie 3 4 5 6 7
Vgl. ebd. Vgl. Mukarˇovsky´ 1974b, S. 286. Ebd. Im Sinne von Charles 1977. Ingarden 1997, S. 63.
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sich in der ungefa¨hren geographischen Mitte des dargestellten Raumes, in Kurtrier an der Mosel. Diese zentripetale Bewegung ist bloß ein Detail, das in der u¨berwa¨ltigenden a¨sthetischen Erfahrung eines Zerfalls der abendla¨ndischen Kultur, die der Roman vermittelt, untergeht. Zumal es ein Detail auf der Ebene der Handlung ist, wa¨hrend der Romantext seine spezifische Qualita¨t und Wirkung von der versto¨renden Komplexita¨t seiner gesamten Darstellungsverfahren sowie der in ihn eingebetteten philosophischen Reflexionen bezieht. Am Ende bleibt dem Leser ein gemischtes Gefu¨hl. Verzweiflung, Furcht oder Trauer ob des Schicksals des Abendlandes bema¨chtigen sich derjenigen, die mit der konservativen Kulturkritik des Autors u¨bereinstimmen, eine Lust am Text dagegen ¨ sthetik und Poetik des Werkes empfa¨ngliche Leser. erfa¨hrt der fu¨r die ku¨hne A An diesem Roman wird somit jene Spannung ausgetragen, die nicht nur fu¨r Broch, sondern fu¨r viele Autoren der europa¨ischen Moderne in der Zwischenkriegszeit charakteristisch ist: Die Spannung zwischen dem schmerzhaft empfundenen Verlust der Ganzheit der abendla¨ndischen Kultur einerseits und andererseits dem Wissen darum, dass die angemessene Darstellung der neuartigen Wirklichkeit fu¨r die poetische Innovation offen bleiben muss. Avantgardistische, an einer Freiheit der Deregulierung mitbeteiligte Verfahren prallen jedoch mit einem unerlo¨sten Kulturkonservativismus zusammen. Auch der Roman von Georges Perec, La vie mode d’emploi, etwa 40 Jahre spa¨ter verfasst, wartet mit Anleitungen zur Lektu¨re auf, die dem Leser vorschreiben, wie er zu verfahren habe. Dies geschieht allerdings nicht durch theoretische – logische, erkenntnistheoretische oder geschichtsphilosophische – Ero¨rterungen wie bei Broch, sondern im Modus des Spiels. Im gesamten Buch wird beschrieben, was man sieht, wenn man von einem Pariser Haus die Fassade entfernt. Die bloßgelegten Ra¨umlichkeiten werden pra¨zise inventarisiert, mitsamt mehreren hundert Geschichten, die sich anhand dieser Ra¨ume erza¨hlen lassen. Die Reihenfolge der zu beschreibenden Ra¨ume entspricht dem Bewegungsmodus des Pferdes auf dem Schachbrett.8 Die Art und Weise, das dadurch entstandene Werk zu lesen, wird ebenfalls vorgezeichnet: der Leser soll wie beim Puzzle-Spiel verfahren. Da der Text offensichtlich – auf mehreren Ebenen der Darstellung – auf dem Prinzip der mise an abyme aufbaut, verwandelt sich wa¨hrend der Lektu¨re das friedliche Puzzle-Spiel eines Einsamen zu einem Machtspiel zwischen dem Autor, der das Bild geradezu perfide zerschnitten hat, und dem verbissenen Leser, der die Teilchen auf ihren richtigen Platz zuru¨ckzuversetzen trachtet. Die Analogie mit der zentralen unter den erza¨hlten Geschichten, wo der Puzzle-Spieler vom Puzzle-Hersteller in die Falle gelockt wird und u¨ber der Aussichtslosigkeit der Fertigstellung des Bildes stirbt, verleiht dem Hedonismus jener spielerischen Lektu¨re einen unheimlichen Akzent. 8 Vgl. Hartje / Magne´ / Neefs 1993, insbes. S. 14 f.
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An einer Episode sei der Umgang mit dem Raum in Perecs Roman kurz skizziert. Es wird darin vom Projekt eines Hotelkartells berichtet, in dem es darum geht, an verschiedenen Orten der Erde großartige Hotelanlagen zu bauen. Der Reiz dieser Anlagen bestehe darin, dass unabha¨ngig von geographischen Gegebenheiten alle denkbaren Erlebnismo¨glichkeiten zur Verfu¨gung stu¨nden: le client d’une des nouvelles Hotelleries Marvel, non seulement disposerait, comme dans n’importe quel quatre-e´toiles, de sa plage, son court de tennis, sa piscine chauffe´e […] mais il aurait e´galement son champ de ski, ses remonte´es me´caniques, sa patinoire, son fond sous-marin, ses vagues a` surf, son safari, son aquarium ge´ant, son muse´e d’art ancien, ses ruines romaines, son champ de bataille, sa pyramide, son e´glise gothique, son souk, son bordj, sa cantina, sa Plaza de Toros, son site arche´ologique, sa Bierstu¨be, son bal-a`-Jo, ses danseuses de Bali, etc., etc., etc., et etc.9
Nach einer ausfu¨hrlichen Beschreibung wird das Projekt nun wie folgt resu¨miert: cette ide´e, qui ne visait au de´part que les personnels (danseuses de Bali, apaches du bala`-Jo, serveuses tyroliennes, toreros, aficionados, moniteurs sportifs, charmeurs de serpents, antipodistes, etc.) s’appliqua bientoˆt aux e´quipements meˆmes et entraıˆna ce qui sans doute constitua la ve´ritable originalite´ de toute l’entreprise: la pure et simple ne´gation de l’espace.10
Das Unternehmen scheitert zwar ; abgesehen von der geradezu prophetischen Qualita¨t dieses Gedankenspiels von 1978 verweist aber die Episode – in dieser Perspektive ebenfalls eine mise en abyme – auf das Thema des gesamten Romans. Dieses ließe sich mit den zitierten Worten als „pure et simple ne´gation de l’espace“ umschreiben. Jenes beglu¨ckend verwirrende Spiel mit der Konstruktion des Romans, zu der auch eine Vielfalt graphischer Modi geho¨rt, steht im Dienste eines Vernichtungswerks. Es gilt, a¨hnlich wie fu¨r den Roman Brochs, dass sich hier eine kaum u¨berbietbare Lust am Text dem Vollzug einer globalen Katastrophe verdankt. Der dargestellte Raum ist in Perecs Roman allerdings nicht bloß Mitteleuropa, sondern die gesamte Erde. Im Roman Cesta na jih [Die Reise in den Su¨den] des tschechischen Autors Michal Ajvaz von 2008 reist ein Ich-Erza¨hler von Prag aus u¨ber mehrere Sta¨dte zu einer griechischen Mittelmeer-Insel. Die Romankonstruktion wird zuna¨chst von einer detektivischen Geschichte getragen: man versucht, einen Mord aufzukla¨ren. Diese Geschichte wird allerdings fast vollkommen u¨berlagert von anderen – realen, fiktionalen oder phantastischen – Geschichten, die sich aus jedem denkbaren oder auch kaum denkbaren Anlass ergeben: es wird u¨ber Schicksale von realen, fiktionalen oder imagina¨ren Personen und Dingen be9 Perec 1978, S. 500. 10 Ebd., S. 501.
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richtet, es werden andere Romane erza¨hlt usw. Auch hier ist Philosophie pra¨sent: So wird etwa ein Ballett auf der Grundlage von Kants Kritik der reinen Vernunft aufgefu¨hrt; es wird u¨berlegt, was entstehen wu¨rde, wenn man die erste Kritik als Werk der phantastischen Literatur lesen wu¨rde; den Schlu¨ssel zu der zentralen Detektivgeschichte bildet ein Text von Pico della Mirandola; und der Romankonzeption liegt ein neoplatonisches Denkmodell zugrunde. Am Horizont aller Geschichten, ob sie nun in Mexico City, in der Phantasie oder in der Literatur spielen, scheint das Mittelmeer auf, zu dem die im Titel des Romans genannte Reise fu¨hrt. Am Horizont des Mittelmeeres werden Abendland und Morgenland, Nord und Su¨d mit ihren Mythen und Geschichten sowie ihrer Trauer enggefu¨hrt; eine leise Trauer im Zeichen von Verlust und Entsagung u¨berzieht auch die meisten Geschichten im Buch. Diese Meereslinie scheint nun, mehr an Ho¨lderlin als an Schiller erinnernd, anzudeuten: „Und die Sonne Homers, siehe! sie la¨chelt auch uns.“ Die unu¨berschaubare Vielfalt und Mannigfaltigkeit der eingeschachtelten Geschichten und geschilderten Vorga¨nge zielt, so indiziert das Mittelmeer als Chiffre, auf eine Vermittlung zur Einheit und zum Ursprung hin. Anhand aller drei Romane sowie ihrer jeweiligen Poetik ko¨nnen historische, jeweils zeitgema¨ße Arten der Weltwahrnehmung und Welterkenntnis nachvollzogen werden. Alle drei ko¨nnen epochal genannt werden sowohl mit Blick auf die Intention, eine Welt darzustellen, als auch hinsichtlich ihrer a¨sthetisch zeitgema¨ßen Poetik. Und sie erweisen sich darin als spezifisch modern, dass sie stark selbstreflexiv sind. Die Reflexion u¨ber das Verha¨ltnis von literarischem Text und dessen Weltbezug vollziehen sie mithin dadurch, dass sie ihren Weltbezug als Umgang mit sich selbst implizieren. Wenn dem so ist, dass, wie es Jan Mukarˇovsky´ formulierte, literarische Werke ihre Leser im scheinbaren Chaos der außertextlichen Welt orientieren und dass sie, wie Roman Ingarden behauptete, Strategien der Lektu¨re ihrer selbst nahelegen, dann ko¨nnen an den drei epochalen Romanen und deren Art, wie sie sich zu lesen geben, drei verschiedene Auffassungen dessen nachvollzogen werden, was Welt ist und wie sie zu erkennen sei. Der dargestellte Zerfall sowie die Zerfallsdynamik der Darstellung beschwo¨ren im Brochschen Roman im negativen Modus den Begriff der Ganzheit. Das uneinholbare Auseinanderfallen der Textelemente steht in Analogie zu dem in der Zwischenkriegszeit oft formulierten oder analysierten Ende einer Kultur.11 Damit inszeniert der Roman wider Willen einen großartigen Abschied von der Hermeneutik als einer Lehre vom Verstehen, die von der Mo¨glichkeit dieses Verstehens an einem Ganzen ausgeht und dabei das Ganze zur Bedingung der Mo¨glichkeit dieses Verstehens macht. Bis zu einem gewissen Grad la¨sst sich der Roman in der Tat mit Hilfe hermeneutischer Verfahren erschließen – und er 11 Vgl. Ko¨hn 1974 und 1975.
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scheint es zuna¨chst selbst zu wollen. Der fu¨r die Hermeneutik zentrale Begriff der Ganzheit lo¨st sich aber an der Gesamtheit des Romantextes auf.12 Der Roman von Perec la¨sst in der Gesamtheit seiner Konstruktion die Frage, inwieweit das Ganze mehr ist als die Gesamtheit seiner Teile, hinter sich. Vielmehr scheint hier auf, dass ein jeder Teil ein durch die Gesamtheit nicht einholbares Ganzes, eine weitere Gesamtheit von in sich wiederum ganzheitlichen Teilen ist. Mit Blick auf den Umgang mit der Literatur scheint das Thema des Perecschen Romans nicht das Verstehen zu sein, sondern das Problem des Sekunda¨ren. Die Gestalt des Buches erinnert an die kritischen Klassiker-Ausgaben etwa der E´dition de la Ple´iade: Auf den Hauptkorpus des Romantextes und einen Plan des Hauses folgt ein umfangreicher Anhang („pie`ces annexes“), bestehend aus einem Index (mit Namen von Personen, Orten und Dingen sowie Werktiteln), einer Chronologie („repe`res chronologiques“), einem – allerdings als unvollsta¨ndig ausgewiesenen – Verzeichnis von erza¨hlten Geschichten, einem Post-Skriptum und schließlich dem Inhaltsverzeichnis. Im Post-Skriptum werden Autoren aufgeza¨hlt, aus deren Werken, zum Teil mit leichten Vera¨nderungen, zitiert wurde; das Spektrum reicht von Hans Bellmer u¨ber Borges, Agatha Christie, Flaubert und Perec selbst bis hin zu Jules Vernes oder Unica Zu¨rn. Insgesamt werden in der Verra¨umlichung des Textes – graphische Modi einbezogen – die Dualismen, mit denen professionelle Literaturleser arbeiten, ironisch als dysfunktional entblo¨ßt: So etwa das hermeneutische Verha¨ltnis von Folge und Sinn, ferner strukturalistische Dualismen wie Text und Paratext, Zentrum und Peripherie, schließlich in editionsphilologischer Hinsicht Text und Apparat. Unter dieser Perspektive fa¨llt nun auf, dass im Text auf allen seinen Ebenen unaufho¨rlich – und vergeblich – nach etwas Einmaligem gesucht wird. In der Handlung gibt es Sammler von Unikaten oder Personen, die Einzigartiges zu unternehmen versuchen, im Diskurs wird das Problem der Originalita¨t thematisiert. Die Liste der Quellenautoren im Anhang wirft die Frage nach dem Ursprung des ku¨nstlerischen Scho¨pfertums sowie nach der Originalleistung des vorliegenden Romans auf und besta¨tigt somit, dass ein literarisches Werk seinen Anfang zuna¨chst der Literatur verdankt. Die „Verfu¨gbarkeit des Gesamten“13 wird in diesem Text, dem alles zur Verfu¨gung steht, grundsa¨tzlich problematisiert. Fu¨r Perecs in den 1970er Jahren entstandenen Textraum gilt, was Jacques Derrida zur gleichen Zeit als fundamentale Transformation der Welt und ihrer Wahrnehmung analysierte: anstelle eines unendlichen Raums, in dem Elemente aufgrund von zentral organisierten Regeln kombiniert wurden, tritt ein endli12 Dies verleiht der Forschung zum Roman ihre Dynamik. Das immer wieder neu diskutierte Verha¨ltnis von Teilen zum Ganzen mit Blick auf den Romantext etwa indiziert, inwieweit der Text selbst hermeneutische Kategorien problematisiert. ¨ bersetzung A. S.]. Im Original: „disponibilite´ de l’ensemble“. 13 Charles 1977, S. 61 [U
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cher (also etwa nicht-metaphysischer oder nicht-transzendenter) Raum, dessen Elemente in beliebigen Permutationen aufgehen.14 Dem entspricht auch die im Roman thematische Vergeblichkeit der Suche nach einem Unikat, nach einem Original, mithin nach dem Ursprung als Bedingung der Mo¨glichkeit einer zu erfahrenden Einheit. Im Roman von Ajvaz spielen Hierarchien sowie etablierte Strukturen – ob im Kunstwerk, in dessen Produktion und im Umgang mit ihm oder unter Kategorien des Denkens – nicht einmal im Modus der Negation eine Rolle. Auch hier begegnen wir allerdings Hinweisen auf zeitgeno¨ssische Konstitutionen des Werkbegriffs. So wird etwa ein dreidimensionales Drahtmodell beschrieben, anhand dessen ein Schriftsteller im Roman an einem literarischen Werk schreibt. Dieser nennt sein Opus „Dı´lo-sı´ˇt“ (Werk-Netz). Es wa¨re aber verfehlt, diese aktuell anmutende Netz-Werk-Metaphorik im Sinne einer mise en abyme auf die Poetik des gesamten Romans zu beziehen. Denn der Schriftsteller im Roman scheitert kla¨glich an seiner Hybris, Egozentrik und Selbstu¨berscha¨tzung. Die Einschachtelungen von Geschichten und Vorga¨ngen lassen in der Vielheit der Darstellung die Einheit einer Leere aufscheinen. Paradoxerweise verspricht aber der Horizont des Mittelmeers, als Bild fu¨r Trennung und Scheidung, die Mo¨glichkeit einer erneut unendlichen Fu¨lle. Und man wird bei der Lektu¨re dessen gewahr, dass in jener Leere stets ein Neues aufgrund uneinholbarer Vorga¨nge entsteht oder entstehen ko¨nnte; sie generiert immer neue Pha¨nomene, Vorga¨nge und Geschehnisse, um sie jeweils wieder in die leere Einheit einer libertas indifferentiae zu entlassen. Zieht man die Texte in Betracht, mit denen die drei Autoren auf je unterschiedliche Weise ihre Romane im Umfeld von deren Publikation begleiteten, erga¨nzt sich das bisherige Bild um eine zusa¨tzliche Dimension. Hermann Broch wurde nie mu¨de, seine Intentionen in immer neuen Anla¨ufen zu formulieren, um ein Verstehen seines Romans gleichsam zu betreuen. Dies tat er wa¨hrend der ¨ bersetzer und Freunde, in BeArbeit an den Texten in Briefen an Verleger, U gleittexten zur Publikation sowie – implizit – in Essays auch u¨ber andere Autoren. Die Beharrlichkeit, mit der er die ethische Dimension seines Unternehmens beteuerte und einer „zeitgerechten“15 Kunst des Romans die Aufgabe auferlegte, einen neuen Zusammenschluss der Werte, mithin eine neue Ganzheit als zur Einheit vermittelte Vielheit vorzubereiten, versta¨rkt den Eindruck, dass sich sein Werk gerade dieser seiner Intention bereits entzogen hatte. Das Verha¨ltnis zwischen dem Roman und den Autorenkommentaren, die versuchen, außerhalb des Romantextes dessen Verstehbarkeit abzusichern, wird dialektisch. Es la¨sst die Problematizita¨t des Romantextes als eines abgeschlossenen 14 Vgl. Derrida 1967. 15 Vgl. den Begriff der „Zeitgerechtheit“ des Kunstwerks bei Broch 1976, S. 65 passim.
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Ganzen aufleuchten und zieht die Bedingung der Mo¨glichkeit, ihn zu verstehen, in Zweifel. Nun kann man aber ein Zweifaches beobachten. Erstens stellt der Roman als literarischer Text am Umgang, den er mit sich selbst – im Sinne Ingardens – indiziert, die geschichtliche Krise als Krise der Hermeneutik dar. Das heißt – zweitens – aber nicht, dass er sich einer Lektu¨re u¨berhaupt entzieht. Vielmehr stellt man fest, dass er ku¨nftige Modi von Lektu¨repraxis pra¨figuriert: eine dekonstruktive Lektu¨re, aber zugleich auch jene Hermeneutik, die Paul Ricœur als herme´neutique de l’application aktualisierte.16 Man ko¨nnte einwenden, dass ein jeder literarische Text dekonstruiert oder aber ‚anwendend‘ verstanden werden kann. Im Falle von Brochs Trilogie jedoch gibt es ein Argument dafu¨r, dass gerade in ihr diese beiden Modi produktiv sein und spezifische Qualita¨ten des Romans angemessen aufzeigen ko¨nnen. Das Argument liegt auf der Handlungsebene des Textes: Die Romanfiguren befinden sich allesamt in einer Situation, in der sie keinen mentalen oder verbalen Zugriff auf ihre Erlebnisse haben. Ihre Realita¨t entzieht sich der Frage nach dem Sinn, die somit – a¨hnlich wie in den u¨brigen Elementen des Textes – permanent sistiert wird. Die dargestellte Situation legt eine dekonstruktive Lektu¨re nahe, indem sie eine Ablo¨sung der Hermeneutik durch Dekonstruktion oder aber deren innigen Zusammenhang im Roman selbst thematisch werden la¨sst. Dabei gibt es auch Motive innerhalb der Handlung, die eine Mo¨glichkeit der Umwandlung der Erlebnisse in Erfahrung offen lassen und folglich eine anwendend verstehende Lektu¨re legitimieren.17 Georges Perec vero¨ffentlichte nach der Publikation von La vie mode d’emploi unter anderem einen Artikel, der die Strategie des Pferdes auf dem Schachbrett in Analogie zur Reihenfolge der Kapitel bringt und die im Kollektiv der literarischen Werkstatt OuLiPo (Ouvroir de litte´rature potentielle) gru¨ndende Poetik der Hindernisse („contraintes“) exemplarisch an einem Kapitel zeigte.18 Somit befo¨rderte er noch zusa¨tzlich Lektu¨ren, die sich auf das Spiel mit der Kombination der Elemente im Rahmen von gegebenen Strukturen einlassen. Der Roman selbst ironisiert strukturalistische Verfahren mitsamt ihren dualistischen Kategorien und pra¨sentiert im Sinne der Derrida’schen Beobachtung ein Universum, dessen Dynamik in einer perpetuierenden Permutation seiner Elemente aufgeht. Die Vero¨ffentlichung einiger Materialien durch den Autor legt aber auch eine andere Lektu¨re als eine strukturalistisch spielerische oder eine 16 Vgl. Ricœur 1985, S. 285 ff. ¨ berlegung zum Verha¨ltnis von Erlebnis und Erfahrung in Brochs Trilogie folge ich 17 In der U der Interpretation von Dowden 2012. Zu diesen Motiven geho¨rt, so Dowden, die Nebenfigur der „Ruzena“ vom ersten und zweiten Teil der Trilogie, an der die Uneinholbarkeit des Erlebten in der Erfahrung, die alle anderen Romanfiguren auszeichnet, offen gelassen wird. 18 Vgl. Hierzu Hartje / Magne´ / Neefs 1993, S. 8 f.
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dekonstruktive nahe: sie scheint zu versprechen, dass man den Ausgang der Geschichte in ihrem Anfang finden kann. Perec fo¨rderte somit zuna¨chst diejenige philologische Lektu¨re, die meint, sich erst durch die Erforschung des Entstehungsprozesses begru¨nden zu mu¨ssen. Im Jahre 1993 sind aus dem Nachlass Perecs Skizzenhefte („Cahier de charges“) im Faksimile ediert worden.19 Der Eindruck, dass die Skizzen einen privilegierten Zugang zum Romantext bieten, wird heute zusa¨tzlich durch die Computertechnik versta¨rkt, die es erlaubt, die in den Skizzenheften festgehaltene Kombinatorik der jeweiligen Elemente im Romantext schnell nachzuvollziehen.20 Wenn man aber die Tatsache, dass die betreffenden Materialien zur Verfu¨gung stehen, mit dem Universum des Romans konfrontiert, in dem Personen an der Verfu¨gbarkeit von Elementen sterben, weil diese Verfu¨gbarkeit bloß eine vermeintliche ist, dann ergibt sich zwischen dem einst als abgeschlossen vero¨ffentlichten Romantext und den im Nachhinein publizierten Skizzen ein neues Verha¨ltnis. Es wird eine Kombination aus akribischer textmaterialorientierter Philologie und Dekonstruktion evoziert, die auf eine gegenu¨ber der Entstehungszeit des Romans ku¨nftige Praxis verweist, na¨mlich auf die Praxis der neueren Editionsphilologie – denken wir an die Ho¨lderlin- und Kafka-Ausgaben im Stroemfeld-Verlag oder an die Brandenburger Kleist-Ausgabe. Hier wird das chronologische, zum Teil teleologisch orientierte Nacheinander, im Sinne von Roland Reuß formuliert, zu einer Aufeinanderfolge der materiellen Einheit des Papiers transformiert.21 Nun steht die Handschrift Perecs (mitsamt Zeichnungen), als Faksimile ediert, in ihrer pha¨nomenalen Gestalt neben dem zuvor als Haupttext geltenden Buch und fordert eine eigenartige a¨sthetische Erfahrung. Somit wird, in der Nebeneinanderstellung von ¨ sthetik der Lektu¨re gefo¨rdert und entwiRomantext und Skizzen, eine neue A ckelt. Die Gesamtheit dieser Texte will als ein „Schrift-Raum“22 beachtet werden, der in einer Analogie zu den Wahrnehmungsmodi in der pha¨nomenalen Erfahrungswelt betrachtet werden kann. Dieses Auf-einmal-Gegebensein, auf das sich die Pha¨nomenologie, im Namen einer zu keiner Ganzheit vermittelten Vielheit, konzentriert, wa¨re nun also die Welt. Michal Ajvaz ist mit konkreten Ausku¨nften zu seinen Romanen zuru¨ckhaltend und seine philosophischen Schriften stehen fu¨r sich. Seine Reflexionen aber zum Begriff des Raumes oder jene seiner philosophischen Essays, die sich der Literatur, ihren Autoren oder Werken zuwenden, legen Mo¨glichkeiten der Lektu¨re seiner eigenen Romane durchaus nahe. Wenn man diese philosophischen 19 20 21 22
Vgl. Perec 1993. Vgl. http://escarbille.free.fr/vme.php [15. 09. 2013]. Vgl. Reuß 1996, S. 16. Alt 2007, S. 14.
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Texte beru¨cksichtigt, wird die zuna¨chst als postmodern erscheinende Gestalt seiner Erza¨hlwerke23 mit konkreten pha¨nomenologischen Entwu¨rfen konfrontiert. Die Erfahrung mit Ajvaz’ philosophischer Pha¨nomenologie versta¨rkt jenen Aspekt des Romans, den man als eine Ethik des Sehens im Erscheinenlassen der Gegensta¨nde aus einem „ungegensta¨ndlichen Feld“ bezeichnen kann: Der Raum konstituiert sich also wie eine Art Landkarte des Erscheinens, als ein ungegensta¨ndliches Feld, aus dem Gegensta¨nde aufscheinen und in dem ich mich auf die Gegensta¨nde und auf mich selbst beziehe. Dadurch, dass mir die Gegensta¨nde erscheinen, determinieren, beschra¨nken sie mich; dadurch, dass ich mich den Gegensta¨nden in den Weg stelle, o¨ffne ich ihnen die Mo¨glichkeit des Erscheinens als ein Modus der Reaktion auf meinen Widerstand.24
In einer solchen Perspektive wird der Zugriff auf die Netzmetaphorik, die es erlauben soll, die Welt zu beschreiben und zu erkla¨ren, wie an dem gescheiterten Modell des „Dı´lo-sı´ˇt“ (Werk-Netz) im Roman Cesta na jih angedeutet wurde, als inada¨quat abgewiesen und somit ein rhizomatisches Welt- und Literaturbild aufgelo¨st. Das geradezu hedonistisch zelebrierte Miteinander von hohen und niedrigen Genres und Stilen im Roman macht eben vor der scheidenden Mittelmeerlinie als Chiffre fu¨r Einheit und Ursprung halt. Auch tendieren die bisherigen, philosophischen Reflexionen des Autors außerhalb dieses Romans zu einer eigenartigen Anna¨herung von Pha¨nomenologie und Genealogie. ¨ hnlich wie in den epochalen Erza¨hlwerken von Broch und Perec ist es auch A in Ajvaz’ Romanen ein konkretes (Handlungs-)Motiv, das offenbar eine bestimmte (ku¨nftige?) Lektu¨re als Weltbezug indiziert. Dies geschieht u¨ber die philosophisch fundierte Lektu¨re hinaus, nach der die Darstellung im Roman und deren Konfrontation mit den anderen Texten seines Autors zuna¨chst verlangt. Es handelt sich um das Motiv des Buches, das in allen bisherigen Romanen von Ajvaz pra¨sent ist. Kaum jedoch u¨ben die Inhalte dieser – realistischen oder phantastischen – Bu¨cher eine Funktion in seinen Romanen aus. Vielmehr werden diese Bu¨cher zunehmend dysfunktional, zu uneinholbaren Residuen im Sinngeschehen der Erza¨hlungen. Sie sind womo¨glich gerade wegen ihrer puren Materialita¨t da. Vielleicht deuten die heutigen Romane von Ajvaz einen ku¨nftigen Bezug auf die Literatur als einen Umgang nicht la¨nger mit Texten, sondern als einen Umgang mit Bu¨chern mitsamt ihrer Materialita¨t an. Es du¨rfte gezeigt worden sein, inwieweit die drei epochalen Romane als literarische Werke mit der Weltwahrnehmung und Weltauffassung ihrer Zeit zusammenha¨ngen, indem sie Strategien und Methoden der Lektu¨re literarischer Texte an sich selbst erproben und problematisieren. Indem sie aber jeweils, als 23 Ajvaz selbst wehrt sich in den relativ seltenen Interviews, die er bislang gab, gegen die Vereinnahmung durch die Kategorie einer postmodernen Belletristik. ¨ bersetzung A. S.]. 24 Ajvaz 2004, S. 235 [U
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neue literarische Texte, ein Neues in die Welt bringen, sind sie mit den Verfahren, die sie an sich mitreflektieren, zugleich nicht mehr einzuholen. Somit gewa¨hren sie, indem sie sich auf die ihnen gegenwa¨rtige Praxis beziehen, den Einblick in Ku¨nftiges. Bloß ist die Zukunft jeweils nicht erfahrbar. Bestimmte Erlebnisse kann vermutlich nur eine Erza¨hlung zur Erfahrung bringen: vergangene, ausgebliebene und daher wohl auch ku¨nftige Erlebnisse.
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Internetquellen http://escarbille.free.fr/vme.php [13. 02. 2014]
Christian Sinn
Bilokationen. Literarische und mathematische Verfahren der Welterzeugung in Thomas Pynchons Against the day I found it – it found me? – a fisherman in the fog, casting his lines again and again into the invisible river, the flow of Time, hoping to retrieve just such artefacts as this.1
Den Ausgangspunkt der folgenden, rein assoziativ verfahrenden Bemerkungen bildet Thomas Pynchons Against the Day, da dieser Roman in der Zeit zwischen der Weltausstellung in Chicago 1893 und den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur Literatur, bildende Kunst, Foto und Stummfilm als mediengeschichtliche Bedingungen der Moderne analysiert und im Medium der Literatur reinszeniert, sondern wesentliche, zumeist implizit gebliebene Rekurrenzen Pynchons auf die Mathematik des 19. und 20. Jahrhunderts systematisch so aufeinander bezieht, dass sie der Literaturwissenschaft vermittelt zugefu¨hrt werden ko¨nnen. Ku¨rzer : Literarische und mathematische Verfahren der Welterzeugung werden durch Pynchons Roman unter dem Namen der ‚Bilokation‘ theoretisch als zwei Seiten ein und derselben Medaille verortet. Stellt das literarische Verfahren eine durch die handfeste Gier nach Macht, Geld und perversem Sex bestimmte Welt dar, so entspricht dem komplementa¨r der Entzug solcher Darstellbarkeit nicht nur durch imagina¨re Unterweltgeographien, sondern durch die Flucht vor dieser Gier in die asketische Gegenwelt vor allem mathematischer Wissenschaft. Der Weltbegriff des ersten Teils, The Light Over the Ranges (AtD 1 – 118), gru¨ndet noch im Rummelplatz sinnlicher Erfahrung, wa¨hrend die folgenden Teile eine fortlaufende Invisibilisierung vollziehen: Beginnt der Roman mit der Chicagoer Weltausstellung 1893, die den 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas mit u¨ber 70.000 Ausstellern weniger feierte als theatralisch inszenierte,2 so u¨berblendet der zweite Teil, Iceland Spar (AtD 119 – 428), durch das lichtbrechende Medium des Islandspates die ‚realen‘ Bilder des ersten Teiles mit imagina¨ren Komplementen, denn „you being mathematical gentlemen, it can hardly have escaped your intention that its [the Iceland spar’s] curious advent into the 1 Pynchon 2006, S. 252. Nachweise von Zitaten aus diesem Werk erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle AtD und der Seitenzahl. 2 Vgl. Wo¨rner 1999, bes. S. 72 – 81. Giedion 2000, bes. S. 193 f., hier ist das Bild der venezianischen Gondolieri nachgewiesen, welches die Figur Dally inspiriert, nach Venedig zu fahren (AtD 569).
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world occurred within only a few years of the discovery of Imaginary Numbers, which also provided a doubling of the mathematical Creation.“ (AtD 133) Solche Bildbru¨che durch Verdopplung entstehen bereits auf der Wortebene: „Espato is what they call it down here. Sometimes you hear espanto, which is something either horrifying or amazing, depending“ (AtD 375). So liefert das Mineral im Roman zum einen die Erkla¨rung physischer Bilokation. Islandspat, nicht einfacher Calcit, weil, so die starke Hypothese, nur unter Island ein riesengroßer Calcit liegt, durch dessen gigantische Lichtbrechung uns z. B. die Gnome Islands sehen ko¨nnten, nicht aber wir sie (AtD 133). Mit dieser humoristischen Volte vollzieht dieser Teil zum anderen die fu¨r den gesamten Roman geltende Medienreflexion: Literatur ist im Falle von Pynchon ebenso ein Medium, das die eigene Medialita¨t ausblendet, um alles doppelt sehen zu lassen. Sie hat uns im Blick, bevor wir sie zu untersuchen meinen3 und bietet uns ihre harte kafkaeske Stirn:4 Der Islandspat ist nicht nur ein riesengrosser Calcit, der das Licht bricht, er ist selbst nur Element in einem Zeitkristall,5 der in einer Riemann-Spha¨re liegt, die stereographisch auf die Ebene der Seiten projiziert wird. Diese hochkomplexe Struktur setzt mathematische Grundlagen voraus, die der Roman jedoch durch textimmanente Rezeptionssteuerungen dem Leser selbst an die Hand gibt. So steht im dritten Teil, Bilocations (AtD 429 – 694), die Provinzstadt und Wissenschaftshochburg der Mathematik, Go¨ttingen, im Zentrum, in der zuna¨chst die geniale Mathematikerin Yashmeen Halfcourt und Kit Traverse, der seinen ermordeten Vater zu ra¨chen versucht, heftig miteinander flirten. Kit schmeckt dieser Flirt „like a fairground ice-cream one […] This is the world, Kit 3 Neben dem Islandspat wird dies von einem Meteoriten behauptet: „But who could have foreseen that the far-fallen object would prove to harbor not merely a consciousness but an ancient purpose as well, and a plan for carrying it out?“ (AtD 149), dasselbe aber auch vom Licht im Michel-Morley-Experiment (AtD 132), einem Feuerzeug (AtD 252), einem Fußboden (AtD 610) oder einem Ikosaeder (AtD 841) als verko¨rperte Riemann-Spha¨re etc.: Entscheidend ist nicht das Objekt, sondern seine Funktion als Zeit-Kristall: „‚Another Quest for another damned Magic Crystal. Horsefathers, I say. […] Say, you aren’t one of these Sentient Rocksters, are you?‘ Mineral consciousness figured even back in that day as a source of jocularity – had they known what was waiting in that category…waiting to move against them, grins would have frozen and chuckles turned to dry-throated coughing“ (AtD 133). 4 Kafka 1993, S. 419: „Als wir an eine hohe weiße seitwa¨rts und oben sich langsam wo¨lbende Mauer kamen, die Vorwa¨rtsfahrt einstellten, die Mauer entlang, fahrend sie betasteten und schließlich der Kutscher sagte: Es ist eine Stirn“. Vgl. mit dieser Ersetzung von „Mauer“ durch „Stirn“ in ra¨umlicher Perspektive das im Hinblick auf die Zeit vorgenommene Stoßen von „Bug-brains […] into the blank, featureless wall of its most literal expression, the timetable“ (AtD 427): Hier werden sich die Chums of Chance angesichts eines „invisible narrative“ (AtD 418) bewusst, nicht nur in einer Zeitschleife gefangen zu sein, sie beginnen auch zu erahnen, dass diese Vorstellung selbst schon wie ihre eigene Existenz nur ein Produkt der Trivialliteratur ist. 5 Vgl. Deleuze 1990, bes. S. 95 – 131.
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reflected, and a couple of nights later, around three A.M., as an extra smack of the bamboo stick, She is the world“ (AtD 596; Hervorhebung im Original). ¨ bergang vom Rummelplatz des ersten Teils zu den Gipfeln mathemaDer U tischer Abstraktion im dritten Teil vollzieht sich hier in einem Satz: Yashmeen ist die Welt in dem Sinne, dass ihr mathematischer Sinn fu¨r n-dimensionale Welten die eindimensionale Welt des Jahrmarkts als eine Auspra¨gung mo¨glicher Welten verstehen kann, wohingegen die eindimensionale Welt nicht die n-dimensionale fassen kann. Yashmeen betreibt jedoch auch ethisch fundierte Mathematikkritik, denn die Mathematik ist nicht etwa unschuldig. Auch die deutschen Mathematiker sind von jener Gier bestimmt, die den Ersten Weltkrieg erzwang: Go¨ttingen wird u¨bervo¨lkert von besessenen Mathematikern, die Riemanns ZetaFunktion zu lo¨sen versuchen, „it’s like a silver camp in Colorado here, eternal renown in em hills, so forth“ (AtD 589; vgl. 619). Der Vergleich mit dem „silver camp“ in Colorado weist nicht nur auf einen zentralen, zudem mathematisch konstruierten Ort des Romans, „a rectangle, seven degrees of longitude wide by four degrees of latitude high – four straight lines on paper made up the borders“ (AtD 83), die Mathematikgeschichte belegt vielmehr in der Tat, dass der Weg auf der Suche nach Riemanns Weltformel mit Opfern von Wahnsinn und Suizid gepflastert ist.6 Denn jede einzelne Kontenbewegung, jeder Geheimdienst dieser Welt wird durch Codes geschu¨tzt, die auf sehr hohen Primzahlen beruhen, deren zeitlich nicht zu bewa¨ltigende Faktorenanalyse durch die Zeta-Funktion komplett transparent wu¨rde. Yashmeen aber fordert: „Do none of you ever think beyond these walls? There is a crisis out there. […] And Go¨ttingen is no more except than it was in Riemann’s day, in the war with Prussia. The political crisis in Europe maps into the crisis in mathematics. Weierstrass functions, Cantor’s continuum, Russel’s equally inexhaustible capacity for mischief […].“ „Come on,“ Kit said, „let a trivial fellow buy you a beer.“ (AtD 594)
Neben der Zeta-Funktion wird hier die Weierstrass-Funktion genannt, an der zuna¨chst vor allem der ma¨nnliche Blick auf Yashmeen interessiert ist: „those [Yashmeen’s] curves are everywhere continuous but nowhere differentiable“ (AtD 589), doch erfolgt durch diese Funktion ebenso wie durch die ZetaFunktion und Yashmeens Mathematikkritik eine metatextuelle Reflexion Pynchons auf das eigene Darstellungsverfahren: Die kleinsten Sequenzen dieses Romans, die typographisch durch Kapita¨lchen der ersten beiden Worte erkennbar sind, sind stetig im Sinne von Sprunglosigkeit und Lesbarkeit, wa¨hrend dies fu¨r ihre Inkorporation in die anhand ihrer Initialen erkennbaren Teile 6 Fu¨r mathematische Laien vergnu¨glich zu lesen: Sautoy 2004. Zum besseren Versta¨ndnis der mathematischen Grundlagen der Riemannschen Vermutung vgl. die ebenfalls versta¨ndliche Einfu¨hrung Derbyshire 2003.
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innerhalb der Kapitel, fu¨r die Kapitel oder gar den gesamten Roman nicht mehr gilt. Obwohl es mir im Falle einiger durchaus komplizierter literarischer Texte, vor allem derjenigen Jean Pauls gelungen ist, ihre mathematische Struktur zu analysieren,7 stehe ich im Falle von Pynchon jedoch allenfalls am Anfang einer gro¨sseren, zuku¨nftigen Arbeit: Es ist so, als ob Pynchon fu¨nf einzelne Romane jeweils in kleinste Sequenzen unterteilt und dann untereinander neu miteinander verbunden ha¨tte, dies nicht nur im Sinne eines Puzzles, einer Kombinatorik oder bloßen bricolage, sondern als noch vorzustellende Penrose-Parkettierung,8 eine aperiodische, pentaplexe Rekursion, die trotz der ungewo¨hnlichen La¨nge des Romans a¨usserst o¨konomisch verfa¨hrt, ja diese erst plausibilisiert.9 Die Literaturwissenschaft hat Forschungen in diese Richtung einer Invarianz literarischer und mathematischer Strukturen und Prozesse nur wenig vorangetrieben.10 Dennoch lassen sich bereits gegenwa¨rtig unsystematische Erkundungen unternehmen, in denen es um eine einfache textanalytische Frage geht: Durch welche Figuren11 gelingt Pynchon die Rekonstruktion der sozialen, politischen und o¨konomischen Globalisierungsprozesse vor dem Ersten Weltkrieg? Oder anders gefragt: Mit welchen Mitteln etabliert der Roman (s)eine pathologische Ordnung?
Strange tilings Der Gegensatz von Heimatlosigkeit und Grundbesitz als Tiefenstruktur der Texte Thomas Pynchons ha¨tte alle hellho¨rig werden lassen mu¨ssen, denen die unza¨hligen Geschichten des Antisemitismus auch nur von ferne bekannt sind: Antisemitismus, so der zionistische Agent Yitzhak Zilberfeld flows directly from the suburban fear of those who are always on the move, who set up camp for a night, or pay rent, unlike the Good Citizen who believes he ‚owns‘ his home, although it is more likely to be owned by a bank, perhaps even a Jewish bank. Everyone must live in a simply-connected space with an unbroken line around it. (AtD 165)
Heimatlosigkeit mit ihrer Folge der Suche nach einer Bewegung um ihrer selbst willen wird in Against the Day auf mathematische Probleme der Kontiguita¨t und 7 Vgl. Sinn 2001. 8 Vgl. Penrose 1979. In diesem Aufsatz beschreibt Penrose seine Entdeckung, wie man eine Ebene nicht-periodisch pflastern kann. 9 Vgl. Gardner 1989. 10 Ausgangspunkte hierfu¨r wa¨ren Relektu¨ren von Peirces Entwurf Short Logic von 1895 (MS 595; bislang z. T. unvero¨ffentlicht); Goodman 1972; Lotman 1972. 11 Zur Begriffsgeschichte von (Denk-)Figur: Kleinschmidt 2011.
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des Kontinuums umdeutend abgebildet, doch bestimmen die Strukturen solcher Raum-Teilungen gleichwohl die kulturellen, politischen und o¨konomischen Systeme nicht nur Europas. Erza¨hlt wird eine Geschichte u¨ber die Himmlische Stadt Zion (vgl. AtD 131; 165) so, dass der kulturgeschichtliche Boden, auf dem diese Stadt steht, wegbricht und der Zugang zu ihr mehr als ungewiss bleibt wie alle Bo¨den, auf denen sich die Figuren Pynchons bewegen: The tiles, a combination of scalene polygons of different shapes and sizes, had a radiant blackness which likewise failed to be onyx or jet. Visitors of a mathematical bent had purported to see repeating patterns. Others, doubting its solidity, were often afraid to walk upon the silvery web…as if Something had built it…Something that waited…that would know exactly when to cause it to give way beneath the unwary visitor…. (AtD 610; Hervorhebung im Original)
Indem Strukturen von Tabaksaft und Sa¨gemehl auf dem Fussboden einer amerikanischen Kleinkunstbu¨hne beobachtet werden, lassen sich „strange tilings from demolition jobs that raised advanced mathematical issues“ (AtD 344) analysieren, die isomorph zum chaotischen System der europa¨ischen Geschichte sind: „‚Floor Shows‘ […] turned out to be literal displays of floors – more usually fragments of them, detached and stolen from various locations around the city [New York].“ (AtD 344) ¨ rtlichkeiten New Yorks und Chicagos in Against the Day Dass die diversen O im Unterschied zum Steinpflaster Go¨ttingens, aber auch zu den kalifornischen Sta¨dten in Inherent Vice nicht auf Sand gebaut, sondern mit Holz parkettiert wurden, findet seinen pra¨zisen Sinn in der metaphorischen Verwendung der Ausdru¨cke ‚tilings / Pflasterungen / Parkettierungen‘ in der Mathematik. Pflasterungen sind spezifische Gruppentransformationen, die auf den Go¨ttinger Mathematiker Felix Klein (1849 – 1925) zuru¨ckgehen, wodurch die nicht immer ¨ bersetzung im Falle von ‚Floor shows‘ als ‚Klein-Kunst‘ (AtD pra¨zise deutsche U ¨ bersetzung: S. 515) einen eigentu¨mlichen Reiz be344; in der deutschen U kommt: Kleins Innovation, die nicht zuletzt Go¨ttingen zur fu¨hrenden Stadt der Mathematik erhob, bestand in der Einsicht des Primats von Transformationsprozessen und Invarianzstrukturen gegenu¨ber mathematischen Objekten und Inhalten. Damit ist zugleich der methodische Ansatz des folgenden Beitrages angegeben: Die Gesamtheit der Eigenschaften soll beschrieben werden, die sich bei den Transformationen einer bestimmten Gruppe nicht a¨ndern. Diese Gruppe bildet mathematisch gesehen eine Welt: ob es sich bei den Elementen dieser Gruppe um etablierte Gro¨ssen wie Punkte, Geraden und Winkel handelt, oder aber um „Liebe, Gesetz, Schornsteinfeger“ muss uns nach einem anderen Go¨ttinger Mathematiker, David Hilbert, nicht ku¨mmern. Entscheidend bleibt
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vielmehr : „eine jede Theorie kann stets auf unendlich viele Systeme von Grundelementen angewendet werden.“12
Fiktionen und Gewebe: Anything goes? Diese Auffassung von Mathematik als welterzeugendes Verfahren stieß auf die grundsa¨tzliche Kritik Freges,13 da ein logisch koha¨rentes Netz von Fiktionen sich nicht mehr von den freien Scho¨pfungen der Literatur oder leerem Gerede unterscheidet.14 Unter diesem Aspekt kann tatsa¨chlich von einer Isomorphie mathematischer und literarischer Strukturen gesprochen werden, die fu¨r Pynchons Roman zentral ist: Beide, Literatur und Mathematik, ko¨nnen ihre Welten aus nichts erzeugen, aber sie tun dies mit wiederum operationalen Mitteln, wa¨hrend Philosophen und Wissenschaftstheoretiker wie Frege, Schlick und Carnap den Geltungsbereich der relationalen Erkenntnis strikt auf in ihrem Sinne objektive, d. h. empirische Erkenntnis beschra¨nkten.15 Damit umgingen sie aber das von Go¨del scharf analysierte Problem, das er mit Hilberts Mitteln gegen dessen Programm einklagen konnte, dass na¨mlich bereits die rein logische Widerspruchsfreiheit komplexerer Systeme ohnehin nicht beweisbar ist und allenfalls ihre Unbeweisbarkeit bewiesen werden kann.16 Der Fiktionalismus Hilberts ist daher wie der schon von Herder und Hamann gegenu¨ber Kant behauptete Fiktionalismus gut begru¨ndet,17 auch wenn er tendenziell zwischen Paranoia und Wissenschaft keinen klaren Trennstrich zieht: Wurde Hilberts Forderung nach produktiver Imagination bereits im 18. Jahrhundert gestellt, dort aber mit philosophischen Machtspru¨chen abgetan, so darf in der gegenwa¨rtigen Philosophie und Wissenschaftstheorie immerhin bezweifelt werden, dass Gegenstandsindependenz schon mit Gegenstandsinexistenz gleichzusetzen ist, weil es sich eben um zwei voneinander geschiedene Fragen handelt. Pynchon benennt Riemann, Klein und Hilbert gleichsam als theoretische Kronzeugen der eigenen metafiktionalen Konstruktion, er verwebt mit seiner 12 David Hilbert an Gottlob Frege, 29. 12. 1899. Zit. nach: Frege 1980, S. 13. 13 Schu¨ler 1983, S. 63: „Frege hatte die gewohnten Begriffsbildungen der Logik in ihrer Anwendung auf die Mathematik nicht vorsichtig genug gehandhabt: so hielt er den Umfang eines Begriffs fu¨r etwas ohne weiteres Gegebenes, derart, dass er dann diese Umfa¨nge uneingeschra¨nkt wieder als Dinge selbst nehmen zu du¨rfen glaubte. Er verfiel gewissermaßen einem extremen Begriffsrealismus.“ 14 Vgl. Bendels 2008, bes. S. 31: Auffa¨llig ist die dichterische Sprache des Scho¨pfungsmythos bei Hilbert. 15 Vgl. Hahn 2009, bes. S. 106 – 115. 16 Vgl. Stegmu¨ller 1973. 17 Vgl. Gaier 2006.
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wo¨rtlich zu verstehenden Hauptfigur Webb Traverse zentrale kulturelle, politische und o¨konomische Probleme innerhalb der Vorstellung, um die moderne mathematische Theorie produktiv zu untergraben: „Something like…a Riemann sphere. […] The realm of x + iy – we are in it! Whether we want to be or not.“ (AtD 565) Durch die Riemann-Spha¨re sind aber nicht nur n-dimensionale, nicht-euklidische Ra¨ume denkbar, vielmehr erfolgt hierdurch paradoxerweise gerade die Limitierung des anything goes fiktionaler Netze, die Frege gegenu¨ber Hilbert forderte: Mit Riemann, genauer gesagt seiner Zeta-Funktion, bekommt auch Pynchons Text eine konkrete topologische Struktur und Topographie.18 Die topologische Struktur des Textes entzieht sich jedoch zuna¨chst jedem Zugriff. Ziemlich genau in der Mitte von Against the Day kommentiert sich der Text als diskursive Praxis moderner Prosa, wenn er die eigene Textgenese abzulesen versucht, jedoch keinen Urtext mehr herzustellen vermag: Der Ur- wie Pra¨text des Romans beschreibt sich anhand eines Itinerars, der Karte von Shambhala, selbst, „but makes no sense unless observed through a device called a Paramorphoscope“ (AtD 609). Paramorphismus ermo¨glicht Doppelkodierungen: „ordinary light, passing through this mineral [Iceland spar], was divided in two separate rays, termed ‚ordinary‘ and ‚extraordinary‘“ (AtD 114; vgl. 564), damit kann aber auch nun jedes Zeichen des Romans selbst doppelt gelesen werden, Parallelwelten sind mo¨glich, die durch Paramorphoskope offenbart werden: The problem lies with the projection. The author of the Itinerary imagined the earth not only as a three-dimensional sphere but, beyond that, as an imaginary surface, the optical arrangements for whose eventual projection onto the two-dimensional page proved to be very queer indeed. (AtD 249; Hervorhebung im Original)
Soll im dreidimensionalen Raum der Romanwelt Vierdimensionalita¨t dargestellt werden, so kann dies entweder durch Modelle wie einen Tesserakten geschehen, der sich zum Wu¨rfel wie dieser zum Quadrat verha¨lt. Doch ein solches Objekt kann nicht ‚wirklich‘ vorliegen, wie dies von einem merkwu¨rdigen Museum der Mathematik behauptet wird, das auf dem Brocken stehen soll: „the cornerstone of the building is not a cube, but its four-dimensional analogy, a tesseract. Certain of these corridors lead to other times, moreover you might wish too strongly to reclaim, and become lost in the perplexity of the attempt.“ (AtD 636) Eine andere Mo¨glichkeit besteht hingegen in Karten, die, obwohl sie als zweidimensionale Objekte vorliegen, durch Paramorphoskope vierdimensional lesbar werden, so dass die Karte nicht nur die Wirklichkeit ist, sondern der Betrachter in die Karte hineinfallen kann (AtD 436): Dies ist in einem hyper18 Vgl. Epple 1999, S. 207. Vgl. auch den Verweis auf Peter Guthrie Tait (AtD 324); vgl. Taimina 2009. In einer hyperbolischen Ebene sind Pflasterungen mit rechtwinkligen Dodekaedern mo¨glich.
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bolischen Raum in der Tat mo¨glich, in der dreidimensionalen Welt jedoch zuna¨chst nicht anschaulich vorstellbar. Die dritte Mo¨glichkeit ist, dass jemand wie Kit Traverse alias James Bond Kit im dreidimensionalen Raum ein Objekt findet, das Vierdimensionalita¨t gleichsam inkorporiert, und wie bei James Bond geht es wieder einmal darum, die Menschheit zu retten: Das letzte Mittel hierzu ist bekanntlich eine scho¨ne Frau, hier die Japanerin Umeki als neue Madame Butterfly (AtD 567), die Kit und damit den Leser in die letzten Geheimnisse mathematischer Physik einweiht. Die von beiden aufgefundene Todesmaschine besteht aus einem Islandspat mit der ungewo¨hnlichen Symmetrie eines Ikosaeders. Wa¨hrend Ikosaeder makroskopisch natu¨rlich jederzeit als Einzelko¨rper konstruiert werden ko¨nnen, gilt dies nicht fu¨r die atomare Ebene von Kristallen: hier widerspricht die dreidimensionale Raumorientierung der fu¨nfza¨hligen Symmetrie des Ikosaeders. Man kann kurz gesagt Ikosaeder nicht in einer periodischen Struktur so anordnen, dass sich daraus wiederum ein makroskopischer Ikosaeder erzeugen liesse. In den Kontexten von Agentenkrimi und Detektivgeschichte mutet Pynchon dem Leser Erkenntnisse zu, die erst 2011 zum Chemie-Nobelpreis fu¨hrten,19 um seine anarchischen Botschaften zu verku¨nden: Pynchons Ikosaeder ist to¨dlich, da er auf atomarer Ebene u¨ber scharfe Beugungspunkte verfu¨gt, die eine doppelte Refraktion erzeugen „with the units of space itself actually being altered, because of Earth’s motion – then already in such a crystal, implicit, embodied there, is that high planetary velocity, that immoderately vast energy […]“ (AtD 566). Auch solche Quasikristalle sind aperiodisch nach dem Muster der PenroseParkettierung strukturiert,20 die wortwo¨rtlich als ‚strange tiling‘ die Paranoia des Romans organisiert und das Problem lo¨st, wie sich diese unerho¨rte kinetische Energie im beschra¨nkten Medium zweidimensionaler Seiten u¨berhaupt darstellen la¨sst: Schneidet man Quasikristalle geeignet an, so zeigen ihre Schnittfla¨chen jene nicht-periodisch parkettierte Ebene des Mathematikers Penrose, die zugleich die Struktur von Against the Day ist: Komplexe, nichtlineare Systeme lassen sich mit linearen Mitteln erzeugen,21 indem schlicht nach dem Prinzip der Kontiguita¨t verfahren wird.22 Auch psychologisch gesehen 19 Vgl. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/chemistry/laureates/2011/ [17. 01. 2012]. 20 Vgl. http://www.ams.org/featurecolumn/archive/penrose.html [19. 01. 2012]. 21 Vgl. meine Kritik an dem spa¨testens seit Serres Hermes-Schriften favorisierten Netzdenken der Kulturwissenschaften als schlechter Metaphorisierung der Mathematik zu unklaren Zwecken: Dynamische, offene Netzstrukturen wie Wolkenbildung lassen sich zwar nie vollsta¨ndig beschreiben, erlauben aber innerhalb bestimmter Grenzen lineare Operationalisierbarkeit, sogenannte Rhizome sind mathematisch gesehen unterkomplex (Sinn 2008). 22 Sehr anschaulich wird die lineare Operationalisierung nicht-linearer Unanschaulichkeiten in den Arbeiten von Taimina 2009 und Belcastro / Yackel (Hg.) 2008. Offensichtlich haben Mathematikerinnen ein besseres Versta¨ndnis fu¨r hyperbolische Fla¨chen als Mathematiker : Wa¨hrend die einfachste Fla¨che negativer Gaussscher Kru¨mmung, die sogenannte Pseudo-
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„ha¨ngt die Wirkungsweise der Indizes von Assoziation durch Kontiguita¨t ab und ¨ hnlichkeit oder Verstandesoperationen.“23 Ein nicht von Assoziation durch A Beispiel hierfu¨r ist neben vielen anderen Selbstbeschreibungen des Romans folgende Karte: If this was a map, it was like none Cyprian had ever seen. Instead of place-names there were hundreds of what looked like short messages. Everything reproduced in just one color, violet, but cross-hatched differently for different areas. (AtD 936)
Bilokationen Die von Pynchon insinuierten Entdeckungen des Lesers „that everything is connected“24 verdanken sich neben dem Prinzip einer Penrose-Parkettierung seiner umgreifenden Denkfigur der Bilokation: Diese ist wie der fu¨r den Roman zentrale Islandspat und nicht zuletzt die Literatur selbst nicht nur ein Medium, das die eigene Medialita¨t aufgrund seiner Transparenz ausblendet, um alles doppelt sehen zu lassen. Pynchon bildet vielmehr in einer umgreifenden Mediensemiotik mathematische auf literarisch-rhetorische Verfahren ab und u¨berfu¨hrt damit die pathologische in eine ho¨here symbolische Ordnung: ‚Bilokation‘, ein zuna¨chst begrifflich durchaus unscharfer Ausdruck, wird im Roman nicht nur mit ga¨ngigen mystischen, esoterischen und paranormalen Konnotationen verwendet, die dem Faktum widersprechen, dass kein Ding an zwei Orten zugleich sein kann, sondern markiert ein genuin literarisches Erza¨hlverfahren25, das Pynchon in vielfa¨ltiger Weise so abwandelt, dass es schliesslich zum Prinzip seiner Wissenschaftskunst erhoben werden kann. Ein einfaches optisches Beispiel fu¨r Bilokation im Roman ist etwa der Islandspat, der doppelte Bilder entstehen la¨sst, ein anderes anagrammatisches Exempel aber der verru¨ckte deutsche Professor namens Werfner, der mit seinem englischen Kollegen Renfrew um die Weltherrschaft streitet, bis sich herausstellt, dass Werfner/Renfrew eine schizoide Perso¨nlichkeitsstruktur hat, also doch nur einer ist (AtD 226, 495, 499, 602, 679 – 691, 719, 936). Da ist aber auch die bekannte Diskussion um die Existenz des Lichtes von Welle und Teilchen, die im Roman nicht nur wissenschaftshistorisch nacherspha¨re, aufgrund ihrer Starre u¨ber ihren Rand nicht verla¨ngerbar ist, gilt dies nicht fu¨r wandernde Fla¨chen wie z. B. geha¨kelten Stoff. 23 Peirce 2000, S. 351. 24 Pynchon 1995, S. 703. 25 Dies la¨sst sich rein motivgeschichtlich in der Figur des Doppelga¨ngers nachweisen, vgl. Frenzel 2008, S. 92 – 112; vgl. die „Twin Vibes“ (AtD 102) oder Blinky / Morley (AtD 61 f.). Eine direkte intertextuelle wie intermediale Referenz auf die Nachtstu¨cke der Romantik gibt Pynchon (AtD 586), vgl. Frenz 2009.
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za¨hlt, sondern zur Erfindung einer neuen Maschine verwendet wird, mit der man sich unter Sand wie unter Wasser fortbewegen kann, um nach der untergegangenen Stadt Shambhala suchen zu ko¨nnen, ist doch Sand „that medium which is wavelike as the sea, yet also particulate“ (AtD 426), und eben diese Metapher wird zur Beschreibung europa¨ischer Kultur aus der Optik des Amerikaners Kit anla¨sslich des unterschiedlichen Umgangs mit dem Glu¨cksspiel eingesetzt: „Electric lamplight kept the scene hardfocused and readable, all proceeding stepwise, by integers, little ambiguity allowed in the spaces between. And somewhere, that unanswerable wave-function the sea“ (AtD 536). Bilokation lehrt zudem durch Schamanen, die an zwei Orten zugleich sind, den europa¨ischen Betrachter einen anderen Blick auf die Welt (AtD 143); Zauberku¨nstler mit dem sprechenden Namen Zombini wiederum lassen im Text Leute dadurch verschwinden, dass sie diese in den bekannten mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Maskelyne-Kasten hinter einen Spiegel steigen lassen, so dass das Publikum wa¨hnt, dieser sei leer. Leider passiert aber bei einem Experiment mit einem dreidimensionalen Spiegel aufgrund der unterschiedlichen Brechungsverha¨ltnisse eine zeitliche Verschiebung und so laufen nun in Against the Day u¨berall zwei Menschenexemplare herum, die sich aufgrund verschiedener Lebensgeschichten so weit auseinander entwickelt haben, dass sie sich nicht mehr wiedererkennen: in the ceaseless drift of the ice, the uncountable translations and rotations […] there would come a moment, maybe two, when the shapes and sizes of the masses here at this „Venice of the Arctic“ would be exactly the same as those of secular Venice […] and for that brief instant it would be possible to move from one version to the other. (AtD 136)
Pynchon stellt seine vielfa¨ltigen Bilokationen explizit in die Na¨he zu metaphysischen, naturphilosophischen Positionen und mit dieser humoristischen Koalition bricht das o¨stlicher wie westlicher Philosophie nur allzu bekannte Problem auf, wie sich denn Dualismen auflo¨sen lassen: „[…] it is no longer the Stupendica up there. That admirable vessel has sailed on to its destiny. Abovedecks now you will find only His Majesty’s dreadnought, Emperor Maximilian. It is true that for a while the two ships did share a common engine room. A ‚deeper level‘ where dualities are resolved. A Chinese sort of situation, nicht wahr?“ (AtD 519; Hervorhebung im Original)
Der theoretisch anspruchsvollste Fall von Bilokation ist jedoch mit dem Namen des deutschen Mathematikers Riemann und seiner Zetafunktion verbunden, mit ihr wird die epistemische Grenzscheide zwischen dem realen und imagina¨ren Teil in der oben erwa¨hnten Karte Renfrews eingezeichnet: „‚Critical line‘ – […] isn’t that Riemann talk?“ (AtD 936) und mit ihr reflektiert Pynchon die strukturelle Gleichurspru¨nglichkeit von Literatur und Mathematik im Medium der Karte als Traum:
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„if one accepts the idea that maps begin as dreams, pass through a finite life in the world, and resume as dreams again, we may say that these paramorphoscopes of Iceland spar, reveal the architecture of dream, of all that escapes the net-work of ordinary latitude and longitude….“ (AtD 376)
Diese ernstzunehmende These des Romans von der nur immanenten Geltung konjekturaler Modelle und ihrer ‚Begru¨ndung‘ durch den Traum wird durch die humoristische Brechung mit den zuvor genannten trivialen Fa¨llen von Bilokation vertieft. Denn es erfordert schon etwas Humor und Fantasie, Riemanns Zeta-Funktion, die vermutlich das Chaos der Primzahlen ordnet, mit der Struktur literarischer Texte in Verbindung zu bringen, doch eben diesen spannenden Funkenschlag erzeugt Pynchons Roman durch Yashmeen, die sich am King’s College in Cambridge to¨dlich langweilt. Ihre Kommilitonen Nigel und Neville observieren sie im Auftrag der obskuren, neupythagoreischen Organisation, der W.A.U.T., der wahren Anbeter der Unaussprechlichen Tektraktys. Yashmeen kapselt sich deshalb ab und macht a journey into the dodgy terrain of Riemann’s Zeta function and his famous conjecture – almost casually thrown into an 1859 paper on the number of primes less than a given size – that all its nontrivial zeroes had a real part equal to one half. Neville and Nigel spent the summer developing their own hypothesis that members of the Chinese race without exception could be depended upon for access to opium products. „Just wait for a Chinaman to show up,“ as Nigel explained, „and sooner or later he’ll lead you to a ‚joint,‘ and Bob’s your uncle.“ (AtD 496)
An diesem Beispiel wird der hier interessierende Fall von Bilokation als strukturelle Gleichzeitigkeit literarischer und mathematischer Verfahren in nuce ablesbar. Unabha¨ngig von der Frage, was die Zeta-Funktion denn bezeichnet, la¨sst sich hier ein durch humoristische Autoren wie Sterne oft gebrauchtes literarisches Verfahren zur Welterzeugung erkennen, indem das Erza¨hlte durch implizite Kommentierungen des Erza¨hlten kontrastiert wird.26 Ein hochabstraktes mathematisches Problem, mit dem sich auch heute noch Mathematiker ihr ganzes Leben bescha¨ftigen, ohne es lo¨sen zu ko¨nnen,27 wird im obigen Zitat durch die Behauptung humoristisch kommentiert, dass jeder Chinese Zugang zur Opiumproduktion habe. Durch Nigels Kommentar wird implizit behauptet, die Folge der nichttrivialen Nullstellen sei eindeutig, allerdings nicht eineindeutig abbildbar auf die Folge der chinesischen Bevo¨lkerung. Obwohl das Beispiel offenkundig hinkt, macht allein die Tatsache, dass man u¨ber eine solche
26 Vgl. Iser 1987. 27 Vgl. das vom CMI ausgesetzte Preisgeld von einer Million US-Dollar fu¨r die Lo¨sung dieses Milleniumproblems: http://www.claymath.org/millenium-problems/riemann-hypothesis [17. 07. 2013].
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Abbildung nachdenken ko¨nnte, weiter denkbar, dass sich Komplexes durch weniger Komplexes abbilden la¨sst. Mit dieser Folgeu¨berlegung aber wird der humoristische Diskurs verlassen ¨ berlegung geta¨tigt, die auf eine zentrale Frage der Wissenschaftsgeund eine U schichte der Mathematik zula¨uft. Denn Yashmeen stellt nun Hilbert selbst die Frage (AtD 604), ob die nichttrivialen Nullstellen der Zeta-Funktion den Eigenwerten eines Hermiteschen Operators entsprechen ko¨nnten. Ein solcher Operator ha¨tte im Unterschied zu Riemanns Funktion mit komplexen Zahlen nur noch reelle Werte.28 Noch einfacher wu¨rde die Abbildung, wenn man diese reellen Werte wiederum auf eine ganzzahlige Folge natu¨rlicher Zahlen, etwa von Chinesen projizieren ko¨nnte, die Zugang zu Opium wie die Nullstellen Zugang zu den Primzahlen haben. Diese zuna¨chst humoristische Kopplung von Erza¨hlung und Kommentar wird in der darauffolgenden Untersuchung Kits durch den Go¨ttinger Psychiater Dr. Willi Dingkopf verscha¨rft, die nach demselben Schema verla¨uft: „‚Traverse‘, what sort of name…you are not also Hebraic, by any chance??“ „What? I don’t know….Next time I talk with God, I’ll ask.“ „Ja – well, now and then one finds an Hebraic indication, accompanied by feelings of being not sufficiently Gentile, this is quite common, with corollary anxieties about being too Jewish….?“ „You sound anxious yourself, Doc.“ „Oh, more than anxious – alarmed, as I observe, strangely, you are not. By the millions now into your own country they are streaming – how naı¨ve do Americans have to be, not to see the danger ?“ „Jews are dangerous?“ „Jews are smart. The Jew Marx, driven by his unnatural smartness to strike at the social order…the Jew Freud, pretending to heal souls […] the Jew Cantor, the Beast of Halle, who seeks to demolish the very foundations of mathematics […]“ „Wait, excuse me, Herr Doktor, […] Cantor is a practising Lutheran […] far from ruination, what he may have led us to is a paradise, as Dr. Hilbert has famously described it.“ „Dr.…David Hilbert, you will note.“ „He’s not Jewish either.“ „How well informed everyone is today.“ (AtD 624 f.; Hervorhebung im Original)
Nach diesem Gespra¨ch, u¨ber das man allenfalls galgenhumoristisch mit Schmerz lachen kann, folgt nun aber wie zuvor ein impliziter Kommentar, der die Frage des Antisemitismus entscheidend problematisiert: Dingkopf ist kein Dummkopf, seine Praxis verdankt sich nicht nur der Theorie Freuds, vielmehr leitet er auch eine ‚Kolonie‘, die nach den modernsten Prinzipien des Invisibilismus gebaut ist. Diese beziehen sich direkt auf Buckminster Fullers Konzepte, die ebenfalls im Kontext der Penrose-Parkettierung stehen.29 Es gibt viele Re28 Vgl. Derbyshire 2003, S. 275 – 277. 29 Die Penrose-Parkettierung wiederholt sich bei einer vollsta¨ndigen Drehung fu¨nfmal, kann aber nicht verschoben werden; sie ist isomorph zu Buckminster Fullers abgestumpftem Ikosaeder, der sowohl architektonisch wie chemisch (Fullerene) bedeutsam wurde. Vgl. Penrose 1995 und Mu¨ller / Quadbeck / Diemann 2004. Auf Pynchons Roman bezogen ergibt
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ferenzen Pynchons auf Fuller, hier jedoch kann die Anspielung nicht mehr ¨ berfu¨hrung dieser Architektur durchweg positiv besetzt werden, denn die U „into its own meta-structure“ (Atd 625) fu¨hrt zu einer Paramorphose: „Until one day one is left with […] a few tangles of barbed wire defining the plan-view of something no longer quite able to be seen“ (AtD 625). Die Verzerrung von Dingkopfs ‚Kolonie‘ zum spa¨teren Konzentrationslager problematisiert jedoch im Kontext von Fuller mathematische Abstraktionsverfahren, die sowohl Antisemiten wie Avantgarden nutzen ko¨nnen.30 Damit wird aber im Roman der historische Begriff des Antisemitismus partial verlassen und durch einen strukturellen Begriff ersetzt, dessen ‚Modernita¨t‘ um nichts weniger erschreckend ist.
Futurismus: not like Marinetti Der geometrische Futurismus und Invisibilismus Buckminster Fullers, der nicht zuletzt darauf abzielte, das Problem von Heimatlosigkeit und Grundbesitz architektonisch durch optimale Raumteilungsverfahren zu lo¨sen, wird bei Pynchon mit einer selbst futuristischen Technik dargestellt31: Die Amerikanerin Dally begegnet in Venedig gleich zwei futuristischen Malern, zuna¨chst Hunter Penhallow, einem englischen Maler, „maybe even the genuine article“ (AtD 575), der „demobilized from a war that nobody knew about“ (AtD 576) in Venedig die Zuflucht vor dem Ersten Weltkrieg sucht, welcher erst spa¨ter beginnen wird. Dieser „time-traveller from the future“ (AtD 577) zeigt ihr anhand von Tintorettos Bergung des Leichnams des Hl. Markus, wie bereits in der Vergangenheit Kunst Dinge sah „[that] we can’t see anymore“ (AtD 579). Dies gilt aber auch fu¨r die Gegenwart des Romans, wenn z. B. Chick ein Feuerzeug verwendet, das noch gar nicht erfunden wurde (AtD 252). Hunter macht sie mit dem divisionistischen Maler und Anarchisten Andrea Tancredi bekannt, dessen Name auch auf die Ortlosigkeiten der gleichnamigen Helden bei Tasso wie bei Rossini zugleich anspielt. Tancredi „sympathized with Marinetti and those around him who were beginning to describe themselves as ‚Futurists‘, but failed to share their attraction to the varieties of American brutalism“ (AtD 584). Im Gegensatz zu den Futuristen aber ist er wie Hunter an der alten Darstellung der Nachtstu¨cke interessiert: sich hieraus eine neue Lesart sowohl der Fu¨nfzahl seiner Kapitel wie der Neukonstruktion des Islandspates als Quasikristall (AtD 437): Against the Day ist dieser Kristall. 30 Vgl. zur gegenwa¨rtigen, ebenfalls nicht unproblematischen Applikation Buckminster Fullers die sich aus der St. Galler Managementtheorie emanzipierende Malik Superintegration. 31 Vgl. auch Severs 2011.
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„Not like Marinetti and his circle,“ Tancredi confessed. „I really love the old dump. Here.“ He led her [Dally] to a stack of canvases in a corner she hadn’t noticed before. They were all nocturnes, saturated with fog. „In Venice we have a couple of thousand words for fog – nebbia, nebbietta, foschia, caligo, sfumato – and the speed of sound being a function of the density is different in each. In Venice, space and time, being more dependent on hearing than sight, are actually modulated by fog. So this is a related sequence here. La Velocita` del suono. What are you thinking?“ (AtD 587; Hervorhebung im Original)
Wa¨hrend Dally, ob nun in ihrer Rolle als Geliebte Tancreds (Tasso) oder Tancredis (Rossini), denkt „that Tancredi had better kiss her, and soon“ (AtD 587), werden Leser nicht nur an die deutsche, schallmauerdurchbrechende V2 in Pynchons Hauptwerk Gravity’s Rainbow denken. Die Geschwindigkeit des Tones ist vielmehr dem Text als futuristischer Prozess eingeschrieben, der sich selbst immer schon als Echo der Erinnerung32 voraus ist und eine Ordnung bevorzugt, die wie der Jazz von Thelonious Monk33 in „the most amazing social coherence“ (AtD 370) Symmetrien rhythmisch verschiebt, ohne dadurch aus dem Takt zu geraten: Die Professoren Werfner und Refnew „had at last the grace to avoid the mirrorlike – if symmetries arose now and then, it was written off to an accident, ‚some predispositions to the echoic,‘ as Werfner put it, ‚perhaps build into the nature of Time‘, added Renfrew“ (AtD 227). Wenn die rhythmische Verschiebung durch Renfrew / Werfner auch humoristisch verzerrt erscheint, so wird doch durch diese die Darstellungsdifferenz zwischen dem Futurismus und seiner Vorgeschichte vermittelt. Besonders den Nachtstu¨cken fa¨llt diese Funktion zu, waren sie doch bereits vor der Romantik Paradigmen der sich in einer Obscuritas aesthetica34 mit „umbrarum nomine“35 selbst aufkla¨renden Aufkla¨rung: „And thus one may truly be said to see darkness“;36 indem mit Baumgarten die Tatsache anerkannt wird, dass so „per obscurum coeptae lucis paullatim panditur brevis meridies, quam inter et mediam noctem est media post solis occasum obscura lux.“37 Dies fu¨hrt zur Produktion von Texten, die, obwohl rational konstruiert, sich selbst entgleiten, weil das Licht der Sonne, darin den Begriffen a¨hnlich,38 immer etwas mit ihren Schatten zu tun 32 Vgl. unter inhaltlich und stilistisch ganz anderer, formal aber a¨hnlicher Perspektive die Texte von Powers: The Echo Maker (2006) und The Time of Our Singing (2004). 33 Vgl. das Against the Day vorangestellte Epigraph, ein wohl nur Monk unterstelltes Zitat: „It’s always night, or we wouldn’t need light“, der im pra¨gnanten Gegensatz zu Amerikas „practical affairs, its steadfast denial of night“ (AtD 732) steht. 34 Baumgarten 2007, S. 621 – 644. 35 Ebd., S. 624. 36 Locke 1965, 103 [VIII, §6]. 37 Baumgarten 2007, S. 624 [§ 635] [Hervorhebung im Original]. 38 Vgl. Blumenberg 2007, bes. S. 9.
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hat (vgl. AtD 134): Aufkla¨rerische Texte sollen, zumindest nach Baumgarten, sich nicht in Helligkeitsgraden steigern, sondern sukzessive im Wechsel von Licht und Schatten sich so abwechseln, dass ein vorangehender Textteil den nachfolgenden abschattet und der nachfolgende den vorangehenden nicht verdunkelt, so wie der Mittag den Morgen erhellt, den Abend aber in Schatten hu¨llt. Dieses wesentliche Kompositionsverfahren invisibilisiert sich zunehmend: Pynchon geht mit Tancredi zu Recht auf den Kontext der Nachtstu¨cke zuru¨ck, um das romantische Theorem fu¨r die futuristische Moderne zu reflektieren, wie man Kontingenz erzeugen muss, um sie u¨berhaupt steuern zu ko¨nnen39 : Der Vektorismus, Hilberts Raumbegriff und Riemanns Zeta-Funktion sind nicht nur geschichtliche Inhalte des Romans, sie halluzinieren nicht nur durch Zeitreisemaschinen, spiritistische Sitzungen, die Quaternionen und andere esoterische Spekulationen Geschichte so, dass deren katastrophaler Verlauf wie in Brentanos Aloys und Imelde oder Tiecks Aufruhr in den Cevennen revidierbar und zugleich eine neue Zukunftsperspektive ero¨ffnet wird. Ihre Bedeutung resultiert komplementa¨r zu ihrer Invisibilisierungsleistung gerade in der Ermo¨glichung sinnlicher Pra¨senz, die als solche unmo¨glich wa¨re: Bei Pynchon geht es wie in dem von ihm zitierten apokryphen Kinderevangelium des Thomas (AtD 579) so zu, dass er wie das Jesuskind zu fa¨rbende Kleider in einen Kessel mit roter Farbe wirft, um dann daraus alle Kleider in der Farbe hervorzuziehen, die sie haben sollen, „not colors this time but languages“ (AtD 580). „Unmet expectations“ und unerwartete Einfachheit als Definition (mathematischer) Scho¨nheit:40 Lo¨ste der Divisionismus das Farbproblem des Kinderevangeliums auf seine Weise, so macht Pynchon mit seiner mathematischen Poesie und der Zeta-Funktion Riemanns die materiale Historie als unerwartet einfache Struktur lesbar, mit der man ‚die‘ zuku¨nftige Welt und ihre Kriege im Sinne geopolitischer Dominanz berechnen kann. Damit entwickelt Pynchon in der Literatur mit den Mitteln der Mathematik eine o¨konomische Kunst des Denkens, die gerade fu¨r jene Geheimdienste im Text interessant wird, die auf sich selbst als schlechte Lyrik wie interessante Rhythmik verweisen: „For we’re the […] Vagabonds of the Void … / When some folks shrink with terror, say, / We scarcely get annoyed.“ (AtD 15) Diese Koexistenz von ho¨chster Abstraktion und trivialster Literatur verwundert nicht, denn erst Riemanns vierdimensionale Welt erzeugt aufgrund des komplexen und des reellen Teils der Zeta-Funktion zwei nahezu identische dreidimensionale Welten, die eine merkwu¨rdige futuristische Koalition von
39 Vgl. Kleinschmidt 2004, bes. S. 151 – 153. 40 Vgl. Penrose 1974.
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zeitlich versetzen Blickwinkeln, damit aber auch Humor und die Kritik traditioneller Lektu¨reanweisungen erzwingen.
Every boy knows Wa¨hrend Pynchon den Zugriff auf historisches Material durch mathematische Verfahren wie Riemanns Zeta-Funktion und die Penrose-Parkettierung methodisch innoviert, verdankt sich die als Gegenwart halluzinierte Vergangenheit alten literarischen Darstellungstechniken. So verwendet Pynchon neben dem schon erwa¨hnten humoristischen Kontrast durch implizite Kommentierungen des Erza¨hlten (Aufkla¨rung) und die ‚futuristischen‘ Nachtstu¨cke (Romantik) auch das aus der realistischen Literatur bekannte Unterlaufen der Differenz von ¨ ber der Romanhandlung schweben die sogeHoch- und Trivialliteratur : U nannten Chums of Chance, die Freunde der Fa¨hrnis, als Besatzung des Luftschiffes Inconvenience, die sich selbst gleich in den ersten Sequenzen des Romans als Zitat aus Groschenromanen und Ra¨uberpistolen bezeichnen, denen man getrost alle weiteren Informationen entnehmen ko¨nne.41 Als der Detektiv Lew Basnight an Bord der Inconvenience zu gelangen versucht, muss er einra¨umen, die Besatzung nicht zu kennen: „But every boy knows the Chums of Chance,“ declared Lindsay Noseworth perplexedly. „What could you’ve been reading, as a youth?“ Lew obligingly tried to remember. „Wild West, African explorers, the usual adventure stuff. But you boys – you’re not storybook characters.“ He had a thought. „Are you?“ (AtD 36)
Die Chums of Chance stehen im Dienst einer ho¨heren, gleichwohl obskuren Hierarchie, die, wie der Name des Luftschiffes Inconvenience schon andeutet, die Bru¨che der Welt harmonisch gla¨tten sollen. Um auf ihrer Mission schneller voranzukommen, wird eine intraplanetarische Abku¨rzung durch die Hohlerde notwendig: For a detailed account of their subsequent narrow escapes from the increasingly deranged attentions of the Legion of Gnomes, the unconscionable connivings of a certain international mining cartel readers are referred to The Chums of Chance in the Bowels of the Earth – for some reason one of the less appealing of this series, letters having come 41 Chums of Chance and The Evil Halfwit (AtD 5); Chums of Chance at Krakatoa (AtD 6); Chums of Chance Search for Atlantis (AtD 6); Chums of Chance in Old Mexico (AtD 7); Chums of Chance and the Bowels of the Earth (AtD 117); The Chums of Chance and the Ice Pirates (AtD 123); The Chums of Chance Nearly Crash into the Kremlin (AtD 123); Chums of Chance at the Ends of the Earth (AtD 214) – dieser Roman wird von Reef Traverse gelesen; Chums of Chance and the Caged Women of Yokahama (AtD 411); Chums of Chance and the Wrath of the Yellow Fang (AtD 1019) [Hervorhebung im Original] – damit wird bereits Inherent Vice pra¨ludiert: hier steht der Schoner ‚Golden Fang‘ fu¨r dunkelste Machenschaften amerikanischer Politik.
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in from as far as Tunbridge Wells, England, expressing displeasure, often quite intense, with my harmless little intraterrestrial scherzo. (AtD 117; Hervorhebung im Original)
Solche ironischen Selbstkommentare des Erza¨hlers wie seiner Figuren irritieren nicht nur die Begriffe von Autor und Werkbegriff, die Chums of Chance zeichnen damit gegenu¨ber den Fla¨chenmenschen der Romanwelt die gleichsam vertikale Position in den Text ein, dessen ra¨umliche Koordinaten u¨ber die vier Kinder des fru¨h ermordeten Anarchisten Webb Traverse personifiziert werden: Frank, Reef, Kit und Lake werden nicht nur in alle vier Windrichtungen verschlagen, sondern sind auch semantisch einander polar entgegengesetzt: Frank la¨sst sich von Scarsdale Vibe, der den Mord an seinem Vater veranlasste, fu¨r ein Mathematikstudium kaufen, wa¨hrend Lake den Mo¨rder ihres Vaters heiratet, um dessen Sexsklavin zu werden. Reef und Kid wiederum schwo¨ren nach dem Muster des Westernromans Rache, gehen aber ra¨umlich entgegengesetzte Wege. Die Vogelperspektive der Ballonfahrer der Inconvenience, die eine quietistische Schau der Dinge vom Standpunkt der blinden Gnade Gottes nahelegt, wird jedoch im Verlauf des bewusst und betont bru¨chigen Textes zunehmend als Funktion trivialster Literatur kenntlich. Wenn das letzte Wort dieses Romans wortwo¨rtlich die Gnade ist, dann liegt deren Sinn hier nicht in der Ruhe letztgu¨ltiger Erfahrung (Calvin, Zwingli), sondern – allenfalls – als Verheissung (Luther). Soll hier von Gnade u¨berhaupt die Rede sein, dann nur als Ausdruck der Ungewissheit; es bedarf daher eines dynamischen Bewusstseins, um Pynchons Text langsam als dreidimensional gedachten hyperbolischen Spiegel verstehen zu ko¨nnen, eine Konstruktion, die sich schon darum nicht auf die Darstellung eines Wissenschaftskrimis und die Suche nach der Lo¨sung des gro¨ßten Ra¨tsels der Mathematik beschra¨nkt, weil sich der Leser in diesem Spiegel als heimatloser Toter, eingefroren im Zeitkristall der Ho¨lle erblicken muss: „The world came to an end in 1914. Like the mindless dead, who don’t know they’re dead, we are as little aware as they of having been in Hell ever since that terrible August“ (AtD 1077; vgl. 573, 768). Dieser ethische Impuls, den Leser wachzuru¨tteln, kann sich nicht einfach der Kontingenz der Zeichen u¨berlassen, denen ein Spionageroman folgt, „any number of reasons, take your pick. Another revolution, tribal uprisings, natural disasters, good heavens man, if we had to cover every contingency we might as well be writing espionage novels“ (AtD 632). Vielmehr stellt er nach dem Modell der Riemannschen Zahlenkugel von einem Punkt aus Unendlichkeit auf der zweidimensional endlichen Fla¨che der Seiten seines Romans dar. Mit den Mitteln der Knotentheorie kann Pynchon die unterschiedlichsten Verschlingungen produzieren, ohne selbst verstrickt zu werden. Warum treibt er dann nicht gleich Mathematik oder eben Ethik oder Theologie? Weil nur in und durch Literatur eine Meta-Wissenschaft als Wissenschaft der Darstellung von Darstellungen
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entworfen werden kann. Die Wissenschaft, auch die Logik sollte bedenken, dass sie ein bloßer Teil dieser umgreifenden Wissenschaft der Literatur ist, der sie keine Direktiven zu erteilen hat: Es erscheint seltsam, wenn man einmal daru¨ber nachdenkt, daß es ein Zeichen dem Interpreten u¨berlassen sollte, ihm einen Teil seiner Bedeutung zu geben. Doch die Erkla¨rung dieses Pha¨nomens liegt in der Tatsache, daß das gesamte Universum – nicht bloß das Teil-Universum des Existenten, sondern das ganze weitere Universum, das das Universum des Existenten als Teil umfasst, das Universum na¨mlich, auf das wir uns alle u¨blicherweise als „die Wahrheit“ beziehen – daß dieses ganze Universum von Zeichen durchzogen ist, wenn nicht sogar ausschließlich aus Zeichen besteht.42
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Evi Zemanek
Die generativen Vier Elemente: Zu einer Grundfigur der Weltund Text-Scho¨pfung am Beispiel von Franz Josef Czernins elemente-Sonetten Poesie ist verko¨rperte Metaphysik und Metaphysik entleibte Poesie.1
In langer abendla¨ndischer Tradition werden die vier Elemente – Feuer, Erde, Wasser und Luft – als scho¨pferische Prinzipien angesehen: Zum einen fungieren sie als Urstoffe, aus denen, wie man lange glaubte, alles Weitere hervorgeht; zum anderen dienen sie der Konstruktion einer imagina¨ren Totalita¨t, die wiederum in vier anschauliche Grundbestandteile zerlegt werden kann. In der Annahme, dass der Kosmos endlich und seine Bestandteile za¨hlbar seien, konzipierte Empedokles die elementare Tetrade, die u¨ber zwei Jahrtausende bis zur wis¨ berwindung der Elemente-Lehre gema¨ß analogistischem senschaftlichen U Weltbild weitere Quaternita¨ten, etwa die vier Temperamente, hervorruft, von denen einige bis heute maßgeblich sind, zum Beispiel Jahreszeiten, Himmelsund Windrichtungen.2 Das Elemente-Modell ist in doppelter Hinsicht ein globales, es steht fu¨r Globalita¨t und ist weltweit verbreitet, liegt es doch Weltscho¨pfungsmythen verschiedener Kulturen in Ost und West zugrunde. So trat ungefa¨hr zeitgleich mit dem griechischen Vierermodell ein identisches in der indischen Philosophie auf, wa¨hrend die chinesische Philosophie eine Fu¨nfElemente-Lehre (Wasser, Feuer, Erde, Metall und Holz) entwickelte.3 Dass sich im westlichen Kulturkreis die Vierzahl u¨ber Jahrtausende bewa¨hrte und auch ¨ thers als Quintessenz in Beu¨ber das von Aristoteles durch Hinzufu¨gen des A tracht gezogene Fu¨nf-Elemente-Modell dominierte, verdankt sich sicher ihrer multiplen Symmetrien als Voraussetzung fu¨r ein zugleich u¨bersichtliches und dennoch komplexes Schema. Zwar besitzt jedes Element individuellen symbolischen Eigenwert, doch profilieren sich die spezifischen Qualita¨ten erst in der Viererkonstellation. Nicht nur antike philosophische, fru¨hneuzeitliche astrologische und esoterische Schriften bescha¨ftigen sich mit den Elementen, die mit Eigenschaften, 1 So Franz Josef Czernin, wohlgemerkt ohne beides jeweils auf das andere reduzieren zu wollen, in einem Gespra¨ch u¨ber seine elemente, sonette. Kiefer 2002, S. 146. 2 Vgl. dazu Berner 1996. 3 Vgl. die anregende Studie von Bo¨hme / Bo¨hme 2001, S. 93 f.
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Evi Zemanek
Elementarwesen und Gottheiten assoziiert werden. Literarischer Gegenstand sind sie in unterschiedlichsten Gestalten und Konstellationen – o¨fter einzeln denn als Tetrade – aufgrund ihrer existenziellen Bedeutung fu¨r den Menschen in antiken Kosmogonien, in mittelalterlichen Mysterienspielen, seit der Renaissance in Gedichten und bis ins 21. Jahrhundert in Prosawerken. Ihre Attraktivita¨t als literarische Stoffe verdanken sie der ambivalenten Beziehung des Menschen zu ihnen: zwar ist er abha¨ngig von den ‚Lebensspendern‘, erkennt aber auch ihr Gefahrenpotenzial, ablesbar etwa an Schilderungen von Naturkatastrophen, die derzeit eine Konjunktur erleben. Das Verha¨ltnis des Menschen zur Natur erschließt sich durch den Blick auf die Darstellung der Elemente. Als literarischer Gegenstand eignen sie sich, da man in ihnen die Natur als Ganzes anschaulich machen kann. Feuer, Wasser, Erde und Luft sind in besonderem Maß poetisch a¨sthetisierbar, weil sie – anders als die metaphysischen Kategorien – dank ihrer verschiedenen Aggregatzusta¨nde und Erscheinungsformen sinnlich auf vielfa¨ltige Weise wahrnehmbar sowie wandelbar sind. Daru¨ber hinaus ist eine Verbindung von Elemente-Lehre und Dichtung begrifflich angelegt: Das griechische Wort stoicheion meint ein unteilbares Erstes, aus dem Weiteres hervorgeht. Es bezeichnet nicht nur ein Element im Sinne eines Grundstoffs des Universums, sondern auch den (gesprochenen) Buch¨ hnlich meint das lateinische elementum zugleich Elestaben des Alphabets. A ment, Atom und Buchstabe. Ganz explizit analogisiert Lukrez in De rerum natura / Von der Natur die Ur-Teilchen mit den Buchstaben und damit gleichzeitig seinen eigenen Text mit dem Kosmos.4 In literarischen Kosmogonien fallen also Welt- und Textscho¨pfung zusammen, auch wenn sich dies meist ohne eine derart explizite, autoreflexive Thematisierung wie diejenige der Bibel („Am / Im Anfang war das Wort“, Joh 1,1) vollzieht. Aus dem urspru¨nglichen, chaotischen, vorsprachlichen Zustand entsteht der geordnete, in Elementarreiche gegliederte Kosmos als textum, wie in den Metamorphosen des Ovid, der Mythos und antike Naturphilosophie amalgamiert.5 Beide Komponenten verschmilzt auch Franz Josef Czernin in elemente, sonette (2002), einem generisch vo¨llig andersartigen, nicht minder experimentellen textum (auch im Sinne von ‚Gewebe‘), das die vier Elemente noch prominenter inszeniert. In den ziemlich genau 2000 Jahren zwischen Ovid und Czernin wurden die vier ‚Urstoffe‘ immer wieder als poetische Stoffe entdeckt, von der petrarkistischen (Stampa), elisabethanischen (Spenser, Shakespeare), barocken (Go´ngora, Villamediana) u¨ber die romantische (Droste-Hu¨lshoff) bis zur modernen (Yeats, T. S. Eliot, Lorca) und gegenwa¨rtigen (Hierro, Draesner) Lyrik. Einzeln und in verschiedenen Erscheinungsformen wurden sie schon als Metaphern und Symbole fu¨r die poetische 4 Lukrez fu¨hrt die Analogie mehrfach aus, so in Lukrez I, 196 – 198 u. 823 – 829; II, 688 – 694. 5 Vgl. dazu Schuh 2010, wo auch auf Lukrez verwiesen wird.
Die generativen Vier Elemente
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Scho¨pfung eingesetzt – man denke nur an die Quelle der Dichtung, Funken oder Hauch der go¨ttlichen Inspiration, Fruchtbarkeit des Ackers.6 Ihr weltbildendes, textgeneratives Potenzial als Tetrade wird jedoch erst bei Czernin ausgescho¨pft, dessen elementarpoetologischer Entwurf u¨ber den metaphorischen Gebrauch hinausgeht. Bevor seine elemente, sonette besprochen werden, sind – im Bewusstsein der Problematik jeglicher Verku¨rzung komplexer philosophischer Weltbilder – einige fu¨r Czernins Werk relevante Aspekte der Elemente-Lehre zu vergegenwa¨rtigen.7
Elementare Kosmogonien zwischen Mythos und Metaphysik Bevor Empedokles im fu¨nften vorchristlichen Jahrhundert das tetradische Modell etablierte, benannten die Vorsokratiker wohlbegru¨ndet je ein Element als Urstoff: Thales von Milet das Wasser, Anaximenes die Luft und Heraklit das Feuer.8 Zu diesen drei fu¨gte Empedokles die Erde hinzu – die ihrerseits u¨brigens von Hesiod in dessen Theogonie als Urstoff privilegiert wurde – und bezeichnete die vier gema¨ß dem Denken der Pythagoreer, welche die Zahlen 1, 2, 3 und 4 als Wurzeln aller anderer ansahen, als Wurzelkra¨fte (rhizo´mata).9 Diesen wissenschaftlichen Ansatz kleidet er in seinem bloß fragmentarisch erhaltenen Lehr¨ ber die Natur allerdings in mythologisches Gewand, wenn er den Vier gedicht U Go¨tternamen gibt und sie als gegensa¨tzliche Charaktere konzipiert, die sich zum Zweck des Entstehens und Vergehens mischen und entmischen. Sie stehen in einem Spannungsverha¨ltnis, Liebe und Hass bzw. Attraktion und Repulsion wechseln einander ab bei der Konstitution der Materie. Obwohl die Vier abwechselnd einzeln die Oberhand gewinnen, bleiben sie letztlich in einem Gleichgewicht und bilden ein geordnetes, selbstgenu¨gsames Ganzes, einen Kosmos oder auch eine Kugel (sphairos).10 In Platons Kosmologie, entfaltet im Dialog Timaios (360 v. Chr.), haben die vier Elemente, welche er dort als ‚Buchstaben (stoicheı´a) des Alls‘11 bezeichnet, die Funktion, die sinnliche Wahrnehmung der Welt zu ermo¨glichen. Das dafu¨r in der Redeform des eikos logos gestaltete und damit nicht als streng wissen6 Vgl. die Artikel zu Feuer / Flamme, Quelle, Fluss, Wolke, Atem / Lufthauch, Wind, Erde / Lehm / Acker, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole 2008. 7 Die folgende Synopse der Elemente-Lehre des Empedokles und deren Weiterentwicklungen bei Platon und Aristoteles orientiert sich an der ausfu¨hrlichen Darstellung in Bo¨hme / Bo¨hme 2008, S. 94 – 120. 8 Vgl. Kranz (Hg.) 1964, Bd. 1: A12, S. 76 f.; A4 – 7, S. 91 f.; B30, S. 157 f. 9 Vgl. ebd., B6, S. 311 f. 10 Vgl. ebd., B17, S. 315 ff. 11 Vgl. Timaios 48b.
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schaftlich zu verstehende Modell besteht aus fu¨nf platonischen Urko¨rpern, von denen vier die Formprinzipien der Elemente sind und das fu¨nfte das Weltall im Ganzen verko¨rpert, na¨mlich Tetraeder / Feuer, Ikosaeder / Wasser, Wu¨rfel / Erde, Oktaeder / Luft und Dodekaeder / Kosmos.12 Diese aus Elementardreiecken bzw. Quadraten zusammengesetzten sogenannten konvexen regula¨ren Ko¨rper, von denen es nicht mehr als fu¨nf gibt, bilden ein System, in welches das Vier-Elemente-Modell integriert ist. Die vier Elemente selbst gingen, so die mythologische Komponente des Erkla¨rungsmodells, voneinander getrennt durch ein Ru¨tteln, aus der grenzenlosen, amorphen chora („Amme des Werdens“) hervor.13 Erst als platonische Ko¨rper besitzen sie die no¨tige Stabilita¨t fu¨r die Entstehung der Materie; gleichwohl sind sie aufgrund ihrer geometrischen Verwandtschaft in einander verwandelbar. Auch Aristoteles – der die Elemente im Sinne der Chemie definierte als Ko¨rper, in die andere Ko¨rper zerlegt werden14 – lehrt, dass die Elemente in einander transformiert werden ko¨nnen. Die Voraussetzung dafu¨r ist, dass er sie als Kombination von jeweils zwei der vier Sinnesqualita¨ten warm, kalt, feucht und trocken (das Feuer beispielsweise als warm und trocken, das Wasser als kalt und feucht) versteht, d. h. die Elemente kombinatorisch qualifiziert;15 demnach realisiert sich ihre Transformation, indem sich je eine der beiden Qualita¨ten a¨ndert (so wird etwa das Wasser durch Erwa¨rmung zu Luft, dieselbe durch Trockenwerden zu Feuer, usw.). Aristoteles findet hier Erwa¨hnung wegen der kombinatorischen Komponente seiner Elemente-Lehre, die ihn von Platon unterscheidet. Mit diesem stimmt er jedoch u¨berein hinsichtlich der Funktion der Elemente, die Natur bzw. Welt sinnlich wahrnehmbar zu machen. Denselben Zweck erfu¨llen auf andere Art mittelalterliche Kosmogramme, die elementargeometrisch konzipiert sind, d. h. sich aus Kreisen und vor allem Quadraten zusammensetzen.16 Nicht nur aufgrund der Vierzahl der Himmelsund Windrichtungen ist das Quadrat Hauptfigur solcher Weltmodelle; meist integrieren sie die vier Elemente mitsamt ihren Sinnesqualita¨ten. Freilich sind sie keine mimetischen Bilder, sondern Abstraktionen, die den Bauplan der unu¨berblickbaren Welt reflektieren. Sie wurzeln sowohl im antiken Versta¨ndnis der Welt als einer Einheit als auch im ordo-Gedanken, wie er sich in der pythagoreischen Zahlenlehre – die in der Zahl das Urprinzip der Welt sieht und der Vierheit (Tetraktys) besondere symbolische Bedeutung zuspricht –, in der VierElemente-Lehre des Empedokles und in Platons geometrischem Kosmos aus-
12 13 14 15 16
Vgl. Timaios 53c ff. sowie Ziegler 2008. Vgl. Timaios 49a. ¨ ber den Himmel 302a, S. 91 f. Vgl. U ¨ ber Werden und Vergehen II,2. Vgl. U Vgl. die Abbildungen und Erkla¨rungen bei Gormans 2011.
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dru¨ckt.17 Das Quadrat bewa¨hrte sich als visuelles Weltsymbol im Kosmogramm, da es „geometrisches Korrelat der Vierzahl“18 ist. Wie die vorgestellten Modelle oszilliert auch das im Folgenden zu untersuchende Werk von Czernin zwischen Abstraktion und Konkretion, Mythos und Naturphilosophie. „Dass die vier Elemente bestimmte Eigenschaften mit metaphysischen wie mit mythologischen Kategorien teilen, erkla¨rt […] vielleicht, warum sie in besonderem Maß dazu geeignet sind, als poetischer Schlu¨ssel fu¨r alle Erscheinungen zu dienen“,19 meint der Dichter, in dessen Werk sich elementare Prinzipien in verbalen Bildern der Elemente und in insgesamt 129 Sonetten verko¨rpern, die fu¨r das Naturganze stehen.
Franz Josef Czernins Elemente-Sonette Czernins Sammlung elemente, sonette (2002) referiert auf die antike ElementeLehre und entha¨lt Spuren der Alchemie; allerdings wird Besagtes in eklektizistischer Manier mit Bausteinen des mittelalterlich-christlichen Weltbildes vermengt. Die Sonette wollen u¨ber „das Elementare auch im Sinne des Grundle¨ ber genden ernsthaft sprechen ko¨nnen; u¨ber die ersten und letzten Dinge […]. U das, was zwischen Himmel und Erde und Ho¨lle ist“.20 Der Bezug zu Dantes Divina Commedia sticht in Zitaten von je einer Terzine, die acht Sonetten als Motti vorangestellt sind, ins Auge. Es ist jedoch nicht der italienische Dante, der hier zitiert wird, sondern Rudolf Borchardts eigensinniger „Dante deutsch“, der im selben Maß wie das italienische Original als Vorbild herangezogen wird. Czernins Sammlung ist dennoch nicht als Triptychon konzipiert, sondern – bestehend aus vier Zyklen21 – tetradisch gegliedert. Die zitierten Terzinen finden aber semantischen und stilistischen Widerhall in den Sonetten – worauf spa¨ter zuru¨ckzukommen ist – und spiegeln sich formal in deren Terzetten.22 Der erste Zyklus ist u¨berschrieben mit „erde, sonette“, darauf folgen analog betitelt Wasser, Feuer und Luft. In Entsprechung ihres Mottos aus dem Inferno beginnen die Erde-Sonette kakophonisch, es u¨berwiegen negative Assoziationen mit allerlei organischen Abfallprodukten, doch der Zyklus endet mit paradie17 18 19 20 21
Vgl. Gormans 2011, S. 99. Ebd., S. 100 f. Czernin 2002, S. 149. Kiefer 2002, S. 139. Mit dreimal 32 und einmal 33 Sonetten ru¨cken die Zyklen bloß in die Na¨he der Zahlenverha¨ltnisse in Dantes Epos. 22 Es handelt sich fast durchweg um Sonette des romanischen Typus mit zwei Quartetten, zwei Terzetten und insgesamt meist vier Reimen. Wenn aus ihnen zitiert wird, erfolgt dies mit Nennung der Nummer des Sonetts (die Za¨hlung in jedem Zyklus neu beginnend) und der Seitenzahl.
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sischen Bildern blu¨hender Natur, so dass man eine durchweg gegebene Analogie zur Divina Commedia vermuten ko¨nnte. Tatsa¨chlich aber erweist sich die innere Struktur nicht als linear, sondern als zirkula¨r (innerhalb jeder Gruppe ebenso wie bezogen auf die ganze Sammlung), da sich die Elemente verwandeln, indem sie ihre Aggregatzusta¨nde wechseln, und sich auf diesem Weg auch ineinander verwandeln. Dass die vier Elemente nicht eindeutig je einem der drei Dantesken Jenseitsreiche zugeordnet sind, wodurch sie unmissversta¨ndlich qualifiziert wa¨ren, ergibt sich allein schon aus der numerischen Inkongruenz. Stattdessen sind alle vier Elemente ambivalent, jedes von ihnen wird, keiner teleologischen oder gar eschatologischen Entwicklung folgend, mit allen drei Reichen assoziiert, je nachdem welches elementare Pha¨nomen und welcher Aggregatzustand im Einzelsonett fokussiert wird. So stro¨mt das Wasser einmal klar und hell aus einer Quelle, erfrischt oder reinigt, ein anderes Mal brodelt und dampft es als schwefliger, pechschwarzer Sud, in dem man verbrennt; ebenso nimmt das Feuer verschiedene Formen und Funktionen an, von den inneren und a¨ußeren Flammen der Ho¨llenqual u¨ber das reinigende Feuer der La¨uterung bis zum hellsten, gleißenden Licht der himmlischen Spha¨ren und Gottesoffenbarung; und die Luft schließlich formiert sich zum infernalischen Ho¨llensturm, zur reflexiven Wolkendichtung und tra¨gt Engel. Dabei werden die vier Elemente in ihren jeweiligen Zyklen nicht direkt benannt, sondern aufgerufen durch Worte, die mit dem Wortfeld des jeweiligen Elements etymologisch, morphologisch oder phonetisch verwandt sind.23 Zum Beispiel ist anstelle von „Erde“ von Dreck, Staub, Stein und Gold, von Saat, Korn, Keim, Kern, Pflanzen, Fortpflanzung, Frucht und Blu¨te die Rede, und anstelle von „Luft“ liest man von Nebel, Schleier, Atem, Licht, Schatten, Schall und Rauch, von Scharen, Federn und Flu¨geln. Als Prinzipien ko¨nnen sich die vier Elemente also in den verschiedensten Naturerscheinungen verko¨rpern, wobei hervorzuheben ist, dass Czernin die Verko¨rperung nicht nur bildlich meint, sondern im wahrsten Wortsinn wo¨rtlich: „In jedem Laut oder Buchstaben – gleichsam in jedem Staubkorn des Gedichtes – kann das Element Erde selbst verko¨rpert und zugleich dargestellt werden – ein Prinzip oder eine Kategorie, die dann nicht nur die Einzelheit allein erkennbar werden la¨sst, sondern auch andere erdige oder irdische Dinge und mit diesen das Element Erde selbst.“24 Und nicht nur in Dingen ko¨nnen sich die Elemente konkretisieren / realisieren, auch in Gemu¨tszusta¨nden und Redeweisen. So ko¨nne, erkla¨rt Czernin, das Feuer beispielsweise in Form von Leidenschaft oder ¨ berschwang oder eines fliessenden einer „feurigen Rede“, Wasser „in Form von U Sprechens“, Luft als Freiheitsgefu¨hl oder „in der du¨nnen Luft von Abstraktio23 Vgl. Kiefer 2002, S. 135. 24 Czernin 2002, S. 158 [Hervorhebung im Original].
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nen“ und die Erde „in schwermu¨tigen Stimmungen wie in Kraftausdru¨cken“25 gegenwa¨rtig sein. Entsprechend breit ist das Stilspektrum von sublim bis vulga¨r. All die genannten kategorial so unterschiedlichen Pha¨nomene sind im Text allerdings schwer greifbar, nicht nur weil sie sich in stetem Wandel befinden und ineinander u¨bergehen, auch weil sie a¨sthetisch stark verfremdet sind. Inspirieren ließ sich Czernin von Borchardts imagina¨rer Sprache, den onomatopoetischen Neuscho¨pfungen und dem exzentrischen Wortgebrauch, die dem Bemu¨hen um eine Reinigung der Sprache im Sinne eines „genuine[n] Archaismus“26 entspringen. Einige der aus „Dante deutsch“ zitierten Wortscho¨pfungen pflanzen sich in Czernins ebenfalls in konsequenter Kleinschreibung verfassten Sonetten fort, wenn auch selten in unmittelbarer Zitatna¨he. Wie in der Terzinendichtung die einzelnen Strophen durch den Reim, so sind Czernins Sonette durch intratextuelle Referenzen derart miteinander verkettet, dass sie als vier Zyklen angesehen werden ko¨nnen, auch wenn sie keinen narrativen Zusammenhang aufweisen. Vielmehr versuchen sie Borchardts Comedia [!] in puncto Hermetismus und Hermetik (im zweifachen Wortsinn: dicht bzw. dunkel und esoterisch) zu u¨berbieten, sprich: in der Lesbarkeit zu unterbieten. Dazu tra¨gt zum einen die Inkonsistenz der Sprechsituation bei, geschuldet den Verwandlungen einer Sprechinstanz, die nicht durchweg menschlich ist, denn bisweilen spricht ‚es‘ aus dem Element (wie der biblische Gott aus dem Feuer) bzw. das Element spricht selbst. Der Mensch wird hier in Elemente zerlegt und setzt sich wieder daraus zusammen – gema¨ß dem der aristotelischen Elemente-Lehre eigenen, der platonischen Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos folgenden Versta¨ndnis des Menschen als Elementarwesen.27 Das heißt, er verko¨rpert ein individuelles Mischverha¨ltnis der vier Elemente und referiert ¨ ber Werden und damit sowohl auf die aristotelische Vorstellung aus der Schrift U Vergehen, wonach alle Naturwesen in periodischem Prozess aus den elementaren Potenzen entstehen, reifen und verfallen, als auch auf die Humoralpathologie als Lehre von den vier Sa¨ften. Zum anderen beruht die Texta¨sthetik der Sonette auf einem Verfremdungsverfahren, bei dem idiomatische Wendungen (wie die Elementarwesen) in ihre Bestandteile zerlegt und neu zusammen gestellt werden, wodurch das Wortmaterial im Detail exponiert sowie durch die Freisetzung beachtliche klangliche und semantische Effekte erzielt werden. Das Verfahren kann man als „Entstel25 Ebd., S. 152 f. 26 Rudolf Borchardt an Josef Hofmiller in einem Brief v. 09. 02. 1911 (Borchardt 1995, S. 356). 27 Zum Beispiel spricht im Zyklus Erde ein „ich, leibhaft schwer“ (27/33), im Wasser ist die Sprechinstanz „geworfen kalt / in all dies nasse“ (6/46), im Feuer „umzu¨ngelt, brennend“ (18/94) und in der Luft „selbst vogelfrei, hier leer in eigner schwebe ha¨ngen[d]“ (22/132). Es gibt sogar zwei als solche bezeichnete Portra¨ts als Element: „sonett, portrait“ (19/95) und „selbst, portra¨t“ (32/108).
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¨ bertragung“ beschreiben, gemeint sind: „Versinnlichung des Lalung“ und „U tenten und Abstrakten durch Variation idiomatischer Wortbildungsform […], Wiedergewinn der klanggestischen Potenz durch Dekonstruktion und damit Regeneration der welterzeugenden Kraft des Wortko¨rpers.“28 Czernin erprobt, was passiert, wenn er „die Logik der einen [idiomatischen] Wendung […] auf andere Bereiche der (Umgangs-)Sprache anwende[t] [u¨bertra¨gt], die einer anderen Partiallogik folgen“.29 Im Hinblick auf die Elemente-Thematik ist es signifikant, dass dieses Verfahren der Sprachscho¨pfung mit poetischer Weltscho¨pfung verbunden ist und daher keineswegs zu Nonsense-Poesie fu¨hrt. Aufgrund der Sprechsituation, in der Mensch und Element verschmelzen, scheint es, als generiere sich die Sprache selbst, ebenso wie sich die aus den Elementen bestehende Natur als natura naturans selbst erschafft und kontinuierlich erneuert. Immer wieder wird der Ursprung der Elementarwesen nachvollzogen und als Autopoiesis sprachlich variiert. So heißt es beispielsweise in den Wasser-Sonetten mit Bezug auf die Symbolik der Quelle: „wie wir uns jetzt entspringen, / u¨berstro¨men, / doch leibhaft, fest aufs neu an all dies licht uns bringen!“ (12/52); „speist welche quelle uns, dass wir uns selbst entspringen?“ (18/58) Dementsprechend beginnt etwa eines der Feuer-Sonette, die mehrfach das Konzept einer Selbstzu¨ndung variieren, mit dem Vers: „ein funke nur, auf sich allein selbst u¨berspringend“ („sonett, monadisch“ 30/106). Solchen teils mythischen, teils biologischen Bildern sind auch Referenzen auf die Alchemie untergemischt, insbesondere in „sonett, alchemisch“ (20/96), in dem Prinzip und Praxis der Vermengung im Feuertopf durch das Sprecher-Ich aus der Perspektive der vermengten Elemente geschildert werden. In der letzten Strophe zeigt sich, wie das explosive Gemisch „sich selbst giesst sein gefa¨ss“ (20/96), was man als Metakommentar zur Textform Sonett lesen muss. Ungezu¨gelter Brand und formstrenges Gefa¨ß werden mehrfach gegen einander ausgespielt. Allen vier Elementen dient das viergliedrige (romanische) Sonett als notwendiger einda¨mmender, formgebender Rahmen. Die Gattungswahl ist wohlu¨berlegt: Czernin konstatiert, die Art, wie er mit den Elementen umgehe, scheine „gerade die Form des Sonetts zu verlangen“ und begru¨ndet dies mit der sonetttypischen „Zweifaltigkeit“, womit er die Gleichzeitigkeit von lyrischer Klangordnung und Reflexion meint, ebenso wie die fu¨r die Gattung mehrfach festgestellte „Dialektik von Hohem und Niedrigem“, die er wiederum mit der „idiomatischen ‚Natur‘ der Sprache und der Ku¨nstlichkeit der
28 So beschreibt es treffend Kiefer 2002, S. 132 f., der den Begriff der Entstellung von Enzensberger u¨bernimmt. 29 Ebd.
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Sonettform“ korreliert.30 Daru¨ber hinaus erweist sich seine Gattungswahl aber aus noch viel augenfa¨lligeren (von Czernin nicht erwa¨hnten) Gru¨nden im Hinblick auf den Gegenstand fast als zwingend, beachtet man graphische Erscheinung, Proportionen und numerische Qualita¨ten des Sonetts, genauer seine zahlenkompositorische und geometrische Bauform. Hinzu kommt seine fru¨hneuzeitliche Instrumentalisierung zur Vermittlung von Weltwissen,31 auch im eigentlichen Wortsinn zu verstehen als Wissen u¨ber die Welt als Ganzes oder in ¨ ffnung der urspru¨nglich fu¨r Teilen, denn schon im 16. Jahrhundert ist die O Liebesdichtung verwendeten Form auf globalere Gegensta¨nde zu beobachten. Und freilich kann man das Sonett auch aufgrund seiner globalen Verbreitung als Medium des Globalen ansehen, doch ist fu¨r seine ideale ‚Kongruenz‘ zum Elemente-Modell seine gattungskonstitutive Zahlenproportionalita¨t32 ausschlaggebend. Wie die Welt im mittelalterlichen Kosmogramm so ist auch das Sonett durch seine charakteristischen Zahlenverha¨ltnisse abbildbar. Namentlich August Wilhelm Schlegel fu¨hrte die (romanische) Form auf numerische Relationen und geometrische Konstruktionsprinzipien – veranschaulicht an der Tektonik eines Tempels – zuru¨ck.33 In der Aufteilung in zwei Quartette plus zwei Terzette stehen die Zwei, Drei und Vier in einem spezifischen Verha¨ltnis, das Schlegel unter Beru¨cksichtigung der ga¨ngigen Reimordnung mathematisch erkla¨rt. Gemeinsamkeiten mit der Elemente-Lehre bestehen zum einen in Schlegels Korrelation der Quartette und Terzette mit den geometrischen Figuren Quadrat und Dreieck, worin sich der gattungstypische Konnex von ra¨umlicher Vorstellung und numerischer Kalkulation zeigt. Man denke an die aus Quadrat und Dreieck zusammengesetzten platonischen Urko¨rper. Schlegel definiert die Tektonik des Sonetts auf der Basis von Symmetrien und sieht dessen Spezifikum in der Vereinigung von Symmetrie und Antithese. Abgeleitet aus den (auf die Reimordnung bezogenen) antagonistischen Naturprinzipien der Anziehung und Abstoßung bzw. Verbindung und Trennung – die auch in der Elemente-Lehre eine wichtige Rolle spielen – betrachtet er die sonetttypischen Zahlenproportionen als universell. Ein Rekurs auf die damit aufgerufene Sympathielehre la¨sst sich auch in Czernins Elemente-Zyklus beobachten, in dem die Vier als eine der Sonettzahlen dank der Fusion von Elemente-Lehre und Sonettform doppelt semantisiert wird. Sie wird allerdings nicht motivisch-thematisch verwendet, sondern hat textgenerative Funktion. Eine weiterer Beru¨hrungspunkt zwischen Elemente-Lehre und Sonettform ist 30 31 32 33
So Czernin im Interview bei Kiefer 2002, S. 138 – 140. Vgl. Nickel 2008. Vgl. dazu Borgstedt 2012 sowie Greber 2011. Vgl. Schlegel 2007, zum Sonett: S. 159 – 168. Zur Geometrisierung der lyrischen Form vgl. auch Kramer 2012.
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schließlich das kombinatorische Moment:34 Czernin fusioniert die aristotelische Lehre von der Kombination der vier Qualita¨ten in den Elementen und deren Verwandlungsmo¨glichkeiten mit dem durch Bauform und Reimschema gegebenen kombinatorischen Potenzial des Sonetts. Er verwendet nicht nur ungewo¨hnliche Reimmuster in verschiedenen Mischformen der ga¨ngigen Muster.35 Zugleich korreliert er die in der antiken Weltlehre als unteilbare Urstoffe geltenden generativen Elemente mit Lexemen und Phonemen als kleinste Einheiten der Sprache und la¨sst diese in kombinatorischem Spiel immer neue Verbindungen eingehen. „Der Dichtung ein bestimmtes Material zuzuordnen und dieses als eine endliche Menge klar unterscheidbarer Einheiten zu begreifen“, versteht Czernin als Versuchung und Herausforderung: Eine solche materialistische, analytische Auffassung sei so anziehend, weil sie nicht selten in eine „kabbalistische Magie“ umschlage und die Sprachelemente „zu mysterio¨sen Attraktoren und Repulsoren“ mache.36 Im Bewusstsein der Ambivalenz eines derartigen Materialismus zwischen „nu¨chterner Textkonstruktion“ und „lautoder buchstabenmagischer Dichtung“37 agiert Czernin gleichsam als SprachAlchemist, der Anziehung, Abstoßung und Fusionsmo¨glichkeiten der Sprachelemente kombinatorisch erprobt. Seine Poetik erscho¨pft sich jedoch nicht in zweckfreiem Ludismus, vielmehr gelten ihm die Sprachelemente als Medien der poetischen Welterzeugung.
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Christiane Solte-Gresser
Lebens-Welt-Verlust? Literarische Formen postmoderner Welterzeugung am Beispiel von Marlene Streeruwitz
1.
Postmoderne und Lebenswelt
Manches deutet darauf hin, dass wir in einer Zeit leben, in der die Dimension der Lebenswelt im Verschwinden begriffen ist oder zumindest fundamentalen Vera¨nderungen unterliegt. In welchem Zusammenhang steht ein solcher Wandel lebensweltlicher Bezu¨ge1 mit den a¨sthetischen Verfahren ihrer Erzeugung in der Literatur? Eine rasante Verselbsta¨ndigung marktwirtschaftlicher ‚Zwa¨nge‘, wie sie Hannah Arendt oder Jean Baudrillard schon sehr fru¨h festgestellt haben, ist mit unmittelbaren Folgen fu¨r lebensweltliche Erfahrungen verbunden.2 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden sie noch in versta¨rktem Maße sichtbar. Daru¨ber hinaus tragen die sich auf allen Gebieten vollziehenden Beschleunigungsprozesse, die von Kulturphilosophen wie Virilio und Baudrillard kritisch in den Blick genommen werden, dazu bei, die Voraussetzungen fu¨r subjektive Weltbezu¨ge im Sinne konkreter sinnlicher Erfahrungen zusehends aufzulo¨sen. In diesem Zusammenhang schildert Paul Virilio das vielleicht eindringlichste Szenario vom Verschwinden des menschlichen Ko¨rpers und seiner lebensweltlichen Umgebung.3 Seine These lautet, dass die unmittelbare Lebensrealita¨t der Wahrnehmung zusehends entgleitet.4 Bereits in L’Art du moteur beobachtet er daher einen „exodus universel de la re´alite´ concre`te“.5 1 Die komplexe Diskussion um den strittigen Begriff der Lebenswelt kann hier nicht rekonstruiert oder weitergefu¨hrt werden; vgl. hierzu ausfu¨hrlicher Solte-Gresser 2010, S. 20 – 31. 2 Vgl. Arendt 1981, S. 318 – 329 und Baudrillard 1970. 3 In seinem Aufsatz „Die Begehrlichkeit der Augen“, einem der zentralen Texte des EssayBandes Fluchtgeschwindigkeit von 1996, zeichnet er beispielsweise eine direkte Linie vom pha¨nomenologischen Leib als dem Tra¨ger sinnlicher Wahrnehmung bis hin zum postmodernen Ko¨rper, der zum gesellschaftspolitischen Instrument von Machtpraktiken wird. Vgl. Virilio 1984; 1990; 1995 und Baudrillard 1981; 1994. 4 Etwa durch die Unterwerfung unter die Biotechnologie, genauer : durch die Invasion der Nanotechnik in das menschliche Auge (vgl. Virilio 1995, S. 123). 5 Virilio 1993, S. 12. Vgl. in dieser Hinsicht a¨hnlich auch Baudrillard 1981 und 1978. Die
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Christiane Solte-Gresser
So ließen sich vielleicht ‚postmoderne‘ Pha¨nomene wie die Anziehungskraft von Reality-Shows oder das ersatzweise Sich-Hineinbegeben in virtuelle Realita¨ten, die Baudrillard als Virtualisierung des Seins versteht,6 als Versuche der Versicherung gegen eine zunehmend in Auflo¨sung begriffene Erfahrung von Allta¨glichkeit interpretieren. Im Anschluss an Ju¨rgen Habermas erkla¨rt der Literaturwissenschaftler Stefan Braun auch die gegenwa¨rtig wieder neu entstehende Faszination am Alltag in der Literatur mit einem „derzeitig spu¨rbare[n] Verlust der Lebensweltlichkeit auf allen Ebenen der menschlichen Existenz“.7 Denn diese war vielleicht kaum jemals zuvor mit so viel Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und Kontinuita¨tsbru¨chen verbunden, wie in unserer augenblicklichen gesellschaftlichen Situation.
2.
„Drift“ versus Erza¨hlung. Postmoderne Lebensgeschichten
Was all dies fu¨r das Erza¨hlen von Geschichten bedeutet, hat der Soziologe Richard Sennett in seiner Studie The Corrosion of Character gezeigt.8 Das Sich selbst Begreifen als individueller Charakter entstehe, konstatiert Sennett, in erster Linie aus den andauernden Aspekten des Lebens: Verfolgung langfristiger Ziele, dauerhafte emotionale Erfahrung, Aufschub von Befriedigung, verla¨ssliche, verbindliche Beziehungen und gegenseitige Verpflichtung.9 Vor allem aber stellt fu¨r ihn die allta¨gliche Lebenswelt die unerla¨ssliche Grundlage fu¨r eine einigermaßen koha¨rente Wahrnehmung des eigenen Lebens, ja fu¨r Erfahrung u¨berhaupt dar. Das Wiedergeben des eigenen Lebens geschieht heute, so seine These, unter ga¨nzlich anderen Bedingungen als zwei oder drei Generationen zuvor. Das Eingangskapitel seiner Studie la¨sst sich in einem Bereich zwischen Soziologie, Erza¨hlforschung und Kulturtheorie ansiedeln. Hier untersucht Sennett anhand der erza¨hlten Lebensgeschichte von Enrico und Rico, Vater und Sohn einer amerikanischen Einwandererfamilie italienischer Herkunft, „[h]ow personal character is attacked by the new capitalism“10 und zu einer allma¨hlichen Auflo¨sung der Selbstwahrnehmung beitra¨gt. Das Leben des Vaters bleibt noch an Elemente wie psychische und ko¨rperliche Erfahrungen, Linearita¨t, Routine und
6 7 8 9 10
Wirklichkeit erscheint aus seiner Perspektive als programmierte Szenerie, die konkrete Beziehungen zwischen Mensch und Welt u¨berflu¨ssig macht. Vgl. Baudrillard 1994, S. 9. Braun 1996, S. 99. Vgl. Sennett 1998. Vgl. ebd., S. 15 – 31. Ebd., S. 7.
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Stabilita¨t gebunden. Es kann zwar nur innerhalb bestimmter Grenzen gestaltet werden; im Inneren dieser Schranken erscheint der Vater jedoch als ‚Autor‘ seiner eigenen Lebensgeschichte. Die Erza¨hlung des Sohnes hingegen ist von Offenheit, Risikobereitschaft, Flexibilita¨t, sta¨ndigem Wechsel und dem zunehmenden Eindruck von Fiktivita¨t und Virtualisierung des eigenen Daseins gepra¨gt. Fu¨r Sennett, wie fu¨r den Erza¨hlenden selbst, ist dieses Pha¨nomen zwar ambivalent; die negative Seite jedoch scheint zu u¨berwiegen: Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung, die Mo¨glichkeit zum Aufbrechen la¨hmender Strukturen und zu sta¨ndigem Neubeginn, die Erfahrung von Abenteuer und neuen Impulsen sind nicht abzukoppeln von Gefu¨hlen der Isolation, Ohnmacht, Ungewissheit, Beliebigkeit, Zufa¨lligkeit, Anonymita¨t und der Desorientierung. Ein solches Lebensgefu¨hl bezeichnet Sennett als „Drift“; ein unvorhersehbaren Anforderungen von außen unterworfenes Dasein ohne gro¨ßeren stabilen Zusammenhang, das weitgehend ohne la¨ngerfristige gemeinschaftliche Bindungen auskommt. Dieser Zustand bewirkt, so Sennett, dass sich die Vorstellung vom eigenen Leben in kein klassisches Narrativ mehr fu¨gt und daher auch keine koha¨rente Erza¨hlung entstehen kann.
3.
„Driftendes“ Erza¨hlen? Entfernung. 31 Abschnitte von Marlene Streeruwitz
Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive stellt sich an diesem Punkt die Frage, welche Wege nun ein literarisches Erza¨hlen findet, das sich mit genau diesem Pha¨nomen auseinandersetzt. Schlagen sich die von Sennett und anderen konstatierten Vera¨nderungen der gegenwa¨rtigen Weltbezu¨ge und Lebenserfahrungen in der Literatur nieder? Und wenn ja, in welcher Form von Literatur finden sie ihren Ausdruck? Oder versuchen literarische Texte vielmehr, gegen einen solchen Wandel anzuschreiben? Durch welche narrativen und sprachlichen Verfahren werden solche ‚postmodernen Erfahrungen‘ – wenn man hier u¨berhaupt noch von Erfahrungen sprechen kann – a¨sthetisch in Szene gesetzt? Wie la¨sst sich grundsa¨tzlich vom Wegbrechen sinnstiftender Weltbezu¨ge, raumzeitlicher Koordinaten sowie eines zwischenmenschlichen Beziehungsgefu¨ges erza¨hlen, ohne eine schlichte Verlustgeschichte zu verfassen? Wie also gelangt nicht nur die postmoderne Wirklichkeit in den Text, sondern wie wird eine solche Welt als Literatur konstruiert und hervorgebracht? Beantwortet werden ko¨nnen diese Fragen freilich nur exemplarisch. Als Beispiel soll hier das Erza¨hlwerk von Marlene Streeruwitz dienen, wobei ich mich insbesondere auf den 2006 erschienenen Roman Entfernung. 31 Abschnitte
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¨ berlegungen auf all ihre beziehe; auch wenn der Großteil der hier angestellten U ¨ Romane zutreffen du¨rfte. Dabei ist zunachst einmal festzuhalten, dass die Abkehr vom traditionellen Narrativ einer koha¨renten Lebensgeschichte natu¨rlich keineswegs ein zeitgeno¨ssisches Pha¨nomen ist, sondern in der Literatur bekanntlich bereits seit dem Beginn der Moderne auf vielfa¨ltigste Weise erprobt wird. Dennoch scheint eine besondere Na¨he zu bestehen zwischen den Erfahrungswelten, von denen Marlene Streeruwitz erza¨hlt, und dem, was Sennett als „Drift“ bezeichnet. Streeruwitz’ Texte sind deshalb fu¨r eine Auseinandersetzung mit den oben gestellten Fragen besonders fruchtbar, weil ihr Prosawerk immer auch eine Reflexion u¨ber die Mo¨glichkeiten und Unmo¨glichkeiten des Erza¨hlens von Lebensgeschichten ist.11 Jeder ihrer Romane wirkt wie ein Angriff auf traditionelle Erza¨hlmuster, auf den klassischen Kanon einer Literatur der außergewo¨hnlichen Ereignisse, der Helden und ihrer Entwicklung und der ‚großen‘ sujets.12 Wir haben es hier mit Texten zu tun, in denen meist weibliche Figuren versuchen, sich mu¨hsam durchzubeißen und Fuß zu fassen innerhalb einer Welt, in der Sprache und Macht auf unentwirrbare Weise miteinander verflochten sind. Das Erza¨hlen des eigenen Lebens wird zu einem qua¨lenden Kampf gegen sprachliche und gesellschaftliche Strukturen; gegen eine symbolische Ordnung, in der das Ich entweder gar nicht vorkommt, in unu¨berwindbare Distanz zu sich selbst tritt oder aber resigniert unterzugehen droht. So heißt es z. B. in Entfernung. 31 Abschnitte u¨ber die Protagonistin Selma: „Ihre Geschichte. Die war ja ernsthaft gar nicht zu erza¨hlen. Ihre Geschichte. Da musste man schon so einen ironisch ¨ berlegenheit die Resiu¨berlegenen Ton anschlagen. Diesen Ton, der in der U 13 gnation erza¨hlte“. Worum geht es in diesem Roman? Um das Geschehen schlagwortartig auf den Punkt zu bringen: Wir lesen vom Straucheln der Protagonistin in einer durch und durch medialisierten, globalisierten, postfeministischen, postkolonialen und postkapitalistischen Welt neoliberaler Pra¨gung. Im Folgenden wird es darum gehen, in knappen Zu¨gen nachzuvollziehen, mittels welcher literarischer Techniken sich diese Form der Welterzeugung vollzieht; und zwar erstens, was die Handlungsstruktur angeht, zweitens hinsichtlich der narrativen Verfahren und drittens auf sprachlich-stilistischer Ebene.
11 In dieser Hinsicht ist besonders Nachwelt von Bedeutung, ein Roman u¨ber ein (gescheitertes) Biographieprojekt (vgl. Solte-Gresser 2000, S. 140 f.). 12 Streeruwitz ist nicht nur Autorin eines umfangreichen Erza¨hlwerks und zahlreicher Theaterstu¨cke, sondern auch eine (politisch engagierte) Literaturtheoretikerin, die ihre eigene Schreibweise stetig und ausfu¨hrlich reflektiert; vgl. z. B. ihre Poetikvorlesungen 1997, 1998b und 2004. 13 Streeruwitz 2008, S. 150.
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„Was fu¨r ein za¨her Text, was fu¨r ein qua¨lender Handlungslauf“.14 Diese Bemerkung fasst den Tenor einer Kritik bu¨ndig zusammen, die durchaus repra¨sentativ fu¨r die Streeruwitz-Rezeption ist.15 Denn eine Handlungsstruktur ist eigentlich kaum auszumachen. Vielmehr sperrt sich hier alles gegen die Einbindung in ein lineares Geschehen und die kausale Verknu¨pfung der Ereignisse zu einem logischen Ganzen. Auf fast 500 Seiten erza¨hlt der Roman in 31 Abschnitten einen knapp zwei Tage umfassenden Ausschnitt aus dem Leben Selmas; einem Lebenszustand, der in vielerlei Hinsicht als postmoderne Befindlichkeit charakterisiert werden kann: Die Koordinaten, welche eine (auto-) biographische Erza¨hlung ermo¨glicht ha¨tten, wie Sennett sie fu¨r die Generation vor Streeruwitz noch selbstversta¨ndlich postuliert, erscheinen, wenn u¨berhaupt, allenfalls am Rande; na¨mlich weggebrochen oder als in Auflo¨sung begriffene Bezugspunkte: familia¨re Bindungen, der Partner, eine berufliche Ta¨tigkeit, eine finanzielle Lebensgrundlage, ein intentionales Lebensprojekt, ra¨umliche oder zeitliche Verwurzelung, sprachliche Beheimatung, kontinuierliche, logisch aufeinanderfolgende biographische Stationen – nichts von alledem strukturiert das Leben der Protagonistin. In topographischer Hinsicht vollzieht der Roman zu Beginn zwar eine Grenzu¨berschreitung von Wien nach London. Doch versucht man schließlich die Bewegungen Selmas im Einzelnen nachzuzeichnen, so entsteht ein ga¨nzlich chaotisches Gewirr aus sich u¨berkreuzenden Fußwegen und U-Bahnfahrten, ein Umherirren ohne eindeutige Ausgangs- und Zielpunkte, so dass sich die durchquerten Ra¨ume weder topologisch noch semantisch strukturieren lassen. Da der Text auch in zeitlicher Hinsicht – mitunter durch regelrechte Dehnungen – in unza¨hlige Einzelepisoden zerfasert (der Ablauf zweier Tage also zwar chronologisch nachvollzogen wird, jedoch keinerlei Selektion oder Hierarchisierung der Geschehnisse stattfindet), entsteht auf dieser Ebene ebenfalls der Effekt einer radikalen Desorientierung. Dieses freie Flottieren zeigt sich auch, was die Figurenkonstellation betrifft. Es werden zahllose Begegnungen mit unterschiedlichen Figuren beschrieben (Kassierer, Bankangestellte, Passanten, Flughafenarbeiter, Taxifahrer, Schaulustige, U-Bahn-Passagiere, eine entfernte Bekannte aus Wien), ohne dass sich in dieser Serialita¨t irgendeine Form zwischenmenschlicher Bindung ausmachen ließe. So la¨sst sich das durch den gesamten Roman aufs Radikalste intern fokalisierte Geschehen als ein sta¨ndiges Umsichselbstkreisen in einer globalisierten, anonymisierten und medial vermittelten Metropole verstehen. Dieses wird zwar von einem heterodiegetischen Erza¨hler pra¨sentiert, jedoch in einem so konsequent dramatischen Modus – der die Distanz zwischen Erza¨hlinstanz 14 Falcke 2006. 15 Vgl. etwa Mu¨ller 2006 oder Weinzierl 2007.
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und Figur fast ga¨nzlich aufhebt – dass fu¨r das Bewusstsein, welches die vielfa¨ltigen Erfahrungsfragmente und Wahrnehmungsschnipsel zusammen ha¨lt, ein Ho¨chstmaß an Kontingenz als das einzige Strukturprinzip gelten kann. Damit entziehen sich im Grunde auch all jene Anhaltspunkte, die notwendig wa¨ren, um so etwas wie eine individuelle Figurencharakterisierung vornehmen zu ko¨nnen.16 Wovon erza¨hlt dann dieser Roman u¨berhaupt, dieses, wie es in einer Kritik heißt, Abenteuer u¨ber eine „Frau, die sich abhanden kommt in Zeiten des Terrors“?17 Es existieren durchaus zentrale Themen dieser 31 Abschnitte, die selbst wiederum aus einer Vielzahl an Einzelepisoden zusammengesetzt sind und damit die Erinnerungsbruchstu¨cke, die Assoziationsketten, Sinneseindru¨cke und Erlebnisfetzen der Protagonistin ausmachen: Das Pha¨nomen der Globalisierung beispielsweise zeigt sich in einer subtilen Durchdringung von postkolonialem Bewusstsein und latentem Rassismus einerseits sowie in der globalen Bedrohung durch den Terrorismus in seinen konkreten, lokalen Auswirkungen andererseits: Selma gera¨t mitten in die Londoner U-Bahnanschla¨ge vom 7. Juli 2005, denen sie ko¨rperlich nur leicht verletzt, jedoch mental hochgradig desorientiert und psychisch ga¨nzlich zerru¨ttet entkommt. Dass die Wirklichkeit, durch die sich Selma als Verlorene, Verirrte, Entfremdete bewegt, eine vorrangig medial vermittelte ist, wird auf unterschiedlichen Ebenen deutlich; am offensichtlichsten im Gebrauch ‚postmoderner Kommunikationsformen‘,18 ihren (erfolglosen, sich in immer neuen Anla¨ufen vollziehenden) Versuchen, sich im Londoner Medienrummel zurecht zu finden und im dortigen Kulturbetrieb mit einem vage ins Auge gefassten Sarah-KaneProjekt zu etablieren. Die Selbst- und Wirklichkeitserfahrung, die in diesem Zusammenhang sichtbar wird, spielt sich oftmals auf einer Ebene ab, auf der Kunst, Film, Werbung und Zitate ein diffuses Konglomerat bilden, das sich mitunter zu verselbsta¨ndigen scheint.19 Diese Form des Weltbezuges wird al16 Vgl. den Klappentext der Taschenbuchausgabe: „Eine globalisierte Welt schafft globalisierte Schicksale“. Zur spezifischen Handhabung des stream of consciousness bei Marlene Streeruwitz, der nicht nur „Entfremdung der Figuren“ und „das Bruchstu¨ckhafte, Abgebrochene eines Lebens“ ausdru¨ckt, sondern durch die stetigen Vera¨nderungen in der Distanz zwischen Erza¨hlinstanz und Figur ein „Changieren zwischen Anpassung und Opposition“ erreicht, vgl. Scalla 2004, S. 149 – 163, hier S. 152 und 154. 17 Vgl. den Untertitel der Rezension von Ina Hartwig: „Selma schreit nicht“. 18 Mario Scalla vertritt in seinem Aufsatz die These, dass im Werk von Marlene Streeruwitz ‚postmoderne Kommunikationsformen‘ wie Telefon, Anrufbeantworter, Handy, Mailbox zentral seien (Vgl. Scalla 2004, S. 149 f.). 19 So nimmt die Wahrnehmung eines Experimentalfilms, in dessen Vorfu¨hrung Selma zufa¨llig gera¨t, beispielsweise vierzehn Buchseiten ein und scheint damit den ‚Rahmen‘, in den diese Pra¨sentation eingebettet ist, ga¨nzlich zu sprengen (Streeruwitz 2008, S. 249 – 262). Der darauf folgende Abschnitt stellt in weiten Teilen eine Reflexion dieses Filmes dar, an die sich das Nachdenken u¨ber weitere Kunst- und Kulturprojekte anschließt. Vgl. auch ebd., S. 404 f.,
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lerdings immer wieder radikal durchbrochen durch plo¨tzliche Einbru¨che von Unmittelbarkeit bestimmter Sinneseindru¨cke und Ko¨rperempfindungen, die wirken, als begehre der fu¨hlende Leib auf diese Weise gegen die mediale Vermittlung von Erfahrung auf.20 Die postkapitalistische und neoliberale Dimension der erza¨hlten (Lebens-) Geschichte zeigt sich ferner in der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von bildungsbu¨rgerlicher Wohlstandsherkunft der promovierten und soeben entlassenen Leiterin der Wiener Festspiele und der Prekarita¨t ihrer bodenlosen, materiell erba¨rmlichen und existenziell verunsicherten Situation.21 Als ‚postfeministisch‘ ließe sich diese Welt insofern beschreiben, als feministisches Bewusstsein und unverhohlene Misogynie eine durchaus unheilvolle Verbindung eingehen: Diese a¨ußert sich fu¨r die Protagonistin (und ein anderer Wahrnehmungsfokus steht uns an keiner Stelle auch nur andeutungsweise zur Verfu¨gung) in einer ausgesprochen brutalen Form des Selbsthasses, der die herrschende Geschlechtergewalt reproduziert, und zwar fataler Weise wa¨hrend eine geradezu selbstversta¨ndlich souvera¨ne und scheinbar abgekla¨rte gender-Perspektive eingenommen wird.22 Ihren direkten stilistischen Ausdruck findet diese radikale Entstrukturierung und Serialisierung des Erza¨hlten in einer Sprache, die sich jeder Form von Hierarchisierung entzieht. Auf 475 Seiten steht so gut wie kein Nebensatz. Kommas sind die große Ausnahme, alles Gesagte wird auf dieselbe Ebene gehoben, so dass eine perfide Mischung aus allta¨glichen Banalita¨ten und schockartigen Einsichten entsteht, die allesamt auf ein und derselben sprachlichen Oberfla¨che zum Vorschein kommen. Es handelt sich um eine Sprache, die ein komplexes, ideologisches Ordnungsgefu¨ge konsequent zerha¨ckselt in eine unendliche Abfolge von Hauptsa¨tzen; ein rein parataktisch verfahrender Stil, der auf provozierende und, wie mir scheint, durchaus subversive Weise einebnet und zertru¨mmert. „Der vollsta¨ndige Satz“, so heißt es bezu¨glich ihres Stils in den Tu¨binger Poetikvorlesungen von Marlene Streeruwitz, „ist eine Lu¨ge. Im wo ihre Eindru¨cke der (Terror-)Wirklichkeit mit „einem Susan-Sonntag-Roman“ verschmelzen; in Abschnitt 15 schließlich wird das gesamte Geschehen als inszenierter Text bzw. als Bu¨hnenauffu¨hrung wahrgenommen (z. B. ebd., S. 229). 20 Repra¨sentativ hierfu¨r ist die unvermittelte Darstellung massiver ko¨rperlich-sinnlicher Empfindungen wa¨hrend des Bombenattentats von King’s Cross, bes. ebd., S. 383 – 412. 21 In Gegen die ta¨gliche Beleidigung. Vorlesungen widmet sich Streeruwitz ausfu¨hrlich dem Pha¨nomen des Neoliberalismus, indem sie beispielsweise untersucht, wie sich Kapitalismus, Macht, Gefu¨hle und Subjektivita¨t auf untrennbare Weise miteinander verbinden (Streeruwitz 2004). Vgl. hierzu auch Charim 2004, S. 24 – 37. 22 Der Feminismus Streeruwitz’ ist Theorie, Methode und Praxis, insofern als er eine zugleich literaturgeschichtliche, politische und o¨konomische Dimension birgt, welche auf inhaltlichthematischer, narrativer und stilistischer Ebene ihren Niederschlag findet. Vgl. hierzu auch Lorenz 2004, S. 51.
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Entfremdeten kann nur Zerbrochenes der Versuch eines Ausdrucks sein […]. Mit dem Punkt kann der vollsta¨ndige Satz verhindert werden. Der Punkt beendet den Versuch. Sa¨tze sollen sich nicht formen“.23
4.
Erza¨hlen gegen das Erza¨hlen. Ein Blick mit der Literatur zuru¨ck auf die Theorie
„Den Alltag in die Literatur zerren“ hat Marlene Streeruwitz ihre eigene literarische Arbeit einmal in einem Interview genannt.24 Also gibt es in der postmodernen Literatur doch so etwas wie eine Lebenswelt, deren Schwinden doch in der Theorie konstatiert wurde? Wenden wir den Blick ausgehend von Streeruwitz’ Roman noch einmal zuru¨ck auf die Eingangsthesen. Auch in der Prosa von Streeruwitz la¨sst sich Lebenserfahrung also nicht als lineare, auf ein bestimmtes Ziel hin konzipierte, mit Ho¨hepunkten versehene und ereignishaft markierte Geschichte darstellen, die sich in rational strukturierten Etappen vollzieht. Ihre Texte machen genau das, was einer Erza¨hlung widerstrebt, na¨mlich Orientierungslosigkeit, Zufall, Beliebigkeit und mangelnde Koha¨renz der Erfahrung, zum einzigen Thema. Damit entsteht genau jene Zerfaserung von Wahrnehmung, die der Sohn Rico in Sennetts Bericht benannt hatte. Wa¨hrend sie dort allerdings eine ohnma¨chtige Sprachlosigkeit auslo¨st, bilden eben solche Wahrnehmungen bei Streeruwitz gerade den Anlass fu¨r das Sprechen: Aus der Perspektive der Protagonistin werden sie ausgesprochen beredt artikuliert und in eine literarische Erza¨hlung transformiert. Was damit entsteht, sind freilich keine traditionellen Geschichten mehr, die sich – wie die Lebensgeschichte des Vaters Enrico – zu einem logischen Ganzen konstruieren lassen. Streeruwitz’ Formen der literarischen Welterzeugung fu¨gen sich daher weder in das an traditionellen Erza¨hlmustern orientierte Narrativ des Vaters, noch beklagen sie allerdings, wie der Sohn, eine Auflo¨sung der Lebenswelt, die schließlich das desorientierte Subjekt sprachlos zuru¨ckla¨sst.25 Vielmehr wird eben diese lebensweltliche Umgebung in ihrer oberfla¨chlichen, sinnentleerten und planlosen Beliebigkeit zum zentralen literarischen Gegenstand. Ein solches Erza¨hlen widersteht den Versuchungen, die von einem auf Transzendenz hin 23 Streeruwitz 1997, S. 76. 24 Streeruwitz 1998a, S. 14. 25 Eine deutlichere Parallele zwischen Sennett und Streeruwitz zieht allerdings Mario Scalla, insofern sich beide einig seien „in der Hochscha¨tzung von Erinnerung und Erza¨hlung als ¨ ußerns und Reflektierens“ und der These, dass das „neoliberale Grundlage menschlichen A System […] mit seinen befristeten und preka¨ren Arbeitsverha¨ltnissen die Mo¨glichkeit [zersto¨re], das eigene Leben koha¨rent zu erza¨hlen“ (Scalla 2004, S. 151).
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ausgerichteten Denken und Schreiben ausgehen: Weder durch ein historischgesellschaftliches, noch durch ein metaphysisches oder ein subjektiv biographisches Ziel, mittels dessen sich die unmittelbare individuelle Alltagswirklichkeit transzendieren ließe, scheinen die Protagonistinnen und Erza¨hlerinnen in Streeruwitz’ Werk angetrieben. Die Immanenz des Allta¨glichen bleibt als einzige Erfahrungskategorie. Befragt man ihre Romane auf die Identita¨t der Figuren, so wa¨re allerdings der Ausdruck „Corrosion of Character“, den Richard Sennett verwendet, vielleicht gar nicht so falsch. Denn ganz direkt wird hier ja das sprechende Ich in Verbindung gebracht zu den fu¨r Sennett entscheidenden Merkmalen der Globalisierung. Zu diesen za¨hlen in erster Linie die Praktiken eines vitalen Kapitalismus, Kurzfristigkeit, aufgelo¨ste Bindungen, Dissoziation von Willen und Verhalten und untergrabene Selbstachtung.26 Was diesem Konzept allerdings am Auffa¨lligsten widerspricht, ist die Tatsache, dass die Auswirkungen der Postmoderne auf die von Sennett befragten Personen, die er innerhalb einer ma¨nnlichen Genealogie situiert, als ein geschlechtsneutrales Pha¨nomen verstanden werden; und zwar sowohl von den Befragten als auch von Sennett selbst.27 In den Texten von Marlene Streeruwitz hingegen la¨sst sich an keiner Stelle vergessen, dass die postmoderne Ordnung, in der sich die Figuren bewegen, zu allererst eine phallogozentristische, also geschlechtlich markierte, ist. Noch eine weitere Problematik wird erkennbar, wenn man mit Streeruwitz auf Sennett zuru¨ck blickt. Fu¨r Sennett stellt sich die gesellschaftshistorische ¨ bergang von MoEntwicklung, die das Erza¨hlen von Lebensgeschichten im U derne zu Postmoderne kennzeichnet, eindeutig als eine Verlustgeschichte dar, welche vom sprachma¨chtigen Autor seiner Lebensgeschichte hin zur sprachlosen Ohnmacht eines desorientierten Subjekts fu¨hrt. Sennett geht es in seinen ¨ berlegungen darum, die stabilisierenden und versichernden Dimensionen des U Alltags zu betonen und gegenu¨ber heutigen Tendenzen zum Verlust der Lebenswelt aufzuwerten. „We test out“, so heißt es bei Sennett, „alternatives only in relation to habits which we have already mastered. To imagine a life of momentary impulses, of short-term action, devoid of sustainable routines, a life without habits, is to imagine indeed a mindless existence.“28 In den Romanen von Marlene Streeruwitz lassen sich keine derart eindeutigen Wertungen oder Entwicklungslinien ausmachen. Zuna¨chst einmal begegnet Streeruwitz einer ‚driftenden‘ Orientierungslosigkeit, indem sie gerade diesem Pha¨nomen eine (literarische) Sprache gibt: Sie transformiert es in eine Le26 Vgl. Sennett 1998, S. 31. 27 Damit soll freilich nicht behauptet werden, dass dies fu¨r die gesamte Soziologie der Post¨ berlegungen zur Anorexie von Giddens moderne repra¨sentativ ist. Vgl. hierzu u. a. die U 1991, S. 102 ff. 28 Sennett 1998, S. 44.
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benserza¨hlung, die keineswegs von Geistlosigkeit, sondern von geradezu verblu¨ffend geistreichen (Selbst-)Einsichten zeugt. Nur messen sich diese eben nicht an der vermeintlichen Fu¨lle einer vormals vorhandenen Authentizita¨t oder Sinnhaftigkeit; sie speisen sich aus einem Hier und Jetzt, welches an keiner Stelle u¨ber sich selbst hinausweist. Eine solche schillernde Position zwischen allta¨glich-banaler Oberfla¨chlichkeit und einer Lebensimmanenz des Sinns29 kann abschließend durch eine exemplarische Episode des Romans verdeutlicht werden. Dies soll geschehen, indem sie vor dem Hintergrund eines weiteren Denkers postmoderner Lebensweltlichkeit beleuchtet wird: Die Schriften von Vile´m Flusser lassen sich als Versuch lesen, der Tendenz zur Auflo¨sung der allta¨glichen Lebensrealita¨t ein anderes Denken entgegenzusetzen. Mit seinem Entwurf einer Pha¨nomenologie von Alltagsgesten macht Flusser gerade die konkrete Lebenswelt der Postmoderne zur Grundlage der theoretischen Betrachtung. Wofu¨r er sich in der Schrift Gesten. Versuch einer Pha¨nomenologie30 interessiert, sind einzelne Handgriffe, ko¨rperliche Verbindungen mit Gegensta¨nden und andere Formen des Gestikulierens, die zwar ta¨glich stattfinden, jedoch immer auch ein Moment der Widersta¨ndigkeit gegen die o¨konomisierte Routine in sich bergen.31 Eine solche Konzentration auf bestimmte Gesten, die nicht unbedingt zweckdienlich sind, sondern mit denen der Mensch seinem Leben und der Welt Wirklichkeit zu verleihen versucht, auch wenn ihnen kein eindeutiger Sinn zugeschrieben werden kann,32 finden sich auch in den Texten von Marlene Streeruwitz. Es geht hier, ganz a¨hnlich wie bei Flusser, um eine a¨sthetische Dimension solcher Alltagsgesten, die ihre konkrete, pragmatische Funktion innerhalb einer zweckrationalen Ordnung u¨bersteigen, sich verselbsta¨ndigen und damit zur Interpretation herausfordern.33 29 Vgl. hierzu das a¨sthetische, philosophische und zugleich literaturwissenschaftliche Konzept von Bu¨rger 1996. 30 Flusser 1993. 31 In einem vergleichbaren Kontext ließe sich auch Baudrillards Theorie der Konsumgesellschaft nennen, die sich an den Objekten des ta¨glichen Gebrauchs orientiert (Baudrillard 1986). Von diesen Objekten ausgehend, entwickelt er zum Beispiel ein „System der Dinge“, das, so der deutsche Untertitel eines seiner bekanntesten Werke, „unser Verha¨ltnis zu den allta¨glichen Gegensta¨nden“ reflektiert (Baudrillard 1982). Gegen die heutige Tendenz, den nur mehr fu¨r den Augenblick produzierten Konsumgegensta¨nden ihre Geschichte zu ver¨ sthetik weigern, wendet sich auch der Erza¨hler Uwe Timm in seinen Versuche[n] zu einer A des Alltags (Timm 1993, S. 25 f.). 32 Vgl. Flusser 1993, S. 15. 33 Ausschlaggebend fu¨r das Zustandekommen einer Geste scheint dabei der intensive ko¨rperliche Kontakt mit dem Gegenstand zu sein, der es erlaubt, diese Augenblicke in einer „fu¨r das Individuum spezifischen Raum-Zeit-Verknotung“ als aktives, die subjektive Lebenswirklichkeit gestaltendes „In-der-Welt-Sein des Menschen“ zu lesen, das einen gewissen Grad an Freiheit ermo¨glicht (Flusser 1993, S. 233).
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Als eine solche Geste verstehe ich den Schluss von Streeruwitz’ Roman: Im letzten der 31 Abschnitte ha¨lt ein augenscheinlich verru¨ckter oder behinderter Kongolese der Protagonistin immer wieder von neuem und mit zunehmender Intensita¨t einen Stein unter die Augen. Dieser Augenblick gerinnt u¨ber vier lange Seiten des Textes zu einer Geste, die Selma zu verstehen sucht, aber nicht deuten kann; eine Geste, die merkwu¨rdig unentschieden zwischen Kunst34 und Alltagswirklichkeit oszilliert:35 Sie goss Wasser u¨ber den Stein. Das Wasser tropfte zwischen den Fingern des Mannes ins Gras. Der Stein lag leuchtend blau von der Na¨sse in seiner Hand. Die Adern der Einlagerungen. Helle und dunkle Adern liefen in der Mitte zusammen. Bildeten einen Stern auf dem dunkeln Blau. Der Mann ging in die Sonne. Hielt den Stein in die Sonne. Die Sternlinien glitzerten im Sonnenlicht. ‚Wow‘. sagte die junge Frau. ‚Like a star in the sky‘. Alle starrten auf den Stein und la¨chelten (Streeruwitz 2008, S. 475).
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Teil VI: Literarische Repra¨sentationen von Globalita¨t und Globalisierung
Dolf Oehler
Zur Dialektik der Globalisierung Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen. Karl Kraus, Spru¨che und Widerspru¨che1
I Seit ihren Anfa¨ngen ist die Literatur – und nicht nur die epische, aber sie in besonderem Maße – darauf aus, die Welt bis an ihre a¨ußersten Grenzen und womo¨glich noch daru¨ber hinaus zu erkunden, vorzustellen oder zu erfinden, nicht zuletzt auch, um das Publikum von Ho¨rern, Zuschauern oder Lesern in ihren Bann zu schlagen. Spannung wird erzeugt durch die Konfrontation des wohlvertrauten Eigenen mit dem bald schrecklichen bald, beto¨renden Fremden, durch die Reibung von Heimat und Ferne, Identita¨t und Differenz. Dies Grundverha¨ltnis bleibt bestehen vom Gilgamesch-Epos und Homer bis zur Literatur der Moderne bzw. Postmoderne, bis zu den Texten so unterschiedlicher Autoren wie Chatwin, Rushdie, Sebald oder Bolan˜o. Und natu¨rlich lassen auch Film, Fernsehen und Video sich von der Maxime leiten, die CNN auf die schillernde Werbeformel Go beyond borders gebracht hat. Ob es ihr bewusst ist oder nicht: Noch immer wird Literatur vom Musenanruf des griechischen Sa¨ngers inspiriert, der sich „die Taten des vielgewanderten Mannes“ einsagen lassen will, „welcher so weit geirrt, […] vieler Menschen Sta¨dte gesehen und Sitte gelernt hat / Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet“.2 Bei Joyce wirkt das bewusste Bestreben einer a¨ußerst modernen, a¨ußerst originellen HomerNachfolge bis in die subtilsten Eigentu¨mlichkeiten der Textkomposition seines paradoxen Ulysses, der in Dublin auf der Stelle tritt, hinein, aber selbst einem vergleichsweise so schlichten Erza¨hler wie Jules Verne du¨rfte es nicht entgangen sein, dass er mit seinem Roman Le tour du monde en quatre-vingts jours nicht bloß die Serie seiner Voyages extraordinaires gekro¨nt, sondern daru¨ber hinaus die Anti-Odyssee des bu¨rgerlichen Industriezeitalters hervorgebracht hat, die 1 Kraus 1965, S. 72. 2 Homer 1908, S. 3.
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sozusagen mit der linken Hand auch noch einen Anti-Quijote pra¨sentiert. Bei Verne tritt an die Stelle der List des go¨ttlichen Dulders und der Hilfe Athenes die Effizienz der modernen Verkehrsmittel, die Pu¨nktlichkeit des Fahrplans und dessen, der ihn zu lesen versteht. Phileas Fogg ist nur dem Anschein nach ein exzentrischer Angeho¨riger der britischen leisure-classes, der eine verru¨ckte Wette gegen die Mitglieder seines Londoner Clubs eingeht, in Wahrheit ist er der romanhaft verkleidete Idealtyp des modernen Unternehmers, ein Global Player im buchsta¨blichen Sinn, der mit einem strikten Programm minimalen Zeitkostenaufwands in damals unvorstellbar kurzer Frist eine Welt umrundet, mithin symbolisch erobert (selbst wenn er nur Stempel im Pass nach Hause bringt), die dank dem technischen Fortschritt u¨berschaubar geworden ist, kleiner und unabenteuerlicher zugleich. Doch wissen wir seit der Dialektik der Aufkla¨rung von Adorno / Horkheimer, dass sich schon Odysseus als mythologischer Ahnherr des vernunftgeleiteten Unternehmers lesen la¨sst. Nur : Seine Welt ist noch den Go¨ttern qua Naturgewalten ausgeliefert und seine Fahrt wesentlich Irrfahrt. Odysseus hat zwar ein Ziel, aber kein Programm.3 Wenn bei Verne die Reise zur Irrfahrt zu werden droht, so ist das ein bloßer accident de parcours, freilich einer, der kurzweilig wirkt, indem er das Ziel in weite Ferne ru¨ckt. Sein Gentleman ist nicht belesen, sondern gut informiert, er verschlingt keine Romane, er studiert Zeitungen. Fogg ist weder ritterlicher Abenteurer wie Don Quijote noch Bildungsreisender wie die Engla¨nder des 18. Jahrhunderts, die sich auf le Grand Tour begaben; er ist erst recht kein romantischer Reisender wie Lord Byron oder Chateaubriand und noch nicht einmal Tourist, weil ihm die Sehenswu¨rdigkeiten dieser Erde nichts bedeuten, und er das Besichtigen seinem Domestiken u¨berla¨sst. Ihm geht es einzig und allein um die Wette, also die Performanz der schnellstmo¨glichen pu¨nktlichen Erdumkreisung. Dass dieser eingefleischte Junggeselle, der weder u¨ber ein libidino¨ses Budget verfu¨gt noch nach einer fernen Dulcinea sich sehnt, am Ende der Reise, die zum o¨konomischen Nullsummenspiel wird, doch eine Lustpra¨mie erha¨lt in Gestalt der mitgebrachten indischen Witwe, die auf dem Scheiterhaufen ha¨tte verbrennen mu¨ssen ohne sein Erscheinen, das ist eines jener Zugesta¨ndnisse des Autors an seinen Leser bzw. an die Usancen des Genres, zu denen die zahlreichen Aben-
3 Mit unternehmerischer Weitsicht kalkuliert Vernes Protagonist Unwetter, Verspa¨tungen etc. ein, um bei jedem neuen Zwischenfall festzustellen, er sei Bestandteil des Programms. Ein Beispiel nur: „Il semblait vraiment que cette tempeˆte rentraˆt dans son programme, qu’elle fuˆt pre´vue.“ (Verne 2009, S. 162) So kommt es denn auch, dass er nicht, wie Odysseus, Gefa¨hrten verliert, sondern am Ende sein Ein-Mann-Unternehmen verdoppelt hat, um die befreite Scho¨nheit reicher geworden ist. Einzig die Wahnvorstellung seines polizeilichen Verfolgers Fix, Fogg sei ein Bankra¨uber – Verne hat ihn aus den Mise´rables Hugos u¨bernommen und ironisch umgetauft – scheint nicht im Programm vorgesehen gewesen zu sein.
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teuer dessen geho¨ren, der nach der Devise handelt „L’impre´vu n’existe pas“.4 ¨ brigens ereignen sich die tollsten Abenteuer immer in den Gegenden, die noch U nicht restlos von der Eisenbahn erschlossen und noch unvollsta¨ndig kolonisiert sind: da, wo die Barbaren – seien es Inder oder Indianer – vorla¨ufig noch ungestraft auf ihren obsoleten Ritualen beharren ko¨nnen. Es verdient noch angemerkt zu werden, dass Verne seinem scheinbar so kaltblu¨tigen und unnahbaren und doch, wenn seine Zeit es gestattet, durchaus philanthropischen Helden einen Diener an die Seite stellt, der zwar noch konventionell genug an die klassischen Vorbilder von Sancho Panza bis Sganarelle erinnert, doch allein schon durch seinen ungewo¨hnlichen Namen Passepartout als Schlu¨sselfigur des Globalen ausgewiesen ist. Passepartout bleibt es denn auch vorbehalten, die scho¨ne Witwe – womo¨glich eine klammheimliche Allegorie des von der alten Welt erlo¨sten Indien – vom schon brennenden Scheiterhaufen zu retten. Le Tour du monde en quatre-vingts jours la¨sst sich als eine beeindruckende Illustration der Theorie der Globalisierung auffassen, die Karl Marx und Friedrich Engels Anno 1848 ins Manifest der Kommunistischen Partei eingeschrieben hatten, wenn auch, wie gesagt, in romanhafter Verbra¨mung. Es ist, als habe Jules Verne die Konsequenzen aus Beobachtungen wie den folgenden gezogen und seinen Romanplot revolutionieren und entsentimentalisieren wollen: Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verha¨ltnisse zersto¨rt. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande […] unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch u¨briggelassen als das nackte Interesse, als die gefu¨hllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwa¨rmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbu¨rgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertra¨nkt.5
Wer diese Sa¨tze genau betrachtet, dem du¨rfte klar werden, dass deren Verfasser die neuere Geschichte beschreiben als Analogie der Geschichte des Romans, in welcher der Realismus nach und nach die visions du monde eines Dante, eines Cervantes, der scho¨nen Seele oder der nostalgischen Romantik außer Kraft setzt. Balzac z. B. zeigt, dass es nicht la¨nger das Gefu¨hl, sondern eben das nackte Interesse ist, welches menschliche Interaktion bestimmt. Was in der Come´die humaine noch nicht registriert ist, die weltumspannende Dynamik der neuen Produktionsverha¨ltnisse, das steht im Fokus der parabolischen Romanhandlung Vernes. Deren Korrespondenz mit dem, was im Klartext des Manifests als das Getriebenwerden einer Klasse um die Erdkugel gefasst wird, ist mit Ha¨nden zu greifen: „Das Bedu¨rfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz fu¨r ihre
4 Verne 2009, S. 50. 5 Marx / Engels 1971, S. 464 f.
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¨ berall muß sie sich Produkte jagt die Bourgeoisie u¨ber die ganze Erdkugel. U einnisten, u¨berall anbauen, u¨berall Verbindungen herstellen.“6 Genau genommen stellt Vernes Wette einer Erdumrundung in ku¨rzester Frist eine Art Test dar, ob das, was das Manifest die kosmopolitische Gestalt der Produktion und Konsumtion aller La¨nder nennt, technisch auch wirklich machbar und an der Zeit ist. Selbst wenn Vernes Antwort auf diese Frage nicht ganz eindeutig ausfa¨llt, sie straft den Fortschrittsoptimismus seines Jahrhunderts keineswegs Lu¨gen, im Gegenteil: Trotz der Verschiebung des finanziellen Happy-Ends hin zum amouro¨sen, die Grundtendenz Vernes, seine Euphorie der Globalisierung, bleibt unverkennbar bestehen. Gegen diese Euphorie erhebt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Autor am entschiedensten Einspruch, der nach dem Zeugnis seines Biographen in seiner Jugend ein eifriger Leser Jules Vernes gewesen war,7 wovon Spuren noch im ersten seiner drei Romane erhalten sind: Franz Kafka. Kein bu¨ndigerer, kein a¨hnlich fulminanter Protest gegen die Vergo¨tzung der Geschwindigkeit, die Verne und seinesgleichen mit einer gewissen Avantgarde verbindet, die einmal dem Faschismus verfallen sollte,8 als Kafkas Prosatext „Das na¨chste Dorf“ (oder das verwandte „Eine kaiserliche Botschaft“): Mein Großvater pflegte zu sagen: „Das Leben ist so erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung dra¨ngt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins na¨chste Dorf zu reiten, ohne zu fu¨rchten, daß – von unglu¨cklichen Zufa¨llen ganz abgesehen – schon die Zeit des gewo¨hnlichen, glu¨cklich ablaufenden Lebens fu¨r einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.9
Dass diese Weisheit, die mehr ist als nur eine Provokation des common sense, der Tora nicht weniger kongenial als Zenon von Elea, einem alten Mann, der auf dem Lande lebt und sich noch auf Pferden fortbewegt, zugeschrieben wird, mindert nicht ihre Gu¨ltigkeit und Aktualita¨t. Sie erinnert daran, wie borniert es ist zu 6 Ebd., S. 465. Brecht hat in den 1940er Jahren versucht, das Manifest in Vossischen Hexametern neu zu formulieren als Epos der Klassenka¨mpfe gleichsam. Dabei folgt er der Argumentation von Marx / Engels genau, beha¨lt die Konzepte und ha¨ufig auch den Wortlaut der bildkra¨ftigen Prosa des Originals bei. Die Amplifikationen seiner dichterischen Version sind ha¨ufig moralisierenden Wesens, als gehorchten sie dem facit indignatio versum Juvenals: „Kurz an die Stelle natu¨rlicher Ausbeutung, junger, / frommer / Ausbeutung setzt sie nunmehr die offene, schaulose, du¨rre / Priester und Richter und Arzt und Dichter und Forscher, / mit frommer / Scheu doch betrachtet dereinst, macht sie grinsend zu ihren bezahlten / Lohnarbeitern […]“ (Brecht 1967, S. 914) oder : „Denn der unstillbare Drang nach dem Absatz der / schwellenden Waren / Jagt unsre Bourgeoisie ohne Unterlaß u¨ber die ganze / Erdkugel hin wie im Taumel. ¨ berall muß sie sich anbaun / u¨berall einnisten, u¨berall knu¨pfen die klebrigen Fa¨den.“ (Ebd., U S. 916) Die Didaktik der Empo¨rung bekommt dem Text wenig. Er blieb Fragment. 7 Vgl. Binder 1979, S. 320. 8 Vgl. Gu¨nther 1985, S. 284 – 313. 9 Kafka 1970, S. 138.
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meinen, der Fortschritt habe den Raum besiegt und die Zeit domestiziert. Kafkas Werk la¨sst sich einteilen in Texte, die das Nicht-Herauskommen-Ko¨nnen, das Nicht-Fortkommen- oder das Nicht-Ankommen-Ko¨nnen thematisieren und andere, welche die Idee des Nicht-Weiter-Kommens zu der des Nicht-Entkommen-Ko¨nnens steigern. Man denke an Die Verwandlung, den Prozeß, den „Bau“ oder an die Ku¨rzestfassung in „Kleine Fabel“, die, ehe sie noch recht begonnen mit dem Stoßseufzer der Maus „Ach, die Welt wird enger mit jedem Tag“, auch schon abbricht, mit der grausamen echt Kafka’schen Pointe, in der Moral und Katastrophe koinzidieren: „,Du mußt nur die Laufrichtung a¨ndern‘, sagte die Katze und fraß sie.“10
II Je contemple d’en haut le globe en sa rondeur, Et je n’y cherche plus l’abri d’une cahute. Baudelaire, Le gouˆt du ne´ant11
Kafkas Darstellung der modernen Welt als einer Welt, aus der es kein Entrinnen gibt, pra¨ludieren Texte gerade der Autoren, die heute als die literarischen Gru¨ndungsva¨ter der Moderne gelten: Texte von Heine, Baudelaire und Flaubert. Letzterer, von dem hier nicht weiter die Rede sein soll, hat das Thema der Ausweglosigkeit zuna¨chst in gesellschaftlicher Perspektive behandelt, in den Sittenromanen aus dem bu¨rgerlichen Frankreich seiner Zeit, am Ende seines Lebens dann in Form einer im Roman bis dato unerho¨rten Erkenntnis- und Wissenskritik, die bedauerlicherweise unabgeschlossen blieb. Unter dem Stichwort VOYAGE steht dort zu lesen: „Doit eˆtre fait rapidement“,12 was hinreicht, um den Geschwindigkeitsfetischismus mit dem zu verknu¨pfen, was Flaubert die beˆtise bourgeoise nennt.13 Dem Bourgeois-Imperativ der schnellen Reise muss auch, und seit dem Bologna-Prozess vielleicht mehr denn je, die akademische Wissenschaft gehorchen. Ihm gehorchen, hintergru¨ndig genug, zu Beginn des Zeitalters von Eisenbahn und Dampfschiff, bereits die Pariser Lyriker Heine und Baudelaire, von denen ich zwei einschla¨gige Gedichte kurz kommentieren mo¨chte, Gedichte, welche das Ortesammeln der epischen wie der Reiseliteratur in a¨ußerster Ver10 11 12 13
Ebd., S. 320. Baudelaire 1975a, S. 76. Flaubert 1966, S. 313. Vgl. meinen Artikel u¨ber „Dummheit“ im Flaubert-Lexikon von Vinken / Wild (Hg.) 2010. Einschla¨giges Zitat: „[…] la terre a des limites; mais la beˆtise humaine est infinie.“ (Flaubert: Brief v. 16. 02. 1880, zit. nach: Flaubert 2007, S. 841)
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ku¨rzung aufgreifen, um es politisch umzufunktionieren: Heines erstmals 1851 im Romanzero vero¨ffentlichtes Gedicht „Jetzt wohin?“ und Baudelaires knappes Prosapoem „Any where out of the world“. In beiden Texten werden wir mit einem neuen Topos konfrontiert, den man das negative Globale nennen ko¨nnte. Heines Gedicht hat einen genauen historischen Erfahrungshintergrund, den kennen muss, wer seine politische Tragweite begreifen will. Dieser implizite Ausgangspunkt ist die Erfahrung nicht so sehr des Scheiterns der Revolution von 1848 in Europa oder gar speziell in Deutschland als vielmehr die Erfahrung des Triumphs der Reaktion in Paris und die des geistigen Belagerungszustandes, der nach der blutigen Niederschlagung des Juniaufstandes von 1848 – Marx hatte ihn als „Junirevolution“ gefeiert – u¨ber die Stadt verha¨ngt worden war von General Cavaignac wie von Louis-Bonaparte, dem spa¨teren Napole´on III. Heine, der exaltierte Prophet der Revolution, der einst nach Paris gezogen war, wie in ein „neues Jerusalem“, ins „Pantheon der Lebenden“, hatte diese Wendung der Dinge nicht vorausgesehen, sein Glaube an die welthistorische Sendung von Paris war bis zum Juni 1848 ungebrochen.14 JETZT WOHIN? Jetzt wohin? Der dumme Fuß Will mich gern nach Deutschland tragen; Doch es schu¨ttelt klug das Haupt Mein Verstand und scheint zu sagen: Zwar beendigt ist der Krieg, Doch die Kriegsgerichte blieben, Und es heißt, du habest einst Viel Erschießliches geschrieben. Das ist wahr, unangenehm Wa¨r mir das Erschossen-werden; Bin kein Held, es fehlen mir Die pathetischen Geberden. Gern wu¨rd’ ich nach England geh’n, Wa¨ren dort nicht Kohlenda¨mpfe Und Engla¨nder – schon ihr Duft Giebt Erbrechen mir und Kra¨mpfe. Manchmal kommt mir in den Sinn Nach Amerika zu segeln,
14 Vgl. das Heine-Kapitel in Oehler 1988, S. 239 – 267 und passim.
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Nach dem großen Freyheitstall, Der bewohnt von Gleichheits-Flegeln Doch es a¨ngstet mich ein Land, Wo die Menschen Tabak ka¨uen, Wo sie ohne Ko¨nig kegeln, Wo sie ohne Spucknapf speyen. Rußland, dieses scho¨ne Reich, Wu¨rde mir vielleicht behagen, Doch im Winter ko¨nnte ich Dort die Knute nicht ertragen. Traurig schau ich in die Ho¨h’, Wo viel tausend Sterne nicken – Aber meinen eignen Stern Kann ich nirgends dort erblicken. Hat im gu¨ldnen Labyrinth Sich vielleicht verirrt am Himmel, Wie ich selber mich verirrt In dem irdischen Getu¨mmel. –15
Nun, wo Paris keine Heimat mehr bot, durchmustert der Dichter mit melancholischem Witz die La¨nder, die einem wie ihm als neue Heimstatt oder zweites Exil dienen ko¨nnten, nachdem er sich in den drei Anfangsstrophen vor Augen gefu¨hrt hat, dass die Ru¨ckkehr nach Deutschland, die der „dumme Fuß“ betreibt, fu¨r einen Autor, der, ohne es selbst zu wissen, „Viel Erschießliches geschrieben“ hat, angesichts der dort herrschenden Verha¨ltnisse – „Doch die Kriegsgerichte blieben“ – fatal werden ko¨nnte. Aber fast ebenso wenig sind die damals klassischen La¨nder des Exils, England und die USA, fu¨r ihn vorstellbar, wie die drei folgenden Strophen zeigen. Wobei Heine, getreu seiner Methode der ironisch-spielerischen Untertreibung, seinen tiefsten Vorbehalt gegen den schno¨den angelsa¨chsischen Materialismus hinter eher la¨ppischen Gru¨nden versteckt, die den Leser u¨ber die wahre politische Tendenz des Gedicht ta¨uschen ko¨nnten. So als sei der Dichter von Enfant perdu allergisch gegen Freiheit und Gleichheit! Nein: Es ist die amerikanische Auffassung von Freiheit und Gleichheit, die ihm widerstrebt. Dass schließlich Russland, „dieses scho¨ne Reich“, als mo¨glicher Zufluchtsort in Erwa¨gung gezogen wird, ist der Gipfel der Ironie. Die fragliche Strophe, u¨brigens die einzige, die die Scho¨nheit des Exillandes ins Spiel bringt, sorgt in witziger Verku¨rzung dafu¨r, dass das Behagen schnell umschla¨gt durch die kaum verblu¨mte Erinnerung an das autokratische 15 Heine 1992, S. 101 f.
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Zarenregime und dessen Vorliebe fu¨r sibirische Straflager : „Doch im Winter ko¨nnte ich / Dort die Knute nicht ertragen.“ Der Blick hinauf ins na¨chtliche Himmelszelt, auf den sich die Herausgeber der Du¨sseldorfer Ausgabe schlechterdings gar keinen Reim machen ko¨nnen,16 unterstreicht nur einmal mehr die Ratlosigkeit dessen, dem der Leitstern Paris abhandengekommen ist. Bemerkenswerterweise spricht dieses autobiographische Gedicht nirgends von Heines Erkrankung; es konzentriert sich ausschließlich auf seine Entfremdung von einer Welt ohne Hoffnung und ohne Utopien. Auf Heines Poem, eine imagina¨re Reise um die Welt in neun mal vier Versen gleichsam, scheint das a¨hnlich strukturierte kurze Prosagedicht aus Le Spleen de Paris zu antworten, fu¨r das Baudelaire zu Lebzeiten keinen Abnehmer fand und das erstmals kurz nach seinem Tod vero¨ffentlicht wurde: „Any where out of the world“. Der Titel ist dem bekannten Gedicht „The Bridge of Sighs“ von Thomas Hood entlehnt, das dem Freitod einer scho¨nen Obdachlosen gilt.17 Baudelaire hat es 1865 in Bru¨ssel ins Franzo¨sische u¨bertragen. Ist bei Heine die Ratlosigkeit titelgebend, so bei Baudelaire die suizida¨re Verzweiflung. Da das Ende des Gedichts den Titel wieder aufgreift und expliziert, erweist sich dieser im Nachhinein als programmatisch, das Programm, der Selbstmord, als der einzige Ausweg aus einer Welt, u¨ber deren Unertra¨glichkeit die Seele befindet und nicht, wie bei Heine, der Verstand. Denn das Prosagedicht, das sehr viel weniger prosaisch klingt als das Reimgedicht des Romanzero – es stellt den Versuch dar, einer prosaischen Wirklichkeit mit poetischer Rede zu widerstehen – wird inszeniert als ein Dialog des Dichters mit seiner todkranken Seele. Auch hier also spricht einer, den die Trostlosigkeit der Welt in Melancholie verfallen ließ, aber seine Rede ist frei von jenem ironischen, wortscho¨pferischen Humor, der Heine noch in der a¨ußersten Niedergeschlagenheit zu Gebote steht. Auch Baudelaires Phantasie sucht sich einen Ort auf der Welt vorzustellen, an dem man vom Leid an dem heillosen hic et nunc genesen ko¨nnte. Die Sta¨dte, deren Bild sie entwirft, die Orte, deren Atmospha¨re sie evoziert – Lissabon, Rotterdam und Batavia – und schließlich in makabrer Steigerung „les pays qui sont les analogies de la Mort“ […]: „Torne´o“ – gemeint ist die finnische Hafenstadt Tornio am Bottnischen Meerbusen –, „l’extreˆme bout de la Baltique“ oder gar der Nordpol mit seiner ewigen Nacht, wo die betru¨bte Seele „de longs bains de te´ne`bres“18 nehmen ko¨nnte, sind nicht nach politischen Kriterien ausgewa¨hlt wie bei Heine, sondern nach Kriterien des perso¨nlichen Geschmacks. Dieser scheint sich – vorausgesetzt, das Gedicht spra¨che im Namen des Dichters selbst, was nicht ¨ bersiedlungsziele jeglichen 16 Er na¨hme den „vorherigen Reflexionen u¨ber die mo¨glichen U konkreten Realita¨tsbezug“ (Destro 1992, S. 795). 17 Vgl. Pichois 1975, S. 1348. 18 Zitate jeweils Baudelaire 1975c, S. 357.
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ohne weiteres unterstellt werden kann, denn das „Ich“ des Prosagedichts erwa¨hnt nicht, wie Heine es tut, seine dichterischen Taten oder Untaten – gewandelt zu haben seit der Weltausstellung von 1855, wo Baudelaire la varie´te´ bzw. den Sinn fu¨r, die Freude an der Vielfalt der Welt als oberstes Kriterium fu¨r den Beurteiler von Weltkunst wie Weltliteratur gefeiert hatte.19 In diesem Spa¨tgedicht nun wird die Polarregion gepriesen, weil dort „les lentes alternatives de la lumie`re et de la nuit suppriment la varie´te´ et augmentent la monotonie, cette moitie´ du ne´ant“.20 Offenbar ist Baudelaire in der Zwischenzeit das abhandengekommen, was er seinerzeit „la graˆce divine du cosmopolitisme“ genannt hatte.21 Man kann sich fragen, ob nicht die Verurteilung des Dichters, der vielleicht nichts Erschießliches, wohl aber einiges Gesetzwidrige und Strafwu¨rdige geschrieben hatte, Anteil an jenem Verlust gehabt hat. Womo¨glich deswegen gedenkt der Poet zuletzt noch der „aurores bore´ales [qui] nous enverront de temps en temps leurs gerbes roses, comme des reflets d’un feu d’artifice de l’Enfer!“22 Dies Gedenken ist der Versuch des satanischen poe`te maudit, eine Landschaft zu erfinden, die der Verfassung seiner Seele entspricht. Und spa¨testens an dieser Stelle des Prosagedichts sollte dem Leser aufgehen, dass „Any where out of the world“ kein weniger politischer Text ist als Heines „Jetzt wohin?“ Der letzte Absatz schließlich, in dem die totgeglaubte Seele sich unverhofft doch noch zu Wort meldet: „Enfin, mon aˆme fait explosion, et sagement elle me dit: „N’importe ou`, n’importe ou` ! pourvu que ce soit hors de ce monde!“,23 stellt eine Manifestation dessen dar, was Heines Gedicht ausdru¨cklich von sich weist: die pathetische Geba¨rde heroischer Melancholie. Ihre explosive Weisheit knu¨pft an die moralistische Sentenz an, mit der das Prosagedicht einsetzt, doch die Anknu¨pfung geschieht in Form eines allerletzten Wortes, das dem Schweigen vorausgeht. Die pathetische Geba¨rde dieses letzten zornigweisen Ausrufes ist die gleiche, mit dem das Gedicht „Le Voyage“ endet, das vielleicht tiefsinnigste Globalisierungsgedicht der Weltliteratur, dessen Kommentar einen gesonderten Beitrag erfordern wu¨rde, den wir auf ein andermal verschieben mu¨ssen. Nur so viel sei abschließend noch gesagt. Das Gedicht, das streckenweise als dramatischer Dialog zweier Cho¨re angelegt ist, dem Chor der Daheimgebliebenen und dem der Weitgereisten, gipfelt in einer sarkastischen Verurteilung der fortschrittstrunkenen Menschheit – „L’Humanite´ bavarde, ivre de son ge´nie“, die die Welt nach ihrem eigenen Bilde neu erschaffen und die Scho¨pfung verunstaltet hat:
19 20 21 22 23
Vgl. Baudelaire 1976, S. 578. Baudelaire 1975c, S. 357. Baudelaire 1976, S. 576. Ebd. Ebd.
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Amer savoir, celui qu’on tire du voyage! Le monde, monotone et petit, aujourd’hui, Hier, demain, toujours, nous fait voir notre image: Une oasis d’horreur dans un de´sert d’ennui!24
Wenn Walter Benjamin seinerzeit festgestellt hat, dass an Baudelaires Dichtungen noch nichts veraltet sei,25 so scheint der Umstand, dass zahlreiche Autoren auch heute noch an prominenter Stelle ihrer Werke sich auf Baudelaire berufen, ihm recht zu geben. Ein Beispiel, das unmittelbar die Dialektik des Globalen betrifft, bildet das Motto von Roberto Bolan˜os nachgelassenem Hauptwerk 2666: „Une oasis d’horreur dans un de´sert d’ennui!“26 Es entspricht zugleich dessen Kompositionsstruktur wie der Geschichtsphilosophie seines Verfassers.27
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Gesamtausgabe der Werke. Du¨sseldorfer Ausgabe. In Verbindung mit dem HeinrichHeine-Institut hg. v. Manfred Windfuhr im Auftr. der Landeshauptstadt Du¨sseldorf. Bd. 3,2: Romanzero, Gedichte. 1853 und 1854, Lyrischer Nachlaß. Apparat. Bearb. v. ¨ berlieferung und Lesarten) u. Alberto Destro (kommentierende Frauke Bartelt (U Teile). Hamburg 1992, S. 795. Flaubert, Gustave: Le second volume de Bouvard et Pe´cuchet. Documents pre´sente´s et choisis par Genevie`ve Bolle`me. Paris 1966 [1881]. Ders.: Correspondance. E´dition pre´sente´e, e´tablie et annote´ par Jean Bruneau et Yvan Leclerc. Avec la collaboration de Jean-Franc¸ois Delesalle, Jean-Benoıˆt Guinot et Joe¨lle Robert. T. 5: Janvier 1876 – mai 1880. Paris 2007, S. 841. ¨ nther, Hans: „Der italienische und der russische Futurismus“, in: Grimminger, Rolf / Gu Murasˇov, Jurij / Stu¨ckrath, Jo¨rn (Hg.): Literarische Moderne. Europa¨ische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek 1995, S. 284 – 313. Heine, Heinrich: „Jetzt wohin?“ [1851], in: Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 3,1: Romanzero, Gedichte. 1853 und 1854, Lyrischer Nachlaß. Text. 1992, S. 101 f. ¨ bersetzung von Johann Heinrich Voss. Vorwort v. Willy Homer : Odyssee. In deutscher U Pastor. Hg. v. Hans Feigl. Wien 1908. Kafka, Franz: „Das na¨chste Dorf“ [1919], in: Kafka, Franz: Sa¨mtliche Erza¨hlungen. Hg. v. Paul Raabe. Frankfurt a. M. / Hamburg 1970, S. 138. Ders.: „Eine kaiserliche Botschaft“ [1919], in: Kafka, Franz: Sa¨mtliche Erza¨hlungen, S. 138. Ders.: „Kleine Fabel“ [1931], in: Kafka, Franz: Sa¨mtliche Erza¨hlungen, S. 320. Kraus, Karl: Spru¨che und Widerspru¨che. Frankfurt a. M. 1965 [1909]. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei [1848], in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke. Hg. v. Institut fu¨r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 4: Mai 1846–Ma¨rz 1848. Berlin 61972, S. 459 – 493. Oehler, Dolf: Ein Ho¨llensturz der Alten Welt. Zur Selbsterforschung der Moderne nach dem Juni 1848. Frankfurt a. M. 1988. Ders.: „Dummheit“, in: Vinken, Barbara / Wild, Cornelia (Hg.): Arsen bis Zucker. Flaubert- Wo¨rterbuch. Berlin 2010, S. 74 – 77. Pichois, Claude: „Notes et variantes“ zu „Any where out of the world“, in: Baudelaire, Charles: Œuvres Comple`tes. T. 1, S. 1348. Verne, Jules: Le Tour du monde en quatre-vingts jours. E´d. pre´sente´e, e´tablie et annote´e par William Butcher. Paris 2009 [1873].
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„The Right Places at the Right Times“. David Mitchells Ghostwritten als Roman u¨ber die Denkbarkeit von Globalita¨t
Globalita¨t und Literatur Im Zentrum des Begriffes der Globalita¨t steht der Verweis auf eine Repra¨sentationsform: auf den Globus, ein verkleinertes Modell der Erde. Die Frage nach der Denk- und Repra¨sentierbarkeit des Globalen, des Weltumfassenden,1 klingt somit bereits in seiner Bezeichnung an. Evoziert der Begriff zwar einerseits eine konkrete „Bildvorstellung unseres Planeten“2 – die Weltkugel –, so ist er andererseits durch einen akuten Mangel an Anschaulichkeit gekennzeichnet: Das singula¨re Bild der Kugel wird den komplexen weltweiten Vernetzungen und Abha¨ngigkeiten, die sich potentiell hinter dem Begriff des Globalen – und umso mehr hinter dem der Globalisierung – verbergen, kaum gerecht. Globale Prozesse und Pha¨nomene u¨berschreiten die Grenzen abgeschlossener und u¨berschaubarer Ra¨ume, sie stellen Verbindungen her zwischen dem Lokalen und dem weit Entfernten; sie erzeugen eine „intersection of presence and absence“.3 Ihre Erfassung basiert damit nicht zuletzt auf einer „globale[n] Imagination“4 – dem Vorstellungsvermo¨gen, das das Abwesende zuga¨nglich und denkbar macht. Insbesondere fiktionale Literatur, das „exemplarische Terrain der Imagination“,5 erscheint daher als geeignet fu¨r Darstellungen und Reflexionen heutiger ‚Welt‘-Erfahrung. Als „aktive[s] Medium der Generierung bzw. Produktion von Welten, Weltbildern, Werten und Wissen“6 – kurz: als „Weltbild-Generator“7 – kann fiktionale Literatur die globalisierte zeitgeno¨ssische Wirklichkeit nicht nur zu ihrem Thema machen, sondern daru¨ber hinaus selbstreflexiv die Bedingungen und Voraussetzungen der Konstruktion und Imagination von ‚Welt‘ und 1 2 3 4 5 6 7
Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/global [20. 01. 2012]. Honold 2012, S. 1. Giddens 1991, S. 21. Appadurai 1998, S. 23. Ebd., S. 28. Nu¨nning 2009, S. 69. Fliedl 2005, S. 142.
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‚Globalita¨t‘ befragen. Das eigene Welterzeugungspotential8 ermo¨glicht es literarischen Texten, performativ vor Augen zu fu¨hren, dass es sich bei Globalisierungsprozessen nicht lediglich um a¨ußere materielle Entwicklungen der weltweiten kulturellen und o¨konomischen Vernetzung handelt, sondern dass Globalisierung zu wesentlichen Teilen auch auf kognitiven Modellen und Konstruktionsleistungen beruht, die es erst ermo¨glichen, die Welt als Ganzes zu konzeptualisieren. Ein Text, der einerseits Globalisierungsprozesse zu seinem Thema macht, andererseits die Denk- und Vorstellbarkeit von Globalita¨t reflektiert, ist der Roman Ghostwritten. A Novel in Nine Parts (1999) des britischen Autors David Mitchell. Seine neun Episoden vollziehen eine Umrundung des Globus in westlicher Richtung. Nicht allein seine Schaupla¨tze machen den Text jedoch zu einem globalen Roman: Er thematisiert und reflektiert das Welterzeugungspotential der Literatur und setzt es in Beziehung zu den Bedingungen des Denkens von Globalita¨t.
Global vernetzte Episoden Zieht man Verbindungslinien zwischen den einzelnen Stationen von Jules Vernes Le Tour du monde en quatre-vingts jours (1873) und Mitchells Ghostwritten, so ergibt sich zuna¨chst ein ganz a¨hnliches Bild: die umrundete Erde. Anders als in Vernes Roman sind es in Ghostwritten jedoch nicht die Protagonisten, die eine ‚Reise um die Welt‘ unternehmen. Mitchells Text beschreibt keine tatsa¨chliche Reiseroute, sondern die in ihm aufgerufenen Orte bilden jeweils den Hintergrund fu¨r unabha¨ngig voneinander lesbare Geschichten einzelner, miteinander nicht oder nur flu¨chtig bekannter Figuren: Nichts scheint die Flucht eines Terroristen, der nach einem Gasanschlag in der Tokioter U-Bahn auf der Insel Okinawa untertaucht (Kap. 1), mit einem britischen Ghostwriter zu verbinden, der in London die Biographie eines Juden ungarischer Herkunft verfasst (Kap. 7). Die in die Planung eines Kunstraubs involvierte Museumsaufseherin in der St. Petersburger Eremitage (Kap. 6) steht in keiner augenscheinlichen Beziehung zu der Liebesgeschichte eines japanischen Jugendlichen und eines in Hong-Kong lebenden Ma¨dchens (Kap. 2). Was dieses junge Paar wiederum mit einer irischen Quantenphysikerin (Kap. 8) gemeinsam hat, oder was ein New Yorker Radioreporter (Kap. 9) mit einer alten Frau in Zusammenhang bringt, die ihre Tee-Stube am Fuße des ‚Holy Mountain‘, dem Mount Emei in China, ihr Leben lang nicht verlassen hat (Kap. 4), bleibt auf den ersten Blick ebenso unklar, 8 Zu den symbolischen Formen und Verfahren – den ‚Weisen der Welterzeugung‘ – der Literatur vgl. Goodman 1992 und Nu¨nning 2009.
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wie die Verbindung zwischen einer ko¨rperlosen Entita¨t, einem „noncorpum“ [sic],9 das auf der Suche nach seinem Ursprung durch die mongolische Steppe reist (Kap. 5), und einem Anwalt britischer Herkunft, der in Hong Kong arbeitet und wegen einer Geldwa¨sche-Affa¨re in Schwierigkeiten gera¨t (Kap. 3). Bei genauer Lektu¨re erschließen sich jedoch mehr und mehr zum Teil offen zutage liegende, zum Teil verschlu¨sselte und schwer zu entdeckende Verbindungen zwischen den einzelnen Geschichten. Neben wiederkehrenden Motiven und sprachlichen Wiederholungsfiguren ero¨ffnet sich dem Leser auf der inhaltlichen Ebene u¨ber Andeutungen und Verweise nach und nach ein dichtes Netz globaler Bezugs- und „Kontaktkette[n]“:10 Ein fehlgeleiteter Anruf des Terroristen auf Okinawa landet bei dem verliebten Japaner in Tokio. Der britische Anwalt verwaltet das Konto, das der Anfu¨hrer der russischen Gruppe von Kunstdieben eingerichtet hat. Er stirbt an einem Zuckerschock, wa¨hrend er den ‚Holy Mountain‘ besteigt. Der Londoner Ghostwriter beginnt eine Affa¨re mit der Ex-Frau des Anwalts. Sein Verleger publiziert das Buch des Anfu¨hrers der Sekte, dem der Terrorist des ersten Kapitels angeho¨rt – um nur einige wenige der Aspekte aus dem „complex system of plot overlaps and narrative echoes“11 zu nennen. Handlungsstra¨nge u¨berkreuzen sich oder laufen parallel, Figuren sind mal Haupt-, mal auf den zweiten Blick erkennbare Nebenakteure, sie werden – die Erza¨hlperspektive wechselt von Episode zu Episode – mal in Innen-, mal in Außensicht pra¨sentiert. Der Roman entwirft – wie fu¨r episodisches Erza¨hlen durchaus charakteristisch – Zusammenha¨nge zwischen dem scheinbar Unzusammenha¨ngenden.12 Von dem ‚Prototypen‘ des Episodenromans – Winesburg, Ohio (1919) von Sherwood Anderson – und beispielsweise auch von dem erst ku¨rzlich breit rezipierten deutschen Episodenroman Simple Storys: Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (1998) von Ingo Schulze unterscheidet sich Ghostwritten dabei an einem entscheidenden Punkt: Sind es bei den beiden genannten Texten, wie schon in den jeweiligen Titeln angedeutet, u¨berschaubare Ra¨ume, innerhalb derer sich ein dichtes Beziehungssystem zwischen den Protagonisten der einzelnen Episoden entwickelt, so ist es in Ghostwritten der globale Raum, die ‚Welt als Ganzes‘, die den Bezugsrahmen bildet. Mit der Suspendierung geschlossener Erza¨hl- und Ereignis-Ra¨ume – laut Beck eines der Kennzeichen eines globalen Bewusstseins13 – veranschaulicht der Text narrativ, was Giddens als ‚Globali9 Mitchell 2000, S. 172 [Hervorhebung im Original]. „One writer in Buenos Aires even suggested a name for what I am: noncorpum, [sic] and noncorpa, [sic] if ever day dawns when singular becomes plural.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original.) 10 Lovenberg 2004, S. L7. 11 Hagen 2009, S. 84. 12 Vgl. den Beitrag von Claudia Schmitt im vorliegenden Band. 13 Vgl. Beck 1997, S. 27 f.
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sierung‘ beschreibt: „the intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occuring many miles away and vice versa“.14 Der u. a. von Robertson gepra¨gte Begriff der „Glokalita¨t“15 bezeichnet treffend Thema und Struktur des Textes: Seine einzelnen Episoden entwerfen individuelle Personen und deren Weltbilder, unverwechselbare Orte, je spezifische kulturelle Gewohnheiten, Denkweisen und Praktiken. Diese lokalen und konkreten ‚Geschichten‘ stehen durch die Nachzeichnung translokaler Kausalketten in einem globalen Kontext. Der Text inszeniert die Untrennbarkeit von konkreter Lokalita¨t und umfassender Globalita¨t, die Beeinflussung lokalen Geschehens durch seine Einbettung in verschiedene translokale Austausch- und Kommunikationsprozesse und veranschaulicht damit umgekehrt den Prozess der Globalisierung als eine „Verknu¨pfung von Lokalita¨ten.“16 Sowohl Ereignisse auf der ‚Makroebene‘ – Krieg und Migration, globaler Handel und Kommunikation, Terrorismus und internationale Kriminalita¨t –, als auch Geschehnisse auf der ‚Mikroebene‘ individueller Handlungen verfolgt der Text in ihren konkreten Auswirkungen auf Ereignisse „whole segments of the globe away“.17 Damit beantwortet er anschaulich seine leitmotivische Frage „Why do things happen the way they do?“:18 Anstelle einer u¨bergreifenden weltanschaulichen Erkla¨rung, nach der die Protagonisten des Textes immer wieder verlangen,19 liefert Ghostwritten als Antwort konkrete globale Kausalrelationen. Mitchells Text beschreibt die – zum Teil existentiellen – Auswirkungen scheinbar nebensa¨chlicher Geschehnisse trotz großer ra¨umlicher Distanzen: Nur weil der britische Anwalt seiner Ex-Frau einen Stuhl aus Hong Kong nach London sendet, der eintrifft, wa¨hrend der Ghostwriter des London-Kapitels bei ihr zu Besuch ist, wirft sie diesen nach einer gemeinsamen Nacht aus ihrer Wohnung, so dass er ‚zur richtigen Zeit am richtigen Ort‘ ist, um der irischen Quantenphysikerin das Leben zu retten. Dies wiederum ermo¨glicht der Physikerin die Entwicklung einer ku¨nstlichen Intelligenz, in deren Ha¨nden spa¨ter das Schicksal der gesamten Menschheit liegen wird. Mit seiner Hyperlink-Struktur20 – alles Be14 15 16 17 18 19 20
Giddens 1994, S. 64. Vgl. Robertson 1998, S. 192 – 220. Ebd., S. 208. Mitchell 2000, S. 360. Ebd., u. a. S. 61 und 231. Vgl. ebd., z. B. S. 105, 107, 138, 191, 272, 292, 360, 369 und 377. Vgl. Barnard 2009, S. 209. Tatsa¨chlich erinnert die Struktur der Verweise u¨ber große ra¨umliche Distanzen hinweg in andere Zusammenha¨nge an die Hyperlink-Struktur des Internets – eines Mediums, das charakterisiert ist durch fehlende „limitations of space: there are no borders for circulation“ (Bucher 2002, unpaginiert) und das sich daher als ein in hohem Maße globales Medium beschreiben la¨sst: Kennzeichnend fu¨r die Internet-Medialita¨t ist eine „dimension of disembedding constitut[ing] the globalisation of the medium“ (ebd.).
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schriebene wird als Folge vorhergehender und als Auslo¨ser kommender Geschehnisse perspektiviert, verweist damit ununterbrochen in andere (Erza¨hl-) Zusammenha¨nge – entwirft sich der Text als bloßen Ausschnitt aus einer potentiell endlosen Kette von Kausalita¨tslinien, deren „loose […] ends“21 ra¨umlich und zeitlich ins Infinite weiterzudenken sind. Der Leser fu¨llt nicht nur textuelle Leerstellen, sondern erschließt in seinem kombinatorischen Weiterdenken und Aufspu¨ren der ‚Links‘ zwischen den Geschichten globale Interaktionsketten; er kartiert das Geschehen imaginativ innerhalb einer vorgestellten globalen Welt.22 Auf diese Weise macht der Text das nur abstrakt denkbare ‚Globale‘ figu¨rlich fassbar, setzt seine Protagonisten und Leser in Relation zu lediglich mittelbar erfahrbaren und dennoch allgegenwa¨rtigen globalen Vernetzungsstrukturen: Bei Mitchell werden die von Appadurai beschriebenen „global flows“23 konkrete Prozesse, denen der Text auf ihrem ‚Weg durch die Welt‘ folgt, wobei er nationalstaatliche und kulturelle Grenzen u¨berschreitet. Wurde die „Erdkugel“24 in der Literatur des 19. Jahrhundert vor allem reisend erfahren und daher in erster Linie zum Gegenstand der Reiseliteratur,25 so tritt bei Mitchell an die Stelle der Erdumrundung oder ‚Welt‘-Reise eines – in der Regel europa¨ischen – Reisenden mit klar definiertem Ausgangs- und Endpunkt ein multiperspektivisches Netz miteinander verwobener u¨ber den Globus verteilter Geschichten. Ghostwritten ersetzt die traditionelle (mehr oder weniger lineare) Reise- und Erza¨hlbewegung der Weltreise durch die Multiplizita¨t und Simultanita¨t26 diverser interdependenter Handlungsstra¨nge:27 Mitchells litera21 Mitchell 2000, S. 237. 22 Das Weiterdenken u¨ber die Grenzen des Erza¨hlten hinaus thematisiert Mitchell selbst in einem Interview: „[The stories] bang through the walls of each other’s worlds occasionally. […] There is one action in each of the stories that makes the succeeding story possible. That links the stories. It gives the reader the sense of there being a macro plot between the covers, over and above the micro plot between the beginnings and endings of the chapters.“ (Zit. nach: Dillon 2011, S. 146.) Der Eindruck der Existenz eines ‚Makroplots‘, einer Welt ‚hinter‘ dem Erza¨hlten, wird weiter potenziert durch das Wiederauftauchen derselben Charaktere in verschiedenen Texten Mitchells: „I’m bringing into being a fictional universe with its own cast, […] each of my books is one chapter in a sort of sprawling macronovel.“ (Mason 2010, S. MM22.) Als Modell fu¨r den Entwurf seines fiktionalen Universums nennt Mitchell die Gattung der ‚short story‘: „Short Stories have a background with noise that creates the illusion that the world is much bigger than the mere 10 or 15 pages, and I wanted to see if I could sync up the white noise of the background of short stories.“ (Birnbaum 2010, unpaginiert.) 23 Appadurai 1992, S. 301. 24 Honold 2010, S. 6. 25 Vgl. ebd., S. 3 und 6. 26 Vgl. die Beschreibung der Zeitstruktur des Romans als „planetary con-temporality and dynamic synchronicity where people and places are inextricably linked regardless of distance.“ (Childs / Green 2011, S. 27.) 27 Dillon beobachtet einen hiermit u¨bereinstimmenden Trend in der zeitgeno¨ssischen Litera-
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rischer Entwurf der globalisierten Welt wird charakterisiert durch einen Plural von Geschichten.
Globalisierung als ‚convergence of narratives‘ Mit seinem Entwurf von Globalita¨t als endlos fortsetzbare, immer wieder neu und um-erza¨hlbare28 Collage von ‚stories‘, innerhalb derer die schwer vorstellbare Dimension global-temporaler Verknu¨pfungen, die unser Leben bestimmen, zumindest ausschnittweise und modellhaft zuga¨nglich werden, markiert der Text zugleich eine Ablo¨sung der ‚grands re´cits‘ der Moderne durch episodenhafte und individuelle ‚petits re´cits‘.29 An die Stelle kollektiv-weltdeutender und u¨bergreifend sinnstiftender Meta-Erza¨hlungen treten hier Mikro-Narrationen, die eine ‚Erkla¨rung der Welt‘ im Konkreten suchen, und die vom Text als potentiell endlos markiert werden: Jede Geschichte entha¨lt tatsa¨chlich im Roman entwickelte und unausgefu¨hrt bleibende Anschlussstellen fu¨r weitere Geschichten. Die Funktionsmechanismen der globalisierten Welt werden dabei durch den Roman nicht abstrakt ‚erkla¨rt‘, vielmehr werden die globalen Kausalita¨ts- und Abha¨ngigkeitsverha¨ltnisse, auf denen die zeitgeno¨ssische Wirklichkeit beruht, anhand von Beispielen narrativ entfaltet. Damit erscheint es zunehmend unmo¨glich, den ‚Ursprung‘ einer Geschichte ausfindig zu machen oder sie tatsa¨chlich ‚zu Ende‘ zu erza¨hlen: „to look for the source of a story is to look for a needle in the sea“,30 konstatiert und veranschaulicht der Text. Connells These von ‚globalisation as narration of convergence‘31 mu¨sste – folgt man
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tur : „Traditional linear narratives are now being replaced by complex systems that more accurately represent our experiences of the contemporary world“ (Dillon 2011, S. 157). Ein Autor, der den Schritt von der Beschreibung der Welt aus der Perspektive des individuellen Reisenden hin zur Multiperspektivita¨t miteinander verwobener Geschichten in zwei Texten seines Werkes thematisiert hat, ist Daniel Kehlmann: Steht in seinem Roman Die Vermessung der Welt (2005) der Welt-Reisende Alexander von Humboldt im Mittelpunkt, so besteht der spa¨tere Roman Ruhm (2009), der – nebenbei bemerkt – beginnend bereits beim Untertitel ¨ hnlichkeiten zu Mitchells Ghostwritten aufweist, aus einzelnen Episoden, die die große A Verbindungen scheinbar unzusammenha¨ngender individueller Geschichten aufdecken. Die hier angedeutete textinha¨rente Dynamik – mit jeder neuentdeckten Verknu¨pfung erscheinen die entsprechenden Episoden in neuem Licht und Kontext – kommt auch in Schoenes Definition der ‚cosmopolitan narration‘ zum Ausdruck: „Cosmopolitan narration assembles as many as possible of the countless segments of the global living into a momentarily composite picture of the world – quite like a child’s kaleidoscope held still only for a second before collapsing into new […] constellations.“ (Schoene 2010, S. 48.) Vgl. ebd., S. 49 und Griffiths 2004, S. 81 f. Mitchell 2000, S. 197. Vgl. Connell 2004, S. 82 und 86. Selbstversta¨ndlich handelt es sich bei meiner Umformulierung der These um ein bewusstes ‚Missverstehen‘ von Connells Untersuchung von Globalisierung als Diskurspha¨nomen. Connell versteht Globalisierung als „narrative structure“
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Mitchells Text – leicht umgestellt werden und mit einem Plural operieren: Globalisierung als eine Vielfalt interdependenter Erza¨hlungen, also: ‚globalisation als convergence of narratives‘. Das literarische Prinzip erza¨hlter ‚Geschichten‘, so veranschaulicht der Text, bietet sich als Orientierungs- und Darstellungsmo¨glichkeit innerhalb des unu¨berschaubaren ‚Ganzen‘ der Welt, innerhalb der Komplexita¨t globaler Vernetzung an. ‚Welt‘ entwirft der Roman – einerseits durch seine Struktur, andererseits auch explizit – als narratives Produkt menschlichen Bewusstseins: „The human world is made of stories“.32 Geschichten und narrative Prozesse ko¨nnen, so legt er nahe, die Welt repra¨sentieren, ordnen und deuten, bestimmte Relevanzen formulieren, das Abwesende vorstellbar machen33 – nicht aber ein u¨bergeordnetes Erkla¨rungsmodell liefern. Ghostwritten thematisiert damit Mo¨glichkeiten und Grenzen der Narration. Literatur, das Medium von Geschichten, figuriert im Text folgerichtig als Bereich, innerhalb dessen sich die „unwißbare[n] Realita¨ten“34 der Welt fassen – und zugleich eben doch nicht fassen lassen, wie der folgende Dialog u¨ber Tolstois Krieg und Frieden veranschaulicht: ‚How’s War and Peace? […]‘ ‚Long.‘ ‚What’s it about?‘ ‚Why things happen the way they do.‘ ‚And why do things happen the way they do?‘ ‚I don’t know, yet. It’s very long.‘35
Literatur liefert das Modell fu¨r den menschlichen Weltdeutungsprozess: „Does chance or fate control our lives?“, fragt eine der Figuren und antwortet selbst: „The answer is as relative as time. If you’re in your life, chance. Viewed from outside, like a book you’re reading, it’s fate all the way.“36 Mitchells Protago-
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(ebd., S. 83): „globalization can be defined as the discourses of convergence within contemporary organizational structures.“ (Ebd., S. 82.) Mitchell 2000, S. 386. Eine weitere wichtige Funktion, die der Roman Geschichten zuschreibt, ist die Formulierung von individueller Identita¨t. Nicht zufa¨llig ist das einzige Indiz, auf das das ‚noncorpum‘ [sic] bei der Suche nach seiner Identita¨t zuru¨ckgreifen kann, eine Geschichte „about the fate of the world…“ (ebd., S. 164; Hervorhebung im Original). Der Ursprung dieser Geschichte kann, so hofft die ko¨rperlose Entita¨t, Klarheit verschaffen u¨ber den eigenen Ursprung. Wohlleben 2005, S. 222. Wohlleben konstatiert an dieser Stelle, dass sich „Organisation, Ursache und Wirkung, Anfang und Ende“ des „wirkliche[n] Leben[s]“ zwar als menschliche „Grundbefindlichkeiten“ ausmachen lassen, dass es sich bei diesen Kategorien jedoch letztendlich um „unwißbare Realita¨ten“ handelt. Mitchell 2000, S. 156 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 292.
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nisten sind Ghostwriter ihrer eigenen Erinnerung, ihres Lebens und ihrer Welt.37 Das Versta¨ndnis und die Imagination der Welt mittels des Modells ‚Geschichte‘ wird damit nicht nur in seinem ‚Welterfassungspotenzial‘, sondern auch in seiner Konstruktivita¨t und Arbitra¨rita¨t markiert: „human consciousness collapses one lucky universe into being from all the possible ones“,38 heißt es im Text. Durch die wechselnden Fokalisierungen der einzelnen Episoden wandert der Text durch diese ‚Universen‘, durch die verschiedenen Welt-Bilder und -Erza¨hlungen seiner Figuren. Seine geographischen Schauplatzwechsel gehen einher mit unterschiedlichen kognitiven Modellen des Globalen, unterschiedlichen „mental landscape[s]“.39 Der sta¨rkste Kontrast besteht wohl zwischen der Weltvorstellung einer Chinesin, die ihr ganzes Leben an einem Ort verbracht hat, und der einer Quantenphysikerin, die ein Satellitensystem entwirft, das als ‚EyeSat‘ weltweite Bewegungen aufzeichnen und Waffeneinsa¨tze koordinieren soll. Beide konfigurieren ga¨nzlich unterschiedliche Modelle von ‚Welt‘: Wa¨hrend fu¨r Mitchells Chinesin die Welt weitgehend identisch ist mit ihrer unmittelbaren Umgebung, versteht die Physikerin die sie umgebene Welt unmittelbarer Erfahrung lediglich als eine Dimension eines allenfalls – und auch dies nur unzula¨nglich – gedanklich-modellhaft zu umfassenden Raumes: „learn to do inside your head what you can’t do outside“40 – diese Aufforderung beschreibt ihre Strategie im Umgang mit der nur vermittelt oder sequentiell erfahrbaren globalen Dimension der Welt.
37 Vgl. ebd., S. 181, 295. 38 Ebd., S. 356. Zur hier in literarischer Form konstatierten „‚Narrativita¨t unseres Geistes‘“ (Menninghaus 2011, S. 237) vgl. auch z. B. Bruner 1991, S. 1 – 21. Vgl. außerdem Menninghaus 2011, S. 237: „Die kanonische Form imaginativer Erinnerung, Erfahrung und Fiktion ist die Erza¨hlung. […] Elementare menschliche Kognitionsmuster scheinen ebenso narrativ zu sein wie die Muster unserer Selbstrepra¨sentation und Selbstvergewisserung. Ku¨nstlerische Elaborierungen lebensweltlicher Erza¨hlmuster sind deshalb von potenziell großer Bedeutung fu¨r das kognitive und affektive Leben unseres narrativen Geistes.“ [Hervorhebung im Original.] 39 Mitchell 2000, S. 166. Vgl. Griffiths u¨ber Ghostwritten: der Roman wende sich ab von „linear chronology and the truth-value of historical representation and has thus replaced absolutism with the pluralism of focalisation.“ (Griffiths 2004, S. 80.) 40 Mitchell 2000, S. 341.
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Kognitive Welt-Konstruktionen: Denk-Figuren der exzentrischen Positionalita¨t Die auf der inhaltlichen Ebene entworfenen Vernetzungen erga¨nzt der Roman durch sprachliche Wiederholungsfiguren und Leitmotive, die die Kapitel auch auf einer nicht-semantischen Ebene miteinander verbinden: Auch sprachlich gibt es keine Abgeschlossenheit – lesend bewegt man sich in einem permanenten Spiel der Bezu¨ge und Verweise, wenn Motive, Stichworte oder ganze Sa¨tze durch den Text ‚spuken‘.41 Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die Vernetzungsleistung, die der Leser imaginativ leistet. Besonders deutlich wird dies im abschließenden zehnten Kapitel: Den neun Einzel-Geschichten folgt eine synthetisierende Wiederaufnahme des ersten Kapitels, die Stichworte und Elemente aller vorhergehenden Episoden erneut – jedoch innerhalb eines neuen Kontextes und vermittelt durch die Wahrnehmung einer Romanfigur – aufruft. Zeitlich ist dieser letzte Abschnitt vor Beginn des ersten Kapitels einzuordnen – er beschreibt die Momente unmittelbar vor dem Anschlag in der U-Bahn, wa¨hrend das erste Kapitel mit der Flucht des verantwortlichen Terroristen einsetzt.42 Der Blick des Protagonisten durch einen Waggon der Tokioter „Underground“43 auf Fahrga¨ste, Utensilien und Werbeplakate wird zum Medium der globalen Imagination des Lesers: Er versammelt unkommentierte ‚trigger‘, die auf den vom Roman entworfenen globalen Raum verweisen und ihn auf einer assoziativen Ebene auf nur wenigen Seiten imaginativ wiedererstehen lassen. Mithilfe einzelner Stichworte wird der Globus auf engstem Textraum erneut umrundet: Der Blick auf eine Whiskey-Werbung fu¨hrt zuru¨ck in die Irland-Episode, die Anzeige einer Radiosendung nach New York, mit dem Satz „I see grasslands rise and fall“44 ist der Leser wieder in der Mongolei, ein Werbeflyer fu¨r die Kunstscha¨tze St. Petersburgs fu¨hrt ihn in die KrimiEpisode rund um die Kunstdiebe und damit in die russische Stadt: „Absent
41 Vgl. hierfu¨r z. B. Childs / Green 2011, S. 32. 42 Der vorletzte Satz des Roman ist fast identisch mit seinem ersten: Der Text wird lesbar als endloser ‚Loop‘. Auch hier findet sich also der Verweis ins Infinite, verbunden mit der Aufforderung, den Roman noch einmal von vorn zu beginnen, ihn mit dem Wissen u¨ber den Zusammenhang der Episoden noch einmal neu und anders zu lesen und immer neue Verbindungen zwischen den einzelnen Textteilen zu entdecken. 43 So der Titel dieses zehnten Kapitels (Mitchell 2000, S. 431). Die letzten beiden Kapitel haben nicht mehr wie die vorherigen Ortsbezeichnungen als Titel, sondern Verkehrsmittel und betonen so die dynamische Weltumrundung – wobei das Kapitel „Night-Train“ (ebd., S. 381) zugleich auf deren medialen Charakter verweist: Nicht ein Nachtzug, sondern eine gleichnamige Radiosendung ist sein delokalisierter ‚Schauplatz‘. 44 Mitchell 2000, S. 434; vgl.: „The grasslands rose and fell past the train.“ (Ebd., S. 155.)
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narrative segments are made ‚present‘ by activating them in a single paragraph embedded in the ‚here and now‘ of a given narrative segment“.45 Der Text fu¨hrt sein Welterzeugungspotential – seine „powerful world-creative capabilities“46 – performativ vor: Die ‚Text-Welt‘, so zeigt sich, ist u¨ber unverbundene Stichworte und Andeutungen jederzeit abrufbar. Damit lenkt der Text die Aufmerksamkeit auf die Fa¨higkeit des Lesers, eine ‚Welt‘ als Hintergrund des Textes zu denken, bzw. seine Unfa¨higkeit, dies nicht zu tun.47 Kognitiv erfa¨hrt der Leser das Benannte in einer ‚embeddedness‘, die das Nicht-Pra¨sente mitdenkt und erga¨nzt. Mit der Beschreibung der ‚Welt‘-Konstruktionen seiner Protagonisten und der Sensibilisierung des Lesers fu¨r seine eigene globale Raum-Kreation wa¨hrend des Lesens macht Mitchell die kognitive Dimension von Globalita¨t zu seinem Gegenstand. Er nutzt und thematisiert Literatur explizit als ‚exzentrisches Medium‘ – und zwar anhand eines Gegenstands, eben Globalita¨t –, der selbst nur ‚exzentrisch‘ zu denken ist.48 Der Text verknu¨pft die Ausstellung des Welter45 Griffiths 2004, S. 94. 46 Schoene 2010, S. 49. 47 Vgl. u. a.: „When we read, we actively infer a text world ‚behind‘ the text.“ (Semino 1997, S. 1.) Ryan geht davon aus, dass diese Textwelt-Konstruktion nach dem „principle of minimal departure“ (Ryan 1991, S. 51) funktioniert: Bei Ausbleiben anderer Signale gehen wir davon aus, dass die Textwelt weitestgehend mit unserer Vorstellung der „actual world“ (ebd.) u¨bereinstimmt. Auch Herman betont die Notwendigkeit einer – auch ra¨umlichen – ‚Weltkonstruktion‘ fu¨r das Versta¨ndnis von Narrationen: „Other distinctive processes supporting narrative comprehension include those required to spatialize storyworlds; at issue is the use of linguistic or more broadly semiotic cues to map the trajectories (or network of trajectories) emerging over time as entities and individuals trace paths through the narrated world. Again, different types of narrative prompt different modes of spatialization.“ (Herman 2002, S. 22.) 48 Fu¨r Plessner ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, seine spezifische Positionalita¨t, die er als „Exzentrizita¨t“ (Plessner 1981, S. 364; Hervorhebung im Original) beschreibt. Wie das Tier ist der Mensch zentralistisch organisiert: er hat eine positionale Mitte, einen Ko¨rper, durch den er „im Hier-Jetzt gebunden“ (ebd., S. 363) ist. Zugleich tritt der Mensch jedoch zu seiner positionalen Mitte in eine reflexive Distanz, sie ist ihm bewusst – bzw. in Plessners Terminologie: ‚gegeben‘. Damit ist er „gebunden im Ko¨rper, gebunden in der Seele und zugleich nirgends, ortlos außer aller Bindung in Raum und Zeit“ (ebd.). Der Mensch ist bestimmt durch diesen „Doppelaspekt“ seiner Existenz, immer wieder erfa¨hrt er „den Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes“ (ebd., S. 369), ihn charakterisiert seine ‚Absta¨ndigkeit‘ zu sich selbst: „Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu ko¨nnen, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.“ (Ebd., S. 364.) Der exzentrischen Positionalita¨t ist eine Ort- und Zeitlosigkeit eigen, in der sich die durch den Ko¨rper nach wie vor gegebene Bindung an das „Hier-Jetzt“ relativiert und durch ein „Außersichsein“ (ebd., S. 365), ein Sein im „Nichts“ und „Nirgendwo-Nirgendwann“ (ebd.) erga¨nzt. Der Mensch ist also gekennzeichnet durch seine „Positionalita¨t des im Hier-Jetzt Stehens (und gleichzeitigen Exzentrizita¨t der Distanz zu dieser Position)“ (ebd., S. 369). Sprache, das ‚als ob‘ des Spiels und auch Literatur basieren auf dieser „exzentrischen Position suspendierter Realita¨t“
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zeugungspotenzials der Literatur mit einer Reflexion u¨ber die ‚Denkbarkeit‘ und das Bewusstsein von Globalita¨t. Er veranschaulicht damit eine kognitive Dimension des Globalen, die auch in der soziologischen Globalisierungstheorie – und bereits zuvor in der Nationalismus-Theorie, beispielsweise von Anderson49 – als ein entscheidender Faktor aller ra¨umlich distanzierten Vernetzungs-, Austausch- und Kommunikationsprozesse verstanden wird. Die meisten Definitionen von ‚Globalisierung‘ fassen diese nicht nur als Fu¨lle verschiedener realgeschichtlicher und materieller Pha¨nomene auf, sondern beschreiben sie zugleich als ein spezifisches ‚Bewusstsein‘ der Welt. „Globalization“ bezeichnet laut Robertson nicht nur eine real stattfindende „compression of the world“, sondern zugleich „the intensification of consciousness of the world as a whole.“50 Als „flexible[s], in unabla¨ssiger Transformation begriffenes Raumbewußtsein“51 und kognitives „Ordnungsmuster“52 ist Globalisierung immer auch als Kategorie des Denkens und der Vorstellung pra¨sent. Beide Dimensionen des Globalen – die materielle und die kognitiv-imaginative – sind untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig.53 Erst die Fa¨higkeit des Menschen, sich andere Welten als die seiner unmittelbaren Erfahrung vorzustellen – seine ‚Absta¨ndigkeit‘ zu sich selbst – machen Globalita¨t als simultanes und weltweites Nebeneinander miteinander verknu¨pfter Orte denkbar. Mit den – ra¨umlichen – Begriffen von Plessners anthropologischer Bestimmung des Menschen formuliert: Erst der Standpunkt exzentrischer Positionalita¨t macht Globalita¨t zu einer geistig fassbaren kognitiven Kategorie.54 Der Roman Ghostwritten bringt die „constructive activities that support fiction“55 mit der Thematik der Denk- und Vorstellbarkeit des Globalen in Verbindung: Fu¨r die von Plessner konstatierte Mo¨glichkeit des Menschen, gleichsam aus sich herauszutreten in die Ortlosigkeit einer exzentrischen Position, sein spezifisches Hier-und-Jetzt zugleich einzunehmen und nicht ein-
49 50 51 52 53
54 55
(Menninghaus 2011, S. 204). Erst durch den „ontologische[n] Riss in der einen Realita¨t“ (ebd.; Hervorhebung im Original) wird das Benennen, Denken und Imaginieren des Nicht¨ berschreitung der physischen Gebundenheit ans ‚Hier Gegenwa¨rtigen, die gedankliche U und Jetzt‘ mo¨glich. Vgl. auch Fußnote 60. Anderson 2006. Robertson 1992, S. 8. Schmitz-Emans 2000, S. 285. Vgl. auch Beck 1997, S. 44 – 47. Schmitz-Emans 2000, S. 285. „Global flows“, Austauschprozesse von Technologie, Geld, Menschen, Objekten, aber auch von Ideen und Repra¨sentationen – „mediascapes“ und „ideoscapes“ – sind laut Appadurai eine zentrale Quelle individueller und kollektiver Imaginationsbildung und konstruktiven Weltverstehens, die zugleich auf die verschiedenen materiellen Globalisierungsprozesse zuru¨ckwirkt (Appadurai 1992, S. 296). Vgl. Fußnote 47. Oatley 1999, S. 106.
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zunehmen,56 findet der Roman ein anschauliches Bild: die Figur eines Geistes, der von Ko¨rper zu Ko¨rper migriert. Im zentralen Kapitel seines Romans beschreibt Mitchell die Wanderung dieses ‚noncorpums‘ [sic], das nach und nach durch verschiedene „hosts“57 wandert und mit ihnen durch die Welt reist. In diesem Bild fasst der Roman zugleich die Bewegung seines Lesers, dem sich mithilfe des fiktionalen Textes die Multiperspektivita¨t verschiedener mentaler Landschaften und geographischer Orte ero¨ffnet. Eine weitere erfundene Entita¨t ¨ bersteht fu¨r die ebenfalls nicht real erfahrbare Perspektive eines globalen U blicks, die der Roman in seiner Hyperlink-Struktur jedoch zumindest in Ansa¨tzen evoziert: Im vorletzten Kapitel kommt der „zookeeper“58 zu Wort, ein personifiziertes Satellitensystem, dem sich die Erde als Ganzes in ihrer Simultaneita¨t erschließt. In der Fiktion la¨sst sich die durch die physische Verortung im ¨ berschreitung der zentrischen Positionierung ‚Hier und Jetzt‘ nicht mo¨gliche U zumindest fiktional entwerfen. Der Satellit, das SatEye, in dem laut Harvey die „time-space compression“59 der Globalisierung kulminiert,60 wird als personifizierte Denk-Figur in den Roman integriert; er verko¨rpert die menschliche Fa¨higkeit der exzentrischen Imagination. Damit wird Sprache und Literatur hier ausdru¨cklich in der „Lockerung ihres Bezugs auf reale, pra¨sentisch gegebene Objekte und Situationen“61 und so als Medium des Hinaus-Denkens u¨ber die physisch vermittelte unmittelbare und zentrische Welterfahrung eingesetzt.62 Der Text macht bewusst, dass Literatur wesentlich auf der kognitiven Fa¨higkeit basiert, die Grenzen des aktuellen Raumes und der aktuellen Zeit, die eigene physisch gebundene Perspektive auf die Welt imaginativ zu u¨berschreiten. Literarische Narrationen kombinieren 56 57 58 59 60 61 62
Vgl. Fußnote 47. Mitchell 2000, S. 165. Ebd., S. 386. Harvey 1989, S. 240. Vgl. ebd., S. 293. Menninghaus 2011, S. 245. „Menschliche Sprache macht mittels der symbolgestu¨tzten Entmachtung der pra¨sentischen Szene der Erfahrung nicht nur das ganze Spektrum vergangener, gegenwa¨rtiger und zuku¨nftiger Vorga¨nge adressierbar. […] Der Ausbruch aus den Beschra¨nkungen ra¨umlicher und zeitlicher Pra¨senz und der Zugang zu den Dimensionen des Nicht-mehr-Pra¨senten, des Noch-nicht-Pra¨senten, des Vielleicht- oder Gar-nicht-Existenten erweitert unsere kognitive und imaginative Reichweite buchsta¨blich u¨ber alle realen Grenzen hinaus. […] Pointiert formuliert, entsteht durch die symbolgestu¨tzte Adressierbarkeit von Vergangenheit und Zukunft u¨berhaupt erst Zeit im Sinne einer bewussten mentalen Repra¨sentation und Erfahrung von Zeit.“ (ebd., S. 235 f.) Gleiches la¨sst sich auch fu¨r die mentale Repra¨sentation und die Erfahrung des Raumes behaupten. Giddens weist darauf hin, dass Medien wesentlich daran beteiligt sind, „time-space“-Relationen zu vera¨ndern (Giddens 1991, S. 24). Dies zeige sich besonders deutlich am ‚Ur-Medium‘ der Sprache: „For human life, language is the prime and original means of time-space-distanciation, elevating human activity beyond the immediacy of the experience of animals.“ (Ebd., S. 23.)
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Sichtweisen, die Menschen in ihrem wirklichen Leben in dieser Weise nicht einnehmen ko¨nnen. Sie erzeugen den Eindruck, so beschreibt es Keith Oatley, „of being in exactly the right places at the right moment to follow a plot“.63 Mitchells fiktionales Netz globaler Verknu¨pfungen und seine exzentrische Per¨ berschreitung des individuellen lokal gespektive, die die Mo¨glichkeit der U bundenen Blicks in besonderer Weise exemplifiziert, stellt dieses Moment des ‚story-telling‘ explizit aus: Der Roman reist den Auswirkungen seiner Geschichten nach, verfolgt Kausalita¨tsketten u¨ber den ganzen Globus und ist damit in besonderer Weise – und dies ist nun ein Zitat aus dem Roman – at „the right places at the right times“.64 Mit seiner gleichzeitigen Bewegung durch das Bewusstsein verschiedener Protagonisten und durch die von ihnen bewohnte Welt wird der Roman im wahrsten Sinne des Wortes zu einer „simulation that runs on minds“.65 Damit erfu¨llt er beispielhaft einen weiteren Aspekt der Definition von „fiction“,66 die Oatley aus kognitionspsychologischer Perspektive gibt. Als empirische Beschreibung der Welt sind literarische Texte Oatley zufolge zwar unzula¨nglich, jedoch erscheinen sie in besonderer Weise geeignet, zwei andere Arten von Wahrheit auszudru¨cken: einerseits Wahrheit als „coherence within complex structures“67 und andererseits Wahrheit als „personal relevance“.68 Indem literarische Texte einerseits komplexe und schwer fassbare Strukturen der menschlichen Lebenswelt wie die der globalen Vernetzung simulieren und vorstellbar machen und andererseits Interpretationen und Narrationen fu¨r die „random segments“69 des eigenen Lebens liefern, ko¨nnen sie trotz ihrer Fiktionalita¨t als ontologisches Reflektions- und Imaginationsmedium dienen. Mitchells Text fu¨hrt vor, dass und wie ‚Geschichten‘ den abstrakten und komplexen Begriff der Globalita¨t fu¨llen, strukturieren und anschaulich machen ko¨nnen, dass sie zugleich aber immer deutende und strukturierende Konstruktionen sind, die das globale Pha¨nomen der „interconnectedness“70 weder umfassend abbilden noch in eine einzige u¨bergreifend gu¨ltige Version formulieren ko¨nnen: „no single ontology is dominant.“71 Lediglich mit einem Ausschnitt aus den unendlich vielen globalen Beziehungen und keinesfalls im Sinne einer ‚Weltformel‘ antwortet der Text damit auf die leitmotivische Frage nach 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Oatley 1999, S. 109. Mitchell 2000, S. 419. Oatley 1999, S. 101. Ebd. Ebd., S. 103. Ebd. Miller 2000, unpaginiert. Childs / Green 2011, S. 26. Stephenson 2011, S. 233.
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dem Grund der Dinge. Mitchells Roman entwirft Literatur als Medium, innerhalb dessen sich Globalita¨t als „extensive awareness of the world as a whole“72 in individuellen Geschichten konkret-anschaulich und auf der poetologischen Ebene sprachlicher Konnektivita¨t zugleich modellhaft fassen la¨sst. Der Text macht ‚Globalisierung‘ vorstellbar, indem er den Leser in eine Reihe miteinander verbundener konkreter Lokalita¨ten ‚versetzt‘, stellt aber gleichzeitig mit seinem Einsatz sprachlicher Konnektivita¨t seine Konstruktivita¨t und Gemachtheit aus73 und macht dem Leser damit immer wieder seine eigene imaginative Vernetzungsleistung, seine eigene Text-Welt-Konstruktion bewusst. Auf diese Weise ist er zugleich Aktivierung, Thematisierung und Reflexion der Welt-Imaginationsfa¨higkeit des Lesers und sensibilisiert dafu¨r, dass sowohl literarische Welten, als auch unsere Vorstellung von Globalita¨t kognitiv konstruierte Welt-Bilder sind, die mo¨glicherweise nach a¨hnlichen Prinzipien generiert werden.74
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Die Welt – ein Mosaik? Episodenhaftes Erza¨hlen in Literatur und Film der Gegenwart
Der Pulitzer Prize for Fiction 2009 ging an Olive Kitteridge von Elizabeth Strout, einen inhaltlich unspektakula¨ren Text. Erza¨hlt werden in dreizehn Kapiteln, die jeweils mit recht allgemeinen Titeln wie „Flut“ oder „Hunger“ versehen sind, Geschichten u¨ber Bewohner der kleinen Stadt Crosby. Gemeinsam ist den Erza¨hlungen, dass in jeder Episode die titelgebende Figur Olive vorkommt. Sie spielt eine zentrale Rolle in acht Episoden, in fu¨nf Episoden wird sie namentlich erwa¨hnt und in sechs Episoden ist sie sogar Fokalisierungsinstanz. Alle Geschichten, auch die, in denen Olive nicht im Zentrum steht, bescha¨ftigen sich mit verpassten Chancen, verpatzten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder Liebenden. Die Beziehungen scheitern vor allem an der Kommunikationsunfa¨higkeit der Menschen. Interessant ist die anscheinend problematische Gattungszuordnung des Textes. Wa¨hlt der Verlag fu¨r die Hardcover-Ausgabe noch den Untertitel Fiction, so verzichtet die Paperback-Ausgabe auf eine Gattungszuordnung. A Novel in Stories, zu diesem Urteil kommen z. B. das Feuilleton der New York Times1 oder auch das Oprah Magazine.2 ¨ bersetzung erscheint unter dem Titel Mit Blick aufs Meer3 und Die deutsche U tra¨gt den Untertitel Roman und das, obwohl auch deutschsprachige Autoren in den letzten Jahren Gattungszwitterwesen vero¨ffentlichen, die zwischen Roman und Geschichtensammlung anzusiedeln sind. Bei Daniel Kehlmanns Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten4 oder Antje Ra´vic Strubels Unter Schnee. Episodenroman5 wird ein explizites Gattungsbewusstsein im Untertitel zum Ausdruck gebracht. Steht die Diskussion der von den Autoren gebrauchten Gattungsbezeichnungen hierzulande noch aus, so bescha¨ftigt sich die amerikanische For1 Rezension von Louisa Thomas verfu¨gbar unter : http://www.nytimes.com/2008/04/20/books/ review/Thomas-t.html [20. 04. 2008]. 2 Vgl. Cover der Taschenbuchausgabe von Strout 2008. 3 Strout 2010. 4 Kehlmann 2009. 5 Strubel 2001.
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schung schon lange mit Merkmalen und Begrifflichkeiten des episodenhaften Erza¨hlens. Wa¨hrend dort formale Kriterien im Vordergrund stehen, werde ich im Folgenden an drei literarischen und einem filmischen Beispiel der Frage ¨ bereinstimmungen auch Gemeinsamkeiten in nachgehen, ob außer formalen U der Funktion episodenhaften Erza¨hlens zu finden sind. Ist episodisches Erza¨hlen Ausdruck einer Weltsicht, die nicht mehr an die Mo¨glichkeit einer allumfassenden Weltwahrnehmung glaubt? Ist Realita¨t nur noch in Momentaufnahmen einzufangen? Wie wird in diesen Texten bzw. Filmen ‚Sinn‘ erzeugt? Welche Rolle spielt das Prinzip ‚Zufall‘? Das sind die Leitfragen dieses Beitrags. Die Diskussion um Gattungsbegrifflichkeiten wie short story cycle, short story sequence, rovelle, composite novel und novel-in-stories – dies sind nur die ga¨ngigsten Begriffe – wurde in den 1970er Jahren ero¨ffnet. Forrest L. Ingram betont in seiner Definition des short story cycle als Buch, bestehend aus Kurzgeschichten, die vom Autor untereinander verknu¨pft wurden, dass sich die Einzelepisoden im Licht des Gesamttextes fu¨r den Leser vera¨ndern.6 Von ihm ausgehend untersucht Susan Garland Mann 1989 die historischen Wurzeln des short story cycle in framed tales seit der Antike (z. B. Ovids Metamorphosen).7 Sie setzt den Beginn der Gattung im 19. Jahrhundert in den USA an. Ihre pra¨gnante Feststellung, „the stories are both self-sufficient and interrelated“,8 hat immer noch Gu¨ltigkeit fu¨r das episodenhafte Erza¨hlen. Jede einzelne Geschichte kann fu¨r sich genommen verstanden werden, aber die Geschichten zusammengenommen erschaffen etwas, das nicht im Rahmen der Einzelgeschichte erreicht wird.9 Ausgehend von der rovelle-Definition, die Dallas M. Lemmon Jr. vorschla¨gt („the novel of interrelated stories“),10 definiert Margot Kelley 1995 sieben Merkmale der novel-in-stories:
6 Der short story cycle ist „a book of short stories so linked to each other by their author that the reader’s successive experience on various levels of the pattern of the whole significantly modifies his experience of each of its component parts.“ Ingram 1971, S. 19 [Hervorhebung im Original]. 7 Mann 1989. 8 Ebd., S. 15. 9 „[T]he reader is capable of understanding each of them without going beyond the limits of the individual story […] on the other hand, the stories work together, creating something that could not be achieved in a single story.“ Ebd. 10 „[I]n an ideal rovelle, each story, if plucked from the whole, would be able to stand alone and complete, yet the whole would be weakened by the loss of one of its parts.“ Lemmon Jr. 1970, zit. nach: Kelley 1995, S. 296.
Die Welt – ein Mosaik?
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
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wiederkehrende Charaktere,11 Verwischung der Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenfiguren, point of view und/oder Erza¨hler variieren in den Episoden, die Charaktere machen eine Entwicklung durch, bedeutende Ereignisse geschehen zwischen den Episoden, jede Geschichte verfu¨gt u¨ber eine Klimax, und die Klimaxe bauen aufeinander auf, die Rahmung der Geschichten ist minimal.12
Zusammengenommen mit Susan Garland Manns Konzept erscheint mir Kelleys Definition sehr brauchbar.13 Trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten a¨hneln sich die Ansa¨tze sehr.14 Besonders auffa¨llig ist, dass sich ausnahmslos alle auf ein gattungskonstituierendes Werk beziehen: Winesburg, Ohio von Sherwood Anderson aus dem Jahr 1919. Dieser scho¨nen Tradition folgend, werde ich kurz an diesem Text verdeutlichen, was episodenhaftes Erza¨hlen ausmacht. Winesburg, Ohio besteht aus 22 Geschichten mit eigensta¨ndigen Titeln. Fast jede Geschichte hat einen anderen Protagonisten, es gibt aber u¨ber 30 Charaktere, die in mehr als einer Geschichte erwa¨hnt werden. Zusammengehalten werden die Geschichten gleich mehrfach. Zentral ist der Handlungsraum. Das fiktive Winesburg ist heruntergekommen, bietet keine Zukunftsperspektive und tra¨gt damit zur Atmospha¨re der Ausweglosigkeit bei. Auch die Figur George Willard, der zumindest namentlich in fast allen Geschichten vorkommt, ha¨lt die Episoden zusammen. Ihm als Lokalreporter erza¨hlen andere Figuren ihre Lebensgeschichte. Wiederkehrende Themen in Winesburg, Ohio sind Einsamkeit, misslungene Kommunikation und gescheiterte Beziehungen. Die Erza¨hlinstanz wechselt fließend von heterodiegetisch zu homodiegetisch und verfu¨gt u¨ber Innensicht in alle Figuren. Alle Geschichten sind in sich abgeschlossen und ko¨nnten im Prinzip fu¨r sich alleine stehen. Zehn der Geschichten wurden auch vor Erscheinen des Buches 11 Wo der short story cycle Einheit oft nur u¨ber Raum-, Zeit- oder thematische Kontinuita¨t herstellt, gibt es in der novel-in-stories Charaktere, die in allen Geschichten vorkommen; deshalb ist fu¨r Kelley auch Joyces Dubliners ein short story cycle, keine novel-in-stories. Vgl. Kelley 1995, S. 297. 12 Dieser Punkt bleibt leider sehr vage und wird nur durch ein Beispiel verdeutlicht: „For example, the brief ‚Dawn‘ and ‚Dusk‘ sections of The Women of Brewster Place provide the outer parameters for the amount of framing material appropriate to a novel-in-stories.“ Kelley 1995, S. 299. 13 Dies gilt nicht fu¨r ihre Behauptung, die novel-in-stories sei in der Gegenwart das Genre amerikanischer Autorinnen, die ihre ethnische Herkunft literarisch verarbeiten. Diese Festlegung erscheint mir zu eng. 14 Weitere Ansa¨tze zur Erforschung des episodenhaften Erza¨hlen finden sich bei: Kennedy 1995; Dunn / Morris 1995; Nagel 2001 oder auch bei Ferguson 2003.
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separat in Magazinen vero¨ffentlicht.15 Die Abgeschlossenheit der Einzelgeschichten gilt aber nur mit Einschra¨nkung fu¨r die erste und letzte Geschichte des Buches. Die letzte Geschichte bringt das Erza¨hlen dadurch zu einem Ende, dass George Willard Winesburg verla¨sst, um ein neues Leben zu beginnen. In der ersten Geschichte wird eine werkimmantente Poetik entworfen. Im Zentrum steht die Figur ‚der Schriftsteller‘, der ein Buch u¨ber groteske Personen schreibt. Grotesk werden Menschen dann, wenn sie sich an Wahrheiten klammern. Aus Wahrheit wird dann etwas Unwahres. Der Gefahr, selbst einer Wahrheit zu erliegen und grotesk zu werden, entgeht der Schriftsteller, indem er kein Buch vero¨ffentlicht, also keine von ihm erkannte ‚Wahrheit‘ verbreitet. Dass fu¨r den Leser von Winesburg, Ohio nach einer solchen Ero¨ffnung die Geschichte doch noch weitergeht, ist nur mo¨glich, weil hier auf Wahrheit verzichtet und uns stattdessen etwas anderes gegeben wird: „[I]n the beginning when the world was young there were a great many thoughts but no such thing as a truth.“16 Die fragmentarische, episodenhafte Form von Winesburg, Ohio ermo¨glicht es, Momentaufnahmen aneinanderzufu¨gen, die zusammengenommen durch das Prinzip der thematischen Verknu¨pfung den Eindruck erwecken, dass es doch ein Muster in der fiktiven Welt zu entdecken gilt, auch wenn uns nur ein Teil enthu¨llt wird. Der Wahrheitsanspruch eines allwissenden Erza¨hlers, wie wir ihn im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts finden, fehlt hier, nicht aber der Glaube an die Notwendigkeit einer Sinnsuche. Sinn in dieser fiktiven Welt muss der Leser selbst erzeugen, trotz oder gerade wegen eines allwissenden Erza¨hlers. Der Leser wird versta¨rkt zur Mitarbeit aufgefordert und muss Leerstellen erga¨nzen, Bezu¨ge herstellen und selbst interpretativ Stellung beziehen in der Frage, was die Erza¨hlung zusammenha¨lt. Letztlich entspricht diese Situation der Erfahrung des Lesers in der realen Welt, die unu¨bersichtlich und interpretationsbedu¨rftig ist. Auch wenn dadurch, dass die Diskussion um den gattungsbegru¨ndenden Status von Winesburg, Ohio nur in Amerika anhand von amerikanischen Beispielen gefu¨hrt wird, der Eindruck eines nationalen Pha¨nomens entstehen ko¨nnte, finden sich Merkmale und Themen episodenhaften Erza¨hlens ebenso in anderen Sprachen. Nur kurz erwa¨hnt werden soll La Frontera de Cristal (1995) von Carlos Fuentes. Der Text erschien in deutscher Sprache mit dem Untertitel Roman, die spanische Ausgabe hingegen tra¨gt den Untertitel Una novela en nueve cuentos.17 In den Episoden geht es um das Zusammenleben von US-Amerikanern und Mexika15 Zur Entstehungsgeschichte von Winesburg, Ohio siehe Mann 1989, S. 50 f. 16 Anderson 2008, S. 5. ¨ bersetzung: Fuentes 2003. 17 Fuentes 1995. Deutsche U
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nern in der Grenzregion. Die vielfa¨ltigen Themen lassen sich subsumieren unter ‚Suche nach kultureller Identita¨t‘ und ‚gescheiterte zwischenmenschliche Beziehungen‘.18 Es gibt wiederkehrende Figuren, wobei der einflussreiche mexikanische Unternehmer Don Leonardo Barroso der Dreh- und Angelpunkt ist. Leonardo Barroso kommt in sieben der neun Episoden vor, meist nur durch eine namentliche Erwa¨hnung, die aber immer deutlich macht, auf wie viele Leben seine Entscheidungen Einfluss haben. Die einzelnen Episoden unterscheiden sich merklich in Stil und Struktur. Die Erza¨hlinstanz wechselt von heterodiegetisch mit Innensicht in die Figuren, u¨ber homodiegetisch zu autodiegetisch. Sogar die Einzelepisoden ko¨nnen bei Fuentes episodenhaft sein: So werden z. B. in „Die Wette“ zwei Geschichten parallel im Wechsel erza¨hlt, die erst am Schluss in einem Autounfall zusammengefu¨hrt werden. Durch Ru¨ckwendungen innerhalb der Episoden von La Frontera de Cristal wird immer wieder zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her gewechselt, die Chronologie der Ereignisse im Handlungsverlauf wird aber eingehalten. In der letzten Episode kommen fast alle Figuren des Romans wieder zusammen bzw. werden erwa¨hnt, nur an die Figuren zweier Episoden wird nicht angeknu¨pft. Fuentes arbeitet mit Momentaufnahmen, die zwar alle unabha¨ngig voneinander bestehen ko¨nnen. Im Zusammenklang erha¨lt der Gesamttext aber eine neue Tiefe und der Rezipient kommt zu einer Neubeurteilung der Einzelgeschichten. So erscheint am Ende eine urspru¨nglich als bedeutungslos eingestufte Figur als zentral fu¨r die Handlung: Leonardos Mo¨rder ist der Mann, der in einer anderen Episode als harmloser Frauenheld erschienen ist. Kommen wir zuru¨ck zum anfangs erwa¨hnten Text von Daniel Kehlmann. Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten arbeitet ebenfalls mit unabha¨ngig voneinander lesbaren Episoden, verknu¨pft durch Themen und Personen. Bei Kehlmann, a¨hnlich wie bei Anderson, wird durch die letzte Geschichte explizit der Handlungsbogen geschlossen. Nicht nur sind die Hauptfiguren der letzten Geschichte identisch mit denen der zweiten, sondern die beiden Episoden tragen auch denselben Titel. Kehlmann nutzt versta¨rkt das metanarrative Potential des episodenhaften Erza¨hlens: Die Geschichte „Rosalie geht sterben“ erza¨hlt von einer Frau, die nach einer Krebsdiagnose in einer Schweizer Sterbestation ihrem Leben fru¨hzeitig ein Ende setzen will. Von Beginn an thematisiert der Text Rosalie als 18 Einige kurze Beispiele: Ein angehender mexikanischer Arzt erlebt wa¨hrend eines Studienaufenthaltes in den USA eine Liebesbeziehung zu einem Amerikaner, die aber scheitert. Ein mexikanischer Gastronomiekritiker wendet sich wa¨hrend einer US-Tournee immer mehr der anfangs verhassten fremden Ess- und Konsumkultur zu und sehnt sich nach einer amerikanischen Lebensgefa¨hrtin.
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literarische Figur, beginnt sogar mit den Worten: „Von all meinen Figuren ist sie die klu¨gste.“19 Rosalie ist sich ihres Status als literarische Figur bewusst und widersetzt sich der Willku¨r des Schriftstellers. Sie will nicht sterben und setzt das gegenu¨ber ihrem Autor durch, nicht zuletzt, weil der Ich-Erza¨hler hofft, dass ¨ hnliches fu¨r ihn tun wird. Wie irgendwann einmal eine ho¨here Instanz etwas A man diese Geschichte liest, ha¨ngt stark davon ab, ob man die vorangehende Episode gelesen hat, deren Hauptfigur Leo Richter „der Autor vertrackter Kurzgeschichten“ ist, dessen beru¨hmteste Geschichte „von einer alten Frau und ihrer Reise ins Schweizer Sterbehilfezentrum“20 handelt. „Rosalie geht sterben“ erscheint im Zusammenhang des Buches als Binnenerza¨hlung des Autors Leo Richter. Autoren sind immer wieder Thema im Roman: So gibt es eine verschollene Krimiautorin und den brasilianischen Lebenshilfe-Autor Auristos Blancos, dessen Bu¨cher in jeder Episode erwa¨hnt werden. Der Roman ist aber nicht die selbstironische Nabelschau eines jungen Erfolgsautors, wie der Titel Ruhm oder auch manche Rezension (Stichwort: „Spiegelglatte Designerliteratur“)21 vermuten la¨sst. Die wortgewandten Autorfiguren sind na¨mlich im Alltag nicht zur Kommunikation fa¨hig: Richter sieht in jedem Streit mit seiner Bekannten die Gelegenheit neue, originelle Dialoge fu¨r seinen na¨chsten Roman aufzuschnappen. Auristos Blancos hat zwar 7 Millionen Leser, aber mit seinen Kindern hat er seit einem Jahr nicht mehr gesprochen. Immer wieder geht es um fehlgeschlagene Kommunikation, trotz oder gerade wegen omnipra¨senter Kommunikationsangebote wie Handy und Internet. Identita¨t ist ein weiteres Thema, so wird z. B. in der ersten Episode vom Computer-Techniker Ebling erza¨hlt, der durch einen technischen Defekt die Anrufe eines anderen erha¨lt und am Handy ein neues Leben annimmt. Dass er damit das Leben anderer zersto¨rt, erfahren wir nebenbei in der vierten Episode u¨ber den Schauspieler Ralf Tanner, dessen Anrufe Ebling erhalten hat. Tanner gibt sich in seiner Geschichte zuna¨chst aus Spaß als sein eigener Imitator aus, um dann letztlich aus seinem Leben von einem Tanner-Imitator verdra¨ngt zu werden. Die in Episode eins angeschnittene Thematik der fragilen Identita¨t wird durch die vierte Episode vertieft. Tatsa¨chlich besta¨tigt sich, dass, egal unter welchem Gattungsbegriff wir sie nun fassen wollen, episodenhafte Texte sich dadurch auszeichnen, dass sie aus Episoden bestehen, die fu¨r sich allein genommen lesbar sind, die aber erst zu19 Kehlmann 2009, S. 51. 20 Ebd., S. 29. 21 Porombka 2009, verfu¨gbar unter : http://www.zeit.de/online/2009/03/kehlmann-ruhm-contra/seite-1 [16. 01. 2009].
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sammengenommen ihre volle Bedeutungsfu¨lle entfalten. Der Rezipient wird durch wiederholtes Vorkommen von Personen und Themen dazu angeregt, die Augen offen zu halten fu¨r Verknu¨pfungen der Episoden untereinander. Es entsteht nur auf den ersten Blick ein „Bild vom zusammenhanglosen Zusammenhang der Welt“,22 denn episodenhafte Texte zeigen nicht einfach die Ausschnitthaftigkeit von Weltwahrnehmung, sondern sie versuchen, den Zusammenhang zwischen Ereignissen wiederherzustellen, wobei die Verknu¨pfungsarbeit beim Leser liegt, im Bewusstsein, dass es nicht eine richtige, verbindliche Sichtweise gibt, es sich aber trotzdem lohnt, hinter die Dinge/Zusammenha¨nge schauen zu wollen. Zu diesem Verfahren passen auch die immer wiederkehrenden Themen wie zwischenmenschliche Kommunikationsdefizite, Einsamkeit, gescheiterte Beziehungen und sich auflo¨sende Identita¨ten. Episodenhaftes Erza¨hlen ist aber nicht nur international, es ist auch intermedial. Episodenhafte Filme sind ein Pha¨nomen, das seit den 1990er Jahren zunimmt,23 und mit ihm auch die terminologische Vielfalt.24 Zum Abschluss meiner Ausfu¨hrungen mo¨chte ich kurz drei Formen episodischen filmischen Erza¨hlens vorstellen. Die erste Form zeichnet sich aus durch mehrere parallel verlaufende Handlungsstra¨nge. Pra¨gend fu¨r diese Art des Episodenfilms sind Robert Altmans Short Cuts (USA 1993) und Paul Thomas Andersons Magnolia (USA 1999). Dort werden zuna¨chst verschiedene Figuren und Handlungsstra¨nge eingefu¨hrt, die sich dann im Laufe der gezeigten Ereignisse treffen und sich (teilweise) als zusammengeho¨rig erweisen. Ein wichtiger Reiz fu¨r den Zuschauer besteht im Rezeptionsprozess darin, Vermutungen anzustellen, ob und wie Ereignisse und Personen zusammengeho¨ren. Die Anzahl der Figuren und Handlungsstra¨nge und die Verknu¨pfungsstrategien der Regisseure variieren zum Teil stark. Im Bereich der Literatur wa¨re als Pendant am ehesten ein Text wie Michael Cunninghams The Hours (2000)25 zu sehen. In regelma¨ßig wiederkehrendem Wechsel zwischen den Erza¨hlstra¨ngen wird ein Tag aus dem Leben dreier Frauen ¨ bersetzung von Elizabeth Strouts 22 Rezension von Eva Menasse in Die Zeit zur deutschen U Olive Kitteridge, verfu¨gbar unter : http://www.zeit.de/2010/29/L-B-Strout [22. 07. 2010]. 23 Auf episodenhaftes Erza¨hlen haben sich bestimmte Regisseure geradezu spezialisiert, z. B. Alejandro Gonza´lez In˜a´rritu mit seinen Filmen Amores Perros (Mexiko 2000), 21 Gramm (USA 2003), Babel (USA 2006) oder Rodrigo Garcı´a mit den Filmen Things You Can Tell Just by Looking at Her (USA 1999), Ten Tiny Love Stories (USA 2002), Nine Lives (USA 2005), Mother and Child (USA 2009). 24 In Filmrezensionen finden sich folgende Begriffe: composite film, anthology film, package film, hyperlink cinema, die sich aber – wie ein Blick in die MLA zeigt – noch nicht durchgesetzt haben. composite film: ein Treffer, anthology film: zwei Treffer, package film: null Treffer, hyperlink cinema: null Treffer. Datenerhebung vom 10. 06. 2011. Im Deutschen ist zurzeit der wohl gela¨ufigste Begriff Episodenfilm. 25 Von Interesse ist auch die gleichnamige episodenhafte filmische Adaption des Romans von Stephen Daldry aus dem Jahre 2002.
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(Mrs Woolf, Mrs Dalloway, Mrs Brown) geschildert. Die drei Stra¨nge laufen zuna¨chst unabha¨ngig voneinander. Erst der letzte Teil der Mrs DallowayHandlung, das letzte Kapitel, stellt die Verbindung explizit her. Die zweite Form arbeitet mit abgeschlossenen unverknu¨pften Episoden. In Filmen wie Night on Earth (USA 1991) fu¨gt ein Regisseur, in diesem Fall Jim Jarmusch, mehrere in sich abgeschlossene Episoden u¨ber na¨chtliche Taxifahrten in Metropolen zu einem Film zusammen. Die Personen werden nicht untereinander verknu¨pft und die motivliche Verknu¨pfung ‚Taxifahrt‘ ist eher vage. Das Prinzip dieser Art Film wird vielleicht noch besser verdeutlicht durch Paris, je t’aime (Frankreich 2006). Bei diesem Projekt haben 22 Regisseure 18 Episoden zum Thema Liebe jeweils in einem Pariser Arrondissement gedreht. Themen, Figuren und Stil der Filme variieren stark. Dieser Art des Episodenfilms entspricht im Bereich der Literatur die Kurzgeschichten-Anthologie, die entweder Erza¨hlungen von verschiedenen Autoren zu einem Thema vereint oder eine Textsammlung eines Autors ist, die nur u¨ber den im Titel hergestellten thematischen Zusammenhalt verknu¨pft ist. Der Form episodischen Erza¨hlens, wie es in Gestalt von Winesburg, Ohio vorliegt, entspricht im Film die dritte Form, bei der abgeschlossene Episoden untereinander verknu¨pft werden. Nine Lives von Rodrigo Garcı´a (USA 2005) zeigt neun in sich abgeschlossene Episoden, die nach neun weiblichen Protagonistinnen benannt sind. Die Episoden bestehen aus jeweils einem durchgehenden Steadicam-Take von ungefa¨hr zwo¨lf Minuten. Der Einstieg in die jeweilige Szene ist ebenso abrupt wie das Ende, bei dem u¨berraschend die Leinwand schwarz wird, bevor der Name der na¨chsten Protagonistin eingeblendet wird. Es entsteht der Eindruck, dass der Zuschauer spontan Zeuge einer kurzen, aber wichtigen Episode im Leben der Figur geworden ist. Die einzelnen Episoden sind untereinander verknu¨pft: zum einen auf der thematischen Ebene, zum anderen durch wiederkehrende Figuren. Thematisch gesehen handeln alle Geschichten von Liebe und Verlust, so sitzt z. B. Sandra im Gefa¨ngnis und vermisst ihre Tochter. Oder die verheiratete Diana trifft im Supermarkt zufa¨llig die (ebenfalls verheiratete) Liebe ihres Lebens wieder. Oder Holly kehrt nach Jahren ins Elternhaus zuru¨ck, um sich im Gespra¨ch mit dem Vater mit ihrer traumatischen Kindheit auseinanderzusetzen. Oder Sonia sieht sich bei Freunden durch einen Streit mit ihrem Lebenspartner plo¨tzlich mit ihrer Jahre zuru¨ckliegenden Abtreibung konfrontiert usw. Jede dieser Episoden funktioniert fu¨r sich allein genommen als Kurzfilm. Die Figuren tauchen aber nicht nur in einer Episode auf, wodurch ein weiterer Hinweis auf den inneren Zusammenhalt der Episoden gegeben wird. Ein Beispiel: Diana trifft im Supermarkt Damian, der u¨ber die gemeinsame Bekannte Lorna von Dianas Heirat weiß. Damian ist mit Lisa verheiratet, die wiederum die Freundin von Sonia ist. Sonia und Martin sind bei Damian und Lisa zur Woh-
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nungsbesichtigung eingeladen, als es zum Streit zwischen ihnen kommt. Lisa ist bei der Trauerfeier in der Lorna-Episode anwesend, weil sie mit der Verstorbenen zusammen in einer Yoga-Gruppe war und deshalb sowohl Lorna als auch deren Ex-Mann Andrew kennt usw. Insgesamt ergibt sich ein ausgesprochen komplexes, vom Zufall gepra¨gtes Beziehungsgeflecht.26 Auf drei Auffa¨lligkeiten der Verknu¨pfung im Film sei noch hingewiesen: Selbst nach mehrmaligem Sehen ist es fu¨r den Zuschauer nicht nachvollziehbar, ob die Reihenfolge der Episoden auch der Chronologie der Geschehnisse in der fiktiven Welt entspricht. Man kann selbst bei Episoden mit demselben Personal nur Vermutungen anstellen, ob Ereignis A zeitlich sinnvoller, logischer vor Ereignis B anzuordnen ist oder nicht. Die Reihenfolge der Episoden im Film scheint fu¨r den Rezipienten somit eine mo¨gliche Weltordnung, aber eben nicht die allein mo¨gliche zu liefern. ¨ hnlich auffa¨llig ist, dass die letzte Episode auf den ersten Blick keinerlei A Verknu¨pfung zu den anderen Episoden aufweist: es gibt zwei Personen, Maggie und ihre Tochter Maria, die anscheinend glu¨cklich und zufrieden u¨ber einen menschenleeren Friedhof schlendern. Bei genauerem Hinsehen fa¨llt der Altersunterschied zwischen Maggie und Maria auf: Glenn Close ist zur Zeit der Filmaufnahmen 58, Dakota Fanning ist elf Jahre alt. Die letzten Minuten des Films liefern dann deutliche Hinweise darauf, dass das, was der Zuschauer bis dahin gesehen hat, nur ein Abbild von Maggies Phantasie war. Auf der formalen Ebene fa¨llt auf, dass die Kamera Maggie und Maria langsam verla¨sst und dann einen 360˚ Schwenk u¨ber den Friedhof macht, nach dem nur noch Maggie zu sehen ist. Auf der inhaltlichen Ebene wird dieser Effekt dadurch versta¨rkt, dass Maggie, bevor sie den Friedhof allein verla¨sst, auf den Grabstein, vor dem sie gesessen hat, eine Rebe Trauben legt. Aus dem vorherigen Gespra¨ch weiß man, dass Maria Trauben liebt, und da die Inschrift des Grabmals verborgen bleibt, liegt die Annahme nahe, dass es sich um Marias Grab handelt. Maggies Tochter wa¨re somit bereits seit Jahren tot. (Ein wichtiger Hinweis ist auch Marias Frage, warum Maggie nur einmal im Jahr auf den Friedhof kommt.) Durch diesen Kunstgriff wirft Garcı´a den Rezipienten bei der Suche nach der eigentlichen Verknu¨pfung der Episoden von der offensichtlichen Verknu¨pfung
26 Fu¨r Garcı´a scheint die personelle Verknu¨pfung allerdings einen untergeordneten Wert zu spielen: „[Y]ou meet a person here, you meet a doctor there, and who could that be? And the piece sort of asks you for some of this. Julie Lynn and Kelly Thomas, my producers, were high on those connections. So they encouraged me to do more and they contributed to finding some very astute ones that played out well. So I have to say at first I resisted it but I think ultimately, the audience is always very amused and grateful that there are coincidences throughout the piece.“ (Vgl. Interview mit dem Regisseur auf der offiziellen Webseite des Films, verfu¨gbar unter : http://www.9livesmovie.com/NineLives_02.html [14. 02. 2014].)
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durch Figuren auf die thematische Einheit zuru¨ck, da in der Episode „Maggie“ auf den zweiten Blick doch das Thema „Liebe und Verlust“ wiederkehrt. Nur noch kurz erwa¨hnen mo¨chte ich, dass auch in Nine Lives eine Reflexion u¨ber die Form des Erza¨hlens stattfindet. In der Ruth-Episode weist Ruths Bekannter sie darauf hin, dass Tierdokumentarfilme meist nicht das richtige, das echte Leben abbilden: Durch Schnitte wu¨rden Zusammenha¨nge zwischen Tieren hergestellt, die an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten gefilmt wurden. Dem Zuschauer wu¨rde somit ein Zusammenhang von Ereignissen durch den Schnitt nur vorgegaukelt. Trotz oder gerade wegen dieses Einwandes einer der Figuren wird der Zuschauer erneut auf sein Bedu¨rfnis nach sinnvoller Verknu¨pfung von Ereignissen und Personen hingewiesen. Da unsere Wahrnehmung konservativ und unsere Aufmerksamkeit begrenzt ist, suchen wir immer mo¨glichst einfache Erkla¨rungszusammenha¨nge, um Sinn zu erzeugen. Aber nicht immer ist der einfache Weg, in diesem Fall der Zusammenhalt der Ereignisse durch Figuren, der richtige. Episodenhafte Filme und Texte zwingen uns dazu, u¨ber die offensichtlichen Gemeinsamkeiten hinaus, abstraktere Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Somit befriedigen episodenhafte Filme und Texte der Gegenwart zwar ein Stu¨ck weit wieder unser Bedu¨rfnis nach Sinn und Zusammenhang, stellen uns aber gleichzeitig vor neue Herausforderungen, weil der Rezipient nicht unmu¨ndig mit vorgefertigten, eindeutigen Lo¨sungen abgespeist wird, sondern zum Nachdenken u¨ber verschiedene mo¨gliche Zusammenha¨nge angeregt wird.
Literaturverzeichnis Anderson, Sherwood: Winesburg, Ohio. New York 2008 [1919]. Dunn, Maggie / Morris, Ann: The Composite Novel. The Short Story Cycle in Transition. New York 1995. Ferguson, Suzanne: „Sequences, Anti-Sequences, Cycles, and Composite Novels. The Short Story in Genre Criticism“, in: Journal of the Short Story in English 2003/41, S. 103 – 117. Fuentes, Carlos: La Frontera de Cristal. Una novela en nueve cuentos. Me´xico, D. F. 1995. Ders.: Die gla¨serne Grenze. Roman. A. d. Span. v. Ulrich Kunzman. Frankfurt a. M. 22003. Ingram, Forrest L.: Representative Short Story Cycles of the Twentieth Century. Studies in a Literary Genre. The Hague 1971. Kehlmann, Daniel: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Reinbek 22009. Kelley, Margot: „Gender and Genre. The Case of the Novel-in-Stories“, in: Brown, Julie (Hg.): American Women Short Story Writers. A Collection of Critical Essays. New York 1995, S. 295 – 310.
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Der Schriftsteller als Zeuge und Zuschauer. Die Beispiele Hans Christoph Buch und Nick McDonell
Peter Handke ist nicht der erste Schriftsteller, der sich selbst ein Bild von weltbewegenden Ereignissen machte und dieses massenmedial verbreitete. So nahm beispielsweise Bodo Kirchoff an einer Aktion der Vereinten Nationen in Somalia teil. Norbert Gstrein und Juli Zeh reisten ins verwu¨stete ehemalige Jugoslawien, Josef Haslinger verarbeitete schreibend seine – allerdings unfreiwillig gesammelten – Eindru¨cke des Tsunamis von 2004. Der US-amerikanische Autor Nick McDonell vero¨ffentlichte im vergangenen Jahr ein Buch u¨ber seine Zeit als embedded journalist im Irak, und Hans Christoph Buch ist seit mehreren Jahrzehnten in der Welt unterwegs, um etwa u¨ber Unrechtsregime, Vo¨lkermord und Hunger sowohl in journalistischer als auch literarischer Form zu berichten.1 Trotz formaler, inhaltlicher und stilistischer Unterschiede ist den Texten der genannten Autoren einiges gemein: Sie gehen aus eigener Erfahrung hervor.2 Neben Kriegen, Krisen, Katastrophen werden in Texten, die auf Augenzeugenschaft beruhen, immer auch die medialen Bedingungen reflektiert, unter denen sie entstanden sind. Dies sind etwa Mo¨glichkeiten schneller Datenu¨bertragung sowie die Verha¨ltnisse zwischen Bild und Text, Betrachter und Autor, zwischen Literatur und Journalismus.3 Diese medialen Bedingungen werfen Fragen auf: Wie ist die Rolle von Literatur, ist die Rolle des Schriftstellers angesichts einer globalen, ereignisnahen medialen Kriegs- und Katastrophenberichterstattung zu bestimmen? Was sind Plausibilisierungsstrategien, mittels derer Autoren lebensbedrohliche Erfahrungen in weit entfernten La¨ndern und emotionale Ausnahmesituationen ihrer Leserschaft nahe bringen ko¨nnen? Wenn Schriftsteller Ereignisse globalen Ausmaßes narrativieren, ist auch zu u¨berlegen, wie sie sich selbst als Zeuge positionieren und wie die damit verbundenen ethischen und a¨sthetischen Implikationen zu bestimmen sind. Diese 1 Vgl. Kirchhoff 1994; Gstrein 2004; Zeh 2002; Haslinger 2007; McDonell 2010; Buch 1985, 2011. 2 Dies ist kein Pha¨nomen des 21. Jahrhunderts. Bereits im Ersten Weltkrieg gab es Schriftsteller, die an Schlachten teilnahmen, um ihre Erlebnisse literarisch zu verarbeiten. Vgl. Tre´visan 2000. 3 Vgl. dazu Meyer 2011.
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Problematik wird textintern reflektiert, was sich an Texten Hans Christoph Buchs und Nick McDonells aufzeigen la¨sst; denn beide Autoren haben Bu¨cher geschrieben, die als Pole eines Spektrums von Darstellungsmo¨glichkeiten gelten ko¨nnen und Na¨he und Distanz zur eigenen Rolle als Zeuge in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck bringen.
Intertextuelle und gattungstypologische Aspekte von Zeugenschaft bei Buch Buch hat seine Reiseeindru¨cke, die er u. a. als Berichterstatter fu¨r diverse Zeitungen sammelte, in Romanen verarbeitet. Zudem und vor allem hat er seine problematische Rolle als Zeuge und Zuschauer in einer – auch durch Medien – globalisierten Welt immer wieder metafiktional reflektiert und zum Gegenstand ganzer Essaysammlungen gemacht. Beispiele sind Die Neue Weltunordnung (1996) und Blut im Schuh. Schla¨chter und Voyeure an den Fronten des Weltbu¨rgerkriegs (2001). Bereits die Inhaltsverzeichnisse indizieren, dass Buch selbst viele Krisengebiete besuchte – u. a. Haiti, Kambodscha, Afghanistan, Algerien – und Augenzeuge von Gewalttaten gewesen ist. Aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen gingen auch zahlreiche Reportagen hervor. Buch weist allerdings explizit darauf hin, als „Schriftsteller“ und nicht als „Journalist“ zu schreiben.4 Das Verha¨ltnis von Journalismus und Literatur ist Gegenstand auch seiner literarischen Werke. Buchs Roman Kain und Abel in Afrika (2001) ist ein Beispiel dafu¨r, wie der Schreibakt u¨ber den Genozid in Ruanda 1994 selbst zur krisenhaften Erfahrung fu¨r den Berichtenden wird; denn dieser ist Eindru¨cken ausgesetzt, die sein Fassungsvermo¨gen u¨bersteigen. Buch bedient sich dazu eines hochkomplexen Erza¨hlverfahrens, mittels dessen er Augenzeugenschaft nicht nur beschreibt, sondern passagenweise auch evoziert. Deren Problematik verdeutlicht er mittels eines Prologes. Darin illustriert Buch ein Diktum Charles Baudelaires aus dem Jahr 1859: „Une bataille vraie n’est pas un tableau“.5 Mit diesem Ausspruch wandte sich Baudelaire gegen Kriegsdarstellungen Horace Vernets, der das blutige Chaos auf den großen, unu¨bersichtlichen Schlachtfeldern in einer Reihe melodramatischer Szenen zu bannen versuchte. Es sei unmo¨glich, im Medium des Tafelbildes die Komplexita¨t des Krieges sowie taktische und topographische Verha¨ltnisse angemessen wiederzugeben. Der Maler mu¨sse sich dazu auf die Wiedergabe weißer, blauer oder schwarzer Linien beschra¨nken, welche die im Einsatz befindlichen Bataillone bezeichnen. Auch Buch formuliert in seinem Prolog Vorbehalte gegen Repra¨sentationen 4 Vgl. Buch 2001a, S. 18. 5 Baudelaire 1976, S. 642.
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von Krieg. Er bedient sich dazu der Beschreibung eines Gema¨ldes, dessen Details zuna¨chst an die Darstellung einer Schlacht denken lassen. Der Erza¨hler legt sich aber auf keinen Inhalt fest, sondern verweist auf die Mehrdeutigkeit des Bildes.6 Mittels dieser einleitenden Ekphrasis – die eigentlich keine ist, denn der Bildgegenstand bleibt unklar – destabilisiert Buch den Glauben an die Autorita¨t des Visuellen: Dem, was man sieht, ist nicht zu trauen, denn das ‚Was‘ bleibt unbestimmbar.7 Damit spielt Buch auf einen Paradigmenwechsel in der Kriegsberichterstattung an, wodurch ‚Zeugenschaft‘ zu einem problematischen Begriff wurde.8 Lidia Yuknavitch hat diese Entwicklung zusammenfassend dargestellt: Earlier war novelists assumed that the camera that helped them to document the war experience was a neutral and objective instrument. The narrator, like the camera, could reproduce accurately information and images frame by frame. But since the 1960s, as Susan Sontag has pointed out, the photograph has been understood as an apt metaphor for how our understanding of reality is ‚produced‘ through conventions such as depth of field, angle of vision, selection of focus, type of film and development, and light readings. The visual authority of the camera as a documentary tool underwrote the assumption that we could know reality through a neutral mediation between the text and the world. Contemporary notions in literature, photography and language each propose that reality is a sign system implicated in the same endlessly deferred process of meaning production as literary texts. In each case, photographic and literary production, reality is now understood as ‚constructed.‘9
6 Vgl. dazu genauer Meyer 2010, S. 316 – 340. 7 Damit unterscheidet sich Buchs Roman ganz entscheidend von anderen Kriegsromanen des 20. Jahrhunderts. So schreibt Anne-Marie Gaydier u¨ber Romane den Ersten Weltkrieg betreffend: „Tout d’abord les divers re´cits que font entendre ces romans contribuent a` convaincre le lecteur de l’existence d’une re´alite´ qui, parce qu’elle lui est inconnue et de´passe sa faculte´ d’imagination, risque de lui paraıˆtre peu cre´dible. Le souci de la vraisemblance interdit au romancier de confronter le personnage ‚principal‘ ou le narrateur a` des situations trop varie´es dont certaines pourraient eˆtre juge´es par [sic] trop exceptionelles.“ (Gaydier 2000, S. 78.) 8 Siehe hierzu Young 1992, S. 39: „Das englische ‚testimony‘ (Zeugnis) leitet sich von testis, dem lateinischen Wort fu¨r ‚witness‘ (Zeuge / bezeugen) ab, wa¨hrend ‚witness‘ einerseits abstrakt ‚sich einer Sache bewußt werden‘ oder ‚etwas zur Kenntnis nehmen‘ und andererseits konkret ‚etwas sehen‘ meint. Das Verb ‚to testify‘ heißt wo¨rtlich ‚to make witness‘ (Zeuge machen) – ein etymologischer Wink, der daran erinnert, daß Wissen und Kenntnis ebenso ‚gemacht‘ werden wie der Zeuge – ‚witness‘ – und das Zeugnis – ‚testimony‘. Das Verb ‚to document‘ bedeutet nicht nur Dokumentieren im Sinne von ‚Beweise liefern‘; in ihm klingen auch sein lateinischer Ursprung documentum – Lektion – und das dazugeho¨rige Verb docere – lehren, unterrichten – mit. Ein Ereignis dokumentieren heißt demnach, sowohl das Faktum beweisen als auch andere von ihm unterrichten. Begriffe wie ‚witness‘, ‚testimony‘ und ‚documentary‘ (dokumentarisch) sagen demnach aus, daß jemand bestimmte Ereignisse gesehen hat, an ihnen beteiligt war beziehungsweise Bedeutsamkeit in ihnen entdeckt, dann andere von ¨ bermittlung Bedeutung findet.“ diesen Ereignissen unterrichtet und im Akt ihrer U 9 Yuknavitch 2001, S. 20.
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Die dem Romangeschehen vorgeschalteten Reflexionen Buchs u¨ber die Darstellbarkeit des Krieges begru¨nden die Struktur des Romans: Der Autor arbeitet mit zwei Erza¨hlern und Erza¨hlstra¨ngen: Der Afrikaforscher Richard Kandt – der historischen Gestalt nachempfunden – berichtet u¨ber seine Expedition zu den Nil-Quellen Ende des 19. Jahrhunderts in Form einer intakten Ich-Erza¨hlung sinnhaft-teleologisch. Die Weltsicht dieser Figur ist ungebrochen. Davon unterscheidet sich die ungewo¨hnliche Du-Erza¨hlperspektive des Autors, der u¨ber den Bu¨rgerkrieg in derselben Region Ende des 20. Jahrhunderts fu¨r eine Zeitung berichtet und immer wieder problematisiert, dass es eigentlich keine ada¨quaten Ausdrucksformen fu¨r seine Erfahrungen vor Ort ga¨be und er auch nicht verstehe, was er sieht, da es sein Fassungsvermo¨gen u¨bersteige. Ruanda nach dem Genozid wird als ein Ort von Gewalt, Angst, Hunger und Tod dargestellt. So heißt es u¨ber ein Behelfslazarett: Eine junge Frau mit einem klaffenden Schnitt im Hals stirbt ro¨chelnd vor deinen Augen […]. Zwei durch Machetenhiebe verstu¨mmelte Ma¨nner sitzen apathisch an eine Mauer gelehnt, in der prallen Sonne, in einer immer gro¨ßer werdenden Blutlache, ohne daß jemand Notiz von ihnen nimmt. Zwischen wimmernden Verletzten, die sich, von Schmerzen verkru¨mmt, am Boden wa¨lzen, wa¨rmen sambische Blauhelmsoldaten auf Gaskochern ihr Mittagsmenu¨.10
Buch betont, dass es nicht darum gehen kann, ‚der‘ Wahrheit auf die Spur zu kommen bzw. zu ermitteln, wer warum welche Gewalttat veru¨bt hat, sondern nur darum, die unvermeidliche Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Darstellung und Arten sprachlicher Vermittlung auch romanintern zu problematisieren. Auch damit schreibt Buch gegen die Gattungstradition an, denn – so Georges Fre´ris – der Kriegsroman ist ein sous-genre litte´raire qui renvoie a` la litte´rature et a` l’histoire, a` la fiction et a` la re´alite´, au personnel et au social […], une forme expressive litte´raire fonde´e sur l’expe´rience personnelle ou historique […]. Le roman de guerre […] connaıˆt une pre´dominance avant, pendant, et peu de temps apre`s un conflit, c’est-a`-dire qu’il touche un e´ve´nement ve´cu et ressenti par une ge´ne´ration, par une classe sociale. Le meˆme the`me guerrier, aborde´ plus tard, non ve´cu, a` l’aide des archives, devient un mythe, perd sa valeur de te´moignage, n’a rien de pulsion originale.11
Gegenu¨ber dieser Gattungstradition betont Buch immer wieder die problematische Position des Zeugen und die Relativita¨t von ‚Wahrheit‘ und Geschichte. Mo¨glichkeiten des Eingreifens, der konkreten Hilfeleistung erscheinen im Roman extrem beschra¨nkt: sowohl durch die Unu¨bersichtlichkeit der Kriegssituation als auch durch die Unfa¨higkeit des Beobachters, auf Schmerz und Leid 10 Buch 2001b, S. 41 f. 11 Fre´ris 2000, S. 141 f.
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konstruktiv zu reagieren. Buch beschreibt die Diskrepanz zwischen Sehen und Handeln und das qua¨lende Unvermo¨gen des Augenzeugen, in Ausnahmesituationen zu wissen, was am besten zu tun ist. So heißt es u¨ber den Besuch des Erza¨hlers in einem Flu¨chtlingslager : Ihr steht vor dem Stacheldrahtzaun […], auf der einen Seite wohlgena¨hrte kanadische Sanita¨ter […], auf der anderen apathisch blickende Greise, Frauen und Kinder, die zwischen Kranken und Sterbenden in ihren eigenen Exkrementen sitzen. […] Ein franzo¨sischer Arzt ist u¨ber die Sandsackbarriere geklettert und fordert euch auf, ihm zu folgen. […] Ein Schritt, ein Sprung, und ihr landet inmitten der Flu¨chtlinge […]. Von allen Seiten greifen Ha¨nde nach dir, Verletzte klammern sich an deine Hosenbeine, du trittst auf einen weichen Ko¨rper, eine nachgiebige Masse, die sich sto¨hnend bewegt, stolperst und verlierst das Gleichgewicht. Du hast Angst, im Flu¨chtlingselend zu versinken, schla¨gst um dich wie ein Ertrinkender […]. Eine Mutter streckt dir ihr schreiendes Baby entgegen, du sto¨ßt sie brutal zur Seite und ergreifst die helfende Hand, die dir ein ukrainischer Blauhelmsoldat u¨ber den Stacheldraht hinweg entgegenreicht. Ein Ruck […] und du bist in Sicherheit.12
Das geschilderte moralische Dilemma und das Gefu¨hl, hilflos zu sein, haben Auswirkungen auf die Schreibweise: Buchs Roman ist durch einen hohen Grad an Metafiktionalita¨t gekennzeichnet. An diversen prominenten Stellen im Text kommt der Autor immer wieder auf Mo¨glichkeiten und Grenzen literarischer und journalistischer Darstellungen von Krieg und Elend zu sprechen sowie auf die Schwierigkeiten politisch-humanita¨ren Engagements in der Krisenregion.13 Indem Buch die Kriegserfahrungen in Ruanda des 20. Jahrhunderts mit den fingierten Erlebnissen des Afrika-Forschers Kandt kontrastiert, wird deutlich: Den versto¨renden, rational unfassbaren Erlebnissen in unserer Zeit entspricht auf literarischer Ebene die Unterbrechung eines einstra¨ngig linearen Erza¨hlverlaufs sowie die (Zer-)Sto¨rung narrativer Sequentialita¨t. Die Geschehnisse in Ruanda Ende des 20. Jahrhunderts lassen sich nicht mehr – wie noch die wissenschaftlichen Erkundungen Kandts – in einen u¨bergeordneten, sinnstiftenden Horizont einbetten.14 Die chronologisch geordnete Erza¨hlweise der selbstgewissen Sprecherstimme Kandts kontrastiert mit der zeitgeno¨ssischen Erza¨hlinstanz, die an den Mo¨glichkeiten sprachlichen Ausdrucks zweifelt und deren Schilderungen assoziativ sind, abwechseln mit perso¨nlichen Erinnerungen und geschichtlichen Reflexionen. Zahlreiche intertextuelle Verweise auf bekannte Werke europa¨ischer Literatur – u. a. Goethes und Dantes15 – zielen darauf, den zeitgeno¨ssischen Erza¨hler durch seine kulturellen Wurzeln zu charakterisieren 12 Buch 2001b, S. 44 f. 13 Vgl. beispielsweise ebd., S. 32, 33 f., 38, 47, 211. 14 Bei Kandt ist es der Auftrag Bismarcks, die Quellen des Nils zu finden, was sein Engagement in Afrika rechtfertigt. 15 Vgl. ebd., S. 12, 15 f., 27, 102, 107 f., 211 f., 213, 216.
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und gleichzeitig die Distanz zwischen erlebter Kriegswirklichkeit und Literatur zu markieren. Die intertextuellen Bezu¨ge helfen – trotz detailgetreuer Schilderungen von Not und Elend – Distanz zu wahren und betonen gleichzeitig den Kunstcharakter des Romans. Die literarischen Anspielungen und Zitate kontrastieren zudem mit einer Berichterstattung, die dem Ideal der mo¨glichst ereignisnahen Wiedergabe folgen soll: „Ko¨nnen Sie mir sagen, was hier vor sich geht?“ fragt dich der Korrespondent des ZDF […]. Aber das kannst du nicht, denn der tiefere Sinn, die politische Bedeutung des ¨ NGLCHE, HIER WIRD’S Geschehens wird dir erst im Nachhinein klar : DAS UNZULA EREIGNIS / DAS UNBESCHREIBLICHE, HIER IST’S GETAN – orphische Urworte, die nicht als Soundbite fu¨rs heute-Journal geeignet sind.16
Wie im Prolog bereits angedeutet, besteht eine Grundproblematik der Berichterstattung darin, dass letztlich unklar bleibt, was vor Ort u¨berhaupt zu sehen, was letztlich passiert ist. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich dadurch, dass sich viele Erfahrungen mental nur schwer verarbeiten lassen. Am Beispiel des Reporters, der mit dem massenhaften Sterben in den ruandischen Lagern konfrontiert ist, beschreibt Buch beispielsweise das Pha¨nomen, dass die Fa¨higkeit, sich Verbrechen vorzustellen abnimmt, je gro¨ßer die Zahl der Toten ist.17 Aus dieser Problematik entsteht eine doppelte Aporie: Einerseits ko¨nnen die intertextuellen Verweise das Versta¨ndnis des Lesers erweitern, ihn zu neuen Assoziationen und Interpretationen fu¨hren, andererseits ist durch das intertextuelle Verfahren eine Schreibweise markiert, mittels derer Buch seinem eigenen Erza¨hler Autorita¨t entzieht. Und: Einerseits erscheint Literatur vergangener Jahrhunderte, erscheinen Bildungszitate als dem grausamen Bu¨rgerkrieg unangemessen, andererseits bieten sie der Erza¨hlerfigur wie auch dem Leser Anknu¨pfungspunkte, eine chaotische Gegenwart mit eigenen Wissensbesta¨nden abzugleichen und dadurch einordnen zu ko¨nnen. Denn der Bu¨rgerkrieg in Ruanda erscheint als etwas, von dem sich kaum erza¨hlen la¨sst: Anstelle einer durchgehenden Handlung oder eines chronologischen Nachvollzuges der Ereignisse tritt ein episodenhaftes Erza¨hlen, zusammengehalten durch unsyste¨ berlegungen des Erza¨hler-Ichs. matische U Der Verlust kontinuierlich erza¨hlter Geschichten ist typisch fu¨r Kriegsromane des 20. und 21. Jahrhunderts, deren Autoren uns keine feste Basis bieten, von der aus wir die Ereignisse rational nachvollziehen ko¨nnten.18 Lidia Yuknavitch re16 Ebd., S. 102 [Hervorhebung im Original]. 17 Das Pha¨nomen ist vor allem aus dem Diskurs u¨ber Mo¨glichkeiten von Holocaust-Repra¨sentation bekannt. Vgl. hierzu Diner 1995, der postuliert, dass durch die Ermordung vieler Menschen in kurzer Zeit die Statistik das Narrativ auslo¨sche und deswegen in Erza¨hltexten ha¨ufig auf eher periphere Bereiche des Verbrechens zuru¨ckgegriffen werde. 18 Obwohl Kriegsromane meist auf konkrete Ereignisse in der außerliterarischen Welt referieren, vgl. hierzu Fre´ris 2000, S. 143.
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su¨miert: „Instead, he [the author] gives us a disturbing series of images and a language that is part colloquial […], part slang […], part formal […], part jargon […], and part poetic“.19 Abhandengekommen sind traditionelle, versta¨ndnisstiftende inhaltliche Elemente wie die Suche nach Glu¨ck, (Selbst-)Erfahrung, romantischen Abenteuern, die a¨ltere Kriegsromane und Krieg – verstanden als Agon – auszeichnen.20 Es gibt nur noch einen Erza¨hler, der sich ex negativo bestimmen la¨sst: Er verfu¨gt u¨ber keine einheitliche Sprache und u¨ber keine objektive, wissende Position mehr, sondern artikuliert Zweifel und zieht die Stimmen anderer Autoren heran, um die erza¨hlte Welt zu plausibilisieren und versta¨ndlich zu machen.
Stimmenvielfalt bei Nick McDonell Von dieser hochkomplexen, literaturkritischen Schreibweise Buchs scheint sich die des US-Amerikaners Nick McDonell in seiner Publikation The End of Major Combat Operations fundamental zu unterscheiden: McDonell verbrachte mehrere Wochen als Korrespondent der Time im Irak. Zuvor hatte er fu¨r Harper’s, Libe´ration und andere Zeitungen aus Afrika und dem Mittleren Osten berichtet. Bekannt wurde der 1984 geborene McDonell mit seinem Roman Twelve u¨ber Highschool-Schu¨ler der New Yorker upper class. Er hat seither zwei weitere Romane vero¨ffentlicht. In The End of Major Combat Operations scheint McDonell auf Fiktionalita¨tsmarker zu verzichten: Auf dem Cover und im Buchinneren illustrieren und dokumentieren ‚selbstgeschossene’ Fotos den perso¨nlichen Einsatz des Autors als Berichterstatter, der auch im Portra¨t auf der Cover-Ru¨ckseite zu sehen ist. In den Text sind zudem Sicherheitshinweise und andere Dokumente der US-Army montiert. Das Buch ist in 52 Kapitel eingeteilt, von denen die ku¨rzesten wenige Zeilen und die la¨ngsten wenige Seiten lang sind. Das ‚Ich‘ in The End of Major Combat Operations ist eine wohlu¨berlegte, konstruierte Figur, die gleich zu Beginn des Textes ihre Position definiert, indem sie die Distanz zur Bush-Regierung und deren Kriegsbegeisterung und ihre Na¨he zu den einfachen Soldaten explizit thematisiert. Wiederholt gibt sich der Berichterstatter als Außenseiter und Zivilist zu erkennen, der die milita¨rischen Vorga¨nge anders erlebt als die darin direkt involvierten Milita¨rs. Als eine Art ethnographischer Beobachter gibt der Erza¨hler hauptsa¨chlich die Geschichten von Soldaten oder u¨ber Soldaten wieder und unterscheidet sich dadurch von anderen embedded journalists und deren Bu¨chern, die in den Irak-Kriegen 19 Yuknavitch 2001, S. 20. 20 Vgl. ebd., S. 8.
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Abb. 1: Frontcover von Nick McDonell: The End of Major Combat Operations. San Francisco 2010.
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Abb. 2: Backcover
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entstanden.21 McDonells Eindru¨cke sind in Episoden geschildert, von denen nur manche durch darin mehrfach auftauchende Gestalten zusammenha¨ngen. Ein Auswahlprinzip wird nicht deutlich. Auch bei McDonell ist das Stilmittel der accumulatio vorherrschend – die Technik, mittels einer zufa¨llig wirkenden Anha¨ufung von Geschicht(ch)en, Episoden, Anekdoten Eindru¨cke vom Krieg zu verbreiten. Der Charakter des Textes ist nicht leicht zu bestimmen. Aus der Ru¨ckschau geschrieben, wie es das Tempus signalisiert, indizieren die nummerierten Kapitel und die chronologische Anordnung der einzelnen Teile deutlich, dass eine ordnende Erza¨hlerinstanz existiert. Trotzdem gibt es keine durchgehende Handlung, keine andere Entwicklung als den zeitlichen Verlauf. Geschildert werden Begegnungen mit Soldaten. Diese sind aus einer quasi auktorialen Perspektive beschrieben, einer Perspektive, innerhalb derer sich der Erza¨hler vernehmlich kommentierend einbringt. So heißt es gleich im ersten Kapitel u¨ber den Soldaten Gustavo Nogueira: He was an American citizen already, but he was also a citizen of Brazil. He had a plan to move to the beach back in Rio, drink rum, and fuck Brazilian chicks, two at a time, from every direction, balls deep, all day long, forever. In the meantime, though, he thought the Army had made him a better man. Maybe it had. He was no dummy, Gu; he wasn’t wasting any time, even if it looked like he was just talking shit and smoking.22
McDonell liefert an dieser wie an diversen anderen Stellen im Buch authentisch anmutende Einblicke in Leben und Gedankenwelten der Soldaten, schildert Handlungen, Handlungsmotive und -motivationen, wie sie auch in einem informationszentrierten Bericht oder in einer Reportage beschrieben werden ko¨nnten. Soldaten erscheinen so perspektiviert als mehr oder weniger sympathische Individuen, denen ein mehr oder weniger komplexes Innenleben zu¨ berzeugungen und ihren geschrieben wird und die eigene Interessen und U ¨ ¨ militarischen Auftrag gegeneinander abwagen. Die evozierte Stimmenvielfalt tra¨gt dazu bei, die eingeschra¨nkte Perspektive des embedded correspondent aufzubrechen und die Unvergleichlichkeit des individuell Erlebten zu verdeutlichen.23 Viele der Episoden enden mit einer wohlkalkulierten Pointe, a¨hneln 21 Vgl. Tonn 2006, bes. S. 42 f.: „Die Bu¨cher der Kriegskorrespondenten u¨ber den letzten Irakkrieg reklamieren sehr ha¨ufig eine authentische, unverstellte, direkte Wiedergabe des Krieges fu¨r sich. […] Im ungu¨nstigsten Fall schafft dieser Beobachterstandpunkt eine voyeuristische Guckloch-Perspektive. Er verspricht dem Leser die emotionale Stimulans der unmittelbaren Teilhabe an einer lebensbedrohlichen Erfahrung ohne die tatsa¨chlichen Ri¨ ffentsiken des Krieges. Es geht dabei nicht mehr um angemessene Informiertheit der O lichkeit als vielmehr um Authentizita¨tseffekte und die Inszenierung pra¨sentischer Teilhabe.“ 22 McDonell 2010, S. 1 f. 23 Vgl. dazu Gaydiers Studien zu Romanen u¨ber den Ersten Weltkrieg. Sie kommt zu dem –
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dadurch eher short stories als autobiographischen Erlebnissen eines embedded correspondent. Und short stories sind es auch, die als Gattung textintern reflektiert werden: One day the fixers brought an old man in, and the first thing he said was: ‚I left Baghdad a bride, a beauty. I came back to a widow.‘ This was also the last thing he said, before he left. It was a good line, and anyway, sometimes the stories were very short, even shorter than that, just a word or two. Like bride, widow. (McDonell 2010, S. 40)
Dem Buch ist ein Gedicht des irakischen Poeten Abdul Wahab Al-Bayati vorangestellt, aus dem Jahr 1969, das als Klage gestaltet ist – u¨ber die pan-arabischsozialistische Ba’ath-Partei, die 1968 die Kontrolle in Irak u¨bernahm und bald brutal gegen Liberale vorging. Dies la¨sst sich als politischer Kommentar ebenso verstehen wie als Hinweis auf eine Literarizita¨t auch des folgenden Textes, der aufgrund von Struktur, Tempus, Erza¨hlweise und Thema literarische Qualita¨ten aufweist. Das Buch endet mit der – auch im Original kursiv gedruckten – Frage „What if it was your country that was invaded?“.24 Dem plo¨tzlichen Wechsel der Perspektive – weg von den Soldaten, hin zu den besetzten Irakern – ist ein stark appellatives Moment eigen, ein moralischer Impuls, der das kritische Potential der Schilderungen aus dem Leben der u¨berwiegend als unreflektiert, materialistisch und Ich-bezogen dargestellten Soldaten pointenhaft enthu¨llt.
Vorla¨ufiges Fazit Zusammenfassend la¨sst sich festhalten, dass McDonells Text a¨hnlich wie Buchs Roman zwischen Faktizita¨t und Fiktionalita¨t changiert und sowohl journalistische als auch literarische Ausdrucksweisen und Formen integriert. Dadurch markieren beide Autoren deutlich eine Distanz zu einem empiristisch-positivistischen Versta¨ndnis von Kriegs,wirklichkeit‘ und erschweren simplifizierende Deutungen des Kriegsgeschehens. Beiden Texten sind stark selbstreflexive ¨ sthetik als auch in moralischer Strukturen eigen – sowohl auf der Ebene der A auch auf das erza¨hlerische Verfahren von McDonells u¨bertragbaren Schluss: „Par ailleurs, le recours au discours rapporte´ s’inscrit assez naturellement dans la recherche d’un e´quilibre entre objectivite´ et subjectivite´. En faisant entendre les paroles d’individus tre`s divers, le romancier multiplie les points de vue subjectifs, les fait jouer les uns par rapport aux autres, s’opposer ou se comple´ter ; certes toutes ces approches individuelles de la re´alite´ sont re´fle´chies par une conscience unique, celle du te´moin privile´gie´ et finissent par converger et prendre sens mais ce sens semble s’e´laborer progressivement sous le regard du personnage (et par la meˆme occasion sous celui du lecteur) sans que ne paraisse a` aucun moment se plaquer sur la re´alite´ une interpre´tation pre´existante.“ Gaydier 2000, S. 78. Siehe auch ebd., S. 79: „Du fait de l’importance qu’il accorde aux conversations et aux re´cits, le roman de guerre de´place l’inte´reˆt de l’action proprement dite au discours des personnages“. 24 McDonell 2010, S. 159.
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Hinsicht – und beide Schriftsteller lehnen es ab, konventionelle Heldengestalten zu evozieren. Ihre Erza¨hler sind als teilnehmende Beobachter konzipiert, deren Erfahrungen erga¨nzt werden durch andere Erza¨hlstra¨nge und intertextuelle Verweise (Buch) bzw. die ‚Dokumentation‘ von Stimmenvielfalt (McDonell). Beide Autoren schreiben nicht im Sinn einer bestimmten Ideologie. Die thematisierte Augenzeugenschaft evoziert zwar stellenweise Eindru¨cke von ‚Authentizita¨t‘, jedoch tragen diese nichts zur Erkla¨rung, zum besseren Versta¨ndnis der Geschehnisse auf den Schlachtfeldern bei. Wa¨hrend Buch psychische, physische und moralische Probleme der Augenzeugenschaft ausfu¨hrlich und explizit beschreibt, sind Hinweise darauf in McDonells Text hauptsa¨chlich implizit vorhanden. Fu¨r beide Werke sind Bild-Text-Beziehungen wichtig, die der Authentifizierung bei McDonell und der Problematisierung des Schreibens bei Buch dienen. Krieg erscheint durch Schreibtechniken wie diese als rational kaum fassbares Ereignis. ¨ ber mediena¨sthetische Aspekte hinaus implizieren beide Texte ein aufkla¨U rerisches Moment: Sie legen nahe, das Leid von Menschen anderswo auf der Welt als moralische Herausforderung anzunehmen und u¨ber Gedankenlosigkeit und Gewalt, zu der Menschen fa¨hig sind, und u¨ber deren Folgen zu informieren. So bezeichnet Buch Ruanda als „eine der großen Trago¨dien des zu Ende gehenden Jahrhunderts, von der in keinem europa¨ischen Geschichtsbuch die Rede sein wird.“25 Damit weist er auf eine wichtige Funktion von Literatur hin, als Archiv menschlicher Erfahrungen zu dienen. McDonell schließt sein Buch mit dem Hinweis darauf, dass die USA zwar verku¨ndet ha¨tten, gro¨ßere Kampfhandlungen in Irak einzustellen, aber zehn Monate danach in Afghanistan milita¨risch sehr aktiv geworden seien. Er appelliert indirekt an seine Leser, andere Formen der Auseinandersetzung zu suchen.26 Das bei Buch sehr elaborierte, aber auch bei McDonell deutlich sichtbare Spiel zwischen und mit Journalismus und Literatur, Faktizita¨t und Fiktionalita¨t ru¨ckt den konstruktiven Charakter journalistischer Berichterstattung in den Blick und verdeutlicht gleichzeitig auch die Leistungsfa¨higkeit literarischer Gestaltungsmittel, die dazu beitragen, das Leid anderer aus der ra¨umlichen und inneren Distanz in die Na¨he des Rezipienten zu ru¨cken. 25 Buch 2001b, S. 108. Auch an anderen Stellen (S. 32 f.) weist Buch ausdru¨cklich auf die Aufgabe des Schriftstellers hin, menschliches Leben zu beschreiben und zu erinnern. 26 McDonell 2010, S. 159 f.: „It used to be that war was taken for granted. There has been, over time, change. It seems, now, that we must wage wars, that in looking for peace we must commit acts of violence. But it is possible that this too will change, and that eventually so few will believe that violence of any kind is justified that war will cease to exist. It is more likely that you, and your children, and your grandchildren, will die violent deaths. But anything is possible. Let’s see where we are. Ten months after the United States government announced its plan for the end of major combat operations, in Iraq, it announced an escalation of force in Afghanistan.“
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Abbildungen Abb. 1: Frontcover von Nick McDonell: The End of Major Combat Operations. San Francisco 2010. Abb. 2: Backcover
Teil VII: Globalita¨t und (Inter-)Medialita¨t
Arndt Niebisch
Medienzusammenbru¨che und posthumanes Erza¨hlen in Jules Vernes Michel Strogoff
Jules Verne ist bekannt fu¨r seine technischen Visionen wie eine Reise zum Mond, Kapita¨n Nemos Unterseeboot oder die Reise um die Erde in achtzig Tagen. Diese Erza¨hlungen haben gemeinsam, dass sie Transportwege und Reisezeiten zum Gegenstand machen und den Kollaps von Raum und Zeit antizipieren, den F. T. Marinetti in prominenter Weise im Jahr 1909 in seinem Futuristischen Manifest verku¨ndete1 und den Marshall McLuhan unter dem Begriff des „Global Village“ in eine ikonische Formulierung fasste.2 Vernes Roman Michel Strogoff scheint sich jedoch dieser narrativen Folie zu entziehen. Es geht in diesem Text um einen Kurier, der inkognito durch Sibirien reist, um in Irkutsk den Bruder des Zaren vor dem Verra¨ter Ivan Ogareff zu warnen. Dem Kurier, Michel Strogoff, steht dabei keine besondere technische Infrastruktur zur Verfu¨gung. Nachdem er das geordnete Verkehrssystem Europas verlassen hat, reist er auf Schiffska¨hnen, klapprigen Kutschwerken, auf Pferderu¨cken, und zu Fuß durch den asiatischen Teil des zaristischen Reichs. Im Folgenden mo¨chte ich aber zeigen, dass trotz dieser Inkongruenz zu Vernes Technikfantasien auch Michel Strogoff eine Auseinandersetzung mit einer medial vernetzten Welt darstellt und eine Mo¨glichkeit pra¨sentiert, dieser Welt noch Abenteuer abzuringen, auch wenn Helden und Technologien gleichermaßen zu posthumanen Systemen transformiert werden.3 Der Kern dieser Geschichte ist der Medienraum Sibiriens, der noch gut hundert Jahre nach Vernes Roman zum Staunen einla¨dt. Das Interview „Anti1 Marinetti 2000. 2 McLuhan 1962, S. 31. 3 Der Begriff des ,Posthumanen‘ ist kein scharf umrissenes Konzept. Der Begriff wird besonders von nordamerikanischen Autoren wie Katherine Hayles und Donna Harraway gebraucht, um die neue Medieno¨kologie zu beschreiben, die durch intelligente Maschinen geschaffen wird und so die Hegemonie des Menschen u¨ber kognitive Funktionen in Frage stellt. Ich verwende diesen Begriff als die Beschreibung eines historischen Zustandes in dem menschliche Individualita¨t in verschiedenen Kommunikationsnetzwerken aufgelo¨st wird. Ich mo¨chte hier darauf hinweisen, dass diese Auflo¨sung nicht nur ein Pha¨nomen des zwanzigsten Jahrhunderts ist, sondern auch im 19. Jahrhundert pra¨valent ist. Zur Posthumanismusdiskussion siehe bes.: Hayles 1999.
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Arndt Niebisch
Oper“,4 das Alexander Kluge 1993 mit dem Dramatiker Heiner Mu¨ller fu¨hrte, o¨ffnet mit dem Gespra¨ch u¨ber einen Flug nach Japan. Mu¨ller u¨berquerte dabei auf der Strecke von Frankreich nach Japan Sibirien, etwas, das er als das eigentlich Besondere des Flugs hervorhebt: „Wir sind u¨ber Sibirien geflogen. Und das ist eigentlich der einzige Grund, warum man gelegentlich nach Japan fliegen sollte – diese Route Sibirien.“ Mu¨ller fu¨hrt weiter aus: „Man sieht ja eine vo¨llig unbewohnte Landschaft, Berge mit Schnee und Eis, dazwischen Flu¨sse, auch jetzt in dieser Jahreszeit mit Eis. Und das Wesentliche ist erst mal die Ausdehnung und die Leere. Es ist vo¨llig unerschlossen.“5 Sibirien ist hier ein ungeheures Vakuum, was aber genau durch diese Unbestimmtheit und Unzuga¨nglichkeit faszinierend ist. Sibirien ist dem Menschen nicht erschließbar, moderne Medien- und Transporttechniken helfen da wenig. Mu¨ller kann auf seiner Flugreise Sibirien nicht erleben, sondern nur imaginieren. Das Flugzeug neutralisiert die Weiten, Gefahren, Herausforderungen, aber auch Scha¨tze dieser Landschaft und la¨sst sie als ein Erhabenes erscheinen, dessen lebensfeindliche Macht man erkennen kann, aber nicht fu¨rchten muss. Man kann Sibirien nicht durchqueren, sondern nur u¨berqueren, man beha¨lt ein neutrales Verha¨ltnis zu diesem Land. Sibirien wird zu einem Raum, der nur aus der Flugzeugperspektive, also quasi nur kartographisch, existiert.
Der Telegraf in Michel Strogoff ¨ berquerens. Dies wird von Sibirien ist kein Ort des Reisens sondern nur des U Verne noch einmal durch Strogoffs Anmerkung explizit gemacht, dass er lieber im Winter seine Mission durchgefu¨hrt ha¨tte, da dann eine hohe Schnee- und Eisdecke das Territorium u¨berdecken wu¨rde, und so natu¨rliche Hindernisse wie Seen und Flu¨sse verschwunden wa¨ren.6 Im Winter wird Sibirien zu einer planen Fla¨che, und na¨hert sich so buchsta¨blich durch eine reduzierte Friktion des Territoriums dem Komfort und der Distanziertheit von Mu¨llers Flugreise an. Dementsprechend ist auch das einzige logistische System, das Sibirien mit dem Rest der Welt verbindet, ein Instrument, das keinerlei Reibungsverluste kennt, na¨mlich der Telegraf und (noch) nicht die Eisenbahn.7 4 Das Interview wird von der Cornell University Library online zur Verfu¨gung gestellt. Im Folgenden zitiere ich aus der Transkription, verfu¨gbar unter : http://muller-kluge.library. cornell.edu/de/video_transcript.php?f=100 5 Ebd. 6 Vgl. Verne 1978, S. 43. 7 Der Bau der transsibirischen Eisenbahn begann im Jahr 1891 und sie wurde 1916 fertiggestellt.
Medienzusammenbru¨che und posthumanes Erza¨hlen in Michel Strogoff
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Cette immense e´tendue de steppes, qui renferme plus de cent dix degre´s de l’ouest a` l’est, est a` la fois une terre de de´portation pour les criminels, une terre d’exil pour ceux qu’un ukase a frappe´s d’expulsion. […] Aucun chemin de fer ne sillonne encore ces immenses plaines, dont quelques-unes sont ve´ritablement d’une extreˆme fertilite´. […] On y voyage en tarentass ou en te´le`gue, l’e´te´ ; en traıˆneau, l’hiver. Une seule communication, mais une communication e´lectrique, joint les deux frontie`res ouest et est de la Sibe´rie au moyen d’un fil qui mesure plus de huit mille verstes de long (8536 kilome`tres).8
Diese Beschreibung fu¨hrt Sibirien zuna¨chst als einen politischen Raum ein, der dem Befehl des Zaren untersteht, und als Gefa¨ngnis dient. Sibirien hat somit eine zentrale Funktion fu¨r das Imperium des russischen Zaren, da es zur Exklusion von sto¨renden Elementen benutzt wird. Es ist also ein Nicht-Raum, der sich in einer Trennung zum eigentlichen Reich konstituiert. Durch diese Funktion wird Sibirien aus kommunikationstheoretischer Sicht problematisch. Theoretiker wie Harold Innis9 und Bernhard Siegert10 haben darauf hingewiesen, dass der Begriff des Imperiums nicht nur ein Macht- sondern auch ein Kommunikationsverha¨ltnis beschreibt. Das Imperium (das als ein Lehnwort auf das lateinische Verb fu¨r befehlen, „imperare“, zuru¨ckgeht) ist der Raum, in dem der Herrscher befehlen, also kommunizieren kann. Sibirien scheint aber ein Ort zu sein, der von Kommunikation abgeschnitten ist, bzw. der die Exilierten gezielt von der Kommunikation abschneidet. Die Gebiete des Imperiums sind aber immer Kommunikationsra¨ume, in denen zumindest der Herrscher sprechen bzw. befehlen kann. Diese hegemoniale Pra¨senz wird auch durchaus erzeugt, und zwar durch den Telegrafen, der zum zentralen Exekutionsinstrument des Zaren wird. Diese Verbindung durch Telegrafie macht Sibirien zu einem reinen Medienraum wie ihn auch Mu¨ller vor Augen hat. Vernes oben zitierte Eingangsbeschreibung rekapituliert die Leere und Unzuga¨nglichkeit, die auch zentral fu¨r Mu¨llers Schilderung Sibiriens ist. Auch wenn der Telegraf und Mu¨ller im Flugzeug ein unterschiedliches Verha¨ltnis zum Territorium haben, bleibt der Telegraf, genauso wie Mu¨llers Kontinentalflug, neutral zur Landschaft Sibiriens. Beide werden nicht von der Friktion des Territoriums oder nur minimal beeinflusst. An diesem Punkt ist Sibirien nichts weiter als eine mehr oder weniger o¨de Leere. Erst, wenn Mu¨ller abgestu¨rzt wa¨re oder die Telegrafenleitung gekappt wird, wird die Friktion des Territoriums vom Potentiellen ins Tatsa¨chliche verschoben und Sibirien wird zum Anlass einer konkreten Erza¨hlung. Und dies ist genau, was bei Verne passiert. Verschiedene Vo¨lkersta¨mme erheben sich, und der Zar befu¨rchtet die Separation Sibiriens von Russland. Der 8 Verne 1978, S. 17 f. 9 Innis 2007. 10 Siegert 1993.
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Zar ist des Weiteren sehr um seinen Bruder besorgt, weil er ein Attentat durch den Verra¨ter Iwan Ogareff befu¨rchtet. Der Zar kann jedoch seinen Bruder nicht warnen, da die Telegrafenleitung unterbrochen wurde. Die imperiale Macht des Zaren u¨ber Sibirien wird also genau dadurch geschwa¨cht, dass die Kommunikation zusammenbricht und Sibirien so buchsta¨blich von dem unmittelbaren Sprechbereich des Herrschers abgeschnitten wird. Um nun den imperialen Anspruch doch noch sichern zu ko¨nnen, wird auf ein a¨lteres Kommunikationsmittel zuru¨ckgegriffen, das aber nicht einfach die Friktion des Gela¨ndes umgehen kann. Michel Strogoff, Mitglied der Elitetruppe „Die Kuriere des Zaren“, wird nun inkognito nach Irkutsk geschickt. Der Telegraf ist also der eigentliche Superheld dieses Romans, und Strogoff wird zu einem expliziten Ersatz fu¨r moderne Medientechnik. Un courrier seul pouvait remplacer le courant interrompu. Il faudrait, a` cet homme, un certain temps pour franchir les cinq mille deux cents verstes (5523 kilome`tres) qui se´parent Moscou d’Irkoutsk. Il devrait, pour traverser les rangs des rebelles et des envahisseurs, de´ployer a` la fois un courage et une intelligence pour ainsi dire surhumains.11
Dieses Zitat verweist klar auf den posthumanen Kern von Vernes Erza¨hlung. Es mag zwar sein, dass Strogoffs Abenteuer, die aus dem Erlegen von Ba¨ren, gefa¨hrlichen Zweika¨mpfen, etc. bestehen, auf einen alten Motivschatz zuru¨ckgehen, bei dem Helden noch als Individuen konzipiert wurden – auch Verne beschreibt ihn als echten Helden –,12 aber seine Reise ist bei weitem keine nie dagewesene Heldentat, da er diese Reise schon mehrere Male hinter sich gebracht hat und sich bestens mit Sitten und Eigentu¨mlichkeiten des Landes auskennt.13 Genau wie in der Reise Le Tour du Monde en Quatre-Vingts Jours geht es auch hier nicht darum, neue Gebiete zu erschliessen, sondern darum, eine bereits etablierte Infrastruktur abzuschreiten. Es folgt dieser Logik, dass Strogoffs Route zum gro¨ßten Teil mit der von Verne beschriebenen Telegrafenleitung u¨bereinstimmt. Des Weiteren handelt Strogoff auch nicht wie ein klassischer Held. Er umgeht Konfrontationen und nimmt Beleidigungen hin, um nicht aufzufallen.14 Er ordnet also gezielt seinen Stolz und Wu¨rde dem Auftrag unter, oder wie seine Wegbegleiterin Nadja pra¨zise erkennt: Nadia avait devine´ qu’un mobile secret dirigeait tous les actes de Michel Strogoff, que celui-ci, pour quelque raison inconnue d’elle, ne s’appartenait pas, qu’il n’avait pas le
11 12 13 14
Verne 1978, S. 31. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 179 – 183.
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droit de disposer de sa personne, et que, dans cette circonstance, il venait d’immoler he´roı¨quement au devoir jusqu’au ressentiment d’une mortelle injure.15
Der Roman kann somit als ein Anti-Bildungsroman angesehen werden, denn wa¨hrend der Bewa¨ltigung seiner Aufgaben soll und wird Strogoff nicht als Individuum wachsen; vielmehr ist es Teil seines Auftrags, dass er seine Identita¨t leugnet, bzw. sein Leben und seine Identita¨t werden durch den Zaren auf eine reine nachrichtentechnische Funktion reduziert, was ein Dialog zwischen dem Zaren und Strogoff klarmacht. – Jure-moi que rien ne pourra te faire avouer ni qui tu es ni ou` tu vas! – Je le jure. – Michel Strogoff, reprit alors le czar, en remettant le pli au jeune courrier, prends donc cette lettre, de laquelle de´pend le salut de toute la Sibe´rie et peut-eˆtre la vie du grandduc mon fre`re. – Cette lettre sera remise a` Son Altesse le grand-duc. – Ainsi tu passeras quand meˆme? – Je passerai, ou l’on me tuera. – J’ai besoin que tu vives! – Je vivrai et je passerai, re´pondit Michel Strogoff.16
Strogoff na¨hert sich in seiner Anonymita¨t immer mehr dem telegrafischen Signal an, das als rein bedeutungsloser Impuls durch Datenleitungen geschickt wird. Dem entspricht der Befund der Philosophin Sybille Kra¨mer, die in ihrer Medientheorie erkla¨rt,17 dass Boten immer nichtpersonale Entita¨ten sein mu¨ssen und prinzipiell durch technische Medien ersetzbar sind. Der Bote ist nicht Souvera¨n seiner Rede, und so wundert es nicht, dass er in seiner ¨ bertragungsfunktion ersetzbar ist durch nichtpersonale Entita¨ten. Die Neutralita¨t U ¨ bertragungsgeschehen eigen ist, wird nicht und Indifferenz, die dem unperso¨nlichen U nur im Topos vom sterbenden Boten aufgerufen, sondern kulminiert in dem Umstand, dass Boten durch symbolische und technische Nachrichtentra¨ger zwanglos substitu¨ bertragens. ierbar sind. Kaum etwas ist so gut u¨bertragbar wie die Botenfunktion des U Der Bote ist eine Person, die ihrer Rolle gerecht wird, indem sie sich so verha¨lt, als ob sie eine Nicht-Person wa¨re. Boten verko¨rpern Aufgaben, die durch die Zirkulation und die Funktionsweise von Dingen oft ebenso gut realisierbar sind.18
Auch wenn Verne den von Kra¨mer beschriebenen Umstand umkehrt – der Kurier ersetzt den Telegrafen – bleibt das Ergebnis gleich. Boten sind nie Herren ihrer selbst, sondern folgen und u¨bermitteln Befehle. Idealerweise sind Boten 15 16 17 18
Ebd., S. 183. Ebd., S. 40. Kra¨mer 2008. Ebd., S. 121 [Hervorhebung im Original].
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also auch bei Verne Nicht-Personen, die austauschbar werden mit moderner Telekommunikationstechnologie. Dies ist genau die Situation, die Verne in seinem Roman inszeniert, Michel Strogoff wird zu einer bloßen Verko¨rperung des Telegrafen.
Michel Strogoff und Le Tour du Monde en Quatre-Vingts Jours Der wahre Held des Romans ist der Telegraf, der alle diese Gefahren, mit denen Strogoff ringen muss, ohne Probleme umgeht. Er ist aber leider kein Held, von dem man erza¨hlen kann. Die Reiseabenteuer des Telegrafen laufen unterhalb der Wahrnehmungskapazita¨ten des menschlichen Sensoriums ab. Deshalb muss, wenn erza¨hlt werden soll, anscheinend wieder auf den guten alten Menschen zuru¨ckgegriffen werden, eine Strategie, die auch zentral fu¨r Vernes Le Tour du Monde en Quatre-Vingts Jours ist. Der Weltreisende Phileas Fogg gleicht zuna¨chst sehr Heiner Mu¨ller auf seinem Flug. Der Plan bzw. die Wette, die Fogg mit seinen Clubbru¨dern abschließt, beruht darauf, mo¨glichst reibungslos durch das neu etablierte globale Transportsystem zu reisen. Fogg versucht die narratologische Katastrophe zu simulieren, na¨mlich das Sprichwort „wenn einer eine Reise tut, hat er was zu erza¨hlen“ umzuwandeln in die Gewissheit, dass Reisen nicht mehr la¨nger etwas ist, von dem man erza¨hlt, sondern das verwaltet und einem pra¨zisen Timing unterzogen wird. Natu¨rlich la¨uft die Reise nicht so ab, wie Fogg es geplant hat. Und es ist auch hier eine kontinuierliche Intervention, vor allem verursacht durch den Diener Passepartout, der durch seine Eskapaden immer wieder Komplikationen schafft, die die Reise aus einem logistischen Meisterwerk in ein Abenteuer verwandeln. Was Le Tour du Monde en Quatre-Vingts Jours und Michel Strogoff miteinander verbindet, ist die Thematik der Telegrafen. In Le Tour du Monde en Quatre-Vingts Jours bricht die Telegrafenkommunikation zwar nicht zusammen, aber sto¨ßt an ihre juristischen Grenzen. Fix, ein Polizeiinspektor, der sich auf einer globalen Jagd nach einem Bankra¨uber befindet,19 glaubt, dass Foggs Wette nur ein cover-up ist, um sich mit dem erbeuteten Geld abzusetzen. Fix nimmt die Spur auf und fordert telegrafisch einen Haftbefehl an. Der kann aber nur postalisch u¨bermittelt werden und wird so erst aktiv, nachdem Fogg die Erde umrundet hat, da Fogg von dem Medium der Post, das die gleichen Verkehrsmittel wie er benutzt, nicht eingeholt werden kann.20 Auch hier ist wie im Michel Strogoff das Telegrafensignal der eigentliche Held, der die Welt noch wesentlich 19 Vgl. Verne 1977, S. 39 f. 20 Vgl. ebd., S. 63.
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schneller als Phileas Fogg umrunden kann, aber auch hier taugen seine Bot¨ bermittlung von schaften nicht fu¨r Erza¨hlungen, er taugt noch nicht einmal zur U Dokumenten, wie des Haftbefehls fu¨r Fogg. Beide Romane haben weiterhin gemeinsam, dass die Hauptakteure eine moderne Kommunikationsinfrastruktur abschreiten, um auf eine wahrnehmbare Weise die Nachrichtenwege des telegrafischen Signals zu verdeutlichen. Es bleibt dabei entscheidend, dass sowohl Strogoff also auch Fogg sich bei diesen Reisen nicht individualisieren, sondern vielmehr zu Boten im Sinne von Sybille Kra¨mer werden.21 Foggs Charakter hat von Anfang an nicht viel zu offenbaren. Der Erza¨hler schildert ganz deutlich, dass weder Foggs Familiengeschichte noch die Quelle ¨ ber Michel Strogoff erfa¨hrt der Leser zuseines Reichtums bekannt sind.22 U na¨chst viele Details, wie dass er in Sibirien aufwuchs und mit seinem Vater auf die Jagd ging,23 aber es setzt bei seinem Reiseaufbruch ein zunehmender Identita¨tsverlust ein. Dies beginnt mit dem einfachen Faktum, dass sein Pass ihn nicht als Kurier des Zaren ausweist und ihm kaum Sonderprivilegien gewa¨hrt,24 es wird durch seine Zufallsbekanntschaft mit der jungen Frau Nadja, die zu ihrem exilierten Vater in Irkutsk reisen will, gesteigert. Nadja hilft er dadurch, dass er sich als ihr Bruder ausgibt und ihr so ermo¨glicht, mit seinem Pass die Grenze zu Sibirien zu u¨berschreiten. Auch wenn Nadja und Strogoff als Liebespaar zusammenfinden, ist Strogoffs prima¨re Intention zuna¨chst, seine Identita¨t durch die Begleiterin zu verschleiern, da er davon ausgeht, dass Ogareffs Agenten nur nach einem allein reisenden Mann und nicht nach einem Pa¨rchen Ausschau halten.25 Die Identita¨tsnegation kulminiert in dem Moment, in dem er seine Mutter auf seiner Reise trifft. Dieses Zusammentreffen findet in einer Poststation in Omsk, Strogoffs Heimatstadt, statt. Strogoff entscheidet sich, Omsk nicht zu besuchen, sondern gema¨ß seinem Status als Bote nur in der Poststation Pause zu machen. Zufa¨llig ist aber auch Strogoffs Mutter dort, die freudig u¨berrascht natu¨rlich den Namen ihres Sohnes ausruft. Strogoff muss aber, um seinen Identita¨t weiter geheimzuhalten, leugnen, dass es seine Mutter ist. Seine Mutter, die von dem Beruf ihres Sohnes weiß, versteht jedoch schnell
21 Diese Eigenschaft des Boten wird auch deutlich dadurch, dass beide Charaktere kein Interesse an den kulturellen Zeugnissen haben, die ihnen auf ihrem Weg begegnen. Strogoff beispielsweise ignoriert vollsta¨ndig die Attraktionen der riesigen Messe in Nischnij-Nowgorod (Vgl. Verne 1978, S. 46 f.) und Fogg interessiert sich in analoger Weise nicht fu¨r die historischen Sta¨tten Bombays und zieht es vor, in einem Restaurant am Bahnhof der indischen Metropole zu essen (vgl. Verne 1977, S. 62). 22 Vgl. Verne 1977, S. 10. 23 Vgl. Verne 1978, S. 35 f. 24 Vgl. ebd., S. 43 f. 25 Vgl. ebd., S. 84 f.
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und leugnet ihrerseits, dass es sich um ihren Sohn handelt, und betont, dass es nur eine Verwechselung war.26 Diese kurze Verletzung von Strogoffs Anonymita¨t genu¨gt jedoch, um Ogareffs Verdacht zu wecken, und er nimmt Strogoffs Mutter in Gewahrsam. Ogareff schafft es aber nicht, die Information u¨ber den Kurier des Zaren aus der Mutter herauszuzwingen, sondern er muss warten bis er vor einer Gruppe von Kriegsgefangenen, von der er weiß, dass der Kurier unter ihnen ist, androht, die Mutter zu foltern. Strogoff offenbart daraufhin seine Identita¨t dadurch, dass er seiner Mutter zur Hilfe eilt. Strogoffs Inkognito wird also nur implizit aufgebrochen und nicht explizit entlarvt.27 Die nun folgende Bestrafung, Strogoff wird geblendet, soll aber eine neue falsche Identita¨t fu¨r ihn erzeugen.28 Die Blendung ist nicht erfolgreich, da Strogoff bei dem Anblick seiner Mutter Tra¨nen in die Augen kommen und die Hitze des Blendstahls so gemildert wird, dass die Sehkraft des Kuriers nicht dauerhaft gescha¨digt wird.29 Strogoff offenbart dies jedoch auch seinen Reisegefa¨hrten nicht und kann durch diese neue Identita¨t dann doch noch seinen Auftrag ausfu¨hren, bzw. er kann Ogareff to¨ten, der sich unter seinem Namen, Michel Strogoff, in Irkutsk eingeschlichen hatte, um so die Eroberung Irkutsk durch die Tataren zu verhindern.30 Fogg und Strogoff werden zu Phantomen, die entlang von Kommunikationskana¨len zirkulieren. Es geht hier also nicht mehr darum, die Geschichte einer Subjektwerdung zu erza¨hlen, sondern darum, Geistergeschichten zu imaginieren. Das heißt die Identita¨tslosigkeit von Fogg und Strogoff setzt einen großen Teil der narrativen Spannung frei. Fogg wird von Fix beispielsweise nur verfolgt, weil Fix nicht die Geschichte dieses Gentleman durchschauen kann und ihn so als Bankra¨uber identifiziert. Der Kurier des Zaren beginnt seine Reise noch radikaler mit einer expliziten Selbstverneinung: „Michel Strogoff ne devait pas l’oublier : il n’e´tait plus un courrier, mais un simple marchand, Nicolas Korpanoff, qui allait de Moscou a` Irkoutsk, et, comme tel, soumis a` toutes les e´ventualite´s d’un voyage ordinaire.“31 Beide Hauptprotagonisten sind nur noch Phantome des Nachrichtenverkehrs, die eine genauso abitra¨re Identita¨t haben wie elektrische Impulse in Telegrafenleitungen.
26 27 28 29 30 31
Vgl. ebd., S. 208 ff. Vgl. ebd., S. 330 f. Vgl. ebd., S. 342 f. Vgl. ebd., S. 491 f. Vgl. ebd., S. 484 ff. Ebd., S. 44.
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Die Journalisten in Michel Strogoff Fix, der Inspektor aus Le Tour du Monde en Quatre-Vingts Jours, ist ein interessanter Charakter, weil er an das globale Informationssystem angekoppelt ist und geradezu aus Versehen die gleiche Leistung wie Fogg vollbringt. Er wird zum Geisterseher, der den phantomhaften Fogg sta¨ndig zu beobachten versucht. In Michel Strogoff gibt es zwei Charaktere, die eine a¨hnliche Funktion u¨bernehmen. Es handelt sich dabei um den britischen Journalisten Harry Blount, der sprechenderweise fu¨r den Daily Telegraph arbeitet, und den franzo¨sischen Reporter Alcide Jolivet, der mit seiner geheimnisvollen „Cousine Madeleine“ korrespondiert.32 Beide Journalisten brechen zum gleichen Zeitpunkt wie Michel Strogoff von Moskau aus auf, um u¨ber die mo¨glichen Kriegshandlungen in Sibirien zu berichten. Im Folgenden sollen sich die Reisewege der drei immer wieder u¨berschneiden, und es kommt zu einem spektakula¨ren Zusammentreffen in einer Telegrafenstation.33 Diese Telegrafenstation befindet sich in der unmittelbaren Na¨he der Stadt Kolywan, die von Tartaren besetzt wird. Es ist der letzte Posten von dem die Journalisten ihre Nachrichten noch nach Europa schicken ko¨nnen, und es kommt zu einem Wettstreit zwischen Jolivet und Blount. Blount, der als erster dem Telegrafenbeamten seine Nachrichten diktiert, will den Kanal nicht freigeben, weil er hofft, live, unmittelbar u¨ber die sich nun ereignenden Vorga¨nge berichten zu ko¨nnen. Um in der Leitung zu bleiben, diktiert er dem Beamten einfach die biblische Genesis als Fu¨llzeichen, die nur von plo¨tzlichen Meldungen unterbrochen wird. „Deux e´glises sont en flammes. L’incendie paraıˆt gagner sur la droite. La terre e´tait informe et toute nue; les te´ne`bres couvraient la face de l’abıˆme…“34 Als der Franzose dann doch noch an die Reihe kommt, tut er es dem Briten gleich, nur benutzt er als Fu¨llmaterial ¨ bertragung wird dann aber von dem Beamten Schlagertexte.35 Diese ,Live‘-U unterbrochen mit den Worten: „Monsieur, le fil est brise´.“36 Das plo¨tzliche Ende des Telegrafen markiert aber nicht nur das Ende der journalistischen Live¨ bertragung, sondern auch das Ende des ersten Teils des Romans, der in zwei U Teile aufgeteilt ist, was noch einmal verdeutlicht, dass es Verne nicht um den Kurier, sondern um die technische Infrastruktur geht.37 32 33 34 35 36 37
Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 252 ff. Ebd., S. 256. Vgl. ebd., S. 256 f. Ebd., S. 258. Der Telegrafenbeamte soll im zweiten Teil des Romans aber wieder auftauchen und noch einmal den posthumanen Status des Boten unterstreichen. Er reist mit einem Pferdegespann entlang der Telegrafenleitung Richtung Irkutsk, in der Hoffnung, noch ein intaktes Telegrafenbu¨ro zu finden, in dem er eine Anstellung finden kann (vgl. ebd., S. 364). Er trifft dabei auf Strogoff und Nadja und nimmt sie auf seiner Reise mit. Bei einem Gespra¨ch mit ihm fragt
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Fix, Joulivet und Blount sind Nebencharaktere in Vernes Erza¨hlungen, die aber die Pra¨senz von weltumspannenden Infrastrukturen indizieren. Sie sind jedoch nicht die Helden dieser Romane. Sie funktionieren nicht als eigentliche Handlungstra¨ger, sondern als Beobachter, die zuna¨chst einmal narratologisch die Erza¨hlperspektive erweitern und dem Leser allerhand Informationen geben, die in rein personaler Erza¨hlweise nicht zuga¨nglich wa¨ren. Aber sie sind auch Beobachter in einer buchsta¨blichen Bedeutung. Fix ist der Inspektor, der die Reisebewegungen auffa¨lliger Subjekte beobachten soll, und die Journalisten beobachten die politischen Vera¨nderungen in Sibirien. Es ist ihnen allen ge¨ bertragungsnetz ha¨ngen, das, wenn existent, Bemeinsam, dass sie an einem U richterstattung beinahe im Live-Format ermo¨glicht.
Die Boten des Weltverkehrs Es verweist auf den posthumanen Kern von Vernes Erza¨hlungen, dass sie wegen ihrer Technikfantasien bekannt wurden und dass die Helden dieser Romane mit wenigen Ausnahmen kaum in der Erinnerung bleiben. Verne erza¨hlt zwar nicht von einer entmenschlichten Welt, aber die Protagonisten seiner Geschichten sind nicht prima¨r individuelle Helden, sondern es ist der Weltverkehr, eine Telegrafenleitung oder auch eine ballistische Kurve zum Mond. Die Charaktere seiner Geschichten machen auch zumeist keine perso¨nliche Entwicklung durch, sondern na¨hern sich immer mehr der Struktur von Waren und Nachrichten an, die durch die Kommunikationskana¨le der industrialisierten Moderne zirkulieren. Spannung und Handlung kommt erst auf, wenn das Funktionieren der Medien gesto¨rt wird und die Boten ihr anonymes Werk nicht mehr ohne weiteres vollbringen ko¨nnen. Dies entspricht der medienphilosophischen Beobachtung Sybille Kra¨mers, dass Medien erst in das Bewusstsein des Mediennutzers treten, wenn sie gesto¨rt werden.38 Protagonisten werden bei Verne erst zu Helden, wenn Infrastrukturen einbrechen, Medien nicht mehr ohne weiteres funktionieren. Die Sto¨rung wird aber bei Verne nicht als befreiender Schlag zur Individualisierung gedacht, sondern die charakterlosen Boten seiner Romane versuchen permanent Sto¨rquellen auszumerzen, um in der technischen Infrastruktur zu verschwinden. Die Sto¨rung macht es einfach erst mo¨glich, u¨ber diese posthumanen Systeme zu erza¨hlen. Was Vernes Schreiben so radikal modern macht, ist nicht die Imagination von Strogoff, ob er sich an die kuriose Episode mit Blount und Jolivet erinnere. Der Telegrafist antwortet, dass er das vergessen habe, und fu¨hrt aus: „Je ne lis jamais les de´peˆches que je transmets. Mon devoir e´tant de les oublier, le plus court de les ignorer.“ (Ebd., S. 359) 38 Vgl. Kra¨mer 2008, S. 27.
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technischen Utopien, sondern ein fru¨hes Versta¨ndnis dafu¨r, welche Funktion Individuen in komplexen Kommunikationssystemen haben bzw. nicht mehr haben. Der Marxsche Begriff des „Weltverkehrs“ denotiert dabei als zeitgeno¨ssische Referenz die wahre Modernita¨t, die in Vernes Prosa enthalten ist.39 Das Bedeutende daran ist, dass dieser Weltverkehr nicht immer an der Oberfla¨che liegt, weil man u¨ber ihn, wenn er funktioniert, nicht viel zu berichten hat – er macht Helden zu postalischen Adressen und mit Fahrscheinen zu versehenden Passagieren. Der Weltverkehr wird nicht mehr von einem Goethe bestimmt, der auf seiner Reise nach Italien noch seine Seele bilden konnte, sondern von Geistern, die sich als anonym adressierte Phantome durch Transportkana¨le schicken lassen. Was in diesem Moment in den Vordergrund ru¨ckt, ist nicht mehr der Reisende, sondern die Reise bzw. die Route selber. Das Ungeheuerliche ¨ berraschung auf der Reise, sondern es in Vernes Romanen geschieht nicht als U ist die Reise u¨berhaupt. Die Reiseroute und nicht die menschliche Erfahrung konstituiert das Abenteuer. Vernes Roman De la Terre a` la Lune macht diese Struktur, die in Michel Strogoff und Le Tour du Monde en Quatre-Vingts Jours implizit angelegt ist, explizit. Hier wird buchsta¨blich als Reisemittel ein Geschoss gebaut, das die Insassen ohne Navigationsmo¨glichkeiten einfach auf ihre Umlaufbahn schießt. Was aus den Narrationen verschwindet, ist der Mensch und was in den Blick geru¨ckt wird, ist die Welt als ein Netzwerk von Konnektivita¨ten und Routen. Das Territorium mit seinen unruhigen Einwohnern ist nur noch gut, um doch noch etwas wie Abenteuer schreiben zu ko¨nnen, denn ein moderner Weltverkehr interessiert sich nicht mehr fu¨r den einzelnen Reisenden, sondern fu¨r die Struktur als Ganzes. Meine Interpretation von Vernes Texten als posthuman, das heißt als Narrative, die nicht von Individuen, sondern von technischen Systemen erza¨hlen, versucht auch darauf hinzuweisen, dass die Entstehung des Posthumanen, wie es beispielsweise Katherine Hayles in ihrem Buch My Mother Was a Computer beschreibt, nicht nur verbunden ist mit der Verbreitung intelligenter Maschinen,40 sondern an dem Punkt entsteht, wo technische Netzwerke emergieren. Die Frage des Posthumanen ist nicht ausschließlich eine Frage von Maschinen, die rechnen ko¨nnen, sondern von Boten, die wie Informationen und Waren in Kommunikationssystemen zirkulieren.
39 Marx und Engels verwenden den Begriff „Weltverkehr“ in der Deutschen Ideologie, wo er einen kommunikativen und wirtschaftlichen Austausch zwischen Vo¨lkern beschreibt. Marx und Engels sehen den Weltverkehr als zentral fu¨r die Entstehung einer modernen industriellen Gesellschaft an: „Erst wenn der Verkehr zum Weltverkehr geworden ist, und die große Industrie zur Basis hat, alle Nationen in den Konkurrenzkampf hereingezogen sind, ist die Dauer der gewonnenen Produktivkra¨fte gesichert.“ Marx / Engels 1932, S. 44. 40 Hayles 2005.
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Literaturverzeichnis Hayles, Katherine: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature and Informatics. Chicago 1999. Dies.: My Mother Was a Computer. Digital Subjects and Literary Texts. Chicago 2005. Innis, Harold Adams: Empire and Communications. Plymouth 2007 [1950]. ¨ bertragung. Kleine Metaphysik der Medialita¨t. FrankKra¨mer, Sybille: Medium, Bote, U furt a. M. 2008. Marinetti, Filippo Tommaso: „Fondazione e Manifesto del Futurismo“ [1909], in: De Maria, Luciano (Hg.): Filippo Tommaso Marinetti e il futurismo. Mailand 2000, S. 3 – 9. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Kritik der neusten deutschen Philosophie in ihren Repra¨sentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, 1845 – 1846, in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe. Werke, Schriften, Briefe. Im Auftrage des Marx-Engels-Instituts (teilweise: Marx-Engels-Lenin-Instituts in Moskau) hg. v. D[avid Borisovicˇ] Rjazanov [i. e. D. B. Goldendach] (Abteilung 1, Bde. 3 und 5, sowie Abt. 3, Bd. 4: hg. v. V[ladimir Viktorovicˇ] 1. Abt. Bd. 5. Berlin 1932 [1845 – 1847]. McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. Toronto 1962. Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751 – 1913. Berlin 1993. Verne, Jules: De la Terre a` la Lune, Trajet direct en 97 heures 20 minutes. Paris 1865. Ders.: Le Tour du Monde en Quatre-Vingts Jours. Paris 1977 [1873]. Ders.: Michel Strogoff. Paris 1978 [1876].
Internetquellen http://muller-kluge.library.cornell.edu/de/video_transcript.php?f=100 [31. 01. 2014].
Monika Schmitz-Emans
Welt-Bilder, Bildstile, Schreibstile. Hybridkulturelle Bildwelten und ihre literarische Beschreibung bei Orhan Pamuk
Dass Literatur an einer kulturenu¨bergreifenden Konstruktion von ‚Welt‘ mitwirkt, hat der Aufruf zu dieser Tagung in Erinnerung gerufen. Welche Bedeutung hat das Schreiben u¨ber Bilder in diesem Kontext? Bildliche Darstellungen fremdkultureller Provenienz sind ein besonders naheliegender Anlass, sich mit kulturellen Differenzen auseinanderzusetzen: nicht nur mit fremden Sujets und Themen, sondern auch und gerade mit fremden Repra¨sentationsverfahren, fremden darstellerischen Codes – und im Zusammenhang damit mit unterschiedlichen Sehweisen und Verfahren der Weltkonstruktion. An der Intensita¨t literarischer Auseinandersetzung mit Bildern, Bilderzeugungsverfahren und visuellen Stilen wird die Bedeutung des Bildlichen unter beiden Aspekten ablesbar. Texte u¨ber Bilder sind Anla¨sse der Reflexion u¨ber Bildgenese, Sehen, Sehkulturen. Sie ero¨ffnen dabei eine gerade in ihrer Betonung des Kulturspezifischen ‚globale‘ Perspektive aufs Sehen, sofern sie erkennen lassen, dass es unterschiedliche Kulturen der Bilder und des Sehens gibt, deren Besonderheiten gerade in ihrer Kontrastierung deutlich greifbar werden. Allerdings leisten literarische Bildbeschreibungen mehr, als einfach nur Bilder und bildkulturelle Codes in ihrer Spezifik beschreibend zu reproduzieren: Im Kontext literarischer Darstellung gewinnen ku¨nstlerische Stile vielfach Modellfunktion fu¨r die Thematisierung von kulturell differenten ‚Welten‘, sei es unter Akzentuierung der Verschiedenheiten, sei es im Zeichen der Analogisierung – oder der Hybridisierung. Gerade Beispiele literarischer Ekphrasis dokumentieren und reflektieren zudem unterschiedliche Konzepte kulturspezifischer und kulturell-hybrider, regionaler und globaler Kunst, und sie werfen nicht zuletzt die Frage nach der Mo¨glichkeit einer Kommunikation u¨ber Kunst auf, einer Beschreibbarkeit von fremden Bildern, die einen mindestens zweifachen Transfer voraussetzen wu¨rde: von einem kulturellen Horizont in den anderen und vom Bildlichen ins Sprachliche. Schreiben u¨ber Kunst – das ist freilich schon innerhalb eines vertrauten historisch-kulturellen Horizonts ein bei allem Reiz hinsichtlich seines Gelingens auch riskantes Unternehmen, bei dem die Grenzen des ‚Verstehbaren‘, des in
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¨ bersetzbaren‘ und des ‚Sagbaren‘ stets mit im Blick bleiben mu¨ssen. Sprache ‚U ¨ Verscharft sich bei der Auseinandersetzung mit fremdkultureller Kunst nicht die Problematik noch, insofern das beschriebene Kunstwerk und der ihm gewidmete Text unterschiedlichen kulturellen Codes verpflichtet sind? Muss es hier nicht zwangsla¨ufig zu einer doppelten Kolonialisierung kommen: zur Auslegung eines Werkes auf der Basis kulturell heterogener Symbolsysteme und Deutungspraktiken sowie zur Versprachlichung von visuellen, ra¨umlichen oder haptisch-taktilen Erfahrungen, also zu zwei Formen der Interpretation, die kaum ohne projektive Sinnzuschreibungen auskommen? Allerdings erzeugen doppelte Risiken auch doppelte Reize. Und wenn Mitchell in seiner Picture Theory u¨ber die Ekphrasis schreibt, ihr Grundimpuls sei der Versuch einer ¨ berwindung von Andersheit1, dann ist es vielleicht statthaft, von der ArU beitshypothese auszugehen, das Schreiben u¨ber andere Kulturen verfolge ein analoges Ziel. Dabei ist zu differenzieren: zwischen literarischen Texten u¨ber Werke bildender Kunst, die einer fremden Kultur angeho¨ren – und Texten u¨ber Werke, die selbst schon durch mehr als nur eine Kultur gepra¨gt sind. Beides wiederum kann sowohl in Auseinandersetzung mit tatsa¨chlich existierenden Werken der Malerei, Graphik, Plastik, Architektur, Photographie und anderen bildku¨nstlerischen Genres geschehen (wobei dann die jeweiligen Konzepte, Traditionen und Funktionen der jeweiligen Darstellungsform auf Seiten beider involvierter Kulturen in Betracht zu ziehen sind). Oder es kann anla¨sslich von Werken der bildenden Kunst stattfinden, die Produkte literarischer Fiktion sind – erfunden, um u¨ber sie zu schreiben. Ein Beispiel solchen Schreibens u¨ber fingierte Bilder bieten die Werke der Malerin Aurora in Salman Rushdies Roman The Moor’s Last Sigh.2 Rushdies fingierter Bildkosmos ist kulturell hybrid wie die Welt, in der der Roman spielt, und auf dieser Hybridita¨t liegt ein wichtiger Akzent der Bildbeschreibungen. Eine andere Ausgangssituation liegt vor, wenn Italo Calvino u¨ber die Kunstwerke außerwestlicher Kulturen schreibt; sowohl in fiktionalen Erza¨hlungen als auch in Reiseessays werden diese Werke dann zum realen Widerstand, an dem sich die Interpreten abarbeiten.3 Bei Rushdie wie bei Calvino sind die bildbeschreibenden Passagen in ganz evidenter Weise poetologische Texte, eng verbunden mit dem Selbstversta¨ndnis des Schreibenden und mit seiner Konzeption von Literatur. Nicht nur die zur Bildbeschreibung verwendete Sprache, sondern auch die auf 1 Mitchell 1994, S. 156 f.: „The central goal of ekphrastic hope might be called ‚the overcoming of otherness‘. Ekphrastic poetry is the genre in which texts encounter their own semiotic ‚others‘, those rival, alien modes of representation called the visual, graphic, plastic, or ‚spatial‘ arts.“ 2 Rushdie 1998. 3 Vgl. Calvino 1994, „Il mihrab“, S. 219 – 222.
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diese Bildbeschreibungen selbst angewandte Beschreibungssprache bedarf u¨brigens der (selbst-)kritischen Erwa¨gung. Von der Gefahr einer ‚Kolonialisierung‘ des fremdkulturellen Werks durch den Interpreten zu sprechen, suggeriert etwa bereits eine postkolonialistische und globalisierungskritische Perspektive, wie sie vor allem mit dem Namen Edward Saids verbunden ist, also vor allem die Sorge, der ‚Westen‘ ergreife beschreibend Besitz auch von den kulturellen Gu¨tern der außerwestlichen Welt und oktroyiere deren ku¨nstlerischen Traditionen die eigenen Auslegungssysteme auf. Doch nicht nur der eingangs erwa¨hnte Tagungsaufruf bietet Indizien dafu¨r, dass das ‚Orientalismus‘-Paradigma selbst mittlerweile nicht mehr den aktuellen Stand der Reflexion repra¨sentiert, sondern auch Beitra¨ge zur Erhellung der Orient-Okzident-Beziehungen aus dem Bereich der Kunst- und Kulturwissenschaft. Von August 2010 bis Januar 2011 stand eine Ausstellung im Museum am Markt zu Karlsruhe unter dem Titel: Das fremde Abendland? Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute; ein 2010 erschienener Bildband, bestehend aus einem Katalog der Exponate sowie diversen Abhandlungen, dokumentiert die Exponate. Auch hier bekundet sich – auf in weiterem Sinn konstruktivistischer Basis – eine Modifikation der zeitweilig mit dem Stichwort ‚Orientalismus‘ verbundenen Vorstellungen. Denn erstens wird als bislang unterbelichtetes Pendant der westlichen Konstruktion des sogenannten Orients die ‚orientalische‘ Konstruktion des Okzidents ins Zentrum der Betrachtung geru¨ckt. Und zum anderen betonen Kuratoren und Beitra¨ger die positiven Seiten der Konstruktion des kulturell Anderen: den damit verbundenen Ausdruck der Sympathie und Faszination, die Chance eines Unterlaufens kultureller Grenzen durch ihre (oft nur scheinbar naive) Ignorierung – und die potenzielle Bedeutung, die fremdkulturelle Bilder fu¨r die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur haben ko¨nnen.4 Gerade bildliche Darstellungen in verschiedenen Formaten und auf der Basis verschiedener Bilderzeugungsverfahren besta¨tigen, was auch literarische Thematisierungen des kulturell Anderen erkennen lassen: Dass die Begegnung mit dem ‚Anderen‘ auf dialektische Weise an die Selbstwahrnehmung gebunden ist. Die entstehenden Bilder sind hybride Bilder – und wer dafu¨r einmal sensibilisiert ist, mag sich bald fragen, ob es stilistisch ‚reine‘ Bilder u¨berhaupt gibt. Ist nicht der ‚reine‘ Stil selbst ein tempora¨res und kontingentes kulturelles Konstrukt? Insofern es bei der Produktion von Bildern fremder Kulturen ebenso wie mit Texten u¨ber diese Bilder sowie schließlich mit der verbalen Charakteristik dieser Texte selbst implizit oder explizit um einen Konstruktionsprozess des ‚Anderen‘ (und im Zusammenhang damit auch des ‚Eigenen‘) geht, sind entsprechende Darstellungsverfahren durch die schlichte Dichotomie von ‚Realismus‘ und ‚Fiktion‘ nicht erfassbar. (Und Schreibverfahren, die im Zeichen der Entdiffe4 Vgl. den Ausstellungskatalog Mostafawy / Siebenmorgen 2010.
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renzierung zwischen ‚faktualer‘ und ‚fiktionaler‘ Darstellung stehen, sind ihrerseits wiederum dazu disponiert, auch und gerade die Grenze zwischen existierenden und erfundenen Kunstwerken zu unterlaufen.) Eine Vielzahl von literarischen Beispielen gerade aus den vergangenen Jahrzehnten belegt, wie die Form der Bildbeschreibung zur Reflexion u¨ber kulturelle Differenzen, u¨ber Ausdifferenzierungs- und Entdifferenzierungsprozesse eingesetzt werden kann, u¨ber wechselseitige Beobachtungsvorga¨nge und insbesondere u¨ber Verschmelzungen differenter Wahrnehmungsmuster und Weltmodelle, von Bildsprachen und Bildbeschreibungssprachen. Kulturell ‚hybride‘ Bilder machen besonders sinnfa¨llig, wie sich differente kulturelle Einflu¨sse u¨berlagern ko¨nnen und inwiefern dies gegenu¨ber eher tradierten und statischen Bildprogrammen blickero¨ffnend und ‚horizonterweiternd‘ wirkt: Kulturspezifische Codes werden durchbrochen, alternative Sehweisen tun sich auf – und zwar jenseits der (problematischen) Alternative von ‚ada¨quaten‘ oder ‚inada¨quaten‘ Bildern. Auch das Imagina¨re (das individuelle und das kollektive Imagina¨re) hat sein Recht auf Darstellung, und unvertraute Bildcodes kommen dem oft entgegen. Aber nicht diese Bilder selbst interessieren hier, sondern die Art, wie u¨ber sie geschrieben wird – ihre literarische Beschreibung und Thematisierung. Das Schreiben u¨ber kulturell hybride Bilder hat einen analogen Effekt wie diese Bilder selbst, was den Bruch mit eingefahrenen Wahrnehmungsgewohnheiten, die Modifikation gela¨ufiger Wahrnehmungsmuster angeht. Der Effekt der Bilder wird im Schreiben u¨ber sie zum einen wiederholt und insofern verdoppelt, zum anderen aber auch reflexiv potenziert.
Drei Bilder-Texte von Orhan Pamuk Orhan Pamuks Oeuvre eignet sich besonders zur Exemplifizierung des Zusammenhangs zwischen einem Schreiben u¨ber Bilder und einer reflexiven Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Welten jenseits der Polarisierungen und Dichotomisierungen. Er setzt sich in seinen Texten mit verschiedensten Bildern, Bildsprachen und Bilderzeugungsverfahren auseinander – und nimmt dabei deren jeweilige Spezifik in den Dienst der Reflexion a¨sthetischer und a¨sthetisch reflektierter Welt-Entwu¨rfe in einem Raum zwischen den Kulturen. Gerade Pamuks Texte u¨ber Bilder, ihre Entstehung und ihre medialen Aspekte sind der Idee verpflichtet, dass Welt a¨sthetisch konstruiert wird – und dass solche Konstruktion gerade nicht innerhalb eines homogenen und abgeschlossenen kulturellen Raums erfolgt, sondern im Austausch zwischen den Kulturen. Mit seinen Texten u¨ber Bilder und ihre transkulturellen Weltgestaltungs-Potenziale geht es Pamuk aber nicht allein um eine Wu¨rdigung der bildenden Kunst als Beitra¨gerin zur Erzeugung einer komplexen plurikulturellen
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Welt. Zugleich reflektiert sich – so meine These – darin der (Selbst-) Anspruch der Literatur darauf, Analoges zu leisten. Und zwar sowohl durch die Beschreibung von Bildern, ihren kulturell-historischen Kontexten, ihren Entstehungsbedingungen und Codes – als auch durch strukturell-kompositorische Verfahren der Kontrastierung und Kreuzung divergenter Perspektiven auf die Welt. Zwei Voraussetzungen insbesondere sind fu¨r Pamuks Blick auf Bildwelten und Bildkulturen sowie fu¨r die daran geknu¨pften Reflexionen entscheidend: Erstens der Umstand, dass er sich selbst als tu¨rkischer Autor samt seiner Hei¨ berschneidungsbereich zwischen matstadt Istanbul in einem Grenz- und U westlicher Welt und Orient verortet; Gegenstand seiner Texte ist ein GrenzRaum, keine Grenz-Linie; es geht um die Spannungen, die sich aus solcher doppeltkulturellen Orientierung ergeben. Zweitens hat Pamuk zur Welt der Bilder seit seiner Jugend eine ungewo¨hnlich enge Beziehung. Wie er in seinem autobiographischen Text Istanbul berichtet, sah er sich als Heranwachsender zuna¨chst als ku¨nftiger Maler, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte.
Hybridisierte Perspektivik. Malerische Verfahren als Praktiken und Modelle der Weltkonstruktion: Pamuks Rot ist mein Name Pamuks Roman spielt im Malermilieu, gegen Ende des 16. Jahrhunderts, am osmanischen Hof. Eine Gruppe osmanischer Maler kommt mit Werken westlicher Malerei in Kontakt, nimmt die fundamentalen Unterschiede zwischen westlichem und orientalischem Darstellungsstil wahr und entwickelt ein Sensorium fu¨r die Beziehung dieser differenten Malstile zu unterschiedlichen, je¨ berzeugungen, welche auf fundaweils kulturspezifischen Einstellungen und U mentale Weise die Beziehung des Subjekts zu sich selbst und zur Welt betreffen. Die Reaktionen der tu¨rkischen Maler sind unterschiedlich; die einen fu¨hlen sich angezogen von den westlichen Bildern und betrachten sie als Anregung zur Innovation des eigenen Malstils. Die anderen sehen darin einen Verrat, ein ideologisches Bu¨ndnis mit den ‚Ungla¨ubigen‘, eine Erschu¨tterung des tradierten Weltbildes, die verhindert werden muss. Doch die ‚fra¨nkische‘ Malweise infiltriert die Welt der Maler bzw. deren Art, die Welt zu sehen. Um die damit verbundene Abwendung von der eigenen Tradition zu kaschieren und die Malerschule vor den Nachstellungen orthodoxer Muslime zu schu¨tzen, wird ein Maler geto¨tet; weitere Gewalttaten folgen – und verdeutlichen die politische Bedeutung, die ein ku¨nstlerisches Credo in ideologischer Hinsicht haben kann. Pamuk integriert in seine Geschichte die Darstellung wichtiger Grundzu¨ge westlicher Malerei und verknu¨pft Bildsprachenvergleiche mit kultur- und
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mentalita¨tsgeschichtlichen Vergleichen auf eine Weise, die an kunstwissenschaftliche Befunde anschließt bzw. diese illustriert. Jede der kontrastierenden Malweisen repra¨sentiert einen Modus der Konstruktion von ‚Welt‘, und die Figuren des Romans sind sich dessen durchaus bewusst. Ihr Dissens u¨ber Malstile ist ein Dissens u¨ber Weltbilder, der teilweise mo¨rderische Folgen hat; darauf beruht die kriminalistische Dimension des Romans, in dem es u. a. um die Suche nach einem Mo¨rder, die Aufkla¨rung eines Mordes geht. Fu¨r die ungla¨ubigen ‚fra¨nkischen‘ Maler steht erkennbar der Mensch im Zentrum der Welt. Sie stellen die Dinge von einem menschlichen und dabei individuellen Beobachterstandpunkt aus dar. Entscheidend ist der Blick des Menschen, der als Blick selbst mit in die zentralperspektivische Darstellung einfließt, wa¨hrend die osmanische Malerei die Welt ‚von oben‘ sieht – wie Allah.5 Auf westlichen Bildern wird eine Moschee dann, wenn sie dem Standpunkt des menschlichen Beobachters fern ist, als klein dargestellt – was aus traditionellosmanischer Sicht einer fundamentalen Verfa¨lschung gleichkommt. Ga¨be die Malerei – so meinen zumindest die traditionalistischen Kritiker – die Perspektive Allahs auf, so ko¨nnte sie auch gleich die Perspektive von Straßenhunden einnehmen: Individualperspektivische Kunst ist unrein und infiziert ihre Anha¨nger mit den Lehren der Ungla¨ubigen. Neben dem Einsatz einer auf den menschlichen Beobachter zentrierten Perspektivik gibt es noch ein weiteres Charakteristikum der westlichen Malerei, das die osmanischen Maler als fremdartig wahrnehmen und als Indikator eines fundamental anderen Bezugs zu den Dingen teils bewundern, teils ablehnen: Die ‚Franken‘ malen Schatten. In ihrer Wesenlosigkeit sind Schatten aus osmanischer Sicht ein u¨berflu¨ssiger, ja ¨ ber diese malabwegiger Gegenstand, etwas Ta¨uschendes, ja ein Sakrileg.6 U technischen Besonderheiten hinaus sind es spezifische Sujets, die die „fra¨nkische“ Kunst als fremdartig ausweisen, insbesondere das individualisierende Portra¨t, das den Betrachter dazu provoziert, in seine Augen zu schauen und so suggeriert, dass Betrachter und Portra¨tierter Blicke wechseln. Damit wird die Grenze zwischen Totem und Lebendigem auf frevlerische Weise verwischt – so zumindest die Kritiker. Tatsa¨chlich bestand in der islamischen Kultur zwar keineswegs ein generelles Bilderverbot, in der religio¨sen Kultur war jedoch die anthropomorphe Darstellung tabuisiert.7 Schließlich gibt es noch einen weiteren Grund, warum die westlichen Bilder aus der Sicht des orthodoxen Islam und seiner Bildkultur irritierend und verda¨chtig erscheinen: Wa¨hrend in der osmanischen Kunst die Bilder in Begleitung von Texten auftreten, die sie illustrieren und von denen sie dadurch hinsichtlich ihrer Bedeutung gleichsam 5 Vgl. Pamuk 2006, S. 230. 6 Vgl. ebd., S. 253. 7 Vgl. dazu Belting 2008.
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kontrolliert werden, stehen die Gema¨lde der ‚fra¨nkischen‘ Maler fu¨r sich selbst. Als eigensta¨ndige Tableaus dokumentieren sie eine weitergehende (wenn auch kaum vo¨llige) Emanzipation des Bildes vom Wort – ein Umstand, der aus osmanischer Sicht auffallen muss, da sich doch die osmanische Malkunst im Wesentlichen als Buchmalerei manifestiert. Es ga¨lte als unangemessen, ja verboten, wollten sich die Bilder von den Texten emanzipieren; darum ist das Buch, das Text und Bild verbindet, der angemessene Raum fu¨r Bilder. Personendarstellungen sind nur hier statthaft.8 Pamuks Roman macht bezogen auf zwei kulturell differente Ra¨ume deutlich, in welchem Maße Bilderzeugungstechniken und Bildtypen kulturspezifischen Grundu¨berzeugungen entsprechen und komplexen weltanschaulichen Annahmen bekra¨ftigenden Ausdruck verleihen. Doch nicht nur die Differenzen zwischen westlicher und osmanischer Bildkultur in ihrer jeweiligen Verankerung in Denk- und Sehweisen werden thematisiert. Pamuk erza¨hlt zudem von einem Beispiel versuchter Hybridisierung. Einer der Maler im Roman ist bestrebt, die westlichen (,fra¨nkischen‘) Bilderzeugungsverfahren fu¨r die osmanische Buchmalerei fruchtbar zu machen. Dieses romaninterne Beispiel fu¨r eine Verschmelzung differenter Bildkulturen kann sich auf ein reales historisches Vorbild stu¨tzen, das Hans Belting in seiner Monographie u¨ber Florenz und Bagdad namhaft macht; bemerkenswerter Weise beruft sich Belting illustrierend u. a. auf den Text Pamuks. Der Maler Nakkas Osman hat unter dem Einfluss venezianischer Gema¨lde ein Portra¨t des Sultans Selim II. gemalt. Seine Portra¨tminiatur gibt, wie Belting betont, die „Kenntnis der Perspektive“ erkennen, aber zudem auch den Versuch, die malerisch erfasste Wirklichkeit wieder in eine „Fla¨chenordnung“ einzubinden, wie sie fu¨r osmanische Werke pra¨gend ist; Belting spricht von einer „Gegenstrategie“.9 Pamuk spinnt die Idee einer aus dem Bewusstsein fu¨r differente Bildprogramme erwachsenden Hybridisierungsverfahrens aus: Die Schu¨ler seines den fra¨nkischen Stil in die osmanische Buchmalerei immerhin partiell implementierenden Stils haben nach dem Tod des Meisters auf jeweils verschiedenen Wegen an dessen Innovationen angeknu¨pft und sie weiterentwickelt. Das besondere Interesse der Ku¨nstler gilt, insgeheim oder offen, dem Portra¨t, und hier wiederum vor allem dem Selbstportra¨t. Der Padischdah beauftragt einen der Maler, ihn in einem Portra¨t „nach Art der fra¨nkischen Meister“ darzustellen; dieses soll allerdings – osmanischen Konventionen entsprechend – „zwischen den Seiten eines Buches“ eingebettet sein.10 Dies gibt dem Maler und einem seiner Schu¨ler den Anstoß zur vertiefenden Auseinandersetzung mit dem westlichen Stil. Die Konsequenz ist, dass sich ein 8 Vgl. ebd., S. 69. 9 Vgl. ebd., S. 66. 10 Pamuk 2006, S. 151.
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Malschu¨ler schließlich selbst an einer Stelle portra¨tiert, die dem Bild des Fu¨rsten zuka¨me; so wird er, der Ku¨nstler, zum Zentrum der Welt. Pamuks Roman u¨ber die osmanischen Maler und ihre Begegnung mit der westlichen Kunst, u¨ber die Verschiedenheit von Bildtypen und Malweisen, die der Verschiedenheit von Selbstentwu¨rfen und Weltsichten entspricht, ist auf inhaltlicher Ebene als ‚kunsthistorischer‘ Roman lesbar, der im Medium der Fiktion einen sachkundigen Beitrag zum Versta¨ndnis der differenten Bildkulturen des Westens und des Orients leistet. Aber auch das strukturelle Arrangement seiner Erza¨hlung verdient in eben diesem Zusammenhang Beachtung, ¨ berblendung der Sehdenn es korrespondiert dem Thema ‚Hybridita¨t durch U weisen‘ auf der Ebene der Narration. Die Geschichte – unter anderem die eines mysterio¨sen Mordes und seiner Begleitumsta¨nde – wird nicht linear und nicht von einer einzigen Instanz erza¨hlt. Vielmehr melden sich jeweils unterschiedliche Erza¨hler zu Wort, die einander ablo¨sen; jeder von ihnen repra¨sentiert (erwartungsgema¨ß) eine spezifische Perspektive auf die dargestellten Ereignisse. Man ko¨nnte nun auf den Gedanken kommen, in diesem Arrangement ein Pendant zu jener perspektivisch auf den einzelnen Menschen zentrierten Art der Welterfahrung zu sehen, die gerade aus osmanischer Sicht so pra¨gnant in den ‚zentralperspektivischen‘ Bildern der fra¨nkischen Maler zum Ausdruck kommt. Die Zentrierung und gleichzeitige Relativierung des Bildes, das sich der Erfahrende von der Welt macht, kommt im perso¨nlichen Erlebnisbericht ja schließlich pra¨gnant zum erza¨hlerischen Ausdruck. Aber – auch die osmanische Malerei ist ‚perspektivisch‘; man sollte die Begriffe ‚Perspektive‘ und ‚Zentralperspektive‘ nicht als Synonyme behandeln! Erinnert man sich der im Roman selbst formulierten Unterscheidung zwischen westlicher und osmanischer Sehweise, so kommen Zweifel auf, ob man die Konstruktion des Romans so eindeutig als narratives Pendant des westlichen ‚Perspektivismus‘ deuten darf. Wa¨hrend in der fra¨nkischen Malerei (durch perspektivisch bedingte Verkleinerungen und Vergro¨ßerungen der Objekte) die Sicht des einzelnen menschlichen Betrachters zum Ausdruck komme, so hieß es, gebe die osmanische Malerei die Sicht Allahs auf die Welt wieder : von ‚oben‘, in einem einheitlichen Maßstab fu¨r alle Dinge. Zu den Stimmen, die sich in Pamuks Roman erza¨hlend zu Wort melden, geho¨rt nun auch die – eines Toten (was sich freilich erst spa¨t herausstellt). Damit la¨sst die Romanerza¨hlung den Bereich der empirisch fundierten Wahrnehmung hinter sich. Und die Frage, wie es sein kann, dass ein Toter mitbeobachtet und miterza¨hlt, entzieht sich einer rationalen Aufschlu¨sselung. Sollte es am Ende doch Allahs Perspektive sein, aus der die verschiedenen Stimmen arrangiert werden? (Nein, natu¨rlich ist es die des Schriftstellers – aber dieser behandelt seine Figuren und deren jeweiligen Weltausschnitt so, dass er u¨ber den Einzelperspektiven steht.) Eine weitere Ambivalenz: Zum einen la¨sst sich der Roman als Dokument des
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Wissens von der weltbild-erzeugenden Kraft der Bilder lesen. Zum anderen kommen Bilder im Roman nur als Gegensta¨nde von Gespra¨chen und Beschreibungen vor. In gewissem Sinn kontrolliert die Sprache hier also das, was Bilder ‚bedeuten‘ ko¨nnen – analog der osmanischen Bildpolitik, der autonome Bilder suspekt sind. Und doch geht es inhaltlich gerade um Ansa¨tze zur Lo¨sung aus den Kontrollinstanzen dieser Politik. Die Komposition des Romans entspricht in ihrer Ambiguita¨t einem zwischen westlichen und orientalischen Modellen changierenden Blick.11 Pamuks Roman handelt, so gesehen, nicht nur von unterschiedlichen Modellen von ‚Perspektive‘, sondern er vermittelt dem Leser auch ein Bewusstsein davon, dass es von der gewa¨hlten Leser-Perspektive abha¨ngt, welche Art von Perspektivik er in der Erza¨hlweise des Romans manifestiert sieht.
Horizontverschmelzungen. Der Beitrag fremdkulturell gepra¨gter Bilderzeugungsverfahren zur Genese von Bildern des Eigenen: Pamuks Istanbul12 Auch in der Jugendautobiographie Istanbul verbinden sich Beobachtungen zu kulturellen Differenzen zwischen islamischer und westlicher Welt mit der Thematisierung von Bildern, Bilderzeugungsverfahren und Sehvorga¨ngen, die jene Grenzen hinter sich lassen und zur Konstruktion eines kulturell komplexen Raumes beitragen. Westliche Beobachter, Maler und Schriftsteller erscheinen als Produzenten von Istanbul-Bildern, die nicht etwa eurozentrisch verzerrt und irrefu¨hrend sind, sondern den Erza¨hler an seine Stadt heranfu¨hren, ihm Entdeckungen mo¨glich machen. Pamuks eigene jugendliche Malversuche galten immer wieder seiner Stadt Istanbul.13 Stilistisch stark gepra¨gt durch Europa¨er, durch Turner und Utrillo, Dufy und Matisse, hat sich der junge Maler ein artifizielles Istanbul geschaffen, das ihm lange als real galt, hat sich mit dem Blick der imitierten Maler identifiziert wie mit dem westlicher Reisender. Wie sein 11 Es entspricht einer Konvention, die Zentralperspektive als Wahrnehmungsmodell, Ordnungsverfahren und Bildgestaltungsprinzip mit der westlichen Kultur zu assoziieren, deren Kunst sie seit Beginn der Neuzeit auf so folgenreiche Weise gepra¨gt hat, doch es bedarf einer Pra¨zisierung bzw. Richtigstellung: Die Renaissance entdeckt die Zentralperspektive na¨mlich unter dem Einfluss der von dem Araber Alhazen entwickelten mathematischen Theorie des Sehens. Dieser schafft die Voraussetzungen dafu¨r, dass der Blick selbst als organisierendes Prinzip des Sehens begriffen wird – und damit auch die Voraussetzung fu¨r Bilder, in denen diese organisierende Funktion des Blicks sich visuell im Kompositionsverfahren manifestiert. Die Subjektivierung der Malerei ist also selbst das Produkt kulturell-hybrider Entwicklungsprozesse. Vgl. dazu Sexl / Gisinger 2010, S. 43; Belting 2008, S. 23 – 25. 12 Pamuk 2008a. 13 Vgl. ebd., Kap. 28: „Ich male Istanbul“, S. 303 – 310.
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autobiographischer Text bezeugt, war dies keine Entfremdung von Istanbul, sondern eine so perso¨nliche wie intensive Art der Aneignung. Er selbst ist sich der eigenen hybridkulturellen Pra¨gung bewusst, die aber fu¨r seine Empfa¨nglichkeit fu¨r westliche Bilder wohl keineswegs ausschlaggebend ist; wie er berichtet, gab es in der Geschichte der kulturellen Selbstdarstellung der Tu¨rkei Phasen, wo man die westlichen Bilder dankbar aufnahm, weil entsprechende eigene Bilder fehlten. Pamuks Bilddiskurs la¨uft der Kritik an ‚eurozentrischen‘ Bildern der außereuropa¨ischen Kulturen diametral entgegen: In Bildern europa¨ischer Provenienz (und zwar auch und gerade auf Stichen, nicht nur auf Fotos) sieht er den melancholischen, klimatisch, topographisch und psychologisch ‚schwarzweißen‘ Grundcharakter der Stadt pra¨gnant dargestellt. Die europa¨ischen Bilder sind in seiner Sicht also keine Deformationen und Verfa¨lschungen, sondern Dokumente einer Bilderzeugungstechnik, welche der Stadt gerade gerecht wird – unter anderem dadurch, dass sie diese manchmal verkla¨rt, so wie auch der Schneefall die Stadt poetisiert und u¨berho¨ht, dabei aber ja keineswegs eine ‚Verfa¨lschung‘ ist. Ein kunsthistorisch bedeutendes Dokument der Darstellung Istanbuls durch einen westlichen Ku¨nstler sind Anton Ignaz Mellings (1763 – 1831) Panoramabilder von Konstantinopel.14 Melling schuf eine Serie von Stichen, die unter dem Titel Voyage pittoresque de Constantinople et des rives du Bosphore erschienen. 1969 ließ Pamuks Onkel Sevket Rado ein Faksimile drucken und schenkte seinem Neffen ein Exemplar, der schon den Titel „poetisch“ findet und die Bilder intensiv studiert – als ‚treue‘ Darstellungen seiner Stadt, die Dokumentarisches mit a¨sthetischem Arrangement verbinden.15 Gerade dies macht fu¨r ihn den Reiz der Bilder aus; sie stimulieren oder stu¨tzen eine melancholische Grundstimmung, insofern sie (aus heutiger Sicht) Istanbul unter dem Aspekt des Vergangenseins seiner (imagina¨ren) Großartigkeit darstellt. Ein ganzes Kapitel in Pamuks Buch (Kap. 7) gilt „Mellings Bosporus-Ansichten“16 als einem prominenten Beispiel der Darstellung der Stadt Istanbul (bzw. Konstantinopel) aus fremdkultureller, dabei aber blickero¨ffnender Perspektive. Die Kommentierung der Bilder verbindet sich mit einer Darstellung zu den Rahmenbedingungen ihrer Genese. Mellings Darstellungsstil ist durch eine Detailgenauigkeit charakterisiert, die als Indikator fu¨r ‚Realita¨tstreue‘17 gilt – und so stellt er ein imaginativ u¨berho¨htes Istanbul in einer Weise dar, die auf den Betrachter realistisch wirkt. Aber nicht nur der Darstellungsstil, sondern auch 14 Mostafawy / Siebenmorgen 2010 nimmt unter den Katalogexponaten auch Mellings Konstantinopel-Bilder auf (S. 40) und verweist auf Pamuks Istanbul. 15 Pamuk 2008a, S. 77. 16 Ebd., S. 76 – 92, mit acht Reproduktionen, teilweise u¨ber zwei halbe Doppelseiten. 17 Vgl. ebd., S. 82 f.
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die Sujets stu¨tzen diese Suggestion: Fu¨r den Istanbuler Betrachter ist selbst die stark imagina¨re Haremsszene als ‚realistische‘ Darstellung akzeptabel, weil sie einem positiven Bild der Welt von Konstantinopel entspricht. Mellings Bilder repra¨sentieren einen ‚anderen‘ Realismus: Sie stellen die Realita¨t des Vergangenen und des Imagina¨ren dar – und verdeutlichen, dass beide nicht voneinander zu trennen sind, ebenso wenig wie sich das gegenwa¨rtig Wahrgenommene selbst vom Imagina¨ren lo¨sen la¨sst. Neben Stichen und Gema¨lden spielen Photographien eine wichtige Rolle in dieser Autobiographie, die zu weiten Teilen davon handelt, wie welche Bilder von Istanbul entstehen und was sie dem Betrachter bedeuten. Auch die Photographie wird als ein Bildmedium in den Blick geru¨ckt, das Bilder gemischtkultureller Provenienz hervorbringt und zu einer entsprechend komplexen Konstruktion der Wirklichkeit von Istanbul beitra¨gt. Anders als im Fall des Maler-Romans integriert Pamuk als Autobiograph Bilder in die Erza¨hlung, und diese sind mehr als nur Illustrationen. Durch sie verlagert sich der Perspektivenwechsel, von dem die Rede ist, auf die Ebene der Darstellung selbst, und der Leser kann ihn nachvollziehen – anhand historisch und medial differenter Bilder. Wa¨hrend der Roman den Akzent auf die verschiedenen Welt-Bilder zweier Kulturen legte, betont die Autobiographie die jeweils perso¨nliche und subjektive Auspra¨gung von Welt-Ansichten, die sich in individuellen Wahrnehmungs- und Darstellungsstilen dokumentieren – wobei diese allerdings durch mannigfache und heterogene Einflu¨sse gepra¨gt sind.
Transgressionen. Unidentifizierbare Wanderer: Pamuks „Der schwarze Stift“18 Wem geho¨ren die Bilder? Ist diese Frage schon nicht im Sinne des Rechtes ‚einer‘ Kultur an ‚ihren‘ Bildern beantwortbar, so scheint doch zumindest eine andere Frage weniger Probleme aufzuwerfen: Wohin geho¨ren die Bildsujets? (Ist nicht eine in westlicher Manier gemalte tu¨rkische Landschaft immer noch eine tu¨rkische Landschaft?) Die Frage nach der Verortbarkeit von Sujets wird in Pamuks kurzem Text „Der schwarze Stift“ aufgeworfen, verfasst zu einer Zeichnung, die Drei Ma¨nner mit einem Esel zeigt und zusammen mit einem anderen Bild zum Fatih-Album im Topkapi-Palast geho¨rt. Was zur Sprache kommt, ist die ungekla¨rte Provenienz dieser Figuren – die 18 Pamuk 2008b, S. 167 – 175.
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selbst nichts daru¨ber sagen ko¨nnen oder wollen, woher sie kommen, und denen es stattdessen darauf ankommt, als Kunstfiguren zu gefallen: Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen und wer uns gemalt hat, daru¨ber sind so viele Geru¨chte im Umlauf, daß wir ganz verlegen sind. Dabei ist es eigentlich gar nicht unsere Art, uns das Gerede der Leute zu Herzen zu nehmen. […] Leider wird jedoch u¨ber der Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen, ganz vergessen, daß wir doch nur ein Bild sind. Denn als solches wollen wir Ihnen gefallen, und nicht etwa als verschollene Sage oder vergessenes Bruchstu¨ck der Geschichte. Versuchen Sie also, uns als Bild zu sehen, und nehmen Sie unseren ganzen Auftritt, unsere matten Farben, unsere Versunkenheit ins Gespra¨ch so richtig in sich auf. Danke. Uns ist nur recht, daß wir mit schlichten Pinselstrichen in aller Eile auf stumpfes, billiges Papier gemalt wurden.19
Pamuk la¨sst die gezeichneten Figuren als allegorische Repra¨sentanten des selbstbewussten Bildes sprechen (und setzt sich damit – seinerseits selbstbewusst – zweifellos u¨ber die Ideen und Intentionen des anonymen Zeichners hinweg). In der ihnen durch die Bildbeschreibung zugewiesenen Rolle wissen die Figuren in seinem Text mancherlei zu sagen: u¨ber den Stil, in dem sie dargestellt sind, u¨ber differente Bildstile, u¨ber unterschiedliche kulturspezifische Umgangsformen mit Bildern und die damit verbundenen Einstellungen. Auch erwa¨hnen sie, dass von ihrem Scho¨pfer nur ein nachtra¨glich beigelegter Ku¨nstlername existiert, der ihn mit seinem Zeichengera¨t gleichsetzt – was sie in einer Weise zur Sprache bringen, als seien sie vertraut mit poststrukturalistischen Distanzierungen vom auktorialen Scho¨pfer. Der Text verknu¨pft also implizit einen rezenten westlichen kunstkritischen Diskurs mit seinem historischen osmanischen Sujet.20 Nicht nur Bildstile sind kulturspezifisch, sondern auch Bildbetrachtungsstile, was sich an kontroversen Interpretationen exemplarisch zeigt. Die sprechenden Figuren von „Der schwarze Stift“ sind, wie sie berichten, hypothetisch verschiedenen Kulturra¨umen zugeordnet worden.21 Gekla¨rt hat sich ihre Provenienz dabei nicht; dass sie sich selbst als Nomaden sehen, hat einen entsprechenden Hintersinn. Sie entziehen sich der Einordnung und Fixierung. Auch zum Leser sprechen die Figuren aus der Distanz des Nomaden. Eins nur ist angesichts aller ungekla¨rten Fragen offenbar sicher : dass die Figuren ‚etwas zu sagen‘ haben. Pamuk bringt hier gezeichnete Kunstfiguren – in ironischzitathafter Verwendung des traditionsreichen literarischen Topos vom ‚lebendigen Bild‘ – ‚zum Sprechen‘. Zuletzt verraten die Figuren dem Leser ein Ge-
19 Ebd., S. 167. 20 Vgl. ebd., S. 170 f. 21 Vgl. ebd., S. 172.
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heimnis: Das Bild, das einmal ein Maler von ihnen gemacht hat, diente dazu, Geschichten zu erza¨hlen.22
Ru¨ckblick Bildliche Darstellungsverfahren erzeugen (auf inhaltlich-thematischer Ebene sowie durch strukturell-kompositorische Mittel und auf der Basis einer je spezifischen Medialita¨t) ‚Welten‘. Darstellungsverfahren wie das zentralperspektivische oder das der Weltaufsicht von oben (Allah-Perspektive) verweisen u¨ber das jeweils besondere Sujet hinaus stets auf komplette Welt-Entwu¨rfe – das Thema ist nicht neu, und es betrifft nicht nur die Kunstgeschichte. Evident ist auch dies: Der Vergleich unterschiedlicher Welt-Konstruktionsverfahren macht deren Spezifik deutlich – deren konstruktive Eigenarten und Implikationen. Die drei genannten Texte Pamuks repra¨sentieren gleichsam prototypisch drei verschiedene Modi der Auseinandersetzung mit bildlichen Verfahren der ‚Welt‘Bild-Erzeugung: Der Maler-Roman Rot ist mein Name geht das Thema vor allem aus einer kunst- und kulturvergleichenden Perspektive an, wie sie u. a. auch durch die Forschungen Hans Beltings repra¨sentiert wird. Beleuchtet werden die Welt-Entwu¨rfe von Kollektiven – und deren Bewusstsein davon, dass diese WeltBilder in Bild-Welten ihren Ausdruck finden. Istanbul erinnert als autobiographischer Text daru¨ber hinaus an die Individualita¨t von Welt-Bildern, die zwar auf der Basis kulturspezifischer Bildprogramme entstehen, aber an perso¨nliche Dispositionen und Interessen angeglichen werden. Der Text u¨ber das Bild vom „schwarzen Stift“ schließlich erinnert daran, dass die Interpretation von kulturspezifischen Bildprogrammen ihrerseits an historische Parameter geknu¨pft ist – dass also auch der Bildbetrachter einer auf spezifische Weise konstituierten kulturellen Welt angeho¨rt, von der es abha¨ngt, in welchem Maß er sich die WeltEntwu¨rfe anderer, etwa die fru¨herer Zeiten erschließen kann. Es kann sein, so suggeriert der Text, dass sich der Horizont, aus dem heraus ein Bild geschaffen wurde bzw. den es repra¨sentiert, und der Verstehenshorizont des Betrachters nicht oder kaum beru¨hren. Bilder sind Nomaden, sie ko¨nnen wandern – und sich vom Betrachter entfernen. Wandern ko¨nnen sie zugleich aber auch in einem ¨ bertritts von einer Welt in eine andere. Bilder bieten anderen Sinn: im Sinn der U sich in einer wie der anderen Welt als Anla¨sse des Erza¨hlens an – auch wenn dieses dann vielleicht hypothetisch oder elliptisch ausfa¨llt. Im Ansatz bietet Pamuks Text u¨ber den „schwarzen Stift“ eine Poetik der Kompensation der Fremdheit kulturell ferner ‚Welt‘-Bilder – eine Poetik der kompensatorischen Versprachlichung von Bildern, deren Bild-Codes nicht (mehr) verstanden wer22 Vgl. ebd., S. 175.
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Monika Schmitz-Emans
den. Eines Erza¨hlens in diesem Fall, das zwar nicht rekonstruieren kann, welches ‚Bild der Welt‘ hinter dem einen kleinen Bild aus dem Topkapi-Palast steckt – das kompensatorisch und versuchsweise aber ein eigenes Welt-Bild anbietet: das einer Welt, in der allenthalben Geschichten erza¨hlt werden.
Literaturverzeichnis Belting, Hans: Florenz und Bagdad. Eine westo¨stliche Geschichte des Blicks. Mu¨nchen 2008. Calvino, Italo: Collezione di sabbia. Milano 1994 [1984]. Mitchell, W. J. T.: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago 1994. Mostafawy, Schoole / Siebenmorgen, Harald (Hg.): Das fremde Abendland? Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute. Stuttgart 2010. Pamuk, Orhan: Rot ist mein Name. A. d. Tu¨rk. v. Ingrid Iren. Frankfurt a. M. 82006 [1998]. Ders.: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. A. d. Tu¨rk. v. Gerhard Meier. Frankfurt a.M. 2008a [2003]. Ders.: „Der schwarze Stift“, in: Pamuk, Orhan: Der Blick aus meinem Fenster. Betrach¨ bers. a. d. Tu¨rk. stammen v. Cornelius Bischoff, Ingrid Iren, Gerhard tungen. Die U Meier, Christoph K. Neumann u. Wolfgang Riemann. Frankfurt a. M. 2008b [2004], S. 167 – 175. Rushdie, Salman: The Moor’s Last Sigh. New York 1998 [1995]. Sexl, Martin / Gisinger, Arno: Imagined Wars. Mediale Rekonstruktionen des Krieges. Innsbruck 2010.
Kirsten von Hagen
„Jeder ist u¨berall, niemand irgendwo“1 – Weltwahrnehmung und -konstruktion bei Daniel Kehlmann (Ruhm, 2009) und Giulio Minghini (Fake, 2009)
In Daniel Kehlmanns Bestseller Die Vermessung der Welt hat sich die „gro¨ßte Begabung der ju¨ngeren deutschen Literatur“, wie Ijoma Mangold schrieb,2 in historischer Perspektive mit zwei kontra¨r positionierten naturwissenschaftlichen Arten, Welt zu begreifen, zu erfassen und zu vermessen, auseinandergesetzt. Kann der Roman aber nicht zugleich begriffen werden als Versuch, mit Alexander von Humboldt noch einmal ein geordnetes Weltbild zu pra¨sentieren, dass dennoch bereits durch die Theorie von Gauß Zu¨ge der Auflo¨sung tra¨gt? So formulierte Kehlmann in seinem Essay „Wo ist Carlos Montu´far?“: „Das Unbehagen an einer durch die Entdeckungen von Gauß, Darwin, Einstein, Go¨del und Heisenberg ins Wanken gebrachten Weltordnung ist immer noch gro¨ßer, und zwar in jedem von uns, als uns selbst klar ist. Der Erfolg des Kosmos im Sommer 2004 – erkla¨rt er sich nicht auch dadurch, dass es etwas Sta¨rkendes hat, ¨ bersichtsplan eines in Gestalt eines wuchtigen Buches noch einmal den U wohlgeordneten Weltenbaus in Ha¨nden zu halten, das Monument eines Alls, dessen Raum sich nicht kru¨mmt, dessen Zeit sich nicht dehnt […].“3 Denn schon wa¨hrend Humboldt den Erdball bereiste, um Landkarten zu erstellen, hatte der Go¨ttinger Astronom festgestellt, dass Euklids Geometrie nicht die wahre sein konnte, dass, wie Kehlmann spa¨ter in seinem Essay schrieb: „Parallelen einander im Unendlichen beru¨hren und der Raum, dessen irdische Erstreckungen Humboldt so rastlos bereiste, an jedem seiner Punkte komplexer war und weit schwerer begreiflich, als die Schulweisheit sich tra¨umen ließ.“4 Eine ganz andere Art von Welterfahrung, die eben jene aktuelle Raum- und Zeitwahrnehmung in Szene setzt, die eine Sehnsucht nach dem Geordneten immer schon impliziert, hat Kehlmann in seinem ju¨ngsten Roman Ruhm – Ein Roman in neun Geschichten konstruiert. Hier und heute beherrschen die neuen tech1 2 3 4
Gasser 2010, S. 124. Mangold 2005. Kehlmann 2008, S. 22. Ebd., S. 23.
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nologischen Erfindungen Mobiltelefon und Internet nicht nur zunehmend unseren Alltag, sie sind auch maßgeblich an einer anderen Form von Welterzeugung beteiligt, wie Kehlmann zeigt. Eine Welterzeugung und -erfahrung, die von Desintegrationsgefu¨hlen dominiert wird und die gleichzeitig, so mo¨chte ich zeigen, auch eine neue Art von e´criture, von Roman-Verfassen konstituiert. Als eine der Kehlmann’schen Protagonistinnen, Rosalie, ihre Nichte Lara Gaspard, ihres Zeichens wiederum die Protagonistin eines der fiktiven Schriftsteller des Romans, auf dem Mobiltelefon anruft und erfa¨hrt, dass sich diese gerade in San Francisco befindet, sagt sie: „Wie merkwu¨rdig, daß man jetzt fast jeden Menschen u¨berall erreichen kann, ohne zu wissen, wo er ist. Es kommt einem vor, als ob selbst der Raum nicht mehr wa¨re, was er einmal war.“5 Laut eigener Aussage sei Ruhm „formal das Avancierteste“, das der Autor je geschrieben habe.6 Der Roman ist vor allem bemerkenswert hinsichtlich der Selbstreflexivita¨t. Viele der Protagonisten der einzelnen Geschichten sind Autoren. In fast allen spielt die mobile Kommunikation eine zentrale Rolle: Der Roman wird vom Klingeln eines Mobiltelefons gerahmt, das Klingeln ero¨ffnet das Vexierspiel der Geschichten und schließt es wieder. Vor allem aber lotet der postmoderne Roman zugleich die Grenzen der eigenen Gattung aus. Bereits der Untertitel ein Roman in neun Geschichten macht dies deutlich. Am Ausgangspunkt der ersten Geschichte steht eine Falschadressierung, die in den fru¨hen Tagen der Telefonie ha¨ufig als Gene´rateur einer Handlung diente. Diesmal ist es ein junger Mann, der auf Grund eines Fehlers in der Nummernvergabe eines Mobiltelefonanbieters sta¨ndig Handyanrufe fu¨r einen gewissen Ralf erha¨lt. Diese Anrufe dienen auch hier als Motor der Geschichte. Was wa¨re, wenn ich der wa¨re, als der ich angeredet werde? Ein Spiel mit Masken und Identita¨ten beginnt. Interessant ist nun, dass die einzelnen Geschichten ein Erza¨hlprinzip aufgreifen, das man in a¨hnlicher Form auch aus dem Experimentalfilm kennt, etwa der franzo¨sischen Trilogie Cavale, un couple e´patant und Apre`s la vie von Lucas Delvaux (2002) oder auch der filmischen Adaptation Short Cuts (1993) von Robert Altman, die seinerseits wiederum auf Kurzgeschichten Raymond Carvers basiert. Figuren, die zuna¨chst als Nebenfiguren eingefu¨hrt werden, figurieren in spa¨teren Geschichten als Hauptakteure, Geschichten werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln je anders erza¨hlt. Derart ergibt sich ein interessantes Vexierspiel, eine kaleidoskopartige Anordnung von Figuren und Geschichten; Realita¨t und Fiktion u¨berlagern sich.7 Das 5 Kehlmann 2009, S. 62. 6 Von Lovenberg 2010, verfu¨gbar unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezen sionen/im-gespraech-daniel-kehlmann-in-wie-vielen-welten-schreiben-sie-herr-kehlmann1754335.html [12. 12. 2011]. 7 Vgl. auch den Beitrag von Claudia Schmitt: „Die Welt – ein Mosaik? Episodenhaftes Erza¨hlen in Literatur und Film der Gegenwart“ im vorliegenden Band.
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Mobiltelefon nimmt in diesem Spiegelkabinett, diesem Spiel mit Virtualita¨t und Aktualita¨t eine zentrale Rolle ein, wie die folgende Analyse deutlich macht. In Bezug gesetzt wird es wie in den fru¨hen Tagen der Telefonie zu modernen Fortbewegungsmitteln, hier vor allem dem Flugzeug. Im zweiten Kapitel, das zugleich die zweite Geschichte ist, setzt sich Leo, der Schriftsteller, der u¨ber einen Roman ohne Hauptfigur nachdenkt, trotz seiner Flugangst ins Flugzeug, um ans andere Ende der Welt zu fliegen, genauer nach Mittelamerika. Was aber, so fragt er sich noch im Flieger, wenn wir gar nicht hier sind und alles nur ein Trick ist?8 Im Zeitalter der Mobilita¨t, wo jeder sta¨ndig hier und dort ist, verschwimmen die Grenzen zwischen Virtualita¨t und Aktualita¨t. Pra¨zise Lokalisierung wird ebenso erschwert, wie die Konstruktion des eigenen Ich. Regine Buschauer zufolge vera¨ndern Techniken der Telekommunikation in spezifischer Weise ra¨umliche Bezu¨ge, Wahrnehmungen und Konzeptionen von An- und Abwesenheit, Hier und Dort, Na¨he und Ferne.9 Mobilita¨t von Ko¨rpern und Ra¨umen durch neue Fortbewegungsmittel und Kommunikations- und Unterhaltungstechnologien generiert Hoffnung auf eine Anna¨herung der Kulturen ebenso wie eine zunehmende Unsicherheit. In Kehlmanns neuem Roman stehen nun nicht mehr zwei Weltentdecker und -vermesser einander gegenu¨ber, sondern es werden geschickt Geschichten und Portra¨ts dieser mobilen Menschen miteinander verwoben, die auf die neuen Mo¨glichkeiten des Weltkontaktes vor allem mit Unsicherheit reagieren. Weltgewinn geht hier mit Selbstverlust einher. Wa¨hrend Elisabeth mit Leo nach Mittelamerika reist, steht sie mittels ihres Mobiltelefons sta¨ndig mit der Zentrale ihrer Organisation in Genf in Kontakt, da drei ihrer Mitarbeiter in Afrika entfu¨hrt worden sind. Sie versucht, diese ebenfalls durch Handytelefonate mit einigen afrikanischen Machtinhabern freizubekommen. Leo wiederum sieht am Fernsehbildschirm Bilder des Landes, das er aktuell bereist, Bilder, die ihn a¨ngstigen: „Gefangen fu¨hle man sich, dieser Erdteil sei eine eigentu¨mliche Ho¨lle, und instinktiv bezweifle man, daß man ihn wieder verlassen werde.“10 Der in Aussicht gestellte Kulturkontakt findet nicht statt, die Kehlmann’schen Helden, die andere Erdteile bereisen, nehmen wie Touristen an gefu¨hrten Exkursionen teil, wohnen in klimatisierten Hotels, und wenn sie diese heterotopisch organisierten Orte einmal verlassen, dann sind sie auch verlassen, wie die Protagonistin aus einer anderen Erza¨hlung, die Kriminalautorin Maria Rubinstein.11 Als sie in einem anderen Hotel u¨bernachten muss, ihr Akku ausfa¨llt, sie keine Kontaktnummer hat und schließlich nicht auf der Liste der Delegation steht, ihr eigenes Foto nicht in einem ihrer auf kyrillisch 8 9 10 11
Vgl. Kehlmann 2009, S. 32. Vgl. Buschauer 2010, S. 9. Kehlmann 2009, S. 34. Vgl. ebd., S. 95.
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u¨bersetzten Romane abgedruckt ist, geht sie der Welt verloren, wird sich selbst fremd, wie so viele der Figuren in den Geschichten. Die Unterhaltungskultur global: Kaum in Mittelamerika angekommen, entdeckt der Schriftsteller Leo Richter ein Plakat eben jenes Schauspielers, dessen Dissoziation der eigenen Identita¨t durch die falsche Vergabe der Handynummer an jemand anderen Kehlmann in der ersten Geschichte angedeutet hatte: „Sieh mal dort dru¨ben, ein Ralf-Tanner-Plakat. Der ist wirklich u¨berall, dem entkommt man nicht mal auf der anderen Seite der Welt.“12 La¨ngst eilen Datenstro¨me u¨ber den Globus, bereits kurz nach einem Ereignis findet man die digitale Reproduktion auf Youtube. Als Elisabeth, Richters Begleiterin, das TannerPlakat ebenfalls betrachtet, ra¨soniert sie: „In der Lobby eines Hotels war Tanner von einer Frau angeschrien und geohrfeigt worden. Mehrere Touristen hatten es gefilmt, jetzt fand man die Szene auf YouTube. Und falls Carl, Henri und Paul erschossen wu¨rden, geko¨pft, gesteinigt oder lebendig verbrannt, so standen die Chancen nicht schlecht, daß man auch das wu¨rde sehen ko¨nnen.“13 Die allgemeine Verfu¨gbarkeit von Daten rund um den Globus, die sta¨ndige Erreichbarkeit und der ubiquita¨re Zugang zu elektronischen Medien und Technologien fu¨hren – so zeigt es Kehlmann in seinem Szenario – nicht zu einem erleichterten Kulturkontakt, zur Interkulturalita¨t, sondern zu einer stetigen Entfremdung – vom anderen und sich selbst. Elisabeth, der diese mediale Pra¨senz unheimlich ist, bittet denn auch Leo, sie nicht zum Gegenstand einer seiner Fiktionen zu machen,14 und wird doch im letzten Kapitel in eine Heldin eine seiner Geschichten mit seinem weiblichen Alter Ego Lara Gaspard verwandelt, in eine Fiktion der Fiktion, der Geschichte um Leo und Elisabeth. Als sie ihm sagt, sie habe nie in einer seiner Geschichten vorkommen wollen, antwortet er : „Wir sind immer in Geschichten. […] Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Bu¨chern sind sie sa¨uberlich getrennt.“15 Dieser Diskurs auf der Metaebene avanciert zur mise-enabyme der Kehlmann’schen Roman-Poetik. Wie die Grenze zwischen den Geschichten verschwimmt, ist auch die zwischen Realita¨t und Fiktion, zwischen virtueller Existenz und „Real Life“16 nicht mehr sauber zu ziehen. In einer Story vorkommen und in einen Chatroom gehen, sei doch das gleiche, so Mollwitz, „Transformation eben! Sich selbst u¨bertragen in was anderes“. Es gebe Ra¨ume, in die man nicht mit dem Ko¨rper gehe, so der studierte Telekommunikationstechniker, der alles u¨ber Mobiltelefonie, u¨ber „SID- und MIN-Codes und all die 12 13 14 15 16
Ebd., S. 37. Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 49. Ebd., S. 201. Ebd., S. 143.
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Methoden, eine Menschenstimme in Millionstelsekunden um die Welt zu schicken“,17 weiß. Wie Horst Wessel konstatierte: „Wir leben in einer vernetzten Welt. Im Zeitalter des Internet, umgeben vom Flimmern der Monitore und Klicken der Tastaturen, vergessen wir allerdings allzuschnell, daß das Basiswerkzeug noch der neuesten virtuellen Welten nicht der Computer ist, sondern das vielleicht unauffa¨lligste Medium unserer medial hochgeru¨steten Gesellschaft: das Telefon.“18 Literatur, so heißt es im Expose´ der Tagung, aus der dieser Beitrag hervorging, „setzt sich nicht bloß mit einer gegebenen Welt auseinander, sie ist daru¨ber hinaus an der Herstellung von Welt(en) beteiligt.“ Kehlmann setzt eben diesen Prozess des Entwerfens immer neuer Welten in seinem Roman in Szene, zeigt die Darstellungs- und Konstruktionsarbeit der Literatur (und anderer Medien). Indem die Literatur fiktive Welten entwirft, wirkt sie maßgeblich an der Konzeption von Globalita¨t mit, der Konstruktion von Weltzentren und Weltperipherien. Was Kehlmann schildert, ist grotesk und real zugleich, der „ganz normale Wahnsinn“ des Mobiltelefon- und Internetzeitalters. Markus Gasser sieht hierin zugleich einen Verweis auf Horrorfilme der 1990er Jahre, wie Ringu oder The Others, mit dem Unterschied, dass die Geister bei Kehlmann andere sind: „Und auch die Bewohner der digitalen Welt in Ruhm sind zuallererst Geister – jeder ist u¨berall, niemand irgendwo – mit ihren Mobiltelefonen, Internetforen, Chatroooms und Fansites.“19 Nicht das Fernsehen oder das World Wide Web, die Telefonie steht am Anfang der globalen Informations- und Kommunikationsgemeinschaft. Auch bei Kehlmann steht sie am Anfang des Romans, am Anfang der ersten Geschichte und am Ursprung der meisten Geschichten. Ebling verliert durch Anrufe auf dem neu erworbenen Mobiltelefon, die an einen gewissen Ralf adressiert sind, zunehmend die Kontrolle u¨ber sein eigenes Leben, weiß nicht la¨nger zwischen den Masken zu unterscheiden, seiner sozialen Maske des Technikers Ebling und der Maske jenes Ralfs, der ein so aufregendes Leben voller Abenteuer, Frauen und ungeahnter Mo¨glichkeiten zu fu¨hren scheint: „Er spu¨rte ein elektrisches Prickeln, ihm war, als ob ein Doppelga¨nger von ihm, ein Vertreter seiner selbst in einem anderen Universum, gerade ein teures Restaurant aufsuchte“,20 wa¨hrend Ebling mit seinem Sohn am Fernsehen ein Fußballspiel der zweiten Liga verfolgt. Ich wird ein anderer, Ebling ist Ralf und doch auch wieder nicht, nichts, was er tut, hat mehr Konsequenzen, was schließlich dazu fu¨hrt, dass er einen unbe17 18 19 20
Ebd., S. 161. Wessel 2000, S. 7. Gasser 2010, S. 124. Kehlmann 2009, S. 15.
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kannten Anrufer, einen Freund jenes Ralf, am Telefon ermutigt, seinem Leben doch einfach ein Ende zu setzen: Hier wird das Mysterium seiner La¨cherlichkeit preis gegeben. Ralf Tanner indes, jener beru¨hmte Schauspieler, dessen Plakat durch die Geschichten geistert,21 begegnen wir erst in der vierten Geschichte, u¨berschrieben mit „Der Ausweg“. Doch auch er ist nicht er selbst, sondern sein eigener Doppelga¨nger, ein schlechter noch dazu, so dass ihn der bessere Doppelga¨nger schließlich aus seinem Leben verdra¨ngt, schon der erste Satz dieses Kapitels, bzw. dieser Geschichte lautet bezeichnenderweise: „Im Fru¨hsommer seines neununddreißigsten Jahres wurde der Schauspieler Ralf Tanner sich selbst unwirklich.“22 Kehlmann treibt das Verwirrspiel immer noch ein wenig weiter, als man es von a¨hnlichen Telefongeschichten sonst zumeist gewohnt ist. Telefonie im Mobilzeitalter entko¨rperlicht nicht nur die Stimme, sie la¨sst uns selbst auch an vielen Orten gleichzeitig sein, so wie der Ich-Erza¨hler des Kapitels „Wie ich log und starb“, dem es mit Hilfe seines Handys gelingt, zwei Leben mit zwei unterschiedlichen Frauen in zwei unterschiedlichen Sta¨dten gleichzeitig zu fu¨hren oder Mollwitz, der als Blogger ein virtuelles Leben im Netz dem realen vorzieht. Es ist in dem Kontext kein Zufall, dass es diese beiden Akteure sind, die – wenngleich indirekt – fu¨r die mehrfache Nummernvergabe, die im Mobilzeitalter die manuelle Falschadressierung in Form von Telefonfra¨ulein abgelo¨st hat, verantwortlich sind. Dem Leser wird indes dieser Zusammenhang erst klar, nachdem sich die eigentlichen Trago¨dien bereits ereignet haben: das Verschwinden Tanners aus seinem eigenen Leben, der per Telefon verursachte Selbstmord und schließlich der Kontrollverlust Eblings, der ohne sein Mobiltelefon, das ihm ein Leben in einer virtuellen Welt ermo¨glicht, nicht mehr leben kann. Der eine erha¨lt plo¨tzlich Anrufe, die fu¨r einen anderen bestimmt sind, und zieht dieses andere virtuelle Leben dem eigenen vor, bei dem anderen induziert die Tatsache, dass er von einem Tag zum anderen gar keine Anrufe mehr erha¨lt, das eigene Verschwinden. Die Szene erinnert an Kafka, es ist eine zutiefst kafkaeske Situation, die Kehlmann hier schildert, auch wenn der Leser in der ersten Geschichte bereits erfahren hat, wer diese Anrufe erha¨lt, und spa¨ter auch, wer fu¨r den Fehler in der Nummernvergabe vermutlich zur Rechenschaft gezogen werden wird: „Von einem Tag zum na¨chsten kamen keine Anrufe mehr. Langja¨hrige Freunde verschwanden aus seinem Leben, berufliche Pla¨ne zerschlugen sich grundlos, eine Frau, die er nach seinen Mo¨glichkeiten geliebt hatte, behauptete, daß er sie am Telefon u¨bel verspottet habe.“23 Erkla¨rt wird der Fehler nie wirklich, bei all diesen Geschichten bleibt ein unerkla¨rlicher Zweifel, ein Unbehagen, wie bei der Kriminalautorin, die plo¨tzlich in einem fernen Land 21 Vgl. ebd., S. 18, 37, 40. 22 Ebd., S. 79. 23 Ebd.
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verschwindet, nachdem ein Versagen des Akkus den letzten mo¨glichen Kontakt zur Heimat gekappt hat. In dieser Welt ist nichts mehr, was es war. Der Scho¨pfer der Welt oder der Deus ex machina des Theaters wird durch einen frustrierten Telefontechniker ersetzt, der, da er fast nur noch in Fanforen postet und das ‚real life‘ mehr und mehr vernachla¨ssigt, aus Versehen eine bereits vergebene Handynummer nochmals vergibt und derart die Narration erst in Gang setzt. Auch der Autor hat jegliche Autorita¨t verloren. Die Geschichten verselbststa¨ndigen sich, wie die Figuren in diesem Roman, der kein Roman mehr ist, sondern neun Geschichten, die indes thematisch und durch die Wiederkehr von Motiven und Figuren eng verwoben sind. So bittet Rosalie ihren Scho¨pfer, den Ich-Erza¨hler des Kapitels „Rosalie geht sterben“, ihr den Tod zu ersparen und seine Geschichte zu verderben, woraufhin dieser schreibt: „Fast ha¨tte sie mich aus der Reserve gelockt. Aber im Moment bescha¨ftigen mich andere Dinge; es beunruhigt mich sehr, daß ich keine Ahnung habe, wer der Kerl am Steuer ist, wer ihn erfunden hat und wie er in meine Geschichte kommt.“24 Doch er greift schließlich selbst in seine Geschichte ein – um diese und Rosalie zu retten. Kurz wird er sichtbar, tritt als Figur in seiner eigenen Fiktion auf und sagt seiner Protagonistin, sie sei gesund und wieder jung. Mit diesem Akt der Kreation, der zugleich einer der Destruktion ist, hat sich der Ich-Erza¨hler sein Terrain der Fiktion zuru¨ckerobert: „Ja, das ha¨tte eine gute Geschichte werden ko¨nnen, ein wenig sentimental zwar, aber die Melancholie ausbalanciert durch Humor, das Brutale in der Schwebe gehalten mit etwas Philosophie. Ich hatte alles durchdacht. Und jetzt? Jetzt ruiniere ich es. Ich reiße den Vorhang weg, werde sichtbar, erscheine neben Freytag vor der Lifttu¨r. Eine Sekunde sieht er mich versta¨ndnislos an, dann verblaßt er und verweht wie Staub. Rosalie, du bist gesund. Und wenn wir schon dabei sind, sei auch wieder jung. Fang von vorne an!“25 Diese Sentenz kann wie so viele auf einer ¨ berlegungen als Selbstreflexion des Romans gelten, der Metaebene gea¨ußerte U die Form des Romans aufgegeben hat, aber das Geschichtenerza¨hlen nicht. Als der Erza¨hler die Geschichte verla¨sst, lo¨st sich auch seine Heldin auf – was bleibt, ist eine „Verblassende Erinnerung“ im Geda¨chtnis des Erza¨hlers und des Lesers. Aber schon ku¨ndigt sich am Horizont die na¨chste Geschichte an: „Zuru¨ck bleibt, wenn u¨berhaupt etwas, eine Straße im Regen. Wasser, das von den Pelerinen zweier Kinder perlt, ein Hund, der da dru¨ben sein Bein hebt, ein ga¨hnender Kanalra¨umer und drei Autos, die mit unbekannten Nummernschildern um die Ecke biegen, als ka¨men sie von sehr weit her : aus einer fremden Wirklichkeit oder zumindest aus einer ganz anderen Geschichte.“26 24 Ebd., S. 70 f. 25 Ebd., S. 75. 26 Ebd., S. 76.
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Im selben Jahr wie Kehlmann, legte auch der in Paris lebende Italiener Giulio Minghini mit seinem ersten auf franzo¨sisch verfassten Roman Fake einen Text vor, der die zunehmende Medialisierung des Alltags beobachtet und gleichzeitig reflektiert, wie sich dadurch die Wahrnehmung und Konstruktion der Welt vera¨ndert. Topographie, Kartographie und Erographie sind in diesem Roman eng verknu¨pft.27 Markus Schroer konstatiert, dass sich mit dem Einzug des Computerzeitalters nicht nur die Grenze zwischen virtuell und real immer wieder verschiebt, sondern dass es gerade durch das Internet zu einer Konstruktion neuer Grenzen und Ra¨ume kommt: „Es gibt ein Sich-Einrichten im Netz, eine Inbesitznahme von Ra¨umen, einen Bau von Ha¨usern (den ‚homepages‘) und damit den Aufbau einer vertrauten Nahwelt zu beobachten, die nach und nach eine eigene Geografie von begrenzten und umza¨unten Ra¨umen entstehen la¨sst.“28 Der Roman zeigt, wie zunehmende Grenzauflo¨sungen im Zuge der Globalisierung zu einem versta¨rkten Bedarf an neuen Grenzziehungen im Privaten fu¨hren, die sich in bestimmten Ko¨rperpraktiken ebenso manifestiert, wie in den hier im Zentrum stehenden Internetpraktiken, die Grenzbildungen des Realen im Virtuellen wiederholen und nachbilden. So reflektiert der Ich-Erza¨hler gleich zu Beginn: „J’apprendrai par la suite que pointcommuns est une famille […] forme´e par un cercle assez restreint de membres visibles […] et que tout cela fonctionne comme dans un village: private jokes, ragots, petites histoires.“29 Der virtuelle Raum, den die Internet-Partnerbo¨rse Pointscommuns ero¨ffnet, wird mit dem bekannten Toponym des „global village“ umschrieben. Zentral fu¨r die Poetik des ¨ berlegung Marshall McLuhans, im TelekommunikationszeitRomans ist die U alter schrumpfe die Welt zu einem „global village“,30 d. h. das Netz wird unter Bezugnahme auf eine ra¨umliche Metapher beschrieben.31 Es gibt einen bestimmten Code, den es zu respektieren gilt, Regeln, wie in jeder Gemeinschaft. Man demonstriert Zugeho¨rigkeit, indem man die richtigen Schauspieler zitiert, Filme oder Musikgruppen und andere gerade nicht. Auf Pointcommuns gibt ¨ berzeugungen. man sich einen intellektuellen Anstrich, demonstriert linke U Hier, so stellt es der Ich-Erza¨hler da, sei kein Raum fu¨r das Marginale, alles will wohl abgewogen sein: „Ne pas eˆtre repoussant, ne pas faire trop de fautes 27 Der Begriff wurde von Gae´tan Brulotte gepra¨gt, um damit erotische Texte in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Brulotte legt einen sehr weiten Begriff von „e´rographie“ zu Grunde, um damit die Differenzierung von Pornographie und Erotischer Literatur zu umgehen, aber er schließt auch Texte ein, die gemeinhin als libertine Literatur oder als Ehebruch- oder schlicht Liebesromane bezeichnet werden. Vgl. Brulotte 1998, S. 6 f. 28 Schroer 2006, S. 273. 29 Minghini 2009, S. 35. 30 McLuhan 2011, S. 36. 31 Vgl. Funken / Lo¨w 2003, S. 11.
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d’orthographe, se de´clarer athe´e ou agnostique, se la jouer e´ventuellement un peu ‚artiste‘ […] et, surtout, eˆtre blanc.“32 Wie im realen findet auch im virtuellen Raum eine Begegnung mit marginalisierten Gruppen nicht statt. Andererseits ist man auf der Suche nach einem allgemeinen Konsens, schreibt nur, was politisch korrekt ist. Es dominiert die Vorstellung vom virtuellen Dorf. Nach kurzer Zeit kennt der Erza¨hler seine neue Umgebung, seine neue Familie ‚par cœur‘, wo sich Neuigkeiten so schnell verbreiten wie im realen Raum und sein erstes Abenteuer ein ja¨hes Ende findet, als er fu¨nf Fotos der Auserwa¨hlten seinem virtuellen Album hinzufu¨gt. Der virtuelle Raum erscheint hier gleichsam als Double des realen, der den Erfahrungen im Alltag angepasst wird.33 Intimita¨t will in diesem Kontext indes nicht aufkommen. Das globale Dorf bleibt zu sehr dem Imagina¨ren der Stadt mit ihren Flu¨chtigkeitserfahrungen verhaftet. Interessant ist in dem Kontext, dass der Ich-Erza¨hler sein neues virtuelles Leben zugleich sta¨ndig kommentiert und reflektiert. Indem er sich auf der Internetseite von Pointscommuns einschreibt, konstruiert er nicht nur eine neue virtuelle Identita¨t und einen neuen virtuellen Raum, dieser wird auch den Praktiken des Realen gema¨ß ausgestattet: „Nous habitons notre page comme on habite une maison. Nous la de´corons de mots et d’images.“34 Diese Internetpraktiken sind durchaus mit solchen des Ko¨rpers, wie etwa dem „cocooning“, vergleichbar, das Schroer als Antwort auf zunehmende Grenzauflo¨sung im Realen nennt. Andererseits sind die neuen Ra¨ume jedoch nicht nur virtueller Art, sie kreieren auch eine neue Raumerfahrung, indem sie eben nicht fester Natur sind, wie Schroer schreibt: „[…] virtuelle Ra¨ume entstehen und erhalten sich durch die Kommunikationen der Netz-User […]. Es sind Ra¨ume, die sich nicht leicht auf Karten einzeichnen lassen. Zwar bedu¨rfen sie auch einer territorialen Verankerung, doch diese Verankerung ist es nicht, die den Charakter dieser Ra¨ume pra¨gt. Sie entstehen vielmehr als Zwischenra¨ume, als ‚dritte Ra¨ume‘, die sich der Dichotomie von entweder global oder lokal, hier oder dort, eng oder weit entziehen, weil sie immer schon beides sind.“35 Diese virtuellen Ra¨ume wachsen oder schrumpfen auch wieder in Abha¨ngigkeit von den Aktivita¨ten ihrer Bewohner, ihre Grenzen sind demzufolge nicht festgelegt, sondern dehnbar. Die Na¨he, die durch das Aufkommen der Computertechnologie angeblich zersto¨rt wurde, wird im Netz selbst wieder hergestellt. Inszeniert wird eine virtuelle Nahra¨umlichkeit; nah ist, wer leicht zu erreichen ist, fern derjenige, den man nur schlecht erreichen kann. Jeder User schafft sich gleichsam seine eigene Topografie.36 Es ist diese Erfahrung der dritten Ra¨ume, die sich eben 32 33 34 35 36
Minghini 2009, S. 19 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Sturm 2003, S. 237 – 256. Minghini 2009, S. 35 [Hervorhebung im Original]. Schroer 2006, S. 214 [Hervorhebung im Original]. Vgl. ebd., S. 273 f.
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nicht leicht auf Karten, Stadtpla¨nen fixieren lassen, die die Erfahrungen des IchErza¨hlers im Umgang mit dem neuen Medium Internet pra¨gen. Das virtuelle Ich ist außerhalb seiner virtuellen Community nur schwer zu lokalisieren. Bei Minghini heißt es: „Le corps, lui, n’a plus de domicile fixe.“37 Wie der reale Ko¨rper zunehmend an Bedeutung verliert, reflektieren auch die amouro¨sen Praktiken, die mit dem Internet einhergehen. Anders indes als bei Kehlmann, ist der Protagonist bei Minghini sta¨rker an die Praktiken des „real life“ gebunden. Sein Begehren vollzieht sich nur zuna¨chst im virtuellen Raum, um zumeist im realen fortgefu¨hrt zu werden: „Je traverse la ville pour me rendre chez l’enie`me spectre virtuel qui prendra bientoˆt chair“.38 Im virtuellen Raum entwirft er unterschiedliche Pseudonyme – darunter auch weibliche – um die anderen User zu ta¨uschen und zu manipulieren.39 Zwar dominiert auch hier ein Spiel der Verstellung und Maskerade, dieses ist indes zumeist von Entta¨uschung begleitet. Neben dem Bild des globalen Dorfes, ist es vor allem die Metapher des Warenhauses, die wiederholt im Kontext des virtuellen Raums evoziert wird: „Nous sommes des corps pourrissants qu’on vend en ligne.“40 Wo der Ko¨rper des anderen sich so frei verfu¨gbar pra¨sentiert, die Ko¨rperstro¨me41 nun mehr Warenstro¨men a¨hneln, da vermag keine erotische Spannung mehr aufzukommen. Der Ich-Erza¨hler bewegt sich im virtuellen Raum, bewohnt ihn gleichsam, wa¨hrend er im realen Raum die Stadt Paris kaum je verla¨sst, die Banlieue ist fu¨r ihn gar eine terra incognita. Im Verlauf des Romans entwirft der Ich-Erza¨hler indes eine neue Kartographie von Paris, die auf amouro¨sen Begegnungen basiert, die vom virtuellen in den realen Raum wechseln: „Au fil des rencontres, Paris devient une carte du tendre faite de souvenirs me´lancoliques, exaltants ou glauques.“42 Minghini rekurriert demzufolge auf ein Konstrukt, die Kartographie eines imagina¨ren amouro¨sen Landes, Tendre, wie sie sich in Madeleine de Scude´rys Roman Cle´lie, histoire romaine (1654 – 1660) findet. Derart schreibt sich Minghini zugleich ein in eine literarische Tradition, formt diese aber den Raumerfahrungen des elektronischen Zeitalters gema¨ß um. Konstruiert Madeleine de Scude´ry in ihrem Roman die imagina¨re Landkarte eines allegorischen Reiches der Za¨rtlichkeit, in dem Leidenschaften kanalisiert und in gegenseitige 37 38 39 40 41
Minghini 2009, S. 35. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 103 f. Ebd., S. 95 [Hervorhebung im Original]. Koschorke versteht unter Ko¨rperstro¨men die Ersetzung stofflicher Stro¨me und Flu¨ssigkeiten des menschlichen Ko¨rpers durch geistige, immaterielle Fluida, gleichsam den Wechsel von Sa¨ften zu Nerven und damit verbunden die vo¨llige Entstofflichung menschlicher Kommunikationsmodelle: Es kommunizieren nur mehr Briefe, keine Ko¨rper. Zum Begriff vgl. Koschorke 1999. 42 Minghini 2009, S. 37.
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Wertscha¨tzung und Sympathie u¨berfu¨hrt werden,43 so zeigt die carte du tendre bei Minghini, die ja auf den Erfahrungen mit Partnerschaftsbo¨rsen im Internet basiert, gerade die vergebliche Suche nach einem solchen Reich auf, seine Destruktion. Mobil wie die Ra¨ume44 sind auch die Ko¨rper in Minghinis Roman. Wie es kaum noch Grenzen und Distanzen gibt, die mittels der neuen elektronischen Medien nicht in ku¨rzester Zeit u¨berwunden werden ko¨nnen, so sind dem erotischen Bestreben auch im sozialen Miteinander kaum Schranken gesetzt. Der Roman beschreibt nicht la¨nger linear den Ablauf einer Liebesgeschichte, sondern zeichnet die gro¨ßtmo¨gliche Beliebigkeit der pluralen Internet-Amouren nach. So spiegelt die e´criture des Romans zugleich seine carte du tendre. Wie bei Kehlmann verschwimmen auch hier allma¨hlich die Grenzen zwischen der virtuellen und der aktuellen Welt. Das Leben im virtuellen Raum scheint das im realen zu verdra¨ngen, so reflektiert der Ich-Erza¨hler : „Comme si tout c¸a, ‚la vraie vie‘, ‚la vie re´elle‘, c’e´tait un continent perdu.“45 Wie die Helden bei Kehlmann wird auch der Protagonist bei Minghini zunehmend unfa¨hig, sich im Realen zurechtzufinden. Jede ta¨gliche Verrichtung wird zu einer Herausforderung: „Je vis a` plein temps sur le site, un vrai de´me´nagement mental a eu lieu.“46 Doch anders als bei Kehlmann ist die ¨ bertretung der Grenze zwischen virtueller und realer Welt nur voru¨bergehend. U Die serielle Verfu¨hrung im Netz, die von steten Misserfolgen gekro¨nt ist, ruft schließlich bei Minghinis Protagonisten nur mehr Widerwillen hervor und den Wunsch, das virtuelle Leben nicht weiter fortzusetzen.47 Als die letzte Nachricht von Jade eintrifft, der einzigen Frau, zu der er eine engere Verbindung aufbaut, beschließt der Ich-Erza¨hler endlich, die Internetverbindung zu trennen – vermeintlich fu¨r immer : „Je me suis falsifie´. J’ai fabrique´ une fausse monnaie de moi. Et jamais, en aucun cas, cette monnaie ne pourra me racheter. Plus jamais, je note, d’une e´criture enfin claire et appuye´e, sur mon agenda. Puis je clique sur „De´connexion“.48 Von zentralem Interesse ist in dem Kontext der Hinweis auf die „e´criture“. Der Stil des Romans ist von der Flu¨chtigkeit der Begegnung im virtuellen Raum ebenso gekennzeichnet wie von der neuen Topographie. Dies wird zugleich auf einer Meta-Ebene des Romans reflektiert: „J’imagine un roman ou` le personnage principal, comme enchaıˆne´ a` l’e´cran, voyagerait sans arreˆt d’un site de rencontres a` l’autre […]. Voila` une vraie odysse´e contemporaine.“49 Topo43 44 45 46 47 48 49
Zu Scude´ries carte du tendre vgl. DeJean 1991, S. 87 – 89. Vgl. Buschhauer 2005. Minghini 2009, S. 79. Ebd., S.116. Vgl. ebd., S. 126. Ebd., S. 138 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 95 [Hervorhebung im Original].
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graphie, Erographie und Kartographie bedingen sich gegenseitig. Was die e´criture des Romans angeht, orientiert sich, wie ich gezeigt habe, Minghini an den klassischen Modellen der Autofiktion, dem Tagebuch und dem Briefroman, formt diese jedoch der neuen Kommunikationstechnologien gema¨ß um, die wie bei Kehlmann der wahre Held dieser Geschichte sind. Beide, Kehlmann wie Minghini, schreiben sich so ein in eine kulturpessimistische Wahrnehmung der zunehmenden Medialisierung des Alltags, die zentral an der Konstruktion neuer Welten beteiligt ist. Diese Konstruktion neuer Welten, deren vornehmliche Figur die der Auflo¨sung der Grenzen zwischen Realita¨t und Fiktion, Aktualita¨t und Virtualita¨t ist, generiert zugleich eine andere e´criture, wie beide Texte thematisieren und reflektieren.
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Gesellschaftsstruktur im Netz“, in: Funken, Christiane / Lo¨w, Martina (Hg.): Raum – Zeit – Medialita¨t, S. 237 – 256. Wessel, Horst: „Vorwort“, in: Mu¨nker, Stefan / Roesler, Alexander (Hg.): Telefonbuch: Beitra¨ge zu einer Kulturgeschichte des Telefons. Frankfurt a. M. 2000, S. 7 – 12.
Frauke Bolln
Welt und Provinz in Text und Bild bei Dorothee Elmiger und Stefan Ettlinger
Fu¨r ihren Debu¨t-Roman Einladung an die Waghalsigen1 ist die junge Schweizer Autorin Dorothee Elmiger – sie wurde 1985 in Wetzikon geboren – im Jahr 2010 mit dem Kelag-Preis des Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt ausgezeichnet worden. Die Kritiker lobten einen Text, in dem „aus dem Nichts eine Welt aus Worten entstand“,2 in dem „die Ru¨ckeroberung der Welt durch Sprache“3 zu erleben ist. Im Oktober des gleichen Jahres erhielt sie den aspekte-Literaturpreis fu¨r das beste literarische Debu¨t des Jahres. Folgt man dieser Argumentation der Juroren, so scheint es sich um einen Text zu handeln, der sich geradezu aufdra¨ngt, um ihn im Rahmen des Themas Weltbezug und Welterzeugung na¨her zu untersuchen. Dorothee Elmiger hat am Schweizer Literaturinstitut Biel und in Leipzig studiert und lebt in Berlin. In ihrem Roman versetzt sie ihre Leser in eine apokalyptische Situation, in ein regelrechtes Endzeitszenario. Der Schauplatz der Handlung ist das sogenannte no¨rdliche Kohlerevier, in dessen Flo¨zen vor Jahrzehnten Bra¨nde ausgebrochen sind. Unterirdisch schwelen die Feuer weiter und verwu¨sten die Umwelt. Erza¨hlt wird die Geschichte von und u¨ber zwei Schwestern: Fritzi und Margarete Stein. In erster Linie erza¨hlt Margarete von ihrer Situation im „Gebiet“, so nennen die Schwestern das Kohlerevier. Sie sind als einige der wenigen in der Gegend zuru¨ckgeblieben und versuchen nun, sich u¨ber sich selbst und ihre Situation Klarheit zu verschaffen. Zwar gibt es noch weitere Bewohner, so beispielsweise den Vater der Schwestern, den Polizeikommandanten und seine Beamten, u¨ber deren Station die Schwestern wohnen, doch sie sind auf sich allein gestellt, denn weder der Vater noch seine Beamten beantworten ihre
1 Elmiger 2010. Nachweise von Zitaten aus diesem Werk erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle E und der Seitenzahl. 2 Von Sternburg 2010a. 3 Von Sternburg 2010b.
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Fragen u¨ber den Ausbruch der Feuer. Sie werden – absichtlich – unwissend gehalten, so dass Margarete resu¨miert: Da wir uns also auf wenig berufen ko¨nnten und die betreffenden, womo¨glich aufschlussreichen schriftlichen Erzeugnisse (die Chronik, die Briefe, die Berichte, die Biografien) von uns ferngehalten oder als unnu¨tz abgetan wu¨rden, so Fritzi, befa¨nden wir uns laut einiger Theorien in einer ausnehmend schwierigen Situation. (E 123)
Es wird deutlich, dass die Schwestern in dieser Situation gerne, wie sie es formulieren, „eine Anleitung zum Handeln die Zukunft betreffend“ (E 11) gehabt ha¨tten; aber diese bekommen sie nicht, jedenfalls nicht von der Familie, da die Mutter die Familie fru¨h verlassen hat und der Vater an seinen Kindern offensichtlich nicht interessiert ist. Die Schwestern empfinden sich als zu spa¨t Gekommene und wissen nicht, wie sie den Verwu¨stungen des zu großen Teilen entvo¨lkerten Gebiets beikommen sollen. Sie haben kaum eigene Erfahrungen sammeln ko¨nnen und konnten sich in ihrem „Leben seit der Geburt kein Bild machen […] als jenes der gegenwa¨rtigen Situation dieses Gebiets. Ich, sagte sie [Fritzi], […] habe zum Beispiel nie einen Specht gesehen und nie einen Streik.“ (E 123) So hat die Erza¨hlerin den Eindruck, dass sich das wirkliche Leben jenseits der Demarkationslinie, von der das Revier umgeben ist, abspielt. Sie sind abgeschnitten vom Rest der Welt, aber sie wollen Klarheit u¨ber die Ereignisse und ihre Umwelt gewinnen und befassen sich zuna¨chst auf ihre je eigene Weise mit einer Bestandsaufnahme dieser aussichtslosen Situation, in der Lebensmittel knapp sind und es keine Ablenkungen und Vergnu¨gungen gibt. Margarete versucht festzuhalten, wo sie sich befinden: „Wenigstens konnte ich im Weltatlas ein Bleistiftkreuz u¨ber der Kohleebene machen, die Zeitzone ablesen, in der wir uns befanden. Ich notierte die La¨ngen- und Breitengerade.“ (E 9) Und sie fu¨gt genaue Angaben u¨ber die Gro¨ße des Gebiets, die Einwohnerzahl oder die ho¨chste Erhebung hinzu (vgl. E 40). Fritzi hingegen beginnt durch das Gebiet zu wandern, es mit ihren Schritten neu zu vermessen. Dabei orientiert sie sich an den Fo¨rdergeru¨sten, wie immer wieder betont wird, und nicht etwa mit Hilfe von Kartenmaterial, denn: „Es gab keine Landkarten, keine akkuraten Landkarten mehr fu¨r das no¨rdliche Kohlerevier. Es fehlte auf allen Pla¨nen, es war ein großer Fehler sozusagen, der Lauf der Straßen la¨ngst leicht verschoben, Hu¨gel abgefallen, Ortschaften aufgehoben.“ (E 74) Zuna¨chst scheinen die Fo¨rdergeru¨ste als Relikte der Kohlefo¨rderung die einzige Orientierungsmo¨glichkeit zu sein, da Ha¨user und Schienen nach und nach im Untergrund verschwinden. Doch auch diese Mo¨glichkeit wird in Frage gestellt, denn Margarete stellt fest, dass es „unmo¨glich [ist] ihre genaue Lage zu bestimmen.“ (E 52) Die Vera¨nderungen durch die Flo¨zbra¨nde fasst sie folgendermaßen zusammen: „u¨ber die Bedeutung der alten Markierungen im Gebiet,
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¨ ber die Fo¨rdergeru¨ste, Schachteinga¨nge, Eisenbahnschienen, Schutthaufen. U Bedeutung der neueren und neuesten Markierungen: Risse im Grund, Verla¨ufe im Nichts, Senkungen der Erdoberfla¨che.“ (E 12) Fritzis Wanderungen sind keine kontemplativen Spazierga¨nge und sie ist auch nicht an empfindsamer Naturbetrachtung interessiert. Vielmehr bekommt der Leser den Eindruck, dass sie Extremtouren unternimmt, tagelang bis zur vo¨lligen Erscho¨pfung unterwegs ist, um sich Klarheit u¨ber die Situation des Landstrichs zu verschaffen: „Seit Langem, sagte sie [Fritzi], versuche ich mir die Landschaft hier versta¨ndlich zu machen. […] Ich za¨hle […] die Farben, mein Vokabular erscho¨pft sich bereits nach braun, olive und schwarz, und wenn ich es u¨berdenke, so sind das alle Farben, die es hier gibt.“ (E 23) Der Eindruck von Trostlosigkeit und Ausweglosigkeit wird durch diese Farbpalette unterstrichen. Am Abend erza¨hlen sie sich von ihren Erfahrungen und Erkenntnissen und versuchen so, gemeinsam ihre Realita¨t zu erfassen. Der Beitrag der anderen Schwester, der Erza¨hlerin Margarete, besteht darin, von ihren Lektu¨reerlebnissen zu berichten, denn sie liest alle Bu¨cher, die in der Wohnung noch vorhanden sind: Ich las die Fach- und Sachbu¨cher. Montanwissenschaftliche Schriften, Bu¨cher u¨ber die Schifffahrt, den zweiten Band Grundriss der Geschichte von den bu¨rgerlichen Revolutionen bis zur Gegenwart, eine Einfu¨hrung in die Astronomie, Die Meere der Welt, zwei Ba¨nde u¨ber die Vo¨gel Europas und Alaska – Mexico (9148 Miles from Anchorage to Oaxaca). Die Wu¨ste lebt, Winston Churchill, Die Pflanze, Band 1 und 2, The Beauty of America, Inseln im Atlantik, Angers sous l’occupation. Alpenflug, mit 191 Fliegeraufnahmen und einer farbigen Tafel nach einem Gema¨lde von F. Hass. Wunder aus aller Welt, Band 1, 5, 6 und 7.4 (E 7; Hervorhebung im Original)
Aus diesen Lektu¨ren setzt sie ihr Weltbild zusammen, sie bilden den Referenzrahmen fu¨r ihre Erfahrungen. Sie entdeckt beispielsweise die Pflanze Immergru¨n: „Immergru¨n schien mir entgegen, ich folgte seiner Spur. Das Immergru¨n liebt halbschattige Pla¨tze, so hatte ich gelesen in Die Pflanze, Band 1.“ (E 81; Hervorhebung im Original) Ihre Umwelt erkla¨rt sie sich also mithilfe der Bu¨cher und stellt zudem auch Querverweise zwischen den einzelnen Lektu¨ren her : „Irgendwann entdeckte ich auf einer der 191 Fliegeraufnahmen, die Walter Mittelholzer 1928 geschossen hatte, winzig kleine Blumen, die ich bereits kannte aus Die Pflanze Band 2.“ (E 8; Hervorhebung im Original) Mit diesen Verbindungslinien zwischen den Lektu¨ren konstruiert sie sich „ein neues, ku¨nstliches Universum.“5 Als sie beispielsweise u¨ber die buchsta¨bliche Verwu¨stung des Kohlereviers nachdenkt, za¨hlt sie in alphabetischer Reihenfolge 21 mehr oder weniger be4 Angaben der Autorin zu den von ihr verwendeten Quellen finden sich auf S. 144 des Buches. 5 Reinacher 2010.
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kannte Wu¨sten auf, vom o¨stlichen und westlichen großen Erg in der Sahara bis zur Kalahari und es ist zu vermuten, dass sie diese – auch und nur – aus ihren Bu¨chern kennt. Durch die Bu¨cher o¨ffnet sich ihr der Raum – der dadurch nun den ganzen Erdkreis umfasst – und sie kann sich mit ihrer Phantasie Bereiche erschließen, zu denen sie keinen Zugang hat. Die Welt, die ihr verschlossen ist, wird mit Hilfe von Bu¨chern imaginiert. Durch das Verfahren der Aufrufung und Aufza¨hlung holt sich Margarete den ‚Duft der großen weiten Welt‘ in ihr zur Provinz gewordenes Umfeld. Als sie u¨ber die Flure eines verlassenen Hotels im Gebiet la¨uft, denkt sie sofort an die Flure beru¨hmter amerikanischer Hotels: „Die langen Flure im Hotel Bellagio, Las Vegas. Die Flure im Caesars Palace, die Flure im Mirage. Im MGM Grand Hotel, im Flamingo, Las Vegas, im Treasure Island […].“ (E 129; Hervorhebung im Original) Aufza¨hlungen dieser Art evozieren einen weltla¨ufigen Eindruck. Doch vom Glanz dieser Hotels ko¨nnen die Schwestern nur tra¨umen. Das, was heute verwu¨stetes Gebiet ist, war einstmals eine Stadt, wie mehrfach im Text betont wird. In der Erza¨hlergegenwart ist von dieser Stadt jedoch nichts mehr zu finden. Die Schwestern fragen einen der Polizeibeamten nach Superma¨rkten, Hochha¨usern, Kinos, Universita¨ten oder Banken6 – all das ist nicht mehr vorhanden. Ist das Gebiet durch die Katastrophe also zur Provinz geworden? Versteht man darunter im allta¨glichen Sprachgebrauch „(oft abwertend)“ […], eine „Gegend, in der (mit großsta¨dtischem Maßstab gemessen) in kultureller, gesellschaftlicher Hinsicht im Allgemeinen wenig geboten wird“,7 so kann man das sicherlich so festhalten, denn das zersto¨rte Gebiet hat den Schwestern in keinerlei Hinsicht etwas zu bieten. Die Stadt ist zur Provinz geworden, fast noch schlimmer, weil im Grunde nichts mehr da ist, aber die Erza¨hlerin holt sich u¨ber ihre Lektu¨ren die Welt in diese zersto¨rte Umwelt hinein. So kann sie eine Weltreise unternehmen oder u¨ber Hotelflure schlendern, ohne den eigenen Ort zu verlassen. Zwar entdeckt Margarete in ihren Bu¨chern genaue Angaben u¨ber die fru¨here Gro¨ße und Einwohnerzahl des Gebiets, aber : „Der Fall des Landes war ungewo¨hnlich, unsere Situation war unerho¨rt, ich fand sie in keinem der Bu¨cher wieder.“ (E 9) Dennoch bemerkt sie in den Bu¨chern etwas, was fu¨r sie zum Ausweg aus der „unerho¨rten Situation“ wird: Sie liest von dem Fluss Buenaventura und sofort wird ihre Phantasie frei gesetzt – es scheint fast, als wu¨rde sie sich selbst an den Ufern des Flusses befinden. Realita¨t und Lektu¨re verschmelzen miteinander : 6 Die Liste des Mangels findet sich auf S. 25 f. Judith von Sternburg sieht in den Auflistungen den Versuch, der „heillosen Zusammenhanglosigkeit“ durch ein Ordnungssystem entgegenzuwirken: von Sternburg 2010b. 7 Duden 1999, Bd. 7, S. 3036.
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An diesem Abend hatte ich zum ersten Mal von dem Fluss gelesen. […] Der Fluss breitete sich sichtbar vor mir aus. Sein Name war Buenaventura. Er floss ruhig und breit dahin, nicht ungefa¨hrlich trotzdem. Manchmal schien er mir rau, kaum der Ostflanke des Gebirges entsprungen, durchquerte er su¨dliche Hitze, subtropische Regionen, Florida. (E 17)
Elmiger thematisiert hier die Geschichte der Nicht-Entdeckung – so ko¨nnte man sagen – des Buenaventura River im Westen Nordamerikas. Aufgrund von Indianer-Berichten wird die Existenz des Flusses vermutet und in Karten eingetragen. Doch spa¨tere Expeditionen finden den Fluss nicht: Den Fluss hatte man verfehlt, dann nicht mehr gefunden, dann wiederum zu weit su¨dlich gesucht. Man vermutete ihn weiter o¨stlich, man glaubte ihn im Norden, man zweifelte an ihm, buena ventura. […] 1844 schloss J. C. Le – Mont die Existenz des Flusses endgu¨ltig aus. Auch seine geografische Vermessungsexpedition hatte ihn nicht gefunden.8 (E 18)
Die Erza¨hlerin ist von dieser Geschichte des Flusses sofort fasziniert. Sie stellt selbst Berechnungen an und kommt zu dem u¨berraschenden Schluss, dass „der Fluss Buenaventura vor zweihundertvierzig Jahren noch quer durch dieses Gebiet“ (E 19) verlief. Fu¨r die Schwestern steht damit fest, dass sie den Fluss suchen mu¨ssen. Auf diese Weise haben sie endlich eine Aufgabe gefunden. Fa¨nden sie einen Fluss, wu¨rde er Rettung in vielerlei Hinsicht bedeuten, sein Wasser ko¨nnte beispielsweise die Bra¨nde lo¨schen, so ihre Vorstellung. Zuna¨chst befragen sie den Vater und seine Kollegen, spa¨ter weiten sie ihre Untersuchungen und Befragungen auf die im Gebiet verbliebenen Bewohner aus, jedoch ohne Ergebnis – keiner hat je etwas von einem Fluss geho¨rt. Aber auch durch ihre negativen Rechercheergebnisse sind sie nicht von ihrem Glauben an die Existenz des Flusses abzubringen. Mit den Figuren der beiden Schwestern arbeitet die Autorin also mit der klassischen, Spannung erzeugenden Gegenu¨berstellung von Vita activa und Vita contemplativa. Wandert die aktive Fritzi, liest und reflektiert ihre Schwester : Wa¨hrend ich schrieb, dachte ich, dass ich nichts erleben wu¨rde in dieser Ku¨che und gleichzeitig: dass es ja auch draußen nichts zu erleben ga¨be, nichts Nennenswertes. Und die Tage und die Stunden zogen an mir voru¨ber, in einem unerho¨rten Gleichmaß bewegten sie sich vor dem Fenster vorbei, wa¨hrend ich in der Ku¨che saß ganz ruhig und unberu¨hrt von allem. (E 42)
So beschreibt Margarete ihre Situation zu Beginn. Diese passive Einstellung a¨ndert sich erst mit der Suche nach dem Buenaventura. Fu¨r sie ist es eine 8 Aus John Charles Fre´mont wird im Roman J. C. Le – Mont. In der Aufza¨hlung ihrer Quellen ist der Name dann wieder richtig angegeben. Der Anspielungsreichtum und der Umgang mit Literatur verdient eine eigene Untersuchung – aus Platzgru¨nden kann dem an dieser Stelle leider nicht nachgegangen werden.
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Mo¨glichkeit, aktiv zu werden. Die Handlungsanweisung, die sie vom Vater nicht bekommt, entnimmt sie nun den Bu¨chern und beginnt entsprechend, den Fluss zu suchen und ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Alle ihre Hoffnungen konzentrieren sich auf den Fluss: „Buenaventura, Bonaventura, gu¨nstiger Wind, beziehungsweise gute Zukunft – ich habe davon geho¨rt.“ (E 91) Auffa¨llig ist jedoch, dass die Schwestern das Gebiet letztlich nicht verlassen. Auch ihr Aufbruch am Ende des Romans scheint kein endgu¨ltiger zu sein, denn sie begeben sich nur an die Grenze, an die Demarkationslinie. Diese u¨berschreiten sie nicht, vielmehr warten die Schwestern, dass die Jugend der Welt – die im Titel des Romans angesprochenen „Waghalsigen“ –, die sie eingeladen haben, zu ihnen kommt. Die Wartezeit verku¨rzen sie sich mit Wanderungen zu einem Schluckloch eines Baches oder Flusses, das sie entdeckt haben. Dort warten sie auf die Wiederkehr des Flusses. Sie vertrauen darauf, dass „[…] die Flu¨sse manchmal wieder ans Tageslicht [treten], nach Jahrzehnten, Hunderten von Jahren und […] wieder in ihrem alten Bett [fließen]. […] du verstehst: Tempora¨r unsichtbar bedeutet nicht inexistent […].“ (E 98) Hier wird aber die im Grunde vergebliche Hoffnung der Schwestern offensichtlich, denn Flu¨sse ko¨nnen zwar in einer Flussschwinde oder einem Schluckloch verschwinden, doch sie kommen durch diese nicht mehr an die Oberfla¨che zuru¨ck. Elmiger variiert in ihrem Roman das bekannte Modell von der Spiegelung des Fremden im Eigenen. Auf den ersten Blick wird etwas Unbekanntes, der Buenaventura, mit etwas aus Bu¨chern Bekanntem, z. B. dem Mekong, verglichen, um verstehbar, begreifbar, zu werden. Fu¨r die Erza¨hlerin ist dies zudem aber ein Mittel, um sich aus ihrer unbefriedigenden Situation herauszutra¨umen: „[I]ch dachte an den Mekong, an den Nil, den Amazonas, den Jangtse, den Po und den Mississippi. Ich suchte den Buenaventura.“ (E 105) Die Hoffnungen, die sie an den Buenaventura knu¨pft, u¨bertra¨gt sie auf den Mekong: In den darauffolgenden Na¨chten tra¨umte ich vom Mekong. In seiner Mitte schaukelte ein kleines Transportschiff […]. Am Steuerruder saß eine Frau […]. Nach Anbruch der Dunkelheit, als die Hitze noch deutlicher wurde, ho¨rte man Stimmen von Leuten, die sich Dinge zuriefen, von einem Ufer zum anderen, bis tief in die Nacht hinein. […] Dann blieb ich im Bett liegen und dachte an die Tiere im Mekongdelta. Kleine Affen schmiegten sich eng an die Baumsta¨mme, die Fische waren auf ihrem Wanderweg, ein Riesenwels schwamm knapp unter der Wasseroberfla¨che, und ein Schneekranich flog vorbei. (E 27)
Ganz offensichtlich tra¨umt Margarete von dem, was sie nicht hat und was sie nicht kennt: von einem reichen, exotischen Tierleben, von lebendiger Zwischenmenschlichkeit und einem Leben in tropischer Fu¨lle. Doch die Erza¨hlerin, die diesen Vergleich anstellt, kennt den Mekong nicht aus eigener Anschauung
Welt und Provinz in Text und Bild bei Dorothee Elmiger und Stefan Ettlinger
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und Erfahrung und setzt also etwas ihr Unbekanntes zu etwas Unbekanntem in Beziehung. Auch der Maler Stefan Ettlinger thematisiert das Verha¨ltnis von Provinz und Welt. Stefan Ettlinger wurde 1958 in Nu¨rnberg geboren und hat von 1980 – 1988 an der Staatlichen Kunstakademie in Du¨sseldorf Malerei studiert. Er lebt und arbeitet in Du¨sseldorf und Berlin. Sein Bild Hochebene9 entstand 2006 bei einem Stipendienaufenthalt im Ku¨nstlerhaus Schloss Balmoral in Bad Ems. Das Bild ist dreigeteilt: Im Vordergrund ist ein Stadtplan zu erkennen, der sich auf der linken Seite bis in den Mittelgrund erstreckt, der von einer technischen Konstruktion beherrscht wird, deren Funktion und Bedeutung sich dem Betrachter nicht auf den ersten Blick erschließt. Im oberen Teil des Bildes weitet sich der Blick des Betrachters schließlich auf die als solche beschrifteten „Emser Antillen“. Durch diese auffa¨llige Beschriftung bekommt der Betrachter den ersten Hinweis darauf, dass er es hier tatsa¨chlich mit einer Darstellung von Bad Ems zu tun haben ko¨nnte. Dieser Eindruck wird besta¨tigt durch die etwas weniger auffa¨llige Beschriftung „Ems“ im Fluss des Stadtplans. Handelt es sich hier um den verrutschten Ortsnamen? Oder ist es bereits eine erste Verschiebung im Bild, denn der Fluss, der durch das Kurbad fließt, ist natu¨rlich die Lahn. Dennoch handelt es sich tatsa¨chlich um eine Darstellung von Bad Ems, denn Ettlinger bildet wiedererkennbare Partien der Stadt ab, wie ein Vergleich mit dem Stadtplan zeigt. Ettlinger zeigt dem Betrachter auf der Basis eines in seinen wesentlichen Zu¨gen richtigen Stadtplans eine Ansicht von und auf Bad Ems, die allerdings keine realistische ist, auch wenn sie die „Charakteristika der Stadt Bad Ems“10 aufgreift, wie Rainer Hoffmann festha¨lt. Trotz der wiedererkennbaren Details handelt es sich um einen vergro¨berten Stadtplan, auf dem nur die wichtigsten Straßenverla¨ufe, und einige typische Details, wie z. B. die Eisenbahnlinie oder Kirchen durch Piktogramme hervorgehoben sind. Dabei arbeitet Ettlinger mit verschiedenen Farben, um Ortsteile hervorzuheben und erweckt so den Eindruck einer echten Karte, auf der beispielsweise Industriegebiete von Wohngebieten oder Kernstadtbereiche von Außenbezirken auf diese Art abgegrenzt werden. Im vorliegenden Fall scheint die Farbaufteilung eher a¨sthetischen Gesichtspunkten zu folgen, Ettlinger setzt solche kartografischen Elemente spielerisch ein. Das ist auch der Fall bei dem Schriftzug „Ettlinger Landstraße“ am rechten unteren Bildrand. Hier verschmelzen Ku¨nstlersignatur und Kartenlegende miteinander. Ein Kritiker sieht 9 Eitempera auf Nessel, 160x110 cm. Abbildung in: Balmoral Blend 2010, S. 46. 10 Hoffmann 2010, S. 32.
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im Begriff Landstraße zudem eine „Anspielung auf das rurale Ambiente“11 von Bad Ems – ein erster Hinweis auf den heutzutage eher provinziellen Charakter des Bades – ich komme darauf zuru¨ck. Mo¨glicherweise steht aber auch hier der spielerische Charakter mit kartografischen Elementen im Vordergrund. Einerseits ko¨nnte hier eine ironische Anspielung auf die klanglich a¨hnliche Lahnstraße, die zwischen dem T und dem L der Ku¨nstlersignatur auf dem echten Stadtplan aus der Darstellung herausfu¨hren wu¨rde, zu sehen sein, andererseits ko¨nnte die Beschriftung Landstraße auch als Titel des Bildes, angebracht unter der Signatur des Ku¨nstlers, aufgefasst werden. Jedenfalls aber handelt es sich nicht um eine Erkla¨rung der auf der Karte dargestellten Elemente, was ja die eigentliche Aufgabe einer Legende wa¨re. Harmonisch aus dem Straßennetz erwa¨chst eine Konstruktion aus zahlreichen Stu¨tzpfeilern, auf denen Geba¨udeteile aufliegen. Der Blick des Betrachters wird eingefangen und zuna¨chst auf ein himmelblaues Quadrat gelenkt, das etwas nach links oben aus der Bildmitte verschoben erscheint. Mit dieser Konstruktion steht ein technisches Monument, die Kurwaldbahn, im Zentrum des Bildes und nicht das Kurbad selbst mit seinen Prachtbauten, das im 19. Jahrhundert zum Treffpunkt des europa¨ischen Hochadels wurde. Die kleinen Fahrzeuge, die am oberen rechten Bildrand zu erkennen sind, ko¨nnen als Zitat der rotweißen Kabinen der Standseilbahn angesehen werden, die den Ort mit der Bismarckho¨he verbindet. Die Anlage der Kurwaldbahn erscheint – aus der realistischen Perspektive betrachtet – in die Horizontale gedreht. Sie ist im Bild auch nicht mehr Standseilbahn, sondern eher ein Straßennetz, das die Verbindung zu den „Emser Antillen“ herstellt. Zwischen dem Stadtplan mit den Anlagen der Kurwaldbahn und den „Emser Antillen“ gibt es keine erkennbare Verbindung im Bild. In der Darstellung der Bismarckho¨he greift der Ku¨nstler, wenigstens in groben Zu¨gen, die Form der Inselgruppe der Großen Antillen auf, indem er die einzelnen Inseln in der Form der Geba¨ude auf der Bismarckho¨he gestaltet. Am offensichtlichsten ist wohl der Umriss der Insel Kuba zu erkennen, daneben derjenige Hispaniolas. Zugleich handelt es sich hierbei natu¨rlich um eine ironische und augenzwinkernde Anspielung auf die Emser Pastillen, das Produkt, das bis heute unweigerlich mit dem Namen des Kaiserbades verbunden ist. Durch das Wortspiel wird einerseits die Verbindung zum Heilbad hergestellt, zugleich aber wird Bad Ems ein tropisches Flair zugesprochen, indem die Pastillen zu Antillen werden. Das Assoziationsfeld Karibik wird hier vom Ku¨nstler beim Betrachter abgerufen und auf Bad Ems u¨bertragen. Hinter den „Emser Antillen“ o¨ffnet sich das Bild erneut ins Blaue, von den Antillen aus betrachtet aufs Meer, von Bad Ems aus betrachtet in den Himmel; in 11 Ebd.
Welt und Provinz in Text und Bild bei Dorothee Elmiger und Stefan Ettlinger
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jedem Fall aber in eine unbestimmte Ferne. So kann man mit Martin Hentschel festhalten: „Was sich dem wiedererkennenden Sehen als bloße Motivreihung zeigt, ru¨ckt fu¨r das vorstellende Sehen zu einem Panorama zusammen.“12 Der Titel des Bildes – Hochebene – ko¨nnte eine Anspielung auf den Standort des Betrachters sein. Von einem ho¨her gelegenen Standpunkt aus wird der Blick auf den Ort ermo¨glicht. Allerdings spielt der Ku¨nstler hier mit verschiedenen Perspektiven. Der Stadtplan wird aus einer Aufsicht pra¨sentiert, die Kurwaldbahn aus einer frontalen Ansicht und der obere Bildteil kann im u¨bertragenden Sinn als Aussicht bezeichnet werden. Ettlinger stellt also einen Ort dar, der heute – die Bad Emser mo¨gen mir verzeihen – einen eher verschlafenen, provinziellen Charakter hat. Der Blick des Betrachters ist zuna¨chst im Stadtplan von Bad Ems gefangen – von dort aus weitet sich sein Blick in die weite Welt, fu¨r die die Antillen hier exemplarisch stehen. Da es im Bild keine Verbindung zwischen Bad Ems und den „Emser Antillen“ gibt, die Kurwaldbahn u¨bernimmt diese Funktion nur scheinbar, wie wir gesehen haben, ko¨nnte der Blick auf die Inselgruppe als Introspektion oder als Traum aufgefasst werden. Beide Ku¨nstler nehmen also eine Verortung in der Provinz vor und o¨ffnen zugleich den Blick auf die Welt. Im Roman von Dorothee Elmiger nehmen die Vorstellungen von der Welt, die Margarete entwickelt, geradezu einen Traumcharakter an. Fu¨r den Leser wird dies durch den Vergleich zweier unbekannter Gro¨ßen deutlich. Durch die Kombination von Realita¨t und Traum droht der Leser bzw. der Betrachter seinen festen Bezugspunkt zu verlieren. Martin Hentschel erkennt hierin ein grundlegendes Charakteristikum in Ettlingers Werk: Es gibt keinen Halt in Ettlingers Pluriversum: was real und in sich konsistent anmutet, kann sich jederzeit auflo¨sen und verwandeln. […] Es sind Metaphern, die uns eindringlich ins Bewußtsein rufen, daß die Dinge, die wir Realita¨t nennen, allzu tru¨gerisch sind [in] diesem Lebensgefu¨hl, in welchem der sicher geglaubte Boden der Realita¨t sich urplo¨tzlich entziehen kann.13
Auch in diesem letzten Punkt sind die beiden Werke miteinander vergleichbar, haben doch die beiden Schwestern in Elmigers Roman keine feste Verankerung in ihrer Welt, in ihrer Gegenwart mehr und tra¨umen sich in eine unbestimmte Zukunft.
12 Hentschel 2002, S. 9. 13 Ebd., S. 12.
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Literaturverzeichnis Duden. Das große Wo¨rterbuch der deutschen Sprache in zehn Ba¨nden. Hg. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Bd. 7: Pekt–Schi. 3., vo¨llig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim / Leipzig / Wien / Zu¨rich 1999, s. v. „Provinz“. Elmiger, Dorothee: Einladung an die Waghalsigen. Ko¨ln 2010. Hentschel, Martin: „Virus. Zur Malerei von Stefan Ettlinger“, in: Stefan Ettlinger – Malerei. Ausstellungskatalog. Krefeld 2002, S. 7 – 12. Hoffmann, Rainer : „Ku¨nstleridentita¨ten – Ortsidentita¨ten“, in: Kornhoff, Oliver (Hg.): Balmoral Blend, S. 29 – 54. Kornhoff, Oliver (Hg.): Balmoral Blend. 15 Jahre Ku¨nstlerhaus Schloß Balmoral. Ausstellungskatalog. Ko¨ln 2010. Reinacher, Pia: „Tru¨mmerland ist abgebrannt“, in: FAZ v. 09. 07. 2010. Sternburg, Judith von: „Klagenfurter Kra¨hen“, in: Frankfurter Rundschau v. 27. 06. 2010a. Dies.: „Die Ru¨ckeroberung der Welt“, in: Frankfurter Rundschau v. 03. 07. 2010b.
Teil VIII: Geographie – Kartographie – Geopoetik
Angela Oster
Globalita¨t und Globus. Technikfaszination und Kunsthandwerk der Globographie in der Fru¨hen Neuzeit
I.
Der Globus. Kunsthandwerk, Medium und Technik
Im Kontext des Rahmenthemas des vorliegenden Sammelbandes geht der folgende Aufsatz von einer unspektakula¨ren Beobachtung aus, na¨mlich der, dass es bei allen Varianten, Facetten oder auch Differenzen fu¨r Diskussionen der Globalita¨t eine gemeinsame Grundlage gibt: Figuren des Globalen greifen nahezu ausnahmslos auf Konzepte und Konfigurationen des buchsta¨blich aufzufassenden ‚Globus‘ zuru¨ck, also jenes Planeten Erde, der eine Kugelgestalt aufweist und ein scheinbar in sich geschlossenes, sogenanntes natu¨rliches System darstellt, dessen Oberfla¨che bereits seit der Antike in ku¨nstlichen globalen Gebilden reproduziert worden ist. Diese Tendenz war und ist nationenu¨bergreifend gewesen, und sie zeichnet sich historisch durch eine auffa¨llige Kontinuita¨t aus. Das Pha¨nomen erscheint demnach zur komparatistischen Behandlung geradezu pra¨destiniert. Einleitend soll im Folgenden zuna¨chst gekla¨rt werden, was ein Globus u¨berhaupt ist und ihn in seiner handwerklichen Mechanik auszeichnet. Globen sind dreidimensionale, im Maßstab minimierte Modelle der Erde, was sie von den zweidimensionalen, planar gestalteten Karten abhebt. Die Kugelmodelle ko¨nnen daru¨ber hinaus andere Sternbilder und Himmelskonfigurationen integrieren. Der Globus ist oftmals in einen metallenen Meridianring eingelassen und an der Achse beweglich. Diese Vorrichtung wiederum ist versetzbar und in einem Gestell befestigt, welches als Stu¨tze des waagrechten, durch das Zentrum des Globus verlaufenden Horizontrings dient.1 Die herko¨mmlichen Globen wurden aus mit Gips u¨berzogenen Papiermache´-Kugeln geformt,2 auf die zwo¨lf bis 18 Papiersegmente (spha¨rische Zweiecke) und zwei Polkappen mit Kartenbilddrucken geklebt wurden. Anders als ihre Medienkonkurrenten wie beispielsweise die Kartographie waren die Globen oftmals ungleich beliebter, da 1 Folgende Quellen wurden zur Historie, Mechanik und Konstruktion von Globen fu¨r den vorliegenden Beitrag frequentiert: Kugel 2002; Dekker 2004; Morke 2008; Fauser 1967. 2 Vgl. zur Fertigung der Globen Allmayer-Beck 1997, S. 32 – 38.
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sie zuverla¨ssig, d. h. fla¨chen-, la¨ngen- und winkelgetreu die ‚Realita¨t‘ abzubilden schienen und globale Relationen analog nachstellten. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Globus als Kunsthandwerk ein allererst a¨sthetisch bedeutsames Pha¨nomen darstellt und als solches Ressourcen einer Wissenspoetik beflu¨gelt hat, die in allen Ku¨nsten und in besonderem Maße in Texten reflektiert worden sind. Globen sind und waren nie bloß technische Apparaturen. Sie sind – sicherlich auch auf der Basis ihres faszinierenden Bildpotentials – immer schon von erheblichen Anteilen der Imagination und der Ideologie begleitet gewesen. Dass genuin komparatistische Konzepte wie jenes der ‚Weltliteratur‘ ohne den ‚Globus‘ nicht denkbar gewesen wa¨ren, ist evident und dokumentiert sich in mehreren Aufsa¨tzen dieses Sammelbandes.
II.
Ars et scientia. Globen als Konfigurationen des Wissens
Das Kulturgut des Globus partizipiert in besonderem Maße an dem Wissensgebiet der Geographie, die bekanntlich von der Wortbedeutung her urspru¨nglich nicht die ‚Erdwissenschaft‘ meint, sondern die wortwo¨rtliche ‚Beschreibung‘ der Erde. Die Medien dieser Darstellung waren neben dem Globus v. a. die Landkarte, die neben messtechnischen Anteilen auch spielerisch-fiktionale Entwu¨rfe in ihr Material integrierte. Gerade in den fru¨hneuzeitlichen GlobusDiskursen waren Potentialen der Phantasie Toren und Tu¨ren geo¨ffnet. Damals gab es im Anschluss an die antiken und mittelalterlichen Welten weiterhin unentdeckte und damit die Abenteuerlust beflu¨gelnde Antriebskra¨fte der Exploration in die Gefilde von ‚Leerstellen‘ und weißen Flecken der Globographie (fu¨r diese fru¨hneuzeitliche Rezeption werden im Folgenden u. a. mit Nicolaus Cusanus Beispiele pra¨sentiert). Die Gattungen, in denen sich Entdeckungsreisen zum Behufe der Komplementierung der Globen formuliert haben, waren hybride Texturen, die oftmals zwischen literarischen und pragmatischen Sprachmustern changierten. Die Dokumente eines Marco Polo, Magellan, James Cook oder Kolumbus sind ein beredtes Zeugnis fu¨r diese textuellen Mischformen und haben ihrerseits einen Wiederhall bei Dichtern gefunden, welche sich bevorzugt den Grenzbereichen von Sach- und sogenannter scho¨ner Literatur gewidmet haben. Stellvertretend seien hier hinweisartig die Namen von Bernard de Mandeville, Jules Verne, Alexander von Humboldt, d’Alemberts und Diderots Encyclope´die, Jean Paul, Jonathan Swift oder Joseph Conrad genannt. Es gibt praktisch keine Reiseliteratur, die auf Konfigurationen des Globus verzichten wu¨rde, auch wenn dieser sicherlich nicht in allen Texten zum Leitpoetologem wird. Dennoch sind die geha¨uften Isomorphien von Schrift und Globus oder Poesie und Wissen in den Erza¨hlra¨umen der Literaturgeschichte auffa¨llig. Ebenso ausgepra¨gt sind die mondialen Erma¨chtigungsstrategien, die sich
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hinter den scheinbar neutralen Mustern globaler Reproduktion verbergen. Ein Globus ist immer ein Modell, d. h. er bleibt bei aller wirklichkeitsgetreuen Imitation ein Simulakrum, welches eine eigene Entita¨t in den Raum stellt. Die vermeintliche Objektivita¨t der Globen ist tatsa¨chlich hochgradig konstruiert. Historisch bedingte geographische Ausrichtungen auf den Objekten wurden im Verlauf der Zeiten zu Konventionen, die durchaus hinterfragbar wa¨ren, wie die Europa-Zentrierung als Ausdruck politischer Hierarchien oder imperialer Weltsteuerung. Es ist der ‚Nullmeridian‘, der unauffa¨llig, aber deshalb auch umso unbehelligt wirksamer, durch die Texturen des Globus geistert. Zwar ist er als ‚Anfang‘ oder ‚Omphalos‘ eine Utopie, doch als solche eben wiederum pra¨destiniert fu¨r a¨sthetisch pragmatisierte oder auch zweckentfremdende Manipulationen. Die Materialita¨t des Globus wird so zur Verla¨ngerung des imperialen Herrschers bzw. dient als Vehikel der Etablierung seiner – um es mit dem beru¨hmten Buchtitel von Ernst Kantorowicz zu formulieren – „zwei Ko¨rper“.3 Ja, was nach Kantorowicz’ treffender These weitgehend disparat nebeneinander steht, erzielt im Zeichen des Globus eine partielle Koinzidenz. Die Europazentrierung und konventionelle Nord/Su¨d-Polung der Kartographien, dies muss man sich immer wieder vergegenwa¨rtigen, sind keine Naturgegebenheiten, sondern willku¨rliche Stilisierungen, welchen der objektivere (weil eben runde, dreidimensionale und damit ‚realistischere‘ Globus) entgegen zu wirken vorgibt. Er scheint anders als die Kartologie keinen Mittelpunkt zu fingieren – oder vielleicht doch?4 Denn der Globus als Gebilde mag in sich stimmig, ‚ganz‘ und mimetisch-geologisch ‚korrekt‘ operieren. Doch der Blick, der den Globus konstruiert und rezipiert, ist immer ein Blick, der in Ausschnitten oder in Perspektiven wahrnimmt. Er ist kein auktorialer oder allma¨chtiger Blick, sondern vermag das Ganze nur ausgehend von Teilbereichen zu imaginieren. Die Inszenierungen globaler Totalita¨t hingegen setzen in der Regel auf Souvera¨nita¨t, was sich am Beispiel eines Gema¨ldes von Henri Testelin pra¨gnant nachvollziehen la¨sst, der die legenda¨ren akademischen Zirkel am Hofe Ludwigs des XIV. ins Bild gesetzt hat. In dem Bild ist der Globus plakativ unten rechts als Bildformel globaler ho¨fischer Macht eingeblendet.5 Nicht zufa¨lligerweise war einer der bekanntesten ‚costruttori di globi‘ der Zeit u¨berhaupt, na¨mlich Vincenzo Coronelli, am Hofe 3 Kantorowicz 1957. 4 Machttechnische Strategien des christlichen Abendlandes sind somit in den Globen mit ihren Fiktionen von vermeintlich ‚objektiven‘ Mittelpunkten teleologisch eingeschrieben. Im vorliegenden Aufsatz mu¨ssen die orientalischen Varianten globaler Weltdarstellung – in denen nicht Konzeptionen der Spha¨re, sondern des Himmelsmantels oder des Baldachins dominierten – ausgespart bleiben. 5 Vgl. zum Zusammenhang von Hofkultur und wissenschaftlicher Technik: Hauschke 2002, S. 365 – 389.
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¨ l auf Abb. 1: Henri Testelin: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, 1667 (Paris), O Leinwand, 348x594, Muse´e National de Chaˆteau, Versailles.
Ludwigs angestellt.6 Singularita¨ten generieren sich im ho¨fischen Kontext im Zeichen des Globus immer wieder als umfassende Chrono-Topo-Graphien der Macht. Diese Machtinszenierungen haben sich u¨ber die Jahrhunderte hinweg fortgesetzt und waren auch schon vor Ludwig XIV. en vogue, so bei Elisabeth I., die auf einem weiteren beru¨hmten Gema¨lde7 ihrerseits mit den Insignien der Macht und den bereits genannten Kartologien der Eroberungsreisen ausgestattet worden ist.8 Im Zeichen u¨berdimensionaler herrschaftlicher Autorita¨t 6 Auskunft u¨ber die universalen Kompetenzen Coronellis gibt der Band Tavoni 1999. 7 George Gower : Ko¨nigin Elisabeth I. von England, 1588 (Woburn Abbey). 8 Bislang sind in der Forschung die entsprechenden Textdokumente zur Interferenz von ho¨fischem Ma¨zenatentum und Globenkunst kaum aufgearbeitet worden. Dazu wu¨rde nicht zuletzt die Sichtung der entsprechenden Briefkultur za¨hlen. Vgl. exemplarisch den Brief von Gerhard Mercator an Philipp Melanchthon vom 23. August 1554, in dem ersterer von seiner Audienz bei Karl V. in Bru¨ssel berichtet. Mercator hatte fu¨r den Monarchen zwei Globen angefertigt, einen aus Kristallglas und einen aus Holz. Karl V. und Mercator unterhielten sich, so bezeugt es zumindest der Brief, in einem Fachgespra¨ch u. a. u¨ber die Globenkunst, wobei die Unterhaltung insofern auch linguistisch interessant verlief, als neben den genannten Gespra¨chspartnern, die sich auf fla¨misch unterhielten, die italienische Sprache in Person des ¨ ber die Desiderate Karls V., der dritten Beteiligten involviert war, na¨mlich Giovanni Gianelli. U auf der Spitze eines aufwendigen Uhrwerks einen Globus angebracht haben wollte, berichten die folgenden Briefauszu¨ge. Sie erwa¨hnen auch die Bewegung der Planeten und Fixsterne, welche der Globus wiedergeben sollte und die Diskussion u¨ber La¨ngengrade und Meridiane: „Gerardus Mercator Rupelmontanus Philippo Melanchtoni etc. Paulo ante Calendas Maii huius anni vocatus fui a Caesarea Majestate Bruxellam. Causa vocationis erat, quod terrarum situm vellet in globulo pugni magnitudine a me dipingi; placuerant nimirum mathematica instrumenta, quae paulo ante postremum eius in Germaniam discessum suae Majestati fabricaveram. Is globulus coelesti includendus erat ex Cristallo summa industria parato ver-
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entstand zwischen 1650 und 1664 der sogenannte Gottorfer Globus am Hofe Herzog Friedrichs III. Mit einem Durchmesser von u¨ber drei Metern war der Gottorfer Globus ein Riesen- bzw. Hohlglobus, der nach außen hin die Weltkugel repra¨sentierte und innen ein Planetarium (nach dem geozentrischen Weltbild des Ptolema¨us)9 vorstellte, welches durch eine Luke begehbar war, dessen Deckel das Gottorfer Wappen zierte.10
Abb. 2: W. J. Peredery : Gottorfer Globus, Außenansicht, Zeichnung, Lomonossow-Museum Sankt Petersburg.
Die enge Interferenz von Globus und Macht hat Percy Ernst Schramm in seinem Buch Sphaira, Globus, Reichsapfel anhand einer breiten Materialticique insignis horologii superimponendus, quod e Mediolano ab ipso artifice Janello allatum erat, octo lateribus septem planetarum stellarumque fixarum motum ad amussim exprimens, in superioribus vero tanquam in conum ascendentibus totidem lateribus inscripta erant, quaecunque ad calendarii cognitionem requiri poterant. […].“ (Zit. nach: Meurer 1997 – 98, S. 187 – 196.) 9 Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die vermeintlich in erster Linie pragmatisch ausgerichteten Globen auch nach der Korrektur u¨berkommener Kosmologien an ‚veralteten‘ Modellen festhalten, weil diese eine Attraktivita¨t fu¨r die a¨sthetischen Dimensionen des Globus ungebrochen beibehalten. Dies gilt nicht nur fu¨r die geozentrischen bzw. heliozentrischen Modelle, sondern auch fu¨r die fiktiven Elemente, wie Fabel- und Wundertiere u. a¨. 10 Vgl. dazu Karpeev 2003.
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sammlung vor Augen gestellt.11 Die in dem Band abgebildete Bildformel, in der als Trias der staufische Reichsapfel, eine antike ‚sphaira‘ aus der ro¨mischen Kaiserzeit und Martin Behaims Globus von 1492 in eine ikonographische Korrespondenz gesetzt worden sind, macht die Relationen deutlich.12 Im 20. Jahrhundert, um einen großen historischen Sprung zu machen, wurde Charlie Chaplins Tanz mit dem luftigen Globus in dem Film „Der große Diktator“ beru¨hmt, wo der Globus am Schluss wie eine Seifenblase zerplatzt. Chaplins eleganter Balletttanz mit dem Globus findet dabei kaum zufa¨lligerweise zum Teil auf dem Schreibtisch statt. Und ebenso wenig zufa¨llig sind es oftmals prunkvoll ausgestattete Globen, die Lesesa¨le von Bibliotheken als Signatur von ‚Globographien‘ schmu¨cken, wie der beru¨hmte Globus Coronellis Ende des 17. Jahrhunderts.13
III.
Globographien. Textuelle und bildliche Signaturen
Bu¨cher, Graphik und Globus sind in der Kultur- und Literaturgeschichte des Globus tatsa¨chlich kontinuierliche Relationen. Texte zu und u¨ber ‚global icons‘ verhandeln poetische Konstruktionen von Weltgrenzen, Weltra¨ndern und Weltzentren auf faszinierende Weise immer wieder neu. Bereits die Vorrichtungen der real greifbaren Globen selbst sind dabei durchsetzt von Spuren des Manuskripturalen. Das Kunsthandwerk des Globus integriert Schriftzeugnisse wie Kartuschen, Widmungen oder Gravierungen, wobei die Schrifttypen ausgesucht kunstvoll sind, oftmals Antiqua-Versalien oder Ro¨mische Kursive. Und dem glu¨cklichen Zufall der Erfindung der Druckerpresse war es zu verdanken, dass ab dem 15. Jahrhundert Globen mit gedruckten Globenstreifen beklebt werden konnten, die dann zusa¨tzlich in einer Fu¨lle von Lehr- und Handbu¨chern vero¨ffentlicht wurden.14 In der Mischung von Bild und Text ist auch einer der Hauptpunkte des Paragone zwischen der Kartographie und dem Globus begru¨ndet. Die Benennung der Kontinente, die Markierung von Bergen oder Landzu¨gen oder Sta¨d11 Schramm 1958. 12 Bildcollage: Staufischer Reichsapfel (Weltliche Schatzkammer, Wien), Antike Sphaira (Vatikan, Rom) und Behaims Globus (Germanisches Nationalmuseum, Nu¨rnberg). ¨ sterreichische Nationalbibliothek, 13 Vincenzo Coronelli: Himmelglobus, Venedig 1693 (O Wien). 14 In diesem Zusammenhang verwundert es von daher wenig, dass Verlagsha¨user eine tragende Rolle, ja Schlu¨sselposition bei der Produktion von Globen innehatten. Dieser wichtige Punkt – na¨mlich der Verbund unterschiedlicher verlagstechnischer Druckerzeugnisse – verlohnte eine eigene Studie und kann an dieser Stelle nur angerissen werden. Vgl. dazu zum Einstieg in die Thematik: Mokre 2002, S. 138 – 149.
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Abb. 3: Textkartusche, auf: Willem Janszoon Blaeu: Himmelglobus, ca. 1645, 68 cm, Ko¨nigliche Bibliothek, Amsterdam.
tenamen erfolgt zwar vermittels biegsamer und schmaler Schriftzu¨ge in feinen Typographien. Doch die Schriftzeichen formieren ein Eigenleben auf der Globenoberfla¨che, schon allein deshalb, weil sie den Betrachter zur Entzifferung oder Lektu¨re der ‚Welt‘ zwingen. Der Globus birgt folglich so besehen Dimensionen der ‚Welt als Buch‘ in sich, einer biegsamen Lektu¨re, die sich der gekru¨mmten Balance der Buchstaben anpasst. ¨ ber diesen rein materialistischen Befund hinaus verha¨lt es sich allerdings U
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Abb. 4: Mattha¨us Seutter : Himmelsglobus-Streifen, ca. 1710 (Augsburg), Diam. 20 cm, Kup¨ sterreichischen Nationalbibliothek Wien. ferstich, Globenmuseum der O
auch so, dass die Schriften auf den Globen nicht allein dekorative, anschauliche Funktionen u¨bernahmen, sondern literara¨sthetische Qualita¨ten aufwiesen. Nicht nur finden sich auf vielen Globen Fabelwesen und a¨hnliche phantastische Figuren, wie sie vor allem von den mittelalterlichen und rinascimentalen Literaturen des Wunderbaren u¨berliefert worden sind. Die Urheber von Globen kommunizieren auch mit ihren Rezipienten explizit vermittels literarischer Verfahren und Anreden. So sprechen die Produzenten (u. a. Johannes Janssonius und Abraham Gross) des Erdglobus aus dem Jahr 1623 ihre Leser direkt an und unterrichten sie u¨ber geographische und andere Neuerungen, von denen der ¨ berlieferungen zeuge. Dabei wird der Autor Pindar Globus im Vergleich zu den U als Autorita¨t aufgerufen und schließlich der „Leser“ (nicht: der Bildbetrachter) huldvoll verabschiedet. Die entsprechende Inschrift auf dem Globus lautet: Lec / tori / meo / In hoc Globo multae priscis incognita/reperuntur : nec veterum modo errores, sed/novae etiam terrae demonstrantur. […] Nova quam plurima/utere ergo, Lector, hoc Globo nouißimo/et exactißimo Pindaro enim teste: Dies / sequentes testes sunt sapientißimi. Vale / ac nostros labores boni / consuli.15
15 Zit. nach Allmayer-Beck 1997, S. 28.
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Die Literaturen haben diese Spuren globaler Skripturen enthusiastisch aufgegriffen und fortgeschrieben. Vom neuzeitlichen, analogen Himmelsglobus bis hin zum aktuellen digitalen Hyperglobus des 21. Jahrhunderts haben sich Texte fu¨r Konfigurationen von Globen interessiert.16 Ideologie und Materialita¨t treten im Zeichen des skriptural u¨berformten Globus in eine Korrelation, wie sie spannungsreicher – aber auch spannender – kaum sein ko¨nnte. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass die meisten historischen Globen in ihrer Materialform gar nicht mehr existieren, sondern verloren gegangen oder – aufgrund ihrer Fragilita¨t und Alltagsgefa¨hrdung – zersto¨rt worden sind.17 Allein durch Schriftquellen, also eben durch Globographien unterschiedlichster Provenienz, sind uns in diesen Fa¨llen die Signaturen vieler Globen u¨berhaupt ¨ ber zuga¨nglich oder konnten auf dieser Basis aufwendig rekonstruiert werden. U diese zuna¨chst einmal rein positivistischen Quellenbefunde hinaus beruhen die kulturellen Prozesse rund um den Globus auf spezifischen, mannigfaltigen Wechselwirkungen, welche ohne eine textuell fundierte Intermedialita¨t nicht denkbar gewesen wa¨ren. Zu nennen ist hier zuna¨chst einmal die bereits seit der Antike virulente Korrelation zwischen Geographie und Astronomie, was zur Entwicklung kugelfo¨rmiger Modelle des Himmels und der Erde fu¨hrte; einer Entwicklung, die zuletzt das sogenannte Zwei-Kugel-Modell hervorbrachte. Dieses bestand aus zwei konzentrischen Kugeln, wobei die innere Kugel die Erde und die a¨ußere die Spha¨re der Fixsterne repra¨sentierte. Diese Beziehung zwischen den Himmeln und der Erde beeinflusste in der Folge auch die Gestalt der bekannten Erd- und Himmelsgloben, wie sie ab dem 15. Jahrhundert hergestellt und die oft als Zwillingspaar ausgestellt wurden. Auch das sogenannte Chronoglobium war beliebt, in dem Himmels- und Erdglobus von Armillarspha¨ren u¨berdacht waren. In diesem Kontext sind auch die Astrolabien zu verorten, welche drehbare Sternbilder vorstellten. Eine zweite Wechselwirkung ist diejenige zwischen verschiedenen Medien und Wissensgebieten. Ihre historische Rekonstruktion macht deutlich, dass wir heute im Grunde genommen einen amputierten Diskurs archivieren, wenn ein Globus als isolierter Gegenstand betrachtet und ausstellt wird. Der Globus ist ohne Buchdokumentationen und kartographische Begleitmedien im Grunde genommen gar nicht ada¨quat rezipierbar.18 Und die unterschiedlichen Dar16 Vgl. zum generellen Status virtueller und digitaler Globen der Gegenwart die Beitra¨ge von Schweikart / Pieper / Schulte 2009, S. 129 – 136; Riedl 2004, S. 257 – 263. Speziell der Analogizita¨t von traditionellen und ultramodernen Globen widmet sich der Beitrag von Knust / Dolz 2009, S. 77 – 82. 17 Vgl. zu „Umwelteinflu¨ssen“, „Scha¨den“, „Abnu¨tzung“, „Fehlstellen“ von Globen die Ausfu¨hrungen bei Allmayer-Beck 1997, S. 45 f. 18 Beispielsweise dieses ‚Stilleben‘ tra¨gt diesem Umstand Rechnung: Fe´lix und Charles-Fran-
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stellungsweisen und Techniken (involviert in den aufwendigen Globenbau waren oftmals Ingenieure, Uhrmacher, Maler, Kupferstecher, Holzschneider, Bildhauer, Dichter und Geographen gleichzeitig) von Globus und Karte komplementieren einander nicht zuletzt oftmals erst durch den Kommentar von Texten zu aussagekra¨ftigen Dokumenten u¨ber die ‚Welt‘. Die unterschiedlichen Nationalliteraturen haben grenzu¨bergreifend und zeitnah erkannt, dass sie eine vermittelnde oder erga¨nzende Rolle in den Quellen der ‚Globalita¨t‘ spielen ko¨nnen, weil nur der Text ‚berichten‘, ‚erza¨hlen‘ oder ‚erla¨utern‘ kann. Der Gelehrte wird im Zeichen des Globus dabei oftmals zum reiselustigen Abenteurer, der universale Zusammenha¨nge und wichtiges Wissen zur Kosmographie und Geographie aufbereitet. Besonders in der Fru¨hen Neuzeit war ein Globus ein allererst gesellschaftlich ¨ ffentverankertes Gebilde, in dem sich mehrere diskursive Schaltstellen der O lichkeit verschra¨nkten. Globen repra¨sentierten den jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft oder den, der dafu¨r gehalten oder ausgegeben werden sollte. Sehr eng verbunden war die Ausfertigung von Globen mit den staatlichen Akademien, beispielsweise der Acade´mie franc¸aise in Paris oder der Royal Society in London, so dass tatsa¨chlich immer mehrere Wissensgebiete am Entstehungs¨ sthetik von prozess eines Globus beteiligt waren. Hier nimmt die spezifische A Globen einen nach wie vor weitgehend unterscha¨tzten Stellenwert ein. Globen waren zwar Produkte kunsthandwerklicher Gediegenheit, die aber fast immer mindestens mit einem Anflug von dekorativer Ausgestaltung versehen waren. Die Felder von sachlicher Darstellung und Technik einerseits und dekorativer, ¨ sthetik andererseits sind im Globus eng miteinander ver‚scho¨ngeistiger‘ A schra¨nkt. Denn es waren nicht einfach grobe Techniken, die bei der Verfertigung der Globen zur Anwendung gebracht wurden, sondern geradezu ku¨nstlerische, komplex konstruierte und fragile Feinmechaniken, die a¨hnlich wie bei Uhrwerken das ganze Geschick ihrer Konstrukteure herausforderten. Auch die Gestelle waren keine schlichten, prosaischen Halterungen, sondern kostbare, kunstvoll gedrechselte oder gegossene Unikate, welche oftmals mit ikonographischen Reliefs oder Gravuren versehen wurden. Der Phantasie der Globenbauer sind hier kaum Grenzen gesetzt gewesen. Globentechnik war – zumindest in der Neuzeit – immer auch Globenkunst.19 Dazu trug auch der Umstand bei, dass die Globen keinesfalls nur als monumentale Gebilde hergestellt wurden (welche als Prunkgegensta¨nde repra¨sentative Ra¨umlichkeiten schmu¨ckten), sondern auch als sogenannte Sack- oder Taschengloben. Diese konnten handlich c¸ois Delamarche: Erd-, Himmelsglobus und Armillarspha¨re, Ende 18. Jahrhundert (Wien) und Nicolas Bion: L’Usage des Globes celeste et terrestre et de Spheres suivant les differens Systemes du Monde (Paris 1728). 19 Georg Roll und Johannes Reinhold: Mechanischer Globus, 1584 (Augsburg).
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verstaut und bei Bedarf (so auch auf Schiffsreisen u. a¨.) ohne große Umsta¨nde in Augenschein genommen werden.20 Auch diese vergleichsweise zierlichen Globen, die es erlaubten, die Welt gleichsam ‚in einer Hand‘ zu tragen, waren in der Regel kunsthandwerkliche Meisterwerke, bei denen die Erdkugel sich o¨ffnen ließ und im Inneren eine herausnehmbare Armillarspha¨re beherbergte. Erst im Verlauf der Aufkla¨rung bu¨ßten die Globen ihre kunsthistorischen Auszeichnungen ein und mutierten zunehmend zu rein wissenschaftlichen Gebrauchsgegensta¨nden beziehungsweise ab dem 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung zu serienma¨ßig hergestellten Massenprodukten, wie sie uns in der Regel auch heute noch vertraut sind.
IV.
Literaturen und Texte zu / auf Globen
Quer dazu steht die vormoderne Behandlung des Globus, die sich auf individuell gefertigte Unikate konzentrierte und das Produkt eines – anachronistisch formuliert – Medienpakets war, in dem sich verschiedene Kunst- und Wissensgebiete erga¨nzten bzw. die Medien des Wissens zugleich ho¨chsten a¨sthetischen Anspru¨chen genu¨gen mussten. Ein aufschlussreiches Beispiel ist in diesem Zusammenhang Nicolaus Cusanus’ (1401 – 1464) Text Dialogus de ludo globi („Gespra¨ch u¨ber das Globusspiel“).21 Denn Cusanus’ Globuskonzept ist u. a. das Resultat einer intensiven epistemologischen Austauschbeziehung. Einer der engsten Vertrauten von Cusanus war Paolo dal Pozzo Toscanelli, einer der beru¨hmtesten Wissenschaftler im 15. Jahrhundert. Toscanelli interessierte sich fu¨r die Oberfla¨che der Erdkugel. Er stand in Korrespondenz mit Kolumbus und fertigte einen der ersten Erdgloben an, der richtungsweisend auch fu¨r den a¨ltesten erhaltenen Erdglobus wurde, na¨mlich den beru¨hmten Nu¨rnberger Erdapfel von Martin Behaim aus dem Jahr 1492.22 Aus Cusanus’ Besitz stammen außerdem zwei der a¨ltesten erhaltenen Globen, die der Gelehrte 1444 in Nu¨rnberg erworben hatte.23 Im Dialogus de ludo globi beschreibt Cusanus nun nicht 20 Joseph Moxon: Taschenglobus, ca. 1690 (London). 21 De Cusa 2000. Zum Text von Cusanus ist einschla¨gig der Aufsatz von Fo¨cking 2002, S. 1 – 18 sowie daneben Heinz-Mohr 1965. Dass Nicolaus Cusanus selbst mindestens einen, wahrscheinlich aber sogar mehrere Erd- und / oder Himmelsgloben besaß, wird in allen Forschungsbeitra¨gen zum Thema belegt, so dass an dieser Stelle kein weiterer Quellennachweis erfolgen soll. 22 Martin Behaim: Erdglobus, 1492 (Nu¨rnberg). 23 Die Globen sind im Museum Kues an der Mosel zuga¨nglich; es handelt sich um einen 27 cm ¨ lfarbe auf Leinen fassenden Pra¨zessionsglobus nach Ptolema¨us, aus Birkenholz und mit O bemalt und einen 17 cm messenden Kupferglobus. Vgl. zu Cusanus’ entsprechender Involvierung in wissenschaftliche und technische Diskurse des Globus Allmayer-Beck 1997, S. 51.
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einfach nur ein damaliges Modespiel seiner Zeit, sondern entwirft in Wechselwirkung mit den seinerzeit fu¨hrenden Diskursen zum Globus ein metaphysisches Weltbild, in dem das Denken des Vollkommenen – und das ist eine signifikante Differenz zu den ein- bis zweihundert Jahre spa¨ter stilisierten ho¨fischen Diskursen – nicht von einem perfektiblen Globus im Gefolge Ludwigs XIV. ausgeht, sondern im Gegenteil von einer ‚la¨dierten‘ Kugel, die gerade auf der Basis ihrer Unebenheiten dem irdischen Globus entspreche, welcher, so die ¨ berzeugung des Cusanus, keine geraden Wege kenne, sondern im Sinnbild des U Kugelspiels unvorhersehbare, ja eigensinnige Wege nehme. Die Delle des Globus ist Zeichen seiner Unvollkommenheit, die prinzipiell alles Irdische einerseits mit einem Makel zeichnet, andererseits seine Individualita¨t und Eigenwilligkeit begru¨ndet. Aufgrund ihrer Unebenheiten ist es nicht mo¨glich, die Kugel so auf den Weg zu bringen, dass sie einen perfekt ordentlichen, geraden Lauf nimmt. Sie ‚ha¨ngt‘ vielmehr immer wieder oder ‚schla¨gt aus‘ und holpert an vielen Stellen unelegant durch den Raum. Nun ist der „globus“ fu¨r Cusanus nicht einfach nur ein Spielball, der beliebig ¨ berlegungen ersetzt werden ko¨nnte. auch durch einen anderen Ball in seinen U Zum einen spielen, wie in allen Texten Cusanus’, theologische und philosophische Erwa¨gungen der Vollkommenheit (also gleichsam eine Kugel-Ontologie) ¨ berlegungen sind jedoch vor eine wichtige Rolle. Im Kontext der vorliegenden U allem die kunsthandwerklichen Kenntnisse des Autors von Belang. Der Globus des Cusanus ist ein Globus, der ohne ‚ars‘ und ‚scientiae‘ nicht denkbar ist: Ioannes: Admiramur omnes hunc novum iucundumque ludum, forte quia in ipso est alicuius altae speculationis figuratio, quam rogamus explanari. Cardinalis: Non male movemini, habent enim aliquae scientiae instrumenta et ludos, arithmetrica rhythmimachiam, musica monochordum.24
Cusanus ist nun zwar nicht der Urheber, aber der prominenteste Zeuge seiner Zeit, der im Dialogus de ludo globi ein Kugelspiel beschreibt, welches nicht einfach nur die runde Form der lateinischen Wortbedeutung, sondern wichtige Komponenten der Globus-Konzeption zur Anwendung bzw. reflexiv auf den Punkt bringt. Der Mittelpunkt des Spiels ist der kleinste aller Rotierungen und weist wie alle Kreise keinen Anfang und kein Ende auf, was diese zu Abbildern der Unendlichkeit pra¨destiniert. Es handelt sich aber, und dies ist das Entscheidende, um ein denkbares Unendliches, welches die go¨ttliche Vollkommenheit zwar nicht erreichen kann, aber vorstellbar macht. Was Cusanus’ 24 De Cusa 2000, S. 2 f. („Johannes: Wir alle bewundern dies neue und vergnu¨gliche Spiel, vielleicht weil in ihm eine Spiegelung hoher Gedanken dargestellt ist; wir bitten dich sie auszulegen. Kardinal: Eure Gedankenbewegung ist gar nicht schlecht, einige Wissenschaften haben ja ihre Instrumente und Spiele, die Arithmetik die Rhythmimachie, die Musik das Monochord.“)
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¨ berlegungen nun im Besonderen auszeichnet, ist, dass er das Globusspiel im U Zeichen der Perfektibilita¨t nicht von moraltheologischen Eindeutigkeiten abha¨ngig macht, sondern im Gegenteil: von der Geschicklichkeit der Spielenden, die zwar unkalkulierbaren Zufa¨lligkeiten des Spielverlaufs ausgesetzt sind, dabei jedoch klaren Spielregeln folgen, mit denen die Vernunft oder der spielerische Instinkt sinnvoll umgehen muss. Daneben spielen sowohl handwerkliche Komponenten als auch a¨sthetische Erwa¨gungen im Globus-Denken des Cusanus eine tragende Rolle. Die spielerischen Dimensionen des Globus basieren auf der Kunst des Drechslers25 und weiterer handwerklicher Instanzen, die in den Darstellungen ¨ hnlichkeit zwischen Kunst und Natur und Verfertigungen des Globus auf eine A („similitudinem artis et naturae“),26 na¨mlich der Rundheit der Welt („mundi rotunditas“),27 achten. In seinen Beschreibungen des Globus betont Cusanus außerdem den Lektu¨recharakter des Objekts, „lectioni libelli De ludo globi“),28 bei dem sowohl das „Spiel“ als auch das „Buch bewundert“ („admiratus tam de ludo quam de libello“)29 werden, und zwar als Ausweis einer „Ars creativa“.30 Cusanus schließt nicht nur mit seinen philosophischen, sondern auch mit ¨ berlegungen an die Antike an, aus der eines der seinen kunsthandwerklichen U nach wie vor bekanntesten Zeugnisse zur Ikonographie des Globus entstammt, na¨mlich der sogenannte Atlas Farnese. Diese anna¨hernd zwei Meter hohe Marmorskulptur zeigt den Riesen Atlas, der einen Globus auf seinem Ru¨cken stemmt. ¨ ber den Staat) nicht dieses Bildzeugnis, aber Cicero hatte in De re publica (U wohl ein a¨hnlich figuriertes vor Augen, als er eine der fulminantesten Textpassagen zum Globus u¨berhaupt formuliert hat, in der sich eine weit umgreifende und langfristig wirksame Dimension der Globographie aufgetan hat. Die Differenzen zu modernen Globuskonzepten sind derart augenscheinlich, dass sie kaum betont werden mu¨ssen. Hingegen sind es die Konstanten, bis hin zum ultramodernen digitalen Hyperglobus unserer heutigen Zeit, die eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Cicero nimmt auf Technikfaszinationen, Weltmaschinerien und Kunstwerke des Globus auf eine Weise Bezug, wie sie bis ins 21. Jahrhundert gela¨ufig geblieben ist: 25 De Cusa 2000, S. 4 f. („Cardinalis: Sed cur globus arte tornatili cepit illam mediae sphaerae figuram aliquantulum concavam non vos ignorare puto. / Kardinal: Warum aber der Globus durch die Kunst des Drechslers jene ungefa¨hr konkave Halbkugelgestalt bekam, das ist euch nicht unbekannt, wie ich meine.“) Die Kunstfertigkeit des Drechslers wird in der Folge des Textes mit dem go¨ttlichen Urbild-Gedanken verglichen; siehe ebd., S. 48. 26 Ebd., S. 6. 27 Ebd., S. 8. 28 Ebd., S. 68. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 118.
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Abb. 5: Atlas Farnese, antike Statue, 1575 in Rom ausgegraben, Museo Nazionale, Neapel.
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Nihil novi vobis adferam, neque quod a me sit ‚ex‘cogitatum aut inventum; nam memoria teneo C. Sulpicium Gallum, doctissimum ut scitis hominem, cum idem hoc visum diceretur et esset casu apud M.Marcellum, qui cum eo consul fuerat, sphaeram quam M. Marcelli avus captis | Syracusis ex urbe locupletissima atque ornatis-sima sustulisset, cum aliud nihil ex tanta praeda domum suam deportavisset, iussisse proferri; cuius ego sphaerae cum persaepe propter Archimedi gloriam nomen audissem, speciem ipsam non sum tanto opere admiratus; erat enim illa venustior et nobilior, in volgus quam ab eodem Archimede factam posuerat in templo Virtutis Marcellus idem. Sed posteaquam | coepit rationem huius operis scientissime Gallus exponere, plus in illo Siculo ingenii quam videretur natura humana ferre potuisse iudicabam fuisse. Dicebat enim Gallus sphaerae illius alterius solidae atque plenae vetus esse inventum, et eam a Thalete Milesio primum esse tornatam, post autem ab Eudoxo Cnidio, discipulo ut ferebat Platonis, eandem illam astris stellisque, quae caelo inhaererent es | se despriptam; cuius omnem ornatum et descriptionem sumptam ab Eudoxo multis annis post non astrologiae scientia sed poe¨tica quadam facultate versibus Aratum extulisse. Hoc autem sphaerae genus, in quo solis et lunae motus inessent et earum quinque stellarum quae errantes et quasi vagae nominarentur, in illa sphaera solida non potuisse finiri, atque in eo admirandum esse inventum | Archimedi, quod excogitasset quem ad modum in dissimillimis motibus inaequabiles et varios cursus servaret una conversio. Hanc sphaeram Gallus cum moveret, fiebat ut soli luna totidem conversionibus in aere illo quot diebus in ipso caelo succederet, ex quo et in [caelo] sphaera solis fieret eadem illa defectio, et incideret luna tum in eam metam quae esset umbra terrae, cum sol e regione…31
31 Cicero 2005, S. 30, 32, 34. („Nichts Neues werde ich euch bringen und nichts, was von mir ausgedacht oder erfunden ist; denn ich habe im Geda¨chtnis, dass Gaius Sulpicius Gallus, ein sehr gelehrter Mann, wie ihr wißt, als eben dasselbe gesehen worden sein sollte und er zufa¨llig bei Marcus Marcellus war, der mit ihm zusammen Konsul gewesen, die Kugel habe bringen heißen, die der Großvater des Marcus Marcellus nach der Einnahme von Syrakus aus dieser sehr reichen und pra¨chtigen Stadt mitgenommen hatte, wa¨hrend er sonst nichts aus einer so gewaltigen Beute mit nach Hause nahm; obwohl ich den Namen dieser Kugel gar oft wegen des Ruhmes des Archimedes geho¨rt hatte, bewunderte ich ihren Anblick selber nicht so sehr ; jene war na¨mlich hu¨bscher und stattlicher, die von demselben Archimedes fu¨r das Volk gefertigt worden war und die derselbe Marcellus im Tempel der Virtus aufgestellt hatte. Als aber Gallus den Sinn dieses Werkes u¨beraus kundig auseinanderzusetzen begann, urteilte ich, daß mehr Geist in diesem Sizilier gewesen sei, als daß Menschennatur ihn nach unseren Begriffen ha¨tte hervorbringen ko¨nnen. Es sagte na¨mlich Gallus, jener anderen festen und vollen Kugel Erfindung sei alt, und zwar sei sie von Thales von Milet zum ersten Male gedrechselt worden, danach aber sei von Eudoxos von Knidos, einem Schu¨ler Platos, wie er meinte, eben jene mit den Sternen, die am Himmel haften, bemalt worden. All ihre Ausschmu¨ckung und Bemalung habe Arat von Eudoxos u¨bernommen und viele Jahre spa¨ter nicht mit Kenntnis der Astronomie, aber mit einer gewissen dichterischen Fa¨higkeit in Versen ausgedru¨ckt. Diese Art der Kugel aber, auf der die Bewegung der Sonne und des Mondes wa¨ren und die der fu¨nf Sterne, die die irrenden und gleichsam wandelnden benannt wu¨rden, ha¨tte auf jener festen Kugel nicht abgegrenzt werden ko¨nnen, und hierbei sei die Erfindung des Archimedes zu bewundern, weil er ausgedacht ha¨tte, wie bei den verschiedenen Bewegungen eine einzige Umdrehung ungleichma¨ßige und mannigfaltige Bahnen fest innehalten ko¨nnte. Als Gallus diese Kugel in Bewegung setzte, geschah es, daß der Mond der
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Cicero unterscheidet zwei Arten von Globen, solche mit geschlossener Oberfla¨che, deren Urheber Thales gewesen sei, und solche ohne (hier nennt Cicero Archimedes), und zu letzteren za¨hlt auch der Atlas Farnese. An dieser Fru¨hgeschichte des Globus ist nicht zuletzt interessant,32 dass sie das in kunstvolle Worte fasst, was Sloterdijk die „Spha¨ropoiese“ nennt, die „Repra¨sentation des Weltganzen durch die Kugel“.33 ‚Grundlegungen‘ zur Globusliteratur, wie die referierten Passagen von Cusanus oder Cicero, haben in der Folge weitere Literaturen (und auch die bildende Kunst)34 zum Globus inspiriert. Daneben sind es Gebrauchstexte zur Verfertigung der Globen, die ebenfalls bei der Darlegung ihrer Gegensta¨nde nicht auf literarische oder poetische Komponenten verzichten.35 Besonders kunstfertig ist hier das Buch Institutio Astronomica. De Usu Globorum & Sphaerarum […] aus dem Jahr 1668 des Globenmachers Willem Janszoon Blaeu (1571 – 1638), einem Schu¨ler von Tycho Brahe, welches nicht nur den „Gebrauch“, sondern auch die wissenschaftlichen und a¨sthetischen („literarum & alphabeti“) Dimensionen des Globusdiskurses aufgreift: „Atque ideo etiam usum vulgarium Globorum, tanquam introductionem ad Sphaeras Copernicaeas, censui praemittendum.“36 Blaeus Globen waren hochwertige, dekorative Kunstwerke37 und wurden in der Folge nurmehr von dem bereits genannten Minoritenpater Vincenzo Coronelli u¨bertroffen, der fu¨r den Hof Ludwigs IV. ein prunkvolles Globenpaar von sieben Metern Ho¨he und vier Metern Durchmesser konstruierte und baute.38 Wie zentral der politische Stellenwert der Globen war, bezeugt allein der Umstand, dass dem Universalgelehrten Coronelli der Zugang zu den ho¨fischen Geheimarchiven gewa¨hrt wurde. Coronelli verarbeitete auf dieser Basis aktuellste Informationen von Expeditionen und Routen, aber auch traditionelle Globendis-
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Sonne in ebensovielen Umdrehungen in jenem Erz wie Tagen am Himmel selber nachru¨ckte, wonach auf der Kugel eben dieselbe Verfinsterung der Sonne eintrat und der Mond zu dem Zeitpunkt in den Kegel, den der Schatten der Erde bildete, geriet, als die Sonne auf der Seite ‚gegenu¨ber‘ stand…“. Ebd., S. 31, 33, 35). Vgl. zur Grundlegung des Globus in der Antike Schlachter 1927 sowie Brendel 1936, S. 1 – 95. Sloterdijk 1999, S. 48, 50. Sloterdijks Buch beinhaltet eine Fu¨lle von wichtigen und originellen Beobachtungen, so dass gerade auf dieser Basis die oftmals allzu vereinfachenden Konklusionen zum Teil wenig u¨berzeugend wirken; vgl. exemplarisch ebd., S. 79: „Die griechische ‚sphaira‘ ist somit, wie ausgefu¨hrt, nichts anderes als das Bild oder der Signifikant der kosmischen Totalita¨t. Wer das Bild der Kugel sieht, der sieht die Kugel selbst.“ Vgl. dazu exemplarisch Dekker 1999, S. 19 – 52; Hofmann 1993, S. 10 – 18. Zu den bekanntesten Handbu¨chern geho¨rt außerdem dasjenige von Frisius 1530. Blaev 1668, S. 3. Siehe z. B. das Globenpaar von Willem Janszoon Blaeu, 1602 (Wien, Globenmuseum). Vergleichbar aufwa¨ndig gefertigt ist daneben am ehesten die Globenkunst der Augsburger Konstrukteure Georg Roll und Johannes Reinhold. Vgl. exemplarisch zur Globenkunst Coronellis.
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kurse aus den u¨berkommenen Literaturen. Er selbst dokumentierte sein u¨bergreifendes ‚Globenwissen‘ wiederum in dem Buch Libro dei Globi (1697).39 Das Fazit des vorliegenden Papiers kann nur ein vorla¨ufiges, zukunftsgerichtetes sein: Was in der Forschung neben der literarischen Analyse der Globenhandbu¨cher und des Poetologems des Globus in der Dichtung nach wie vor aussteht – weil sich bislang kaum Philologen fu¨r eine Globologie oder Globographie interessiert und sowohl die Technik- als auch die Kulturwissenschaftler wiederum dieses Gebiet in ihren Arbeiten ausgeblendet haben –, ist eine systematische Sichtung der in den Museen erhaltenen Himmelsgloben (vor allem der Manuskriptgloben) hinsichtlich der auf ihnen befindlichen literarischen Schriftzeugnisse. Dies ist eines der Gebiete, auf dem eine komparatistisch orientierte Literaturwissenschaft neue Textfelder erschließen ko¨nnte, die als solche in ihrer schieren Materialita¨t aufgrund ihrer nur vordergru¨ndig betrachtet allein technisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung noch nicht in das Blickfeld der Philologien getreten sind.
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Abbildungen ¨l Abb. 1: Henri Testelin: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, 1667 (Paris), O auf Leinwand, 348x594, Muse´e National de Chaˆteau, Versailles. Abb. 2: W. J. Peredery : Gottorfer Globus, Außenansicht, Zeichnung, Lomonossow-Museum Sankt Petersburg. Abb. 3: Textkartusche, auf: Willem Janszoon Blaeu: Himmelglobus, ca. 1645, ∅ 68 cm, Ko¨nigliche Bibliothek, Amsterdam. Abb. 4: Mattha¨us Seutter : Himmelsglobus-Streifen, ca. 1710 (Augsburg), Diam. 20 cm, ¨ sterreichischen Nationalbibliothek Wien. Kupferstich, Globenmuseum der O Abb. 5: Atlas Farnese, antike Statue, 1575 in Rom ausgegraben, Museo Nazionale, Neapel.
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Andere Karten. Videogeographie, Kartographie und Geopoetik
Mit dem gesteigerten Interesse an Raum als nicht mehr mathematisches oder ausschließlich geographisches, sondern sozial ‚produziertes‘, vera¨nderliches und paradigmatisches Moment ist in den Kultur- und Literaturwissenschaften auch eine Konjunktur geographischer Metaphern aufgetreten: Sta¨ndig wird migriert und gereist, werden Welten und Ra¨ume vermessen, Territorien abgesteckt, oder, im Englischen noch auffa¨lliger : travelled, explored, contested, und natu¨rlich: mapped, mapped out, mapped onto something. Die mapping-Metapher wird meist dann angewandt – fa¨lschlicherweise, wie sich im Folgenden zeigen wird – wenn es darum geht, komplexe Gegebenheiten und Vorga¨nge u¨berblickshaft darzustellen, oder ein klangvolles Synonym fu¨r ‚analysieren‘, ‚darstellen‘ oder ‚beleuchten‘ gesucht ist. Mir wird es aber in diesem Beitrag eben nicht um die vielzitierte Metapher gehen, sondern vielmehr darum, mapping tatsa¨chlich als ku¨nstlerische und poetische Praxis zu verstehen. Die epistemische Struktur der Karte befindet sich per se in einem interessanten Bereich zwischen Bild und Text, zwischen Repra¨sentation und Performanz. ‚Der‘ Weltkarte ist dabei oft eine eurozentristische Komplizenschaft vorgeworfen worden, u. a. aufgrund des Verzerrungsgrades der Mercator-Projektion mit ihrer Marginalisierung a¨quatorialer Kontinente und perspektivischer Benennungen wie der des „Nahen Ostens“. Gleichzeitig war es schon immer das Instrument der Karte, mit dem der Kolonisator das andere, unbekannte und scheinbar unbewohnte Territorium buchsta¨blich nach Hause holt, wie Bruno Latour anmerkt, es aufteilt, be-schreibt, sich ihm einschreibt – und indigene Kartographien, die teilweise bewegungsbasiert und mit anderen oder keinen Codes arbeiten, u¨berschreibt.1 Seit den 80er Jahren, bei Brian Harley zum Beispiel,2 geht dieses Denken der Karte als Machtinstrument mit einer Betonung des Gemachtseins der Karte einher, mit einem dekonstruktiven Blick auf die Grammatiken ihrer behaupteten Neutralita¨t. In einem solchen Versta¨ndnis ist 1 Vgl. Latour 1987, S. 220. 2 Vgl. Harley 1989.
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die Karte nicht einfach nur eine Abbildung, sondern geht dem Territorium – wenn es u¨berhaupt um ein solches geht – voraus; sie arbeitet performativ. Natu¨rlich nicht in der klassischen Kartographie, die weiterhin an der Fiktion des neutralen Abbildens festha¨lt, sondern vor allem in ku¨nstlerischen Praktiken ¨ berlegungen aufgenommen worden. sind diese theoretischen U Robert Stockhammer, der in Kartierung der Erde u¨ber die Beziehungen zwischen Literatur und Kartographie geschrieben hat, warnt im Vorwort mit Ernst Robert Curtius vor einer „Vernebelung“ bestimmter Sachverhalte durch modische kartographische Metaphorik.3 Bei seinem Vergleich der Zeichensysteme Literatur und Kartographie, der darauf folgt, geht er entsprechend von einer sehr engen Definition des Kartographischen aus. Was ist aber mit Karten, denen eine gewisse Art von „Vernebelung“, von Uneindeutigkeit und Undeutlichkeit, als Produktionsprinzip schon eingeschrieben ist? Jenen ‚anderen‘ Karten, die teilweise noch mit kartographischen Codierungen arbeiten, sie aber gleichzeitig unterlaufen und destabilisieren? Diese Karten sind verschiedentlich als mappings bezeichnet worden, und es ist bezeichnend, dass mapping dabei nicht immer das Gleiche bezeichnet. Urspru¨nglich meint der Begriff einfach den Akt des map-making, des klassischen Kartographierens, ist also in sich verbunden mit einer Auffassung der Karte als objektives, wissenschaftliches Erkenntnis- und Beschreibungsinstrument. Entsprechend bezeichnet Denis Wood alternative Kartographiepraktiken, die die Politiken der traditionellen Kartographie freilegen, als counter-mappings.4 Fu¨r James Corner hingegen impliziert schon der Begriff des mapping selbst – im Gegensatz zum fertigen Artefakt (map) – einen potentiell unabgeschlossenen Prozess im Grenzgebiet zwischen Kunst und Geographie und damit eine Entfernung zur scheinbaren Eindeutigkeit der kartographischen Abbildung: Mapping is neither secondary nor representational but doubly operative: digging, finding and exposing on the one hand, and relating, connecting and structuring on the other. Through visual disclosure, mapping both sets up and puts into effect complex sets of relationship that remain to be more fully actualized. (…) Like a nomadic grazer, the exploratory mapper detours around the obvious so as to engage what remains hidden.5
Fredric Jameson wiederum hat in einer vielzitierten Passage das Potential eines sogenannten cognitive mapping wie folgt beschrieben: „[T]o enable a situational representation on the part of the subject to that vaster and properly unrepresentable totality, which is the ensemble of society’s structure as a whole.“6 Ja3 4 5 6
Stockhammer 2006, S. 7. Vgl. Wood 1992. Corner 1999, S. 225. Jameson 1991, S. 51.
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meson bezieht sich mit seiner Idee eines cognitive mapping, das mehr prozessuale Praxis als starre Repra¨sentation ist, einerseits auf Kevin Lynch, der damit die Einschreibung von Subjektivita¨t in den urbanen Raum beschrieben hat.7 Gleichzeitig fokussiert Jameson hier die Komplexita¨t und die unsichtbaren Strukturen eines globalen Kapitalismus, die sich der Abbildung entziehen. Und ¨ berlegungen natu¨rlich auch in Richtung anderer genauso ko¨nnte man diese U ¨ Aspekte des Globalen offnen – beispielsweise im Sinne eines mappings migratorischer Pfade und topologischer Konnektivita¨ten in einer globalisierten Welt. Fredric Jameson fordert die Realisierung dieses politischen und a¨sthetischen Projekts nicht von der Kartographie oder der Geographie, sondern dezidiert von der Kunst. Was fu¨r eine Form so ein mapping jedoch genau annehmen ko¨nnte, schreibt Jameson, wisse er selbst nicht. Welche ku¨nstlerischen Praktiken lassen sich andersherum aber an seine Idee anschließen? Und inwiefern ließe sich eine Praxis des mappings in einem weiteren Schritt womo¨glich auch auf literarische Texte beziehen? Diese Frage kann hier nicht erscho¨pfend beantwortet, soll aber ¨ berblick u¨ber bild- und videoku¨nstlerische zumindest gestellt werden; dem U Praktiken wird ein Ausblick auf eine mo¨gliche Anwendung in einem literaturwissenschaftlichen Kontext folgen. Zuna¨chst einmal lassen sich unza¨hlige verschiedene Arten von ‘anderen’ Kartographien beschreiben, die teilweise noch mit klassischen kartographischen Codes und Umrissen – wenn auch mit Verschiebungen – arbeiten (ein fru¨hes klassisches Beispiel wa¨re America Invertida des Ku¨nstlers Joaquı´n TorresGarcı´a, eine kinderzeichnungsartige, umgedrehte Karte Su¨damerikas, entstanden im Jahre 1943), teilweise mit anderen Codes funktionieren, deren Lesbarkeit erst entwickelt werden muss; die teilweise vielleicht tatsa¨chlich eine Karte im deleuzianischen Sinne8 sind, teilweise ihre eigenen Mechanismen der Repra¨sentation offenlegen. Aber fu¨r sie alle gilt vielleicht erst einmal, dass sie gerade das sichtbar zu machen versuchen, was aus klassischen Kartographien der Welt ausgeschlossen ist. Eine Kartographie, die von der Ku¨nstler- und Architektengruppe AnArchitektur erstellt wurde, zeigt die sogenannten Ausreisezentren in Deutschland, in denen Asylantra¨ger fu¨r eine unbegrenzte Zeit festgehalten werden ko¨nnen – und die komplexe rechtliche, ra¨umliche und soziale Textur, die sie umgibt.
7 Vgl. Lynch 1960. 8 Fu¨r Deleuze und Guattari ist die „carte“ gerade nicht bloße Repra¨sentation, sondern eine rhizomatische, offene, sich permanent vera¨ndernde Struktur, die politische Aktion, soziale Formation oder Kunst sein kann – im Gegensatz zur geschlossenen „calque“, der ‚Kopie‘, die man eher mit Kartographie in einem herko¨mmlichen Sinne kurzschließen ko¨nnte: „Une carte a des entre´es multiples, contrairement au calque qui revient toujours ‚au meme‘“. Deleuze / Guattari 1980, S. 20.
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Abb. 1: An Architektur 12 / a42.org: „Geografie des Ausreisezentrums Fu¨rth“, Mai 2004
Diese Karte verfa¨hrt an manchen Stellen klassisch diagrammatisch, entha¨lt zum Beispiel eine Art Flowchart eines Asylantragsprozesses. Doch schon hier gibt es eine Sto¨rung, eine Verschiebung: was aussieht, als wa¨re ausgerechnet Kempten ein Ort des Ausgangs aus dem Prozess oder Zugangs zu Deutschland, entpuppt sich als andere Kartographie, die sich in das Diagramm schiebt; die schra¨ggedruckten Namen sind weitere Lager in Su¨ddeutschland; so viele, dass die scheinbare analytische Klarheit der Karte sich in
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Unlesbarkeit auflo¨st. Gleichzeitig ist die Karte von Itineraren und Narrativen einzelner Flu¨chtlinge durchzogen. Hier findet ein a¨hnliches Ineinandergreifen von be-schreibend-repra¨sentationaler Topographie und relationaler Topologie statt, wie es Simon Harvey in seinem Beitrag in diesem Band erla¨utert. Die „Geographie des Ausreisezentrums Fu¨rth“, so der Titel der AnArchitekturKarte, reflektiert auf diese Weise einerseits u¨ber die Ortlosigkeit des Lagers; gleichzeitig zoomt sie gewissermaßen in die Grenze hinein und ‚entpackt‘ jene Linien auf der Karte von Europa, die filtern, trennen oder to¨ten. Wieder andere mappings zeigen zum Beispiel die ‚unintended cities‘ der Slums, die auf den offiziellen Pla¨nen Kalkuttas als leeres Territorium eingezeichnet ¨ berwachungskameras, deren versind; sie kartographieren Netzwerke aus U schaltete Bilder dann noch einmal eine weitere Kartographie aus Bewegtbildern ergeben; zeigen die Routen von Schmugglern, den paradigmatischen Figuren der Destabilisierung von Grenzen; oder sie zeichnen in Form sogenannter GPSDrawings die eigene Bewegung im Raum nach.9 Solche Karten, das zeigt sich an diesen Beispielen, sind natu¨rlich nicht etwa zur Navigation gedacht; sie verfolgen vielmehr eine Agenda des Sichtbarmachens, das aber nie ein Einfachermachen ist, das keine durchga¨ngige Lesbarkeit anstrebt. Wenn die geographische Karte traditionell das Unbenannte benennt, arbeitet die ku¨nstlerische Praxis des mappings eher am Gegenteil: der Wiederherstellung von Uneindeutigkeiten, dem Sichtbarmachen widerspru¨chlicher Subjektivita¨ten und Prozesse. Vereinfacht ließe sich vielleicht in Anlehnung an de Certeaus Auffassung von espace sagen: mappings arbeiten mit Ra¨umen; Karten operieren mit Orten. Der Blick auf eine Karte ‚der‘ Welt ist dem abstrahierenden und reduktiven „Blick von oben” verwandt, den de Certeau den subjektiven, emanzipatorischen „Praktiken im Raum”10 gegenu¨berstellt. Es ist dieser Blick, aus dem die klassische Geographie des benannten Terrains, der Grenzen und Nationalstaaten einen Anspruch der Universalita¨t generiert. ‚Andere‘ Kartographien bescha¨ftigen sich mit dem komplexen und konfliktualen Gewebe, das darunter liegt, das eher an einem Entnennen statt einem Be-nennen arbeitet – und vor allem durch Situiertheit statt durch den Blick aus dem Nirgendwo oder den Blick von oben operiert. Die Bildwissenschaftlerin Irit Rogoff arbeitet in ihrer Theorie einer visuellen Kultur der Geographie, die eben nicht eine Geographie ist, vor allem mit dieser Idee der Positionalita¨t,11 die aus der feministischen Epistemologie stammt – und 9 Vgl. z. B.: Mogel / Bhagat. 2008. 10 De Certeau 2003, S. 180. 11 Diese Situiertheit ist nicht einer festen Position vergleichbar, sondern eher eine „active form of unbelonging“, wie Rogoff schreibt. Vgl. Rogoff 2006, S. 5.
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mit einer Auffassung von Raum, die ebenfalls mit derenigen von Certeau oder Lefebvre verwandt ist. „In the same way both feminism and post-colonial theory have insisted on the need for a multi-subjectivity“, schreibt Rogoff, „so does the critical process of geographical spatialization insist on the multi-inhabitation of spaces through bodies, social relations and psychic dynamics.“12 Und weiter : „Geography and space are always gendered, always raced, always economical […]. The textures that bind them together are daily re-written through a word, a gaze, a gesture.“ Die Manifestationen dieser flu¨chtigen und verdeckten Geographien in zeitgeno¨ssischen Kunstpraktiken nennt auch Rogoff „counter-cartographies“ oder „mappings“, aber ihre Analysen beschra¨nken sich nicht auf Arbeiten, die kartographische Zeichensysteme zitieren oder subvertieren. In diesem Sinne mo¨chte ich im Folgenden zwei Arbeiten vorstellen, die man mit Ursula Biemann als „Videogeographien“ bezeichnen ko¨nnte.13 Der britische Ku¨nstler Steve McQueen kontrastiert in seinem Film Gravesend, der u. a. auf der 52. Biennale in Venedig gezeigt wurde, die Arbeitsprozesse in einer Mine in der Demokratischen Republik Kongo, in der Coltan abgebaut wird, mit jenen in einer Software-Firma in England, die den Rohstoff dann in Computerchips verarbeitet. Bilder von harter ko¨rperlicher Arbeit und Bilder aus einer aseptischen, fast ko¨rperlosen Umgebung werden hier gegeneinander geschnitten; dazwischen steht eine Art bewegte, monochrome Kartographie des Kongo. Erst einmal kann McQueens Arbeit natu¨rlich als eine Reflexion auf globalen Kapitalismus verstanden werden, in dem die Textur des allta¨glichen Lebens der einen mit dem Leid der anderen verwoben ist. Es ist durchaus bekannt, dass der globale Mobiltelefon- und Laptop-Boom in einem direkten Zusammenhang mit dem Krieg in Kongo steht, dem to¨dlichsten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg,14 und doch bleibt jene Art der Konnektivita¨t normalerweise unsichtbar. Das globale Diktum des „everything / one is connected“, so ubiquita¨r gerade in den Slogans der Computerindustrie, wird in McQueens Arbeit von seiner dunklen Unterseite her gelesen; Globalisierung als Erza¨hlung der Egalita¨t wird demontiert. Und wie in so viele literatur- oder kulturwissenschaftliche Texte zum Thema Kartographien schleicht sich auch in diesen hier nun Joseph Conrad ein, denn das „Gravesend“, das McQueens Film seinen Titel gibt, ist ebenjener Ort an der Themse, in dessen Hafen Conrads Erza¨hler in Heart of Darkness von seiner Reise auf dem Kongo berichtet. Der Sonnenuntergang u¨ber der industriellen Silhouette des heutigen Gravesend im Film ist eine direkte Spiegelung des Sonnen12 Ebd., S. 23 – 28. 13 Biemann 2008. 14 Vgl. z. B. Smith 2011.
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untergangs am Ende von Conrads Novelle, der England, den Ort der Rahmenerza¨hlung, in tiefe Dunkelheit taucht – und der schließlich auch den unbedarftesten Leser fragen la¨sst, ob das „Herz der Finsternis“ hier wirklich das unbekannte Territorium des Kongo ist. Mit der literarischen Referenz erweitert McQueen sein Videomapping der unsichtbaren Verbindungen zwischen Produkt und Rohstoff, Technologie und immerwa¨hrendem Krieg um eine Perspektive auf Globalisierung, die lediglich neue Namen fu¨r alte – in diesem Falle koloniale – Strukturen annimmt. In seinem Verzicht auf ein kommentierendes Voice-Over oder sonstige Muster des klassischen Dokumentarfilms a¨hnelt Gravesend anderen Arbeiten aus dem Bereich der Videokunst, von denen bezeichnenderweise gerade in den letzten zehn Jahren sehr viele entstanden sind. Die schweizerische Videoku¨nstlerin Ursula Biemann zeigt das, was Anselm Franke einmal die „silent language of infrastructure“15 genannt hat, punktiert durch „a myriad of human trajectories on the ground“, wie es in einem von Biemanns Filmen heißt. Fu¨r das Projekt B-Zone beispielsweise fuhr die Ku¨nst¨ l-Pipeline ab, interviewte Arbeiter, Prostituierte, lerin eine transnationale O ¨ konomien, Anwohner und vertriebene Anwohner und legte so die ‚anderen‘ O Geographien und Narrative frei, die sich um das Projekt ablagern. Die Gro¨ßenordnung und die Abstraktion der Pipeline, ko¨nnte man argumentieren, ist verbunden mit dem Konzept des Blicks von oben, wie ich es im Zusammenhang mit der Kartographie erwa¨hnt habe, wa¨hrend die ku¨nstlerische Erkundung des widerspru¨chlichen und heterogenen Raums, der darunter liegt, eher durch Situiertheit operiert – auch hier begegnet uns wieder jenes Spannungsverha¨ltnis von Totalita¨t und Positionalita¨t, das schon in Jamesons oben zitierter Charakterisierung seines cognitive mappings so zentral ist. In Sahara Chronicle, entstanden in den Jahren 2006 – 2007, folgt Biemann den trans-saharischen Migrationsrouten in Richtung Europa. In zwo¨lf Videos, die in einem Ausstellungskontext teilweise geloopt werden oder parallel laufen, werden Bilder aus einem marokkanischen Deportationslager, Interviews mit professionellen Fluchthelfern und Flu¨chtlingen, Bilder der verschiedenen Transportmittel und Wu¨stencamps und auch eine Art bewegte Kartographie montiert – ¨ berwachungsflugzeugen. eine Simulation der Infrarotkameraperspektive aus U Einen großen Teil der Migrationsindustrie in der Sahara wickeln die Tuareg ab, ein nomadisches Volk, das quer zu den kolonialen Staatenbildungen von Mali, Algerien, Tschad u. a. lebt. Sahara Chronicle reflektiert u¨ber die Logik dieser Grenzen, der Grenze u¨berhaupt und der Zonen des Ausnahmezustands, die sie umgeben und produzieren – und ist in dieser Hinsicht vielleicht vergleichbar mit der Karte des Lagers, wie ich sie eben beschrieben habe. Im Englischen beschreibt das Verb „to re-complicate“ treffend die kritische 15 Anselm 2005, S. 7.
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Befragung und sorgfa¨ltige Darstellung eines Beziehungsgeflechts, das sich in seiner Komplexita¨t und Ambiguita¨t einfachen Darstellungsmodi entzieht. Weil sie eine situierte Position gegenu¨ber eines vereindeutigenden „Blicks von oben“ privilegiert, ko¨nnte die Praxis der ‚re-complication‘ mit dem von Jameson geforderten „cognitive mapping“ in Zusammenhang gebracht werden. Auch, wenn es im Deutschen etwas holpriger klingt, mo¨chte ich argumentieren, dass Biemann und andere in ihren Videoarbeiten an einer solchen ‚Rekomplizierung‘ der Bilder und Ra¨ume des Globalen arbeiten. Das Verschwinden der Distanz zwischen Orten, das natu¨rlich eigentlich ein Verringern von (Reise-) Zeit ist, mag mit dem Weltverkehr der Eisenbahnen und Dampfschiffe, wie er bei Jules Verne literarisiert wird, einen ersten großen Schub erfahren haben; radikalisiert worden ist es sicherlich erst durch die medial produzierte Mo¨glichkeit der Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit, die Marshall McLuhan als die seither vielzitierte und viel angefochtene Aufhebung des Raums beschrieben hat. Auffa¨llig ist nun, dass Ursula Biemann in ihren Projekten oft sehr lange Strecken abfa¨hrt, sehr weite Gebiete bereist; fast scheint es, als wu¨rde das Bild so wieder mit dem ‚Raumgehalt‘ angereichert, den es in seiner globalen Zirkulation verliert. Die Aspekte der eigenen Bewegung und der Entfernung, die die Karte ebenso wie die klassische Dokumentarfilm-Dramaturgie tendenziell auslo¨scht, werden hier immer miterza¨hlt. Anders als letztere problematisiert Biemann in ihrer Arbeit gleichzeitig das eigene Verha¨ltnis zu Repra¨sentation, la¨sst die Zeichensysteme Text, Bewegtbild und Kartographie kollidieren und impliziert sich immer selbst als Produzentin dieser Bilder. Und nicht zuletzt arbeitet das, was ich hier als ‚Rekomplizierung‘ des Ra¨umlichen beschreibe, gegen einfache Markierungen von Identita¨t: durchkreuzt wird in Sahara Chronicle auch das dominante Medienbild des afrikanischen Flu¨chtlings – ein u¨berfu¨lltes Boot mit ausgemergelten Gestalten in Trainingsanzu¨gen –, indem es 1.) durch seine Vorgeschichten ersetzt und erweitert wird, und 2.) diese nicht auf ein Leidensnarrativ reduziert werden. Migration wird hier vielmehr, wie Biemann selbst im Film sagt, als selbstbestimmte Variation von Geopolitik – eine Art Mikrogeopolitik – verstanden, als ein Netz aus komplexen Bewegungen ¨ konomien quer durch das und jenseits des nationalstaatliche(n) Territound O rium(s). Videogeographien arbeiten in diesem Versta¨ndnis gegen totalisierende Narrative ‚der (einen) Welt‘ und gegen solche Positionen, die Globalisierung vereinfachend mit der Figur der freien Zirkulation beschreiben. Ausdru¨cklich spreche ich hier nicht von ‚Widerstand‘ gegen hegemoniale Welt-Erza¨hlungen, da mir der Begriff der resistance, fast so ha¨ufig gebraucht wie die oben genannten geographischen Metaphern, immer eine leere Oppositionalita¨t ins Spiel zu bringen scheint; vielleicht wa¨re es ja – dies nur am Rande bemerkt – tatsa¨chlich eine Poetik des Rekomplizierens, die dieser Oppositionalita¨t des Widerstands-Diskurses etwas entgegenzusetzen ha¨tte. Und vielleicht
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findet sich durchaus ein Begriff, der diese Praxis noch na¨her beschreiben ko¨nnte. In einem Vortrag anla¨sslich der Ausstellung, in der Sahara Chronicle gezeigt worden war, bezeichnete der Kunsttheoretiker und Kurator Alfredo Cramerotti Biemanns Arbeit als eine „geopoetische“. Wie ist dieser oft gebrauchte, doch selten klar konturierte Begriff der Geopoetik hier zu verstehen, und wie vermittelt er womo¨glich zwischen Bereichen des Kartographischen, des Literarischen und der visual culture? Wohl das erste Mal konsequent angewandt durch den Lyriker und Literaturwissenschaftler Kenneth White, der damit ein o¨kologisch-ganzheitliches und nomadisches Schreiben meint,16 hat die Geopoetik in ihrer vergleichsweise kurzen Karriere schon fu¨r sehr unterschiedliche Konzepte gestanden und wird – zumeist recht diffus – immer dann angewandt, wenn Literatur und Geographie als auf irgendeine Weise verknu¨pft dargestellt werden sollen. Fu¨r manche bezieht sich die Geopoetik gar auf eine Metaphorik des Gesteins;17 in den Erza¨hlungen des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowytsch sind es die komplexen Lokaltopographien aus perso¨nlichen Erinnerungen und Historiographien, die ein geopoetisches, hier als weitgehend unpolitisches verstandenes ¨ hnlich wie in der Kartographietheorie scheint man Schreiben konstituieren.18 A auch in dieser Begriffsdiskussion zwischen zwei Positionen zu schwanken, die natu¨rlich keine bina¨re Opposition bilden mu¨ssen: Geopoetik wird einerseits schlicht als eine Form literarischer Topographie verstanden, andererseits liegt die Betonung auf der poeisis, der – mit Lefebvre formuliert – „Produktion“ des Raumes. Am u¨berraschendsten ist dabei aber vielleicht, dass sich diese literarischen und literaturwissenschaftlichen Auffassungen von Geopoetik nie direkt auf Narrative des Globalen beziehen, sondern meist in nationalen Zusammenha¨ngen verharren. Interessanterweise hat aber auch der mapping-Theoretiker und Aktivist Brian Holmes seine eigene Idee einer Geopoetik – er bezeichnet als solche dezidiert globale, politisch-ku¨nstlerische Taktiken, die sich mit geopolitischen Strategien auseinandersetzen: As supranational regions engulf ever-larger populations and the passage of shifting borders becomes an ever-more common activity, geopolitics is increasingly experienced in the flesh and in the imaginary, it is traced out on the collective skin. This is when geopoetics becomes a vital activity, a promise of liberation.19
16 Vgl. z. B. White 2003. 17 Vgl. z. B. Schellenberger-Diederich 2006. 18 Zumindest laut der Meinung von Magdalena Marszalek, einer der Herausgeberinnen des bislang einzigen Bandes, der den Begriff im Titel tra¨gt. Vgl. Marszalek / Sasse 2010. 19 Holmes 2005, S. 742 [Hervorhebung D. B.].
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Bringt man die Positionen von Holmes und Cramerotti zusammen mit jenen Aspekten, die ich eben bei Biemanns Arbeiten herausgestellt habe, folgt daraus eine Lesart von Geopoetik vor allem als rekomplizierendes und situiertes Schreiben des Globalen. Zwar hat sich diese Auffassung aus der Bescha¨ftigung mit Visualita¨t, mit ku¨nstlerischen Praktiken und mappings ergeben, ko¨nnte aber genauso im Hinblick auf Literatur gedacht werden. Nicht zufa¨llig bezeichnet Ursula Biemann ihre Vorgehensweise als „essayist video making“ und schreibt: „I have used video as a form of writing […] the world.“20 Umgekehrt lassen sich die Parameter jener dichten, re-komplizierenden Form visuellen Erza¨hlens vielleicht auch auf literarische Texte anwenden. Fu¨r den Sozialanthropologen Tim Ingold besteht eine Verwandtschaft zwischen „storytelling” und „wayfaring”; letzteres ist die Fortbewegungs- und Lebensweise des nomadischen Ja¨gers oder des Reisenden ohne Ziel, der keinen vorgezeichneten Wegen folgt, sondern sie durch seine Wanderschaft erst produziert.21 „Wayfaring“, das „trails“ und „lines of inhabitation“ hinterla¨sst, steht fu¨r Ingold in einem diametralen Gegensatz zu „transport“, der „routes“ und „lines of occupation“22 folgt, die wiederum in Verknu¨pfung mit de Certeaus ‚Blick von oben‘ und dem Paradigma der klassischen Kartographie als Be- und Einschreibung von ‚lieux‘ gesehen werden ko¨nnten. Es wu¨rde zu weit fu¨hren, diese Verbindung hier weiter auszuloten – an dieser Stelle soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass Ingolds Konzept des „wayfaring“ eben jene Verbindung von Bewegung, Raumproduktion und situiertem Wissen, die z. B. Biemanns Videoarbeiten pra¨gt, weiter theoretisieren helfen ko¨nnte – und gleichzeitig einen Anknu¨pfungspunkt fu¨r spezifisch literaturwissenschaftliche Analysen bietet. ‚Welthaltigkeit‘ la¨sst sich in gegenwa¨rtiger Literatur auf mehreren Ebenen konstatieren – globale Episodenromane, die topologische Konnektivita¨ten aufzeigen, wa¨ren nur eine davon. Literarische Geopoetik, wie ich sie verstehe, ist nicht dem geo-/kartographischen Blick verwandt, sondern funktioniert analog zu visuellen Praktiken des mappings, wie ich sie in diesem Beitrag erla¨utert habe.23 Demnach wa¨re eine Schreibweise des Geopoetischen in Heart of Darkness, um beim beliebtesten Beispiel aus dem Bereich ‚Kartographie und Literatur‘ zu bleiben, nicht im erza¨hlerischen Nachzeichnen der kartographischen Darstellung des Kongo oder der beru¨hmten „white spots“ auf den Landkarten zu suchen, die den Protagonisten in seiner Kindheit faszinierten – sondern eher an einer Stelle, die mit 20 21 22 23
Biemann 2008, S. 1. Ingold 2007. Ebd., S. 81. In meinem Dissertationsprojekt fu¨hre ich diesen Gedanken am Beispiel literarischer Reaktionen auf 9/11 und den globalen ‚war on terror‘ weiter aus.
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Kartographie als Zeichensystem gar nichts zu tun hat: Marlow konstatiert, dass die „black fellows“, die als seine Arbeitskra¨fte an Bord sind, den Kongo-Bewohnern, die sie in diesem Moment am Ufer beobachten, eigentlich genauso fremd seien wie er selbst – und zwar ausdru¨cklich nicht, weil jene an Bord schon halb zivilisiert seien, sondern weil sie auf einem fremden Teil des Flusses unterwegs sind, wenn auch „nur“ 800 Meilen von zuhause entfernt, wie er betont.24 Was hier entsteht, ist ein Blick auf das andere Territorium, der sich selbst mit einschreibt und keinen vereindeutigten Ort namens „Kongo“ entwirft, sondern ebenjene Komplexita¨t und Widerspru¨chlichkeit des Raums mitliest, die nicht kartierbar ist – zumindest nicht mit jener Art von Karten, mit denen Conrad und Marlow gereist sind.
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Abbildungen Abb. 1: An Architektur 12 / a42.org: „Geografie des Ausreisezentrums Fu¨rth“, Mai 2004.
Simon Harvey
Twisted Logics: A Topological Turn in Counter-Cartography and Some Artistic Antecedents
Mapping has its limitations, this is generally accepted. For art the sky is the limit: it affects, inspires and probes. Often considered little more than a tool, mapping does not ‘do’, it simplistically positions us in the world and measures out our lands and places. In this essay I want to contest this simplistic view of topographical cartography and to consider one or two art historical moments when mapping and art have danced energetically around one another, if not on equal terms then at least with similar energy. Moving on I want to speculate on the potential for a more effective counter-cartography, a topological one that works with the complexity of our re-orientations within a discourse of globalization and its new mobilities. Topology literally means the study of places. However, it has travelled so far from this basic definition that further explanation is required, especially when it comes to mapping. If topographical mapping is a metric representation of a territory cut up into squares and rectangles, a measured geometry whose predominant framework is the variably scaled grid, topological mapping is unmeasured, non-geometric (or at least alternatively so) and characterized by deformation. What is meant by this? Topography and topology are both distortions – topography predominantly in order to produce the illusion of a flat surface, and topology because the logic of unwaveable straight-line distances between things (and their distinction from each other governed by this) simply doesn’t apply. The obvious examples of topological maps are cartographic representations of transport systems on which precisely measured distance is of no importance, either because other things get in the way (rivers without bridges, hills without tunnels, dead-ends, roads with pot-holes, crowds, no-go areas… and so on) meaning that straightline time-distance is irrelevant, or because exact distances would get in the way of clarity and readability. Harry Beck’s 1930’s London Underground map which
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sacrifices precise distances between stations for greater clarity is a frequently cited example of a topological map. If in one way we might think of place locality, or topos, in mapping as a spatial representation of neighbourhoods, either local or global, then for the local to exist in topographical mapping things must be next to each other, a kind of clustering, while in topological mapping the distance between things is of no importance. This means that places or elements can be far away from each other and still be considered part of a neighbourhood. Likewise shape is downplayed in topological mapping. Hence precise angles, sizes and lines are deformed without losing the general import of a representation. In the context of cartography, or for that matter literature or art, it might still work as a map, a book, or an installation, but only just. It would not be a straightforward image: if one represents a half solar eclipse on a topographical representation the moon is seen to be eating up the sun whereas on a topological one they are becoming one, but the two entities, sun and moon, remain logically distinct. At the heart of topology is a paradoxical way of thinking, a ‘fuzzy logic’ or an ‘obscure clarity’ which unfolds a reality more effectively than one delivered to us in apparent order. Some other features of this strange creature: Leonard Euler, one of the fathers of the weird science of topology, characterized it as ‘rubber sheet geometry’. Because distance and length is downplayed, more emphasis is placed upon connectivity. If we were to close our scientific eyes and forget our hands and feet (those tools of measuring and surveying) it might be better to think of topology more in terms of intensive gradients and energies than as metric, ruled, graphic representation of a territory upon which one could imagine walking or counting out distance. Topology has attracted some for its incredible physical energy and dynamism. That terrifying phenomenon the black hole is a topology, and the whirlwind that E´douard Glissant mentions in his pan-global novel Tout-monde1 might also be one. Indeed that novel might be analyzed in terms of its topological connectivity. Writing and literature have been traced by some back to the urge to move, to travel and to survey – a sort of mapping – and topology might work relatively well with this kind of thinking-through of similarity, alterity and difference, but what I am particularly concerned with is how it works specifically in mapping, and how we move beyond the simplicity of the most obvious topological maps such as the one of the London Underground.
1 Glissant 1995.
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As mapping has been refined over thousands of years to become the super useful, efficient and generally liked representation of space that it is today, why on earth would anybody be interested in this twisted, deformed monster that is topological mapping? And what, if anything, can it add to our negotiation with, and understanding of, globalization? Let’s just step back a bit and consider some of mapping’s detours, regardless of topology, in recent decades. Actually, mapping has been twisting and deforming since its inception. This is part of the problem with cartography : in our post-colonial, post-structural, text savvy times it seems like quite a deceit, most obviously in the way that it is implicated in colonization and other power-knowledge constructions. Nevertheless, moving beyond this invitation for negative critique, it seems that mapping can be experienced as an affirmative, creative and progressive practice: something with affinities to certain types of art practice. There have been several departures in mapping in recent times, not just topological thinking, that seem to me to be taking this positive course. Examples of this are maps that are embodied, populated and admit and in some ways represent movement, and movement that isn’t simply a dotted line across the surface of the map. They might in this complexity and dynamism be considered, following the reasoning of for instance cultural theorist James Corner, as a constellation of processes.2 Another path has been to all but do away with the map in favour of mapping, the verbal mode. The mantra for this shift to practices and processes is perhaps Michel de Certeau’s much quoted statement that “what the map cuts up, the story cuts across”.3 In other words the topographical map carves up space into measurable units while the story anarchically carves its own furrow through movement and journeying. Anthropologist Tim Ingold privileges movement in his theory of ‘wayfinding’ in which mapping (the process that is), of which wayfinding is a part, is a passage through ‘vistas’; an unfolding, disclosing of fields and bounded terrains (valleys, streets etc.) of sight and sensual experience which have been travelled before.4 Each moment in a journey is open to a potential story that helps in the wayfinding. It is a process distinct from navigating (the line across the map) and he denigrates the point at which this skilful process is arrested in the making of an actual map. He further damns this moment as the theatrical closure of the radical openness of wayfinding – when the stories cease to be told. Others, critical-cartographic theorist John Pickles for instance, do not 2 See Corner 1999. 3 De Certeau 1984, p. 129. 4 Ingold 2000, pp. 219 – 242.
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emasculate the map but rather see its empowerment as an object in itself; as an object in the world that does work in the world.5 This, I think, is the cross-roads that topological mapping works best around: as both an inscription and a process (doing and travelling). But before I get into that, I want to track back to two moments in twentieth century art that seem to have an affinity with these desires that mapping do work in the world and that they articulate not just movement, but the energy and dynamism that goes with it. There can be no more energetic and explosive art movement than Futurism, an art for its time. This was an incredibly productive and experimental time for art practice with Cubism, Vorticism, Orphism, Simultaneism and Expressionism all in the mix and Constructivism on the horizon, but also a time when the world was about to be plunged into machine heavy world war. In 1913, when world war was about to happen and Russia and Japan were already at war, poet Blaise Cendrars and painter Sonia Delaunay produced La Prose du Transsibe´rien et de la Petite Jehanne de France. This was a picture-poem that takes place simultaneously in both Paris and on the Trans-Siberian railway, on a train speeding towards the above mentioned Japan-Russia conflict. There is a simple topographical map in the top right hand corner but the entire poem might be seen as a mapping. Not quite a topological map because the logic that being in two places at once is a contradiction doesn’t apply in topology, but it is still a kind of affront to topography, and has the energy that most overly precise mapping in some way lacks. During the 1960’s artist Robert Smithson carried out a number of experiments with mapping through folding and cutting up the map and recombining it in various sculptural forms. One of these took a view from the South Pole sliced along the lines of latitude to look like the peel of an orange cut without interruption and seen from above. This was one work. He then combined this geometry with the projected lines of a perspectival view towards a vanishing point so that where the circular orange peel intersected the triangle a third shape, at first a sketch but still a graphic plastic art form, was produced, that in turn became a sculpture. Its combination of two differing geometries is a bit like axonometry in architectural drawing. Again this isn’t quite topology because much of the tension in this work comes from the contradiction between these geometries. But if it isn’t topological, nor is this contradiction an illogical chance encounter, unlike the incommensurability of surrealist juxtapositioning of objects, because it does stick with a certain kind of cartographic logic. Perhaps this is a key point in my pursuit of topology : topological mapping also still works as 5 See Pickles 2004, pp. 60 – 71.
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mapping. In a Futurist context La Prose is still beholden to structure whereas other Futurist experiments, the free-word paintings of Carlo Carra for instance, subvert it. Not all mapping-art experiments really work effectively as maps anymore. Cartography has gone off in all sorts of directions and another line of enquiry might follow the path of imagining just how far, beyond even James Corner’s cartographic constellations, mapping can go in combination with non-cartographic elements – photographs, objects, drawings etc. before it no longer works as mapping or is recognizable as such. Perhaps there is another path. One of the reasons that I bring in these two examples is that they seem to me to express quite nicely the tendency of mapping to cross-fertilize with art and they perhaps hint at a bifurcation, one of whose paths leads to inter-media installation – a loose kind of mapping, almost transforming out of cartography – and another path that deforms the science of cartography while remaining in some way faithful to it. Another key point here is that new cartographies can be creative and imaginative while remaining structurally map-like. Artistic experiments in mapping sometimes lose sight of this and needlessly throw away this creative impulse within the logic of cartography and its processes. In pursuing topological mapping I want to explore an implicit creativity within mapping. Nevertheless, although I am stretching the logic of cartography I am trying to remain faithful to it. So, why lead this into counter-cartography? If mapping has served the colonial project so well in the past, counter-cartography is super-effective, and attuned, to our current, precarious inhabitations of the world. Counter-cartography, to my mind, works best when it combines movements of people – experiential practices – with the indistinct borders and edges of our re-drawn, trans-national, globalized world. In this modality it is both acting creatively and getting into the rhythm of issues of migration, control, passage and contingent settlement. If one of the paths of mapping that I mentioned – that of embodied travel through multi-media storms emphasizing the mapping experience of migration rather than producing a map of it – works effectively with globalization discourses, the other, in which we stick more closely to recognizable cartography, can also work effectively as counter-cartography within globalization. Topology can be a counter-cartography not because it simply exposes something (which is like lifting up a rock and everything scurries away and we are left with nothing except a reaction), but because it makes it strange, a kind of deformation. This new mapping can be particularly attuned to border and migration discourse. Mapping is not only an obvious choice for activism, but it offers something new. And topology offers something new again.
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The Migmap is a counter-cartography by the Labor k3000 (Transit Migration project).
Figure 1: Labor k3000 in cooperation with Transit Migration: Migmap – Governing Migration, Mapping European Politics on Migration [2005] (www.transmigration.org/migmap)
It is a non-geometric deformation characterized by intensive gradients and energies – looking a bit like a weather map. Although precise angles, sizes and shapes are deformed it still has the general import of cartographic representation – it speaks to us in a different language but still represents – just about – a recognizable zone. It is Southern Europe, North Africa and the Mediterranean where there are overlapping agencies, contestations and trajectories of movement – both ways, formal and informal – that simply wouldn’t work on a conventional map. A dotted line across a classroom map of Europe in no way conveys the non-linear, hybrid experiences, the simultaneous here-and-thereness, of migration. This map has that fuzzy logic and obscure clarity that is typical of topology and one feels that its intensities could shift and pulse. It is more the morphology of Stanislaw Lem’s Solaris than the visualization strategy of google earth. Its discursive lines and strategic places are embedded, latent, waiting to happen rather than described. Although it is a slice, a representation, it seems poised; a work in progress.
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The shift from map to mapping process is, then, a cue for the effective entry of topological mapping to this exciting new field of dynamic cartography. In fact, process is perhaps the key point in the relation between topology and topography, indeed between the world thought of, on the one hand as a smooth space, and on the other as an articulated space with a diversity of shapes, forms, architectures, and people that can be measured apart and mapped topographically at local, regional and global scales. Topology can be seen as a smooth primal space in which everything is symmetrical in the sense of nothing predominating, either in terms of properties, values or forms, and which then progressively becomes differentiated and shaped. Manuel De Landa, in his book Intensive Science and Virtual Philosophy, calls this process of differentiation from undefined intensities towards variable and defined shapes a “cascade of broken symmetries”.6 One of the key points here is that topology is not opposed to topography. Just as some commentators have suggested that different ways of thinking and producing space only work when thought of in conjunction with all the other ways of thinking space (for instance geographers Edward Soja’s7 and David Harvey’s commentary on Henri Lefevbre’s categories of perceived space, representations of space and spatial representations),8 so topological mapping is best thought of in conjunction with topographical mapping, the one leading towards the other. The sublimated visual language of topological mapping is a detour from this cascade towards individuated form and allows for an alternative graphism, a vision that is not a final representation and which avoids the apparent clarity of those more measured representations, topographical maps. This poetic indeterminacy has long been an insight of art practice and Delaunay and Cendrars understood this with La Prose du Transsibe´rien. If topological mapping works perhaps better in process than in its calcification into a map or trace, as Gilles Deleuze would have it in his text On the Line, then there is a state between process and product in topological mapping that also has certain advantages.9 This is its precarious characteristic of its edges being fuzzy, but more importantly always being on the edge, on the threshold of something else. This is so different from the slice of ‘truth’ of a metric map which, in stating that “this is the way the territory is”, has no possibility of representing our complex, changeable existence. Topographical mapping functions in terms of straightforward, measured and orderly data transfer – what we read from a representation – topological mapping on the other hand is always 6 7 8 9
De Landa 2002, pp. 17 – 27 See Soja 1996, p. 45. See Harvey 2006, pp. 119 – 148. See Deleuze 1983, p. 25 – 33.
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poised on the edge of collapse. But as has been pointed out, this can be the most informative moment, when most can be read from it, or, in artistic terms, when the vision is most profound. It is a moment of both temporal and spatial potentiality. However, beyond these formal advantages, why is topological mapping important? Why should we give it our time when embodied mapping, the articulation of movement in mapping, the complex articulation of situated knowledges, and the combinatory potential of mapping with other media and their performance as ‘social and discursive spaces of negotiation’ would seem to point us in another direction? There are several distinct advantages of topological mapping that work very well with the continuing conceptualization of some aspects of post-colonial and poststructural discourse. First post-colonial: In considering topological mapping as a process, or becoming, we might begin to see advantages in trajectories that, in Deleuzian terms, shift between the smooth and the striated, the intensive and the extensive. For instance in this process-orientated mapping we are no longer seduced by the product – the beautiful map which deliberately obscures process in order to relate a given socalled truth (or at least we recognize it for what it is). Rather, as Henri Lefebvre puts it, the ‘truth of space’ – production orientated – is much more important than so-called ‘true space’ which is a product in just the same way that a map is a product. This gives us a different way to approach the power-knowledge configuration that has made maps key epistemological pieces in the colonial jigsaw. Now, instead of having to critique colonial, and for that matter post-colonial maps from the outside we can imagine them from within, and thereby inhabit in a mapping modality the processes that led to their emergence. The extensive, striated map is simply an instant in the intensive, smooth topological complexity in post-colonialism that elides here and there, then and now. Instead of postcolonial identities being mapped out using the hand-book of post-colonial theory there is the potential for the emergence of both singular identities and histories in the process of a mapping, and also for the emergence of singular mappings. Another side to this fluxing identity formation derives from the absence of essence in topology (topological forms can become anything, any shape), which means that identity politics are no longer bound by lineage and reactive mappings-out. We are all more complex than our given identities and why shouldn’t mapping work for us in this complexity and changeability, rather than sim-
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plifying our identities and our territories. They do not for instance, as is the case with the Migmap, have to simply reproduce territorial borders. Second, a possible role for topological mapping within post-structuralism: One of the things about maps is that, if map-makers were honest, they compete with each other. Each is a view of the world, a powerful extension over it – be it local, regional or global – casting a particular net to secure particular interests or freedoms. This was the broad theme of an exhibition and conference called Whose Map is it? organized by the Institute of International Visual Arts (INIVA) in London in 2010. Now, one of the characteristics of topology is that different entities (the sun and the moon in an eclipse for instance) do not dominate each other. Furthermore, there is an impulse in topological mapping to communicate with other mappings, or at least to negotiate with them. While other maps (authoritative even if they hide their authorship) eat each other up like pac-men, topological maps dissipate authorship. They have a weak ontology but paradoxically perform more strongly for this. Again, to refer to Deleuze, they might perform as ‘minor literatures’: these mappings would be most useful in guerrilla tactics rather than as the epistemic weapons of grand armies.10 Some of this might be making too grandiose a claim for topological mapping. Nevertheless, on a roll, I’ll make an even larger claim. This is the potential for maps to be not just evidence and episteme in the construction of our grand theories of location, but mapping as a modality of thinking in itself. One of the insights of Deleuze’s ‘time-image’ concept from the second of his Cinema books is that we shouldn’t be looking for a philosophy of cinema, but that, more radically, this non-narrative cinema typified by a lot of mid-twentieth century film actually is thinking, it is philosophy,11 in the same way the ‘an-exact but rigorous’ practice of topological mapping could be a form of thinking in itself. If La Prose du Transsibe´rien was like the cresting plume of an enormous wave of energy in the first two decades of the twentieth century, topological mapping with its steep gradients, poised thresholds and intensive and constant differentiation can be at the forefront of dynamic and creative conceptual and experiential practices at the beginning of this century.
10 See Deleuze 1986, pp. 16 – 27. 11 See Deleuze 1989, pp. 156 – 224.
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Art works and maps referred to Harry Beck: London Underground [1931 onwards], pub. Transport for London. Sonia Delaunay and Blaise Cendrars: La Prose du Transsibe´rien et de la Petite Jehanne de France [1913], pub. e´ditions Les Hommes Nouveaux, Paris. Robert Smithson: Untitled (Antarctica) [no date given], Smithson Estate. –: Drawing for Leaning Strata [1968], Smithson Estate.
Works Cited Certeau, Michel de: The Practice of Everyday Life. Transl. by Steven Rendall. Berkeley 1988 [1980]. Corner, James: “The Agency of Mapping: Speculation, Critique and Invention”, in: Cosgrove, Denis (ed.): Mappings. London 1999, pp. 213 – 252. De Landa, Manuel: Intensive Science and Virtual Philosophy. London 2002. Deleuze, Gilles / Guattari, Fe´lix: Kafka: Toward a Minor Literature. Transl. by Dana Polan. Minnesota 1986 [1975]. – / –: On the Line. Transl. by John Johnston. Boston 1983. Deleuze, Gilles: Cinema 2: The time-image. Transl. by Hugh Tomlinson and Robert Galeta. London 1989 [1985]. Glissant, E´douard: Tout-monde. Paris 1995. Harvey, David: Spaces of Global Capitalism. Towards a Theory of Uneven Geographical Development. London 2006. Ingold, Tim: Perception of the Environment. Essays on Livelihood, Dwelling and Skill. London 2000. Pickles, John: A History of Spaces. Cartographic Reason, Mapping and the Geo-Coded World. London 2004. Soja, Edward: Thirdspace: Journeys to Los Angeles and other Real-and-imagined Places. Oxford / Cambridge, MA 1996.
Illustrations Labor k3000 in cooperation with Transit Migration: Migmap – Governing Migration, Mapping European Politics on Migration [2005] (www.transmigration.org/migmap)
Teil IX: Weltwissen, Weltdiskurse, globale Zirkulation
Ulrike Kruse
Das Haus als Welt. Die geordnete Welt in der ¨ konomikliteratur fru¨hneuzeitlichen O
Sowohl der Weltdarstellung als auch der Welterkla¨rung verschrieben ist die ¨ konomikliteratur. Sie bildet vom spa¨ten 16. bis zum spa¨ten Hausva¨ter- bzw. O 18. Jahrhundert eine besondere Form der Sachliteratur : Einerseits will sie ein interessiertes Laienpublikum in Landwirtschaft und Haushaltung unterrichten. Andererseits zielt sie auf religio¨se und moralische Belehrung. Dafu¨r setzt sie auf scho¨ngeistige Beispielargumentationen und auf die Ru¨ckkoppelung von naturkundlichem und o¨konomischem Weltwissen und Regelwissen an religio¨ses und moralisches Orientierungswissen.
Der Name ¨ konomikliteratur. Der Zwei Namen hat diese Literatur : Hausva¨terliteratur und O erste Name leitet sich vom ha¨ufig im Titel verwendeten und als Leser angesprochenen Hausvater ab. Der ‚Hausvater‘ ist das Oberhaupt eines Hauses, eines Gutes, einer Familie; er ist darin den Vorstellungen des Fu¨rsten als Landesvater oder auch Gottes als Gottvater vergleichbar : „So wie Gott-Vater durch die Austeilung des Heils fu¨r die Kinder der Welt sorgt, so soll auch der Vater des irdischen Hauses durch die Austeilung der Nahrung fu¨r alle ihm untergebenen Hausgenossen sorgen.“1 Das Wort ‚Hausvater‘ kann neutestamentlich auf griechisch oikodespotes (Mattha¨us 10,25), lateinisch pater familias, zuru¨ckgefu¨hrt werden und ist mit dem aristotelischen oikonomikos lat. oeconomus, das ‚Hauswirt‘, ‚Verwalter‘ bedeutet, verbunden.2 ¨ konomik‘ leitet sich in seinem ersten Wortteil aus dem Der zweite Name ‚O griechischen Oikos her, also dem Wort ‚Haus‘, das mit dem griechischen oikeo, ‚wohnen‘, ‚verwalten‘, ‚einrichten‘ verwandt ist. Davon abgeleitet ist oikoumene, ‚das Bewohnte‘, das den gesamten bekannten und bewohnten Erdkreis be1 Fru¨hsorge 1988, S. 103. 2 Fuhrig-Grubert / Ulbrich 2007, S. 252.
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zeichnet. Der zweite Wortteil ist nomos, ‚Gesetz‘, ‚Regel‘, urspru¨nglich ‚Wohnsta¨tte‘, ‚Weideplatz‘, ‚Bezirk‘. Verbindet man beide Wortteile zu oikonomia, bedeutet es ‚Hauswirtschaft‘, ‚Hausverwaltung‘, aber auch ‚Staatshaushaltung‘. Im Kleinen verbinden beide Namen ra¨umliche Elemente, wie Haus und Wohnung, mit o¨konomischen Elementen, wie Besitz und Haushalt, Verwaltung und Wirtschaft. Sie verbinden daru¨ber hinaus soziale Elemente, also Familie, Gefolgschaft und Verwandtschaft, mit politischen Elementen, na¨mlich Regeln bezogen auf Herrschaftsverha¨ltnisse.3 Beide Namen verknu¨pfen diese Elemente zu einer wohleingerichteten Wohnsta¨tte – dem ‚Ganzen Haus‘.4 Im Großen weisen beide Bezeichnungen vom wohleingerichteten Staat bis zum wohleingerichteten Erdkreis. Das Regelhafte im Namen dieser Literatur passt zu ihrer Funktion, weil sie „dem Leser normativ, pragmatisch und handlungsanleitend einen Orientie¨ korungsrahmen in Bezug auf seine eigene adlige Lebenswelt bieten will“.5 ‚O nomik‘ ist also normative Literatur u¨ber das ‚Ganze Haus‘ und bescha¨ftigt sich mit dem Haus, dem oikos, als kleinster Einheit der sozialen Umwelt wie der naturalen Welt, ausgeweitet zur oikoumene. Sie hat in ihrer Inhaltsfu¨lle den Anspruch, die soziale und naturale Welt einerseits abzubilden und andererseits Regeln zu liefern, wie sich der Einzelne in dieser Welt verhalten kann oder soll. ¨ konomik‘ bezeichnet Ra¨ume genauso wie Regeln; und die Textsorte Das Wort ‚O ¨ konomik‘ vermittelt praktisches Regelwissen u¨ber die Welt und die ethische ‚O Orientierung in der Welt.
Die Textsorte ¨ konomikliteratur geht es um Ackerbau, Vorratshaltung und Scha¨dIn der O lingsbeka¨mpfung, Viehhaltung, Fischzucht und Bienenhaltung, Holznutzung ¨ konomie / und Jagd, Gartenbau, Kra¨uter- und Arzneikunde. Dazu kommen O Haushaltung mit Personalfragen und technischen Anforderungen sowie diverse hauswirtschaftliche Belange und moralisches Verhalten gegen die Familie und die Hausangestellten.6 ¨ konomiken kompilierte Fachprosatexte mit enzyklopa¨diStrukturell sind O schen Eintra¨gen, scho¨ngeistiger Beispielargumentation, Rezepten, Spru¨chen, Versen, Zitaten, aber auch mit Ratschla¨gen, gelehrten Abschweifungen und Illustrationen. Der Paratext der Bu¨cher ist sehr umfangreich, unabha¨ngig vom 3 4 5 6
Derks 1996, S. 226 f. Vgl. Brunner 1966, S. 23 – 56; Troßbach 1993, S. 277 – 314. Schmidt-Voges 2008, S. 405. Vgl. Brunner 1956, S. 92 – 93. Sehr umfangreich definiert die Textsorte Niemeck 1992, bes. S. 56 f.
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Umfang des eigentlichen Textes umfasst er Illustrationen, thematische und rhematische Titel, Widmung, Vorrede, Inhaltsverzeichnis, Kolumnentitel, Marginalien, Kapitelu¨berschriften und Register. Die Texte fußen auf antiker und mittelalterlicher Vorla¨uferliteratur,7 die den topischen Inhalt und die Struktur der Behandlung dieser Topoi vorgibt, sodass ¨ konomiken Orientierung in der Welt – im Raum – liefern. ‚Topos‘ bedeutet die O ‚Ort‘ oder ‚Gemeinplatz‘ – im ra¨umlichen wie im u¨bertragenen Sinne. Daru¨ber hinaus bedeutet er u. a. ‚stereotype Redewendung‘, ‚vorgepra¨gtes Bild‘, ‚Beispiel‘ und ‚Motiv‘. Mittels Topoi wird in der Rhetorik u¨ber Sachverhalte argumentiert, d. h., es werden Dinge oder Ansichten an typischen Gegensta¨nden erkla¨rt. An den Topos, den bestimmten – typischen – Ort, wird ein bestimmtes Wissen geknu¨pft, das oft eine Kombination aus naturkundlichem Weltwissen, o¨konomischem Regelwissen und moralischem Orientierungswissen ist.8 Topoi „verwalten [diese] Wissensfu¨lle, um sie argumentativ anwendbar zu machen,“9 indem das „u¨berlieferte Wissen […] als einheitlicher, topisch geordneter Zusammenhang repra¨sentiert“ wird.10 Mit diesem Wissen findet sich der Leser in der Welt zurecht. Wa¨hrend die Topoi und das an sie gebundene Wissen tradiert werden, werden gleichzeitig mittels der je gegenwa¨rtigen Fachliteratur die Inhalte aktualisiert, ohne dabei die Topoi zu stark zu erneuern oder auszuweiten.11 Zur Aktualisie¨ konomikliteratur zeitgleicher rung von Welt- und Regelwissen bedient sich die O naturkundlicher Fachliteratur genauso wie sachliterarischer Ratgeber und ¨ konomiken. Ein steter Quell an Orientierungswissen ist die Bibel, die als O Grundlage religio¨se Erkla¨rungen u¨ber Pha¨nomene der naturalen Umwelt (manifestiert im Weltwissen) und Regeln der Haushaltung und der Landwirtschaft ¨ konomiken wird also anhand von Topoi einerseits (Regelwissen) liefert. In den O kanonisches Wissen tradiert, andererseits gehen neue Erkenntnisse u¨ber diese Topoi in den Wissensbestand ein.
Die Quelle ¨ konomik ihre Inhalte und Werte vermittelt und wie Wissen u¨ber die Wie die O Welt anhand des Hauses erzeugt wird, wird hier an Wolf Helmhardt Freiherr von Hohbergs Das Adeliche Land- und Feld-Leben in der Ausgabe von 1695 beleuchtet. Hohberg (1612 – 1688) war ein aus Schlesien stammender, o¨sterrei7 8 9 10 11
Vgl. Mazal 2003; Haage / Wegner 2007, vor allem S. 18 f. Porombka 2005, S. 11. Schmidt-Biggemann / Hallacker 2007, S. 17. Schneider / Zedelmaier 2004, S. 355. Schmidt-Biggemann 2008, S. 13 – 29.
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chischer, protestantischer Adliger. Er emigrierte 1664 religio¨s motiviert nach Regensburg und vero¨ffentlichte 1682 die Georgica curiosa oder Adeliches Landund Feld-Leben. Dieses Werk richtet sich als zweiba¨ndiges Folio reich ausgestattet an den begu¨terten adligen Grundbesitzer. Hohberg behandelt die Topoi enzyklopa¨disch, um die Welt darzustellen und sie dabei zu erkla¨ren.
Weltdarstellung und Welterkla¨rung Anhand der Georgica curiosa zeigt sich der kanonisch festgelegte inhaltliche ¨ konomiken: Der erste Band handelt vom Landgut allgemein, von Aufbau von O ¨ konomie und dem Umgang den Aufgaben des Hausvaters als oikonomikos, wie O mit Hausangeho¨rigen sowie von den Aufgaben der Hausmutter, wie Hauswirtschaft, Vorratshaltung und Gesindefu¨hrung. Vom Haus geht es zum Garten. Im zweiten Band geht es um Ackerbau, Viehhaltung, Bienen und Seidenraupen, Fischwirtschaft, Wasserbaukunst und Wassertiere sowie Forst und Jagd als stets in Hausva¨terliteratur auftauchenden Topoi. Am Ende sind zwei „Kunstbu¨chlein“ zur Unterhaltung fu¨r den Hausvater und die Hausmutter angefu¨gt. Die Bu¨cher sind so angeordnet, schreibt Hohberg, „daß allzeit das Hauptwerk / das ist / was nu¨tzlich und notwendig ist / vorgehet / und das angenehme und lustige hernach folget“.12 So findet der Leser im vorderen Teil des Buches schnell wichtige Handlungsanweisungen – Regeln, nomoi, die Hausverwaltung, oikonomia, betreffend. Im hinteren Teil dagegen kann er nach des Tages Mu¨h’ und Plag’ zur Entspannung lesen. ¨ ber diese auf Nu¨tzlichkeitskriterien beruhende Anordnung hinaus zeichnet U den inhaltlichen Aufbau in verschiedene Topoi eine an diese Topoi gebundene klare ra¨umliche Struktur aus: Es geht vom Haus u¨ber den Gesinde- und Gera¨¨ ckern, den Vorwerken mit den Tieren und tehof zum Garten, von dort zu den A den Fischteichen bis zum weiten Meer und zum wilden Wald. Diese ra¨umliche Struktur korreliert mit dem in der Fru¨hen Neuzeit gebra¨uchlichen Konzept von Natu¨rlichkeit und Ku¨nstlichkeit: Die Natur ist von Gott geschaffen. Alles in ihr entsteht und vergeht ohne Zutun des Menschen. Ku¨nstlich ist dagegen alles, was der Mensch vera¨ndert hat. Je sta¨rker der menschliche Einfluss ist, desto weniger natu¨rlich sind die Dinge, die urspru¨nglich aus der Natur kommen. Das wirkt sich auf den Garten aus, der als Scharnier zwischen der ku¨nstlichen Spha¨re des Hauses und der Natur außerhalb fungiert. Der Garten und seine Produkte sind weder ganz ku¨nstlich noch ganz natu¨rlich. Er ist der am sta¨rksten beeinflusste 12 Von Hohberg 1695, unpaginiert. Nachweise von Zitaten aus dieser Ausgabe erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle GC und der Seitenzahl; Seitenza¨hlung von der Vf.in.
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Bereich des Landgutes außerhalb des Hauses und schirmt das Haus von der Natur ab. Gleichzeitig wa¨chst vieles in ihm von selbst, z. B. die Obstba¨ume, die ja¨hrlich Obst tragen, ohne dass der Mensch pflu¨gen und sa¨en mu¨sste, und die er doch ernten kann. Es geht also aus der kleinra¨umigen ku¨nstlichen Spha¨re des Hauses und Hofes – dem oikos – u¨ber den Garten als Scharnier hin zu den landwirtschaftlichen Fla¨chen und dem Nutzwald bis hin zur weiten, unbekannten, natu¨rlichen Wildnis und zum bekannten und bewohnten Erdkreis – der oikoumene.
Abb. 1: Schematische Darstellung der Korrelation von Raum und Inhalt in der Georgica curiosa.
Die einzelnen Topoi selbst weisen wieder von innen nach außen in die weite Welt hinaus. Besonders anschaulich ist das am Kapitel „Wasser-Lust“ u¨ber Fischwirtschaft, Wasserbaukunst und Wassertiere. Welches Wissen wird an den Topos ‚Wasser‘ gebunden? Es geht um Orientierungswissen, das den Leser an die Gnade und Fu¨rsorge Gottes gemahnt. Es wird o¨konomisches Welt- und Regelwissen vermittelt, wenn Wasser als Transportweg und Energietra¨ger vorgestellt wird. Naturkundliches Welt- und Regelwissen u¨ber Sa¨ftelehre und Elementelehre erfa¨hrt der Leser, wenn das Wasser als Lebensspender und Arznei beschrieben wird. Dieses Wissen wird nach einem immer gleichen Schema transportiert, na¨mlich vom Kleinen zum Großen, vom Ursprung der Dinge13 bis zum was-
13 Aus dem Wasser kommt alles, vgl. 2. Petrus 3,5: „die Erde, die aus Wasser und durch Wasser Bestand hatte“.
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serumflossenen Erdkreis. Das illustriert die Einteilung der „Wasser-Lust“ eindrucksvoll, z. B. mit Kapiteln daru¨ber, wie man Wasser findet, u¨ber den Ursprung der Brunnen, wundersame Brunnen, u¨ber Kana¨le, Stro¨me und Flu¨sse, ¨ berschwemmungen und Hochwasser) Stromfluten und Wassergu¨sse (das sind U oder auch Wald- und Mu¨hlba¨che sowie Seen. Die Beschreibungen gehen vom Ku¨nstlichen zum Natu¨rlichen und vom Geba¨ndigten zum Wilden, also vom kleinen Quell zum großen See und vom ku¨nstlichen Kanal zum unberechenbaren Hochwasser. Illustriert wird das im Folgenden an o¨konomisch nutzbaren Quellbrunnen und metaphorisch aufgeladenen Wunderbrunnen. Quellbrunnen unterscheidet Hohberg in diejenigen, die nur wenig Wasser fu¨hren und dadurch nicht wirtschaftlich nutzbar sind, und solche, die sehr viel Wasser fu¨hren. Sie bezeichnet er als die „Bronnen des lebendigen Wassers […] / die gleichsam eine Wiege sind / daraus alle grosse und kleine Flu¨sse / Ba¨che / Seen und Teiche ihren Ursprung haben“ (GC 531). Sie ko¨nnen nutzbar gemacht werden sowohl fu¨r die wirtschaftliche Wasserversorgung als auch fu¨r die sogenannte Wasserkunst, u¨ber die Hohberg im Teil u¨ber den Garten berichtet. ¨ ber Wunderbrunnen spricht Hohberg aus Gru¨nden der Unterhaltung und U Erbauung des Lesers: „Wiewohl dergleichen Discours einem Hausvatter nichts dienen / habe ich dennoch denen vernu¨nfftigen Ingeniis, die nicht allein auf das Utile, sondern auch auf Delectabile ihr Absehen haben / […] bedenken wollen.“ (GC 535) Es geht ihm um die „Wunder-Wirkungen der Natur […] / deren Ursachen zwar zum Theil aus der Natur zu ergru¨nden / wenigstens zu errahten / teils aber so abstrus, verborgen / auch menschlichen Verstand also u¨bersteigen / daß man die rechte Ursach nie eigentlich erfahren kann.“ (GC 535) Hohberg erza¨hlt Geschichten u¨ber unterschiedlichste Brunnen, Quellen und Gewa¨sser, z. B. von Flu¨ssen, die nach Erdbeben an einem Berg entspringen, u¨ber heilsame Quellen und den sogenannten „Lufftbronnen“ (GC 537). Dieser fu¨hrt den Leser weg von Wundergeschichten hin zu handfester Naturwissenschaft. Hohberg berichtet na¨mlich, wie man aus der warmen Sommerluft mittels eines ku¨hlen Erdlochs, in das die warme Luft stro¨mt, Wasser kondensiert. Es werden dem Leser auf diese Weise Grundlagen der Physik vermittelt. Er lernt, dass Luft Wasserdampf entha¨lt, der aufgefangen werden kann, wenn die Luft in einem Gefa¨ß unter den Taupunkt abgeku¨hlt wird, sodass sich das Wasser als Tropfen an der Gefa¨ßwand absetzt. Mittels verschiedener Brunnen erha¨lt der Leser also verschiedene Arten von Wissen: Er erha¨lt Regelwissen daru¨ber, welche Brunnen o¨konomisch nutzbar sind. Er erfa¨hrt Weltwissen, wenn ihm naturkundliche Erkla¨rungen zu Pha¨nomenen seiner naturalen Umwelt geliefert werden. Und er wird moralisch erbaut und religio¨s orientiert, wenn ihm die Wunder der Natur in Form der Quellen als „ein Gnadengeschenk Gottes / und eine freywillige Gabe der Natur“ (GC 530) vorgestellt werden.
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Abb. 2: Grafische Darstellung der Anlage eines Luftbrunnens (Hohberg 1695, II, 538): A, B = Mundloch; C = Kammer; D = Wasser ; E = durch eine Ro¨hre abgeleitetes Wasser.
Die „Wasserlust“ spricht neben den Brunnen auch von der Teichwirtschaft eines Landgutes und u¨ber gewerbsma¨ßige Fischerei in Seen und Flu¨ssen. Zu jedem ra¨umlichen Abschnitt gibt es genaue, auf Weltwissen beruhende und sich in Regelwissen manifestierende Handlungsanweisungen: Bei der Teichwirtschaft wird erkla¨rt, wie man Teiche anlegt und pflegt. Es wird ihr Nutzen als Wasserspender und als Fischzuchtanlage beschrieben. Bezu¨glich des gewerbsma¨ßigen Fischfangs erfa¨hrt der Leser, welche Gera¨tschaften er dafu¨r beno¨tigt, und es werden Fischfangtechniken mit Reusen, Angeln und Netzen erla¨utert. Das Kapitel „Wasser-Lust“ wird von einer umfangreichen Wassertier-Enzyklopa¨die abgeschlossen, die ebenfalls ra¨umlich orientiert ist. Es geht zuna¨chst um heimische Fische, wie Karpfen oder Schleie, dann um Fische in entfernteren Gegenden, wie die Mora¨ne in Brandenburg und Pommern. Am Ende geht es um Meeresbewohner, wie Sto¨re, Heringe und Wale. Dann wechselt der Gegenstand hin zu den im Wasser lebenden Amphibien, Reptilien und Weichtieren und den Wasservo¨geln. Die Vo¨gel werden nicht nur beschrieben, sondern es wird auch erkla¨rt, wie man sie am besten jagt. Bei den im Wasser lebenden Sa¨ugetieren wird die gleiche inhaltliche Anordnung verwendet. Es beginnt mit Beschreibungen vom einheimischen Biber ¨ ber den Biber heißt es: „Ist ein Thier / das zu Land und Wasser leben und Otter. U kann / […] ist kurtz und dick beysammen / die vorderen Fu¨ße gleichen einem Hund / die hintern einer Gans / und der Schweiff einem Fisch.“ (GC 640) Er fresse
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keinen Fisch, sondern Rinde und Bla¨tter von Ba¨umen, besonders von Espen, Weiden und Erlen, und fa¨lle dafu¨r die Ba¨ume, die er zum Burgenbau verwende: Sie sollen zu Nachts versammelt in die na¨chste Holzsta¨tte ziehen / und wann sie ettliche Ba¨ume haben gefa¨llet / legen sie die Alten / die stumpfe Za¨hne haben / und nicht hauen ko¨nnen / auf den Ru¨cken / laden ihnen die Ba¨ume auf / die umfangen sie mit ihren vordern Fu¨ssen / daß sie nicht abfallen / und werden also mit dieser Fuhr beladen von den andern nach Hause gezogen. (GC 641)
Das Aussehen des Otters wird ebenfalls genau beschrieben und dazu auf seine Scha¨dlichkeit als Fischra¨uber hingewiesen: „So bald der Tag anbricht / gibt er sich aus seiner Ho¨hlen / und schwimmt gegen dem Wasser einen weiten Weg / und wann er von den Fischen gesa¨ttigt / la¨sst er sich den Strom gemach wider zuru¨ck tragen.“ (GC 643) Von diesen beiden bekannten Tieren geht Hohberg weiter zu den entfernt lebenden pommerschen Seehunden. Sie sind von scharfen Za¨hnen / beissen wie ein Hund / haben weißlichte Haar / die vordern Fu¨sse wie ein anderer Hund / die hindern aber sind breit / wie an einer Gans / […] sind meistens im Wasser / ist aber scho¨n Wetter / so legen sie sich entweder auf große Stein im Wasser / oder an dem Strand an die Sonne. (GC 644)
Abb. 3: Seehund (Hohberg 1695, II, 644)
Noch ungewo¨hnlicher ist das Walross, das auf Spitzbergen leben soll und das um seines Elfenbeins willen gejagt werde. Sie seien so groß und gefa¨hrlich, dass sie sogar Menschen angreifen wu¨rden: „Einer greift eine gantze mit Menschen besetze Nachen oder Chalouppen an / und hauet grosse Stu¨cke von derselben / […] sie folgen ihrem Feinde nach / so lange sie ihn sehen ko¨nnen.“ (GC 645)
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Damit nicht genug geht es am Ende sogar zu den Nil-Krokodilen (die keine ¨ Saugetiere sind) und noch weiter nach Amerika zu den Kaimanen. Auch diese Tiere werden beschrieben, und interessante Details berichtet, z. B. u¨ber die Feindin des Krokodils, die Indianische Maus Ichneumon14 / die ihm aufpasset / und wann er im Schlaf den Mund ero¨ffnet / kriecht es ihm in den Leib / und zerbeisset ihm das Ingeweid / daß er dru¨ber sterben muß / da frisst es sich wieder heraus; darwider warnet ihn ein kleines Vo¨gelein / […] welches zwischen seinen Za¨hnen seine gewo¨hnliche Speise suchet / […] wann dies Vo¨gelein nun den Ichneumon in der Na¨he spu¨ret / wecket es mit seinem Picken und Geschrey den schlaffenden Crocodil wieder auf.“ (GC 646)
¨ ber die im Wasser lebenden Tiere wird einerseits naturkundlich berichtet, U andererseits werden kuriose Geschichten u¨ber sie erza¨hlt. Beides dient der Vermittlung von Weltwissen. Die kuriosen Geschichten sollen den Leser u¨ber die reine Wissensvermittlung hinaus auf die Unergru¨ndlichkeit der Scho¨pfung hinweisen und ihn so religio¨s erbauen. Diese Erza¨hlstrategie ist unabha¨ngig davon, ob es Tiere aus fernen La¨ndern sind, die auch der Autor nur vom Ho¨rensagen kennt, oder bekannte einheimische Tiere. Bei allen Berichten und Geschichten bezieht sich Hohberg auf andere Autoren, seien es Vorla¨ufer, seien es zeitgeno¨ssische Naturkundler. Er folgt damit der rhetorischen Regel des Verweises auf auctoritas. Hohberg will auf diese Weise seine Beschreibungen glaubhaft machen. Deshalb wird vom Bekannten zum Unbekannten und vom Nahen zum Fernen u¨bergegangen: Der Leser, der Biber und Otter mehr oder minder kennt, weiß, dass der Biber aussieht wie beschrieben und dass der Otter ein Fischra¨uber ist. Also kann er auch die Beschreibung der unbekannten Tiere glauben. Das eine macht das andere evident.
Das Ergebnis Schlussendlich ist deutlich geworden, dass sich der geographische Horizont vom Nahen zum Fernen weitet. Immer geht es vom eigenen Gut, das der Landwirt in seinen Grenzen kennt, u¨ber regionale und u¨berregionale Orte, die der gebildete Leser kennen kann, zu fernen Orten, die nie ein Mensch zuvor betreten hat. Der geistige Horizont weitet sich vom Bekannten zum Unbekannten, z. B. beim naturkundlichen Weltwissen von den einheimischen Bibern zu den Seehunden. Es geht vom Praktischen zum Wunderbaren, beispielsweise von o¨konomisch nu¨tzlichen Quellbrunnen (u¨ber die der Leser Weltwissen und Regelwissen er14 Es handelt sich um eine afrikanische Manguste, eine Schleichkatze, die u. a. Reptilien frisst – allerdings keine großen Krokodile, sondern kleine Schlangen und Eidechsen.
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ha¨lt) zu metaphorisch aufgeladenen Wunderbrunnen, anhand derer Orientierungswissen vermittelt wird. Das Kapitel u¨ber Wasserwirtschaft arbeitet also vom Kleinen zum Großen, vom Nahen zum Fernen, vom Bekannten zum Unbekannten und vom Faktischen zum Wunderbaren. Genauso sind auch die anderen Kapitel in sich aufgebaut und ebenso das ganze Buch. Die Kreise gehen u¨ber das Landgut weit hinaus zu fernen La¨ndern und Ozeanen. Der Leser tritt vor die Tu¨r seines Hauses und ihm ero¨ffnet sich an seiner Schwelle die ganze Welt geordnet in einem Buch – durch die Teile seines Landguts u¨ber bekannte Gegenden hin zu unbekannten Gestaden. So spiegelt das ‚Ganze Haus‘ als Teil der Welt die Welt wider. Die Topoi ¨ konomik dienen als pars pro toto zur Welterkla¨rung und bewirken beim in der O Leser Handlungssicherheit und Erkenntniszuwachs durch die Aktualisierung des Wissensdreiecks aus Weltwissen, Regelwissen und Orientierungswissen.
Literaturverzeichnis Brunner, Otto: „Hausva¨terliteratur“, in: Beckerath, Erwin von (Hg.): Handwo¨rterbuch der Sozialwissenschaften. Zugleich Neuauflage des Handwo¨rterbuchs der Staatswissenschaften. Bd. 5: Handelsrecht – Kirchliche Finanzen. Stuttgart / Tu¨bingen / Go¨ttingen 1956, S. 92 f. ¨ konomik‘“, in: Oeter, Ferdinand (Hg.): Ders.: „Das ‚Ganze Haus‘ und die alteuropa¨ische ‚O Familie und Gesellschaft. Tu¨bingen 1966, S. 23 – 56. ¨ ber die Faszination des ‚Ganzen Hauses‘“, in: Geschichte und GesellDerks, Hans: „U schaft. Zeitschrift fu¨r historische Sozialwissenschaft 1996/22, S. 221 – 242. ¨ hsorge, Gotthardt: „Die Krise des Herkommens. Zum Wertekanon des Adels im Fru ¨ konomieliteratur“, in: Schulze, Winfried (Hg.): Sta¨ndische Spiegel alteuropa¨ischer O Gesellschaft und soziale Mobilita¨t. Mu¨nchen 1988, S. 95 – 112. Fuhrig-Grubert, Ursula / Ulbrich, Claudia: „Hausvater“, in: Jaeger, Friedrich (Hg.): Enzyklopa¨die der Neuzeit. Bd. 5: Gymnasium – Japanhandel. Stuttgart / Weimar 2007, S. 252 – 254. Haage, Bernhard Dietrich / Wegner, Wolfgang: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Fru¨her Neuzeit. Berlin 2007. [Hohberg, Wolf Helmhardt von:] Georgica Curiosa || Aucta. || Oder : || Des auf alle in Teuschland u¨bliche Land- und Haus-Wirthschafften gerich-||teten / hin und wieder mit vielen untermengten raren Erfindungen und Experi-||menten versehen/ auch einer mercklichen Anzahl Kupffer weiter || vermehrt- und gezierten Adelichen Land- und || Feld-Lebens || Anderer Teil / || In dessen sechs Bu¨chern gehandelt und beschreiben wird || wie die Baugru¨nde und fruchtbaren Felder auf das nu¨tzlichste und er-|| sprießlichste anzurichten; wie sowohl die Gestu¨tterey / Abricht und Wartung || der Pferde / als auch in den Mayerho¨fen groß und klein Vieh zu er-||ziehen / zu warten und in Nutzung zu bringen. || Ferner : || Wie der Wiesewachs zu bestellen / die Bienen und Seidenwu¨rmer mit guten Genuß || zu halten; allerley scho¨ne Wasserlust von Bronn-
Das Haus als Welt
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werck / Cisternen / Wasserku¨nsten || und Canalen / auch von Flu¨ssen / Seen / Teichen / Ba¨chern und || Fischereyen zu genießen. || Endlich: || Wie das Gehu¨ltze mit mit trefflicher Nutzung anzurichten / zu pflantzen / zu handen / und zu ver-||mehren / auch aller Arten Weidwerck mit grosserm und kleinen Wildbret / || Wald- und Feldgeflu¨gel zu treiben. || Zum Beschluß sind auch Zwey Kunstbu¨chlein fu¨r den Hausvater und Hausmutter || beygefu¨gt / und allenthalben an vielen Orten vermehrt und verbessert || worden. Durch ein Mitglied der Hochlo¨bl. Fruchtbringenden Gesellschaft || ans Licht gegeben. || Nu¨rnberg / In Verlegung Martin Endters. || Im Jahr Christi / 1695. ¨ berlieferung der antiken Literatur im Buchdruck des 15. Jahrhunderts. Mazal, Otto: Die U Stuttgart 2003. Niemeck, Bettina: „Tradition und Aufkla¨rung. Die Kartoffel in der Hausva¨terliteratur und den fru¨hen o¨konomischen Schriften des 18. Jahrhunderts“, in: Ottenjann, Helmut / Ziessow, Karl-Heinz (Hg.): Die Kartoffel. Geschichte und Zukunft einer Kulturpflanze. Cloppenburg 1992, S. 55 – 64. Porombka, Stephan: „Regelwissen und Weltwissen fu¨r die Jetztzeit. Die Funktionsleistungen der Sachliteratur“, in: Arbeitsbla¨tter fu¨r die Sachbuchforschung 2005/2, verfu¨gbar unter : http://www2.hu-berlin.de/sachbuchforschung/MEDIA/abfdsbf/Arbeits blaetter_Sachbuchforschung_02.pdf [26. 05. 2010]. Schmidt-Biggemann, Wilhelm / Hallacker, Anja: „Topik: Tradition und Erneuerung“, in: Frank, Thomas / Kocher, Ursula / Tarnow, Ulrike (Hg.): Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensu¨berlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts. Go¨ttingen 2007, S. 15 – 27. ¨ berlegungen zum Schmidt-Biggemann, Wilhelm: „Was macht Wissen verla¨sslich? U Verha¨ltnis von Wissenschafts- und Wissensgeschichte“, in: Dickhut, Wolfgang / Manns, Stefan / Winkler, Norbert (Hg.): Muster im Wandel. Zur Dynamik topischer Wissensordnungen im Spa¨tmittelalter und Fru¨her Neuzeit. Go¨ttingen 2008, S. 13 – 29. Schmidt-Voges, Inken: „Oiko-nomia“, in: Du¨selder, Heike / Weckenbrock, Olga / Westphal, Siegrid (Hg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Fru¨hen Neuzeit. Ko¨ln / Weimar / Wien 2008, S. 402 – 427. Schneider, Ulrich Johannes / Zedelmaier, Helmut: „Wissensapparate. Die Enzyklopa¨distik der Fru¨hen Neuzeit“, in: Du¨lmen, Richard van / Rauschenbach, Sina (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Ko¨ln / Weimar / Wien 2004, S. 349 – 363. Troßbach, Werner : „Das ‚ganze Haus‘. Basiskategorie fu¨r das Versta¨ndnis der la¨ndlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Fru¨hen Neuzeit?“, in: Bla¨tter fu¨r deutsche Landesgeschichte 1993/129, S. 277 – 314.
Abbildungen Kruse, Ulrike: Schematische Darstellung der Korrelation von Raum und Inhalt in der Georgica curiosa. (Abb. 1) SLUB Dresden, Signatur: Oecon.A.19 – 2, verfu¨gbar unter : http://www.slub-dresden.de/sammlungen/digitale-sammlungen/werkansicht/cache. off ?id=5363&tx_dlf[id]=8113&tx_dlf[page]=556 [25. 08. 2011]. (Abb. 2)
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Ulrike Kruse
SLUB Dresden, Signatur: Oecon.A.19 – 2, verfu¨gbar unter : http://www.slub-dresden.de/sammlungen/digitale-sammlungen/werkansicht/cache. off ?id=5363&tx_dlf[id]=8113&tx_dlf[page]=662 [25. 08. 2011]. (Abb. 3)
Andreas Beck
Welthandelswege im Ma¨rchenwald – Johann Carl August Musa¨us’ Stumme Liebe
Das ‚Volksma¨rchen‘ stammt aus Weimar, doch es war nicht Goethe, der es aus der Taufe hob – nein: Johann Carl August Musa¨us, Pagenerzieher und Gymnasialprofessor daselbst, publizierte zur Aufbesserung seines mageren Sala¨rs zwischen 1782 und 1787 fu¨nf Teile Volksma¨hrchen der Deutschen,1 einen lukrativen und jahrzehntelang gattungspoetologisch pra¨genden Bestseller.2 Aber mit dem Erfolg der pseudonaiv-volkspoetischen ‚Gattung Grimm‘ gerieten die musa¨ischen Volksma¨hrchen ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ins Kreuzfeuer der Kritik – dem sie schließlich zum Opfer fielen. Die Ma¨rchenliteratur des 18. Jahrhunderts wurde insgesamt marginalisiert und ist heute fast unbekannt;3 das ist schade, denn im Gefolge franzo¨sischer Ma¨rchenproduktion nutzt die deutsche Spa¨taufkla¨rung dieses Genre als literarischen Ort, um in dichten Texturen Sprach- und Gesellschaftsreflexion zu verbinden: In Wielands Abentheuern des Don Sylvio von Rosalva (1764) etwa ero¨ffnet ein Feenma¨rchen a` la Cre´billon, die Geschichte des Prinzen Biribinker, die Mo¨glichkeit, einer a¨sthetischen Erziehung zu ansto¨ßigem Sexualverhalten als dunklem Grund sozialen Miteinanders das Wort zu reden. Und die musa¨ischen Volksma¨hrchen wiederum stellen mehrfach den Menschen als zoon politikon dadurch in Frage, dass sie die o¨konomischen Bedingtheiten seiner Existenz in den Blick nehmen und hieraus sprachliche, narrative sowie gattungsliterarische Konsequenzen ziehen. So mu¨ndet beispielsweise in der fu¨nften Legende von Ru¨bezahl die Geldverschlechterung wa¨hrend des Siebenja¨hrigen Kriegs in die narrative Ein1 Zu Musa¨us als „Erstverwender des folgenreichen Terminus ‚Volksma¨rchen‘“ vgl. Schnabel 2000, hier S. 149 u. 162. 2 Ein markantes Beispiel hierfu¨r bildet Der blonde Ekbert von Ludwig Tieck: Zentrale Motive der Erza¨hlung, etwa die beru¨hmte ‚Waldeinsamkeit‘, schreiben sich (auch) von Musa¨us’ Ulrich mit dem Bu¨hel im vierten Teil der Volksma¨hrchen (1786) her, und so ist es nur folgerichtig, dass dieses Werk unter architextueller musa¨ischer Flagge erstvero¨ffentlicht wurde – im ersten Band der Volksma¨hrchen herausgegeben von Peter Leberecht, Berlin 1798. Zum Einfluss von Ulrich mit dem Bu¨hel auf den Blonden Ekbert vgl. Castein 1987, S. 16 f.; Beck 2008, S. 279 f. 3 Vgl. aus germanistischer Sicht die Studie von Gra¨tz 1988.
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Andreas Beck
samkeit autobiographischer Falschmu¨nzerei;4 und die Stumme Liebe aus dem vierten Teil der Volksma¨hrchen – vielleicht die wirkungsvollste musa¨ische Erza¨hlung5 – fokussiert wirtschaftliche Globalisierungsprozesse der Fru¨hen Neuzeit in ihren gesellig-gesellschaftlichen Folgen, um zuletzt die Gattung des ‚Volksma¨rchens‘ als ambivalenten Ort (un-)mo¨glicher zwischenmenschlicher Gemeinschaft zu pra¨sentieren. Die Handlung der Stummen Liebe spielt in einer wirtschaftsgeschichtlichen Umbruchsituation: Um 15306 hinterla¨sst Kaufmann Melchior in der Hansestadt Bremen seinem Sohn Franz ein stattliches Vermo¨gen – das dieser durchbringt. Verarmt zieht er in ein „enge[s] Ga¨ßgen“, wo ihn das Ma¨dchen von gegenu¨ber bezaubert: die „scho¨ne[ ] Meta“ (SL 13), deren Schicksal dem seinen a¨hnelt. Auch sie lebte als Tochter eines Handelsmanns „ehedem im beha¨glichen Wohlstande“; seit aber ihr Vater bei einer Gescha¨ftsreise „nach Antwerpen“ (SL 13) ums Leben kam, befindet sie sich gleichfalls in preka¨rer finanzieller Lage. Versta¨ndlich, dass ihre Mutter sie reich verheiraten mo¨chte und daher verhin4 Im zweiten Teil der Volksma¨hrchen der Deutschen, Musa¨us 1783, S. 147 – 199; vgl. Beck 2009, S. 79 – 94. 5 Sie war es wohl, die die (groß-)sta¨dtische Liebe von Fenster zu Fenster in die deutsche Literatur einfu¨hrte, wodurch sie, vermittelt u¨ber Tieck, der das zukunftstra¨chtige Motiv im Liebeszauber (1812) aufgriff, zur Vor-Geschichte von E. T. A. Hoffmanns Sandmann (1816) und Arnims Majoratsherren (1819) wurde. Daneben bearbeitete August von Kotzebue die Erza¨hlung fu¨r die Bu¨hne (Der Rothmantel, 1817), und auch Goethes Wanderjahre (1821 / 1829) bieten mit der Neuen Melusine bzw. in den Eingangskapiteln des dritten Buchs eine Auseinandersetzung mit jenem Volksma¨hrchen, das u¨berdies in der Caravane , in Wilhelm Hauffs erstem Ma¨hrchen-Almanach (1825), seine Spuren hinterlassen hat sowie in einem Ma¨rchen, das ein Blinder aus Bu¨hl bei Tu¨bingen um 1850 erza¨hlte („Der Klosterbarbier“, in: Meier (Hg.) 1852, S. 160 – 162). 6 Vgl. etwa den „ehrwu¨rdige[n] Theuerdank“, der, zuerst 1517 gedruckt, „damals das neueste Produkt des vaterla¨ndischen Witzes“ darstellt (Musa¨us 1786, S. 12). – Nachweise von Zitaten aus der Stummen Liebe erfolgen fortan parenthetisch im fortlaufenden Text unter Angabe der Sigle SL und der Seitenzahl nach der Ausgabe Volksma¨hrchen der Deutschen. Vierter Theil. Gotha 1786. Diese Erstausgabe bietet den einzigen autorisierten Druck; im Rahmen der zweiten Volksma¨hrchen-Ausgabe (Gotha 1787 f.) hat der 1787 verstorbene Musa¨us meiner Einscha¨tzung nach nur den ersten und zweiten Teil noch fu¨r den Druck redigieren ko¨nnen. Eine wirklich zufriedenstellende moderne Edition der musa¨ischen Volksma¨hrchen existiert nicht; die Ausgaben des Winkler Verlags sowie deren Nachdrucke (zuerst Mu¨nchen 1961, zuletzt Du¨sseldorf 2003) folgen zwar in Wortlaut und Interpunktion recht genau der Erstausgabe, bieten allerdings – in bestenfalls passabler Qualita¨t – zusa¨tzlich die Illustrationen der Prachtausgabe, hg. v. Julius Klee, 1842 f. (im Fall der Stummen Liebe Holzstiche nach Zeichnungen von Ludwig Richter). Ein editionsphilologisches Verbrechen ist das natu¨rlich nicht, aber doch eine rezeptionsa¨sthetisch folgenschwere Entscheidung: Solche Wort-BildTextur na¨mlich zwingt den Leser, das aufgekla¨rte musa¨ische Ma¨rchenwort durch das Perspektiv spa¨tromantischer Bildlichkeit hindurch wahrzunehmen; eine mitunter recht konflikttra¨chtige Konstellation, die in einer modernen Ausgabe mindestens der Reflexion bedarf. Eine kritische, kommentierte Online-Edition der Stummen Liebe ist meinerseits in Vorbereitung.
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dert, dass Meta mit dem „verarmten Schlemmer“ (SL 22) Franz auch nur spricht: So „wars unmo¨glich, daß Nachbar Franz der geliebten Meta sein Herz entweder mu¨ndlich oder schriftlich entdecken konnte. Er erfand aber bald“ ein geeignetes „Sprachidiom“ (SL 23). Statt unumwundener Verbalisierung seiner Empfindungen u¨bertra¨gt er „seine Herzgefu¨hle in musikalische Akkorde“ (SL 24), die er durch Lautenspiel aus seinem Fenster, „u¨ber das enge Ga¨ßgen hinu¨ber“, zu Metas Fenster hinein „modulir[t]“ (SL 27). Die wiederum weiß, ob „ihre[s] hermenevtischen Scharfsinn[s]“ solche „harmonischen Apostrophen an ihr Herz“ richtig zu deuten – woraufhin sie beschließt, diese „durch eine symbolische Gegenrede zu erwiedern“ (SL 26), die indirekte Kommunikation fortzusetzen: Meta schafft Blumen am Fenster an, um sich dem „girrenden Nachbarn“ dort o¨fter zeigen zu ko¨nnen; und „mit unaussprechlichem Entzu¨cken erkla¨rt der glu¨ckliche Liebhaber diese Hieroglyphen ganz zu seinem Vortheil“ (SL 26 f.). Derart entspinnt sich die wortlos-beredte ‚stumme Liebe‘, der das ‚Volksma¨rchen‘ seinen Titel verdankt: eine umwegige Form der Mitteilung, die auf das explizite Wort mit seinem scheinbar sicher-direkten Zugriff auf das Bezeichnete verzichtet, um dem anderen das Eigene zu offenbaren. Und es glu¨ckt, das kommunikative Ra¨tselspiel: „Beyde Liebenden“, heißt es spa¨ter, „hatten zwar nie ein Wort mit einander gesprochen; aber er verstand sie, sie verstand ihn so vollkommen, daß sie unter vier Augen sich gegen einander nicht deutlicher wu¨rden haben erkla¨ren ko¨nnen“ (SL 39). Aber das ist brotlose Versta¨ndigungskunst, die – wenigstens vorerst – die Protagonisten dem finanziell gesicherten Hochzeits-Happy-End nicht na¨her bringt (vgl. SL 53 f.). Zwei Kaufmannskinder, die einander so lieb haben und nicht zueinanderkommen ko¨nnen, sitzen ca. 1530 verarmt in Bremen, wa¨hrend bei den Ursachen ihrer moneta¨ren Misere eine andere Stadt am Erza¨hlhorizont auftaucht, Antwerpen: das hat wirtschaftshistorische Methode.7 Die Entdeckungsreisen des spa¨ten 15. und fru¨hen 16. Jahrhunderts bewirken eine Gewichtsverschiebung im nun weltumspannenden Handel; u. a. die Niederlande avancieren zur europa¨isch-amerikanischen Wirtschaftsmacht, Antwerpen wird binnen kurzem das europa¨ische Handelszentrum – zu Lasten vor allem der Hansesta¨dte.8 Um 1530 ist in Bremen also inzwischen merkantil eher weniger, in Antwerpen dafu¨r 7 Wenn Musa¨us sich programmatisch erlaubt, seine Ma¨rchen „zu lokalisiren und sie in Zeiten und Oerter zu versetzen, die sich zu ihrem Inhalt zu passen schienen“ (Musa¨us 1787, fol. b7v– b8r), dann handelt es sich um eine ernst zu nehmende erza¨hlerische Operation; derartige raumzeitliche Fixierungen sollten nicht als „eher nebensa¨chlich“ (Schnabel 2000, S. 170) abgetan oder als Instrument einer „bieder und heimelig“ wirkenden „Detailmalerei“ verharmlost werden (Miller 1976, S. 901; vgl. bereits Richli 1957, S. 32 f.). 8 Vgl. Allgemeine deutsche Real-Encyklopa¨die fu¨r die gebildeten Sta¨nde. Conversations-Lexikon 1851 – 1855, Bd. 7, S. 421 (s. v. ‚Handel‘); Meyers Großes Konversations-Lexikon 1902 – 1908, Bd. 1, S. 600 (s. v. ‚Antwerpen‘), sowie Bd. 8, S. 720 (s. v. ‚Handel‘).
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mittlerweile umso mehr geboten – und folgerichtig bekommt der Held der Stummen Liebe Gelegenheit, als Kaufmannssohn dieser o¨konomiegeschichtlichen Entwicklungslinie zu folgen. Franz verla¨sst die heimatliche Hansestadt, er reist „nach Brabant […], um in Antwerpen einige betra¨chtliche Summen einzumahnen“ (SL 58). Unterwegs besteht er glu¨cklich „ein […] Abentheuer“ (SL 59), auf das ich gleich zuru¨ckkommen werde – doch in Antwerpen la¨uft alles schief (vgl. SL 75 – 82): Anstatt das heiratsnotwendige Geld einzutreiben, landet der Bremer Gla¨ubiger unverhofft im Antwerpener Schuldturm; zuletzt wird er zahlungsunfa¨hig des Landes verwiesen. Also keine erfolgreiche Heimkehr in die Vaterstadt, keine Familiengru¨ndung dort, die der sta¨dtischen Gesellschaft Zukunft ga¨be. Mit dem neuen, global dimensionierten Waren- und Geldverkehr scheint jener u¨berkommene, sicher umgrenzte soziale Lebensraum unvereinbar – und so la¨uft Franz Gefahr, jene wirtschaftshistorische Entwicklungslinie von Bremen u¨ber sein AntwerpenDesaster hinaus weiterverfolgen zu mu¨ssen: Verzweifelt beschließt er, „Matrosendienste auf einem spanischen Schiffe [zu] nehmen, nach der neuen Welt [zu] segeln, und nicht eher nach seinem Vaterlande zuru¨ck[zu]kehren, bis er, in dem goldreichen Peru, […] Reichthu¨mer […] erwerben wu¨rde“ (SL 83); er macht sich auf, eine Reise anzutreten, die Heimkehr nur als einen Wunschtraum kennt (vgl. SL 83 f.). So wird der Protagonist zum Bild des fru¨hneuzeitlichen Menschen, der mit dem Aufkommen globaler Wirtschaftsbeziehungen seinen angestammten, festen Lebensmittelpunkt zu verlieren droht: um, so die Metapher des Ma¨rchentexts, als Ware oder „Kapital […] in Umlauf […] gesezt“ (SL 17), sich auf weltumspannenden Handelsrouten als dezentrierter „peregrinirender Weltbu¨rger“9 herumzutreiben; als ein Kosmopolit, der in keiner polis, in keiner Stadt mehr als zoon politikon zu Hause ist.10 Mit diesem kla¨glichen Helden ist unser Volksma¨hrchen der Deutschen drauf und dran, ins Exil gezwungen zu werden. Aber da sei Gott vor bzw. der auktoriale Erza¨hler samt dem gattungskonstitutiven ‚Wunderbaren‘.11 Bevor Franz „einen Seehaven“ (SL 83) erreicht, erwartet ihn ein zweites Abenteuer : Er erlo¨st – auch hierzu gleich mehr – ein fluchbeladenes Gespenst, das dankbar ihm den Weg zu neuem Reichtum weist: zu einem Schatz, den der Vater einst in Bremen vergraben hatte. So kann Franz doch noch in seine Vaterstadt zuru¨ckkehren, dort zum zweiten Mal sein Erbe antreten und Meta heiraten: Er gru¨ndet eine Existenz, die in der neuen Zeit o¨konomischer Globalisierung den tradierten, umgrenzten Sozialhorizont be9 Musa¨us 1783, S. 182 (fu¨nfte Legende von Ru¨bezahl). 10 Dieses negative Versta¨ndnis von ‚Kosmopolit‘ ha¨ngt dem Begriff von alters her an; es geht auf die Figur des Diogenes von Sinope zuru¨ck, vgl. Niehues-Pro¨bsting 1988, S. 188 f. 11 „[E]in Ma¨hrchen, das ist, eine wunderbare Dichtung“; Musa¨us 1787, fol. a6v (Vorbericht); vgl. Richli 1957, S. 133; Schnabel 2000, S. 155 – 157 u. 161.
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wahrt. Nicht der Bremer u¨bernimmt als Exilant die ruhelose Bewegung weltweiter Geldzirkulation – die Dynamik internationaler Kapitalstro¨me wird vielmehr auf die Sicherung regionaler, deutscher Geborgenheit verpflichtet. In dem Schatz, der Franz die scho¨ne Meta zu heiraten erlaubt, vereinigen sich die Wa¨hrungen aller La¨nder, eine „große[ ] Anzahl […] Sorten“, von denen der Erza¨hler nicht umsonst nur eine nennt: „die unfo¨rmlichen spanischen Matten“ (SL 129), grob gepra¨gte Silberstu¨cke aus den su¨damerikanischen spanischen Kolonien.12 Nicht der Protagonist muss „nach der neuen Welt segeln“ (SL 83), sondern diese kommt als Fundament seiner alten, umhegten Heimat zu ihm. Aber wie ist diese glu¨ckliche Wendung mo¨glich? Durch ‚stumme Liebe‘, diese allgemein, u¨ber die erotische Beziehung zwischen Franz und Meta hinaus, verstanden als ein Mitteilungsverhalten, das der Macht des Geldes Rechnung tra¨gt – denn das gleichnamige Volksma¨hrchen nimmt sprachlich-kommunikative Folgen o¨konomischer Globalisierungsentwicklungen in den Blick, die das menschliche Dasein bestimmen. Und so verabschiedet zuna¨chst jenes Abenteuer, das Franz auf dem Weg nach Antwerpen begegnet, die Vorstellung problemloser zwischenmenschlicher Mitteilung auf der Basis eines verla¨sslichen Verha¨ltnisses von Zeichen und Bezeichnetem. „Tief in dem o¨den Westphalen“ (SL 59) na¨chtigt der Protagonist auf der „Burg des ehrenvesten Ritters Eberhard Bronkhorst“. Der „herbergt“ zwar, wird Franz vorher von einem Bauern gewarnt, „jeden […], […] [n]ur hat er einen Tollwurm im Kopf, […] daß er keinen Wandersmann ungerauft von sich la¨ßt“ (SL 61). Franz beschließt, fu¨r Kost und Logis „die Ribben einer Bastonade Preiß zu geben“ (SL 61), doch die Schla¨ge will er sich verdienen: Mit „eine[r] Art Dreustigkeit“ (SL 64) fordert er auf der Burg, was ihm beliebt, er la¨sst sich „bedienen wie ein Bassa“ (SL 65). Doch anstatt den frechen Gast zum Abschied zu pru¨geln, „schu¨ttelt[ ] […] ihm“ der Hausherr nur „traulich die Hand“ (SL 72). Verwundert fragt Franz, warum er ihn „in Frieden ziehen“ lasse (SL 73)? Weil er richtig kommuniziere: „Nun bin ich“, sagt Bronkhorst, „ein schlichter deutscher Mann, von alter Zucht und Sitte, rede wie mirs ums Herz ist, und verlange, daß auch mein Gast […] frey sage was er bedarf.“ (SL 74) Wenn aber Besucher „all ihre Worte auf Schrauben stellen“ (SL 74), d. h. mehrdeutig sprechen,13 sodass der Ritter „nimmer weiß, wie ich mit meinem Gaste dran bin: so werd ich endlich wild und […] fasse den Tropf beym Fell, balge ihn weidlich und werf ihn zur Thu¨r hinaus.“ (SL 75) Franz hingegen hat nichts zu befu¨rchten: „Ein Mann von eurem Schlag ist mir stets willkommen: ihr sagtet rund und deutsch heraus, was euch zu Sinne war“ (SL 75). 12 Vgl. Miller 1976, S. 864; van der Beek 2004, S. 152. 13 „Seine Worte auf Schrauben stellen, sie so wa¨hlen, daß man sie nach Erfordern der Umsta¨nde erkla¨ren ko¨nne, wie man will“ (Adelung 1811, S. 1644; [Hervorhebung im Original]).
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Das Herz auf der Zunge tragen, Zeichen und Bezeichnetes eng zusammensehen, das hat Erfolg, verspricht die Bronkhorst-Episode dem Helden auf seinem Weg nach Antwerpen, wo Franz seine Forderungen dann auch offen anmeldet – um mit solcher unumwundenen Mitteilung Schiffbruch zu erleiden. Kein Wunder, denn er hat die falsche Lehre aus seiner Einkehr beim vermeintlichen Pru¨gelritter gezogen. Nur scheinbar propagiert jenes Abenteuer eine Sprachauffassung, der zufolge Signifikant und Signifikat in bequem-unmissversta¨ndlichem Verha¨ltnis zueinander stehen; genau betrachtet demonstriert die Episode na¨mlich das genaue Gegenteil. Ausgerechnet Franz’ verbale Offenherzigkeit produziert hermeneutische Probleme: Sie ha¨lt den Ritter vom Pru¨geln ab, wodurch die ebenfalls unverstellte Rede jenes Bauern plo¨tzlich erla¨uterungsbedu¨rftig wird. Deren Ra¨tsel kla¨rt Ritter Bronkhorst zwar durch „den eigentlichen Bericht, wie die Sache stehet“ (SL 74), auf; doch am Schluss seiner Darlegungen verwickelt er sich, ausgerechnet, da er treudeutschem Sprechen das Wort redet, in einen hu¨bschen Selbstwiderspruch: „Ein Mann von eurem Schlag ist mir stets willkommen: ihr sagtet rund und deutsch heraus, was euch zu Sinne war“ (SL 75) – noch bevor der Ritter eindeutiges Sprechen ru¨hmt, gebraucht ausgerechnet er, der angebliche ¨ berPru¨geljunker, das Wort „Schlag“ in nicht handgreiflich-direktem Sinn. U haupt steht der „Ritter, Eberhard Bronkhorst genannt“ (SL 75), in grundlegendem Widerspruch mit sich selbst: Sein „Faust und Kolbengerechte[r] Arm“ (SL 72) ist dem alten Fehderecht verpflichtet – dem jedoch sein unpassender Name eine Absage erteilt. Einen Ritter Eberhard Bronkhorst, das zeigen lexikalische Recherchen, hat es nie gegeben;14 wohl aber einen bu¨rgerlichen Juristen dieses Namens, der ausgerechnet ein Kenner der Pandekten war,15 des kodifizierten ro¨mischen Rechts, das in der Fru¨hen Neuzeit jenes handgreifliche Gewohnheitsrecht verdra¨ngt. So signalisiert der Ma¨rchentext, dass sprachliche Zeichen, unzuverla¨ssig, gerade nicht fraglos-direkt auf ein zu Bezeichnendes zugreifen – und er signalisiert dies folgerichtig nur andeutungsweise, durch Finessen humoristischauktorialen Erza¨hlens, wie zum Beispiel die letztgenannten, fu¨r die der Leser Gespu¨r entwickeln muss: Gespu¨r fu¨r eine Kommunikationsform, die dem globalen Gesetz des Geldes entspricht: Geld, dieser uneindeutig-arbitra¨re Universalsignifikant, kann in seiner semantischen Armut fu¨r alles stehen, kann alles bezeichnen16 – und bei menschlicher Kommunikation und Selbstmitteilung 14 Vgl. das betreffende Geschlechtsregister in: Grosses Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Ku¨nste 1733, S. 1468 – 1471, sowie ebd. 1754, S. 724. 15 Vgl. Motschmann 1731, S. 714 – 716. 16 Vgl. zu diesem Komplex etwa Marx 1914, S. 53 f. (1. Abschn., 2. Kap., kritisches Referat entsprechender Positionen, gerade auch des 18. Jahrhunderts); Simmel 1900, S. 193 f.; Winkler 2004, S. 45 – 47.
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verha¨lt es sich a¨hnlich; hier bedarf es der Fa¨higkeit, Zeichen, die eben nicht unmissversta¨ndlich sind; Zeichen, die ob der Vielzahl ihnen zuweisbarer Bedeutungen zuna¨chst, im u¨bertragenen Sinn, ‚stumm‘ sind, auf das ‚hinter‘ ihnen verborgene eigentlich Gemeinte durchsichtig werden zu lassen; kurz: In Zeiten weltweiter Geldherrschaft bedarf es ‚stummer Liebe‘, jener Kommunikationsform, die Meta und Franz nicht umsonst unter o¨konomischem Druck einstudiert haben. Und diese ‚stumme Liebe‘ zeitigt nun im gleichnamigen Volksma¨hrchen nicht nur erotische Erfolge im Bremer Ga¨sschen; nach dem Antwerpen-Desaster, angesichts von Franz’ verzweifeltem amerikanischen Auswanderungsplan, ‚rechnet‘ sie sich auch. Erneut u¨bernachtet der Held in einem Schloss, wo abermals Gefahr droht, jetzt durch einen „Spukgeist“ (SL 88). Der erscheint, sagt kein einziges Wort, „und kramte ein Barbierzeug aus, strich flugs ein blankes Scheermesser auf dem breiten Riemen, den er am Gu¨rtel trug“. Franz ist besorgt, „obs damit auf die Gurgel oder auf den Bart gemeinet sey“ (SL 97), doch das Gespenst rasiert ihm lediglich – schweigend – Bart, Augenbrauen und Haare, es „schor ihn von der Gurgel bis zum Nacken so glatt und kahl, wie einen Todtenkopf“ (SL 99); das wa¨chst wieder. Dann geht der Spukbarbier nach der Thu¨r, stillschweigend wie er gekommen war […]. Kaum war er aber drey Schritte zuru¨ck, so stund er stille, sahe sich mit trauriger Gebehrdung nach seinem wohlbedienten Kunden um, und strich mit der flachen Hand u¨ber den schwarzen Bart. Eben das that er zum andern male, und nochmals […]. Franz gerieth dadurch auf die Vermuthung, daß das Gespenst etwas verlange, und durch eine schnelle Kombination der Ideen rieth er darauf, daß es vielleicht den na¨mlichen Dienst von ihm erwarte, den es ihm vorher geleistet habe, und er trafs damit glu¨cklich[ ]. (SL 100)
„Ungefordert, ungeheissen“ (SL 104) „schor“ er „das Gespenst so kahl als er selbst war“ (SL 102); auf diese Weise erlo¨st er es von „eine[m] schweren Bannfluch“ (SL 104) – mit den bereits geschilderten erfreulichen Folgen. Derart avanciert ‚stumme Liebe‘, die anfangs lediglich wie eine erotischkommunikative Notlo¨sung anmuten mochte, schließlich zur Bedingung der Mo¨glichkeit eines gesicherten, lokal verankerten sozialen Daseins – in einer Welt, in der kapitalistisch-globale Handelsstrukturen den Menschen heimatloseinsam auf weltweite Wanderschaft zu schicken drohen. Aber ist diese Lo¨sung u¨berzeugend? Nein, und das gibt der Text auch in verschiedener Hinsicht zu erkennen. Nicht nur der Uneindeutigkeit des Universalsignifikanten Geld korrespondiert das Modell ‚stumme Liebe‘; eine weitere Gemeinsamkeit la¨sst sich beobachten. So, wie Geld gern zum Selbstzweck wird, nicht etwas anderes meint, sondern selbstbezogen der Akkumulation seiner selbst dient; so, wie, mit dem Ma¨rchentext formuliert, das „Kapital von alten Thalern […] hundertfa¨ltige
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Zinsen“ (SL 4) bringt, so gera¨t die ‚stumme Liebe‘ der Protagonisten in die Na¨he eines selbstgenu¨gsam-liebeleeren Zeichenspiels.17 Wenn Franz gegen Erza¨hlschluss endlich „seine stumme Liebe mit deutlichen Worten“ (SL 139 f.) erkla¨rt, erfahren wir als Leser kein Wort dieser Deklaration – wenigstens der discours bleibt dem Ma¨rchentitel bis zuletzt treu. Aber vielleicht ist hier ja auch nicht allzuviel zu explizieren: Warum sich Meta auf ‚stumme Liebe‘ einla¨sst, bleibt unklar ; vielleicht „aus einem gewissen Wohlwollen gegen den girrenden Nachbar, oder aus Eitelkeit, um ihren hermenevtischen Scharfsinn zu veroffenbaren“ (SL 26)? Mo¨glicherweise unterha¨lt die Protagonistin ‚stumme Liebe‘ nur als ein tendenziell selig in ihm selbst kreisendes Spiel ra¨tselhafter Zeichen; und wenn Franz „diese Hieroglyphen ganz zu seinem Vortheil“ und sich zum „glu¨ckliche[n] Liebhaber“ erkla¨rt (SL 26 f.) – dann la¨uft er Gefahr, jenen Signifikanten eine emotionale Tiefendimension anzudichten, die sie womo¨glich gar nicht meinen. Vielleicht ist ‚Stumme Liebe‘ also lediglich ein nichtssagendes Oberfla¨chenpha¨nomen, eine bloße Suggestion empfindsamer Innerlichkeit,18 durch die kein Herz zum Herzen find’t. Das ist das eine; zum anderen haben wir mit der Stummen Liebe ein ‚Ma¨rchen‘ vor uns – Musa¨us’ Definition zufolge eine „Erza¨hlung[ ] solcher Begebenheiten, die sich, anders als im Roman, nach dem gemeinen Weltlaufe“ nicht „wirklich haben zutragen ko¨nnen“.19 Wenn wir das nun auf die Stumme Liebe anwenden, so fa¨llt auf, dass die Handlung sich fast vollsta¨ndig mit ‚dem gemeinen Weltlaufe‘ vertra¨gt. Realmo¨glich ist in der Stummen Liebe beinahe alles – außer der Spukbarbier-Episode; ausgerechnet der entscheidende Wendepunkt hin zum Happy-End wird als wunderbar-unrealistisch denunziert.20 Die festumrissene, traditionelle Heimat samt Familie, der neuen Welthandelsdynamik abgetrotzt, entpuppt sich als ein Traum, was sonst, als ein ‚Volksma¨rchen‘: als ein ‚Ma¨rchen‘, als ein bloßes „Spielwerk[ ] der Phantasie“,21 in dessen Modus allein ‚Volk‘, verstanden als lokal gebundenes gesellig-gesellschaftliches Miteinander, im Zeitalter globaler Ma¨rkte noch zu haben ist. Die Gattung ‚Volksma¨rchen‘ erweist sich in ihrem Ursprung bei Musa¨us als literarische Reaktion auf fru¨h17 Zur Tendenz von Geld wie Zeichen, in autonome Spiele u¨berzugehen, vgl. etwa Winkler 2004, S. 38. 18 Verwandtes la¨sst sich in der fu¨nften Legende von Ru¨bezahl beobachten, vgl. Beck 2009, S. 89; zu Musa¨us’ grundsa¨tzlich empfindsamkeitskritischer literarischer Programmatik vgl. exemplarisch neben Musa¨us 1787, fol. a5r/v (Vorbericht), die Oz. gezeichnete Rezension von Johann Karl Wezels Herrmann und Ulrike, in: Allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 43,1. Kiel / Berlin / Stettin 1780, S. 149 – 152, hier 149 f. (Zuweisung der Sigle an Musa¨us nach Parthey 1842, S. 64); vgl. auch Gra¨tz 1988, S. 193; Miller 1976, S. 890 u. 898; Schnabel 2000, S. 158. 19 Musa¨us 1787, fol. b5r/v (Vorbericht). 20 Anders Richli 1957, S. 88 f.: Er erkennt in „der Realita¨t des Gespensts“ eine „Satire auf den gesunden Menschenverstand“. 21 Musa¨us 1787, fol. a6r (Vorbericht).
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kapitalistische Globalisierungspha¨nomene – und zwar als eine skeptische, weit entfernt von einer Idyllisierung beschra¨nkter Lebensverha¨ltnisse, wie sie diesem Autor unterstellt wurde.22 Als Ma¨rchen, als ein Paradebeispiel phantastischer musa¨ischer Anthropologie,23 entwirft die Stumme Liebe den Menschen zuletzt doch als heimatlosen Kosmopoliten, der auf dem Sprung ist, einsam der globalen Dynamik von Geld- und Warenstro¨men zu folgen.24 Schon fru¨h hat ein kompetenter Leser der Stummen Liebe dies sehr genau gesehen: Im dritten Buch von Wilhelm Meisters Wanderjahren la¨sst Goethe musa¨isches Personal, u. a. den Spukbarbier, nun im Rahmen der ‚realistischen‘ Gattung ‚Roman‘ agieren.25 Und da geht es dann, ‚nach dem gemeinen Weltlaufe‘, tatsa¨chlich nach Amerika – fast, denn zuletzt verharrt auch dieser Text, der von ihm ero¨ffneten transatlantischen Aussicht zum Trotz, weiterhin diesseits des Weltmeers: Felix, glu¨cklich, ist, wer gegen Ende des Erza¨hlens, ans heimatliche Ufer gerettet und vom Vater an Land reanimiert, zu neuem Leben erwacht. So schreibt Goethe die diastolisch-systolische Ambivalenz des musa¨ischen Ma¨rchens fort – und in a¨hnlicher Weise hat damit auch meine bremisch-fla¨mischamerikanische Interpretationseskapade schließlich ihren Weg zuru¨ck ins beschauliche Weimar gefunden.
22 Vgl. z. B. Richli 1957, etwa S. 13 – 70, hier insbes. 52 f.; Schnabel 2000, S. 177. 23 Zur gattungskonstitutiven Phantasie als anthropologisch-didaktischem Erkenntnisinstrument bei Musa¨us vgl. Schnabel 2000, S. 159 u. 179. 24 Es ist nicht meine Absicht, die Gattung ‚Volksma¨rchen‘ exklusiv aus moneta¨rer Dynamik herzuleiten – aber es ist doch bemerkenswert, dass jene implizite Gattungsreflexion der Stummen Liebe wie ein Pendant zur o¨konomischen Notsituation Musa¨us’ anmutet, aus der heraus das ‚Volksma¨hrchen‘ entsteht: In je verschiedener Form zeigt sich, wie die Herrschaft ¨ berlegungen gehen des Geldes diese Gattung hervorbringt; merkantile und poetologische U bei Musa¨us Hand in Hand und sollten nicht, wie etwa bei Schnabel 2000, S. 179, gegeneinander ausgespielt werden. – Zu den ‚klassischen‘ konstitutiven Momenten der Gattung ‚Volksma¨rchen‘ bei Musa¨us (Verarbeitung volksla¨ufiger Stoffe; Na¨he zum Herderschen ‚Volkspoesie‘-Konzept; Erza¨hlungen fu¨rs Volk, d. h. fu¨r eine gemischte Gesellschaft aus ‚Groß und Klein‘) vgl. Musa¨us 1787, fol. b6r-b7v (Vorbericht); Miller 1976, S. 877, 895 u. 899; Gra¨tz 1988, S. 189 – 191; Schnabel 2000, S. 162, 166 – 168 u. 178. 25 Die Pra¨senz der Stummen Liebe im dritten Buch der Wanderjahre, die von der intelligenten Faktur beider Texte zeugt, wird weder in den einschla¨gigen Ausgaben vollsta¨ndig aufgeschlu¨sselt noch in der Forschung angemessen gewu¨rdigt: Dass fu¨r Goethes Rotmantel der Spukbarbier des angeblichen poeta minor Musa¨us Pate gestanden hat, wird z. B. als bloßer Scherz abgetan bei Mommsen 1960, S. 131 – 133; aber dieser intertextuelle Bezug, den der Romantext ja beinahe explizit formuliert, ist wenigstens allgemein bekannt (vgl. etwa Goethe 1991, S. 155, 546 u. 1177). Bei ‚St. Christoph‘, dem ‚Enakskind‘ (vgl. ebd., S. 153 f. u. 544 f.) hingegen schweift der Herausgeberkommentar in biblische Ferne und mutmaßt „[g]leichsam eine Verko¨rperung der Naturkraft“ (ebd., S. 1176), obwohl doch das Gute so nah liegt: der „heilige Enakssohn“ „Sankt Christoph“ in der Stummen Liebe (SL 40).
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Welthandelswege im Ma¨rchenwald – Johann Carl August Musa¨us’ Stumme Liebe
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‚Eisenbahnen und Dampfschiffe‘. Zur Rolle der technischen Fortbewegung im transnationalen Literaturdenken des fru¨hen 19. Jahrhunderts
1907 erwarb das Weimarer Goethe-Museum eine Modelleisenbahn. Sie stammte aus den Hinterlassenschaften der Nachkommen Goethes und dessen Enkel Wolfgang hatte dazu ein Testat verfasst: „Dieses Modell eines Dampfwagens erhielt der Apapa, zur Zeit als dieselben in England noch etwas Neues waren, von einem Engla¨nder, und schenkte es dann uns Enkeln. Wolfgang von Goethe.“1 Bei diesem hu¨bschen Eisenbahnmodell, das Goethe seinen Enkeln nach dem Tod ihres Vaters August 1830 zum Spiel u¨berlassen hatte, handelt es sich jedoch keineswegs um ein Spielzeug, vielmehr ist es das Modell einer technischen Meisterleistung, das in den kommenden Jahren immer wieder in den einschla¨gigen Zeitschriften diskutiert werden sollte. Es ist das Modell einer dampfbetriebenen Lokomotive, die George und Robert Stephenson 1829 gebaut hatten und die am 8. Oktober 1829 einen Wettbewerb, „The Rainhill Trials“, gewonnen hatte: Sie legte die 50 km lange Strecke in knapp einer Stunde, also mit ca. 48 km/h zuru¨ck und kam als einzige ohne nennenswerten Schaden am Ziel an.2 Ein Jahr spa¨ter, am 15. September 1830, wurde die erste regula¨re Bahnstrecke zwischen Liverpool und Manchester ero¨ffnet und die ‚Rocket‘ wurde seitdem regelma¨ßig zum Transport von Menschen und Gu¨tern eingesetzt. Damit begann eine einzigartige technische Entwicklungsgeschichte, die das 19. Jahrhundert entscheidend vera¨ndern und – bei aller Kritik bis heute – eine der wesentlichsten Errungenschaften im Rahmen des Transportwesens sein sollte. Ohne hier allzu sehr ins Detail zu gehen, seien die fu¨r Deutschland wichtigen Eckdaten kurz genannt: Am 7. Dezember 1835 fuhr der beru¨hmte ‚Adler‘– ein Importprodukt, das in neunzehn Kisten inklusive Lokomotivfu¨hrer aus England nach Deutschland geliefert wurde,3 – erstmals die Strecke zwischen Nu¨rnberg und Fu¨rth, bis zum Ende der 1880er Jahre hatten 30.000 Bahnkilometer in Deutschland das Land entscheidend vera¨ndert und um 1900 transportierte die 1 Zit. nach: Schuster / Gille 1999, S. 832; vgl. ebd. die Abbildung des Eisenbahnmodells. 2 Bailey / Glithero 2000. 3 Vgl. Krohn 2010, S. 46. Zur Geschichte des Eisenbahnwesens vgl. auch: Gall / Pohl (Hg.) 1999.
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Eisenbahn vier Fu¨nftel aller Menschen und Gu¨ter – ein quantitativer Ho¨hepunkt, der seitdem nie wieder erreicht wurde. Die Transportzeiten verku¨rzten sich schon mit der ‚Rocket‘ als erster Bahn erheblich. Seitdem wurde, wie die einschla¨gige Arbeit von Johannes Mahr u¨ber Eisenbahnen in der deutschen Dichtung (1982) gezeigt hat, die Eisenbahn immer wieder – sei es in zeitgeno¨ssischen Hymnen, sei es in Dramen und Romanen – auch zum Gegenstand, zum Motiv literarischer Werke.4 Doch jenseits der technischen Daten, die eingefleischte Bahnfans und Modelleisenbahner sicherlich besser kennen, ist hier der Aspekt technischer Innovation, der vom Modell der ‚Rocket‘ ausgeht, wichtiger : Die Eisenbahn scheint wenig in das Ambiente der Hauses am Frauenplan mit seinen Gipsbu¨sten, Gema¨lden und Mo¨beln zu passen und war in den Ha¨nden der Enkel und damit der jungen Generation der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts sicherlich besser aufgehoben. Immerhin war durch den Einsatz der ‚Rocket‘ auf der Strecke zwischen Manchester und Liverpool die Rentabilita¨t und die technische Umsetzbarkeit des Eisenbahnprojektes bewiesen. Das Eisenbahnmodell von 1829 ist damit ein Symbol fu¨r eine zuku¨nftige, d. h. noch anstehende Entwicklung, deren Akzeptanz keineswegs abgeschlossen war und die sich bis dahin als Transportmittel in keiner Weise durchgesetzt hatte. Denn es gab noch la¨ngere Zeit ¨ ngste vor diesem technischen Produkt: Die erste ‚echte‘ Dampflokogroße A motive, so wird kolportiert, schuldete ihren Namen ‚Rocket‘ immerhin der Tatsache, dass „die Leute sich eher mit einer Rakete zum Mond schießen lassen wu¨rden, als sich ausgerechnet dieser verru¨ckten Erfindung anzuvertrauen“.5 Noch wenige Jahre zuvor, 1825, hatte die Londoner Quarterly Review das Projekt des Eisenbahnbaus als „palpably absurd and ridiculous“6 bezeichnet und den klassischen Handelswegen, allen voran den Kana¨len, eine weitere große Zukunft vorausgesagt – mit der es aus den eben skizzierten Gru¨nden Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend vorbei war. Elf Jahre spa¨ter, im Mai 1836, brach fu¨r die einflussreiche Augsburger Allgemeine Zeitung mit der Zeit ‚nach Fu¨rth‘ die „Eisenbahnzeit“7 an. Eisenbahnen, Dampfschiffe, Schnellposten – die Vera¨nderungen in der ra¨umlichen Strukturierung von Welt, die durch Technik und Handel erreicht wurden, waren in aller Munde – und das nicht nur bei Kaufleuten, sondern auch bei Intellektuellen wie Friedrich von Raumer, der 1835 von einer Kutschfahrt berichtet, bei der „Dampfschiffe, Dampfwagen, Eisenbahnen und Zollvereine […] den Hauptinhalt aller Gespra¨che auf den Postwagen“ bil4 Mahr 1982. 5 Vgl. den Artikel zur „Rocket“ in Wikipedia, abrufbar unter : http://de.wikipedia.org/wiki/ Rocket_(Lokomotive) [20. 03. 2012] sowie die varianten Namensfindungsprozesse in: Bailey / Glithero 2000, S. 21. 6 Anonym 1825, S. 361. 7 Mahr 1982, S. 28.
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deten und bei der er, wie Raumer betont, „hinsichtlich der Theilnahme nicht hinter den Kaufleuten zuru¨ck[blieb]“.8 Die Entwicklung des Eisenbahnverkehrs, ja sa¨mtlicher Formen dampfbetriebener Mobilita¨t, wird von den Zeitgenossen immer wieder als eine technische Revolution empfunden, die der Erfindung Gutenbergs knapp 400 Jahre zuvor vergleichbar sei, allerdings andere Folgen zeitigte. Eduard Beurmann beschreibt 1837 diesen fast topischen Zusammenhang zwischen der Eisenbahn und dem Buchdruck in seinen Buch Bru¨ssel und Paris folgendermaßen: Diese [die Buchdruckerkunst, P. G.] ermittelte Ideen, jene [die Eisenbahnen, P. G.] werden das Leben vermitteln; diese belehrte Vo¨lker u¨ber einander, jene werden sie zueinander fu¨hren. [….] Aus den kleinen Landes-Eisenbahnen wird in den ersten zwanzig Jahren schon die große europa¨ische Eisenbahn hervorgehen. Binnen mehrerer Wochen ko¨nnte man auf einer Eisenbahn die Erde umfahren, und eine Anstalt, die die Welt zu einem Diminutivum machen wu¨rde, wie wu¨rde sie die Nationalita¨t und das Ansehen der Reiche auslo¨schen.9
Damit sind wir bei dem Punkt angekommen, der hier eigentlich von Interesse sein soll: Denn die technische Entwicklung, so interessant sie auch ist und so zeitnah sie den Zeitgenossen allerorten in Zeitschriften, Handbu¨chern und anderen Publikationen mitgeteilt wurde, ist bei weitem nicht die einzige Folge, die die Erfindung von mit Dampf betriebenen Fortbewegungsmitteln hatte. Mit der Eisenbahn als Symbol einer Mobilita¨tsrevolution ist vielmehr auch eine substantielle Vera¨nderung der Weltwahrnehmung verbunden, die in den Jahren seit 1830 stattfand und die letztlich zu den Vorstellungen von Globalita¨t gefu¨hrt hat, die uns auch heute noch pra¨gt. Die erste Ausgabe von Joseph Meyers Großem Conversations-Lexicon fu¨r die gebildeten Sta¨nde fu¨hrt ihren Lesern 1846 die gesamte Spannbreite des Pha¨nomens Eisenbahn in allen technischen, politischen und kulturellen Dimensionen vor Augen.10 Im dritten Teil seines Artikels widmet sich der Autor der „kulturgeschichtlichen […] Bedeutung“ des Pha¨nomens Eisenbahn, das binnen weniger Jahre zum „Polarstern am Himmel der Kultur“ geworden sei.11 Die „Vernichtung des Raumes in der Zeit“12 hat die „schnelle und wohlfeile Befo¨rderung der lesbaren Mittel zur Verbreit[ung] von Kenntnissen und Wissen, von Briefen, Zeitung und Bu¨cher“13 zur Folge und beschleunigt und erleichtert den transnationalen Austausch:
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Raumer 1836, S. 3. Beurmann 1837, S. 115, zit. nach Conter 2009, S. 143. Vgl. Anonym 1846, S. 82 – 210. Ebd., S. 149. Ebd. Ebd., S. 155 [Hervorhebung im Original].
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Der Dampfwagen u¨berfliegt die breiten La¨nder, das Dampfschiff die Meere; beide fu¨hren einander den Reichtum und Genuß, die Kunst und Wissenschaft, die Erzeugnisse des Bodens und des Fleisches aller Himmelsstriche wetteifernd zu. Welch ein Verkehren zwischen Nationen, welche ei[ne] Mischung von Sprachen und Sitten! In wie weit großartigerer Schule gegenseitigen Unterrichts wird dann der Mensch erzogen, als jetzt!14
Fu¨r den Autor des Lexikonartikels verbindet sich mit der Entwicklung der Eisenbahn nicht nur technischer Fortschritt, sondern auch die Einlo¨sung eines transnationalen und kosmopolitischen Ideals: Jetzt, als Anfang einer neuen Weltperiode, die der bewußten Mu¨ndigkeit der Vo¨lker, geboren hat. Dieser Aera ma¨chtigster Genius sind die Eisenbahnen, als Erheber aller vorhandenen Zusta¨nde in die ho¨chste Potenz ihrer Kraft, als Verschmelzer alles vereinzelten Vo¨lkerlebens zu Einem Reich in den gesammten Beziehungen des Verkehrs, der Geselligkeitszusta¨nde und des geistigen Daseyns. Es ist der E.-B. ho¨chste Aufgabe, die letzte Verso¨hnung der widerstreitenden Elemente in der Geschichte der Menschheit, die Ausgleichung der ho¨chsten Freiheit im einzelnen Wollen mit dem innigsten Unterordnen unter das Gesetz des Ganzen zu ermitteln, doch sey dieses nirgend das Gesetz der Willku¨r, sondern nur das der Vernunft, wo Wille und Zwang, Pflicht und Recht Eines werden in erkannter sittl[icher] Nothwendigkeit.15
Die Darstellung des Konversationslexikons u¨bertra¨gt damit eine schon im 18. Jahrhundert angelegte Vorstellung von weltbu¨rgerlichem Transnationalismus auf die zu dieser Zeit noch verha¨ltnisma¨ßig neue Eisenbahntopik und den ¨ berwindung ra¨umlicher Grenzen. Strukturell weist diese Traum von der U ¨ Ubertragung auch auf eine in der historischen Forschung weitgehend vernachla¨ssigte Besonderheit der Kulturnationen des 19. Jahrhunderts hin, denn fu¨r die o¨konomische wie die innergesellschaftliche Ausgestaltung wird, wie Claude D. Conter zu Recht betont, die „Technik zu einem Surrogat fu¨r Europa“.16 Nicht die politische Abgrenzungspolitik in nationalen Entita¨ten, sondern „grenzu¨berschreitende Kommunikation“17 war eine wesentliche Bedingung fu¨r die wirtschaftliche und damit auch soziale Weiterentwicklung dieser Zeit. Die Eisenbahn wie auch andere Mittel technischer Fortbewegung sind in diesem Sinne zentrale Medien, die diesen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess unterstu¨tzen. Das Wochenblatt der Leipzig-Dresdner Eisenbahn bringt diese politische Dimension auf den Punkt: Die Eisenbahn huldigt einem politischem Kosmopolitismus, der durch die Eisenbahnen u¨ber kurz oder lang herbeigefu¨hrt werden muß, wo alle die schroffen Gegensa¨tze
14 15 16 17
Ebd., S. 159 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 160 [Hervorhebung im Original]. Conter 2009, S. 144. Ebd.
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der Nationalita¨ten schwinden und ein allgemeiner, freier, geistiger und materieller Verkehr unter allen Nationen stattfinden wird.18
Die Eisenbahn wie auch die Entwicklung anderer dampfbetriebener Fortbewegungsmittel wird damit zum Repra¨sentanten eines Gedankens, der von Goethe ausgeht und im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts systematisch weitergedacht wird: Transnationale Kommunikation ist der Leitgedanke eines Gesellschaftsmodells, das in dieser Zeit im Anschluss an Goethe die Traditionen eines humanistischen Kosmopolitismus mit den Bedingungen einer technisierten Moderne verbindet. Insofern wundert es nicht, dass 1829 das kostbare Modell der ‚Rocket‘ nicht den Enkeln u¨berbracht wurde, sondern Goethe selbst, denn dieser war – wie wohl kaum ein Zweiter in seiner Zeit – der mediale Vermittler eines Gedankens, den er in seinem Diktum einer „anmarschierenden Weltliteratur“19 zum Ausdruck gebracht hatte. Sowohl bei Goethe als auch in spa¨teren Reaktionen anderer Autoren verbindet sich der Begriff Weltliteratur immer wieder mit den Mo¨glichkeiten eines beschleunigten Verkehrs und eines dadurch intensivierten kommunikativen Austauschs.20 Schon recht fru¨h, im Juni 1825, a¨ußerte Goethe sich gegenu¨ber Carl Friedrich Zelter u¨ber die Probleme, die eine wachsende Beschleunigung des gesellschaftlichen Miteinanders mit sich bra¨chten: Junge Leute werden viel zu fru¨h aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mo¨gliche Fazilita¨ten der Kommunikation sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu u¨berbieten, zu u¨berbilden und dadurch in der Mittelma¨ßigkeit zu verharren.21
Zwar war er einerseits von den wachsenden Mo¨glichkeiten der Mobilita¨t fasziniert, doch gefa¨hrdete diese Entwicklung in seinen Augen andererseits auch die tradierten Vorstellungen von Bildung und Wissen. Goethes Vorstellung von Weltliteratur, Weltkultur und Weltpoesie reagiert genau auf dieses Problem, denn zum einen ist unter Weltliteratur ein Modell sozialer Kommunikation zwischen „strebenden Literatoren“22 und damit ein in die Zukunft gerichtetes Konzept von literarischer Produktion zu verstehen. Zum anderen ist die komplexe Vorstellung von Literatur, die Goethe mit dem Gedanken der Weltliteratur verbindet, durchaus nicht nur auf die Produktion einer multikulturellen ‚Neuen Weltliteratur‘ beschra¨nkt. Bei der Entwicklung des Weltliteraturgedankens ab 18 Leipzig-Dresdner Eisenbahn. Ein Wochenblatt fu¨r Sachsen. Red. N. Bu¨chner. 9. Oktober 1839, S. 12; zit. nach Mahr 1982, S. 12. 19 Goethe: Brief an Carl Friedrich Zelter v. 4. Ma¨rz 1829 (Goethe 1998, S. 1204). 20 Vgl. Goßens 2011. 21 Goethe: Brief an Carl Friedrich Zelter v. 6. Juni 1825 (Goethe 1991, S. 851). ¨ rzte“ (Goethe 1989, S. 79). 22 Goethe: „Zu den Versammlungen deutscher Naturforscher und A
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1827 ist Goethe darauf bedacht, die tradierte Vorstellung der ‚litterae‘, die er genau zu dieser Zeit (1825) z. B. in Ludwig Wachlers Handbuch der Allgemeinen Literaturgeschichte wiederfindet,23 mit den modernen Bedingungen von Kommunikation und Austausch, mit den sogenannten „Fazilita¨ten der Kommunikation“, die er im Brief an Zelter ausgesprochen skeptisch betrachtet, in Einklang zu bringen. Es ist mu¨ßig zu u¨berlegen, ob Goethe selbst jemals mit einem solchen ‚Feuerroß‘ gefahren wa¨re: Sein grundsa¨tzliches Interesse an den Entwicklungen von Technik und Naturwissenschaften la¨sst das vermuten; die Tatsache, dass er in seinem hohen Alter dafu¨r ha¨tte nach England reisen mu¨ssen, spricht dagegen. Wichtiger ist jedoch, dass ihm offensichtlich die Vera¨nderungen, die mit dem Eisenbahnverkehr einhergingen, schon recht fru¨h vor Augen standen. In einem Gespra¨ch mit Johann Peter Eckermann bemerkt er am 28. Oktober 1828: „Mir ist nicht bange, […] daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und ku¨nftigen Eisenbahnen werden schon das Ihrige tun.“24 Anders als die zeitgeno¨ssischen Vergleiche mit dem Buchdruck ru¨ckt Goethe auch schon zu dieser Zeit vor allem die ra¨umlichen Dimensionen der vera¨nderten Fortbewegungsmo¨glichkeiten in den Mittelpunkt: Der Paradigmenwechsel, der um 1830 mit den ersten Eisenbahnfahrten und mit der Entwicklung technischer Mobilita¨t einsetzte, a¨ußert sich fu¨r ihn vor allem in den Dimensionen der Weltwahrnehmung, deren Parameter sich grundsa¨tzlich verschieben. Zwar gab es die Vorstellung einer globalen Menschheit, deren Kultur auf einem Globus beheimatet ist, schon seit der Antike. Auch haben sich nicht zuletzt durch die Diskussionen um Weltbu¨rgertum und Kosmopolitismus die Vorstellungen von einem globalen Miteinander der Menschheit durchgesetzt und spa¨testens seit Mitte des 18. Jahrhunderts die kulturelle Entwicklung und die Rede – um es mit Goethes Worten zu sagen – von einem „allgemeinen Weltverkehr“25 in Europa maßgeblich bestimmt. Mit der Eisenbahn jedoch, das zeigt die Bemerkung Eduard Beurmanns, wird die Vorstellung von Welt kleiner. Negativ gesprochen wird dies als Vernichtung von Raum und Zeit erfahren; allerdings wunderte man sich nicht wenig, dass die terrestrische Welt, die wa¨hrend der Zugfahrt an einem ‚vorbeiflog‘, nach dem Verlassen des Zuges immer noch die gleiche Gro¨ße hatte wie vorher.26 Positiv gesprochen – und die an einer zuku¨nftigen Entwicklung orientierten 23 Goethe 1999a, S. 185: „Wachlers Handbuch der Geschichte der Literatur, neuste Ausgabe, giebt mir die angenehmste Unterhaltung. Da man sich denn doch in einem langen Leben mit allseitiger Literatur bescha¨ftigte, so scheint es beym Lesen dieses Werks man lebe zum zweytenmale, freylich um vieles bequemer.“ [Hervorhebung im Original] 24 Goethe: Gespra¨ch mit Johann Peter Eckermann v. 23. Oktober 1828 (Goethe 1999c, S. 680). 25 Goethe 1999b, S. 434. 26 Vgl. dazu: Schivelbusch 1977.
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Intellektuellen der Zeit sahen, wie oben gezeigt, meist die positiven Folgen – wurde durch die Vera¨nderung der Entfernungsprobleme Kants kosmopolitische Vorstellung einer menschlichen Gemeinschaft mit universellen Rechten von einem philosophischen Abstraktum plo¨tzlich zu einen Pha¨nomen, dem real begegnet und das erreicht werden konnte. Wa¨hrend der direkte Kontakt zu den von Kant genannten Vo¨lkern der Eskimo oder der Pescheras vor allem ein recht exotisches und daher eher rhetorisch zu verstehendes Beispiel war27 und auch Johann Gottfried Herder in seiner Anthologie Stimmen der Vo¨lker das Miteinander all dieser Vo¨lker, eben auch die Kultur des „Esquimaux“,28 nur in Form einer Textsammlung simulierte, tat sich mit der Etablierung der Eisenbahn als Transportmittel die Mo¨glichkeit auf, diese ra¨umlich fu¨r den Einzelnen fast unu¨berwindbare Ferne zu einer durch Technik u¨berbru¨ckbaren Na¨he zu machen. Damit schien – und das ist der Tenor gerade der Schriften, die sich vor 1848 nicht vom technischen, sondern vom kulturellen Standpunkt mit der Eisenbahn als Transportmittel bescha¨ftigten – die ideelle Vorstellung eines kosmopolitischen Miteinanders der Menschheit auf einmal praktisch realisierbar. „Der Fortschritt der oceanischen Schiffahrt hat“, so schreibt schon 1833 der vergleichende Erdkundler Carl Ritter, „sogar die ganze Stellung der Erdtheile, der Continente und aller Inseln gegen die fru¨here Zeit zu einer wirklich andern gemacht.“29 Dabei ist der prima¨re Antrieb, Eisenbahnen zu bauen, im fru¨hen 19. Jahrhundert nicht der ra¨umlichen Eroberung terrestrischer Masse wie im Kontext des zu dieser Zeit einsetzenden Kolonialismus30 oder auch – wie noch heute (‚Stuttgart 21‘) – der Vorstellung und der Utopie einer technischen Realisierbarkeit verpflichtet, sondern er entspringt, wie Johannes Mahr festha¨lt, den „Ideen der Aufkla¨rung“: „Die Erregung u¨ber den Durchbruch in der Entwicklung der Menschheit hin zu einem besseren Zustand la¨ßt sich nicht u¨berscha¨tzen.“31 Wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, werden besonders in der Zeit nach Goethes Tod verschiedene Autoren die Vera¨nderung der Welt durch technische Welterschließung und den goetheschen Begriff Weltliteratur immer wieder in einen direkten Zusammenhang bringen: Noch kurz vor Goethes Tod wird Maurice Chevalier in Goethes zeitweiliger Lieblingszeitschrift Le Globe das Syste`me de la Me´diterrane´e entwerfen, dessen Entwicklung zu einem wesentlichen Teil auf einem modernen Mobilita¨tskonzept beruht.32 Chevalier entwickelt das Modell einer industrialisierten, mediterranen Gesellschaft, bei dem die „materielle“ Umsetzung der fru¨hsozialistischen Gesellschaftsidee der Saint-Si27 28 29 30 31 32
Kant 1983 S. 222. Herder 2000, S. 1386. Ritter 1835, S. 55. Vgl. Goßens 2011b. Vgl. Honold 2010, S. 154 – 174. Mahr 1982, S. 43. Chevalier 1832, S. 169 – 171.
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monisten durch – so Goethes Vertrauter Karl August Varnhagen von Ense – „dieses Nez von Eisenbahnen, welche Europa, Asien und Afrika in die rascheste und innigste Gemeinschaft“ bringe, geschehen solle.33 Einige Jahre spa¨ter wird Ernst Moritz Arndt in seiner Warnung vor dem Konzept der Weltliteratur auch die Angleichung der kontinentalen Verha¨ltnisse und die vermeintliche Auflo¨sung der Grenzen und Entfernungen, den, wie er sagt, „ausgebreiteten Weltverkehr[!]“ dafu¨r verantwortlich machen, dass die Repra¨sentanten einer bu¨rgerlich und vor allem ju¨disch gepra¨gten Weltwirtschaft ihre Interessen an einem System des kosmopolitischen Ausgleichs durchsetzen und „es nimmer wieder zum Kriege werde kommen“ ko¨nnen.34 Denn ein solcher Krieg ist in Arndts Augen notwendig, um die herrschenden politischen Verha¨ltnisse im Sinne Deutschlands nachhaltig zu vera¨ndern. Das deutlichste Zeichen fu¨r diesen Prozess der transnationalen Angleichung und Ausgrenzung Deutschlands ist fu¨r Arndt die technische Entwicklung, die Eisenbahnen die Dampfschiffe die Millionen, die in den Maschinen der Fabriken stecken, und die ko¨stlichste menschlichste u¨ber alle La¨nder hinweg in unendlicher Verbreitung angewandte Erfindung des Papiergeldes und die Jupiter Rothschilde, welche die oft so ra¨thselhafte Umschwingung und Umrollung dieser Weltmu¨nze in ihren allma¨chtigen Ha¨nden halten […].35
Gegen solche eindeutig antisemitischen und nationalistischen Konzepte, wie sie nicht nur von Arndt entwickelt wurden, stehen andere Gesellschaftsmodelle, die an den goetheschen Entwurf der „Epochen geselliger Bildung“36 anschließen. Ein solches Modell finden wir bei Alexander Jung, der – als Schu¨ler und Freund von Karl Rosenkranz – den kantschen Kosmopolitismus, den hegelschen Weltgeist und Goethes Weltliteratur zu einem eigenen Gesellschaftsmodell ausbildete. Die Eisenbahn spielt hier eine nicht zu vernachla¨ssigende Rolle, denn, so Jung in seinen Vorlesungen u¨ber sociales Leben und ho¨here Geselligkeit von 1844, die Eisenbahnen und die Dampfschiffe sind die permanenten, sind die fliegenden Bru¨cken, um den Raum und die Zeit anna¨herungsweise aufzuheben, um dem Planeten jene Idealita¨t, jene vollendete Organisation zu ertheilen, durch welche e r , und kein einzelnes Land mehr, die eigentliche Heimath des Individuums ist.37
Auf diese Weise, so Jung, bahnt sich „vollendete Scho¨nheit, das Kunstwerk, als durchweg organisirtes Erdleben, den Weg“.38 Doch die unumschra¨nkten vo¨l33 34 35 36 37 38
Varnhagen von Ense 1977, S. 119. Arndt 1845, S. 318. Ebd., S. 319. Goethe 1999d, S. 554 f. Jung 1844, S. 226 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 227 [Hervorhebung im Original].
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kerverbindenden Ideen wird Jung in gewisser Weise in Frage stellen. Zwar haben auch fu¨r ihn die Eisenbahnen und Dampfschifffahrt [… als] das letzte Stadium des ho¨heren geselligen Verkehrs, die Geselligkeit der Vo¨lker mit Vo¨lkern dieselbe Bedeutung […], welche die Buchdruckerkunst fu¨r das vorletzte, fu¨r das Stadium der Geselligkeit in der Literatur, gehabt hat.39
Aber trotz der Mo¨glichkeit des grenzenlosen Austauschs, der ‚me´tissage‘ der Kulturen, mit der „das einzelne Volk durch jenen Verkehr sich zum a¨chten Kosmopolitismus erweitert“, bleibt die „eigene, urspru¨ngliche Eigenthu¨mlichkeit, also das Nationalgefu¨hl in jenem Weltbewußtseyn, der Patriotismus, der ja in dem Kosmopolitismus stets mitgesetzt ist“,40 der Ausgangspunkt der weiteren kulturellen Entwicklung. Fu¨r Jungs gesellschaftliches Modell – und damit sei die weitere Tendenz der Entwicklung auch des Denkens u¨ber Weltliteratur hier nur angedeutet – greifen die verschiedenen Ebenen seines kulturellen Systems – also eben auch Patriotismus und Nationalismus – ineinander auf dem Weg zu einem großen Ziel. Denn nur im Zusammenspiel aller kulturellen Optionen erreicht man den Ho¨hepunkt der kulturellen Entwicklung: „So erha¨lt man, ausgehend von der Muttersprache und der vaterla¨ndischen Literatur, die – Weltliteratur, und wir haben somit in dem Verkehre der Vo¨lker mit Vo¨lkern das fu¨nfte Stadium erreicht, die Geselligkeit der Vo¨lker.“41 Die Vera¨nderungen in der Weltwahrnehmung, die durch Eisenbahnen und auch Dampfschiffe in Gang gesetzt und begleitet wurden, haben ihre sichtbaren Folgen nicht nur in der goetheschen, sondern vor allem in den direkten postgoetheschen Vorstellungen eines kosmopolitischen Humanismus hinterlassen. Unter dem Stichwort ‚Weltliteratur‘ wurde in dieser Zeit versucht, moralische wie ethische Positionen der Aufkla¨rung und des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit den Mo¨glichkeiten des technischen Fortschritts zu verbinden. Je selbstversta¨ndlicher der Umgang mit den technischen Mitteln der Mobilita¨t wurde, umso selbstversta¨ndlicher ließen sich – vor allem nach 1848 – auch die nationalen Grenzen errichten. Die Eisenbahn- wie auch die Dampfschifffahrt verloren dabei zunehmend ihre mit transnationaler Kommunikation und gesellschaftlichem Austausch verbundenen Konnotationen. Sie wurden zu einem politischen Machtinstrument, das einerseits die Erschließung von Raum besonders in den Kolonien zuließ, andererseits durch systembedingte Beschra¨nkungen etwa in ¨ ffnung erder Spurbreite der Gleise eine nationale Abgrenzung oder auch O mo¨glichte. Die Vielzahl der Netzsysteme und Bahngesellschaften entspricht dabei dem additiv-kanonischen Begriff von Weltliteratur, der sich erst nach 1848 39 Ebd., S. 230 f. 40 Ebd., S. 231. 41 Ebd., S. 234.
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wirklich entwickelte und der bis heute seine Gu¨ltigkeit behalten hat. Erst mit den Diskussionen um Postkolonialismus, Multikulturalismus und eine ‚Neue Weltliteratur‘ hat die nationale Abgrenzung wieder ihre Bedeutung verloren und kommunikativen, dynamischen und transnationalen Modellen von Welterschließung Platz gemacht, die in Ansa¨tzen jedoch schon um 1830 diskutiert wurden.
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¨ rzte“ [1828], in: Goethe, Ders.: „Zu den Versammlungen deutscher Naturforscher und A Johann Wolfgang: Sa¨mtliche Werke. Briefe, Tagebu¨cher und Gespra¨che. Bd. 25: Schriften zur Allgemeinen Naturlehre, Geologie und Mineralogie. Hg. v. Wolf von Engelhardt u. Manfred Wenzel. Frankfurt a. M. 1989, S. 79 f. Ders.: Sa¨mtliche Werke. Briefe, Tagebu¨cher und Gespra¨che. Bd. 39: Johann Peter Eckermann: Gespra¨che mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. [1823 – 1832]. Hg. v. Christoph Michel unter Mitwirkung v. Hans Gru¨ters. Frankfurt a. M. 1999. [=Goethe 1999c] Ders.: „Epochen geselliger Bildung“ [1831], in: Goethe, Johann Wolfgang: Sa¨mtliche Werke. Briefe, Tagebu¨cher und Gespra¨che. Bd. 22, S. 554 f. [=Goethe 1999d] Goßens, Peter : Weltliteratur. Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2011a. Ders.: „Carl Ritter und die Weltliteratur. Zur Fru¨hgeschichte des ‚spatial turn‘“, in: Eg¨ hnlichkeiten und Unterschieden. Vergleich, Analogie und gers, Michael (Hg.): Von A Klassifikation in Wissenschaft und Literatur (18./19. Jahrhundert). Heidelberg 2011b, S. 91 – 120. Herder, Johann Gottfried: Adrastea, 5. Bd. 10. Stu¨ck [1804], in: Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Ba¨nden. Hg. v. Gu¨nter Arnold, Martin Bollacher u. Ju¨rgen Brummack (u. a.). Bd. 10. Hg. v. Gu¨nter Arnold. Frankfurt a. M. 2000. Honold, Alexander : „Der Zug ins Exotische. Die Eisenbahn im kolonialen Zeitalter“, in: Barth, Volker / Halbach, Frank / Hirsch, Bernd (Hg.): Xenotopien. Verortungen des Fremden im 19. Jahrhundert. Berlin 2010, S. 154 – 174. Jung, Alexander : Vorlesungen u¨ber sociales Leben und ho¨here Geselligkeit. Danzig 1844. Kant, Immanuel: „Zum ewigen Frieden. Erster Zusatz: Von der Garantie des ewigen Friedens“ [1795], in: Kant, Immanuel: Werke in sechs Ba¨nden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pa¨dagogik. Darmstadt 1983, S. 217 – 227. Krohn, Olaf: „Große Stunde der kleinen Lok“, in: BahnMobil. Das Magazin der Deutschen Bahn 2010/12, S. 46 – 48. Mahr, Johannes: Eisenbahnen in der deutschen Dichtung. Der Wandel eines literarischen Motivs im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert. Mu¨nchen 1982. Raumer, Friedrich von: England im Jahre 1835. Erster Theil. Leipzig 1836. ¨ ber das historische Element in der geographischen Wissenschaft (GeleRitter, Carl: „U sen in der Akademie der Wissenschaften am 10. Januar 1833)“, in: Historisch-philologische Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1833. Berlin 1835, S. 41 – 67. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Mu¨nchen 1977. Schuster, Gerhard / Gille, Caroline: Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik. 1759 – 1832. Sta¨ndige Ausstellung des Goethe Nationalmuseums. Bd. 2. Mu¨nchen 1999. Varnhagen von Ense, Karl August: Literaturkritiken. Mit einem Anhang: Aufsa¨tze zum Saint-Simonismus. Hg. v. Klaus F. Gille. Tu¨bingen 1977.
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Internetquellen http://de.wikipedia.org/wiki/Rocket_(Lokomotive) [20. 03. 2012]
Peter Goßens
Uwe Lindemann
Madame Bovary und der moderne Hedonismus. Reflexionen zum Verha¨ltnis von Literatur, globalisierter Warenwelt und Konsumkultur im 19. Jahrhundert
1.
Madame Bovary und der moderne Hedonismus
Ha¨tte Madame Bovary 30 Jahre spa¨ter das Licht der literarischen Welt erblickt, sie wa¨re zweifellos den Versuchungen der großen Warenha¨user erlegen, denen Zola in seinem Roman Au Bonheur des Dames (1882/83) ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Der finanzielle Ruin der Familie Bovary wa¨re weit fru¨her eingetreten, ha¨tte es Warenha¨user von Format wie Bon Marche´ oder Galeries Lafayette in ihrer Na¨he gegeben. Vielleicht ha¨tte sie auch eine kriminelle Karriere als Kleptomanin eingeschlagen. Zum Glu¨ck aber lebte sie auf dem Land vor dem Aufstieg der großen Warenha¨user und nicht im Paris der 1880er Jahre. Dennoch zeichnet Flaubert in seinem Roman das Portra¨t einer Frau, die man zu Recht als Ahnin all jener im Kaufrausch entfesselten Frauen bei Zola bezeichnen kann.1 Was bei Zola das Warenhaus ist, das ist fu¨r Madame Bovary ein Modewarenha¨ndler mit dem (vielver)sprechenden Namen Lheureux. Der versorgt sie nicht allein mit den modischen Neuheiten und Neuigkeiten aus Paris. Er ra¨umt ihr auch bereitwillig und – wie es anfangs scheint – unbegrenzt Kredit ein. Hieraus resultiert ein Konsumverhalten, das zum Schluss durchaus Zu¨ge von Sucht tra¨gt: Aussi, elle acheta pour sa chambre une paire de rideaux jaunes a` larges raies, dont M. Lheureux lui avait vante´ le bon marche´ ; elle reˆva un tapis, et Lheureux, affirmant‚ „que ce n’e´tait pas la mer a` boire“, s’engagea poliment a` lui en fournir un. Elle ne pouvait plus se passer de ses services. Vingt fois dans la journe´e elle l’envoyait chercher, et aussitoˆt il plantait la` ses affaires, sans se permettre un murmure. (Flaubert 2001, S. 343)
Man wu¨rde es sich jedoch zu leicht machen, suchte man nach den Gru¨nden fu¨r den exzessiven Warenkonsum von Madame Bovary einzig in ihrer Neigung zu Luxus und Ausschweifung – eine Neigung, die scheinbar unmittelbar aus ihren ausgedehnten Romanlektu¨ren entspringt. Schon die Mutter ihres Ehemanns 1 Zu dem gesamten Komplex des Kaufrausches vgl. Lehnert 2009.
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Uwe Lindemann
Charles Bovary vertritt diese ‚Theorie‘2 und schla¨gt das passende Heilmittel vor : Sie solle einer ko¨rperlichen Arbeit nachgehen; das wu¨rde ihre Hirngespinste vertreiben. Die Geschichte von Madame Bovary wa¨re in dieser Lesart die Geschichte eines weiblichen Don Quijote, der seinen Weltbezug ausschließlich u¨ber Lektu¨re herstellt.3 So naheliegend und plausibel diese Erkla¨rung erscheint, so sehr verkennt sie die komplexen Zusammenha¨nge, in denen der Konsum von Waren in Flauberts Roman steht. Es lassen sich mindestens drei Kontexte unterscheiden, in denen Madame Bovary u¨ber den ta¨glichen Bedarf hinaus konsumiert. Erstens macht sie ihren Liebhabern wertvolle Geschenke bzw. finanziert großzu¨gig die geheimen Treffen.4 Der Erwerb von Dingen unterliegt hier einer Logik der Gabe, ja Verausgabung. Dieser Kontext la¨sst sich am ehesten zu ihrer Neigung zu Luxus und Ausschweifung in Beziehung setzen. Zweitens konsumiert sie – wie es Veblen ausdru¨cken wu¨rde – demonstrativ.5 Sie versucht u¨ber ihre Anschaffungen (Mo¨bel, Kleider) ihren gesellschaftlichen Status symbolisch zu repra¨sentieren. Drittens konsumiert Madame Bovary kompensativ.6 Nachdem ihre erste, lediglich ertra¨umte Liebesbeziehung mit Le´on beendet ist, als er Yonville verla¨sst, um in Paris Jura zu studieren, heißt es: Une femme qui s’e´tait impose´ de si grands sacrifices pouvait bien se passer des fantaisies. Elle s’acheta un prie-Dieu gothique, et elle de´pensa en un mois pour quatorze francs de citrons a` se nettoyer les ongles; elle e´crivit a` Rouen, afin d’avoir une robe en cachemire bleu; elle choisit chez Lheureux la plus belle de ses e´charpes; elle se la nouait a` la taille par-dessus sa robe de chambre; et, les volets ferme´s, avec un livre a` la main, elle restait e´tendue sur un canape´ dans cet accoutrement. (Flaubert 2001, S. 188)
2 Dieses Erkla¨rungsmuster entstammt bekanntermaßen der a¨lteren Literaturtheorie und kritischen Auseinandersetzung mit dem Roman (Gotthard Heidegger, Daniel Huet u. a.), dass exzessive Lektu¨re von (Liebes)-Romanen zu moralischen Defiziten fu¨hre (vgl. Martus 2009; Lindemann 2009). 3 Die Don-Quijote-Analogie findet sich immer wieder in der Forschungsliteratur, dass Madame Bovary unfa¨hig sei, zwischen Text (Literatur) und Leben zu unterscheiden (vgl. z. B. Felski 1995, S. 85). Meiner Auffassung nach liegt jedoch das Gegenteil vor: Gerade weil sie die Unterscheidung zwischen Literatur und Leben wahrnimmt, kultiviert sie, wie ich zeigen werde, eine moderne Form von Hedonismus und Konsumismus, dessen Angelpunkt in der Differenz zwischen Literatur und Leben bzw. – in Bezug auf die Warenwelt formuliert – in der Differenz zwischen Gebrauchs- und Symbolwert der Dinge liegt. 4 Man denke an die kostspielige Reitpeitsche fu¨r Rodolphe oder an das Hotel in Rouen, in dem das wo¨chentliche Stelldichein mit Le´on stattfindet. 5 Vgl. Veblen 1979. 6 Gertrud Lehnert nennt das Konsumverhalten von Madame Bovary „selbsterga¨nzende[n] Konsum“ (Lehnert 2009, S. 261). Lehnerts Konzept des selbsterga¨nzenden Konsums und mein eigenes des kompensativen Konsums sind in zentralen Aspekten deckungsgleich, wenngleich die jeweilige interpretatorische Zielrichtung eine andere ist.
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Aber worin bestehen die „fantaisies“, die Madame Bovary nach Le´ons Weggang mit dem gotischen Betpult bzw. mit dem scho¨nsten aller Schals verknu¨pft, den sie ausschließlich zu Hause tra¨gt? Diese Dinge versprechen weder einen Statusgewinn, noch dienen sie im Sinne des Luxuskonsums einer Verfeinerung der Sinne oder gar der Ausschweifung. Auch scheinen sie wenig geeignet, die „mauvais jours“ (Flaubert 2001, S. 188), also die im Roman immer wieder beklagte Trostlosigkeit ihres Lebens in der Provinz zu vertreiben. Colin Campbell hat in seiner Studie The Romantic Ethic and The Spirit of Modern Consumerism (1987) zu zeigen versucht, dass sich die moderne Konsumkultur weder u¨ber Luxus- oder Distinktionstheorien (Veblen, Sombart) noch unmittelbar aus Max Webers Theorie einer protestantisch-asketischen Geisteshaltung als Basis des modernen Kapitalismus herleiten la¨sst. In Abgrenzung zu diesen Theorien entwickelt Campbell das Modell eines modernen Hedonismus, dessen Ursprung ebenfalls im Protestantismus liegt, nicht aber in der rationalistisch-utilitaristischen Variante wie bei Weber, sondern in der pietistisch-spiritualistischen. Im Mittelpunkt dieses modernen Hedonismus stehe, so Campbell, nicht die Steigerung von Sinnesreizen, wie es im aristokratisch gepra¨gten Hedonismus der Fall sei. Oberstes Ziel dieses Hedonismus sei das Vergnu¨gen selbst „as a potential quality of all experience“ (Campbell 1987, S. 203). Da es nicht um Reizsteigerung geht, ist die Suche nach diesem Vergnu¨gen nicht auf sinnliche Stimuli angewiesen. Es kann von der Wirklichkeit vollkommen abgekoppelt erlebt und in rein imaginativen Welten gefunden werden „by creating and manipulating illusions and hence the emotive dimension of consciousness“ (Campbell 1987, S. 203). In dieser „sentimentalistisch-romantische[n] Konzeption einer auf ihre eigenen Emotionen bezogenen Individualita¨t“ ist es mo¨glich, wie Dominik Schrage Campbells Ansatz zusammenfasst, „psychische Zusta¨nde als Einsatz und Genussmittel eines Spiels mit Bedeutungen aufzufassen.“ (Schrage 2009, S. 123) Statt nach Bedu¨rfnisbefriedigung oder Reizsteigerung wird nach außergewo¨hnlichen Gefu¨hlszusta¨nden gestrebt, die eine Intensivierung des individuellen Erlebens versprechen: „This modern, autonomous, and illusory form of hedonism commonly manifests itself as day-dreaming and fantasizing.“ (Campbell 1987, S. 203; vgl. Lehnert 2009, S. 259 ff.) Die Konzentration auf das emotionale Innenleben la¨sst eine Begehrens- bzw. Wunschstruktur entstehen, die Dinge nicht nach ihren materiellen Eigenschaften, ihrem materiellen oder repra¨sentativen Wert beurteilt, sondern nach den Bedeutungen, die sie fu¨r das Gefu¨hlsleben haben. Liest man die zitierte Passage aus Flauberts Roman in diesem Sinne, du¨rfte klar werden, worin die „fantaisies“ bestehen, die sich Madame Bovary von dem Erwerb eines „prie-Dieu gothique“ bzw. „la plus belle de ses e´charpes“ ver¨ ffentspricht. Darin liegt auch der Grund, warum sie die Dinge nicht in der O
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Uwe Lindemann
lichkeit zeigen muss, sondern bei geschlossenen Fenstern im Haus bleiben kann. Die Dinge werden, wie es Schrage ausdru¨ckt, „zu einem Medium der selbstkontrollierten Erzeugung von Fiktionen.“ (Schrage 2009, S. 125) Nicht der Besitz der Dinge, ihre Bedeutung ist wichtig. Sie werden im Spiel der Bedeutungen selbstbezu¨glich, ja narzisstisch genutzt, zur Quelle von Imaginationen im Rahmen emotionaler Sehnsu¨chte. Wie sehr Madame Bovary in einer Welt der Tagtra¨ume und Phantasien lebt, wird an vielen Stellen des Romans deutlich7 – auch an jener Stelle, an der sie die Abreise von Le´on mit folgenden Worten kommentiert: „Alors les mauvais jours […] recommence`rent. Elle s’estimait a` pre´sent beaucoup plus malheureuse: car elle avait l’expe´rience du chagrin, avec la certitude qu’il ne finirait pas.“ (Flaubert 2001, S. 188) Gerade die Tatsache, dass zwischen Le´on und ihr nichts geschehen ist, zeigt, welche enorme Bedeutung er als Stimulus fu¨r ihr Gefu¨hlsleben besaß. Im Zitat finden sich ausschließlich imaginative Zuschreibungen an eine Situation, die vielleicht trostlos und einto¨nig sein mag, aber keineswegs voll eines nie endenden Kummers. Um diesen Kummer zu vertreiben, geht Madame Bovary bald auf die Suche nach anderen Stimuli. Hier kommt der zitierte Konsum von Dingen ins Spiel, aber auch andere Praktiken, etwa Ko¨rper- und Haarpflege sowie „Bildung“:8 [E]lle se mettait a` la chinoise, en boucles molles, en nattes tresse´es; elle se fit une raie sur le coˆte´ de la teˆte et roula ses cheveux en dessous, comme un homme. Elle voulut apprendre l’italien: elle acheta des dictionnaires, une grammaire, une provision de papier blanc. Elle essaya des lectures se´rieuses, de l’histoire et de la philosophie. […] Mais il en e´tait de ses lectures comme de ses tapisseries, qui, toutes commence´es encombraient son armoire; elle les prenait, les quittait, passait a` d’autres. (Flaubert 2001, S. 188 f.)
7 Vgl. auch folgende Textstellen: „La me´diocrite´ domestique la poussait a` des fantaisies luxueuses, la tendresse matrimoniale en des de´sirs adulte`res.“ (Flaubert 2001, S. 170) und „Puis elle avait d’e´tranges ide´es: / – Quand minuit sonnera, disait-elle, tu penseras a` moi! / Et, s’il avouait n’y avoir point songe´, c’e´taient des reproches en abondance, et qui se terminaient toujours par l’e´ternel mot: / – M’aimes-tu?“ (Flaubert 2001, S. 264) 8 Welchen Stellenwert Ko¨rperpflege, Kosmetik und Schmuck als Stimuli haben, wird ebenfalls aus folgender Passage deutlich: „[J]amais Charles ne lui paraissait aussi de´sagre´able, avoir les doigts aussi carre´s, l’esprit aussi lourd, les fac¸ons si communes qu’apre`s ses rendez-vous avec Rodolphe, quand ils se trouvaient ensemble. […] C’e´tait pour lui [Rodolphe] qu’elle se limait les ongles avec un soin de ciseleur, et qu’il n’y avait jamais assez de cold-cream sur sa peau, ni de patchouli dans ses mouchoirs. Elle se chargeait de bracelets, de bagues, de colliers. Quand il devait venir, elle emplissait de roses ses deux grands vases de verre bleu, et disposait son appartement et sa personne comme une courtisane qui attend un prince.“ (Flaubert 2001, S. 261; Hervorhebung im Original)
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Es stellt sich nicht mehr dieselbe Intensita¨t ein wie im imaginierten Liebesabenteuer mit Le´on. Es ist eine Suche nach bedeutsamen Gefu¨hlen, die immer wieder entta¨uscht wird. Am Ende des Romans wird dieser Aspekt eingehend thematisiert: [E]lle n’e´tait pas heureuse, ne l’avait jamais e´te´. D’ou` venait donc cette insuffisance de la vie, cette pourriture instantane´e des choses ou` elle s’appuyait?… Mais, s’il y avait quelque part un eˆtre fort et beau, une nature valeureuse, pleine a` la fois d’exaltation et de raffinements, un cœur de poe`te sous une forme d’ange, lyre aux cordes d’airain, sonnant vers le ciel des e´pithalames e´le´giaques, pourquoi, par hasard, ne le trouverait-elle pas? Oh! quelle impossibilite´ ! Rien, d’ailleurs, ne valait la peine d’une recherche; tout mentait! Chaque sourire cachait un baˆillement d’ennui, chaque joie une male´diction, tout plaisir son de´gouˆt, et les meilleurs baisers ne vous laissaient sur la le`vre qu’une irre´alisable envie d’une volupte´ plus haute. (Flaubert 2001, S. 371; Hervorhebung U. L.)
Diese Reflexion ist weder ein neobarockes Vanitas-Gedankenspiel, noch la¨sst sich es sich auf eine ennui-Jeremiade reduzieren, wie man sie ha¨ufig in der franzo¨sischen Literatur ab Mitte des 19. Jahrhunderts findet. Die Suche von Madame Bovary nach Glu¨ck kann deswegen nicht ans Ziel kommen, weil ihr Gefu¨hlsleben nur dann intensiviert werden kann, wenn ihre Wu¨nsche nicht erfu¨llt sind. Wunscherfu¨llung beendet den Wunsch. Nur unerfu¨llte Wu¨nsche regen das Seelenleben und die Imagination an. Ist der Wunsch in Erfu¨llung gegangen, ist er zugleich passe´ ; ein neuer Wunsch muss her. Die paradoxe Konsequenz ist permanente Unzufriedenheit. Ist der Wunsch erfu¨llt, ist man unzufrieden, weil er erfu¨llt wurde. Ist er nicht erfu¨llt, ist man unzufrieden, weil er unerfu¨llt ist. Die Folge ist ein Streben nach immer neuen Stimuli, um diese Entta¨uschung zu u¨berwinden: Es resultiert ein Leben im Aufschub. Dieser Mechanismus ist ein zentraler Aspekt dessen, was Campbell als konsumistische Haltung bezeichnet. Sie beruht auf dem beschriebenen Hedonismus, dem die Entta¨uschung strukturell eingeschrieben ist. Man ko¨nnte sogar sagen, dass die Entta¨uschung Bedingung und Motor der konsumistischen Haltung ist. Madame Bovary konsumiert in diesem Sinne daher nicht nur Dinge, sondern auch Menschen und Literatur. Dabei entfalten die Dinge, Menschen und die Literatur einerseits ein Spiel der Bedeutungen. Andererseits aber sind sie selbst bedeutungs- und sinnstiftend, indem sie die konsumistische Wunschmaschinerie in Gang halten. Fallen die Stimuli weg, entsteht ein Gefu¨hl der Leere und Sinnlosigkeit, wie es an vielen Stellen des Flaubertschen Romans zum Ausdruck kommt. Eva Illouz hat im Anschluss an Campbell darauf hingewiesen, dass die sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelnde Konsumentenkultur aus jenen Verlusten Nutzen gezogen hat, die durch die beschleunigte Warenproduktion zustande kamen, und zwar insbesondere aus dem, was man grob ‚Bedeutungsverluste‘
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nennen ko¨nnte. Als Reaktion darauf hat die Konsumentenkultur das ‚romantische Ich‘ ins Zentrum geru¨ckt, ein Ich voller Gefu¨hl und Sehnsucht nach Authentizita¨t. (Illouz 2011, S. 77 f.)
An Madame Bovary wird vorgefu¨hrt, wie diese Bedeutungsverluste mit einer konsumistischen Haltung konvergieren, in der jeder transzendentale Halt verloren gegangen ist. Als sich Madame Bovary nach dem Weggang ihres Liebhabers Rodolphe dem Tod nahe wa¨hnt und die Kommunion verlangt, hat sie, so will es anfangs scheinen, eine religio¨se Vision: Sa chair alle´ge´e ne pesait plus, une autre vie commenc¸ait; il lui sembla que son eˆtre, montant vers Dieu, allait s’ane´antir dans cet amour comme un encens allume´ qui se dissipe en vapeur. On aspergea d’eau be´nite les draps du lit; le preˆtre retira du saint ciboire la blanche hostie; et ce fut en de´faillant d’une joie ce´leste qu’elle avanc¸a les le`vres pour accepter le corps du Sauveur qui se pre´sentait. Les rideaux de son alcoˆve se gonflaient mollement, autour d’elle, en fac¸on de nue´es, et les rayons des deux cierges bruˆlant sur la commode lui parurent eˆtre des gloires e´blouissantes. Alors elle laissa retomber sa teˆte, croyant entendre dans les espaces le chant des harpes se´raphiques et apercevoir en un ciel d’azur, sur un troˆne d’or, au milieu des saints […], Dieu le Pe`re tout e´clatant de majeste´, et qui d’un signe faisait descendre vers la terre des anges aux ailes de flamme pour l’emporter dans leurs bras. […] Elle voulut devenir une sainte. Elle acheta des chapelets, elle porta des amulettes; elle souhaitait avoir dans sa chambre, au chevet de sa couche, un reliquaire enchaˆsse´ d’e´meraudes, pour le baiser tous les soirs. (Flaubert 2001, S. 291 f.)
Die Vision mu¨ndet in Warenkonsum. Madame Bovary ist lediglich sentimental, nicht spirituell.9 Die Dinge dienen ihr erneut nur als Material ihrer Tagtra¨umereien und Phantasien. Im Unterschied zu den bisherigen Episoden tritt hier der quasi-religio¨se Charakter des modernen Hedonismus zu Tage. Es handelt sich um eine Form des Kultes, der im Gegensatz zur Religion keine Form der Entsu¨hnung, nur den Modus der Verschuldung kennt.10 Ihr Selbstmord ist nicht allein der letzte Akt eines gescheiterten Bildungsromans, auf den sich Flaubert mit ihrem Freitod zweifellos parodistisch bezieht. Er ist gleichfalls Folge eines hedonistischen Kultes, der eine emotionalistische Ontologie in den Mittelpunkt stellt, in der Gefu¨hle die Gewa¨hr fu¨r ein gelingendes Leben u¨bernehmen sollen (vgl. Campbell 2004, S. 38). Besteht wie im Fall von Madame Bovary keine Mo¨glichkeit mehr auf zuku¨nftige Gefu¨hlsintensivierung, bleibt als einziger
9 Spa¨ter ergeht sich Madame Bovary noch in Wohlta¨tigkeit, wobei Campbell sagen wu¨rde, auch Wohlta¨tigkeit sei schon eine konsumistische Praxis, da der Wunsch, anderen zu helfen, immer von einer Intensivierung des eigenen Gefu¨hlslebens begleitet werde. (vgl. Campbell 1987, S. 204 f.) 10 Schon Walter Benjamin schreibt: „Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsu¨hnenden, sondern verschuldenden Kultus.“ (Benjamin 1985, S. 100)
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Ausweg nur der Tod. Ihr Selbstmord ist ein letzter – immerhin kostenloser – Akt der Selbstbestimmung, der diese zugleich aber fu¨r immer verabschiedet. Mit Hilfe des konsumistischen Modells la¨sst sich auch erkla¨ren, warum Madame Bovary kein Verha¨ltnis zu Geld hat. Geld dient ihr dazu, Mo¨glichkeiten zu ero¨ffnen.11 Es fungiert als universeller „Joker“ (Ullrich 2006, S. 62), der sich u¨berall einsetzen la¨sst, wo ein Wunsch auftaucht. Es ist Medium nicht-realisierter Mo¨glichkeiten. Geld ausgeben ist fu¨r Madame Bovary kein Akt, der sich in Gebrauchs- und Tauschwerten verrechnen ließe. Dass ihr Lheureux umfassend Kredit gewa¨hrt, befo¨rdert diese Wahrnehmung von Geld als immateriellem Schmiermittel ihrer Wu¨nsche. Geld ist fu¨r Madame Bovary ebenso imagina¨r wie ihre Wu¨nsche.12 Deswegen ist fu¨r sie die Katastrophe auch nicht absehbar. Nicht nur der Geldverkehr, auch ihre Wu¨nsche sind in einem fiktionalen Reich voller Potenzialita¨ten angesiedelt – einem Reich der Konjunktive.13 Dass die Bezahlung ihrer Schulden immer weiter in die Zukunft verschoben wird, korrespondiert mit der Unmo¨glichkeit der Befriedigung ihrer Wu¨nsche und dem permanenten Aufschub, der daraus resultiert. Sie lebt nicht in der Gegenwart, sondern in einer (besseren) Zukunft, und versucht eine Vergangenheit zu ignorieren, die aus einer unendlichen Kette von Entta¨uschungen zu bestehen scheint. Fu¨r sie gibt es lange Zeit keine aus der Vergangenheit resultierenden Notwendigkeiten, nur zuku¨nftige Optionen. Die Zeit des Konsumismus sei, so Zygmunt Bauman, nicht linear oder zyklisch, sondern „gebrochen“ und „pointillistisch“. In ihr herrsche „Inkonsistenz“ und ein „Mangel an Ko11 Als Madame Bovary durch den Verkauf eines ihrem Mann geho¨renden Grundstu¨ckes kurzzeitig wieder zu Geld kommt, heißt es: „Un horizon de fantaisies re´alisables s’ouvrit alors devant Emma.“ (Flaubert 2001, S. 360) 12 Vgl. folgende Bemerkung: „Mit dem Kredit vera¨ndert der Reichtum seine Struktur und wird unberu¨hrbar, beweglich und fluktuierend […]. Materieller Besitz […] ist der Alltagserfahrung zuga¨nglich und kann durch konkrete Bilder ausgedru¨ckt werden. Kredit dagegen erfordert einen hochgradig fiktionalisierten Begriff des Besitzes, welcher immer auch die Mo¨glichkeiten miteinbezieht, dass alles anders werden ko¨nnte.“ (Sta¨heli 2007, S. 271) 13 Schon Georg Simmel beschreibt die moderne Rolle des Geldes als Medium der Mo¨glichkeiten: „Die centrale Stellung, die das Geld durch das ungeheure Anwachsen des Kreises dadurch erreichbarer Objekte erha¨lt, strahlt in vielerlei einzelne Charakterzu¨ge des modernen Lebens hinein. Das Geld hat dem Einzelnen die Chance vo¨lliger Befriedigung seiner Wu¨nsche in viel gro¨ßere, versuchungsvollere Na¨he geru¨ckt. Es giebt die Mo¨glichkeit, gleichsam mit einem Schlage zu gewinnen, was u¨berhaupt begehrenswerth erscheint. […] Mit der Anna¨herung an das Glu¨ck aber [die Erfu¨llung der Wu¨nsche] wa¨chst die Sehnsucht danach. Denn nicht das absolut Ferne und Versagte, sondern das Nichtbesessene, dessen Besitz na¨her und na¨her zu ru¨cken scheint – wie es durch die Geldorganisation geschieht – das entzu¨ndet die gro¨ßte Sehnsucht und Leidenschaft. […] Die specifisch moderne ‚Begehrlichkeit‘ […] konnte aufwachsen, weil es jetzt ein Schlagwort giebt, das alles Begehrenswerthe in sich verdichtet, einen Centralpunkt, den man, wie den Zauberschlu¨ssel im Ma¨rchen, nur zu gewinnen braucht, um mit ihm zu allen Freuden des Lebens zu gelangen.“ (Simmel 1992, S. 190)
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ha¨sion“: „Pointillistische Zeit ist zersplittert, ja geradezu pulverisiert, zu einer Vielzahl von ‚ewigen Augenblicken‘ – Ereignissen, Zwischenfa¨llen, Unfa¨llen, Abenteuern, Episoden –, in sich abgeschlossenen Monaden, einzelnen Fragmenten […].“ (Bauman 2009, S. 46) Diese „Inkonsistenz“ und dieser „Mangel an Koha¨sion“ zeichnet auch das Handeln von Madame Bovary aus. Ihre Geschichte ist kein Entwicklungsroman, sondern ebenso zerfasert wie die Wu¨nsche, von denen sie umgetrieben wird (vgl. Felski 1995, S. 83). Damit verko¨rpert sie eine moderne Form des Individualismus, in dessen Zentrum die gleichermaßen intensive wie vergebliche Suche nach einem authentischen Selbst steht.
2.
Warenwelt – Globalisierung – Identita¨t
Dieser in der literarischen Figur Emma Bovary prototypisch ausformulierte moderne Hedonismus wird flankiert von einer Welt der Waren, die schon fru¨h mehr als Wert- und Gebrauchsgegensta¨nde sein wollen. Das Potential dieser Waren als Stimuli eines intensivierten Gefu¨hlslebens wird dabei konnotativ u¨ber ihre Namensgebung, ihre materiellen Eigenschaften und/oder die Angabe ihrer Herkunft erzeugt. Schaut man sich die Dinge an, die Madame Bovary kauft bzw. die ihr von Lheureux angeboten werden, so sind das „e´charpes alge´riennes“, „aiguilles anglaises“, „une paire de pantoufles en paille“, „coquetiers en coco, cisele´s a` jour par des forc¸ats“, „une robe en cachemire“ „citrons“, „un prie-Dieu gothique“, „cold-cream“, „patchouli“ und „e´crans chinois“. (Flaubert 2001, S. 164, 188, 261, 385) Was Flaubert zweifellos zur ironischen Brechung seiner Hauptfigur einsetzt – denn vieles von dem, was an Waren im Roman erwa¨hnt wird, ha¨tte man sicherlich schon damals als geschmacklosen Nippes abgetan –, ist im Rahmen einer konsumgeschichtlichen Lektu¨re des Romans jedoch symptomatisch. Auch Waren pra¨figurieren u¨ber ihre Namensgebung und Herkunft Geschichten, ko¨nnen Anlass fu¨r Geschichten sein, mindestens aber passende Kulisse bzw. Rahmung fu¨r Tagtra¨ume und Phantasien. Schon im 18. Jahrhundert setzt auf breiter Front ein Prozess ein, in dem die tatsa¨chliche oder vermeintliche Herkunft von Waren als Werbeeffekt eingesetzt wird. Dies betrifft besonders den Handel mit Luxusgu¨tern wie Schmuck, Parfu¨m oder Stoffen, deren exotische Herkunft vielfach in die Warenbezeichnung integriert wird. So berichtet Ludwig Bo¨rne in seinen Schilderungen aus Paris (1822 – 1824) u¨ber die Industrieausstellung im Louvre, einen fru¨hen Vorla¨ufer der spa¨teren Weltausstellungen: Treten wir jetzt in den Bazar des Parfums des Herrn Mayer. Dort schimmert’s wie in einem Feenma¨rchen; es ist zum blind werden! […] Junge Ma¨dchen, die sich nicht gern
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den Kopf anstrengen, ko¨nnen im Bazar des Herrn Mayer in weniger als einer Viertelstunde auf die angenehmste Weise die Geographie erlernen. Sie finden dort: Huile de Macassar, Poudre de Ceylon, Fluide de Java, Esprit de Portugal, Savon de Valence, Vinaigre de Malte, Huile de Cachemire, Graisse d’Ours de Canade, Rouge de Chine, Sachet de Perse, Bol de Chypre, Poudre de Florence, Poudre de Palma, und noch viele andere Dinge aus Europa, Amerika und Asien. Schade, daß Herr Mayer keine Produkte von den Su¨dseeinseln und von Afrika hat […] – an Absatz wu¨rde es ihm nicht fehlen, und seine geographische Belehrung wu¨rde hierdurch vollsta¨ndiger werden. (Bo¨rne 1964, S. 183 f.; Hervorhebung im Original)14
¨ hnliches gilt fu¨r die Benennung von exklusiven Stoffen wie Musselin, Chiffon, A Atlas, Satin, Damast,15 Creˆpe de Chine und andere Seiden, die bevorzugt fu¨r die Anfertigung von Damenmode verwendet werden.16 Auch fu¨r die im 18. Jahrhundert in der Textilproduktion ga¨ngigen Farben la¨sst sich Vergleichbares feststellen: Die urspru¨nglich fremde Herkunft der Farben [Puterrot und Nankeen, U. L.] und der zugeho¨rigen Textilien blieb in den Bezeichnungen erhalten, die man ihnen gab. In14 Wenige Jahre spa¨ter wird sich Honore´ de Balzac desselben Themas annehmen und in seinem Roman Histoire de la Grandeur et de la De´cadence de Ce´sar Birotteau (1838) ausfu¨hrlich die Werbestrategien schildern, mit denen die Hauptfigur des Romans zum fu¨hrenden Parfu¨merieha¨ndler und -hersteller in Paris, spa¨ter in ganz Mitteleuropa aufsteigt. Auch Ce´sar Birotteau setzt wie Herr Mayer bei der Namensgebung seiner Produkte auf die diskursive Verschra¨nkung von Luxus, Orient und Weiblichkeit. Den Erfolg von Birotteaus Kosmetikum Paˆte des Sultanes verdankt sich, so der Erza¨hler bei Balzac, dieser diskursiven Konstellation (vgl. Balzac 1935, S. 351). 15 Musselin, benannt nach Mossul am Tigris, Chiffon von arab. schiff = durchsichtiger Stoff, Atlas, von arab. atlas = glatt; Satin, von arab. atlas zairtuni = glattes Gewebe aus Tsia-toung (arab. Zaytuˆn), einem chinesischen Ausfuhrhafen, Damast, benannt nach Damaskus (arab. dimasˇq) in Syrien. In der Benennung der Stoffe wird ein seit der Antike gepflegter OrientStereotyp o¨konomisch verwertet, der den Ursprung von exklusiven Luxusgu¨tern und Genussmitteln im Nahen und Fernen Osten verortet (vgl. Lindemann 2007). ` la 16 In Zolas Roman Au Bonheur des Dames (1883) findet sich eine bezeichnende Passage: „A soie, la foule e´tait aussi venue. […] C’e´tait, au fond du hall, autour d’une des colonnettes de fonte qui soutenaient le vitrage, comme un ruissellement d’e´toffe, une nappe bouillonne´e tombant de haut et s’e´largissant jusqu’au parquet. Des satins clairs et des soies tendres jaillissaient d’abord: les satins a` la reine, les satins renaissance, aux tons nacre´s d’eau de source; les soies le´ge`res aux transparences de cristal, vert Nil, ciel indien, rose de mai, bleu Danube. Puis, venaient des tissus plus forts, les satins merveilleux, les soies duchesse, teintes chaudes, roulant a` flots grossis. Et, en bas, ainsi que dans une vasque, dormaient les e´toffes lourdes, les armures fac¸onne´es, les damas, les brocarts, les soies perle´es et lame´es, au milieu d’un lit profond de velours, tous les velours, noirs, blancs, de coleur, frappe´s a` fond de soie ou de satin, creusant avec leurs taches mouvantes un lac immobile […].“ (Zola 1980, S. 140 f.) In dem meines Wissens ersten Warenhaus-Roman Monsieur de la nouveaute´ (1880) von Rachilde heißt es in einer Szene, wa¨hrend derer eine Inventur geschildert wird: „[O]n se criait les uns aux autres des nume´ros et des noms d’e´toffes, noms e´tranges, qui contrastaient d’une manie`re risible avec les comptoirs: des Pe´kins, des Ame´ricaines, des Cachemiriennes, des Anglaises, des Kalmoukes, etc., etc. Les principales nations de l’univers repre´sente´es par les plus modestes tissus.“ (Rachilde 1880, S. 245 f.)
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teressanterweise wurden zwei andere Farben, die ebenfalls im 18. Jahrhundert popula¨r, aber englischen Ursprungs waren,17 mit Bezeichnungen versehen, welche auch auf eine exotische Herkunft schließen ließen: Die eine hieß Pompadour (ein Pinkton), die andere Preußischblau. Diese Farben sind Beispiele dafu¨r, wie ein starker visueller Stimulus, wie zum Beispiel eine Farbe, mit sprachlichen Kategorien kombiniert wurde und so durch die Anspielung auf fremde und unbekannte Orte die Imagination anregte. (Illouz 2011, S. 84 f.)
Mit dem Aufstieg der Warenha¨user ab den 1860er Jahren und der dadurch bedingten enormen Ausweitung und Diversifizierung des Warenangebots fu¨r ein großsta¨dtisches Publikum wandelt sich die Situation grundlegend. Nicht nur vera¨ndern sich die kulturellen Praktiken des Konsums, sondern man versucht u¨ber die Benennung von Waren weit sta¨rker die Konsumentenimagination zu steuern. Wa¨hrend der „Fiktionswert“18 von Waren bei Madame Bovary im Wesentlichen aus der individuellen Zuschreibung von Bedeutung entsteht, wird ab der zweiten Ha¨lfte des 19. Jahrhunderts versucht, diesen Fiktionswert von Waren von außen zu initiieren. Die sprachlichen Kategorien, die bei der Benennung und Konnotierung von Waren eingesetzt werden, beruhen dabei nicht mehr (wie noch bei Madame Bovary) hauptsa¨chlich auf einem exotistischen Eskapismus, sondern sind eingebettet in umfassende kulturelle Narrative, die auf ein differenziertes Wissen u¨ber verschiedene soziale und/oder kulturelle Identita¨ten rekurrieren. Im Katalog des Warenhauses Wertheim aus dem Jahre 1903/04 findet sich ¨ bersicht u¨ber Hemdkragen. Was eine fu¨r diesen Zusammenhang interessante U bei den eingangs genannten Luxusgu¨tern mit einer haptischen und/oder optischen Erfahrung verknu¨pft ist, welche die tatsa¨chliche oder nur zugeschriebene Exotik der Waren erfahrbar machen soll, ist bei den Hemdkragen vollkommen ins Assoziative verschoben. „Mekka“ oder „Kiel“? Auf den ersten Blick scheinen beide Kragen identisch, auch wenn der Preis einen deutlichen Unterschied an¨ hnliches gilt fu¨r „Toscana“ und „Washington“, die sich nur durch einen zeigt. A halben Zentimeter in der Ho¨he zu unterscheiden scheinen. Was Flauberts Roman andeutet, dass Warenkonsum nicht nur zur Steigerung des individuellen Gefu¨hlslebens eingesetzt werden kann, sondern zugleich eine imagina¨re Identita¨t ausgebildet wird, ist bei den Hemdkragen wesentlicher Aspekt der sprachlichen Benennung und Konnotierung: Der Kragen „Lord“ verspricht englischen Adel, „Cambridge“ und „Oxford“ verheißen akademische Wu¨rden, „Washington“, „Kansas“ und „New York“ amerikanischen Lebensstil. 17 In Bezug auf Preußischblau, besser unter dem Namen Berliner Blau bekannt, irrt sich Illouz: Die Rezeptur wurde in Deutschland erfunden (vgl. Kraft 2010). 18 Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich schla¨gt den Begriff „Fiktionswert“ vor, um den imaginativen Wert von Dingen zusa¨tzlich zum Gebrauchs-, Tausch- und Symbolwert zu kennzeichnen (vgl. Ullrich 2006, S. 49).
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„Hemdkragen“, in: Mode-Katalog 1903/04. Warenhaus A. Wertheim. Nachdr. Hildesheim 1979.
Die assoziative Potenz der Eigennamen evoziert passende Kulissen fu¨r Tagtra¨ume und Phantasien. Hinter den Eigennamen, nicht weniger aber auch hinter vordergru¨ndig neutralen sprachlichen Bezeichnungen wie „Sport“ oder „Standard“, stehen spezifische kulturelle Praktiken und symbolische Zuschreibungen. Die Hemdkragen bieten imagina¨re Identita¨ten an, die, wenn mo¨glich, mit den potentiellen Selbstbildern der Konsumenten korrespondieren sollen. Die Dinge, deren Identita¨tsofferten man akzeptiert, werden Teil der eigenen Identita¨t und dru¨cken diese zugleich aus. Schon in Henry James’ Roman Portrait of a Lady (1881) wird dieser Aspekt thematisiert: „I’ve a great respect for things! One’s self – for other people – is one’s expression of one’s self; and one’s house, one’s furniture, one’s garments, the books one reads, the company one keeps – these things are all expressive.“ (James 1998, S. 223; Hervorhebung im Original) Im Vergleich zu Flaubert ist eine deutliche Verschiebung zu spu¨ren. Die Dinge werden hier zu Medien des individuellen Selbstausdrucks. In Bezug zur eigenen
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Individualita¨t und in Abgrenzung zu anderen Individuen gewinnen sie eine distinktive Macht, die sich allerdings keineswegs nur symbolisch verrechnen la¨sst. Die erworbenen Dinge sagen zwar einerseits etwas daru¨ber aus, wer oder was jemand ist, und hierfu¨r ist ein ausgepra¨gtes Differenzierungsvermo¨gen vonno¨ten, um die feinen Unterschiede zwischen den Dingen samt der kulturellen Narrative, die sie begleiten, wahrnehmen und goutieren zu ko¨nnen. Andererseits ko¨nnen sie aber auch eine davon unabha¨ngige Bedeutung fu¨r die eigene Individualita¨t entfalten und diese Bedeutung muss gerade nicht sichtbar sein.19 An die Seite der emotionalen Sehnsu¨chte, imaginierten Identita¨ten und des demonstrativen Konsums gesellen sich narzisstische Identita¨tsprojekte, die den im Zentrum des modernen Konsumismus liegenden Hedonismus weiter forcieren.20 Erst vor diesem Hintergrund wird in ganzer Tragweite sichtbar, was Rachel Bowlby u¨ber die moderne Konsumkultur festgestellt hat: Man kauft nicht nur das, was man haben will, sondern auch das, was man sein will (Bowlby 1985, S. 32). Mit Blick auf den postmodernen Konsumismus heißt es bei Bauman: „Die Hauptattraktion des Shopping-Lebens besteht darin, dass es Neuanfa¨nge und Auferstehungen (Gelegenheiten, ‚neu geboren‘ zu werden) in Hu¨lle und Fu¨lle bietet.“ (Bauman 2009, S. 67) Moderne Identita¨t sei „kein Geschenk […], sondern eine Verurteilung zu lebenslanger harter Arbeit“ (Bauman 2009, S. 144). Dagegen ist der Konsum bei Flaubert noch weit unschuldiger, da er in der Hauptsache selbstbezu¨glich ist. Zwar wird schon bei Madame Bovary spu¨rbar, wie die Dinge die Identita¨t zerstreuen, indem sie die Individualita¨t fo¨rdern. Doch dass daraus eine systematische Vermarktungsstrategie entwickelt wird, wie man es aus dem Wertheim-Katalog ersehen kann, ist ein Aspekt, der erst in der modernen Massen- und Konsumgesellschaft mo¨glich wird.21 Wenn sich die Warenwelt um 1900 konnotativ globalisiert, zielt dies auf eine Individualita¨t ab, 19 Man vgl. hierzu die Reflexionen u¨ber den Zusammenhang von Warenwelt und Fetischisierung bei Bo¨hme (Bo¨hme 2006, S. 285 ff.). 20 Mit der allgemeinen Durchsetzung von Markenprodukten im 20. Jahrhundert wird dieser Prozess noch versta¨rkt (vgl. Hellmann 2003, S. 203). 21 In diesem Zusammenhang sei auf das Pha¨nomen des Window-Shopping hingewiesen, das sich mit der Etablierung großer Schaufenster bei Einzelhandelsgescha¨ften sowie der Pra¨sentation eines regelma¨ßig wechselnden Warenangebotes in diesen Schaufenstern Ende des 19. Jahrhunderts Bahn bricht. Man geht nicht nur Einkaufen, um den notwendigen Bedarf zu decken, sondern verbindet dies vielfach mit einem Bummel durch die Gescha¨ftsstraßen (vgl. Lindemann 2011). Window-Shopping wa¨re in diesem Sinne nicht allein eine kostengu¨nstige Variante, um mittels eines imagina¨ren Warenkonsums emotionale Stimuli fu¨r das Gefu¨hlsleben zu generieren. Es wa¨re zugleich eine Mo¨glichkeit, an diesem Spiel mit imagina¨ren Identita¨ten schon durch das einfache Schauen teilzunehmen. Mo¨glicherweise spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle dafu¨r, dass spa¨testens Ende des 19. Jahrhunderts Einkaufen zu „woman’s work and woman’s recreation“ (Abelson 1989, S. 13) wird. Teilweise fuhren Frauen, wie Abelson in ihren Untersuchungen zum Konsumverhalten viktorianischer Frauen feststellt, sogar zwei- bis dreimal ta¨glich zum Einkaufen.
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die sich immer wieder neu erfinden soll: „Mekka“ oder „Kiel“? „Toscana“ oder „Washington“? Das ist die Frage!22 Vor diesem Hintergrund steht Madame Bovarys unschuldiger Konsum von Dingen zwar schon unter den Vorzeichen der kommenden Warenwelten, bezeichnet dennoch aber noch einen unmittelbaren Bruch damit.
3.
Literatur und Konsumkultur
Man mag die von mir vorgeschlagene konsumgeschichtliche Lektu¨re von Flauberts Roman fu¨r reduktionistisch halten. Gleichwohl hat dieser Zugang den Vorteil, das im Roman hochvirulente Thema des Warenkonsums und die enorme Bedeutung, welche die Dinge fu¨r Madame Bovary haben, in einen gro¨ßeren systematischen und historischen Zusammenhang zu stellen. Der Konsum von Dingen in Flauberts Roman wird damit nicht mehr als irrationaler Impuls interpretiert oder auf eine Manipulation von Außen zuru¨ckgefu¨hrt, sondern in der inha¨renten Logik einer durch den Konsum selbst in Gang gesetzten, sich verselbsta¨ndigenden hedonistischen Wunschmaschine. In ihren Tagtra¨umen und Phantasien taucht Madame Bovary in eine Welt selbst erzeugter Fiktionen ein und fiktionalisiert dabei zugleich ihren Alltag, und zwar im negativen Sinne, um durch den Kontrast ihre in die Zukunft ausgelagerten Traumund Phantasiewelten umso wu¨nschenswerter erscheinen zu lassen. Die Fiktionen von Madame Bovary werden von Dingen angeregt, genauso aber auch aus weiteren Quellen gespeist: aus ihrem teilweise exzessiven Literaturkonsum, wobei der a¨sthetische Wert von Literatur von ihr u¨berwiegend auf den emotionalen Wert reduziert wird (vgl. Felski 1995, S. 83), aus ihrem romantischen Liebesideal und nicht zuletzt aus ihrem Bestreben, nicht provinziell zu sein. Hier wurzelt ihr Interesse an Mode. Campbell hat in seiner Studie u¨ber die Anfa¨nge der Konsumkultur im 18. Jahrhundert herausgestellt, dass zum modernen Hedonismus und Konsumismus klare Verbindungslinien nicht allein vom steigenden Warenkonsum, sondern ebenso von der Mode, von der romantischen Liebeskonzeption sowie 22 Ullrich weist zurecht darauf hin, dass „Kaufhauskataloge des spa¨ten 19. Jahrhunderts bereits fu¨r viele Gebrauchsartikel zahlreiche Varianten im Angebot“ haben, doch ka¨men dabei „erst relativ wenige Unterscheidungskriterien zum Tragen. Vor allem wurde zwischen Designs fu¨r Ma¨nner und fu¨r Frauen getrennt, ebenso sahen Dinge fu¨r Kinder und Jugendliche anders aus als die fu¨r Erwachsene. Feinere soziale Abstufungen und erst recht Mentalita¨tsdifferenzen bildeten sich hingegen nicht ab.“ (Ullrich 2006, S. 20) Das Fazit, das Ullrich zieht, scheint mir kurz gefasst: zum einen, weil „feinere soziale Abstufungen“ allein schon durch den Preis der Waren ausgedru¨ckt werden konnten, zum anderen, weil schon in der Benennung der Waren von vorneherein auf Mentalita¨tsdifferenzen angespielt wird.
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vom zunehmenden Literaturinteresse aus fu¨hren: Der sich Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzende regelma¨ßige Modewechsel korrespondiert mit dem konsumistischen Streben nach immer neuen Stimuli. Neuheit wird zu einem wichtigen Kriterium bei der Beurteilung von Waren, hier Kleidungsstu¨cken (vgl. auch Ko¨nig 2003, S. 344 ff.). Das romantische Liebesideal beinhaltet eine Liebeskonzeption, in der das Streben nach einem ho¨chsten Ideal emotionaler Authentizita¨t im Mittelpunkt steht – ein Ideal, das, gerade weil es kaum je erreichbar ist, zu einer enormen Intensivierung des Gefu¨hlslebens sowohl im positiven wie im negativen Sinne fu¨hrt.23 Die im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmende Popularita¨t des Romans pra¨sentiert dem Lesepublikum nicht nur immer wieder neue exotische Settings, sondern u¨bt es auch im imaginativen und emotionalen Nachvollzug alternativer Identita¨ten und Lebensentwu¨rfe. Alle drei Bereiche sind in dem Bestreben verbunden, Authentizita¨t und Individualita¨t ausdru¨cken bzw. erlebbar zu machen (vgl. Campbell 2004). Alle drei Bereiche stellen damit kulturelle Praktiken bereit, die den fu¨r den modernen Konsumismus typischen Umgang mit Dingen als Stimuli eines intensivierten Gefu¨hlslebens zentral sind. Wolfgang Ullrich spricht sogar von einer „Kultur der Fiktionalisierung“ als Folge des modernen Konsumismus. Die moderne und postmoderne Kultur sei gerade nicht „materialistisch“, bringe sie doch Dinge hervor, die vor allem in Phantasien und als Sinnstiftung eine Rolle spielen. Ihre materiellen Eigenschaften beeinflussen eine Kaufentscheidung oft weniger als ihre Eignung, die Einbildungskraft des Ka¨ufers oder Besitzers zu stimulieren […]. (Ullrich 2006, S. 30) Tra¨fe diese Diagnose zu, wa¨re zu fragen, ob die Verbindungslinien zwischen Literatur, Mode, Warenkonsum und romantischer Liebe nicht weitreichender und engmaschiger sind als bisher angenommen. Die Analyse von Flauberts Roman zeigt, dass Waren- und Literaturkonsum, Mode und Liebe zwar nicht dieselben, jedoch komplementa¨re Funktionen erfu¨llen ko¨nnen. Daru¨ber hinaus wa¨re zu fragen, ob diese Komplementarita¨t, auch und gerade in o¨konomischer Hinsicht, in letzter Konsequenz nicht zu Konkurrenz fu¨hrt. Die Literatur tra¨te damit nicht nur in Konkurrenz zu neuen Medien wie etwa dem Film. Sie stu¨nde gleichfalls in Konkurrenz zu den modernen Konsumwelten. Die – zumindest den Benennungen nach – globalisierte Warenwelt wu¨rde das Material liefern, aus dem das Spiel der Bedeutungen in den Phantasien der Konsumenten und Konsumentinnen gespeist wird.
23 Außer an Madame Bovary wa¨re in diesem Zusammenhang z. B. auch an Goethes Werther zu denken.
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4.
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Kein Fazit – eine These
¨ berlegungen zu einer These u¨ber den Versucht man die vorangegangenen U sozioo¨konomischen Status der Literatur seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu verdichten – ein Status, der umso preka¨rer wird, je weiter sich die moderne Gesellschaft zu einer Massen- und Konsumgesellschaft entwickelt –, so la¨sst dies nur einen Schluss zu: Trotz zahlreicher gegenla¨ufiger Bemu¨hungen seitens der Schriftsteller setzt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch in Bezug auf die Literatur eine konsumistische und hedonistische Haltung durch. Dies erkla¨rt einerseits den bis heute anhaltenden Erfolg der so genannten Trivialliteratur, die, statt auf a¨sthetische Werte zu setzen, hauptsa¨chlich die Emotionen der Leser anspricht. Andererseits wa¨re ein weiterer Grund benannt, warum anspruchsvolle Literatur im 19. Jahrhundert ihre gesellschaftliche Bedeutung und Relevanz zunehmend einbu¨ßt: Sie la¨sst nur bedingt emotionalistische Lektu¨ren zu. Mit dem Aufkommen der modernen Massen- und Konsumgesellschaft wird der Markplatz der Fiktionen nicht mehr einzig von der Literatur besetzt, sondern es tummeln sich auf diesem Marktplatz zahlreiche weitere, einer emotionalistischen Doktrin verpflichtete Konzepte, kulturelle Praktiken und Medien. Wer sich (wie die anspruchsvolle Literatur seit Mitte des 19. Jahrhunderts) der Konkurrenz auf diesem zunehmend globalisierten Marktplatz entzieht, muss damit rechnen, marginalisiert zu werden bzw. nur mehr fu¨r die happy few interessant zu sein. Man mag auch diese sozioo¨konomische Lektu¨re der literaturgeschichtlichen Prozesse seit dem 18. Jahrhundert fu¨r reduktionistisch halten, doch ist es eine Lektu¨re, die bereits in Flauberts Madame Bovary angelegt ist.
Dank Fu¨r wertvolle Diskussionen, Hinweise und Anregungen sowie fu¨r Korrekturen am Manuskript sei herzlich Anya Reichmann und Patrick Stoffel gedankt!
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Nicole Po¨ppel
Weltausstellungen als Schreibsta¨tten des Globalen
Das Konzept der Weltausstellung oder Exposition universelle, das Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommt, entwirft ein Projekt der Weltbeschreibung besonderer Art. Sein Programm begnu¨gt sich nicht damit, das Ganze der Welt, sei es literarisch, sei es ku¨nstlerisch, darzustellen oder abzubilden. Es zielt vielmehr darauf, das Globale im dreidimensionalen Raum auszustellen und es so nicht nur sichtbar oder lesbar, sondern physisch erfahrbar zu machen. Die Weltausstellung pra¨sentiert, wenngleich in verkleinertem Maßstab, ein Modell von Welt, das – wie die Welt im Großen – betreten und begangen und u¨ber sa¨mtliche Sinneswahrnehmungen erschlossen werden kann. Beim Rundgang durch die Ausstellung ero¨ffnet sich dem Besucher zugleich ein imagina¨rer Streifzug durch die verschiedenen kulturellen, o¨konomischen und politischen Ra¨ume der Welt. In dem vorliegenden Beitrag geht es indessen weniger darum, die fu¨r die Exposition universelle spezifische ra¨umlich-physische Modellierung von Welt als solche nachzuzeichnen. Die Untersuchung gilt vielmehr vor allem den publizistischen und literarischen Diskursen, die (schon im unmittelbaren zeitgeno¨ssischen Kontext) an die Ereignisse der Weltausstellungen anknu¨pfen und diese beschreiben und kommentieren. Durch ihren spektakula¨ren Charakter und durch ihren globalen Bezug sind Weltausstellungen in besonderer Weise disponiert, eine nationenu¨bergreifende literarische und massenmediale Diskussion zu stimulieren. In diesem Sinne werden sie zu ‚Schreibsta¨tten des Globalen‘: Die Exposition universelle bietet ein Forum, das es ermo¨glicht, publizistische Debatten zu fu¨hren, die den Zusammenhang des Globalen ero¨rtern und reflektieren. Paris, ‚die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‘, ist mit insgesamt fu¨nf mehrmonatigen Expositions universelles,1 die in den Jahren 1855, 1867, 1878, 1889 1 Der Ausdruck „Exposition universelle“ wird im Deutschen mit „Weltausstellung“ u¨bersetzt. Die Bezeichnung „Expo“ verwende ich zum Zweck der Abku¨rzung synonym mit „Weltausstellung“. Die erste Expo fand 1851 in London unter dem Titel World Fair statt, was den urspru¨nglichen Charakter der den Expos vorangehenden internationalen Gewerbeausstellungen betont.
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und 1900 dort stattfinden, gleichsam Weltausstellungshauptstadt. Man kann sich allein quantitativ die enormen Ausmaße des Interesses an den Großveranstaltungen vorstellen, wenn man beru¨cksichtigt, dass wa¨hrend der fu¨nften Pariser Expo im Jahre 1900 die Besucherzahl einen vorla¨ufigen Ho¨hepunkt von rund 50 Millionen Menschen erreicht. Die Weltausstellungen sind im genannten Zeitraum die einzigen Ereignisse, die regelma¨ßig eine Welto¨ffentlichkeit herstellen.2 Das du¨rfte u. a. darauf zuru¨ckzufu¨hren sein, dass sie „nichts weniger als das Globale zu spiegeln behaupten, wenn auch bei maßstabsgetreuer Reduktion innerhalb eines lokal begrenzten Raums“.3 Wa¨hrend der Großveranstaltungen des 19. Jahrhunderts, die das Ziel verfolgten, die „Welt an einem Ort“4 zu versammeln, kumuliert die internationale Aufmerksamkeit in besonderer Weise. Kaum eine schreibende Zeitgenossin oder ein schreibender Zeitgenosse konnten sich der Anziehungskraft der Expos entziehen, was eine Fu¨lle an erhaltenen Texten – auch fiktionaler Art – dokumentiert.5 Die Bedeutung der Expos als Inspirationsquelle fu¨r ku¨nstlerische, a¨sthetische und kulturelle Studien, Kritiken, Berichte und Reportagen ist bemerkenswert. Dabei betrifft das hohe Publikumsinteresse der ‚universellen‘ Ausstellungen nicht allein die Darbietungen des Fortschritts von Industrie und Technik, die sich in der zentralen Warenschau oder der Errichtung imposanter Bauwerke wie der Maschinenhalle, dem Eiffelturm oder dem Grand Palais niederschlagen. Insbesondere jene Bereiche der Expos, die sich den Repra¨sentationen der Kulturen und Vo¨lker der Welt widmen und diese anhand typischer Bauten wie den La¨nderpavillons und diverser Auffu¨hrungen pra¨sentieren, u¨ben eine große a¨sthetische Faszinationskraft auf die Besucher aus. Die Expos sind im 19. Jahrhundert ein „sujet de de´lire“,6 wie es Gustave Flaubert in seinem Dictionnaire des ide´es rec¸ues unter dem Stichwort „Exposition“ verzeichnet. Als einen solchen, allseits Interesse weckenden Gegenstand ¨ ffentlichkeit parodiert der deutsche Schriftsteller und Sader publizistischen O tiriker Julius Stettenheim (1831 – 1916) die Weltausstellungen des Nachbarlands Frankreich. Sein Werk mit dem Titel Wippchen’s sa¨mmtliche Berichte versammelt in insgesamt 16 Ba¨nden aus den Jahren 1878 bis 1903 Korrespondentenberichte von den internationalen (Kriegs-)Schaupla¨tzen der Zeit. Die Autorfigur, der Kriegsreporter „Herr Wippchen aus Bernau“, schreibt fiktive Reportagen ‚Welto¨ffentlichkeit‘ wird immer als Teilo¨ffentlichkeit verstanden. Vgl. Kaiser 2003, S. 1. Geppert 2010, S. 94. Buchtitel Wo¨rner 2000. Charles Baudelaire sowie auch The´ophile Gautier schreiben als Kunstkritiker u¨ber die Ausstellungen der Beaux-Arts auf der Expo 1855. Siehe auch Hu¨lk 2010, S. 91 – 108. Die Schriftstellerin Judith Gautier bescha¨ftigt sich auf der Expo 1900 u. a. mit japanischer Musik und Tanz, was folgende Publikation dokumentiert: Gautier 1900. 6 Flaubert 1964, S. 308.
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und sendet diese zur Vero¨ffentlichung an seine Redaktion in Berlin – so auch zur Expo 1878. Den fiktiven Charakter der Reportagen und die Ta¨uschungsversuche des eifrigen Journalisten vorzufu¨hren, ist, wie der folgende Antwortbrief der Redaktion auf Wippchens Bericht zur Pariser Ausstellungsero¨ffnung von 1878 zeigt, Teil der Satire-Strategie: Sie schreiben am 30. April: ‚So eben komme ich von der morgen stattfindenden Ero¨ffnung der Weltausstellung‘ und schildern dieselbe dann mit einer Ausfu¨hrlichkeit, die wir bewundert ha¨tten, wenn wir nicht dahinter gekommen wa¨ren, daß Sie mit liebenswu¨rdiger Unbefangenheit einen Bericht von der Ero¨ffnung der Weltausstellung vom Jahre 1867 abgeschrieben hatten. Nicht einmal Napoleon III. hatten Sie gestrichen und in Mac Mahon umgewandelt. Wir bitten Sie, nicht in dieser Weise fortzufahren. […] Die Redaktion7
Der Spott dieser Passage zielt zuna¨chst auf die große Regelma¨ßigkeit, mit der Frankreich Weltausstellungen ausrichtet. Des Weiteren richtet sich die Kritik gegen die inflationa¨re Auftragsschreiberei, die das o¨ffentliche Interesse an den ¨ ffentlichkeit, Expos mit sich bringt. Die Verfahrensweisen der publizistischen O ¨ die Verfu¨hrung des Journalisten zu Ubertreibungen und Lu¨gen angesichts der Sensationslu¨sternheit des Publikums bilden den kritischen Hintergrund der Erfindung des „Herrn Wippchen“. ¨ ffentlichkeit zu den WeltausAn den Befund einer breiten internationalen O stellungen schließt sich die Frage an, inwiefern die Expos als literarische Schreibsta¨tten auch Diskurse des Globalen aufgreifen, begru¨nden oder womo¨glich sogar spezifische Schreibweisen von Globalita¨t hervorbringen. Einen Ausgangspunkt fu¨r die Beobachtung von Weltdiskursen und Aspekten der Weltdarstellung in der Expo-Literatur bieten vor allem solche Texte, die die Ausstellungsrealita¨t der Expos als repra¨sentatives Weltmodell8 in Augenschein nehmen. In Hans-Christian Andersens Ma¨rchen Die Dryade (1868) nimmt die Illustration der Weltausstellungskulisse einen wichtigen Teil der literarischen Darstellung ein. „Wir reisen nach Paris zur Ausstellung“ – so beginnt das Ma¨rchen, dessen Handlungsort die zweite Pariser Expo von 1867 ist. Den unweigerlichen Sog, den die Weltausstellung auf die Besuchermassen ausu¨bt und der auch die Protagonistin ergreift, wird in der ma¨rchenhaften Erza¨hlung eindrucksvoll geschildert: Hierher stro¨men sie vom fru¨hen Morgen bis zum spa¨ten Abend. Dampfschiff an Dampfschiff, mit Menschen u¨berfu¨llt, gleitet die Seine hinab, die Menge der Wagen nimmt stetig zu, Straßenbahnen und Omnibusse sind vollgepfropft, gestopft, und 7 Stettenheim (Hg.) 1887, S. 1 f. [Hervorhebung im Original] Zit. nach: http://gutenberg. spiegel.de/buch/1103/1 [25. 05. 2010]. 8 Vgl. auch Barth 2007, S. 9.
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garniert mit Menschen. All diese Stro¨me bewegen sich einem Ziele zu, der Pariser Ausstellung. Alle Einga¨nge sind mit Frankreichs Fahnen geschmu¨ckt; rings um den Bazar der La¨nder wehen die Fahnen aller Nationen; es summt und brummt aus der Maschinenhalle heraus, die Melodien der Glockenspiele klingen von den Tu¨rmen herab, die Orgel spielt in den Kirchen, heisere, na¨selnde Gesa¨nge aus den Cafe´s des Orients mischen sich hinein. Es ist wie ein babylonisches Reich, eine babylonische Sprache, ein Weltwunder.9
Andersens Ma¨rchen illustriert die auf die Expo zulaufenden Bewegungen, deren ¨ berfu¨llung Intensita¨t sich vor allem in der Verdichtung des Verkehrs und der U der Fortbewegungsmittel zu Land und zu Wasser manifestiert. Diese Bewe¨ bersetzung) mit dem Ausdruck des „Stro¨mens“ gungen, die (in der deutschen U umschrieben werden, lenken die Aufmerksamkeit auf einen Mittelpunkt hin: die „Pariser Ausstellung“. Die Beschreibung wendet sich von außen (den „Einga¨ngen“ des Gela¨ndes) nach innen immer kleineren Elementen des Schauplatzes zu, bis sie in einen syna¨sthetisch verdichteten, „ma¨rchenhaft“ anmutenden Mikrokosmos mu¨ndet, in dem Kla¨nge aus ‚Orient‘ und ‚Okzident‘, Kunst („Gesa¨nge“) und Industrie („Maschinenhalle“) zu einem „babylonischen Reich“ verschmelzen. Der Vergleich mit Babylon als Anspielung auf die biblische Sprachverwirrung dient Andersen als Mittel, jene disparaten Eindru¨cke der Kulisse auf dem Marsfeld zu illustrieren, die durch das Zusammentreffen der unterschiedlichsten Kulturen und Stile entstehen. Die Anspielung auf Babel/ Babylon wird im spa¨ten 19. Jahrhundert zu einem Topos der Weltausstellungsliteratur. Auch der franzo¨sische Schriftsteller Jean Lorrain (1855 – 1906) greift in seinen Artikeln zu den Expos 1889 und 1900 darauf an mehreren Stellen zuru¨ck.10 Der folgende Passus aus einer seiner Reportagen zum Weltausstellungsbesuch vom 21. April 1889 schildert einen a¨hnlichen Eindruck wie Andersens Text: Et tout autour, comme si un capricieux Gargantua avait vide´ dans le Champ-de-Mars les diffe´rents mode`les d’une boıˆte de constructions, jouets pour enfants ge´ants, c’est une de´route, une de´bandade de toutes les architectures entasse´es et jete´es la` au hasard, des doˆmes, des terrasses, toits pointus ou plats, chalets suisses ou mosque´es, des carre´s de marabouts, clochetons a` jour, tourelles en poivrie`res, moucharabieh et balcons cre´nele´s, toutes les fantaisies et tous les styles meˆle´s a` toutes les e´poques […].11
Der Ausschnitt zeigt ebenfalls den Versuch, einen Gesamteindruck vom Marsfeld – so der Name des Ausstellungsgela¨ndes – wiederzugeben. Die zusammengedra¨ngte Ansammlung unterschiedlichster Elemente vermittele den Ein9 Andersen 1979, S. 203 f. ¨ berschrift seiner Artikel zur Expo 1889: „La grande foire cos10 Siehe die entsprechende U mopolite et babylonienne“. Lorrain 2002, S. 17. 11 Ebd., S. 23.
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druck, als habe der launische Riese Gargantua seine Spielzeugkiste auf dem Marsfeld ausgeleert. Jene zufa¨llige Anordnung der „Spielzeuge fu¨r Riesen-Kinder“ – in Wirklichkeit die offiziellen Bauten in Form der La¨nderpavillons – wirke wie eine chaotische „Flucht“ aus diversen Geba¨uden wie „Domen“, „Moscheen“ und Bauten mit „flachen und spitzen Da¨chern“, die Stile aus verschiedenen Epochen versammeln. Allein mittels der literarischen Darstellung kann der Autor die disparate Wahrnehmung zu einem Gesamtbild komprimieren und wiedergeben: „Der u¨berwa¨ltigend große, bunte Anblick muß in kleine Teile zerlegt, muß zu einem Spielzeug zusammengedra¨ngt werden, um wiedergegeben und in seiner Ganzheit erfaßt werden zu ko¨nnen.“12 Andersen greift zur Beschreibung des Weltausstellungsgela¨ndes bezeichnenderweise genau wie Lorrain auf einen Spielzeugvergleich zuru¨ck. Die Spielzeugmetapher scheint aussagekra¨ftig fu¨r die Wahrnehmung des Weltmodells zu sein. „Wie ein großer Weihnachtstisch trug das Marsfeld ein Aladinschloß der Industrie und Kunst, und um dieses herum waren Nippes aus allen La¨ndern ausgestellt, […] jede Nation fand eine Erinnerung an ihre Heimat.“13 Die Metapher des Aladinschlosses versinnbildlicht, dass die Ausstellungen einen ‚exotischen‘ Gesamteindruck hervorbringen und dabei sowohl die ra¨umlich fernen als auch die genuin eurozentrischen Ausstellungsformen von Kunst und Industrie einschließen. Beide Texte legen nahe, dass die Expo-Besuche – und seien es auch imagina¨re – eine Bildlichkeit und spezifische Darstellungsweisen befo¨rdern, die mit der Neuartigkeit der a¨sthetischen Eindru¨cke verknu¨pft sind.14 Die Darstellung des Expo-Gela¨ndes als disparater Mikrokosmos hat zwar seine Referenz in der Wirklichkeit (nur nachgebildet als Spielzeug oder eben als eine „Erinnerung“ daran in Form von „Nippes“)15 und verweist auf eine globale Realita¨t; in seiner konkreten Erscheinung wird er aber gern in phantastischen Kategorien und Genres oder auch teils in Form von fiktionalen Reisereportagen beschrieben: ¨ gyptens Ko¨nigsschloß, dort die Karawanserei des Wu¨stenlandes; der Hier stand A Beduine hatte sein Sonnenland verlassen und jagte auf seinem Kamel vorbei, hier breiteten sich russische Sta¨lle aus, mit feurigen, pra¨chtigen Hengsten der Steppen; das kleine, strohgedeckte da¨nische Bauernhaus mit seiner Danebrogsfahne stand neben Gustav Wasas ho¨lzernem Hause aus Dalarne mit den herrlichen Schnitzereien; amerikanische Hu¨tten, englische Cottages, franzo¨sische Pavillons, Kioske, Kirchen und Theater lagen ringsumher wunderlich verstreut, und dazwischen frischer gru¨ner Rasen, klares quellendes Wasser, blu¨hende Bu¨sche, seltene Ba¨ume, Glasha¨user, in 12 13 14 15
Andersen 1975, S. 202. Ebd. Vgl. zur „Simultaneita¨t“ Barth 2007, S. 21. Siehe mit Perspektive auf die Bedeutung der Mensch-Ding-Relation innerhalb der ExpoKultur sowie grundsa¨tzlich zu Andersens Ma¨rchen Die Dryade: Felcht 2010.
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denen man sich in die tropischen Wa¨lder versetzt glaubte; ganze Rosenga¨rten, aus Damaskus geholt, blu¨hten unter einem Dache. Welche Farben, welch ein Duft!16
Die Schilderungen zeigen, dass die Expos einen „a¨sthetisch verdichteten Wahrnehmungsraum“17 hervorbringen, der das ‚Fremde‘, das ‚Andere‘, das Vergangene und Zuku¨nftige in einem Erfahrungshorizont der Na¨he erlebbar machen. In der literarischen Darstellung a¨ußert sich diese Verschra¨nkung von Ferne und Na¨he vor allem in den ra¨umliche Gegensa¨tze beschreibenden Pronomen „hier“ und „dort“, wa¨hrend die Wahrnehmung des Verschiedenen und Disparaten und die Koinzidenz der Sinneseindru¨cke (der Farben, des Dufts) durch die unmittelbare Folge der Aufza¨hlung zu einem „wunderlichen“ Gesamteindruck zusammengefu¨gt werden. Die Beispiele spiegeln einen Diskurs wider, der die Expo als eine fu¨r den Besucher betretbare Welt interpretiert, als eine Art phantastisches Konstrukt, einen ku¨nstlichen Erfahrungsraum im Miniaturformat. Der durch den Begriff der Exposition universelle gesetzte Anspruch der Universalita¨t wird hier durch eine Zurschaustellung voneinander sonst entfernter Kulturen und Landschaften umzusetzen versucht. Bestimmend fu¨r die Wahrnehmung und Darstellung von Welt, wie sie der Diskurs der Weltausstellungen vorfu¨hrt, ist ein Verfahren der raumzeitlichen Verdichtung des Hier und Dort, des Fru¨her und Jetzt, das die divergenten Aspekte globaler Erfahrungen zu einem syna¨sthetischen Gesamteindruck zusammenfu¨hrt. Die Ausstellung der Welt und des ‚Weltwissens‘ funktioniert auf den Expos vor allem u¨ber symbolische Ordnungen visueller Art: Architektur(en) und Performances sind wichtige Elemente der Repra¨sentationen und Exotismus ist ein wichtiges produktions- und rezeptionsa¨sthetisches Muster.18 Die strenge sinnstiftende Ordnung und Systematik, die das Ausstellungskonzept bestimmen, scheint dabei in Widerspruch zu stehen zu dem chaotischen19 Moment des subjektiven Erlebens, dem unterdessen in der Disposition der Expo und deren literarischer Darstellung eine wichtige Rolle zukommt. Eben jenes subjektive Moment erlaubt es, Unterschiede zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Anderem‘ wahrzunehmen und eine Reflexion dieser Differenz anzustoßen. Literatur hat in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung. Wenn zum Beispiel der franzo¨sische Schriftsteller und Journalist Jean Lorrain in einem seiner Artikel zur Weltausstellung 1889 eine Gruppe junger javanischer Ta¨nzerinnen, die auf den Expos auftreten, mit Figuren aus Kunst und Weltliteratur vergleicht, so verdeutlicht dies, wie sich die Wahrnehmung der Expo auch aus verbreiteten exotistischen Vorstellungswelten der Literatur und Kunst speisen: 16 17 18 19
Andersen 1975, S. 202 f. Bollenbeck 1986, S. 294. Vgl. Rinco´n 2000, S. 357. Vgl. Kaiser 2003, S. 1.
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Et ce sont en effet deux petites Salambos [sic] javanaises, des de´esses Carthaginoises, reˆve´es par Gustave Flaubert et habille´es par Gustave Moreau, qui se contournent et se tordent avec des lenteurs et des souplesses de reptile sacre´, et reptile est effectivement l’impression que donnent leurs petits membres greˆles et jaunes, anguleux et mous, plus jaunes encore sous le safran, dont elles sont frotte´es et qui fait comme une aure´ole et un halo d’or paˆle a` leurs danses de reˆve, impression bizarre; elles re´pugnent et attirent, et elles troublent et retiennent; elles ont a` la fois le charme et l’effroi d’une danse de fantoˆme, l’ensorcellement malsain et prenant d’un cauchemar, le frisson d’un vision.20
Die Auftritte der Javanerinnen, die Lorrain mit Verweis auf Flauberts Roman und Moreaus Gema¨lde als „Salammboˆs“ bezeichnet, sind ein popula¨res Beispiel fu¨r jene ‚exotischen‘ Spektakel, die wa¨hrend der Expos das kulturelle Unterhaltungsprogramm fu¨llen. Lorrains Beschreibung speist sich aus ga¨ngigen Stereotypen: Die Ta¨nzerinnen werden mit Tieren verglichen und als wild und geheimnisvoll inszeniert, was sie als typische Projektion des ‚orientalisch‘21 Weiblichen der okzidentalen Vorstellungswelt erscheinen la¨sst. Jenseits der exotistischen Interpretationen solcher Auffu¨hrungen tragen die Darbietungen und Zeugnisse jedoch auch zum zirkulierenden Wissen u¨ber die (‚fremden‘) Kulturen der Welt bei. In diesem Zusammenhang lassen sich zahlreiche Reportagen anfu¨hren, die sich der Dokumentation einzelner Sektionen der Ausstellungsbereiche widmen.22 Da viele der Reportagen aus den umfassenden, meist bebilderten Sammelba¨nden wie der Revue de l’Exposition Universelle auf einer Mittendrin-Perspektive der Journalisten gru¨nden, vermitteln sie neben Informationen auch anschauliche Eindru¨cke von Erlebnissen und Begegnungen, die auf Veranstaltungsbesuche zuru¨ckgehen. Der Schriftsteller Paul Bourde (1851 – 1914) verfasst beispielsweise eine Reportage zur so genannten „Straße von Kairo“; dem Nachbau eines Kairoer Straßenzugs, der eine beliebte Publikumsattraktion der Weltausstellung 1889 darstellt. Einen der Reize der Expo, so Bourde, mache die Einfachheit aus, mit der man dort von einem Ort zum anderen u¨bergehen ko¨nne: Nicht einmal in Siebenmeilenstiefeln ko¨nne man schneller reisen. Auch fu¨r Bourde bieten sich demnach Ma¨rchenmotive an, wenn es darum geht, die besondere Wirkung der Weltausstellungen zu illustrieren: Un des grands charmes de l’Exposition est la facilite´ avec laquelle on y passe d’un pays dans l’autre. Les bottes de sept lieues ne vous feraient pas voyager plus vite. En quelques pas, la rue du Caire, par exemple, vous transporte en E´gypte. Vous y eˆtes. Et s’il vous faut un effort d’esprit, ce n’est pas pour vous croire sur les bords du Nil, c’est au contraire pour vous rappeler que vous n’avez pas quitte´ le Champ de Mars.
20 Lorrain 2002, S. 42. 21 Zum ‚Orientalismus‘ siehe Mitchell 2002, S. 148 – 176. 22 Siehe z. B. Alexandre 1889.
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Le succe`s de ce coin de l’Exposition a e´te´ imme´diat et comme foudroyant. […] Car tout y est authentique. Les vingt-cinq maisons qui la composent reproduisent exactement des types choisis dans le Caire parmi les plus caracte´ristiques.23
Den „blitzartigen“ Erfolg „dieser Ecke“24 der Expo fu¨hrt Bourde auf die ver¨ gypten bzw. Kairo hier repra¨sentiert meintliche Authentizita¨t zuru¨ck, mit der A werde. Die Rue du Caire hielt fu¨r Besucherinnen und Besucher neben dem Nachbau der typischen Ha¨user eine Reihe von Spektakeln wie Eselritte und Tanzauffu¨hrungen bereit. Das Expo-Konzept soll den ganzen Globus – in diesem Falle die a¨gyptische Hauptstadt – und insbesondere ferne, fu¨r die meisten Besucher unbekannte und unerreichbare Orte erlebbar machen. Man mu¨sse dort, so Bourde, keinerlei Anstrengung unternehmen, um zu glauben, dass man an den Ufern des Nils sei, im Gegenteil: Mu¨he koste es allein, zu realisieren, dass man sich nach wie vor auf dem Marsfeld befinde. Eine ra¨umliche Na¨he des sonst Fernen hebt – wenn auch aus politischer Sicht – ebenfalls Victor Hugo hervor. Eine Weltausstellung, das sei „die Welt nebenan“,25 so fasst der Schriftsteller sein Pla¨doyer fu¨r die integrative Funktion der Expos in der Einleitung zum offiziellen Paris-Fu¨hrer von 1867: „Qu’est-ce qu’une exposition universelle? C’est le monde voisinant. On va causer un peu ensemble. On vient comparer les ide´als. Confrontation de produits en apparence, confrontation d’utopies en re´alite´.“26 Hugo ist einer der bekannten Autoren, die an der repra¨sentativen Publikation der Exposition universelle von 1867, dem Paris-Guide, verfasst von den „wichtigsten Ku¨nstlern und Schriftstellern Frankreichs“,27 mitwirkt und dort eine ideologische Position zur Bedeutung der Weltausstellungen vermittelt. Nicht zufa¨llig betont er die friedliche Intention des internationalen Ausstellungsformats und ihres Wettbewerbscharakters. Wa¨hrend die Expos von offizieller Seite stets als symbolische Friedensfeiern zwischen den Vo¨lkern und als Orte interkultureller Versta¨ndigung in Szene gesetzt werden, bietet die Widerspru¨chlichkeit zwischen proklamierten Friedensutopien auf der einen und realpolitischen Konflikten auf der anderen Seite Anlass fu¨r Spott und Kritik. Dass sich die Repra¨sentationen der Expos na¨mlich auch an der zeitgeno¨ssischen Realita¨t messen lassen mu¨ssen, zeigt der Schriftsteller Gaston Bergeret in seinem (semi)fiktionalen Journal d’un ne`gre a` l’exposition de 1900. Darin setzt der Ich-Erza¨hler mehrfach die reale weltpolitische Situation mit der Expo-Wirklichkeit in Beziehung – hier am Beispiel der Burenkriege:
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Bourde 1889, S. 73 – 76. ¨ bersetzung N. P.] Ebd. [U ¨ bersetzung N. P.]. Hugo 1867, S. XXXVII [U Ebd. ¨ bersetzung N. P.]. Untertitel des Paris-Guide 1867 [U
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Comment pourrait-on nier que l’Exposition rapproche les peuples? Il y a au Trocade´ro une ferme Boe¨r tout a` coˆte´ d’un pavillon du Cap, qui est une colonie anglaise. Cependant les Anglais et les Boe¨rs ne s’y battent pas comme au Transvaal. Il suffit qu’ils soient dans l’Exposition pour qu’ils s’abstiennent de donner au monde le spectacle des horreurs de la guerre. L’Exposition, c’est la paix.28
Der Textauszug setzt mit der rhetorischen Frage ein, wie man leugnen ko¨nne, dass die Expo die Vo¨lker einander anna¨here. Die nachfolgende Beschreibung liest sich wie eine Parodie der Leitmotive der Expo-Programmatik in offiziellen Dokumenten wie dem Hugos. Um die kritische Perspektive seiner Aufzeichnungen hervorzukehren, bedient sich Bergeret einer stereotypen Tarnung in Form der Autorfigur des „ne`gre“. So heißt es am Ende des Textes, dieser sei „Traduit du ne`gre par Gaston Bergeret“. Diese Fiktionalisierungsstrategie ist die Grundlage fu¨r seinen kritisch-humoristischen Essay, der ausgewa¨hlte Stationen eines Ausstellungsbesuchs der Expo 1900 beschreibt. Der Beobachter wird mit den Illustrationen Henry Somms als Schwarzer im Stil des bu¨rgerlichen Flaneurs29 – mit Anzug, Zylinder, Gehstock und Zigarre – interpretiert. Er hetzt durch die verschiedenen Bereiche der Expo und konzentriert sich im Gegensatz zur sonst u¨blichen, alles einschließenden Dokumentationskultur der Expos auf selektive Aspekte. Die Beschreibung artikuliert damit eine implizite Kritik an der oberfla¨chlichen Schaukultur. Sie konterkariert ein an Sensation und Konsum ausgerichtetes Interesse, ebenso wie die vorgegebene Authentizita¨t der dargebotenen kulturellen Repra¨sentationen der La¨nder, die als ku¨nstliche und unechte entlarvt werden. So la¨sst sich Bergerets Autorfigur u. a. zur algerischen Sektion im Trocade´ro aus: C’est au Trocade´ro que sont les principales attractions. […] Les alge´riens ont baˆti tout un quartier, ou` ils sont comme chez eux: ils fabriquent devant le public, ils trouvent meˆme le moyen de vendre quelquefois des choses tre`s laides de leur pays, et ils sont d’une familiarite´ e´tonnante avec les femmes: ils leurs donnent de petits noms d’amitie´, les tutoient et les retiennent par le bras ou par la jambe. Elles se laissent faire parce que c’est un trait de mœurs. Je n’aurais jamais cru qu’un pays aussi grand et aussi peuple´ que l’Alge´rie puˆt vivre des ressources que lui procure la production des pastilles du se´rail et des roses de Je´richo. Je n’ai pu trouver dans aucun restaurant du couscoussou, du lait de chamelle ou de l’eau-de-vie de dattes; il n’y a que du filet aux pommes et des bocks. Cela prouve que la cuisine franc¸aise est la meilleure de toutes, puisque tous les peuples l’adoptent. Beaucoup de personnes se sont e´tonne´es de ne pas voir de femmes arabes. 28 Bergeret 1901, S. 13 f. 29 Die auf den ersten Blick stereotyp-rassistisch anmutende Figur des „ne`gre“ lese ich als Maskerade des Autors, die eine kritische Außensicht auf den Wandel von Kulturmustern im Kontext der Globalisierung unterstreichen soll. So wird z. B. das Flanieren als franzo¨sisches Muster der Großstadterfahrung des 19. Jahrhunderts angesichts des Massenspektakels und der dominierenden neuen Schaukultur durch den eiligen, als Dandy gekleideten Ausstellungsbesucher als u¨berkommen dargestellt.
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Cela prouve, au contraire, avec quel soin l’Exposition a e´te´ pre´pare´e. Puisqu’en Alge´rie les femmes arabes ne se laissent pas voir, une Alge´rie ou` l’on verrait des femmes arabes serait une fausse Alge´rie. Il y en a peut-eˆtre, mais on les cache.30
Die ironische Passage ist nicht frei von chauvinistischen Bemerkungen bezu¨glich der herausragenden Stellung franzo¨sischer Kultur, doch letztlich wird auch diese wiederum reichlich untypisch charakterisiert: „bocks“ und „filet de pommes“ du¨rften wohl kaum zu den franzo¨sischen Spezialita¨ten za¨hlen – und natu¨rlich noch weniger das kulinarische Angebot Algeriens repra¨sentieren. Bergeret bringt eine klassische Expo-kritische Skepsis zur Sprache, die zur Jahrhundertwende hin u¨brigens ha¨ufiger formuliert wird, und zwar, dass die Repra¨sentation der Kulturen vielmehr den Anschein reiner Konsumkultur vermittle. Er bema¨ngelt die fehlende Authentizita¨t der vorgestellten Lebenswelt, die gerade der außergewo¨hnliche Umgang mit den Frauen illustriere, und davon zeuge, dass hier keinesfalls Algerien vorgestellt werde, sondern ein „falsches Algerien“. Der Authentizita¨tstopos der Ausstellungen bietet zur Jahrhundertwende hin zunehmend Anlass zu Diskussionen und la¨dt teilweise sogar dazu ein, stereotype Darstellungen vorzufu¨hren und auf ihren Gehalt hin zu u¨berpru¨fen. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Expos im 19. Jahrhundert nicht nur Bilder und Wahrnehmungen des ‚Anderen‘ formen und so ein hegemoniales Weltmodell vermitteln, sondern dass durch sie eine Art „globaler Kommunikationsraum“31 entsteht. Wenn wir mit Beat Wyss unter Globalisierung „den weltweit unmittelbaren und gleichzeitigen Austausch von Information und Kommunikation verstehen, so waren die Weltausstellungen der erste Versuch, die Welt als homogenen Ort der Erfahrung fu¨r ein Massenpublikum lesbar zu machen.“32 Insbesondere die Ausstellungsbereiche, die die Kulturen der Welt und deren Geschichte vorstellen, dienen als Anlass, Identita¨t und Alterita¨t im Horizont des neuen Erfahrungsraums – einer im 19. Jahrhundert aufkommenden Vorstellung der „Welt als Einheit“33 – zu denken und zu reflektieren. Wa¨hrend die vorgestellten Texte Lorrains und Andersens wegen der vera¨nderten Wahrnehmungsbedingungen zuna¨chst auf die Erfahrung der Heterogenita¨t und Diversita¨t abheben, kann man mit Blick auf die publizistische Expo-Rezeption durchaus davon sprechen, dass sich Perspektiven ergeben, die neben den Eindruck vom chaotischen „babylonischen Reich“ auch eine Vorstellung der Expo als Begegnungsort und ‚Kommunikationsraum‘ treten lassen. Die fu¨r die Weltausstellung charakteristischen Verfahrensweisen der Modellierung und Erzeugung von Welt werden letztlich selbst zum Gegenstand des Diskurses erhoben. 30 31 32 33
Bergeret 1901, S. 20 – 22. Kaiser 2003, S. 3. Wyss 2010, S. 34. Bollenbeck 1986, S. 289.
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Selbstversta¨ndlich folgt daraus nicht automatisch eine grundlegende Revision und Auflo¨sung stereotyper und hegemonialer Denk- und Darstellungsweisen, was Bergerets Journal belegt. Die Frage nach einer unreflektierten Fortschreibung oder einer etwaigen Umkodierung stereotyper Darstellungsmuster des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ im globalen Kontext vielmehr im jeweiligen Einzelfall stets neu zu stellen.34 Alles in allem werden die Expos aber keinesfalls nur als ku¨nstliches Weltmodell interpretiert. Sie gelten zudem, sowohl ihrem eigenen Anspruch nach als auch in der Wahrnehmung und Deutung ihrer Betrachter, als Zeichen bzw. Zeichenensembles, die Referenz herstellen, die auf eine außersprachliche Wirklichkeit Bezug nehmen. Dabei verweisen sie auf eine globale Wirklichkeit, innerhalb derer Kultur(en) und Identita¨ten nicht mehr per se als voneinander abgrenzbar verstanden werden ko¨nnen.
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Simone Sauer-Kretschmer
¨ do¨n von Die Inszenierung von Welt und ihre Grenzen – O Horva´ths Alfons Kobler zu Besuch auf der Weltausstellung in Barcelona
Weltausstellungen bezeichnen nicht nur einen Raum, in dem Bereiche der Welt modellhaft vorgefu¨hrt und wie in einem Museum zur Schau gestellt werden. Sie sind auch Orte bzw. Ereignisse, von denen aus publizistische und literarische Diskurse u¨ber die Welt und u¨ber die Weltausstellungen gefu¨hrt werden. An diese Auffassung der expositions universelles als „Schreibsta¨tten des Globalen“, wie sie Nicole Po¨ppel im vorangehenden Beitrag des vorliegenden Bandes dargelegt hat, knu¨pfen die folgenden Ausfu¨hrungen an. Dabei konzentrieren sich meine Untersuchungen vor allem auf eine bestimmte Ausformung der literarischen Thematisierung von Weltausstellungen, na¨mlich einer Spielart des literarischen Diskurses, die das genannte Sujet im Modus der Ironie und der satirischen Kritik behandelt. In diesen kritisch-satirischen Adaptationen des Motivs u¨berlagert und verbindet sich, so la¨sst sich beobachten, die literarische Rede u¨ber die Weltausstellungen mit einem anderen insbesondere fu¨r die Epoche o¨konomischer Globalisierung relevanten gesellschaftlichen Diskurs – dem Diskurs u¨ber ¨ berlegungen mo¨chten zeigen, wie sich diese die Prostitution. Die folgenden U beiden Diskussionsstra¨nge in literarischen Texten miteinander verschra¨nken und einander wechselseitig beleuchten. Die erste Weltausstellung, die auch als solche bezeichnet wurde, fand 1851 in London statt und ging als so genannte Great Exhibition in die Geschichte ein. Dies verdankte sie nicht zuletzt der architektonischen Glanzleistung Joseph Paxtons, dessen Konstruktion des vielleicht beru¨hmtesten Ausstellungsgeba¨udes, des Crystal Palace im Hyde Park, fu¨r Furore sorgte. Sie dauerte 141 Tage und konnte eine Besucherzahl von mehr als sechs Millionen Menschen verzeichnen. Damit verlief sie nicht nur wesentlich erfolgreicher als von ihren Planern erhofft, sondern wurde „mit all ihren Begleiterscheinungen – vom Eintrittsgeld der Gastronomie, den Toilettenanlagen, dem Sicherheitsdienst [und] den organisierten Reisen […]“1 zu einer bisher beispiellosen Massenveranstaltung. Die Idee, multinationale Industrieerzeugnisse auszustellen, stammt jedoch nicht aus 1 Vgl. Kretschmer 1999, S. 52.
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England, sondern aus Frankreich, wohin sie mit fu¨nf Weltausstellungen bis zum Jahre 1900 auch mehrfach zuru¨ckkehrte.2 In der Zurschaustellung materieller, technischer und wissenschaftlicher Errungenschaften des industriellen Zeitalters dienten die Ausstellungen als „Forum nationaler Selbstdarstellungen“3 und es begann ein internationaler Wettbewerb, in dem es darum ging, jede kommende Weltausstellung zu einem noch gro¨ßeren und beeindruckenderen Spektakel werden zu lassen als ihre Vorga¨nger-Ausstellungen. An diesem Grundprinzip des ‚ausstellenden Wettru¨stens‘ hat sich bis heute nicht viel gea¨ndert, wie der Ru¨ckblick auf die letzte Weltausstellung 2010 in Shanghai beweist. Denn auch diese Expo erregte nicht etwa wegen ihres Mottos „Better City, Better Life“ Aufsehen, sondern vielmehr aufgrund der chinesischen Umsiedlungspolitik. Man ließ ca. 18.000 Familien in neue Wohnviertel am Stadtrand von Shanghai umziehen, um ausreichend Platz fu¨r die Expo 2010 zu schaffen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte.4 Dennoch wird aus 160 Jahren Ausstellungsgeschichte ersichtlich, dass jede Weltausstellung den Versuch unternimmt, das Konzept des Weltausstellungswesens individuell weiter zu entwickeln. Es zeigt sich, dass die Inszenierungsmo¨glichkeiten des Ausstellens von Welt und Welten im Prinzip uner¨ berscho¨pflich sind. Das Projekt der Weltausstellung setzt so eine Logik der U bietung in Gang, die sich in der sprachlichen Selbstbeschreibung der Ausstellungen in einer Rhetorik der Superlative niederschla¨gt. Zudem spiegelt jede Weltausstellung die internationalen politischen Verha¨ltnisse zwischen Gastgeber- und Gastla¨ndern wider und legt jedes Mal aufs Neue fest, was eine Gruppe von Organisatoren unter den Begriffen ‚Welt‘, ‚Wissen‘ und ‚Ausstellung‘ verstehen und pra¨sentieren will. Die Darstellung von Maschinen, technischen Errungenschaften und sich vorstellenden Konzernen spielte dabei schon von Beginn an eine wichtige Rolle, spa¨testens mit der Weltausstellung 1933 in Chicago – und sechs Jahre spa¨ter in New York – erreicht die „Symphonie des modernen Kapitalismus“5 jedoch eine neue Ebene, da die Bedeutung der Konzerne nun der der Nationen in nichts mehr nachsteht. Die Geschichte der Weltausstellungen la¨dt somit dazu ein, Ausstellungshistorie und Weltgeschichte eng zu fu¨hren und ihren wechselseitigen Verflechtungen zu betrachten. Die Weltausstellungen erweisen sich so retrospektiv als Ereignisse, in denen sich gesellschaftspolitische Tendenzen und Entwicklungen bu¨ndeln und reflektieren.6 2 Zur Geschichte der franzo¨sischen Weltausstellungen vgl. den Beitrag von Nicole Po¨ppel im vorliegenden Band. 3 Fuchs 2002, S. 205. 4 Vgl. Lorenz 2010, verfu¨gbar unter : http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ 0,1518,687457,00.html [25. 05. 2011]. 5 Kretschmer 1999, S. 185. 6 Dabei ist immer auch besonders interessant, wie das Gastgeberland mit potenziellen Ga¨sten
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Die historischen Weltausstellungen bieten ein u¨beraus breites Spektrum fu¨r interessante wissenschaftliche Untersuchungen der Geschichts- oder Kulturwissenschaft, der Ethnologie oder der Kunstgeschichte, um nur einige Disziplinen zu nennen, die sich mit den Ausstellungen, ihren Exponaten, Diskursen und Meta-Diskursen auseinander setzen. Zahlreiche mit den Weltausstellungen verbundene Pha¨nomene und Aspekte sind noch kaum erforscht. So fehlt zum Beispiel bislang eine Geschichte der wenig erfolgreichen bzw. gescheiterten Weltausstellungen. Nicht weniger interessant wa¨re es, die Planungen und Vorbereitungen jener Weltausstellungen nachzuzeichnen, die schließlich gar nicht stattgefunden haben, wie die geplanten Expositionen 1942 in Rom oder 1995 in Wien und Budapest. Begibt man sich in diesen Bereich, so befindet man sich auch schon an einer Schnittstelle zwischen politisch-gesellschaftlicher Geschichte und der Ideenund Diskursgeschichte der Ausstellungen, die sich nicht zuletzt in literarischen Texten artikuliert. Im fiktionalen Raum erza¨hlender Literatur tauchen Entwu¨rfe von Weltausstellungen auf, die zu Schaupla¨tzen der Handlung werden. Eine solche literarische Darstellung von Weltausstellungen mo¨chte ich im Folgenden ¨ do¨n von am Beispiel eines literarischen Textes, na¨mlich des ersten Teils von O Horva´ths dreiteiligem Roman Der ewige Spießer (1930), der den bezeichnenden Titel „Herr Kobler wird Paneuropa¨er“ tra¨gt, nachzeichnen. Zu untersuchen ist dabei insbesondere die Frage, inwieweit sich in diesen textuellen Inszenierungen von Ausstellungen eine konkrete Kritik am Konzept der Weltausstellungen und an deren Inszenierungscharakters artikuliert.
Herr Kobler wird Paneuropa¨er – Die Weltausstellung im Bordell und als Warenhaus Horva´ths Protagonist Alfons Kobler ist mit Hilfe eines Betrugs plo¨tzlich zu Geld gekommen und mo¨chte dieses in seine Zukunft investieren. Dabei schla¨gt er einen recht ungewo¨hnlichen Weg ein, denn das Geld soll ihm dabei helfen, in der Ferne eine reiche Frau kennen zu lernen, die Kobler in Zukunft aushalten wu¨rde. Die Idee zu diesem Unterfangen stammt von Koblers Freund, dem Grafen Blanquez, der Alfons ra¨t, sich gemeinsam mit ihm fu¨r zehn Tage in einem Luxushotel einzumieten, denn dort wu¨rde man unter Garantie eine wohlhabende Dame ausfindig machen ko¨nnen. Als Vorbild dient der Glu¨cksfall eines weiteren Bekannten, der sich in einem Grandhotel in Meran einlogiert hatte, ¨ gypterin kennenlernte und ihr in ihre Heimat folgte, wo ihm dort eine reiche A verfa¨hrt, welchen La¨ndern wie viel Ausstellungsfla¨che zugesprochen oder wer gar nicht erst eingeladen wird.
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mittlerweile die Ha¨lfte des Landes geho¨re, so der um Alfons’ Gesellschaft werbende Graf. Das Beispiel des glu¨cklichen Bekannten hinterla¨sst einen bleibenden ¨ gypterin fu¨r ihn zu Eindruck bei Alfons Kobler. Von nun an wird die ersehnte A einem Emblem des Wohlstands und allem materiell sowie in Liebesdingen Erstrebenswerten.7 Allerdings entscheidet Alfons sich fu¨r ein anderes Reiseziel, das ihm seine Wirtin Frau Perzl anpreist: Aber wenn ich Sie wa¨r, wu¨rd ich morgen direkt nach Barcelona fahren, dort ist doch jetzt grad eine Weltausstellung. Da mu¨ssens in gar kein Luxushotel, da ko¨nnens solche ¨ gypterinnen leicht in den Pavillonen kennenlernen, das ist immer so in WeltausA stellungen. In der Pariser Weltausstellung hab ich mal meinen Seligen verloren, und schon spricht mich ein eleganter Herr an, und wie ich ihn anschau, macht er seinen Ulster auf und hat nichts darunter an, ich erwa¨hn das nur nebenbei.8
Die Weltausstellung erscheint hier als ein Ort, an dem andere Gesetzma¨ßigkeiten gelten als außerhalb in der Welt, welche die Ausstellung im eigentlichen Sinne zu repra¨sentieren sucht. Daru¨ber hinaus betont der zitierte Ratschlag einen zentralen Aspekt des Geschehens, indem er den Fokus nicht auf die dargebotenen Exponate legt, sondern auf die Menschen, die diese betrachten. So stellt die Masse der Ausstellungsbesucher – die, wie Alfons Kobler auch, zum Teil aus der Ferne angereist sind und aus fremden La¨ndern stammen – womo¨glich eine Verdopplung des vielgestaltigen Ensembles der Kulturen dar, das die Ausstellung vorzufu¨hren versucht. Mehr noch: Sie stellt womo¨glich die Pluralita¨t und Verschiedenheit der Nationalita¨ten und Kulturen authentischer dar als es das ku¨nstliche Welten-Arrangement der Expo vermag. Um seine Reisepla¨ne zu konkretisieren begibt sich Alfons Kobler kurz darauf in ein amtliches Reisebu¨ro, das ihm mittels exotischer Plakate von Palmen und Eisbergen das Gefu¨hl suggeriert, er sei schon jetzt auf Reisen und nicht mehr daheim.9 Ein Eindruck, den andere Besucher des Reisebu¨ros zu teilen scheinen, denn bevor Kobler bedient werden kann, sind zwei vornehm gekleidete Damen an der Reihe, die sich ausfu¨hrlich u¨ber mo¨gliche Reiseziele informieren lassen, was sie gern und regelma¨ßig zu tun pflegen, sind sie doch im Reisebu¨ro schon gut bekannt: „Sie kamen ja auch jede Woche und erkundigten sich nach aller7 Besonders die franzo¨sische Literatur und Kunst zeigt sich ab dem 19. Jahrhundert nachdru¨cklich vom Orientalismus beeindruckt. Dabei spielen immer wieder Vorstellungen einer exotischen Erotik eine Rolle, so ist z. B. in E´mile Zolas Nana nach dem Verschwinden der großen Kurtisane aus Paris davon die Rede, dass sie mo¨glicherweise in einem Bordell in Kairo arbeite. Eine Idee, die einige Jahre spa¨ter von Frank Wedekinds Lulu wieder aufgegriffen wird, ¨ gypten verschifft zu werden. (Wedekind lebte als die Protagonistin damit erpresst wird, nach A ¨ gyptens in der einige Zeit in Paris und bezieht sich mit Lulu eindeutig auf Nana.) Zum Bild A franzo¨sischen Literatur, vgl. Bernsen 2011. 8 Horva´th 1995b, S. 147. 9 Vgl. Horva´th 1995b, S. 148.
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hand Routen. Gefahren sind sie aber noch nirgends hin, denn sie kamen mit ihrem Geld grad nur aus. Sie holten sich also jede Woche bloß die Prospekte, und das genu¨gte ihnen.“10 Horva´th greift an dieser Stelle das verbreitete Reisebedu¨rfnis seiner Zeitgenossen auf, das sich in der deutschen Zwischenkriegszeit entwickelt und sich nachhaltig auf die Tourismusbranche auswirkt. Nicht mehr nur der begu¨terten Oberschicht vorbehalten, sondern auch der Mittelschicht und zum Teil den Arbeitern zuga¨nglich, erfa¨hrt das Reisen eine grundlegende Neubewertung, wie Christine Keitz ausfu¨hrt: „Vormals als ‚Luxusgut‘ oder ‚Bourgeoisieangelegenheit‘ gerade in den mittleren und unteren Schichten verpo¨nt, galt es nun als wirtschaftliche Notwendigkeit und als ein Bedu¨rfnis aller.“11 Wa¨hrend die beiden Damen sich jedoch zum wiederholten Male mit einer Phantasiereise begnu¨gen mu¨ssen, bucht Alfons Kobler eine Zugfahrt nach Barcelona. Verschiedentlich wird dabei aber deutlich, dass Kobler sich auf ein Unterfangen einla¨sst, von dem ihm selbst nicht ganz klar ist, was ihn dazu bewogen haben mag. Das ausschlaggebende Argument bleibt die Suche nach der ersehnten Go¨nnerin, denn an den kulturellen Scha¨tzen Barcelonas hat Kobler keinerlei Interesse, wie er es zuvor seiner Wirtin gegenu¨ber deutlich macht: „Also fu¨r die Kunst hab ich schon gar nichts u¨brig! Haltens mich denn fu¨r weltfremd? Dafu¨r interessieren sich doch nur die Weiber von den reichen Juden, wie die Frau Autoba¨r, die von der Gotik ganz weg war und sich von einem Belletristen hat bearbeiten lassen!“12 Horva´th schickt damit in Gestalt des Alfons Kobler eine Figur auf Reisen, die mit ihrem Entschluss einem zeitgeno¨ssischen Trend folgt, aus dem sich der Massentourismus entwickeln wird. Als Motor der erwachten Reiselust fungierten dabei u. a. Tageszeitungen, von denen es in den 1920er Jahren in Deutschland rund 3300 verschiedene gab und die das Interesse weckende Reisebeilagen, Werbung oder Reisereportagen enthielten, da die Kommunen und Landesverkehrsverba¨nde regelma¨ßig Journalistenfahrten veranstalteten.13 Wa¨hrend seiner Zugfahrt durch Teile Europas lernt Kobler unterschiedliche Personen mit divergierenden politischen Ansichten kennen. Kobler teilt eigentlich keine der mit ihm diskutierten Ideologien, erscheint er doch zuna¨chst als recht unpolitischer Mensch, der nicht viel u¨ber die Welt und ihre politische Lage nachdenkt und hauptsa¨chlich an seinem eigenen Wohlergehen interessiert ist. Als ihm der Journalist Rudolf Schmitz, mit dem Kobler gemeinsam nach Barcelona fahren wird, offenbart, dass er den Zug in Marseille verlassen will, um 10 11 12 13
Ebd., S. 148 f. Keitz 1997, S. 70. Horva´th 1995b, S. 146. Vgl. Keitz 1997, S. 69.
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die „vor allem vo¨lkerkundlich sehr interessante Hafenstadt“14 kennenzulernen, kann dies fu¨r Kobler nur eins bedeuten: „Dieses Marseille muß ja eine großartige Hurenstadt sein, ich hab mirs auch schon u¨berlegt, ob ichs mir nicht anschauen sollt, aber vielleicht rentiert es sich doch nicht, ich bin na¨mlich sehr mißtrauisch.“15 Mit dieser Aussage fasst Kobler seine Denkweise und kapitalistisch orientierte Ethik pointiert zusammen: All seine Unternehmungen mu¨ssen fu¨r ihn perso¨nlich profitabel sein, andernfalls kann er sich nicht fu¨r sie begeistern. Er folgt dem Journalisten nach Marseille, da die Hafenstadt fu¨r ihr „beru¨hmte[s] Bordellviertel, du¨ster und dreckig, ein wahres Labyrinth“,16 bekannt ist. Schon hier, so die These, beginnt die perso¨nliche Weltausstellung des Alfons Kobler, noch weit vor seiner Ankunft in Barcelona. Dabei wird das Bordell als ra¨umliches Pendant zur Weltausstellung entworfen, so wie Kobler sie verstehen will: An beiden Orten lassen sich exotische Frauen kennenlernen und es gelten andere Regeln als in der bu¨rgerlichen Gesellschaft. Alfons Kobler befindet sich auf Vo¨lkerschau, wenn er ein franzo¨sisches Bordell namens „Chez Madeleine“ aufsucht: Denn sowohl die dort einkehrenden Ga¨ste, als auch die dort arbeitenden Prostituierten kommen aus allen erdenklichen La¨ndern und sprechen sogar insgesamt 14 verschiedene Sprachen, wie er anerkennend feststellt.17 Als besonders exotisch empfindet Kobler die Anwesenheit einer ‚Negerin‘ in dieser Bar, die sich durch ihren „grellroten Turban und einen ganz anderen Gang als ihre weißen Kolleginnen“ von der „gemeinsame[n] Note der Europa¨erinnen“ unterscheidet.18 Diese Klassifizierung von Frauen anhand ihrer Rassen, denen besondere erotische Eigenschaften und Fertigkeiten zugesprochen werden, ist in der literarischen Darstellung von Bordellszenarien nicht neu.19 Wenn diese aber auf dem Weg zu einer Weltausstellung stattfindet, deren Interesse es u. a. auch ist, die Welt und ihre Errungenschaften systematischen Ordnungen zu unterwerfen, so ist dies auch als Kritik an den Praktiken des Weltausstellungswesens zu verstehen, die sich teilweise drastischer Methoden bedienten, um Nicht-Industrienationen in das Schauspiel der Weltausstellungen zu integrieren. Gemeint sind ethnographische Vo¨lkerschauen, die, scheinbar wissenschaftlich motiviert, den vorrangig europa¨isch-nordamerikanischen Betrachtern Exoten und Wilde der Su¨dsee, des Orients, Asiens, Su¨damerikas, Afrikas, kurz: alles irgendwie 14 15 16 17 18 19
Horva´th 1995b, S. 180. Ebd. Ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 203 f. Ebd., S. 204. Beispielsweise in Guy de Maupassants Geschichte La Maison Tellier, die von einem kleinen normannischen Bordell und seinem Personal erza¨hlt. Dort erfolgt eine Typisierung der Huren anhand ihrer a¨ußeren Merkmale, die sie daru¨ber hinaus dazu veranlassen, bestimmte Rollen – wie die ‚scho¨ne Ju¨din‘ – zu spielen.
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Andersartige zu pra¨sentieren suchten. In diesen ethnographischen Do¨rfern sollte dem zahlenden Publikum der Alltag fremder Kulturen na¨her gebracht werden und die dort ausgestellten Menschen kamen der Aufforderung nach, sich selbst lebensecht zu spielen.20 Was sie tatsa¨chlich darboten, war jedoch ein fiktives Bild oder eine exotische Phantasie, so wie die Planer der Ausstellungen sie sich fu¨r ihre Besucher ausdachten. Zu welchem Widersinn der Versuch, Authentizita¨t zu inszenieren, fu¨hren kann, das hat schon Franz Kafka in einer kurzen Notiz im Oktavheft G (18. Oktober 1917–Ende Januar 1918) zum Ausdruck gebracht: Der Neger, der von der Weltausstellung nachhause gebracht wird und, irrsinnig geworden von Heimweh, mitten in seinem Dorf unter dem Wehklagen des Stammes mit ¨ berlieferung und Pflicht die Spa¨ße auffu¨hrt, welche das euernstestem Gesicht als U ropa¨ische Publikum als Sitten und Gebra¨uche Afrikas entzu¨ckten.21
Die oft unfreiwillige, naive Selbstdarstellung exotischer Kulturen, wie sie auf den Weltausstellungen des 19. und des fru¨hen 20. Jahrhunderts praktiziert wurde, entha¨lt offensichtlich Aspekte der Prostitution, u. a. weil in beiden Fa¨llen an Ko¨rperlichkeit gebundene Phantasiebilder zum Konsum freigegeben werden, die den Menschen zur Ware degradieren.22 Was la¨ge also fu¨r Alfons Kobler na¨her, als auf dem Weg zu einer der „Wallfahrtssta¨tten zum Fetisch Ware“,23 wie Walter Benjamin die Weltausstellungen in den Expose´s seines Passagen-Werkes bezeichnet, im Bordell Station zu machen, um sich dort einer Warenwelt zu widmen, die auch den Menschen konsumierbar macht und damit ethnographischen Vo¨lkerschauen korrespondiert? Horva´th ist ein politischer Schriftsteller, der sich als Chronist seiner Zeit verstanden hat und insbesondere ein großes Interesse an den Defiziten der gesellschaftlichen Ordnung zeigte, wie Christian Schnitzler bemerkt: „Dabei werden gerade gesellschaftliche Pha¨nomene wie Prostitution und Arbeitslosigkeit fu¨r die Darstellung der zumeist hoffnungslosen Situation der Akteure herangezogen.“24 Prostitution ist in diesem (historischen) Kontext ein wichtiges Thema, fu¨r Horva´th besonders unter dem Gesichtspunkt des Verha¨ltnisses von Sexualita¨t und Kapitalismus. So ra¨t im zweiten Teil von Der ewige Spießer ein wohlmeinender Nachbar der arbeitslosen Anna Pollinger : „Heutzutag muß man auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Ich verlange zwar keineswegs, daß Sie sich prostituieren, aber ich bitte Sie um Ihretwillen, praktischer zu wer¨ ber die immense Bedeutung, die der Begriff der ‚Echtheit‘ bei der Anku¨ndigung und 20 U Beschreibung zeitgeno¨ssischer Vo¨lkerschauen spielt, vgl. Mergenthaler 2005, S. 19 ff. 21 Kafka 1992, S. 64. 22 Vgl. Kuchenbuch 1992, S. 151. 23 Benjamin 1982, S. 50. 24 Schnitzler 1990, S. 24.
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den!“25 Das sogenannte ‚praktische Denken‘ ist Alfons Kobler zu einem ko¨rperlichen Habitus geworden, wie seine einseitig motivierte Suche nach der fu¨r ¨ gypterin illustriert. Und so ko¨nnte auch von ihm der Satz ihn passenden A stammen, den Horva´ths Erza¨hler des Romans Sechsunddreißig Stunden ausspricht, wenn vom eindeutigen „Warencharakter der Sexualita¨t im Kapitalismus“26 die Rede ist: „Na¨mlich, daß die ganze Liebe nur eine Frage der kaufma¨nnischen Intelligenz ist.“27 So spielt Horva´ths Text mit Analogiebildungen zwischen Weltausstellung, Vo¨lkerschau und Bordellwesen, aus dem Blickwinkel eines ‚praktisch denkenden‘ Menschen, der die Welt als Warenhaus betrachtet. Dabei nutzt Horva´th die Reiseerfahrungen seines Antihelden Alfons Kobler, um eine implizite Kritik an den Weltausstellungen zu formulieren, die sich gegen den Versuch richtet, Authentizita¨t ku¨nstlich hervorzubringen. Pra¨sentiert die Weltausstellung doch nur einen subjektiven Eindruck von Welt,28 der wiederum nur einer begrenzten Zuschauerschaft zuga¨nglich ist: „Vor den Toren der Weltausstellung stand das Volk, das den Eintritt nicht zahlen konnte, und sah also von draußen diesen Fortschritten zu, aber es wurde immer wieder von der Polizei vertrieben, weil es den Autos im Wege stand.“29 Im Verlauf des Romans wird Alfons Kobler mehr und mehr bewusst, dass er sich mo¨glicherweise mit falschen Erwartungen auf die Reise begeben hat und sowohl sein Traum von der ersehnten Liebschaft als auch die Weltausstellung als ein Ort, an dem man die Welt kennenlernen kann, eine Illusion bleiben werden. So empfindet er ein diffuses Misstrauen, als er in Barcelona ankommt. Kobler gewinnt den Eindruck, einer Ta¨uschung anheim zu fallen: Denn weder erwarten ¨ gypterinnen, noch beeindruckt ihn die Welt ihn hier Heerscharen exotischer A inner- und außerhalb des Ausstellungsareals. Im Gegenteil, auch hier fu¨hlt Kobler sich nicht mehr sicher, ist er doch in einem Hotel untergebracht, das „fast ein Wolkenkratzer [ist], ein Spekulationsobjekt in der Na¨he der Weltausstellung, das sehr zerbrechlich war – wahrscheinlich brauchte es nur u¨ber die Dauer der Horva´th 1995c, S. 237. Schnitzler 1990, S. 49. Horva´th 1995a, S. 112 f. Horva´th hatte Barcelona im September 1929 tatsa¨chlich selbst bereist, einen kurzen Eindruck seiner dort gesammelten Eindru¨cke gibt eine Postkarte wieder, die er an Katharina Leitner schrieb: „Liebe Kathl, – alsdann bin ich hier. Es ist nicht gerade gemu¨tlich hier, aber das Bier ist a¨hnlich, wie in Bayern. Auf der Fu¨rstalm. Hab grad an Stierkampf gesehn. Abscheulich. Eckelhaft. Ich fahr auch in 2 Tag wieder nach Marseille. Nach Frankreich. Es ist ¨ do¨n.“ (zit. nach Abdruck der Postkarte in: Lunzer / halt doch anders. Herzlichst! Dein O Lunzer-Talos / Tworek 2001, S. 76.) Auch eine Notiz u¨ber seinen Aufenthalt in Marseille ist u¨berliefert: „In Marseille ist der Mittelpunkt des farbigen Lebens der alte Hafen, und der Mittelpunkt dieses alten Hafens ist das Bordellviertel.“ (zit. nach: Krischke 1988, S. 54.) 29 Horva´th 1995b, S. 220.
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Weltausstellung zu halten.“30 Die Ku¨nstlichkeit der Weltausstellung als inszeniertes Spektakel durchbricht die Grenzen des Ausstellungsraumes, so dass an Alfons Kobler der Zweifel nagt, was an seiner Umgebung noch echt ist und was nicht. Der Besuch der Weltausstellung wird folgerichtig zu einer Entta¨uschung fu¨r Alfons Kobler, hat doch der Autopalast bloß Autos zu bieten, der Flugzeugpalast nur Flugzeuge, der Seidenpalast Seide und der italienische Palast Mussolini. Im spanischen Palast gibt es ebenfalls fu¨r Kobler nichts zu entdecken, ¨ lbildern, die ihn langweilen.31 Eine – nicht unbedingt bloß eine Reihe von O erfreuliche – Ausnahme bildet dabei der Missionspalast: Der Missionspalast war sehr interessant, na¨mlich das war eine original vatikanische Ausstellung. Man mußte extra Eintritt zahlen, aber außerdem wurde man auch noch in sinniger Weise auf Schritt und Tritt angebettelt, wie dies halt bei allen Vertretern des Jenseits u¨blich ist. Aber man konnte auch was sehen fu¨r sein Geld, na¨mlich was die Missiona¨re von den armen Primitiven zusammengestohlen und herausgeschwindelt hatten ad maiorem bu¨rgerlicher Produktionsweise gloriam.32
Auch an dieser Stelle wird die gesellschafts- und religionskritische Haltung Horva´ths deutlich, die er anhand der Verfahrensweisen der Weltausstellungen exemplifiziert. Fu¨r Alfons Kobler ha¨lt die Zeit in Barcelona jedoch noch eine weitere Niederlage bereit: Das Fra¨ulein Rigmor, das Kobler und Schmitz schon im Zug nach Barcelona kennenlernen und mit der Alfons eine stu¨rmische Nacht verbringt (auch wenn sie nicht aus einem orientalischen Land, sondern der Arbeiterstadt Duisburg stammt), wird von ihrem Verlobten in Spanien aufgesucht, so dass die Liaison mit Kobler ein ja¨hes Ende nimmt. Der Bra¨utigam ist ein amerikanischer Milliona¨r, den das Fra¨ulein Rigmor schon allein deswegen heiraten muss, um der Firma ihres Vaters ausla¨ndisches Kapital zu sichern. So sieht sich Alfons Kobler mit seinen eigenen ‚praktischen‘ Waffen geschlagen und zu einem neuen Feindbild wird Amerika, das der Journalist Schmitz beim Abschied von Kobler folgendermaßen kommentiert: „Mit Amerika kann man halt nicht konkurrieren!“33 Erneut versucht er daraufhin Alfons fu¨r die paneuropa¨ische Idee zu begeistern, dem die verarmte Europa¨erin, die ¨ bersee verkaufen muss, zu einem deprimierenden Symbol wird.34 sich nach U Damit hat der Besuch der Weltausstellung und die dorthin unternommene Reise aus Kobler keineswegs einen weltoffeneren Menschen gemacht – allein sein Feindbild und die Grenzen dessen, was er zu tolerieren bereit ist, haben sich verschoben. Horva´th formuliert auf diese Weise nicht nur eine Kritik an der 30 31 32 33 34
Ebd., S. 215. Ebd., S. 218. Ebd., S. 219. Ebd., S. 228. Ebd., S. 229.
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Praxis des Weltausstellens, sondern daru¨ber hinaus auch eine Kritik an seiner Zeit, die sowohl Menschen als auch Meinungen dem Ausverkauf feilbietet.
Literaturverzeichnis Benjamin, Walter: „Das Passagen-Werk. Expose´s. Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ [1935], in: Benjamin, Walter : Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenha¨user. Bd. 5,1: Das Passagen-Werk. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1982, S. 45 – 59. ¨ gyptens in der franzo¨sischen Literatur Bernsen, Michael: Der Mythos von der Weisheit A der Moderne. Go¨ttingen 2011. Fuchs, Eckhardt: „Popularisierung, Standardisierung und Politisierung: Wissenschaft auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts“, in: Bosbach, Franz / Davis, John R. (Hg.): Die Weltausstellung von 1851 und ihre Folgen. The Great Exhibition and its Legacy. Mu¨nchen 2002, S. 205 – 221. ¨ do¨n von: Sechsunddreißig Stunden. Roman [1929], in: Horva´th, O ¨ do¨n von: Horva´th, O Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelba¨nden. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit v. Susanna Foral-Krischke. Bd. 12: Der ewige Spießer. Frankfurt a. M. 1995, S. 9 – 125. (= Horva´th 1995a) Ders.: Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen. Erster Teil. Herr Kobler wird ¨ do¨n von: Gesammelte Werke. Bd. 12, S. 131 – 231. Paneuropa¨er [1930], in: Horva´th, O (= Horva´th 1995b) Ders.: Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen. Zweiter Teil. Fra¨ulein Pol¨ do¨n von: Gesammelte Werke. Bd. 12, linger wird praktisch [1930], in: Horva´th, O S. 232 – 256. (= Horva´th 1995c) Kafka, Franz: „Oktavheft G“ [1917 – 1918, zuerst vero¨ffentlicht: 1931 unter dem Titel „Betrachtungen u¨ber Su¨nde, Leid, Hoffnungen und den wahren Weg“], in: Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II in der Fassung der Handschriften. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a. M. 1992, S. 29 – 78. Keitz, Christine: „Grundzu¨ge einer Sozialgeschichte des Tourismus in der Zwischenkriegszeit“, in: Brenner, Peter J. (Hg.): Reisekultur in Deutschland: Von der Weimarer Republik zum ‚Dritten Reich‘. Tu¨bingen 1997, S. 49 – 71. Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt a. M. / New York 1999. Krischke, Traugott: Horva´th-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1988. Kuchenbuch, Thomas: Die Welt um 1900. Unterhaltungs- und Technikkultur. Stuttgart / Weimar 1992. Lunzer, Heinz / Lunzer-Talos, Victoria / Tworek, Elisabeth: Horva´th. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzburg / Wien / Frankfurt a. M. 2001. ¨ sthetik der Mergenthaler, Volker : Vo¨lkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur A Transgression (1897 – 1936). Tu¨bingen 2005. Schnitzler, Christian: Der politische Horva´th. Untersuchungen zu Leben und Werk. Frankfurt a. M. / Bern / New York (u. a.) 1990.
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Internetquellen Lorenz, Andreas: „Weltausstellung in Shanghai. Umweltho¨lle mit therapeutischer Wirkung“, in: Spiegel Online. 07. 04. 2010, verfu¨gbar unter : http://www.spiegel.de/wirt schaft/soziales/0,1518,687457,00.html [25. 05. 2011].
Keyvan Sarkhosh
Die Welt als Archiv – Stanley Kubricks Napoleon-Projekt
1.
Kubricks Waterloo
Im Jahr 2005 hat der Ko¨lner Taschen-Verlag unter dem Titel The Stanley Kubrick Archives1 einen umfangreichen Band publiziert, der im ersten Teil zahlreiche ‚Stills‘ aus Kubricks Filmen zeigt, im zweiten Teil aber vor allem einige hundert Bilder, Aufzeichnungen, Entwu¨rfe, Requisiten und andere Dokumente aus dem Nachlass des Regisseurs reproduziert. Darunter befinden sich, ebenso wie im ein Jahr zuvor erschienen Katalog zur Stanley-Kubrick-Ausstellung des Deutschen Filmmuseums und des Deutschen Architektur Museums Frankfurt a.M.,2 zahlreiche Dokumente und Abbildungen zu Kubricks nie realisiertem Filmprojekt u¨ber das Leben Napoleon Bonapartes. Die Idee des Archivs gleichsam wiederaufgreifend hat der Taschen-Verlag unter dem Titel Stanley Kubrick’s Napoleon: The Greatest Movie Never Made im Jahr 2009 eine limitierte Sammlerausgabe und dann im Jahr 2011 eine unlimitierte Sonderausgabe3 auf den Markt gebracht, die neben wissenschaftlichen und filmhistorischen Essays, Interviews, Kubricks Treatment und der finalen Fassung des Drehbuchs vor allem Abbildungen eines Großteils von Kubricks nachgelassenem Napoleon-Archiv umfasst. Die ersten Vorbereitungen und Notizen zum Napoleon-Projekt reichen in das Jahr 1967 und damit in die Postproduktionsphase von 2001: A Space Odyssey (1968) zuru¨ck.4 Das Drehbuch war im September 1969 fertiggestellt.5 Doch Metro-Goldwyn-Mayer zog sich bereits im Januar 1969 vom Projekt zuru¨ck. Der Grund fu¨r diese Entscheidung du¨rfte darin liegen, dass parallel zu Kubricks Vorhaben mit Waterloo ein russisch-italienischer Film unter der Regie von Sergei Bondarchuk und mit Rod Steiger in der Rolle Napoleons entstand. 1 2 3 4 5
Castle 2005. Eichhorn 2004. Castle 2011. Vgl. Magel 2004, S. 164 f. Vgl. Kubrick 2011, S. 649 – 838.
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Keyvan Sarkhosh
Kubricks Projekt ging u¨ber an die United Artists, doch nachdem Waterloo (1970) an den Kinokassen gefloppt war, legte auch die United Artists das Vorhaben ad acta.6 Zwar machte sich Kubrick noch zu Beginn der 1970er Jahre Hoffnungen, seinen Napoleon-Film realisieren zu ko¨nnen.7 So verku¨ndet er auf einer auf den 20. 10. 1971 datierten Produktionsnotiz: „I expect to make the best movie ever made“,8 und unterbreitet dabei Vorschla¨ge zu einer kostengu¨nstigen Produktion. Letztlich wandte er sich mit Barry Lyndon (1975) aber einem anderen Stoff zu, der im 18. Jahrhundert spielt und in den viele der Vorarbeiten des NapoleonProjekts einflossen.9 Der Vergleich liegt auf der Hand: Napoleon wurde zu Kubricks Waterloo. Die Gru¨nde fu¨r das Nichtzustandekommen des Films mo¨gen indes nicht allein den a¨ußeren produktionstechnischen Umsta¨nden geschuldet sein. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob die Ursache des Scheiterns womo¨glich in Kubricks Anspruch einer mo¨glichst vollsta¨ndigen und akkuraten Abbildung einer historischen ‚Welt‘, ihrer Ereignisse und Personen im fiktionalen Film zu suchen ist. Das Napoleon-Projekt scheint ein geeignetes Beispiel, um dem Wechselverha¨ltnis von Weltbezug, Welterzeugung und ‚Welthaltigkeit‘ im Spannungsfeld von Fiktion und historischer Realita¨t nachzugehen, und dabei die Frage zu ero¨rtern, inwieweit sich fiktionale Welten als aus diversen Quellen speisende Archive verstehen lassen. Letztlich kann dies als Beleg dafu¨r gelesen werden, dass eine vollsta¨ndige ‚Welthaltigkeit‘ nicht erreicht werden kann.
2.
Vollsta¨ndige Weltbeschreibung und das reale Archiv
Auf die Frage, warum er einen Film u¨ber Napoleon machen wolle, antwortete Kubrick 1970 im Interview mit Joseph Gelmis: To begin with, he fascinates me. His life has been described as an epic poem of action. His sex life was worth of Arthur Schnitzler. He was one of those rare men who move history and mold the destiny of their own times and of generations to come – in a very concrete sense, our own world is the result of Napoleon, just as the political and 6 Vgl. Magel 2004, S. 156 und Castle 2011, S. 37. 7 Im Interview mit Penelope Huston, erschienen in der Saturday Review vom 25. 12. 1971, erkla¨rt Kubrick, dass er im Anschluss an A Clockwork Orange (1971) gedenke, sein NapoleonVorhaben zu realisieren, wenngleich in kleinerem Maßstab: „I plan to do Napoleon next. It will be a big film but certainly not on the scale that big films had grown to just before the lights went out in Hollywood.“ (Huston 2001, S. 114; Hervorhebung im Original) Und auch im in der Fru¨hjahrsausgabe 1972 der Filmzeitschrift Sight and Sound abgedruckten Interview mit Philip Strick und Penelope Huston besta¨tigt Kubrick, dass er dabei sei, weiter an Napoleon zu arbeiten (vgl. Strick / Huston 2001, S. 138). 8 Abgedruckt in Castle 2011, S. 643 und in Magel 2004, S. 157; vgl. auch Magel 2011, S. 37. 9 Zum Scheitern des Napoleon-Projekts vgl. ausfu¨hrlich Magel 2011, S. 36 – 38.
Die Welt als Archiv – Stanley Kubricks Napoleon-Projekt
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geographical map of postwar Europe is the result of World War II. And, of course, there has never been a good or accurate movie about him.10
Kubrick sah die Herausforderung darin, einen historisch genauen Film u¨ber Napoleon zu schaffen11 – und zwar vor allem u¨ber den Menschen Napoleon.12 Obgleich der Regisseur darauf verweist, dass Napoleons politisches wie milita¨risches Handeln die Nachwelt nachhaltig vera¨ndert und gepra¨gt habe, verliert sein Drehbuch hierzu, wie Eva-Maria Magel betont, kein Wort: „Its silence on this point is eloquent: Kubrick’s screenplay at no time reaches out from the film to address the audience in its real-life world.“13 Seine Absicht war es vielmehr, die Zeit und die Ereignisse um Napoleon, seine Gefa¨hrten und seine Gegenspieler als eine in sich geschlossene, in ihren historischen Umsta¨nden jedoch lebendige Welt darzustellen, „getting a sense of reality about the daily life of the characters“, wie der Regisseur selbst erla¨utert, und hinzufu¨gt: „You have to get a feeling of what it was like to be with Napoleon.“14 Gene D. Phillips bringt es auf den Punkt: „Kubrick, in short, wanted to present the past as a vivid present when he made a historical film, to portray the past as it was to the people living it.“15 Kubrick ging es also darum, die napoleonische Welt als in sich abgeschlossen, dafu¨r aber vollsta¨ndig zu rekonstruieren und zu Leben zu erwecken – und zwar gleichsam in einer maximal mo¨glichen Extension, wie Kubricks Schwager Jan Harlan (zugleich dessen einstiger Produktionsassistent und jetziger Nachlassverwalter) ausfu¨hrt: For Kubrick, Napoleon offered a chance to make a big epic film on sweeping subjects: an important episode in European history, a compelling personality, a unique historical figure, a tale that embraces glamour, revolution, romance, envy, intrigue and betrayal, battles on land and sea, and above all, power. It was a chance to portray all of Europe and North-Africa – from Lisbon to Moscow, from the dry deserts of Egypt to the snowy wastes of the Russian steppes – in an era of upheaval.16
Um eine solche genaue und mo¨glichst vollsta¨ndige Rekonstruktion der Zeit und der Welt Napoleons zu erreichen, hatte Kubrick neben einer gut 500 Ba¨nde umfassenden Napoleon-Bibliothek17 ein umfangreiches Archiv mit ca. 17.000 10 Gelmis 2001, S. 84. 11 In diesem Sinne bema¨ngelt Kubrick bspw. an Abel Gances Napoleon (1927), dass dieser ihn – bei aller filmtechnischer Innovation – als Werk u¨ber Napoleon immer entta¨uscht habe (vgl. Strick / Huston 2001, S. 138). Fu¨r sein eigenes Projekt dagegen habe „the accuracy of the film“ ho¨chste Priorita¨t (Gelmis 2001, S. 83). 12 Vgl. Phillips 2005, S. 497. 13 Magel 2011, S. 39. 14 Strick / Huston 2001, S. 138. 15 Phillips 2005, S. 497. 16 Harlan 2011, S. 25. 17 Vgl. Magel 2004, S. 158.
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Bildern aus der Zeit von 1769 bis 1830 zusammengetragen, darunter Gema¨lde, Radierungen, Stiche, Skulpturen etc., die abfotografiert und auf IBM-Mikrofilmlochkarten befestigt wurden, so dass sie spa¨ter maschinell ha¨tten sortiert werden ko¨nnen.18 Hinzu kommt weiteres Recherche-Material, darunter z. B. Grundrisse und Karten von Schloss Fontainebleau, das Napoleon einige Zeitlang als kaiserliche Residenz diente, Faksimiles von Briefen Napoleons oder gar ein Eisnagel – ein Hinweis auf den fu¨r die winterliche Witterung inada¨quaten Hufbeschlag der Pferde in Napoleons Russlandfeldzug. Magel kommt daher zu dem sicherlich gerechtfertigten Schluss, dass „Kubricks Napoleon-Sammlung […] eines der gro¨ßten privaten Archive zu diesem Thema sein“ du¨rfte.19 Erga¨nzt werden diese historischen Dokumente durch Kostu¨mentwu¨rfe und Kostu¨mstudien sowie gut 15.000 Innen- und Außenaufnahmen von mo¨glichen Drehorten. Wie an mehreren Stellen aus seinen Produktionsnotizen hervorgeht,20 beabsichtigte Kubrick, auf teure Studionachbauten zu verzichten und stattdessen an historischen Originalschaupla¨tzen zu drehen.21 Daru¨ber hinaus kommt Kubrick in seinen Produktionsnotizen mehrfach darauf zu sprechen, dass ihm Angebote aus Ruma¨nien und Jugoslawien vorla¨gen, fu¨r zwei bzw. fu¨nf Dollar pro Mann bis zu 30.000 Soldaten als Statisten fu¨r die Schlachtenszenen zur Verfu¨gung gestellt zu bekommen.22 Kubrick beabsichtigte, „to use a maximum of forty thousand infantry and ten thousand cavalry for the big battles“.23 Er begru¨ndet dies mit seinem Wirklichkeitsanspruch: „I want to capture this reality on film, and to do so it’s necessary to re-create all the conditions of the battle with painstaking accuracy.“24 Gleichsam das Herzstu¨ck von Kubricks Napoleon-Archiv bildet ein Zettelkasten, in dem – auf den Tag genau datiert, chronologisch geordnet und je nach Person farblich markiert – die Handlungen „sa¨mtliche[r] wichtige[r] Perso¨n18 Vgl. Harlan 2011, S. 26. Magel kommt in ihrer Za¨hlung auf „rund 18.000 Abbildungen“ (Magel 2004, S. 158). 19 Magel 2004, S. 158; vgl. auch Magel 2011, S. 34. – Kubrick selbst bezeichnet in seinen auf den 19. 11. 1968 datierten Produktionsnotizen (vgl. Castle 2011, S. 335 – 337) seine NapoleonBibliothek als „one of the best private collections that has ever been assembled for its historical and literary merit rather than its rare book value.“ Kurz: „Seine Vorarbeit la¨sst an wissenschaftlicher Gru¨ndlichkeit nichts zu wu¨nschen u¨brig.“ (Kaul 2010, S. 22.) 20 Vgl. z. B. Castle 2011, S. 291, 305 und 385 – 387. 21 Zu diesem Zweck schickte Kubrick im Mai 1968 Andrew Birkin (spa¨ter selbst Drehbuchautor und Regisseur) nach Frankreich und Italien, um mit historischer Beratung mo¨gliche Drehorte ausfindig zu machen und zu fotografieren. Kombiniert mit detaillierten Pla¨nen wurden diese Aufnahmen einem location-Archiv zugefu¨hrt (vgl. Phillips 2005, S. 497 und Magel 2004, S. 159). 22 Vgl. die Produktionsnotizen vom 15. 11. 1968 (Castle 2011, S. 313), vom 19. 11. 1968 (ebd., S. 293) sowie vom 22. 11. 1968 (ebd., S. 383 – 385). 23 Gelmis 2001, S. 82. 24 Ebd., S. 83.
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lichkeiten, die Napoleon umgaben oder seine Gegenspieler waren“, auf Karteikarten festgehalten wurden, so dass „sich jeder Tag im Leben Napoleons minutio¨s nachlesen“ la¨sst.25 Diese Karteikarten-Dossiers, die als „Grundlage fu¨r die historisch korrekte Schilderung im Drehbuch“ dienten,26 ließ Kubrick von einer Gruppe Studenten des Oxforder Geschichtsprofessors Felix Markham anfertigen.27 Kubrick hatte den Historiker Markham, dessen Napoleon-Biographie28 er mehrfach gelesen und mit Anmerkungen versehen hatte, als Ratgeber verpflichtet.29 Neben den am 13. und 23. Juli 1968 aufgezeichneten Gespra¨chen zwischen Kubrick und Markham zeugt die Korrespondenz zwischen beiden30 davon, dass Kubrick darum bemu¨ht war, jedes noch so kleine Detail aus dem Leben Napoleons zu erfahren und Unklarheiten aus der Welt zu ra¨umen, bis hin zum genauen Wetter an einem spezifischen Tag einer bestimmten Schlacht.31 Vor allem Kubricks handschriftliche Notizen, oft mit dem Hinweis „Markham“, „Questions For Markham“ u. a¨. versehen,32 zeigen, dass es Kubricks Anliegen war, insbesondere den Alltag Napoleons, seine „routine of daily life“33 zu erfassen. Kubrick na¨herte sich seiner Figur geradezu strategisch an: „Like Napoleon planning a military campaign, Kubrick mapped out his strategy for filming a huge historical epic.“34 Das Drehbuch offenbart, dass der Film, wa¨re er so umgesetzt worden, im Wesentlichen eine chronologische Erza¨hlung der wichtigsten Stationen im Leben Napoleons dargestellt ha¨tte.35 Kubricks Absicht war es dabei, wie er selbst betont, „to encompass all the major events of his career.“36 Um diesen Anspruch auf Vollsta¨ndigkeit zu erfu¨llen, hatte Kubrick, wie das Drehbuch zeigt, einen voice-over-Erza¨hler vorgesehen, der Ereignisse kommentiert und historische Hintergrundinformationen vermittelt, erga¨nzt um Karten, die Orts- und Zeitwechsel verdeutlicht ha¨tten.37
25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Magel 2004, S. 162. Ebd. Vgl. ebd.; vgl. auch Phillips 2005, S. 497 und Castle 2011, S. 545. Markham 1966. Vgl. Magel 2004, S. 192. Kubrick / Markham 2011, S. 101 – 161. Vgl. Gelmis 2001, S. 85. Vgl. z. B. Castle 2011, S. 613, 625 und 637. Vgl. die Notiz Kubricks in Castle 2011, S. 613. Magel 2004, S. 158. Vgl. ebd., S. 156. Gelmis 2001, S. 84. Vgl. ebd., S. 83; vgl. auch Magel 2004, S. 156 und Phillips 2005, S. 497.
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3.
Keyvan Sarkhosh
Die Welt als Archiv und das Archiv als ‚mo¨gliche Welt‘
Kubrick hat im Rahmen seiner Vorarbeiten ein umfangreiches Archiv zusammengetragen, das die Grundlage fu¨r den nicht realisierten Film darstellen sollte. Dieses Archiv, und dies gilt es zu betonen, ist ein materielles.38 Ausgehend von der These Ju¨rgen Fohrmanns, dass „jede Systematizita¨t des Archivs zugleich eine topologische Kartierung von Welt“ sei und daher „Archiv eine jener Kategorien ist, deren Extension dazu tendiert, die ‚ganze Welt‘ zu implizieren“,39 stellt sich die Frage, welche Art von ‚Welt‘ dies im Falle des Kubrick-Projekts ist. Ist die vom Archiv implizierte ‚Welt‘ mit der ‚fiktionalen Welt‘ identisch, und wenn ja, kann diese fiktionale Welt als eine ganze betrachtet werden? Schließlich ist zu kla¨ren, in welchem Verha¨ltnis Diegese und reales Archiv zueinander stehen. Im Sinne E´tienne Souriaus, der – noch vor Genette40 – die´ge`se als filmwissenschaftlichen Terminus gepra¨gt hat, bezeichnet diese die fiktionale Wirklichkeit, die ein Film darstellt.41 Im Falle von Kubricks nicht realisiertem Film wa¨re das, was zur Darstellung gekommen wa¨re, eine „zeitlich geordnete Aufeinanderfolge von Ereignissen“42 rund um die titelgebende Figur gewesen. Als Bezeichnung fu¨r eine solche „Abfolge von Ereignissen“ schla¨gt Umberto Eco den Begriff „mo¨gliche Welt“ vor.43 Gema¨ß Ecos Konzeption sind „mo¨gliche Welten“ daher narrative Welten.44 ‚Welt‘ kann also als Metapher fu¨r den von einem fiktionalen Text entworfenen semantischen Bereich verstanden werden, der eine fiktional wirkliche und gegenwa¨rtige Welt entwirft.45 Damit wird auch deutlich, dass der Begriff ‚mo¨gliche Welt‘, wie er hier Verwendung findet, sowohl von Leibniz’ metaphysischer Konzeption46 wie auch vom Konzept mo¨glicher Welten in der logischen Semantik abzugrenzen ist. In letzterer sind ‚mo¨gliche Welten‘ total und unendlich in Gro¨ße, Anzahl und Art.47 Demgegenu¨ber sind jedoch fiktionale Welten „ontologisch unvollsta¨ndig“.48 Die mo¨glichen Welten im Sinne 38 Es ist dies als eine Abgrenzung etwa zur Archiv-Konzeption im Sinne Michel Foucaults zu verstehen, in der „die ortlose Mo¨glichkeitsbedingung den Sieg u¨ber die Materialita¨t und Positivita¨t davon[tra¨gt]“ (Baßler 2005, S. 177). Archiv meint hier also nicht abstrakte „Aussagesysteme“ im diskurstheoretischen Sinne (vgl. Foucault 1981, S. 186 f.), sondern, Baßler und dem von ihm zitierten Boris Groys (Groys 1999, S. 179) folgend, ein „real existierendes“ (Baßler 2005, S. 175). 39 Fohrmann 2002, S. 19 [Hervorhebung im Original]. 40 Vgl. Genette 2007, S. 15, 188, 301. 41 Vgl. Souriau 1951, S. 237. 42 Eco 1992, S. 259. 43 Ebd. 44 Vgl. ebd., S. 258. 45 Vgl. Ryan 1991, S. 23. 46 Vgl. Leibniz 1996, S. 218 – 220. 47 Vgl. Dolezˇel 1998, S. 787. 48 Scholz 1984, S. 77. Zur Unvollsta¨ndigkeit fiktionaler Welten vgl. auch Dolezˇel 1989, S. 233 f.
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Ecos indes sind immer kleine Welten, da sie eine relativ kurze Abfolge von Ereignissen aus einem kleinen Ausschnitt der realen Welt darstellen.49 Sie sind durch eine begrenzte Anzahl von Paramenten bestimmt und bestehen aus (fiktionalen) Individuen, die mit Eigenschaften ausgestattet sind.50 Im Gegensatz zu den leeren Welten der theoretischen Konstrukte der Modallogik sind Ecos ‚kleine Welten‘ also stets mo¨blierte Welten.51 Daru¨ber hinaus scheinen sie Eco zufolge aufgrund ihrer Unvollsta¨ndigkeit stets „parasita¨re Welten zu sein, weil man, wenn ihre Eigenschaften nicht na¨her spezifiziert werden, davon ausgeht, dass sie mit denen der realen Welt u¨bereinstimmen.“52 Es tritt hiermit die Frage nach der Beziehung zwischen narrativer bzw. fiktionaler mo¨glicher Welt und realer Welt in den Fokus. Lubomı´r Dolezˇel betont in diesem Zusammenhang die Souvera¨nita¨t fiktionaler Welten und verweist auf ihre ontologische Differenz zur realen Welt. Fasst man nun fiktionale Welten, in denen Individuen auftreten, als Abfolge von Ereignissen auf, wird die Problematik dieser Differenz dann besonders deutlich, wenn die Figuren und Ereignisse reale historische Vorlagen haben. Gerade Napoleon ist es, der Dolezˇel als Beispiel dafu¨r dient, diese Differenz herauszustellen, wenn er darauf hinweist, dass etwa der Napoleon aus Leo ¨ brigen beTolstois Roman Krieg und Frieden (1869) – an dem Kubrick im U ma¨ngelt, dass „Tolstoy’s view of Napoleon is so far removed from that of any objective historian’s“53 – eben nicht mit dem realen Bonaparte identisch sei:54 „Possible-world semantics correctly insists that fictional individuals cannot be identified with actual individuals of the same name […].“55 Gleichwohl la¨sst sich bei aller Differenz ein unauflo¨slicher Zusammenhang zwischen allen fiktionalen Napoleons und ihrer historischer Vorlage nicht abstreiten.56 Mit anderen Worten: „fiktionale Texte nehmen […] – wenngleich oft auf komplizierte Weise – auf die reale Welt“ Bezug.57 Dieser Zusammenhang impliziert indes eine Grenzu¨berschreitung zwischen den Welten. Dolezˇel spricht daher von einer „transworld identity“ zwischen den fiktionalen Figuren und ihren realen Vorlagen.58 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Vgl. Eco 1992, S. 260. Vgl. Dolezˇel 1998, S. 787. Vgl. Eco 1992, S. 257. Ebd., S. 270. Gelmis 2001, S. 86. Dolezˇel 1998, S. 788. Dolezˇel 1989, S. 230. Vgl. Dolezˇel 1998, S. 788. Scholz 1984, S. 83. Dolezˇel 1998, S. 788. Vgl. auch Dolezˇel 1989, S. 230: „To be sure, a relationship between the historical Napoleon and all the possible fictional Napoleons has to be postulated; this relationship, however, reaches over world boundaries and requires cross-world identification.“ [Hervorhebung im Original]
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Wenn sich diese auf mehr beziehen soll als auf einen gemeinsamen Namen,59 so setzt diese Grenzu¨berschreitung eine informationelle Transformation voraus, in deren Folge „the actual-world ‚material‘ enters into the structuring of fictional worlds.“60 Doch woher stammt unser Wissen von der Realita¨t? Folgt man Eco, so ist die ‚reale Welt‘ „jene, die wir durch eine Vielzahl von Bildern der Welt oder von Beschreibungen von Sachverhalten kennen, und diese Bilder sind epistemische Welten, die sich oft wechselseitig ausschließen.“61 Unser Wissen von der Realita¨t ist insofern immer schon ein informationell vermitteltes und medial gespeichertes. Fu¨r Eco ist der Ort der Speicherung die Enzyklopa¨die: „Die Gesamtheit der Bilder der realen Welt ist deren potentiell maximale und vollsta¨ndige Enzyklopa¨die […].“62 Ecos Konzept der Enzyklopa¨die a¨hnelt im Grunde einem Archiv, wenn er festha¨lt: Mit ‚Enzyklopa¨die‘ meine ich die Gesamtheit des Wissens, von der ich nur einen Teil besitze, aber zu der ich, wenn no¨tig, Zugang habe, da sie so etwas wie eine riesige Bibliothek darstellt, mit allen Bu¨chern der Welt und allen gesammelten Zeitungen und handgeschriebenen Dokumenten aller Zeiten bis hin zu den alta¨gyptischen Hieroglyphen und sumerischen Keilschrifttexten.63
Damit das Wissen von der realen Welt Eingang in die fiktional mo¨gliche Welt finden kann, mehr noch: damit Teile der realen Welt zur fiktionalen Welt transformiert werden ko¨nnen, muss es medial gespeichert und archiviert sein. Kubricks Vorarbeiten und das daraus resultierende umfangreiche NapoleonArchiv fu¨hren in ihrer Exzeptionalita¨t verscha¨rft die Verfahren vor Augen, die fu¨r das Erzeugen fiktionaler Welten grundsa¨tzlich gelten.
4.
Archivierung und / oder Narrativierung
Insofern die Konstruktion und der Zugang zu fiktionalen Welten vermittels Archivierung erfolgt, ließe sich diese selbst als Verfahren der Fiktionalisierung auffassen.64 Ryan fu¨hrt dazu aus: „While fiction is a mode of travel into textual space, narrative is a travel within the confines of this space.“65 Die durch das Archiv vermittelte Welt ist eine narrative, insofern sie eine Abfolge von Ereignissen darstellt und mit fiktionalen Entita¨ten besiedelt ist, die sich bewegen und 59 60 61 62 63 64 65
Vgl. Dolezˇel 1998, S. 789. Dolezˇel 1989, S. 232. Eco 1992, S. 260. Ebd. Eco 2004, S. 120. Vgl. Kaczmarek 2007, S. 137. Ryan 1991, S. 5.
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interagieren. Dabei erscheint das Archiv eben nicht als „spezifischer Ort der Produktion einer jeweiligen Geschichte“,66 denn eine Erza¨hlung impliziert eine zeitliche, ra¨umliche und / oder kausale Ordnung.67 Das Archiv dagegen „erza¨hlt nicht, es registriert.“68 Mit Moritz Baßler gesprochen, der unter Archiv „die Summe aller Texte einer Kultur, die einer Untersuchung zur Verfu¨gung stehen“, versteht, sind die in einem Archiv versammelten Texte – hier mit Blick auf Kubricks Napoleon-Archiv und anderer realer Archive natu¨rlich im Sinne eines weiten Textbegriffes zu verstehen – „einander gleich- bzw. nebengeordnet zuga¨nglich“:69 Das Archiv versammelt die fu¨r die Kontextualisierung verfu¨gbaren Texte, es entha¨lt sa¨mtliche Texte, zu denen der Einzeltext in Beziehung gesetzt werden kann, aber noch nicht diese Beziehungen selbst. Das heißt, dass es in sich noch nicht indexikalisiert oder strukturiert sein kann.70 Durch die o¨rtliche Na¨he eines Textes oder mehrerer Texte zu anderen stiftet das Archiv einen Kontext. Und diesen kann man durchaus als eine „latente Provokation der Narration“ auffassen.71 Der kontextuelle Rahmen verleitet dazu, Verknu¨pfungen zwischen Texten oder einzelnen Teilen derer herzustellen, gleichsam „rote Fa¨den“72 zu legen bzw. im Sinne Paul Ricœurs einer Spur zu folgen, an der sich die lineare „Erstreckung der Zeit“ ablesen la¨sst.73 Aus dieser Verknu¨pfung gema¨ß narrativer Parameter (zeitliche, ra¨umliche und/oder kausale Ordnung) erwa¨chst die Narration mitsamt ihrer Diegese. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Verknu¨pfung in der Regel den Vorgaben narrativer wie a¨sthetischer Effizienz genu¨ge leisten wird. Und diese wiederum impliziert – sieht man von Extremformen des Erza¨hlens ab – Unvollsta¨ndigkeit, Lu¨ckenhaftigkeit. Das wiederum hat freilich Ru¨ckwirkungen auf die erza¨hlte fiktionale Welt, mehr noch: hier liegt der Grund fu¨r ihre notwendige Unvollsta¨ndigkeit. So ha¨lt auch Dolezˇel fest: „If incompleteness is a logical ‚deficiency‘ of fictional worlds, it is an important factor of their aesthetic efficiency. […] The distribution of filled and empty domains is governed by aesthetic principles […].“74 Die Unvollsta¨ndigkeit und Lu¨ckenhaftigkeit der erza¨hlten Welt resultiert letztlich stets aus dem Umstand, dass sie sich immer nur aus einer selektiven Verknu¨pfung archivierter Wirklichkeitsfragmente, vulgo 66 67 68 69 70 71 72 73 74
Ebeling / Gu¨nzel 2009, S. 9. Vgl. Bordwell / Thompson 2008, S. 75. Ernst 2009, S. 185. Baßler 2005, S. 196. Ebd., S. 181 f. Ernst 2009, S. 189. Ebd., S. 188. Ricœur 1991, S. 198. Dolezˇel 1989, S. 790.
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Texte (im weiten Sinne), zusammensetzt. Die Lu¨cken und Leerstellen indes ko¨nnen narrativ arrangiert und ausgestaltet werden.75
5.
Vom Scheitern der ‚Maximalwelten‘
„Both fictional and historical worlds are by necessity incomplete. To construct a complete world would require writing a text of infinite length – a task that humans are not capable of accomplishing.“76 Die Bedenken, die Dolezˇel hier artikuliert, sind zweifelsohne richtig. Es kann, mit Achim Ho¨lter gesprochen, nicht nur „keine vollsta¨ndige Beschreibung“,77 sondern auch kein vollsta¨ndiges Erza¨hlen und lu¨ckenloses Erschaffen fiktionaler Welten geben. Dies gilt fu¨r die Literatur ebenso wie fu¨r andere narrative oder beschreibende Medien, darunter auch den Film. Und es wird vor allem dort deutlich, wo sich, wie im Falle von Kubricks Napoleon-Projekt, das Archiv als notwendige Grundlage fu¨r die Narration und Weltkonstitution erweist. Freilich, Archive sind – realiter und materiell – endlich; und doch suggerieren sie einen „Effekt der Unendlichkeit“.78 Wenn schon die Darstellung eines Archivs den „Globus im Maßstab der Welt“,79 von dem in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge die Rede ist,80 erforderte, so mu¨sste eine vollsta¨ndige Umsetzung des Archivs diesen Maßstab gar sprengen. Letztlich liegt hierin wohl der Grund, warum „Maximalwelten“ zum Scheitern verurteilt sind, wie Eco zu Recht betont.81 Erza¨hlen und die narrative Konstruktion fiktiver Welten setzen immer schon Selektion und Verknu¨pfung von transformierten und archivierten (Wirklichkeits-)Fragmenten sowie das narrative Fu¨llen von Lu¨cken voraus. An die Stelle von Totalita¨t tritt insofern Ganzheitlichkeit: „Wer also die ganze Welt aufza¨hlt, sieht den Wald vor lauter Ba¨umen nicht mehr. Deshalb nehmen wir nicht nur ganzheitlich, d. h. eben nur elliptisch wahr, sondern erza¨hlen auch so.“82 Ein solches ganzheitliches Erza¨hlen scheint also eine kritische Distanz vorauszusetzen, mindestens zu implizieren. Vielleicht liegt hier – jenseits der a¨ußeren produktionstechnischen Umsta¨nde – der wesentliche Grund fu¨r das Scheitern von Kubricks Napoleon-Projekt. „The first step has been to read 75 76 77 78 79 80 81 82
Vgl. Dolezˇel 1998, S. 794. Ebd. Ho¨lter 2009, S. 157. Groys 2000, S. 13. Baßler 2005, S. 200. Vgl. Rilke 1996, S. 609. Vgl. Eco 1992, S. 279. Ho¨lter 2009, S. 161.
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everything I could get my hands on about Napoleon, and totally immerse myself in his life“, so Kubrick 1970.83 Man mag also mutmaßen, dass Kubrick ob dieses vollsta¨ndigen Eintauchens, ja einer nahezu obsessiven Identifikation mit der historischen Figur, die sich materiell im umfangreichen Archiv manifestiert, die notwendige kritische Distanz zum Napoleon-Stoff verloren und insofern vor lauter ‚Ba¨umen‘ den ‚Wald der Fiktionen‘ samt dem rechten Pfad durch diesen84 nicht mehr gefunden hat. Die Frage, ob sein Napoleon-Archiv u¨ber Kubrick hinausgewachsen ist, da es in der Summe unvergleichlich gro¨ßer ist als die Welt, die doch nie erza¨hlt wurde, muss indes letztlich unbeantwortet bleiben.
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Teil X: Verhandlungen kultureller Differenz im Spannungsfeld von Globalita¨t und Lokalita¨t
Elke Bru¨ggen
Belacaˆne, Feirefıˆz und die anderen. Zur Narrativierung von Kulturkontakten im Parzival Wolframs von Eschenbach
Im Vergleich zum klassischen Artusroman Chre´tien- / Hartmannscher Pra¨gung gibt es im Parzival Wolframs von Eschenbach1 eine deutlich komplexere Gestaltung des Handlungsraums: Neben der Gesellschaft des Artushofs wird mit der um den Gral versammelten Gemeinschaft ein zweites Sozialsystem mit eigenen Normen und Gepflogenheiten etabliert, und zudem wird, anders als in der literarischen Vorlage, dem Conte du Graal,2 mit der Geschichte von Gahmuret und Belacaˆne und ihrem schwarz-weiß gescheckten Sohn Feirefıˆz, Parzivaˆls Halbbruder, eine neue Rahmung des Geschehens geschaffen, durch welche die christliche Welt des mittelalterlichen Frankreich in Kontakt mit der Kultur des Orients und der Religion der Muslime gebracht wird. Fu¨r diese programmatische Erweiterung des Handlungsraumes wie des Horizonts interessiert sich die germanistische Media¨vistik seit La¨ngerem,3 fu¨r sie hat sich aber auch – und nicht von ungefa¨hr – der Schriftsteller Ilija Trojanow interessiert, der einem breiteren Publikum vor allem mit seinem Roman Der Weltensammler4 bekannt 1 Wolfram von Eschenbach 2003. Sofern nicht anders vermerkt, stammen die im Beitrag ge¨ bersetzungen einzelner Textstellen ins Neuhochdeutsche von der Verfasserin. botenen U ¨ bersetzungen: Chre´tien de Troyes 1991a; 2 Kritische Ausgabe: Chre´tien de Troyes 1993. U Chre´tien de Troyes 1991b. 3 Eine systematische Dokumentation der einschla¨gigen Forschung ist hier nicht mo¨glich; ich beschra¨nke mich daher auf eine Auswahl v. a. neuerer Beitra¨ge: Brunner 1991, bes. S. 376 – 379; Bumke 1991; Dallapiazza 2005; Dallapiazza 2009, S. 102 – 105; Ebenbauer 1984; Grammatico 2008; Groos 2004; Hatheyer 2004; Karg 1993; Kellner 2009; Kolb 1988; Kontje 2004, bes. S. 15 – 32; Krause 1992; Kugler 1990; Kunitzsch 1985 / 1996; Masser 1990; Mosho¨vel 2009; Neumann 2002; Noltze 1995a; Noltze 1995b; Raucheisen 1997; Samples 2001; Schmid 1983; Schotte 2009; Spiewok 1996; Suerbaum 2004; Thum 1990; Volfing 2004; Wynn 1984 – Eine kritische Wu¨rdigung postkolonialer Lektu¨ren mittelalterlicher Texte hat Ursula Peters vorgelegt, vgl. Peters 2010. 4 Trojanow 2010. Zu Trojanow vgl. Kunisch 2009, abzurufen unter http://www.cicero.de/salon/ die-welt-der-muslims-mit-der-seele-suchend/44518 [13. 03. 2012]; Eintrag „Trojanow, Ilija“ von Cornelia Zetzsche in Munziger Online / KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Abzurufen unter http://www.munziger.de/document/16000000713 [12. 03. 2012].
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Elke Bru¨ggen
geworden ist. Am 9. Juli 2008 publizierte die taz in der Sparte Das Schlagloch einen Artikel aus seiner Feder, in dem er auf den mittelalterlichen Roman Bezug nahm und zur Verdeutlichung seiner Argumentation ein la¨ngeres Zitat daraus ¨ berschrift: „Der Feind hat mein Herz. Mitpra¨sentierte. Der Artikel trug die U telalterliche Erkenntnis: Erst der Kampf gegen das Fremde formt die eigene Identita¨t“.5 Der Artikel beginnt folgendermaßen: Ein Ritter treibt sein Pferd in einen Wald hinein, der so gewaltig und du¨ster ist, dass der Ritter aufatmet, als er eine sonnige Lichtung erreicht. Dort sto¨ßt er auf einen Fremdling, einen Heiden, der mit den wunderbarsten Kostbarkeiten behangen ist. Alle Reichtu¨mer des Ko¨nigs zu England ha¨tten nicht einmal den Waffenrock dieses Fremden aufgewogen – so schreibt der Dichter und la¨sst bald darauf die beiden Helden in der Lichtung aufeinanderprallen: „Beider Augen blitzten, als sie einander sahen, doch wenn jetzt ihre Herzen ho¨her schlugen, so war die Trauer auch nicht weit. Jeder der treuen, aufrechten Ma¨nner trug na¨mlich das Herz des andern in der Brust; sie standen einander nahe, auch wenn sie sich beide fremd waren. Nur dadurch, dass sie einander feindlich gegenu¨bertreten, kann ich den Heiden vom Christen unterscheiden. Mo¨ge ein gu¨tiges Geschick den Kampf enden und dem Tod wehren.“ Der Kampf wa¨hrt lange, und er endet mit der edlen Geste des Heiden, der sein Schwert senkt, als die Klinge des Ritters birst. Sie setzen sich auf den Rasen und geraten in ein ho¨fliches Gespra¨ch. Es stellt sich heraus, dass die Ma¨nner Halbbru¨der sind, denn des Ritters Vater verbrachte viele Jahre im Orient, wo er mit einer Einheimischen einen Sohn zeugte, einen Erben namens Feirefiz. Und dieser verschollene Sohn, so lautet die Ma¨r, soll aussehen wie beschriebenes Pergament, schwarz und weiß gefleckt. Daran erkennt der Ritter seinen unbekannten Bruder, nachdem beide ihre Helme und Kettenhauben heruntergerissen haben. Der Ritter heißt Parzival und der Dichter, der diese Szene vor knapp tausend Jahren ersonnen hat, ist der große Epiker mittelhochdeutscher Sprache Wolfram von Eschenbach.6
Trojanow fragt nach dem u¨berzeitlichen Gehalt7 und zugleich nach der daraus ableitbaren Aktualita¨t der vorgestellten Szene und formuliert dabei einige Thesen, die zu denken geben: 1. Der Dichter „lo¨st […] mit leichter Hand den essentiellen Gehalt von Fremde auf“.8 5 http://www.taz.de/digitaz/.archiv/suche.demo,1 [11. 03. 2012]. Um die Auffindung der Zitate zu erleichtern, za¨hle ich im Folgenden die Abschnitte und die Zeilen des Artikels durch. – Ich mo¨chte Susanne Flecken-Bu¨ttner dafu¨r danken, dass sie mich seinerzeit auf den Artikel aufmerksam gemacht hat. 6 1. und 2. Abschnitt, Zeile 1 – 26. 7 „Doch die beschriebene Szene weist, wie alle große Literatur, weit u¨ber den historischen Kontext der Figuren und des Autors hinaus. […] Wolfram von Eschenbachs Parabel u¨ber den Kulturaustausch durch feindliche Ritter ist hochaktuell.“ (5. Abschnitt, Zeile 48 f. und 10. Abschnitt, Zeile 104 f.). 8 5. Abschnitt, Zeile 52 f.
Belacaˆne, Feirefıˆz und die anderen
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Fremde kann den Umsta¨nden, Zufa¨llen, Vorurteilen geschuldet sein, doch sie wurzelt nicht per se in einer ontologischen Differenz und darf daher nicht als unu¨berwindbar gelten. Gewiss, die beiden Ritter ka¨mpfen gegeneinander, um ihr Leben gar, doch kaum haben sie die Waffen gestreckt, erkennen sie Gemeinsamkeiten, die jeden Konflikt u¨berragen.9 2. Wolfram von Eschenbach geht noch einen entscheidenden Schritt weiter. Er macht klar : Das Eigene und das Fremde lassen sich nur dann klar unterscheiden, wenn sie einander beka¨mpfen. Konflikt scha¨rft Differenz, Identita¨t ist die Frucht von Feindschaft. Mit anderen Worten, die antagonistische Haltung, basierend in diesem prototypischen Fall auf einer automatischen, dogmatischen Ablehnung des Heiden, des kanonischen Abweichlers, konstituiert den entscheidenden Unterschied. Denn dieser Fremde ist […] schwarz und weiß gefleckt, was als Bild versto¨rt und als Gleichnis u¨berzeugt. Er ist ein Gemischter […].10
3. Damit hat der mittelalterliche Autor „ein faszinierendes Ideal der Kulturbegegnung formuliert, getragen von der Erkenntnis, dass das Trennende nur eine momentane Differenz ist, eine Flu¨chtigkeit der Geschichte. Anders gesagt: Das Gemeinsame lauert in jeder Lichtung.“11 Einer dichotomisch-antagonistischen Kulturdeutung wird demnach, so Trojanow, auf zweifache Weise widersprochen: Durch den Hinweis darauf, dass Differenz durch eine Wahrnehmung konstituiert werde, welche durch agonale Handlungen und ihnen zugrunde liegenden Vorannahmen und Einstellungen gesteuert werde sowie durch das u¨ber die Figur des Feirefıˆz vermittelte Konzept des Hybriden, des Gemischten, das Trojanow, wie der Schluss seines Artikels zeigt, als Beleg eines schon im Mittelalter vorhandenen Wissens um den grundsa¨tzlich hybriden Charakter einer jeden Kultur deutet. Kulturen und ihre Kanons mo¨chte er als Resultate „von Vermischungen und Vereinnahmungen“12 begreifen. Kulturen beka¨mpfen sich nicht, weil sie einander fremd sind; es sind vielmehr Konflikt und Kampf, welche die Differenz generieren, und diejenigen, die sie befu¨rworten, ha¨ngen einem problematischen Versta¨ndnis von Identita¨t und Identita¨tsbildung an.13 Und genau dies zeige bereits der mittelhochdeutsche Roman. In meinem Beitrag hinterfrage ich diese Thesen. Ich werde argumentieren, dass die vorgeschlagene Sicht auf Wolframs Parzival die Position der bespro9 10 11 12 13
6. Abschnitt, Zeile 54 – 59. 6. Abschnitt, Zeile 65 – 74. 7. Abschnitt, Zeile 78 – 81. 7. Abschnitt, Zeile 85. Vgl. den letzten Abschnitt des Artikels, Zeile 106 – 108.
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chenen Stelle in einem komplexen Erza¨hlgefu¨ge nicht beachtet und zudem aus ¨ bernahme einer verbreiteten neuhochdeutschen U ¨ berder unreflektierten U setzung resultiert. Außerdem mo¨chte ich aufzeigen, dass die Interpretation in einem nicht unerheblichen Umfang von einem ku¨nstlerischen Selbstversta¨ndnis gesteuert ist, das Ilija Trojanow zu einem der profiliertesten Vertreter einer Gegenwartsliteratur in deutscher Sprache gemacht hat, fu¨r die das Projekt einer literarischen Verarbeitung und eines Entwurfs von weltumspannenden Kultur¨ berlegungen in vier Schritten: kontakten bestimmend ist. Ich entfalte meine U Zuna¨chst werde ich die von Trojanow betrachtete Begegnung zwischen Parzivaˆl und Feirefıˆz kontextualisieren, indem ich sie in den literarischen Kosmos von Wolframs Parzival einordne. Sodann betrachte ich die Szene mit Blick auf die Frage, welches Bild des Orientalen und des Kontakts zwischen westlicher und o¨stlicher Kultur sie vermittelt, wobei ich die Informationssplitter in einen gro¨ßeren Zusammenhang stelle, der vor allem durch eine Analyse der literarischen Konstruktion der Feirefıˆz-Figur gewonnen wurde. Als na¨chstes lenke ich den Blick auf Ilija Trojanows Lektu¨re des Parzival zuru¨ck, hinterfrage ihre philologischen Grundlagen und pra¨sentiere ein anderes Versta¨ndnis der Stelle. Am Ende schlage ich vor, Trojanows Blick auf den Parzival als eine Projektion zu verstehen, die ihre entscheidenden Koordinaten aus seiner eigenen Biographie und einer schriftstellerischen Ta¨tigkeit bezieht, welche nicht zuletzt in engagierter Stellungnahme zu zeitgeno¨ssischen Fragen der Globalisierung gru¨ndet.
1. Der Parzival14 setzt, anders als sein Pra¨text, mit einer Vorgeschichte ein, welche das Schicksal von Parzivaˆls Vater Gahmuret behandelt. Das erste von insgesamt 16 Bu¨chern erza¨hlt von seinem Weg in den Orient, wo der christliche Ritter sich mit der heidnischen Ko¨nigin Belacaˆne verbindet und mit ihr einen Sohn zeugt: Feirefıˆz. Die Handlung des zweiten Buches zeigt Gahmuret, der seine Frau noch vor der Geburt des Kindes verlassen hat, in Spanien und dann in Frankreich, wo ihm als Sieger in einem großen Turnier Hand und Ko¨nigreiche der scho¨nen Herzeloyde zufallen. Aus dieser Verbindung entspringt Parzivaˆl. Auch der Zweitgeborene lernt seinen Vater nicht kennen, denn noch bevor er das Licht der Welt erblickt, kommt Gahmuret bei einem milita¨rischen Einsatz im Orient, in den er noch einmal zuru¨ckkehrt, ums Leben. In den beiden letzten Bu¨chern des 14 Fu¨r eine Zusammenfassung der Handlung siehe zuletzt Heinzle 2011. Fu¨r eine Orientierung hinsichtlich der u¨beraus zahlreichen Figuren des Textes und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen vgl. Bru¨ggen / Bumke 2011, Bd. 2, S. 835 – 938; Heinzle 2011, Bd. 2, Faltblatt nach S. 940.
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Textes, den Bu¨chern 15 und 16, werden die in den Eingangsbu¨chern geknu¨pften Fa¨den aufgenommen; auf diese Weise erha¨lt der Roman einen genealogisch ausgerichteten Rahmen.15 Parzivaˆl und Feirefıˆz treffen aufeinander, ohne sich zu erkennen, und treten in einen Kampf ein, der das Risiko der Gegnerto¨tung birgt. Das Schlimmste wird indes verhindert, weil Gott Parzivaˆls Schwert zerbrechen la¨sst und Feirefıˆz, der Heide, daraufhin seine eigene Waffe wegschleudert und ein Gespra¨ch initiiert, in dessen Verlauf die beiden Ritter sich als Bru¨der erkennen und ihre Feindschaft ablegen ko¨nnen. Zum Abschluss gebracht wird die Handlung mit Parzivaˆls Berufung zum Gralsko¨nig und mit der Erlo¨sung des leidenden Anfortas. Als Begleiter wa¨hlt Parzivaˆl seinen Bruder, der auf Munsalvaesche die keusche Gralstra¨gerin Repanse de Schoye zur Frau erha¨lt. Mit einem Blick auf Johannes, den Sohn der beiden, und mit der Geschichte von Loherangrin, dem (einen) Sohn von Parzivaˆl und seiner Frau Cundwıˆraˆmuˆrs, endet die Erza¨hlung.
2. Feirefıˆz,16 der Sohn Gahmurets und Belacaˆnes, besitzt ein hervorstechendes Merkmal, das ihn unverwechselbar macht (328,16): eine Haut, die eine Kombination von Schwarz und Weiß zeigt und der Wolfram mit einem bemerkenswerten Vergleich Aufmerksamkeit verschafft: „als ein geschriben permint“ (747,26). Die auffallende Farbstellung resultiert aus der Verbindung des Vaters, eines weißen (christlichen) Ritters, mit einer schwarzen (heidnischen) Ko¨nigin: Es gefa¨llt Gott, so der Erza¨hler, Feirefıˆz als ein wunder zu erschaffen (57,15 – 18).17 Parzivaˆl, dem zweiten Sohn Gahmurets aus dessen Verbindung mit Her15 Fu¨r Literatur zu Fragen des Aufbaus, der Komposition, der Struktur vgl. Heinzle 2011, Bd. 2, S. 1078 – 1082. Vgl. auch die Hinweise bei Hartmann 2011, hier 170 – 180, 183 – 187, 214 – 220; Bumke 2004, S. 194 – 202. 16 Zur Figur des Feirefıˆz vgl. Caples 1975; Dallapiazza 2009, S. 102 – 105; Dietl 2007; Famira 1986; Funcke 1984; Gna¨dinger 1974; Gray Jr. 1974; Harms 1963, S. 164 – 170; Mu¨ller, N. 2008; Mu¨ller, U. 1983 und ders. 2010; Raucheisen 1997, bes. S. 71 – 75; 154 – 165; Schotte 2009, S. 69 – 80; Swinburne 1956; Vodoz 2008; Willson 1959/1960; Wittmann 2007. 17 Der interessante Pergamentvergleich kommt in einem Redebeitrag Parzivaˆls vor, welcher angibt, ihn der heidnischen Ko¨nigin Eckubaˆ zu verdanken (747,26 – 28). Von einer Begegnung und einem Gespra¨ch zwischen Eckubaˆ und Parzivaˆl erza¨hlt das sechste Buch, allerdings findet sich die Bezugnahme auf beschriebenes Pergament dort nicht: Es heißt vielmehr : „sıˆn vel haˆt vil spæhen glast: / er ist aller mannes varwe ein gast, / wıˆz unde swarz [ist er] erkant.“ / „Seine Haut hat einen sehr scho¨nen Glanz. / Er sieht anders aus als alle anderen Menschen: / weiß und schwarz ist er anzusehen.“ (328,15 – 17). Auch Cundrıˆe, die Parzivaˆls Halbbruder wenig zuvor erwa¨hnt, verwendet den Vergleich nicht: „iwer bruoder wunders pfligt genuoc: / ja ist beidiu swarz unde blanc / der ku¨ngıˆn sun von Zazamanc.“ / „An Eurem Bruder ist viel Wunderbares: / er ist schwarz und weiß zugleich, / der Sohn der Ko¨nigin von Zazamanc.“
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zeloyde, wird er am Artushof als u¨berragender Ka¨mpfer im Dienst der Frauen und als ma¨chtiger Herrscher vor Augen gestellt, dessen Position ihresgleichen suche (328,5 – 14). Danach sind in Bezug auf Feirefıˆz lediglich zwei Erza¨hlerbemerkungen zu verzeichnen, in denen die Figur in einem Atemzug mit den Exotica des Orients erwa¨hnt wird (519,2 – 9; 589,10 – 17). Erst in den letzten beiden Bu¨chern des Parzival holt Wolfram die Figur in den Vordergrund der epischen Handlung und bringt sie mit der Artusrunde und der Gralgesellschaft in Kontakt. Voraus geht die hochdramatische Begegnung der beiden Halbbru¨der (734,17 – 754,28), die, ohne sich erkennen zu ko¨nnen, in voller Ru¨stung aufeinander zu reiten. Es ist die Passage, die Ilija Trojanow bescha¨ftigt hat; ich werde im Folgenden auf sie zuru¨ckkommen, spare sie hier indes noch aus. Der Kampf endet glu¨cklich, und so kann am Artushof die Integration des Heiden in die westliche Kultur und die Zusammenfu¨hrung mit seiner europa¨ischen Verwandtschaft erfolgen, die sich trotz der offensichtlichen Andersartigkeit des Gastes ganz unproblematisch gestaltet. Seine eigenartige Zweifarbigkeit, sein Staunen erregender Reichtum, die immense Macht, u¨ber die er im Orient verfu¨gt, seine beeindruckenden Kampferfolge begru¨nden keineswegs eine prinzipielle Verschiedenheit zwischen Feirefıˆz und der Artusgesellschaft. Die Vorzu¨ge, welche mit ihm in Verbindung gebracht werden (u. a. kiusche, manheit, milte, minne, triuwe, vrecheit, werdekeit und zuht), und die Art und Weise, in der das geschieht, belegen, dass die Figur vor einem u¨bergreifenden Normhorizont gesehen wird und diesem voll entspricht, ihn in gewisser Weise sogar u¨bererfu¨llt. Die um Artuˆs versammelte Gesellschaft weiß sich mit Feirefıˆz in grundsa¨tzlicher ¨ bereinstimmung, und die verwandtschaftlichen Bande machen ihn vollends U zum „heinlıˆchen gast“, zum vertrauten Fremden (759,11). Und da der Fremd-
(317,8 – 10). Vgl. dazu auch Mu¨ller 2008: Der Pergamentvergleich bringt zum Ausdruck, dass die beiden auf das mu¨tterliche resp. va¨terliche Erbe verweisenden Hautfarben Schwarz und Weiß im Inkarnat des Feirefıˆz nicht vermischt auftreten, sondern als distinkte Gro¨ßen erhalten sind. Aufschlussreich erscheint daru¨ber hinaus die der u¨blichen Logik entgegen gesetzte Verteilung der Farben auf die fu¨r einen Vorgang der Pra¨gung vorauszusetzenden gebenden und empfangenden Gro¨ßen: Nimmt man den Schriftvergleich ernst, so pra¨gt hier das Schwarze dem Weißen seine Signatur auf. Dies impliziert eine Umkehrung der im gender-Diskurs u¨blichen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau; darauf haben Karina Kellermann und Egon Flaig in ihrem am ‚Dies academicus‘ der Universita¨t Bonn, 2. Dezember 2009, gehaltenen Vortrag „Schwarz ku¨sst weiß. Die gescheckte Frucht einer interkulturellen Liebe“ aufmerksam gemacht, dessen Typoskript sie mir freundlicherweise u¨berlassen haben. Des Weiteren transportiert der Schriftvergleich eine Verkehrung der im kolonialistischen Diskurs gewohnten Vorstellungen, bei denen das Weiße als formgebende Potenz, das Schwarze als empfangende Substanz gedacht wird. Der literarische Entwurf einer Figur als Schrift-Ko¨rper geho¨rt u¨berdies in den Zusammenhang eines fu¨r den Parzival im Unterschied zu seiner Vorlage ausgefeilten Motivstrangs zum Komplex ‚Schrift und Schriftlichkeit‘, dessen Facetten genauer zu analysieren wa¨ren.
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Vertraute des Franzo¨sischen ma¨chtig ist (744,26 ff.), gibt es nicht einmal Sprachprobleme. Motive und Topoi eines um 1200 gela¨ufigen Exotismus-Diskurses ko¨nnen sich auf einer solchen Basis nur in sehr engen Grenzen entfalten. Wolfram benutzt sie vor allem bei der Beschreibung der ma¨rchenhaft-prunkvollen Ausstattung des orientalischen Ritters, deren unu¨bertreffliche Kostbarkeit, die im Westen nicht finanzierbar wa¨re (735,15 – 19; 761,23 – 30) und ihrem Besitzer demzufolge Aufmerksamkeit und Bewunderung sichert: dem schimmernden Waffenrock aus feuerresistentem Material (735,15 – 27; 756,30 – 757,5), dem ¨ berwurf aus „saranthasmeˆ“ (756,26 – 29; vgl. 812,19 ff.), dem Schild aus dem U Holz „[…] aspindeˆ : / daz fuˆlet noch enbrinnet“ (741,2 f.; vgl. 812,19 ff.), dem einzigartigen Edelsteinschmuck, der alle Teile der Ausru¨stung u¨berzieht. Der Erza¨hler ergeht sich in derartigen Deskriptionen und untermauert den durch sie erzeugten Eindruck, indem er die ada¨quate Wiedergabe der Pracht zum poetischen Problem erhebt (735,9 – 14). Doch als solle der Abstand zum Abendland nicht zu groß werden, betont er zugleich, dass die Kostbarkeiten, u¨ber die Feirefıˆz verfu¨gt, auch im Morgenland als außergewo¨hnlich zu gelten haben: Thopedissimonte unt Assigarzıˆonte, Thasmeˆ und Araˆbıˆ sint vor solhem pfelle vrıˆ als sıˆn ors truoc covertiure. (736,15 – 19) Thopedissimonte und Assigarzıˆonte, Thasmeˆ und Araˆbıˆ besitzen keinen solchen Seidenstoff ¨ berwurf trug. wie ihn sein Streitross als U
Außerdem wird großer Wert darauf gelegt, dass der heidnische Ritter seine blendende Ru¨stung dem Frauendienst verdankt (z. B. 736,1 ff.; 741,4 ff.; 741,15 ff.; 757,6 ff.), was die Gemeinsamkeiten zwischen westlicher und o¨stlicher Kultur erneut unterstreicht und das exotische Element zusa¨tzlich einda¨mmt. Auf dieser Linie liegt auch, dass der Text Feirefıˆz’ Empfa¨nglichkeit fu¨r die Scho¨nheit der Frauen mit komischen Effekten pra¨sentiert (z. B. 808,28 ff.); das Moment erotischer Attraktivita¨t und sexueller Potenz, ein schon im Mittelalter zu belegendes Stereotyp in der Wahrnehmung und Darstellung des Orientalen, wird auf diese Weise deutlich entscha¨rft. Hat man diese Tendenzen in der Konstruktion der Figur registriert, kann auch der Umgang mit der Verschiedenheit der Religion und des Glaubens nicht mehr erstaunen, dem Moment also, das wohl als das essentielle Problem fu¨r eine vollsta¨ndige Integration von Parzivaˆls Bruder zu gelten ha¨tte. Wiewohl dessen Heidentum immer wieder erwa¨hnt wird, inszeniert Wolfram seinen Eintritt in
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die geheiligte Gesellschaft von Munsalvaesche mit geradezu versto¨render Leichtigkeit. Nicht nur fu¨r Parzivaˆl, der sich nach seiner Berufung zum Gral den Bruder als Begleiter ausgesucht hat, werden die Barrieren durchla¨ssig, auch fu¨r Feirefıˆz entfallen die Zugangshindernisse. Die eherne Regel, dass nur derjenige zum Gral gelangen kann, der von Gott dazu erwa¨hlt wird, scheint in seinem Fall außer Kraft gesetzt, und die christliche Gemeinschaft, die bisweilen wie ein Geheimbund wirkt, o¨ffnet sich fu¨r einen un-christlichen Besucher. Sie ist sogar bereit, ihm die keusche Gralstra¨gerin und Schwester des Ko¨nigs Anfortas, Repanse de Schoye, zur Frau zu geben. So wird denn die Gralsburg, bis dahin ein Ort, an dem die geschlechtliche Liebe lediglich dem Herrscher erlaubt war, zum Ort der Eheschließung und der Begru¨ndung einer neuen Dynastie. Die Konversion des Heiden zum Christentum ist dafu¨r die Voraussetzung (816,24 – 30), gewiss, doch behandeln die Akteure und behandelt auch der Erza¨hler die Angelegenheit mit einem solchen Un-Ernst, dass einem der Atem stockt.18 Feirefıˆz, „der toufes ku¨nde nie gewan“ (735,4) und fu¨r den der Gral daher unsichtbar bleibt, wie der alte Titurel erkla¨rt (813,9 – 22), hat fu¨r die sakramentale Bedeutung der Taufe keinen Sinn. Fu¨r Anfortas und fu¨r Parzivaˆl bedeutet die Taufe „endeloˆsn gewinnes kouf“, Feirefıˆz hingegen sieht sie als ein Mittel, um die von ihm ersehnte Verbindung mit der Gralstra¨gerin Wirklichkeit werden zu lassen (813,29 – 814,16; 816,24 – 817,3; 818,1 – 12). Anfortas’ Schwester hat ihn mit ihrer Scho¨nheit in den Bann geschlagen, und sie repra¨sentiert ein neues Ziel, das alles zuvor Erreichte relativiert, geradezu entwertet (810,11 – 811,16). Secundille, die ma¨chtige indische Ko¨nigin, der Leitstern seiner bisherigen Existenz (768,10 ff.), verblasst angesichts der u¨berwa¨ltigenden Wirkung Repanses. An dieser richtet er sein Leben neu aus, und um ihretwillen ist er bereit, seinen Go¨ttern abzuschwo¨ren. Feirefıˆz’ Entgegnung auf die beleh¨ bertritt zum Christentum als Farce renden Worte des Priesters lassen seinen U erscheinen: ‚ist ez mir guot fu¨r ungemach, ich gloub swes ir gebietet. op mich ir minne mietet, soˆ leist ich gerne sıˆn gebot. bruoder, haˆt dıˆn muome got, an den geloube ich unt an sie (soˆ groˆze noˆt enpfieng ich nie): al mıˆne gote sint verkorn.‘ (818,2 – 9) ‚Wenn das Taufwasser mir gegen meinen Liebesschmerz hilft, so will ich glauben, was immer Ihr verlangt. Wenn ihre Minne mein Lohn ist,
18 Besonders Brunner 1991 und Bumke 1991 haben diesen Umstand klar herausgestellt.
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will ich gern dem christlichen Gott Folge leisten. Bruder, wenn Deine Tante einen Gott hat, so will ich an ihn glauben und an sie auch – ich habe niemals zuvor so große Qualen erfahren. Meinen ganzen Go¨ttern schwo¨re ich ab!‘
Doch in der Gralfamilie scheint niemand daran Anstoß zu nehmen, am wenigsten der alte und der neue Gralsko¨nig; von ihnen heißt es, dass sie die offenkundige Versta¨ndnislosigkeit von Feirefıˆz mit einem herzhaften Lachen quittieren (815,1 f.). Wenn Wolfram ganz am Ende einen Ausblick auf Feirefıˆz’ missionarisches Wirken in Indien gibt und auf „Joˆhan“, den Sohn von Feirefıˆz und Repanse zu sprechen kommt, der „priester Joˆhan“ genannt worden sei und in dessen Nachfolge alle Ko¨nige in Indien diesen Namen erhalten ha¨tten (822,21 – 823,3), verknu¨pft er seine Figur mit der Gestalt des Priester-Ko¨nigs Johannes, die im zeitgeno¨ssischen Diskurs u¨ber die Christianisierung des Orients von Belang war : Der indische Großko¨nig erkla¨rte in einem fingierten, von Zeitgenossen jedoch fu¨r authentisch erachteten Brief seine Bereitschaft, die christlichen Glaubenska¨mpfer bei der Befreiung des Heiligen Landes zu unterstu¨tzen.19
3. Zu Beginn des 15. Buches verdeutlicht der Erza¨hler, dass es Parzivaˆl bestimmt ist, auf einen Gegner zu treffen, der auf seinem unerschrockenen Zug durch die Welt noch in jedem Kampf gesiegt hat, einen Heiden, der nichts u¨ber das Christentum weiß (734,29 – 735,4). Etwas spa¨ter pra¨sentiert er die beiden Ritter dann in Sichtweite – womit wir bei jenen Versen angekommen wa¨ren, auf die ¨ bersetzung, zu Beginn seines Artikels zu Trojanow, in neuhochdeutscher U sprechen kommt; ich lasse sie hier auf die entsprechenden mittelhochdeutschen ¨ bersetzung hinzu: Verse folgen und setze eine eigene U 738, 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
ieweders ouge blic enpfienc, daz er den andern komen sach. sweders herze drumbe freuden jach, daˆ stuont ein truˆren naˆhe bıˆ. die luˆtern truopheite vrıˆ, ieweder des andern herze truoc: ir vremde was heinlıˆch genuoc. nune mac ich disen heiden vom getouften niht gescheiden, sine wellen haz erzeigen.
19 Vgl. dazu Bumke 1991; Huschenbett 1989; Schmid 1983; Wagner 2000.
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daz solt in freude neigen, die sint erkant fu¨r guotiu wıˆp. ieweder durch friwendinne lıˆp sıˆn verch gein der herte boˆt. gelu¨cke scheide ez aˆne toˆt.
738, 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Beider Augen blitzten, als sie einander sahen, doch wenn jetzt ihre Herzen ho¨her schlugen, so war die Trauer auch nicht weit. Jeder der treuen, aufrechten Ma¨nner trug na¨mlich das Herz des anderen in der Brust; sie standen einander nahe, auch wenn sie sich beide fremd waren. Nur dadurch, dass sie einander feindlich gegenu¨bertreten, kann ich den Heiden von Christen unterscheiden. […] 18 Mo¨ge ein gu¨tiges Geschick den Kampf enden und dem Tod wehren.
738, 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Ihre Augen begannen zu gla¨nzen, als sie einander kommen sahen. Ihre Herzen mochten Freude daru¨ber empfinden, doch war die Trauer ganz nah. Diese beiden lauteren Streiter ohne jeden Makel – jeder von ihnen besaß das Herz des anderen. Sie waren sich fremd und doch auch sehr vertraut. Ich kann diesen Heiden nicht von dem Getauften wegbringen, ohne dass sie ihre Feindschaft zum Ausdruck bringen. Das sollte die Freude derjenigen niederdru¨cken, die als edel gesinnte Frauen gelten. Denn beide setzten sie um einer geliebten Frau willen Leib und Leben der Ha¨rte des Kampfes aus. Das Glu¨ck mo¨ge dafu¨r sorgen, dass die Sache nicht to¨dlich endet!
Von Belang ist dabei im vorliegenden Zusammenhang vor allem der Unterschied in der Wiedergabe der Verse 738,11 – 13; die entsprechenden Zeilen wurden der Deutlichkeit halber jeweils kursiviert. Es handelt sich bei diesem Unterschied keineswegs um eine Nebensa¨chlichkeit, denn es sind eben jene Verse, mit denen Wolfram nach Trojanow noch einen Schritt u¨ber die Auflo¨sung des essentiellen Gehalts von Fremde hinausgeht: Nur dadurch, dass sie einander feindlich gegenu¨bertreten, kann ich den Heiden vom Christen unterscheiden. So wichtig ist ihm diese Aussage, dass der Dichter das Wort unmittelbar an den Leser richtet; er hebt die Fiktion der Handlung auf, um etwas kundzutun, dass zu allen Zeiten und in allen La¨ndern provokant klingen muss: Das Eigene und das Fremde lassen sich nur dann klar unterscheiden, wenn sie einander beka¨mpfen. Konflikt scha¨rft Differenz, Identita¨t ist die Frucht von Feindschaft. Mit anderen Worten, die antagonistische Haltung, basierend in diesem prototypischen Fall
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auf einer automatischen, dogmatischen Ablehnung des Heiden, des kanonischen Abweichlers, konstituiert den entscheidenden Unterschied. Denn dieser Fremde ist nicht nur wie beschriebenes Pergament, ein Hinweis auf die damals u¨berlegene Bildung der Menschen des Orients, sondern auch schwarz und weiß gefleckt, was als Bild versto¨rt und als Gleichnis u¨berzeugt. Er ist ein Gemischter, und offensichtlich, seinem hehren Auftreten nach zu urteilen, hat er von beiden Welten das jeweils Beste angenommen und verinnerlicht.20
¨ bersetzungen resultiert in erster Die Verschiedenheit der beiden vorgestellten U Linie aus einem unterschiedlichen Versta¨ndnis des Verbs gescheiden in 738,12.21 Wa¨hrend bei Trojanow die Bedeutung „unterscheiden“ angesetzt ist, schlage ich im Rekurs auf die Wo¨rterbu¨cher zum Mittelhochdeutschen die Bedeutung „scheiden“ im Sinne von „trennen“, „sondern“, „separieren“, „auseinander bringen“, „voneinander wegbringen“ vor.22 Entsprechend wird die Stelle im Kommentar von Ernst Martin erla¨utert („auseinander bringen“),23 und auch die ¨ bersetzer (Wilhelm Stapel, Dieter Ku¨hn, Peter Knecht, Arthur wichtigsten U Hatto und Cyril Edwards) haben sich diesem Versta¨ndnis angeschlossen.24 ¨ bersetzung, auf die Einzig Wolfgang Spiewok schert aus – und liefert genau die U ¨ bersetIlija Trojanow sich ganz offenkundig gestu¨tzt hat (Spiewoks Parzival-U zung ist im Reclam-Verlag erschienen und dementsprechend weit verbreitet und leicht zuga¨nglich): „Nur dadurch, daß sie einander feindlich gegenu¨bertreten, ¨ bersetzung kann ich den Heiden vom Christen unterscheiden.“25 Gegen diese U 20 Zeile 60 – 76. 21 Auf die daru¨ber hinaus zu verzeichnenden Divergenzen in der Auffassung der Syntax kann ich hier nicht eingehen. 22 In den einschla¨gigen Wo¨rterbu¨chern wird zwischen einem intransitiven, einem reflexiven und einem transitiven Gebrauch des Verbums gescheiden unterschieden, welches als Intensivierung des Verbums scheiden gilt. Vgl. Mittelhochdeutsches Wo¨rterbuch 1990, Bd. 2,2, S. 103 f.; Lexer 1992, Bd. 1, S. 899. Beim transitiven Gebrauch, wie er an der hier in Rede stehenden Textstelle vorliegt, hebt der Eintrag im Wo¨rterbuch von Benecke, Mu¨ller, Zarncke (BMZ) drei Verwendungsweisen voneinander ab: 1. „scheiden“, „trennen“, 2. „eine Streitsache scheiden / zur Entscheidung bringen“, „schlichten“, 3. „erkla¨ren“, „deuten“. Bei den Versen 738,11 f., in denen gescheiden mit einem Akkusativ der Person verwendet wird, kommt dabei nur die erste Bedeutung in Frage; sie werden im BMZ in der entsprechenden Rubrik als Beleg zitiert (BMZ II,2, 103b). 23 Martin 1903, S. 488. 24 Wolfram von Eschenbach 1997, S. 374: „Aber wollte ich den Kampf zwischen dem Heiden und dem Getauften scheiden, so wu¨rden sie beide mir ihren Zorn erweisen.“; Wolfram von Eschenbach 1994, S. 263: „Ich kann jetzt diesen Heiden nicht / auf Distanz zum Christen halten – sie wollen unbedingt den Kampf.“; Wolfram von Eschenbach 2003, S. 742: „Jetzt kann ich diesen Heiden nicht la¨nger von dem Getauften zuru¨ckhalten und verhindern, daß sie einander wie Feinde begegnen.“; Wolfram von Eschenbach 1980, S. 368: „Now I cannot keep this Infidel from the Christian and prevent them from coming to blows.“; Wolfram von Eschenbach 2004, S. 235: „Now I cannot part this heathen from the Christian, if they wish to make show of enmity.“ 25 Wolfram von Eschenbach 1981, Bd. 2, S. 521. Im taz-Artikel wird die Abha¨ngigkeit von der
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sprechen jedoch nicht nur die in den Wo¨rterbu¨chern erfassten Belege, dagegen spricht u¨berdies der unmittelbare Kontext der Verse. Gemeint sind die vielen Bemerkungen des Erza¨hlers, in denen der Wunsch gea¨ußert wird, das Kra¨ftemessen mo¨ge sich verhindern lassen: die Beteuerung, die Handlung aba¨ndern zu wollen, wenn er es denn in der Hand ha¨tte (734,20 – 22), seine Vorstellung, dass die beiden Ka¨mpfer sich doch ebenso gut ha¨tten verpassen ko¨nnen, seine Kritik an der Grundlosigkeit des Kampfes, seine Klage u¨ber die Gefahren fu¨r Leib und Leben Parzivals (737,22 – 27). All diese Mano¨ver unterstreichen indes nur die Zwangsla¨ufigkeit der Konfrontation – und genau das ist auch die Funktion der hier in Rede stehenden Verse, welche die Unmo¨glichkeit formulieren, die beiden Ritter voneinander trennen zu ko¨nnen, ohne dass es zum Kampf kommt; der antagonistische Impetus ist dem mittelalterlichen Konzept von ‚Ritterschaft‘ inha¨rent und er zieht, so wird hier behauptet, auch der Verfu¨gungsgewalt des Erza¨hlers ihre Grenzen. Die Differenz aber, die sich im Eintreten in den Kampf bekundet, wird im Kampf selbst u¨berwunden, und hier liegt meines Erachtens das eigentlich Unerho¨rte der Szene: Durch den Kampf hindurch finden die beiden Ka¨mpfer zur Gemeinsamkeit. Dass dies mo¨glich ist, verdankt sich allerdings Wolframs erza¨hlerischem Projekt, mit dem er dem Parzival-Stoff in einer ho¨chst eigenwilligen Bearbeitung seiner Vorlage seinen Stempel aufgedru¨ckt hat: einem in geradezu obsessiver Weise entfalteten Verwandtschaftsphantasma, welches die Anlage der Figuren und die Strukturierung der erza¨hlten Welt ebenso pra¨gt wie es die Ideologie des Textes bestimmt.26 Wir sehen es auch in der hier betrachteten Passage am Werk. Durch die fortgesetzten Einlassungen des Erza¨hlers formiert sich na¨mlich nicht nur die Ahnung, dass diese Begegnung aufgrund einer Gleichwertigkeit der beiden Gegner (keiner von beiden wurde jemals besiegt) fu¨r einen oder fu¨r beide to¨dlich enden ko¨nnte; dadurch zeichnet sich u¨berdies mit zunehmender Klarheit ab, dass die Katastrophe, die hier droht, noch eine andere Dimension hat, da die beiden unwissend in einen Bruderkampf eintreten. Wolframs großes Thema, die Bedeutung von Verwandtschaft und ihre Gefa¨hrdung durch die Normen der Ritterschaft, erfa¨hrt in dieser Kampfbeschreibung seine sta¨rkste Zuspitzung, eindrucksvoll verdichtet in den auf den ein lıˆp-Topos und eine Analogie zur Trinita¨t rekurrierenden Reflexionen u¨ber das Einssein der beiden Ka¨mpfer (740,2 – 6; 740,26 – 30; 742,15 – 26; 752,7 – 19). In der Perspektive des Erza¨hlers ist es der christliche Gott, der durch sein Eingreifen das gro¨ßte nur denkbare Unheil ¨ bersetzung freilich nicht aufgedeckt, sondern dadurch verunkla¨rt, dass auch Spiewokschen U fu¨r die Wiedergabe von (neuhochdeutschen) Textzitaten die neue Rechtschreibung benutzt wird. 26 Vgl. Bumke 2004, S. 169 – 176 und die dort und bei Heinzle 2011, Bd. 2, S. 1088 – 1090 erfasste Literatur.
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verhindert, indem er das Schwert Itheˆrs von Gaheviez zerbrechen la¨sst, das Parzivaˆl seit der To¨tung des ihm verwandten Ko¨nigs fu¨hrt: got des niht langer ruochte, daz Parzivaˆl daz reˆ nehmen in sıˆner hende solde zemen. (744,14 – 16) Gott wollte nicht la¨nger zulassen, dass Parzivaˆl das einem Toten geraubte Schwert in die Hand nahm.
Feirefıˆz, der Heide, dankt dagegen Jupiter ; die Tra¨nen, die er vergießt, na¨hern ihn jedoch dem Christentum an – so will es jedenfalls der Erza¨hler (752,20 – 30).27 Als Leser weiß man, dass außerdem Feirefıˆz selbst den unblutigen Ausgang der Konfrontation mo¨glich macht, weil er zuna¨chst einen Waffenstillstand vorschla¨gt und schließlich sein eigenes Schwert von sich schleudert, damit beide Ka¨mpfer die gleichen Chancen haben (744,25 – 745,8; 747,12 – 18). Das Verhalten, aber auch die Dialogfu¨hrung des Heiden zeigen Großmut, Souvera¨nita¨t und Tapferkeit und lassen sein Bild in hellem Glanz erstrahlen. Es ist Feirefıˆz, nicht Parzivaˆl, der den Weg zu einer Verso¨hnung ebnet und einer eindrucksvollen Anagnorisis-Szene den Boden bereitet. Wolfram lo¨st indes in dieser Passage nicht, wie Trojanow meint, den essentiellen Gehalt von Fremde prinzipiell auf, er konstruiert vielmehr eine literarische Fremde, die keine ist, weil sie von gro¨ßtmo¨glicher Na¨he und Vertrautheit fundiert wird, die es lediglich zu entdecken und zu erkennen gilt: der bru¨derlichen Verwandtschaft, der Herkunft von einem gemeinsamen Vater. Und nur in diesem Sinne ließe sich, um Trojanow zu zitieren, sagen: „Der Feind hat mein Herz“, oder, um dem Wolfram’schen Erza¨hler das Wort zu geben: „ieweder des andern herze truoc“ / „beide besaßen sie jeweils das Herz des anderen“ (738,9).
4. 2006 erschien im Hanser-Verlag Ilija Trojanows Roman Der Weltensammler, der rasch zum Bestseller wurde. Das Buch, fu¨r das der Autor noch im Jahr der Vero¨ffentlichung den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt und das inzwischen in zahlreiche Sprachen u¨bersetzt wurde, ist eine Hommage an eine historische Person, an Sir Richard Francis Burton (1821 – 1890), der – um nur einige wenige Stationen aus seinem Leben zu nennen – als britischer Kolonialoffizier nach Indien gelangte, als einer der ersten Europa¨er, als Derwisch verkleidet, die Pilgerfahrt nach Mekka und Medina unternahm und eine große Afrika-Expedition 27 Vgl. dazu den Kommentar von E. Nellmann in der 1994 erschienen Parzival-Ausgabe, S. 762.
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realisierte, auf der Suche nach den Quellen des Nils.28 Ilija Trojanow, in Sofia / Bulgarien geboren, mit den Eltern u¨ber Jugoslawien und Italien nach Deutschland geflohen, wo die Familie politisches Asyl erhielt, in Afrika zur Schule gegangen, dank la¨ngerer Aufenthalte in diesen La¨ndern u. a. mit den Lebenswelten in Mumbai, Kapstadt, Los Angeles und Wien vertraut, hat mehrfach bekannt, wie sehr dieser Burton ihn faszinierte, seit er – nach eigenem Bekunden im Alter von zehn Jahren – in einem Band u¨ber die beru¨hmten Entdecker Afrikas auf eine nachkolorierte Gravur des „arabisch gekleideten Mannes mit wilden Gesichtszu¨gen und strengen Augen“ stieß.29 Sein Aufenthalt und seine Reisen in Indien, sein mehrmonatiger Fußmarsch durch Tansania und seine Teilnahme an der Hadj, der Pilgerfahrt zu den „heiligen Quellen des Islam“ (so der Titel seiner ¨ bereinstimmung mit 2004 publizierten Reportage),30 sind nicht zuletzt, in U seinem poetologischen Programm der mo¨glichst genauen Recherche,31 als Versuche zu sehen, sich diesem Sammler von Welten, von „Sprachen, Kulturen, Religionen und ethnische[n] Identita¨ten“32 anzuna¨hern. Herausgekommen ist dabei nach Trojanows eigenem Versta¨ndnis ein Roman u¨ber das „Bemu¨hen, in die Fremde einzudringen, kulturelle Unterschiede zu erkennen, zu begreifen, zu benennen und sie – sei es durch Maskerade, sei es durch Verwandlung – zu u¨berwinden“.33 Dieses Bemu¨hen pra¨gt auch andere Vero¨ffentlichungen des Autors, am sta¨rksten wohl die gemeinsam mit seinem indischen Kollegen Ranjit Hoskote´ verfasste Streitschrift Kampfabsage,34 eine engagierte Stellungnahme gegen die bina¨re Rhetorik des Schlagworts vom ‚Kampf der Kulturen‘ und ein beredtes Pla¨doyer fu¨r eine Entdeckung und ein neues Versta¨ndnis von Gemeinsamkeiten. Trojanow vertraut dabei auf bestimmte Denkfiguren, mit deren Hilfe die Ausstellung des Trennenden und der Demarkation zugunsten einer Betonung des Gemeinsamen und Verbindenden zuru¨ckgedra¨ngt werden soll. Er konzeptualisiert kulturelle Identita¨t als eine dynamische, auf fortwa¨hrendem Wandel basierende, und eine zentrale Bedeutung erha¨lt dabei die Vorstellung der Vermischung, genauer : des Zusammenfließens. Dabei rekurriert er auf das Bild eines Flusslaufs, der von vielen Neben- und Zuflu¨ssen gespeist werden muss, um zu majesta¨tischer Gro¨ße anwachsen zu ko¨nnen, und dessen „Wesen“ schließlich 28 Ein weiteres Dokument der Anna¨herung Trojanows an Burton ist sein Buch Nomade auf vier Kontinenten, vgl. Trojanow 2007. 29 http://www.ilija-trojanow.de/weltensammler.cfm [12. 03. 2012]. 30 Trojanow 2009. 31 Vgl. http://www.ilija-trojanow.de/recherche.cfm [11. 03. 2012]. Ilija Trojanow: „Recherche als poetologische Kategorie. Die Entzu¨ndung eines narrativen Motors. Antrittsvorlesung von Ilija Trojanow anla¨sslich seiner Gastprofessur an der Freien Universita¨t Berlin.“ Abrufbar unter http://www.vor-lesung.de/autoren/trojanow.pdf [13. 03. 2012] 32 Kunisch 2009. 33 http://www.ilija-trojanow.de/weltensammler.cfm [12. 03. 2012] 34 Trojanow / Hoskote´ 2007.
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durch Vermischung und Zusammenfluss bestimmt wird. „Um das Wesen des Flußes wirklich zu verstehen“, heißt es in der Einleitung zu der Schrift Kampfabsage, „mu¨ßte man […] vor allem die Stellen untersuchen, an denen Wasser zusammenfließen, mu¨ßte herausfinden, was sich erga¨nzt, verdra¨ngt, erneuert“.35 Ein zweites Bild, das Trojanow fu¨r sein Propagieren einer Weltsicht aktiviert, welche das Verbindende als kultur- und identita¨tspra¨gendes Moment in den Vordergrund ru¨ckt, entlehnt er der buddhistischen Vorstellungwelt: es handelt sich um das Bild von Indras Netz. Hierbei stellt „[j]eder Knoten im Netz, in dem sich die Schnu¨re kreuzen […] ein Einzelwesen“ dar ; „und jedes dieser Wesen spiegelt alle anderen um sich herum. Individuen werden sich ihrer selbst durch ihre Verbindungen zu anderen bewußt […]“.36 Mit dem Wissen um dieses Denken erscheint es nur konsequent, dass die Kampfabsage den „Inhabitants of the In-between“ gewidment ist, jenen, „die das Dazwischen bewohnen“.37 Und mit diesem Wissen erha¨lt auch Trojanows Lektu¨re einer Stelle aus dem 15. Buch von Wolframs Parzival eine eigene Plausibilita¨t. Richtiger wird sie dadurch freilich nicht.
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Michael Bernsen
Ge´rard de Nervals Begegnung mit dem Orient, ein Globalisierungsschub in der franzo¨sischen Literatur des 19. Jahrhunderts
Seit einiger Zeit lassen sich zahlreiche Bemu¨hungen um die Weiterentwicklung des Begriffes ‚Weltliteratur‘ beobachten. Im franzo¨sischen Sprachraum werden ¨ berlegungen zur Ersetzung der Konzepte einer frankophonen Literatur durch U die einer ‚litte´rature-monde‘ angestellt.1 Angesichts der vor allem auf dem Gebiet ¨ konomie sowie der Informations- und Kommunikationstechnologie der O stattfindenden Prozesse der Globalisierung ero¨ffnen sich der Literatur neue Legitimationsfelder : Die fiktiven Entwu¨rfe der Literatur ko¨nnen in den allerseits zu beobachtenden Prozessen kultureller Desorientierung dem modernen prota¨ischen Menschen kulturelle Neuorientierungen und damit Identifikationsmo¨glichkeiten verschaffen. Die kulturelle Dezentrierung im Zeitalter der Globalisierung ist die Folge einer Auflo¨sung der u¨ber mindestens zwei Jahrhunderte vorherrschenden Fokussierung auf die Nation. Sie ist des Weiteren die Folge der Auflo¨sung des kolonialen Bewusstseins, welches ein transnationales europa¨isches Projekt war. Einen Meilenstein des Kolonialismus stellt die Expedition Napoleons nach ¨ gypten aus dem Jahre 1798 dar, die den Beginn der systematischen KoloniaA lisierung markiert. Es ist daher von Interesse, einen Blick auf einen Autor zu werfen, der bereits im Entstehungsprozess der Hegemonialisierung des Ostens durch den Westen gru¨ndungsmythische Positionen Europas hinterfragt. Ge´rard de Nervals 1851 vero¨ffentlichte Voyage en Orient ist ein einzigartiges Zeugnis ¨ berheblichkeiten des Europa¨ers. Noch mehr als einer Relativierung kultureller U Nervals Reisebericht geht jedoch seine Lyrik jenen gru¨ndungsmythischen Be¨ gypten sucht und strebungen Europas nach, welches seine Wurzeln speziell in A welches durch die Eroberung dieses Landes zu den Anfa¨ngen der abendla¨ndischen Zivilisation zuru¨ckkehren will. Die Expedition Napoleons, in deren Gefolge 167 Wissenschaftler und Ku¨nstler in der Tradition enzyklopa¨dischen Denkens der Aufkla¨rung die na1 Zur Diskussion des Begriffs vgl. insbes. Rouaud / Le Bris 2007; siehe auch den Beitrag von Bernd Blaschke im vorliegenden Band.
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¨ gyptens ergru¨nden und in der motu¨rlichen und kulturellen Gegebenheiten A ´ numentalen Description de l’Egypte festhalten, zieht die Entzifferung der Hieroglyphenschrift durch Jean-Franc¸ois Champollion im Jahre 1822 nach sich. Der Impetus dieser Entdeckungen ist es, die vermeintlich letzten Ra¨tsel der Menschheit zu lo¨sen. Der besonders im 18. Jahrhundert gepflegte Gru¨ndungs¨ gypten als der Wiege der Zivilisation und der Heimstatt der mythos von A Weisheit soll durch die Expedition Napoleons wissenschaftlich untermauert werden. So heißt es im Vorwort der Description de l’E´gypte: La connaissance de l’Egypte inte´resse, en effet, toutes les nations police´es, soit parce que ce pays fut le berceau des arts et des institutions civiles, soit parce qu’il peut devenir encore le ventre des relations politiques et du commerce des empires.2
Diese Vorstellung findet mit Napoleon ihr Gesicht: Er ist das geschichtsma¨chtige Subjekt der europa¨ischen Moderne, wie es die Literatur sowie die Malerei des Orientalismus propagieren. In Jean-Le´on Ge´roˆmes Gema¨lde Œdipe von 1867/ 1868 steht Napoleon furchtlos vor dem Mischwesen der vormals todbringenden Sphinx, das als Verko¨rperung des Weltra¨tsels fu¨r den Eroberer der Moderne offenbar nur noch musealen Charakter hat. Und in Victor Hugos Gedicht „Lui“ seiner Sammlung Les Orientales heißt es, der General blicke von der großen Pyramide, also vom Feldherrnhu¨gel, in die Tiefe des Raums und lasse so die gesamte Geschichte in ihrer Dynamik wieder auferstehen: Parfois il vient, porte´ sur l’ouragan numide, Prenant pour pie´destal la grande pyramide, Contempler les de´serts, sablonneux oce´ans. La`, son ombre, e´veillant le se´pulchre sonore, Comme pour la bataille, y ressuscite encore Les quarante sie`cles ge´ants.3
Speziell diese Sicht des geschichtsma¨chtigen europa¨ischen Subjekts, das vermag, die vergrabene Geschichte wieder lebendig werden zu lassen und eins mit ihr zu werden, bewirkt, dass der Orpheus-Mythos als einer der europa¨ischen Gru¨ndungsmythen zu Beginn des 19. Jahrhunderts erneut Hochkonjunktur hat. Die Geschichte des Orpheus hat fu¨r das auf der Suche nach der historischen Tiefendimension befindliche Europa des 19. Jahrhunderts eine gru¨ndungsmythische Dimension. Sie hat zudem einen a¨gyptischen Part, der in einem der bekanntesten Gedichte der Moderne, in Nervals „El Desdichado“, eine Rolle spielt.
2 Fourier 1820 – 1829, CVIIIf. 3 Hugo 1964, S. 683 – 686, vv. 55 – 60.
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El Desdichado Je suis le Te´ne´breux, – le Veuf, – l’Inconsole´, Le Prince d’Aquitaine a` la Tour abolie: Ma seule Etoile est morte, – et mon luth constelle´ Porte le Soleil noir de la Me´lancolie. 5 Dans la nuit du Tombeau, Toi qui m’as console´, Rends-moi le Pausilippe et la mer d’Italie, La fleur qui plaisait tant a` mon cœur de´sole´, Et la treille ou` le Pampre a` la Rose s’allie. Suis-je Amour ou Phe´bus ?… Lusignan ou Biron? 10 Mon front est rouge encor du baiser de la Reine; J’ai reˆve´ dans la Grotte ou` nage la sire`ne… Et j’ai deux fois vainqueur traverse´ l’Ache´ron: Modulant tour a` tour sur la lyre d’Orphe´e Les soupirs de la Sainte et les cris de la Fe´e.4
Ge´rard de Nerval hinterla¨sst dieses Sonett im Jahre 1853 gleichsam als Visitenkarte auf einem Notizblock in der Redaktion der Zeitschrift Le Mousquetaire. Es ist eine Montage aus Zitaten eigener und fremder Texte, Anspielungen auf Erlebnisse, historische Figuren sowie auf Bilder. Es ist ein Gedicht u¨ber das moderne Subjekt auf der Suche nach seiner Einzigartigkeit, die in einer profunden Entta¨uschung mu¨ndet.5 Alles, was dieses Subjekt u¨ber sich in Erfahrung bringen kann, ist sein Verhaftetsein in vorgefundenen Anschauungsmustern.6 Das Gedicht gera¨t somit zu einem Streifzug durch die europa¨ische Literaturbzw. Kulturgeschichte auf der Suche des Ichs nach seinem Ursprung. Der Sprecher begibt sich auf eine Reise in eine Unterwelt, die Licht in die Dunkelheit des Jenseitigen bringen soll. Letztlich steht die Reise im Zeichen der Erinnerung ¨ gypten, die vermeintliche Ursprungssta¨tte der Religion der Vernunft sowie an A der Einweihung in die Mysterien. Die Reise des Sprechers fu¨hrt zuna¨chst in die Grotte des neapolitanischen Hausbergs Posillipo (vv. 6 und 10), die Begra¨bnissta¨tte Vergils. Der Held der ¨ neis, eines der großen Vorbilder der Reise in die Unterwelt, ist, wie Vergil’schen A der Sprecher des „Desdichado“, ein vom Schicksal Getriebener („fato profugus“ [v. 2]). Er ist aber zugleich der im Auftrag der Go¨tter treu und pflichtbewusst handelnde Gru¨nder Laviniums („insignem pietate virum“ [v. 10]) und somit ein Held, der die Grundlagen des ro¨mischen Reiches und der Verbreitung des Christentums schafft. Die substantialisierte ‚mutatio vitae‘ des trojanischen Helden vom Vertriebenen zum Reichsgru¨nder gibt ihm nicht nur eine Identita¨t, sondern verleiht seiner Geschichte zugleich eine gesamteuropa¨ische Dimension. Der Sprecher Nervals geht zeitlich weiter zuru¨ck: Seine Suche nach einer 4 Nerval 1993a, S. 645. 5 Zur Interpretation des Gedichts vgl. zuletzt Erbertz 2001. 6 Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Ku¨pper 1988, bes. S. 160 – 163.
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gru¨ndungsmythischen Fundierung fu¨hrt u¨ber die Grenzen des Christentums ¨ gypten, dem vermeintlichen Ursprung der Weisheit. hinaus nach A Die meisten Bilder des „Desdichado“ sind, soweit dies u¨berhaupt mo¨glich ist, von der Forschung identifiziert und als Anspielungen auf literarische und ku¨nstlerische Zeugnisse der europa¨ischen Kultur, sowie auf biographische Erlebnisse Nervals verortet worden. Um nur einige maßgebliche Bilder zu nennen: Die Titelfigur des „Desdichado“ stammt aus dem Roman Ivanhoe (1820) von Walter Scott und bezeichnet dort einen um sein Leben gebrachten Ritter. In der Pre´face der Erza¨hlungen Les Filles du Feu (1854) hatte Nerval fu¨r die Beschreibung seiner halluzinatorischen Gemu¨tszusta¨nde a¨hnliche Stilisierungen wie im Gedicht gewa¨hlt: „Ainsi, moi, […] le prince ignore´, l’amant myste´rieux, le de´she´rite´, […] le beau te´ne´breux […])“.7 Das Oxymoron der schwarzen Sonne symbolisiert den Weg des Sprechers zwischen Licht und Finsternis. Das Bild wird von Nerval selbst in seinem Voyage en Orient mit Albrecht Du¨rers Melencolia in Verbindung gebracht,8 womit das lyrische Ich sich als typischer Repra¨sentant der melancholischen Grundstimmung der Moderne erweist. Das Gedicht u¨ber die Verwandlungen des lyrischen Ich hat eine ra¨umliche und eine ¨ bergangs personelle Mitte: Im ra¨umlichen Zentrum steht die Grotte als Ort des U in eine jenseitige Welt, im personellen Zentrum der griechische Sa¨nger Orpheus.9 Nervals „Desdichado“ erweist sich somit als ein Schwellentext, der jenseitige und diesseitige, antike und moderne Vorstellungen miteinander in Verbindung bringt. Und dieser Synkretismus hat seine Wurzeln in der Erinne¨ gyptens. rungsgeschichte A Auf den ersten Blick gewinnt man den Eindruck, dass Nerval vor allem auf jenen Teil des Orpheus-Mythos abstellt, in dem von der Zerstu¨ckelung des griechischen Dichters die Rede ist. Der mythischen Erza¨hlung zufolge, die insbesondere durch Vergils Georgica bekannt ist, wird Orpheus nach der vergeblichen Befreiung seiner Gattin Eurydike aus dem Hades von thrakischen Frauen anla¨sslich eines Bacchus-Festes zerstu¨ckelt, da er sich wegen der Treue zu seiner Gattin der Liebe zu anderen Frauen verweigert.10 Der Bezug zur Zerstu¨ckelung des thrakischen Sa¨ngers la¨ge dann in der Zerrissenheit des modernen Subjekts, die Nervals Sonett dem Leser vor Augen fu¨hrt. Der Sprecher spielt eine ganze Fu¨lle von Modellen einer mo¨glichen Identita¨t durch, ohne sich auf eine Rolle festlegen zu ko¨nnen. Die entscheidende Frage: „Suis-je Amour ou Phe´bus ?…“ (v. 9) zeigt den Sprecher hin- und hergerissen zwischen einem in die Leiden7 Nerval 1993b, S. 452. Vgl. auch die Anmerkungen zu „El Desdichado“ von Jean-Luc Steinmetz in: ebd., S. 1277. 8 Nerval 1984, S. 301: „Le soleil noir de la me´lancholie, qui verse des rayons obscurs sur le front de l’ange reˆveur d’Albert Du¨rer.“ 9 Dies hat insbes. Stierle 1967, S. 112 gezeigt. 10 Vgl. Vergil 1990, Buch 4, vv. 520 – 523.
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schaft verstrickten Liebenden, symbolisiert durch die Personifikation des Lie¨ bermittler der Wahrheit, verko¨rpert besgottes Amor, sowie einem Seher und U durch Pho¨bus Apoll. Jenes „Modulant tour a` tour“ (v. 13) la¨sst alsdann die Zerrissenheit des Sprechers erkennen. Es handelt sich um eine Personifikationsallegorie des Dichter-Sa¨ngers, der die im Gedicht vorgestellten verschiedenen Identifikationsmo¨glichkeiten nicht zu einer einheitlichen Sicht zusammenfu¨hren kann und in der Rolle eines Desdichado die Vervielfa¨ltigung seines Ichs als Verlust erfa¨hrt.11 Nun ist Orpheus jedoch nicht nur Dichter und Sa¨nger. Er ist auch ein Religionsstifter, Theurge und Erfinder bacchantisch-dionysischer Mysterienspiele, ¨ gypten nach Griechenland mitgebracht hat. Orpheus ist ein von den die er aus A a¨gyptischen Priestern in die Mysterien der Theologie Eingeweihter. Er hat den ¨ gypter durchlaufen. Erst in dieser Prozess der Initiation in die Weisheit der A Doppelrolle aus Sa¨nger und Dichter auf der einen Seite und Religionsstifter auf der anderen Seite entwirft der Mythos von Orpheus im „Desdichado“ seinen vollen Sinn. Durch die Doppelrolle wird Orpheus zu einem Mischwesen, zu einer Chima¨re. Und diese Doppelrolle spielt das Sonnet „El Desdichado“ der Chime`res aus. Seit dem fu¨nften bzw. sechsten Jahrhundert vor Christus ist Orpheus in Griechenland als Mysterienstifter bekannt.12 Den historischen Schriften des ¨ gypter mit Diodorus von Sizilien zufolge hat Orpheus die Bestattungsriten der A nach Griechenland gebracht.13 Die Hauptfigur dieser Mysterien ist Dionysos, ¨ gypten als Osiris in kultischen Zusammenha¨ngen den der Religionsstifter in A kennen gelernt hat. Im franzo¨sischen 18. Jahrhundert wird die mythische Erza¨hlung vom Religionsstifter ‚Orpheus‘ vor allem durch den fru¨haufkla¨rerischen Roman Sethos (1731) des Abbe´ Jean Terrasson u¨berliefert, der sich in Freimaurerkreisen ho¨chster Popularita¨t erfreut. Wenig spa¨ter, bei Charles-Franc¸ois Dupuis, einem ebenfalls in Freimaurerkreisen bekannten Professor fu¨r lateinische Rhetorik am Colle`ge de France, wird die mythische Erza¨hlung vom Religionsstifter ‚Orpheus‘ weiter kolportiert, zugleich jedoch ihrer fru¨haufkla¨rerischen kritischen Hinterfragungen entledigt und in holistische Vorstellungen einer mythischen Gru¨ndungserza¨hlung zuru¨ckgeholt. In seiner Schrift Origine de tous les cultes, ¨ gypten als „me`re patrie de toutes les ou Religion universelle von 1795 gilt A 14 religions“. Orpheus wird bei Dupuis zum Urheber einer synkretistischen Universalreligion. Als ein solcher ru¨ckt er dann ins Zentrum der Bescha¨ftigung 11 12 13 14
Vgl. insbes. Erbertz 2001, S. 351. Vgl. dazu Mu¨nzer 1893 – 1978, bes. Sp. 1238. Vgl. Diodorus 2004, Buch I, 96, 4. Dupuis 1822, S. 14.
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mit der Figur in der Romantik. In seinem Discours sur l’essence et la forme de la poe´sie von 1813 versucht der Philologe, Theosoph und Verbreiter okkultistischer Anschauungen Antoine Fabre d’Olivet die orphische Tradition mit der des Alten Testaments zu verbinden. Orpheus und Moses sind fu¨r Fabre beide von den a¨gyptischen Priestern ausgebildet worden. Beide haben a¨hnliche Ansichten u¨ber die Einheit Gottes, die sie nur auf unterschiedlichen Wegen vermitteln.15 In der Tradition der pythagora¨ischen Philosophie, in der Fabre sich als Bewunderer des Orpheus situiert, ist es das Ziel des theologischen und philosophischen Synkretismus, die Einheit der kulturellen Anschauungen der Vo¨lker herauszustellen: Religionsstifter Orpheus wird bei Fabre d’Olivet somit zu einer europa¨ischen Gru¨ndungsgestalt, „auquel l’Europe doit l’e´clat dont elle a brille´, et dont elle brillera longtemps“.16 Fabres spa¨tere Schrift Le Retour aux Beaux Arts liefert sogar die Vorlage fu¨r Nervals ra¨tselhaften Vers 12, wenn es vom griechischen Religionsstifter und Dichter heißt, er sei erfolgreich aus der Unterwelt zuru¨ckgekehrt: „Deux fois du sombre Styx franchit le noir torrent.“17 Der Sprecher des „Desdichado“, jener „Te´ne´breux“, begibt sich auf die Suche nach dem Licht. Dabei fa¨llt sein Blick auf den Vulkanberg Posillipo, der ihn zugleich auf den Ursprung des Lichts, den Orient, verweist. Im Gedicht „Myrtho“ der Chime`res heißt es na¨mlich: Je pense a` toi […] Au Pausilippe altier, de mille feux brillant, ` ton front inonde´ des clarte´s d’Orient, A […]18
Der feuerspeiende Hausberg Neapels ist fu¨r den Sprecher ein Tor zum Orient.19 Die gedankliche Fahrt zum Licht des Orients fu¨hrt im „Desdichado“ von Neapel aus u¨ber das Wasser, was man aus der Bewegung des „porter“ (v. 4), des Ge¨ berfahrt u¨ber den Acheron (v. 12), tragenwerdens, wieder aufgegriffen mit der U sowie der offenkundigen Orientierung an den Sternen („Ma seule E´toile“, [v. 3]) schließen kann. Mit sich fu¨hrt der Sprecher die Sonne, womit auf suggestive ¨ gyptens, der vom Lauf der Sonne, aufgeWeise einer der Ursprungsmythen A 15 Wa¨hrend Moses der Nachwelt die go¨ttliche Einheit mit ihren ewigen Entscheidungen nahe gebracht hat, hat Orpheus diese Einheit in einer Erfindung des Polytheismus auf verschiedene go¨ttliche Wesen verteilt, um auf diese Weise die Menschen auf dem Stand ihrer zivilisatorischen Entwicklung abzuholen und fu¨r die Religion zu vereinnahmen. 16 Fabre d’Olivet 1813, S. 45. 17 Fabre d’Olivet 1824; ohne Angabe der Seite zitiert bei Juden 1971, S. 191. 18 Nerval 1993d, S. 645 f., vv. 1 – 3. 19 Zu dieser Stelle in „Myrtho“ vgl. Marchal 2004, bes. S. 33 f. Marchal fu¨hrt noch eine weitere Stelle aus Nervals Erza¨hlung „Octavie“ an, die die Ankunft des Dichters in Neapel beschreibt: „Notre vaisseau touchait au port de Naples et nous traversions le golfe entre Ischia et Nisida, inonde´es des feux de l’Orient.“ (Nerval 1993c, S. 606).
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rufen wird: Der Sonnengott Re fa¨hrt auf einer Barke mit der Sonnenscheibe am Tag u¨ber den Himmel und zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang in die Unterwelt, um durch die Vereinigung mit dem Gott Osiris neue Kraft zu finden. Die Sonnenbarke tritt auf dieser Nachtfahrt am Abend in den Mund der Himmelsgo¨ttin Nut ein und verla¨sst sie am Morgen durch ihren Schoß. Auf ihrem Weg muss sie sich der Herausforderung durch die Drachen-Schlange ¨ berwindung des Todes und der Apopis stellen. Der Mythos erza¨hlt von der U Formung der Lebenslinie zu einem Kreis. Der Sonnenlauf symbolisiert die Dauer ; er vermittelt die Vorstellung von der „in der unendlichen Wiederkehr kreisenden Zeit“ (a¨gypt. „Nehet“), wodurch der Mythos eine kosmologische Dimension erha¨lt.20 Beschreibungen dieser Bildlichkeit finden sich bereits in der Description de l’E´gypte sowie in Carl Richard Lepsius Edition des ptolema¨ischen Totenbuchs-Papyrus aus Turin von 1842, mit dem Nerval sich anla¨sslich seiner Orientreise bescha¨ftigt hatte, aber auch in einem Bu¨hnenbild Schinkels zur Mozartschen Zauberflo¨te, die Nerval gerne – so der Orientreisebericht – in der großen Cheops-Pyramide auffu¨hren wu¨rde. Wie im a¨gyptischen Mythos vom Sonnenlauf steht auch Nervals Eintritt in die Grotte des Posillipo im Zeichen einer Erneuerung. Die archaische Vorstellung vom Eintritt in den Kopf und dem Wiederaustritt aus dem Schoß der Himmelsgo¨ttin, die die Idee der Wiedergeburt vermittelt, wird bei Nerval angedeutet, denkt der Sprecher doch zuna¨chst ¨ ffnung des Posillipo und dann am Ende an den Austritt aus an die vulkanische O der Grotte des Bergs. Das lyrische Ich des „Desdichado“ hat sich auf diesem Weg bedrohlichen Herausforderungen stellen mu¨ssen, hier denen der Sirene.21 Es verla¨sst die Grotte mit erro¨teter Stirn („Mon front est rouge“, [v. 10]), was auf die Wiedergewinnung des Lichts schließen la¨sst, wenn man an die Metapher des „front inonde´ des clarte´s d’Orient“ des Posillipo aus „Myrtho“ denkt. Die Formel greift zudem die des Voyage en Orient wieder auf, wo es heißt, Orpheus habe die ¨ gypter mit dem Zeichen go¨ttlicher Erleuchtung wieder heiligen Sta¨tten der A verlassen („[le] front ceint de lueurs divines“).22 Bertrand Marchal hat darauf hingewiesen, dass der Begriff Grotte, im Vulga¨rlateinischen ‚grupta‘, vom griechischen jqupt^, Krypta, abstammt. Krypten sind nicht nur verborgene Grabsta¨tten, sondern, wie sie Freud spa¨ter beschrieben hat, verdra¨ngte, unzuga¨ngliche Zonen der Erinnerung, eine fu¨r einen halluzinatorisch veranlagten Schriftsteller wie Nerval naheliegende Vorstellung.23 Nervals Sprecher im „Desdichado“ scheint demnach mit der Fahrt in die 20 Vgl. dazu Assmann 2004, S. 28 f. 21 Vgl. dazu Marchal 2004, S. 38 – 40, der diese Stelle mit der aus dem Voyage en Orient zusammenbringt, wo von der To¨tung des Drachen durch den heiligen Georg die Rede ist. 22 Nerval 1984, S. 346. 23 Der Name Posillipo bedeutet im Griechischen „das, was den Kummer enden la¨ßt“ (Marchal 2004, S. 41 f.).
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Grotte in solche Krypten einzudringen. Er scheint in den Bildern, den Vorstellungen und den Mythen die Krypten aufzuschließen, das Urspru¨ngliche, die Gru¨ndungsgeschichten freizulegen. Doch ist der Tenor des Nervalschen Gedichts den romantischen Vorstellungen einer synkretischen, universellen Religion und Philosophie a¨gyptischer Provenienz ganz und gar gegenla¨ufig: Seine Vorstellung von Orpheus, der mit dem Bild vom „luth constelle´“ (v. 3), dem von Ptolema¨us beschriebenen Sternbild der „Leier“, also der letztendlichen Erscheinungsform des antiken Dichters und Religionsstifters am Himmel, eingefu¨hrt wird, wirft in den Terzetten nur Fragen auf. Religionsstifter und Sa¨nger, Erfinder eines dionysischbacchantischen Kultes und Liebesdichter sind fu¨r Nerval getrennte Wesen, die in der Moderne nicht mehr zusammengehen. Die sich widersprechenden Wahrnehmungen beim Eintritt in die Grotte zeigen dies an: Die Rebe, die Dionysos dem Mythos nach seinem Herzen entsprießen ließ, trifft auf die Blume, hier die Rose. Nach dem Aufenthalt in der Grotte erinnert sich der Sprecher einerseits an die Seufzer der Heiligen, andererseits an die Schreie der Fee. Entsprechend lautet die zentrale Frage: „Suis-je Amour ou Phe´bus?“, d. h. Liebender oder Seher. Die Suche nach der Identita¨t qua Erleuchtung, die Initiation in die letztendlichen Dinge, die den Sprecher in die Grotte des Posillipo fu¨hrt, endet mit der Erkenntnis, dass die unterschiedlichen Vorstellungswelten nicht zusammen kommen. Der Sprecher ist wie Orpheus eine zerrissene Existenz, der zwar als Dichter und Musiker durchaus seine Macht auszuu¨ben vermag, als Seher der letzten Dinge jedoch scheitert. Der Orpheus des Mythos, Begru¨nder des Kultes des Dionysos, der als Mysteriengott fungiert und das Glu¨ck der Verstorbenen sichern soll,24 erleidet das Schicksal der Zerstu¨ckelung des Osiris sowie des Dionysos, dessen Beiname ‚Zagreus‘, der ‚Zerstu¨ckelte‘ lautet, mit dem Unterschied, dass er nicht, wie Osiris, durch eine Restitution seines Ko¨rpers in einen neuen Zustand und damit in ein neues Leben u¨berfu¨hrt wird. Der „Desdichado“ ist somit eine Absage an jene Gru¨ndungsmythologie Europas, die im Zuge der Eroberungen des Orients beansprucht, durch eine synkretistische Zusammenschau eine universale Sicht der Dinge zu erzielen.
¨ bersetzung der italienischen Originalausgabe, einer Publikation 24 Vgl. Burkert 2003, S. 82 (U der „Lezioni veneziani“ unter dem Titel: Da Omero ai Magi, la tradizione orientale nella cultura greca. Venedig 1999).
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Marc Maufort
Forging Native Idioms: Canadian and Australasian Performances of Indigeneity in an Age of Globalization
In the past few decades, our increasingly globalized world has made it possible for previously unheard Aboriginal voices to gain access to quasi-mainstream performing venues. However, the expression of these indigenous artists’ “Otherness” cannot be homogenized, contrary to what the current trend towards a global culture of “sameness” would seem to suggest. Rather, the growing body of Aboriginal drama in contemporary Canada and Australasia sheds light on the manifold ways in which Native playwrights negotiate globalization so as to preserve the uniqueness of their specific cultural and aesthetic traditions. In these pages, I propose to offer a comparative analysis of selected contemporary Aboriginal plays in English Canada and Australasia (i. e. Australia and New Zealand) in the hope of documenting this process. Although often likened as settler colonies of the former British Empire, Canada, Australia, and New Zealand can boast unique traditions of Native drama, in the local configurations of First Nations, Aboriginal or Ma¯ori drama. The growing success of indigenous drama in Canada and Australasia has characterized the last decades of the twentieth century, with prominent examples such as Tomson Highway (Canada), Jack Davis (Australia) and Hone Kouka (New Zealand). At the dawn of a new century, indigenous drama in Canada and Australasia is constantly recreating itself through imaginative reinventions of Aristotelian precepts, thus evading easy categorizations and definitions. These innovative dramatic productions constitute a vivid celebration of the cultural wealth of localized Indigenous identities. A detailed study of Indigenous theatre shows how the discipline of comparative drama could contribute to a reconsideration of the theoretical notion of World literature, as formulated by David Damrosch. Goethe’s 1827 concept of Weltliteratur, of a literature transcending national boundaries, Damrosch reminds us, prefigured our global modernity (cf. Damrosch 2003, p. 1). Indeed, contemporary globalization makes it impossible for us today to ignore works written outside the confines of Europe. Damrosch regards world literature as a network of circulation of literary works. He views it as a mode of reading taking
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into account the specific local environment in which the foreign literary work is received (cf. Damrosch 2003, pp. 3 – 5). In this regard, he usefully refers to the notion of refraction: This refraction, moreover, is double in nature: works become world literature by being received into the space of a foreign culture […]. World literature is thus always as much about the host culture’s values and needs as it is about a work’s source culture; hence it is a double refraction, one that can be described through the figure of the ellipse, with the source and host cultures providing the two foci that generate the elliptical space within which a work lives as world literature, connected to both cultures, circumscribed by neither alone. (Damrosch 2003, p. 283)
This sense of cultural in-betweenness, which echoes Homi Bhabha’s postcolonial theories, is detectable in the process of “refraction” of Western dramatic tradition through Native idioms in the three case studies considered in this essay. Indeed, the playwrights examined here develop a unique hybrid aesthetics combining Western postmodern devices (historiographic metadrama and intertextuality) with Indigenous material (storytelling and allusions to myths). Admittedly chosen arbitrarily from the vast contemporary landscape of Indigenous playwriting, these works nonetheless lend themselves particularly well to a comparative analysis, given their contrasting aesthetic devices. The emerging writers discussed here expand the conventional limits of dramatic form in order to resist being exoticized, indeed levelled out as imagined ‘Others‘ by mainstream Anglo-Celtic audiences in Canada and Australasia. In doing so, they urge their constituencies to question the underlying assumptions of the very concept of ‘Native / Indigenous’ drama.1 A study of their works highlights the radically elusive character of Indigenous performance, whose shape-shifting features foreground David Damrosch’s notion of refraction. As a European critic, I am of course aware that the study of Indigenous playwriting is fraught with difficulties for outsiders. While I acknowledge the value of analysing these works from the perspective of Native epistemologies, I contend that Western methodologies should not be completely avoided, precisely in view of the hybrid aesthetic of my corpus of plays. As I have indicated elsewhere, I plead for the coexistence of a multiplicity of approaches combining Native, postcolonial, or indeed Western perspectives on this material.2 1 I owe a debt of gratitude to Dorothy Figueira, whose critique of theories of alterity in Western academe indirectly served as a source of inspiration for this part of my argument. For more information on this topic, the reader is invited to turn to her book, Otherwise Occupied, especially to the chapter entitled “Multiculturalism” (pp. 15 – 29). 2 In my book, Labyrinth of Identities, the reader will find a more detailed discussion of this point in relation to Native drama in the U.S.A. (pp. 140 – 142). In her recent Native American Drama. A Critical Perspective, Christy Stanlake offers a groundbreaking study of Native playwriting through the lens of Indigenous epistemologies.
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I In English-Canada, the works of Cree playwright Tomson Highway paved the way for the emergence of a strong tradition of Aboriginal theatre, represented by the plays of such prominent artists as Daniel David Moses, Drew Hayden Taylor, Margo Kane, Shirley Cheechoo, Monique Mojica, and Yvette Nolan.3 Highway’s groundbreaking works, The Rez Sisters (1986) and Dry Lips Oughta Move to Kapuskasing (1989), revolved around the figure of the Native Trickster, almost inviting the general public to associate Native drama with that mythical creature. However, the nature of what constitutes Indigenous theatre continues to be debated in Canada at the dawn of the twenty-first century. Drew Hayden Taylor, for instance, has repeatedly voiced his opposition to the widespread concept that Native plays should necessarily stage a Trickster, arguing that Native playwrights should not be confined to pre-determined forms. Like Anglo-Celtic writers, they should feel free to experiment (cf. Taylor 2002, p. 28). A similar desire to transgress established aesthetic boundaries typifies Indigenous performance practices in Australia and New Zealand. Emerging British Columbia Native playwright Kevin Loring offers a case in point of this search for artistic freedom in his recent play, Where the Blood Mixes (2007). Unlike Tomson Highway’s dramaturgy, Loring’s work does not rely on the literal presence of Nanabush, although the dramatist’s use of Native myths and humour indirectly suggests a tricksterish mood. In short, this play revisits the painful residential school experiences of a group of Native characters, including Floyd, Mooch, and June, forcibly taken away from their families. In the residential schools run by missionaries, they were often subjected to physical abuse. In addition, Anne, Floyd’s wife, suffered from a life-long depression as a result of this trauma, which eventually led to her suicide. Her daughter, Christine, was subsequently taken away from her father’s custody to be raised in a white family. The play powerfully dramatizes Christine’s attempt to reconnect with her roots, a rebirth of sorts, which echoes the salmon’s journey up the river. The play concludes with a reconciliatory reunion between Floyd and Christine. In his introduction, Loring stresses the importance of both his Native language and of the magic realist atmosphere of the play. He provides a detailed analysis of how his epigraph, written in N’laka’pamuxtsn, should be pronounced, a sign of his refusal to readily accept the dominance of English. The translation of this epigraph asserts the redemptive power of the salmon. In other words, it establishes the Native sense of contiguity between nature and human 3 For additional background material about these earlier generations of Native Canadian playwrights, as well as about the founding artists of Australian Aboriginal drama and Ma¯ori theatre, the reader could consult my book, Transgressive Itineraries.
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beings: “[O Salmon, thank you for returning to Lytton (Kumsheen), we will be strong now that you have given us your life. Thank you]” (Loring 2009, p. 9). In the first silent scene, the deep waters where the salmons live are associated with the ghost of the dead, in this particular case Anna. This presupposes the absence of boundaries between the world of the living and the supernatural, which points to Loring’s use of use of mythic magic realism, as European critic Jeanne Delbaere would term it. Magic realism, Delbaere argues, is often used by postcolonial or minority writers to express a reaction against the center, against hegemonic society, thus constituting a sign of resistance against globalization. Magic realism reinforces the postmodern concept of the “ex-centric”. It serves to designate a fracture in the real resulting in a transitory conflation of incompatible phenomena. What Delbaere describes as “mythic realism”, a variant of magic realism, emanates from the supernatural features of the environment itself rather than from the character’s psyche, a definition that can be expanded to incorporate texts alluding to the mythical cosmologies of Indigenous people (Delbaere 1995, pp. 252 sq.). This sense of mythic magic realism pervades the entire play. It recurs when Christine feels overwhelmed by “hundreds of crumpled letters”: “From the letters come the overlapping voices of the Chorus of the Lost—the disconnected voices of children trying to connect to their families” (Loring 2009, p. 27). In this instance, mythic magic realism introduces Loring’s reinterpretation of the history of the Canadian residential schools system from the perspective of the victimized Indigenes. Throughout his play, the dramatist evokes the infamous period during which Native children were forcibly removed from their families, presumably to favour their assimilation into White society. The searing doubt of identity this cultural genocide created is emphasized as an imaginary Christine exclaims against the chorus background: “Who am I?” (Loring 2009, p. 29). Thus, Loring’s work belongs to the tradition of historiographic metadrama that Helen and Joanne Tompkins have identified as a staple feature of post-colonial theatre (cf. Gilbert / Tompkins 1996, pp. 106 – 163). Loring’s revisionist stance focuses on the ways in which a dominant political racist discourse emotionally affects Natives. Thus, it prompts theatregoers to reassess the ways in which one can stage history. Later in the play, the sturgeon itself becomes associated with Loring’s magic realist aesthetic, as Mooch comments: “My grandfather used to say that they swam in the river between here and the spirit world” (Loring 2009, p. 37). In a final conversation between June and Christine, the magic realist overtones of Loring’s play reach a climax, as the spiritual significance of the Native soil is reasserted: This place is called Kumsheen in our language…the place inside the heart where the blood mixes…they say that Coyote got his guts split open on that cliff up the valley, there, when he was fighting a giant; you can see the different colours in the granite that
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look like intestines. That’s his guts on the rock, his heart was thrown into the river here. This place is the heart of our people. (Loring 2009, p. 78)
Thus, Native people are closely associated with a shape-shifting cosmology embodied by the Coyote, which indirectly recalls Highway’s trickster. The play ends on a reminder of the magic realist powers of the sturgeon, whose ghost-like appearance bespeaks a link with the realm of the dead: “In the dark light of a deep pool the ancient sturgeon waits, her long sensuous ghost-grey body gently swaying in the current below” (Loring 2009, p. 90). In its coda, then, the play triumphantly foregrounds the spiritual power of Nature. Loring’s work is not only lyrical: it also comprises numerous comic, even farcical, episodes, which offer a tricksterish contrast to the playwright’s magic realism. The early scenes of the play provide a case in point: they focus on the boyish jokes of two ageing characters, Mooch and Floyd, who keep arguing while drinking in their favorite bar. Mooch’s storytelling likewise acquires comic overtones. Evoking the memory of a fishing party with his grandfather, Mooch elaborately tells us that he was about to get one of the biggest sturgeon on earth, only to confess that he left out of sheer fright instead of shooting the fish (Loring 2009, p. 38). Comic effects are also reached at the expense of a quasi-misogynistic depiction of female characters: irritated at Mooch’s drinking up of the household savings, June almost assaults him physically (Loring 2009, p. 50). This light-hearted mood prepares us for the darker episodes in which Loring revisits the protagonists’ painful experiences of their residential school days. Mooch indicts the missionary enterprise when recounting that he was abused by a priest, after running away from the school. Further, June underlines the cultural genocide process through which residential schools forced Natives to despise themselves. In his final encounter with his long-lost daughter Christine, Floyd reveals how the residential school system negatively affected his wife Anna: “She had that depression […]. Moody, depressed, crying all the time” (Loring 2009, p. 86). Floyd feels guilty for her death, which happened after he shouted at her in a state of drunkenness. Instead of trying to prevent her from committing suicide by drowning, he let her leave the bar. Upon confessing this to his daughter, Floyd breaks down. As Christine feels touched, both father and daughter eventually laughingly embrace. Having reconnected with her roots, Christine invites Floyd to visit his grandson and her adoptive white parents, which Floyd vows to do (Loring 2009, pp. 86 – 88). This coda displays a sense of spiritual regeneration that transcends the negative impact of the residential school education. Similarly, June and Mooch, whose marriage had been ailing, reconcile. Indeed, Mooch, who, like Floyd, feels guilty for failing to save Anna, eventually realizes that his wife June cares about him. As he contemplates committing suicide in the
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same way as Anna, she urgently advises him to stop thinking about the past in order to reconstruct their relationship. All in all, Kevin Loring’s first play offers a remarkable degree of aesthetic complexity. Its subtle blend of historiographic metadrama and magic realism refracts Western dramatic linearity, in as much as this Euro-American template allows the playwright to stage the woes of the Native predicament.
II For the past fifteen years or so, Wesley Enoch has acquired prominence on the Australian stage, especially with his innovative solo performance show The 7 Stages of Grieving (1995), which offered a searing account of Aboriginal history, while affirming hope for a future reconciliation between the nation’s different ethnic constituencies. This talented artist is widely acclaimed as the heir to Aboriginal poet and playwright Jack Davis. The latter’s First Born trilogy, comprising successful plays produced in the 1980s, The Dreamers, No Sugar, and Barungin (Smell the Wind), has significantly contributed to the mainstream public and critical acceptance of Aboriginal drama in Australia. In particular, Davis’ oft-anthologized The Dreamers exhibits a hybrid dramatic form fusing naturalism with Indigenous storytelling. Echoes of the Aboriginal Dreaming, which encodes myths of creation, can be perceived in the constant background presence of an imaginary Aboriginal dancer. The latter symbolizes the Native culture the protagonists have lost through the alienating influence of contemporary Australia. In Black Medea, first produced by Sydney Theatre Company’s Blueprint at the Wharf 2 Theatre in 2000, Wesley Enoch revitalizes Jack Davis’ Aboriginal aesthetic through intertextual allusions to and engagement with the European classics. Like Loring, he resorts to magic realism, in an attempt to question the Western perception of reality. In this way, he extends the limits of Aboriginal writing. As he himself states in the published version of this play, The power of a classic is that it can survive generations of interpretation and still be relevant to a modern time. Issues of love, violence, loyalty and betrayal are universal themes […]. I felt that Aboriginal theatre must tackle big issues and find a depth of expression and spirit, and the classics was a way of doing it (Enoch 2007, p. 59).
In this powerful work, Enoch revisits Euripidean material from a distinctly Aboriginal and postcolonial perspective. He explores the identity crisis experienced by an Aboriginal woman who left her Native land for the sake of love and material gain. As is well-known, Medea plays a pivotal role in the myth of Jason and the Argonauts as well as in Euripides’ eponymous play. According to most
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variants of the legend, Medea, endowed with gifts of witchcraft, became Jason’s wife after helping him to secure the Golden Fleece. As a result, she left her Colchis family, becoming an exile in Jason’s Corinth. Prominent in the myth is Medea’s status as ‘Other,’ i. e., a barbarian, a feature Wesley Enoch recasts in an Aboriginal context. Later selfishly abandoned by the Greek hero, Medea murdered her two sons begotten by Jason as a gesture of revenge. In his dramatization of the myth, Euripides thus emphasizes sexual jealousy, a pattern Enoch reinvents through his intertextual and magic realist aesthetic. The Australian playwright recontextualizes the Greek play from within Aboriginal communities: his Black Medea falls in love with an Aboriginal man from another tribe. This Indigenous Jason seeks to make it in the urban white world, thus relinquishing his own ethnic identity. It is precisely the lure of Westernstyle success that seduces Enoch’s Medea and prompts her to leave her Native culture in order to marry Jason. Eventually, she is unable to find any form of happiness away from her family roots. In other words, Enoch emphasizes the spiritual value of the land so crucial to Aboriginal cultures. He depicts an abusive Jason, who becomes increasingly violent towards Medea. Ironically, Jason engages in economic activities associated with the white exploitation of the land. The playwright alludes to the colonizer’s mining industry, which is viewed as a crime against Aboriginal culture. Medea reminds Jason of the importance of the land: she urges him in vain to abandon his “mining royalties” (Enoch 2007, p. 75), a symbol of Western greed, if their union is to survive and if they both wish to escape spiritual death. Thus, Enoch complicates the original Euripidean pattern by making it clear that both Medea and Jason suffer from cultural alienation. From the very start of the play, Enoch highlights the bond between the land and Medea, by introducing allusions to the supernatural, to the Aboriginal concept of the Dreaming, i. e. creation stories and myths related to specific Indigenous tribes: “Medea walks the perimeter of the space. A desert wind blows. The walls come alive. She winks in and out of sight as she walks. She glides as if by magic” (Enoch 2007, p. 61). The first moments of the play thus reveal Enoch’s magic realist aesthetic. In a battle cry, Medea vehemently expresses her profound link with the land: “I am a daughter of this Land, I have the knowledge of my people. I have the power of my clan” (Enoch 2007, p. 61). In an echo of Euripides, Enoch resorts to a chorus, which is clearly gendered feminine, as it is to be enacted by a female performer. Further, this chorus humorously highlights Enoch’s reliance on Aboriginal storytelling: “CHORUS…G’day, you fellas. […] we are the storytellers” (Enoch 2007, p. 65). At the end of the second section, Enoch establishes a connection between Medea, the land, and her female genealogy :
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I had a dream. I dreamt I was staring in the desert and felt I would never be alone. In this dream my mother’s standing there smiling […] Beside her stands my grandmother […] then I can see an ocean of women stretching back out into the desert, stretching out to the horizon making the sand dark […] looking to me (Enoch 2007, pp. 66 sq.).
In this magic realist vision, Medea’s ancestors seem to accuse her for slighting her culture. The chorus further blames Medea for severing her child from his Aboriginal culture. Indeed, this son is educated away from the desert of his ancestors: “What have you done for the boy here? He’s got no dance, no song, his uncles have never walked him through his country” (Enoch 2007, p. 68). Furthermore, in Enoch’s rendering of the myth, Jason himself feels guilty of having rejected his Aboriginal culture for Western values. In an echo of Medea’s vision, Jason dimly becomes aware of his own spiritual sterility : “I had this dream. I’m following this man…I see my father’s face…there’s anger in his eyes. I turn around to face the other direction and see the empty alley stretching out to the horizon and I realize I have to lead the line” (Enoch 2007, p. 75). In Enoch’s play, then, both Jason and Medea bear the burden of guilt for becoming acculturated. As Jason eventually proves unable to make it in the white world, his relationship with Medea deteriorates. Medea threatens to leave with the boy (Enoch 2007, p. 77), voicing her rage against Jason. Thus, at this point, Enoch’s black Medea clearly displays signs of fury comparable to Euripides’ protagonist. The difference, however, lies in the motivation of her behaviour: sexual frustration constitutes a side issue for Enoch’s Medea. Rather, she feels she has neglected her duties towards her son. Her malaise of cultural in-betweenness is linked to a psychic disorder : “I’ve gone mad with living in two worlds” (Enoch 2007, pp. 78 sq.). Enoch’s Medea finally becomes one with the land of her ancestors in an epiphanic magic realist moment, suggesting a mood of healing markedly different from Euripides’ bleak outcome. Whereas Euripides’ play suggests that Medea can never feel happy again after killing her children, in Enoch’s work, “She’s walking in the desert… alone […] She whispers as she walks, singing up the desert. The sand stretches out in all directions… She sings up the wind… and she is no more”. As the final stage directions indicate, “MEDEA disappears and becomes the wind” (Enoch 2007, pp. 80 sq.). Enoch’s Medea thus reunites with the Dreaming in an echo of Jack Davis’ The Dreamers. Indeed, in the latter, Worru, the old Aborigine, the symbol of a whole ethnic group, follows in the footsteps of his ancestors upon his demise. In conclusion, Wesley Enoch’s powerful rewriting of the Medea figure in postcolonial Australia constitutes a perfect illustration of David Damrosch’s concept of “refraction” (cf. Damrosch 2003, pp. 281 – 288). Enoch’s reliance on storytelling, intertextuality, and magic
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realism offers a dramatic equivalent of traditional Aboriginal dotted paintings of Dreamings.4
III Since the 1980s, Ma¯ori drama written in English has assumed prominence on the New Zealand stage. This artistic coming of age emerged in the wake of the political Ma¯ori Renaissance, symbolized by the 1975 Land March to Wellington, a protest in favour of Ma¯ori empowerment (cf. Kouka 1999, p. 12). The visibility of Ma¯ori dramaturgies at the intersection of the twentieth and the twenty-first centuries has not completely erased any kind of anxiety about the identity of Ma¯ori drama on the part of its practitioners. In his introduction to a collection of Ma¯ori plays from the 1990s, the leading playwright Hone Kouka raised the vital question of the boundaries of Ma¯ori drama, while pleading for a fluid definition of the term (cf. Kouka 1999, pp. 20 sq.). This persistent aesthetic preoccupation is reflected in the recent work of a new Ma¯ori playwright (who also boasts a Pacific Island heritage, partly being of Rarotonga and Atiu Cook Islands descent), Miria George. This playwright’s desire to experiment on the stage, to refract Western dramatic tradition, comes vividly to the fore in her 2009 play, Urban Hymns, which addresses issues of globalization affecting New Zealand Maori and multi-ethnic youth in contemporary Wellington. Interestingly, George developed this play in Toronto, Canada, in collaboration with Native Earth Performing Arts at Weesageechak Begins to Dance Festival, which bespeaks a clear kinship between Miria George and Native drama in Canada, a positive intercultural aspect of our age of globalization. In her prefatory note to the play, Miria George explicitly indicates that she wanted to tackle the fate of NZ youth as “a global economic crisis gripped the modern world in 2009” (George 2010, p. 123). And indeed, the playwright captures this sense of globalization through the multi-ethnic diversity of her characters. Unlike her predecessors, who focused exclusively on Ma¯ori constituencies, George follows the psychic journeys of high school students belonging to Ma¯ori, South Asian, East Asian, and Polynesian families: Das hails from South Asia; Joseph, Isaiah and Blue are from Ma¯ori extraction; Tobias and Jerome boast a Polynesian background, while Lucius and Lela originate from East Asia. In this work, then, Miria George shows how the economic decay of modern society threatens the New Zealand dream of multicultural harmony. However, the conclusion of the play suggests the possibility of regeneration. This 4 Additional theorizing on Enoch’s use of intertextuality can be found in David O’Donnell’s essay “Quoting the ‘Other’: Intertextuality and Indigeneity in Pacific Theatre”.
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particular stance is successfully expressed through the Native / Ma¯ori idiom that George devises for the stage. As she herself acknowledges in her preface, George found her inspiration for this play in a major poem by the well-known Ma¯ori artist Hone Tuwhare (1922 – 2008), “We, who live in darkness,” published in Mihi: Collected Poems (1987). Considered as a classic of New Zealand poetry, this poem offers a modern retelling, as Robert Sullivan has shown, of the Ma¯ori genesis myth. According to this legend, the world results from the separation between the sky (the father god Rangi) and the earth (the mother god Papa). Their separation by their children ensured that eternal darkness ceased and that life-giving light could dominate. In his poem, Hone Tuwhare revisits this mythical episode from the perspective of the children. The poem constitutes an invitation to revolt against the patriarchal forces of darkness. According to Robert Sullivan, in its allusions to “black intensities,” the poem also incorporates references to “the Polynesian nights, or po¯, that fecund space out of which the universe springs.” Thus, the poem deeply connects the Ma¯ori and Polynesian characters of the play (Sullivan 2008, p. 8). This intertextual allusion permeates the entire work: the high school students precisely have to write a paper about Hone Tuwhare. It also recurs in Blue’s spray painting of words drawn from Tuwhare’s poem on houses whose residents have lost their job. Thus, George’s use of intertextuality is tinged with resonances of mythic magic realism, as the play’s indebtedness to Ma¯ori legends exhibits. Given the importance of the poem, it may be worth quoting it in full before proceeding with the play’s analysis: It had been a long long time of it Wriggling and squirming in the swamp of night. And what was time, anyway? Black intensities Of black on black on black feeding on itself ? No more. There just had to be a beginning somehow. For on reaching the top of a slow rise suddenly Eyes I never knew I possessed were stung by it Forcing me to hide my face in the earth. It was light, my brothers. Light A most beautiful sight infiltered past The armpit hairs of the father. Why, I could Even see to count all the fingers of my hands Held out to it; see the stain – the clutch of Good earth on them. But then he moved. And darkness came down even more oppressively It seemed and I drew back tense; angry. Brothers, let us kill him – push him off. (Tuwhare 1987, p. 57)
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As Robert Sullivan points out, the second half of the poem may include a reference to the Ma¯ori civil rights movements of the Seventies (cf. Sullivan 2008, p. 8). In this case, the patriarchal god Rangi would be the equivalent of the oppressive Pa¯keha¯5 government. Miria George re-contextualizes Tuwhare’s poem in the economic crisis of 2009, during which the world felt the crushing power of globalization. George’s skilfully devised theatrical idiom, a blend of intertextuality and mythic magic realism, constitutes a good example of the cultural in-betweenness evoked by David Damrosch’s notion of refraction. George’s dramatic text stands poised on the thin boundary between the local and the global. George unfolds her tale through a series of contrapuntal short, filmic scenes that weaves together the lives of the various protagonists in contemporary Wellington. These characters’ peregrinations reflect Hone Tuwhare’s sense of entrapment. The young Ma¯ori protagonist, Joseph, whose mother has died, has lost his employment after working for five years at a petrol station. Likewise, Joseph’s father has been fired but dares not tell his son. Through his friend Tobias, Joseph becomes involved in the illegal sale of petrol stolen from the station where he used to work. This state of economic corruption is symbolized by the “Markets,” created by Isaiah and Das, which precisely emerged in response to the characters’ dire predicament. Because of his dealings with the Markets, Joseph falls out with his friend Tobias, whose financial greed continuously increases. Joseph eventually fails to protect his family, although the acknowledgment of his helplessness reunites him with his father in a final glimmer of hope: “I don’t know what to do. I need your help, Dad. Please, I really need your help” (George 2010, p. 177). Joseph’s plight parallels that of Isaiah, who seems to live in a perpetual druginduced state of excitement, “as he is high on party pills” (George 2010, p. 152). Isaiah persuades Tobias and Joseph to sell him enough petrol so that he can fulfil his secret wish to burn down the high school: “Isaiah howls triumphantly, his cell phone extended before him, filming the blaze” (George 2010, p. 175). He clearly regards himself as a Messiah, albeit a false one. However, according to Joseph, only Hone Tuwhare deserves to be called a Saviour (cf. George 2010, p. 146). In ironic contrast to Tuwhare’s poem, the light triggered by Isaiah’s arson does not herald any form of regeneration, but destroys the very hope of emancipation through education. Although he created the Markets, Das is ultimately the character who embodies most clearly Tuwhare’s call for spiritual freedom. Already in the first scene of the play, Das appears transfigured through his newly found love of music. In Scene Eleven, he explains to Isaiah the ecstasy generated by his new 5 A Ma¯ori term commonly used in New Zealand to designate a person of Anglo-Celtic descent.
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passion, as he compares himself with Ta¯whirima¯tea, the Ma¯ori God of Wind (George 2010, p. 154). In a transcultural twist, the South Asian Das expresses his aspiration towards freedom in terms borrowed from Ma¯ori mythology. Das’ magic realist vision of himself as a flying bird echoes the struggle of Rangi’s children towards light, as recorded both in the Ma¯ori genesis myth and in Tuwhare’s poem. The play concludes with a last focus on Das. Once the school has been burned down to ashes, Das confesses to Lucius how music made him discover Tuwhare’s “world of light”: “Because I became, I can fly….Welcome Lucius, welcome to the world of light” (George 2010, p. 177). Das’ epiphanic transformation through music, through art, clearly bespeaks the possibility of a re-enactment of the Ma¯ori creation myth in the troubled times of globalization. George’s affirmative stance reveals a modernist aesthetic that favours reconnection over fragmentation. George amplifies techniques used by both Kevin Loring and Wesley Enoch in her attempts to forge a dramatic idiom of her own, firmly rooted in the local while dealing with global issues. George’s experimentation with short scenes implies a disruption of Western Aristotelian linearity to a greater extent than in Loring’s and Enoch’s dramaturgies. In this fashion, she boldly refracts European aesthetic templates through her Indigenous perspective. Although still a fledgling playwright, Miria George will undoubtedly develop into a major talent on the New Zealand stage in the years to come. ***
In summation, my three case studies, although offering only a glimpse of the immensely rich field of Native drama, demonstrate that it would be impossible to homogenize the aesthetic devices used by Indigenous playwrights in Canada and Australasia to express their idiosyncratic worldview in an era of globalization. The three plays I have studied, all belonging to different cultural traditions while written in English, refract, to borrow Damrosch’s terminology, both local and international cultures. Indeed, they negotiate the sense of inbetweenness characterizing the contemporary Native / Indigenous predicament through hybrid aesthetic forms subtly fusing metadramatic historiography, intertextuality, non-Western myths and storytelling. These playwrights’ multiple variations on these patterns foreground the shape-shifting, indeed tricksterish features of their dramaturgies. In this way, their plays seek to resist Western hegemony and artistic expectations. Thus, in their compelling efforts to articulate what Indigenous identities and aesthetics mean in the twenty-first century, these dramatists avoid being levelled out by the Western gaze of globalization. Their innovative output therefore deserves the serious study of comparative literature specialists, particularly as it enables scholars to reassess World literature through the prism of aesthetic “refraction”.
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Christian Luckscheiter
Topographien Peter Handkes zwischen Lokalita¨t und Globalita¨t
Gemeinhin wird Peter Handkes Literatur eher mit Weltferne in Verbindung gebracht. Sollte sie jedoch einmal als nicht weltfern gelesen werden, gilt ihr Verfasser, bezogen auf gegenwa¨rtige Welten, als kulturkonservativer Kritiker der Globalisierung. So meint Franziska Scho¨ßler, dass Handke gegen Internationalita¨t und Staatengemeinschaft „die Region, den Nomos des Ortes, die nationale Tradition“1 setze. Oliver Kohns schreibt in seinem Text Handkes Globalita¨t, dass beispielsweise der Ru¨ckzug des Protagonisten der Niemandsbucht an den Rand, die Peripherie der Stadt eine konsequente Verweigerung von globalisiertem Identita¨tsverlust sei, die globaler Gesichtslosigkeit regionale Identita¨t entgegenzustellen versuche.2 ‚Lokale Identita¨t versus globale Gesichtslosigkeit‘ ko¨nnte die Formel heißen, auf die Forschung und Kritik Handkes Literatur reduziert und festgelegt haben. Der Wiederholungslektu¨re von Handkes Werk der letzten zwei Jahrzehnte ha¨lt dieses Urteil jedoch nur bedingt stand – wie es in Folgendem anhand einzelner Topographien gezeigt sei. Der 1994 erschienene Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht markiert einen Einschnitt im Werk Handkes: Das reisende, ortssuchende, mit „Andreas Loser“, „Filip Kobal“ oder „Gregor Keuschnig“ benannte ‚Ich‘ der fru¨heren HandkeBu¨cher wird ab Mein Jahr in der Niemandsbucht von einer Person der Handlung zu einem Zeugen, zum Erza¨hler. Seitdem ist der Platz des ‚Helden‘ freigeworden fu¨r Personen, die sich vom Erza¨hler-‚Ich‘ unterscheiden: Die sieben Freunde der Niemandsbucht, der Apotheker von Taxham (aus In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus von 1997), die Bankerin (aus Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos von 2002) oder Don Juan (aus Don Juan von 2004) bilden ein sich auf allen Welt-Kontinenten bewegendes Personal, das fu¨r die jeweiligen, lokal relativ fixierten Erza¨hler Globales vor Ort bringt. Mit seinem Abdanken aus der Rolle des Helden in die des Erza¨hlers ist das ‚Ich‘ seit Mein Jahr in der 1 Scho¨ßler 2004, S. 210. 2 Vgl. Kohns 2010, S. 179 – 192.
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Niemandsbucht zu einem Sesshaften an fremdem Ort geworden, der die Bewegungen seiner weltweit nomadisierenden Helden aufschreibt. Die jeweiligen Erza¨hler mu¨ssen sich an die selbstauferlegte Immobilita¨t erst gewo¨hnen; denn auch sie waren einmal global unterwegs – der Erza¨hler der Niemandsbucht etwa als Mitarbeiter der UNESCO in der Mongolei oder der Vereinten Nationen in New York und in Israel. Nur mit Mu¨he bleiben sie an den Orten, an denen sie die globalen Mobilita¨ten ihrer Helden in Schrift zu bannen versuchen. Doch auch die interkontinental mobilen Helden pendeln zwischen den beiden Bewegungsextremen absoluter Bewegungslosigkeit und permanenter Bewegung unentschieden hin und her. Kein Status wird dauerhaft beibehalten; die Mobilen sind von ihrem mobilen Leben nicht u¨berzeugt und immer wieder immobil; sie treffen auf Immobile, die von ihrem immobilen Leben nur schwer zu u¨berzeugen und immer wieder mobil sind. Beiden Gruppen, sowohl den Global-Mobilen als auch den Lokal-Immobilen, fehlt dabei eine eindeutige Position gegenu¨ber Ortsvera¨nderungen, die durch etwas verursacht werden, was man die „Penetration des Lokalen durch globale Umsta¨nde“3 nennen ko¨nnte. Die Ausgangsorte der Handlungen befinden sich alle in der von Handke sogenannten „Zwickelwelt“,4 einer Welt, die in ein extrem verdichtetes Verkehrsnetzwerk eingefasst ist, die von allen mo¨glichen Verkehrs- und Transportstro¨men durchzogen, gekreuzt, aufgeschlossen und eingegrenzt wird. Gleichwohl sind sie unterschiedlich strukturiert. Die Niemandsbucht, zuna¨chst einmal ein ‚normaler‘ Vor-Ort von Paris, mit Kirche, Post, Bank und Kino, wird gerahmt von einem Atomzentrum, von den ¨ berresten von Port-Royal, von „Iˆle-de-France“-Trabantensta¨dten wie SaintU Quentin-en-Yvelines oder La De´fense, von brachliegenden Niemandsland-Fla¨chen, Bu¨rokomplexen, Industrieanlagen; außerdem von Paris, der Hauptstadt des 19. und ‚Global City‘ des 21. Jahrhunderts, von Rambouillet und dem Milita¨rflughafen Villacoublay, Orten geopolitischer und globaler Relevanz. Im „Kontrast zu der Lichterstadt hinterm Hu¨gelzug“5 ist die Niemandsbucht wenig beleuchtet, die Lokale schließen ihre Rolla¨den aus Eisen fru¨h. Die Bars dienen zugleich als Zigarettenla¨den, Zeitungs- und Briefmarkenkioske, nicht wenige ihrer Kunden sind Einheimische, die von Kind an in diesem Vorort wohnen. Diese sich in den Bars versammelnden Einheimischen haben fu¨r den Erza¨hler auf den ersten Blick etwas von Ausgestoßenen an sich: als seien sie Strandgut, in die hinterste, versteckteste, am wenigsten zuga¨ngliche Bucht des Weltstadtmeers Paris Angeschwemmte. Sie erscheinen ihm „als der kaum mehr za¨hlende Rest“, „von Grund auf verformt, wie unter der Wucht eines Augenblicks aus ihrer 3 Stichweh 2000, S. 18. 4 Handke 1995, S. 1047. 5 Handke 1995, S. 54.
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Kindes- und Jugendgestalt herausgeschmettert“;6 außerhalb des Lokals, ihrem letzten Ru¨ckzugsort, sind sie in der Minderheit und wirken wie verloren. Die seit ihrer Kindheit vor Ort Ansa¨ssigen, die lokal Immobilen, sind hier von der Geschwindigkeit der Ortsvera¨nderungen u¨berforderte und aus den globalen Stro¨men ausgegrenzte Globalisierungsverlierer. Mit zunehmender Zeit seiner Sesshaftigkeit vera¨ndert sich jedoch die Perspektive des Erza¨hlers. In der Flu¨chtigkeit beispielsweise die Einheimischen in der Bar anfangs als Ausgespielte verkennend, sieht er diese mit zunehmender Dauer, in der Wiederholung und mit einer anderen Ortskenntnis versehen, nicht mehr als ausgestoßen an; vielmehr zeigt sich ihm in ihnen eine Lebensform, die mit dem Ort, an dem sie sich gestaltet, ein geglu¨cktes Beispiel von Zusammenleben bildet – im Gegensatz zu derjenigen der Neuhinzugezogenen, von denen nie jemand in den Bars oder in der Messe, auf dem Fußballplatz, den Boule-Pisten oder in der Handballhalle zu finden ist. Die Einheimischen bewegen sich in ihrer Bar alle wie zu Hause und sprechen im gleichen Tonfall. Sie bilden kurzfristig ein ideales Ensemble. Der Vorort verliert dabei mehr und mehr den Charakter einer von globalen Stro¨men abgeschnittenen und ausgeschlossenen Gegend. Schon bei seinem ersten Aufenthalt mutete dem Erza¨hler das verkehrte N im Schriftzug der Ba¨ckerei, „BOULA9GERIE“, als kyrillische Schrift an. Die Bewohner dieses zur Dauersiedlung gewordenen einstigen Flu¨chtlingslagers kommen aus Nordafrika, Asien, Portugal, Armenien, Russland. Sie verbinden in ihrem Alltag „die Einheimischen-Rhetorik mit den Augen von Ausla¨ndern“7 – Grund ihrer besonderen Aufmerksamkeit fu¨r den Ort. Dem Erza¨hler wird der Vorort mit seinem großen Platz am Bahnhof, den Schaufenstern, Neonschriften, den „in rascher Folge ein- und ausfahrenden Zu¨gen“, dem „Hoˆtel des voyageurs“, dem vietnamesischen Garkoch, dem nordafrikanischen Restaurant und der internationalen Presse im Zeitungsladen zunehmend zu einem Welt-Zentrum – „ein hellbeleuchtetes Stadion umgeben von Fastfinsternis, eine Rumpf-Weltstadt, die New Yorker Bronx“;8 ein Ort, der in der Globalita¨t angekommen, der la¨ngst Teil der Globalita¨t ist. Das zeigt sich ihm auch an den vielen Umzugstransportern mit kyrillischen oder griechischen Aufschriften, an den Flu¨chtlingen aus Bu¨rgerkriegsgegenden, die in die Niemandsbucht kommen. Und das zeigt nicht zuletzt die schon erwa¨hnte Lage der Niemandsbucht in der „Sieben-Flugpla¨tze-Gegend“:9 Sie ist eingebunden in die
6 7 8 9
Ebd., S. 79. Ebd., S. 849. Ebd., S. 695. Ebd., S. 798.
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„Zwickelwelt“, eingebettet zwischen Ausfallstraßen, Autobahnen und Autobahnzubringern, Flugha¨fen und Bahnlinien. Teil dieser Zwickelwelt ist auch der Ort Taxham, Ausgangsort von In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. „Was gleichwelchen Orten heute mehr und mehr zusto¨ßt“, heißt es hier, kennzeichnete Taxham von Anfang an: „abgetrennt oder zumindest schwer erreichbar zu sein von seiner Umgebung und von den Nachbarorten durch alle nur mo¨glichen Verkehrslinien, insbesondere in die Ferne“.10 Hineingebaut in ein „Transportliniendreieck“, bestehend aus Fernzuglinie, Autobahn und Flughafen, ist der Ort kaum zu erreichen. „Schwierig, da hineinzufinden, und noch schwieriger, ob zu Fuß oder mit dem Auto, da wieder hinaus.“ So nu¨tzt Taxham seine maximale Einspannung in mehrere, sich u¨berkreuzende Transport- und Verkehrsstro¨me hinsichtlich seines Bekanntheitsgrades wenig: Es ist fast vergessen, nur wenige wissen, wo Taxham liegt, vielen klingt schon der Name fremd, nie kommt ein Gast. „Gleichwer, selbst der sonst noch so Welt- und insbesondere Allerweltoffene, sagte, zu Taxham befragt: ‚Nein‘, oder es kam ein Achselzucken.“11 Monika Schmitz-Emans hat In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus in ihrem Aufsatz Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse bereits als „Parabel u¨ber spezifische Raumerfahrungen im Zeitalter des zumindest a¨ußerlich-verkehrstechnischen Zusammenwachsens der Weltregionen“12 gelesen. An Taxham werde ablesbar, wie und mit welchen Konsequenzen die Topographie der Welt sich im Zeitalter globalen Verkehrs wandelt: Die traditionellen Landkarten werden durch ein anderes topologisches Ordnungsmuster u¨berlagert, der Erd-Raum erfa¨hrt eine tiefgreifende Umstrukturierung, wobei es jedoch keineswegs so ist, daß jeder Ort na¨her an die anderen heranru¨ckt. Die verkehrstechnische Zusammenfu¨hrung entlegener Regionen durch ein immer weiter expandierendes System von Fahrwegen und Flugrouten bewirkt vielmehr – als Kehrseite des Globalisierungseffekts – einen Prozeß der Isolation solcher Orte, die buchsta¨blich und im metaphorischen Sinn zwischen die großen Verkehrswege geraten. Straßennetze und Flugrouten verbinden nicht nur; sie ziehen auch Trennungslinien. An Taxham wird diese Komplementarita¨t von Globalisierung und Isolation anschaulich gemacht.13
Neben der Einbettung in eine gleichzeitig globalisierende wie isolierende Zwickelwelt ist Taxham noch in weiterer Hinsicht eine „zeitgeno¨ssische[] Erscheinung“:14 Die in Taxham Berufsta¨tigen mieten die Wohnung nicht im Ort, sondern wohnen außerhalb. Man kommt nur tagsu¨ber, um dort zu arbeiten, nachts 10 11 12 13 14
Handke 1997, S. 10. Ebd., S. 8 f. Schmitz-Emans 2000, S. 295. Ebd., S. 296. Handke 1997, S. 15.
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ist der Ort verlassen – wie der alte Stadtkern oder die Downtown einer ‚Global City‘. Auch der Held der Geschichte, der Apotheker, wohnt außerhalb, bewegt sich zwischen seinem Haus, der Apotheke und dem Flughafen, in dem er regelma¨ßig essen geht. Der Ausgangsort der Protagonistin von Der Bildverlust wiederum, eine namenlose, nordwestliche Flusshafenstadt, die in einer Grenzregion liegt, spielt eine wichtige Rolle fu¨r globale Stro¨me aller Art. Sie wird als „Durchgangsort oder Passage und als Kreuzung oder Schalt- und Vermittlungsstelle […] aller mo¨glichen kontinentalen und transkontinentalen Bewegungen“15 ausgewiesen. Der Ort, in dem sowohl Glockenschlag als auch Muezzinruf erto¨nen, ist ein „Zentrum der Zentren“,16 Sitz von Headquarters, mehrheitlich von Neuhinzugezogenen bewohnt, zu erkennen an griechischen, kyrillischen, arabischen und armenischen Buchstaben an den Ha¨usern. In der Sprache Luc Boltanskis und E`ve Chiapellos sind es hohe Wertigkeitstra¨ger,17 mit denen, wie es bei Handke heißt, „eine neue Epoche“18 beginnt, Global Player, die nicht mehr in eigene Ha¨user einziehen, „sondern in fu¨r ihresgleichen, die in ein paar Jahren woanders hinziehen wu¨rden – es gab zur Zeit dieser Geschichte fast nur noch ihresgleichen –, von den sie bescha¨ftigenden Unternehmungen, Gesellschaften, Firmen, Instituten, Kooperationen, Laboratorien u¨berlassene Wohnkontingente“.19 Wa¨hrend also in die Niemandsbucht das Globale eintritt und ihre Pra¨gung von Immobilita¨t und Ansa¨ssigkeit durch Mobilita¨ten zunehmend gesto¨rt und verdra¨ngt wird, ist die Flusshafenstadt zur Bucht gegensa¨tzlich konstruiert: Hier ist der Wiedereintritt des Lokalen in das Globale festzustellen. Im Zentrum der Zentren wohnen nur noch global Mobile, die in der voru¨bergehenden Zeit ihres Ansa¨ssigseins allerdings versuchen, das Leben vor Ort zu relokalisieren. Taxham wiederum stellt eine dritte Mo¨glichkeit einer Ortsposition zwischen dem Lokalen und dem Globalen dar : Der Ort ist weder-noch, wird schlichtweg nicht mehr bewohnt. Das u¨berkommene sta¨dtische Leben findet in ihm nicht mehr statt. Taxham ist, zumindest nachts, leer, unbevo¨lkert, ein bloß funktionaler Ort ohne soziale Relationen, und es stellt sich die Frage, inwiefern Taxham noch als „Ort“ bezeichnet werden kann. Von diesen durch verschieden gewichtete wechselseitige Durchdringungen des Globalen und Lokalen gekennzeichneten Orten ausgehend, die allesamt Grenzorte sind, an einer Stadt- oder einer Landesgrenze liegen, suchen die Protagonisten weitere Orte auf, die sich alle so stark und schnell vera¨ndert haben, dass sie kaum wiederzuerkennen sind, wie zum Beispiel Santa Fe in In 15 16 17 18 19
Handke 2003, S. 81. Ebd., S. 47. Vgl. Boltanski / Chiapello 2003, S. 401. Handke 2003, S. 38. Ebd., S. 46.
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einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus oder Nuevo Bazar und Polvereda in Der Bildverlust. Die Orte sind enorm gewachsen, u¨berall sind die Einheimischen inzwischen in der Minderheit, die jeweiligen Bevo¨lkerungen haben sich vervielfacht, sind aus allen Kontinenten zugezogen und erweisen sich allesamt als kaum mehr ortskundig. Ihre Gegend ist ihnen auffa¨llig fremd oder unbekannt, mit dem, was vor der eigenen Tu¨r ist, sind sie nicht bewandert. Die Vielfalt und Polyphonita¨t innerhalb der sich neu erstellenden Orte, ihre heterogene Transkulturalita¨t und Hybridita¨t macht sie untereinander austauschbar. Es entsteht der Eindruck, dass immer wieder nur derselbe Ort beschrieben wird: Zunehmend an den Rand gedra¨ngte Alteingesessene, lokal Immobile, leben mit global Mobilen zusammen, die aus verschiedenen Weltregionen entweder als Flu¨chtlinge oder als reiche, globalisierungsgewinnende Ortssuchende gekommen sind. Wobei es Unterschiede gibt: Wa¨hrend in der Niemandsbucht oder in Polvereda immerhin noch ein paar Alteingesessene wohnen, die eine la¨ngere Beziehung zu dem Ort, an dem sie leben, aufbauen konnten, wohnen etwa in der Flusshafenstadt ausschließlich kurzfristig Zugezogene, und zu Taxham geho¨rt letztlich niemand mehr. An manchen Orten, wie etwa in Santa Fe oder in Nuevo Bazar, gestaltet sich das Zusammenleben zwischen den einzelnen Bevo¨lkerungsgruppen aus verschiedenen Kulturen a¨ußerst konfliktreich, es wird von Abgrenzungen und Aggressionen bis hin zur offenen Eskalation, zu Mord und Totschlag bestimmt. Die Ausgangsorte und Zwischenstationen der Handlungen definieren sich dabei geradezu u¨ber die Negation oder den Gegensatz zu einer Topographie, die feste Ordnungsstrukturen zeigt. Waren die Handlungsorte der Texte Handkes bis zur Niemandsbucht eher fixierte Orte von Sesshaften, die den Kontrast zum sich bewegenden „ich“ des Erza¨hlers bildeten, sind die Orte ab der Niemandsbucht kaum noch Orte zu nennen. Die Orte der Handlungen sind eher NichtOrte, an denen niemand ‚zu Hause‘ ist oder auf eine Tradition, eine Geschichte zuru¨ckgreifen kann. Ha¨ufig befinden sie sich am Rand, an einer Grenze; eingezwa¨ngt in Verkehrs- und Transportwege, auf denen transkontinentale Bewegungen stattfinden. Sie werden von enklavenartigen Strukturen gepra¨gt oder explizit als Enklave bezeichnet. Mit kulturkonservativer Globalisierungskritik hat das jedoch wenig zu tun. Erst durch den fremden Blick, der sich bei aller Ortskundigkeit seine Fremdheit bewahrt, la¨sst sich in Handkes Erza¨hlwelt mit dem Lokalen u¨berhaupt noch etwas anfangen. Und ganz im Sinne Marc Auge´s wird versucht, die eigentu¨mliche Scho¨nheit und Faszination von Nichtorten aufzuschreiben.20 Handkes Globalisierungsvision findet ihre Ausformung mit dem Sierra-de-
20 Vgl. Auge´ 2007.
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Gredos-Ort Hondareda, einer weltsta¨dtisch anmutenden „Neusiedlerregion“.21 Aus der Ferne und bei Dunkelheit betrachtet, changiert der Ort zwischen dem Aussehen einer Millionenstadt wie Shanghai oder Sa˜o Paulo und einer Kleinstadt, eines Dorfs. Hier ist eine Stadt von „aus den fernsten Weltwinkeln Zugezogenen“22 entstanden. Fu¨r die Bewohner spielen in ihrem Zusammenleben Herkunft, Sprache, Glaube und Geschichte keine Rolle mehr. Sie wollen als Fremde an einem Ort zusammenleben, und versuchen, eine nachnationale Gemeinschaft zu bilden, die auf Dauer an einem Ort bleibt, ohne sich an dem Ort wiederum zu verwurzeln, die Identita¨t u¨ber den Ort zu definieren, sich mit dem Ort gegenu¨ber anderen Orten abzugrenzen. Die einzige Form der Verortung besteht bei ihnen in der Ausbildung eines Lebens-Stils, im Finden eines gemeinsamen Rhythmus. Diese Stilu¨bungen sind innerhalb des hier konstruierten Rahmens als Versuche lesbar, in die globale Entortung eine Linie zu falten, „um eine lebbare Zone zu schaffen“,23 ein nachnationales Zusammenleben an NichtOrten zu entwickeln, Modelle neuer (Zusammen-)Lebensformen unabha¨ngig von territorialen und genealogischen Bezugnahmen zu entwickeln. Den aus Asien, Afrika und Lateinamerika eingewanderten Hondaredos gelingt es, einen Nicht-Ort so zu bewohnen und zu bearbeiten, dass neue Verbindungen und Stabilita¨ten entstehen. Der Konstruktionsversuch eines mo¨glichst idealen, hybriden Zusammenlebens scheint an dieser Stelle geglu¨ckt, der Alltag der Hondaredos gestaltet sich utopiehaft konfliktlos. Auf das Utopische Hondaredas verweist dabei allein schon das Enklavenhafte. Mit ihrer Topographie betont gerade die Enklave – auch u¨blicherweise – eine „Gegenbildlichkeit zur historischen Realita¨t.“24 Wie ein klassischer utopischer Staat befindet sich die Enklave Hondareda „unter einer Luftglasglocke“.25 Sie ist als Gegenwelt in sich abgeschlossen, isoliert und ohne jegliche Aktivita¨t nach außen. Der Ort ist u¨berschaubar, von reduzierter Komplexita¨t, die Bewohner sind ohne individuelle Zeichnung.26 Ihr Leben und ihre Behausungen stehen im ¨ konomie, eine zentrale soEinklang mit der Natur, es fehlt eine ausgebildete O ziale und staatliche Organisation des Zusammenlebens, es gibt keine schriftlich fixierten Gesetze. Dass stattdessen ein nicht-kodifiziertes Gesetz der Gastfreundschaft existiert, das weitere Gesetze u¨berflu¨ssig zu machen scheint, ist ebenfalls der „Logik der Enklave“ zuzurechnen; denn ihr ist die Logik der Gastfreundschaft, „die Logik der erwiderten Einladung“27 eingeschrieben, da 21 22 23 24 25 26 27
Handke 2003, S. 627. Ebd., S. 619. Deleuze 1993, S. 160. Mu¨ller 1989, S. 10. Handke 2003, S. 596. Vgl. zu diesen ‚typischen‘ Utopie-Charakteristika: Mu¨ller 1989, vor allem S. 10, 11 und 18. Derrida 2001, S. 143.
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nur „ein ortloser Ort“ wie Hondareda, an dem Leute wohnen, die die Erfahrung des Unbehaustseins auf sich genommen haben, sich der unbedingten Gastfreundschaft o¨ffnen ko¨nnen.28 Erst in der Abgeschlossenheit der Enklave, in der niemand ein Eigentum beansprucht – mit Foucault formuliert: außerhalb der Normalisierungs- und Disziplinierungsprozesse der u¨berkommenen nationalstaatlichen Gesellschaften, blitzen „der Norm entgegengesetzte, bewußt utopisch verstandene alternative Lebensform[en]“29 auf, wird es den Protagonisten mo¨glich, ‚herrschaftsfrei‘ mit Formen zu experimentieren, die ein „idiorrhythmisches“30 Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturen gestalten und neue Verortungen im Ortslosen ermo¨glichen. Die Hondaredos – und auch die meisten anderen Protagonisten der Bu¨cher Handkes – kommen besser in den Blick, wenn man sie als Kosmopoliten bezeichnet,31 Staatenlose einer nicht-staatlichen Weltgesellschaft. Sie ko¨nnen als „Fremde“, „Waghalsige“32 definiert werden, die quer zu politischen Gemeinschaften Bu¨ndnisse herstellen, die ihren Ursprung – Familie, Blut, Boden – aufgegeben haben, denen eine Verwurzelung u¨ber Territorium, Genealogie oder Traditionen weder mo¨glich noch wu¨nschenswert ist, die allen u¨berkommenen, fu¨r Ideologien ho¨chst anfa¨lligen Verortungen eine Absage erteilen und Fremde bleiben wollen. Trotz ihrer weggebrochenen Herkunftstopographien entstehen bei ihnen keine negativ empfundenen Fremdheiten, Orientierungsschwierigkeiten oder Identita¨tskrisen. Sie formieren eine Kultur jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur, beziehungsweise gibt es in Hondareda gar keine Eigenkultur mehr, sondern nur noch die „paradoxe Gemeinschaft“33 einer Fremdkultur in Permanenz, in der jeder dem anderen fremd ist und fremd bleibt, wodurch sich folglich auch keine gruppenbildenden, andere ausschließenden Ideologien bilden ko¨nnen. Ihnen droht allerdings Vernichtung. Ihr Gegner ist die „heutige, nun schon weit ins einundzwanzigste Jahrhundert vorgedrungene Welt“,34 fu¨r die Hondareda ein barbarischer Ru¨ckfall in die la¨ngst u¨berwunden geglaubte „La¨ngstvergangenheit“ ist, einen „Atavismus eines Atavismus“35 darstellt. Die Bewohner Hondaredas gelten als „Sektierer“ einer grundverkehrten Welt, ihre Topographien erregen „weltweiten Anstoß“. Die friedlichen Enklavenbewohner werden zu Todfeinden einer nicht na¨her definierten internationalen Gemeinschaft. Ein 28 29 30 31 32 33 34 35
Ebd., S. 131. Turner 1989, S. 96. Barthes 2007, S. 42 ff. Vgl. dazu u. a. Ho¨ller 2003. Kristeva 1990, S. 39. Ebd., S. 213. Handke 2003, S. 475. Ebd., S. 527.
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Angriff auf die Enklave, die „aus der Welt geschafft werden muss“,36 eine „Intervention“ steht bevor, damit Schluss ist „mit dem Reden von einer anderen Weltordnung“.37 Hondareda, diese Provinz einer Weltgesellschaft,38 wird von der Erdoberfla¨che gefegt, „die ju¨ngsten Landkarten erwa¨hnen den Ort ho¨chstens noch in Klammern“.39 Die friedliche Diaspora-Version eines transnationalen, hybriden Zusammenlebens, der ideale Ort in Handkes Geopoetik, kippt also zu einem Kriegsschauplatz um, die Kosmopoliten werden vernichtet. Idiorrhythmie bleibt auch hier Utopie, Phantasma.40 Das Mano¨ver der Serien von Tanks, Panzern und tieffliegenden Bombern, denen die Heldin des Bildverlusts bereits im Vorfeld der Sierra de Gredos begegnet war, war tatsa¨chlich „untrennbar […] vom Krieg“.41 Die von außen einbrechende Macht, die ortet und kartiert, sozusagen „alles vom Konjunktivischen zum Deklarativen vera¨ndert, Mo¨glichkeiten in Einfachheiten u¨berfu¨hrt“,42 weiß mit dem Nicht-Deklarierten, Nicht-Normierten der von Konjunktivischem und Mo¨glichkeiten gepra¨gten Topographie-Ansa¨tze Hondaredas nicht umzugehen. Der Ort und seine Bewohner werden dadurch, in ihrer Unversteh- und Unkontrollierbarkeit, zur dunklen Bedrohung, die eliminiert werden muss. Hondareda wird geschleift, das kommunitaristische, konfliktlose globale Dorf zersto¨rt, von der Landkarte getilgt, man ko¨nnte schreiben: die Globalisierungs-Vision einer „friedliche[n] Welt einer geeinten Menschheit“ von ihrer antagonistischen Globalisierungs-Version, dem „Weltkrieg der Großraumordnungen“,43 kassiert. Mit Hondareda wird also kein Ma¨rchen fu¨r immer erza¨hlt. Handkes Geopoetik des Friedens, verstanden als das „ironisch-spielerische Entwerfen“ von Topographien, die „durch die ku¨nstlerische Hervorbringung von Regionen mitsamt ihrem a¨sthetischen Eigenleben“ „vor allem geopolitische Setzungen 36 37 38 39 40
Ebd., S. 644. Ebd., S. 634. Vgl. Beck 1997, S. 189. Handke 2003, S. 667. So findet Roland Barthes die einzigen Beispiele fu¨r gelungene Idiorrhythmien auch nur in der Literatur, an einzelnen Stellen ausgewa¨hlter Texte, zum Beispiel in Andre´ Gides Die Eingeschlossene von Poitiers, Daniel Defoes Robinson Crusoe und E´mile Zolas Ein feines Haus. Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos ko¨nnte dem von Barthes ausgewa¨hlten Idiorrhythmie-Kanon als sechster Text hinzugefu¨gt werden. Auch Peter Handkes Ortsschriften simulieren einige allta¨gliche Ra¨ume, in denen Menschen ohne institutionelle Unterstu¨tzung, ohne feste Verankerung und ohne Ziel im Modus nicht-fokaler beziehungsweise „subsidia¨rer Aufmerksamkeit“ (Rheinberger 2005, S. 63) sich an einer Vergemeinschaftung der Distanz, der Herausbildung einer kollektiven Eigenrhythmik versuchen, um eine Fassung zu gewinnen, eine Form, einen Stil zu entwickeln. 41 Handke 2003, S. 226. 42 Pynchon 1999, S. 773, zit. nach: Stockhammer 2005, S. 338. 43 Werber 2007, S. 36.
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[…] unterlaufen“44 sollen, gelingt stets nur episodisch. Auch die gelungensten Verortungsversuche im Ortslosen ermo¨glichen keine Dauer. Angesichts der Ausradierung Hondaredas kann man durchaus von Globalisierungskritik sprechen. Sie gilt einer einseitigen, homogenisierenden, hegemonialen Globalisierung, die nur bestimmte, vor allem ‚westliche‘ Lebensformen gelten la¨sst und alles andere im Namen von Fortschritt und Zivilisation eliminiert. Dagegen wird jedoch nicht regionale Identita¨t gesetzt; an keiner Stelle wird gegen Internationalita¨t geschrieben oder fu¨r eine „nationale Tradition“ pla¨diert. Zwar wird wiederholt auf die Gefahr der Isolation von Orten, die nicht zur globalisierten Welt geho¨ren, und auf die Ausgrenzung von Menschen, die nicht an der globalen Mobilita¨t teilnehmen ko¨nnen, hingewiesen, und die Formen eines neuen Lebens in der Flusshafenstadt oder in Hondareda sehen oftmals nach einem einfachen, wenig ausdifferenzierten „back to the roots“, wie der Ru¨ckgriff auf archaische, vorgesellschaftliche Formen des Lebens und Handelns aus, die hinsichtlich ihrer lokalen Abgesondertheit viele andere mo¨gliche Formen auszugrenzen scheinen.45 Die Enklave Hondareda ist dennoch keine der von Stuart Hall beschriebenen „exclusivist and defensive enclaves“, in die sich diejenigen zuru¨ckziehen (ko¨nnen), die gegen Globalisierung auf Ethnizita¨t und Nationalita¨t setzen.46 Handkes Literatur ist keine provinzialistische, partikularistische, die leidenschaftlich an einen Ort gebunden ist, die einen neuen Paganismus des Ortes, einen gefa¨lligen und gefa¨hrlichen Kult der Ansa¨ssigkeit propagiert – es sei denn, eine Gegenstellung zur homogenisierenden Globalisierung gelte bereits „als Archaismus, Ru¨cksta¨ndigkeit, Lokalita¨t und Irrationalita¨t“.47 Ihre Globalisierungsvision ist jedoch, wie womo¨glich jede Vorstellung von Kosmopolitismus, Transmigration oder Hybridita¨t, elita¨r,48 da sie nur gebildeten, begu¨terten Kosmopoliten zu entsprechen und mo¨glich zu sein scheint. So kann es sich beispielsweise der Erza¨hler der Niemandsbucht durch die Einku¨nfte seiner Bu¨cher leisten, nicht zu arbeiten; seine Hauptbescha¨ftigung ist jahrelang das Mu¨ßiggehen. Er ho¨rt in seinem Garten manchmal die Musik von radio beure, aber er schreibt keine litte´rature beure, die Migrationen und daraus resultierende Probleme fu¨r die Migranten thematisiert. Die Hondaredos sind keine entwurzelten, enteigneten, von der Gesellschaft ausgeschlossenen, gewaltsam zusammengewu¨rfelten Slumbewohner. Außerdem enthalten Handkes Orts44 Marszałek / Sasse 2009, S. 46 f. 45 Allerdings bildet sich Hybridita¨t in der postmodernen Gesellschaft meist durch die Kombination von pra¨modernen und modernen Organisationsformen aus (vgl. Bergquist 1993, S. 184). 46 Hall 1991, S. 36. 47 Latour 2004, S. 65. 48 Vgl. z. B. Friedman 2000, S. 81.
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schriften kaum Spuren beispielsweise von Visabeschra¨nkungen oder Einwanderungskontrollen; sie klammern die „Tendenz zur Ethnisierung von kultureller Identita¨t als Antwort auf den Druck der Globalisierung“,49 die gewaltta¨tige Radikalisierung der Suche nach Identita¨t und Stabilita¨t gro¨ßtenteils – in Nuevo Bazar wird sie angedeutet – aus. Die Frage, „welche neuen Topographien sich durch die Herausforderung der tradierten Hegemonie der westlichen Kultur durch ethnische Minderheiten ergeben“,50 wird hier – zwangsla¨ufig? – nicht aus Sicht der ethnischen Minderheiten, sondern von Seiten der tradierten Hegemonie aus betrachtet, also von Seiten der westlichen Kultur. Deren Hegemoniebestrebungen erfahren mit der Auslo¨schung Hondaredas deutliche Kritik.
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D. (Hg.): Culture, Globalization and the World System. Contemporary Conditions for the Representation of Identity. Binghamton 1991, S. 19 – 39. Handke, Peter : Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Ma¨rchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt a. M. 31995 [1994]. Ders.: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt a. M. 21997. Ders.: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Frankfurt a. M. 2003 [2002]. Ho¨ller, Hans: „Geschichtsbewusster Kosmopolitismus. Peter Handkes Raum-Poetik“, in: Broser, Patricia / Pfeiferova´, Dana (Hg.): Der Dichter als Kosmopolit. Zum Kosmopolitismus in der neuesten o¨sterreichischen Literatur. Wien 2003, S. 51 – 66. Kohns, Oliver : „Handkes Globalita¨t“, in: Amann, Wilhelm / Mein, Georg / Parr, Rolf (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg 2010, S. 179 – 192. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. A. d. Franz. v. Xenia Rajewsky. Frankfurt a. M. 1990 [1988]. Latour, Bruno: Krieg der Welten – wie wa¨re es mit Frieden? A. d. Engl. v. Gustav Roßler. Berlin 2004 [2002]. Marszałek, Magdalena / Sasse, Sylvia: „Geopoetiken“, in: Trajekte 2009/19, S. 45 – 47. ¨ ller, Go¨tz: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989. Mu Pynchon, Thomas: Mason & Dixon. Dt. v. Nikolaus Stingl. Reinbek 1999 [1997]. Rheinberger, Hans-Jo¨rg: „Augenmerk“, in: Rheinberger, Hans-Jo¨rg: Iterationen. Berlin 2005, S. 51 – 73. Schmitz-Emans, Monika: „Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse“, in: Schmitz-Emans, Monika / Schmeling, Manfred / Walstra, Kerst (Hg.): Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Wu¨rzburg 2000, S. 285 – 315. Scho¨ßler, Franziska: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tu¨bingen 2004. Schu¨tze, Julia: Zwischen Dezentrierung und Rezentrierung. Franzo¨sische und frankophone Romane im Kontext der Globalisierung. Go¨ttingen 2008. Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M. 2000. Stockhammer, Robert: „Verortung. Die Macht der Karten und die Literatur, im 20. Jahrhundert“, in: Stockhammer, Robert (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zwischen Repra¨sentation und Konstruktion von Ra¨umen. Mu¨nchen 2005, S. 319 – 340. Turner, Victor : Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. A. d. Engl. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a. M. / New York 1989 [1969]. Werber, Niels: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. Mu¨nchen 2007.
Zu den Beitra¨gerinnen und Beitra¨gern
Michael Auer ist wissenschaftlicher Assistent an der Ludwig-MaximiliansUniversita¨t Mu¨nchen. Studium der Philosophie, Anglistik, Gra¨zistik, Germanistik und Komparatistik in Freiburg i. Br. und an der Indiana University. Promotion in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft: Deutsch-Italienische Forschungen in Bonn und Florenz mit einer Arbeit zu Wege zu einer planetarischen Linientreue? Meridiane zwischen Ju¨nger, Schmitt, Heidegger und Celan. Forschungsaufenthalte an der Purdue University und am Zentrum fu¨r vergleichende europa¨ische Studien in Ko¨ln. 2008 Graduate Student Prize der German Studies Association. Derzeit verfolgt er ein Habilitationsprojekt zur Politik und ¨ sthetik der Ode. A PD Dr. Andreas Beck (Ruhr-Universita¨t Bochum), geb. 1971; Dissertation: Geselliges Erza¨hlen in Rahmenzyklen. Goethe – Tieck – E. T. A. Hoffmann; Habilitation: Die Rezeption der ‚Straßburger Eide‘ in der Fru¨hen Neuzeit; Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Wort / Bild-Beziehungen (Emblematik, Illustrationen), Ma¨rchen (Wieland, Musa¨us, Grimm), spa¨tbarocke oberdeutsche Lit(t)eratur (Abraham a Sancta Clara, Publizistik im Umfeld der Mu¨nchner Wittelsbacher), Lyrik Theodor Fontanes, Editionsphilologie (fru¨hneuzeitliche ‚Germanistik‘, Bu¨chners Woyzeck). Prof. Dr. Michael Bernsen, nach dem Studium der Fa¨cher Romanistik, Philosophie, Germanistik und Geschichte (1973 – 1980) an den Universita¨ten Bochum, Tu¨bingen, Montpellier, Paris IV und Caen, Ta¨tigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universita¨t Bochum. Promotion 1993 (Angst und Schrecken in der Erza¨hlliteratur des franzo¨sischen und englischen 18. Jahrhunderts, Mu¨nchen 1996). Habilitation 1999 im Fach Romanische Philologie (Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter, Tu¨bingen 2001. Seit 2006 Professor fu¨r Vergleichende Romanistische Literaturwissenschaft / Media¨vistik an der Universita¨t Bonn.
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Bernd Blaschke war Co – Leiter des Projekts ‚Wie produzieren komische Texte positive Emotionen‘ im Exzellenzcluster ‚Languages of Emotion‘ an der FU Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter-Szondi-Institut fu¨r AVL der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Interkulturalita¨t und Globalisierung, Romane der Moderne, Komo¨dien seit 1500, Wissenschaftssatiren, DDR-Literatur, ¨ konomie, a¨sthetische Theorie. Vero¨ffentlichungen, neben zahlLiteratur und O ¨ reichen Aufsatzen, Lexikonartikeln und Rezensionen: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Ce´line, Mu¨nchen 2004. ¨ sthetik und Poetik exzentrischer Reisen, Bielefeld 2008; Als Mithg.: Umwege. A Reiseliteratur der DDR. Bestandsaufnahmen und Modellanalysen, Mu¨nchen 2014. Frauke Bolln, Dr. phil., Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Klassischen Archa¨ologie an den Universita¨ten Bonn und Mu¨nchen; M. A. 1992; von 1998 bis 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universita¨ten Aachen und Bonn. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Projekttra¨ger im Deutschen Zentrum fu¨r Luft- und Raumfahrt. Vero¨ffentlichungen: (Mithg.) Zwischen Zentrum und Peripherie. Die Metropole als kultureller und a¨sthetischer Erfahrungsraum, Bielefeld 2005; Zwischen Beat Generation und Ankunftsliteratur. Fritz Rudolf Fries’ Roman „Der Weg nach Oobliadooh“, Bielefeld 2006 (Dissertation); (Mithg.) Europa¨ische Memoiren / Me´moires europe´ens. Festschrift fu¨r Dolf Oehler, Go¨ttingen 2008. Dana Bo¨nisch, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung fu¨r Komparatistik / Institut fu¨r Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universita¨t Bonn. Sie forscht im Rahmen ihres Dissertationsprojekts zu globalen Narrativen des Terrors – von 9/11 bis zum ‚war on terror‘ – aus raum- und bildtheoretischer Perspektive. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Globalisierung, Geopoetik und Visualita¨t in literarischen Texten. ¨ ltere Germanistik an der Universita¨t Bonn. ¨ ggen ist Professorin fu¨r A Elke Bru Sie promovierte 1986 u¨ber die Darstellung von Kleidung und Mode in der mittelhochdeutschen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. 1995 wurde sie mit einer Studie zur deutschsprachigen weltlichen Lehrdichtung habilitiert. 1995/ 1996 nahm sie eine Professur fu¨r Mittelalterliche Literatur an der Universita¨t Bochum wahr. 1997 wurde sie zur Professorin fu¨r Germanistische Media¨vistik an der Universita¨t Bonn ernannt. Ihre Forschungen behandeln die Verortung der mittelalterlichen Literatur in ihrem kulturellen Kontext, mit den thematischen Schwerpunkten Kleidung, Verhalten bei Tisch, Ko¨rperlichkeit, Interaktion und ¨ sthetik und Poetik der mitKommunikation. Weitere Arbeitsbereiche sind: A telhochdeutschen Epik um 1200; Literatur und Prozesse der Normierung; Li-
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teraturtheorie (Gattungssystematik, Fiktionalita¨t und Didaxe); Erza¨hlen in in¨ bersetzung und Kommentierung mittelhochdeuttermedialen Ensembles; U scher Literatur. David Damrosch is Ernest Bernbaum Professor of Comparative Literature at Harvard University. His books include What Is World Literature? (2003), The Buried Book: The Loss and Rediscovery of the Great Epic of Gilgamesh (2007) and How to Read World Literature (2009). He is the founding general editor of the six-volume Longman anthologies of British literature and of world literature, co-editor of The Princeton Sourcebook in Comparative Literature (2009) and editor of Teaching World Literature (MLA, 2009). He is the director of the Institute for World Literature (www.iwl.fas.harvard.edu), and for 2013 – 2018 is a member of the Steuerungsgremium fu¨r die Literaturwissenschaftlichen Symposien der DFG. Prof. Dr. Ulrich Ernst (Bergische Universita¨t Wuppertal: Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft; Forschungsstelle Visuelle Poesie); Studium der Fa¨cher Germanistik, Geschichte, Philosophie, Pa¨dagogik und Latinistik an den Universita¨ten Hamburg und Ko¨ln. Monographien: Der ‚Liber Evangeliorum‘ Otfrids von Weißenburg. Literara¨sthetik und Verstechnik im Lichte der Tradition, Ko¨ln 1975; Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim 1987/31990 (zus. mit Jeremy Adler, London); Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Urspru¨ngen bis zum Ausgang des Mittelalters, Ko¨ln 1991; Der ‚Gregorius‘ Hartmanns von Aue. ¨ berlieferung im Theologische Grundlagen – legendarische Strukturen – U geistlichen Schrifttum, Ko¨ln 2002; Intermedialita¨t im europa¨ischen Kulturzusammenhang. Beitra¨ge zur Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik, Berlin 2002. Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration. Wissen und Wahrnehmung, Heidelberg 2006; Manier als Experiment in der europa¨ischen Literatur. Aleatorik und Sprachmagie, Tektonismus und Ikonizita¨t, Heidelberg 2009; Herausgeberschaften: u. a. Visuelle Poesie. Historische Dokumentation theoretischer Zeugnisse, Bd. 1: Von der Antike bis zum Barock, Berlin 2012; Buchreihen: ORDO. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der fru¨hen Neuzeit, Pictura et Poesis. Interdisziplina¨re Studien zum Verha¨ltnis von Literatur und Kunst, Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften, Mirabiblia. Forschungsbeitra¨ge zum Ku¨nstlerbuch. Konzepte – Diskurse – Kontexte; zahlreiche Abhandlungen zur Media¨vistik, Komparatistik und Literaturtheorie.
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Frederike Felcht ist Research Fellow an der Ludwig-Maximilians-Universita¨t Mu¨nchen. Nach dem Studium der Kulturwissenschaft, Skandinavistik und Philosophie an der Humboldt-Universita¨t zu Berlin (HU) promovierte sie an der Universita¨t Mannheim. Anschließend arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl fu¨r Neuere Skandinavische Literaturen der Universita¨t Greifswald und als Lehrkraft fu¨r besondere Aufgaben am Institut fu¨r Kulturwissenschaft der HU. Ju¨ngste Vero¨ffentlichungen: Grenzu¨berschreitende Geschichten. H. C. Andersens Texte aus globaler Perspektive. Tu¨bingen / Basel 2013; „Kult, Konflikt und Konversion: Der Islam in Torgrim Eggens Hilal (1995)“, in: European Journal for Scandinavian Studies, 2013/43, S. 41 – 59. PD Dr. Peter Goßens, geb. 1966 in Moers, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Neuere Germanistik und Italianistik an den Universita¨ten Bonn ¨ bersetzung (Heidelberg und Pisa. 1998 Promotion u¨ber Paul Celans Ungaretti-U 2000). Habilitation (2011) u¨ber Weltliteratur. Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert (Stuttgart 2011). Mitarbeit an den Aus¨ bersetzer (Deutsches Literaturarstellungen „Fremde Na¨he“ – Paul Celan als U chiv, Marbach am Neckar 1997) und Displaced. Paul Celan in Wien (1947/1948). 1998 bis 2004 Wissenschaftlicher Assistent am Institut fu¨r Komparatistik der Westfa¨lischen Wilhelms-Universita¨t, Mu¨nster. Seit 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Akademischer Rat) in der Abteilung fu¨r Komparatistik der RuhrUniversita¨t Bochum. Martin Go¨tze, Dr. phil., 1987 – 1993 Studium der Germanistik und Philosophie in Bamberg, 2001 Promotion bei Prof. Dr. Heinz Gockel mit einer Arbeit zur fru¨hromantischen Poetik. Lehrbeauftragter fu¨r Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universita¨t Bamberg, freiberuflicher Dozent und Lektor. Vero¨ffentlichungen u. a.: Ironie und absolute Darstellung. Philosophie und Poetik in der Fru¨hromantik. Paderborn u. a. 2001; Roman der Einbildungskraft. Zu Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, in: Scho¨ll, Julia (Hg.): Literatur und ¨ sthetik. Texte von und fu¨r Heinz Gockel, Wu¨rzburg 2008, S. 165 – 185. A Dr. Joachim Harst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Komparatistik an der Friedrich-Wilhelms-Universita¨t Bonn. Er promovierte mit einer Arbeit zum problematischen Verha¨ltnis zwischen Theater und Theologie in barocken Ma¨rtyrerspielen und den theatralen Texten Heinrich von Kleists (2012). Neben weiteren Studien zur barocken Dramatik und Poetik (Opitz, Scaliger, Heinsius und Racine) konzentriert sich seine Arbeit auf die mediale Strukturierung von Begehren – sei es im postmodernen Film (David Lynch, Coen Brothers), sei es in fru¨hneuzeitlichen krypto-erotischen Novellen (La Celestina). Sein Habilitationsprojekt setzt dagegen am Knotenpunkt von Recht
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und Religion an: Unter dem Projekttitel Universalgeschichte des Ehebruchs wird er die Frage nach der Darstellung der Ehe als go¨ttlichem Bund gerade in ihrem Zerbrechen stellen und dabei Texte von der Odyssee u¨ber die Bibel und den mittelalterlichen ho¨fischen Roman bis zum Ehebruchsroman des 19. Jahrhunderts untersuchen. Heilstheater. Figur des barocken Trauerspiels zwischen Gryphius und Kleist, Mu¨nchen 2012; „Universalgeschichte des Ehebruchs. Verbrechen und Verbindlichkeit bei Kleist, Borges, Lynch“, in: Komparatistik ¨ bersetzung“, in: 2011/23 S. 33 – 44; „Mit gespaltener Zunge. Opitz‘ Antigone-U ¨ Daphnis 2012/41, S. 177 – 202; „Deus ex machina. Uberlegungen zum Gott des barocken Trauerspiels am Beispiel von Gryphius, Heinsius und Racine“, in: Poetica 2012/44, S. 351 – 378; „Alter deus. Zur Figur des Go¨ttlichen in Scaligers Poeticis libri“, in: Neulateinisches Jahrbuch 2012/14, S. 147 – 165; „Making Love: Celestinesque Literature, Philology and ‚Marranism‘“, in: MLN 2012/127, S. 169 – 189; „‚The Dream She Clung to Enfolded Her.‘ Apparat und Begehren im Hollywood-Film (Sunset Blvd., Mulholland Dr., No Country for Old Men)“, in: Komparatistik 2012/24, S. 101 – 118. Dr. Simon Harvey is Associate Professor at the Art Academy, University of Trondheim (NTNU), in Norway, and a visiting tutor at Goldsmiths, University of London. His research interests include counter-cartographies, smuggling and visual culture, and art and public space. Recent publications on mapping and public space have included editing and contributing to Art and Common Space (2013); Trondheim Atlas (2012); and Trondheim Guidebook (2010); and a catalogue essay „The Force of Mapping“ for the exhibition Whose Map is it? new mapping by artists INIVA (Institute of International Visual Arts, London 2010). Achim Hermann Ho¨lter ist Professor fu¨r Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universita¨t Wien. 1980 – 1985 Studium der Germanistik, Media¨vistik, Philosophie, Romanistik und Allgemeinen Literaturwissenschaft an den Universita¨ten Wuppertal und Du¨sseldorf. 1985 Magister artium, 1988 Promotion (Ludwig Tieck: Literaturgeschichte als Poesie. Heidelberg 1989), 1991 – 1993 Habilitandenstipendium der DFG in Paris, London, Pavia, 1993 Habilitation fu¨r Komparatistik und Deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universita¨t Wuppertal (Die Invaliden. Die vergessene Geschichte der Kriegskru¨ppel in der europa¨ischen Literatur bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 1995), 1994 – 1995 Vertretungsprofessur an der Universita¨t Bochum, 1995 – 1997 Heisenberg-Stipendium der DFG an der Universita¨t Bonn, 1997 – 2009 Lehrstuhlinhaber fu¨r Komparatistik an der Universita¨t Mu¨nster. 2005 – 2011 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL). Schwerpunkte: Romantikforschung, Themenund Diskursforschung, Kunst- und Literaturhistoriographie, Ritualisierungen
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¨ sthetische Selbstreferenz, Supramediale A ¨ sthetik / Comparative der Literatur, A arts, Internationale Rezeptionsgeschichte und Kanonforschung. Zahlreiche Aufsa¨tze zur deutschen und internationalen Literaturgeschichte; Bu¨cher u. a.: Die Bu¨cherschlacht. Ein satirisches Konzept in der europa¨ischen Literatur, Bielefeld 1995; (Hg.): Marcel Proust. Leseerfahrungen deutschsprachiger Schriftsteller von Theodor W. Adorno bis Stefan Zweig, Frankfurt a. M. 1998; (Hg. mit Volker Pantenburg u. Susanne Stemmler): Metropolen im Maßstab. Literarisches und filmisches Erza¨hlen mit dem Stadtplan, Bielefeld 2009; (Hg.): ¨ sthetik im Fokus der Vergleichenden LiteraComparative Arts. Universelle A turwissenschaft. Heidelberg 2011; (Hg. mit Ru¨diger Zymner): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart / Weimar 2013. PD Dr. Christine Ivanovic war 2002 – 2011 als Professorin an der Universita¨t Tokyo ta¨tig, seit 2011 mehrfach als Gastprofessorin an der Abteilung fu¨r Vergleichende Literaturwissenschaft der Universita¨t Wien, weitere Gastprofessuren ¨ sterreich (2011 – 2013). Zuletzt in Japan (2002 – 2011), USA (2007, 2009) und O Herausgeberin der Ba¨nde: Erich Fried: Izanagi und Izanami (Mu¨nchen 2014); mit Alexandra Millner : Die Entsetzungen des Josef Winkler (Wien 2014); mit Barbara Agnese, Sandra Vlasta: Die Lu¨cke im Sinn. Vergleichende Studien zu ¨ bersetzen Yoko Tawada (Tu¨bingen 2014); mit Keiko Hamazaki: Simultaneita¨t – U (Tu¨bingen 2013); mit Sugi Shindo: Absprung zur Weiterbesinnung. Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger (Tu¨bingen 2011); mit Ru¨diger Go¨rner, Sugi Shindo: Wort-Anker Werfen. Aichinger und England (Wu¨rzburg 2011); mit ¨ bersetzung – Transformation. Umformungsprozesse in / Hiroshi Yamamoto: U von Texten, Medien, Kulturen (Wu¨rzburg 2010). Prof Dr. Kirsten Kramer ist Professorin fu¨r Vergleichende Literaturwissenschaft/Romanistik an der Universita¨t Bielefeld (seit 2012). Arbeitsschwerpunkte sind u. a.: Literatur und Visualisierungspraktiken; Literatur und Raum; GeoImaginarien; Weltwissen, Netzwerkbildung und Globalisierungsprozesse. Publikationen (Auswahl): Das a¨sthetische Subjekt. Formen autobiographischen Schreibens in der franzo¨sischen Romantik (Diss., 2004); Theatralita¨t und Ra¨umlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv (Hg. mit Jo¨rg Du¨nne, Sabine Friedrich, 2009); Visualisierung und kultureller Transfer (Hg. mit Jens Baumgarten, 2009); Weltnetzwerke – Weltspiele. Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ (Hg. mit Jo¨rg Du¨nne, Steffen Bogen, 2013); Wissen, Aisthesis, Kalku¨l. Kulturtechniken visueller Welterzeugung in der fru¨hneuzeitlichen spanischen Lyrik (Habil.schrift, Publikation i. V.). Dr. Ulrike Kruse, Studium (Potsdam): Germanistik, Neueren Geschichte, Komparatistik; 2009 – 2011 Promotion (Go¨ttingen): Der Natur-Diskurs in
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Hausva¨terliteratur und volksaufkla¨rerischen Schriften vom spa¨ten 16. bis zum fru¨hen 19. Jahrhundert (Bremen, edition lumie`re, 2013); Forschung: Umweltgeschichte, Fantastik, z. B.: „Das Baumwolltier und andere Chima¨ren“, in: Zeitschrift fu¨r Fantastikforschung, 2011/2, S. 35 – 54; „Der Natur-Diskurs in der Fru¨hen Neuzeit und seine Auspra¨gung in der Hausva¨terliteratur und in volksaufkla¨rerischen Schriften (spa¨tes 16. bis fru¨hes 19. Jahrhundert)“, in: Saeculum 2012/62, S. 101 – 111. Prof. Dr. Dieter Lamping ist seit 1993 Professor fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literatur an der Johannes Gutenberg-Universita¨t Mainz. Nach einem Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Germanistik und Pa¨dagogik promovierte er 1981 an der Bergischen Universita¨t Wuppertal mit einer Arbeit u¨ber den Namen in der Erza¨hlung. Die Habilitation folgte 1986. Von 1988 bis 1993 war er Professor fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universita¨t Mu¨nchen. In der Folge nahm er zudem verschiedene Gastprofessuren im Ausland wahr, u. a. Indiana University Bloomington 1997 und Rijksuniversiteit Groningen 2000. Schwerpunkte des komparatistischen Œuvres von Dieter Lamping sind die Theorie der modernen Lyrik, Poetiken moderner Literatur (u. a. Rilke, Hofmannsthal, Kafka, Celan), ju¨dische Literatur im transnationalen Kontext sowie das Konzept der Weltliteratur in historischer und systematischer Sicht. ¨ berdies ist Dieter Lamping Herausgeber zahlreicher kommentierter Ausgaben U der Werke Rainer Maria Rilkes, Hugo von Hofmannsthals und Alfred Anderschs. Neuere Buchpublikationen (Auswahl): Moderne Lyrik, Go¨ttingen 2008; Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere, Stuttgart 2010; Internationale Literatur, Go¨ttingen 2013. Dr. Uwe Lindemann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Germanistischen Institut, Sektion Komparatistik, an der Ruhr-Universita¨t Bochum. Rezente Publikationen: „Schaufenster, Warenha¨user und die Ordnung der ‚Dinge‘ um 1900. ¨ berlegungen zum Zusammenhang von Ausstellungsprinzip, Konsumkritik U und Geschlechterpolitik in der Moderne“, in: Lehnert, Gertrud (Hg.): Raum und Gefu¨hl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2011, S. 189 – 215; „Mode als Massenware. Die Ra¨ume der Konfektion in der fru¨hen Konsumkultur“, in: Lehnert, Gertrud (Hg.): Ra¨ume der Mode. Mu¨nchen 2012, S. 85 – 99; „,Micropeziza filicina‘ sp. nov. (Helotiales), a fern inhabiting species with an intermediate generic position, with an emendation of the genus ‚Micropeziza‘ Fuckel“. Zusammen mit Stip Helleman, Hans-Otto Baral und Chris Yeates, in: Ascomycete.org, 5 (4) (2013), S. 129 – 136; Warenhaus und Moderne. Studien zum kollektiven Imagina¨ren der fru¨hen Konsumgesellschaft (1880 – 1940) (im Druck).
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Christian Luckscheiter, geboren in Freiburg, 2010 Promotion an der TU Berlin, derzeit Lektor im Reclam Verlag. Vero¨ffentlichungen u. a.: „Der Schmiss unter der Trikolore. Die preka¨re Ko¨rperrealita¨t des Ernst von Breuschheim nach dem Ersten Weltkrieg“, in: Mohi-von Ka¨nel, Sarah / Steier, Christoph (Hg.): Nachkriegsko¨rper. Preka¨re Korporealita¨ten in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Wu¨rzburg 2013, S. 125 – 134; Ortsschriften Peter Handkes. Berlin 2012; „Weststo¨rungen in mittelo¨stlichem Gela¨nde. Zu Andrzej Stasiuks Versuchen, einen verschwindenden Kontinent in die Schrift zu retten“, in: Gansel, Carsten / Zimniak, Paweł (Hg.): Sto¨rungen im Raum – Raum der Sto¨rungen. Heidelberg 2012, S. 371 – 385. Marc Maufort is Professor of English, American and postcolonial literatures at the Universite´ Libre de Bruxelles (Belgium). He is currently one of the VicePresidents of the International Association for Comparative Literature (ICLA). Maufort has written and (co)-edited several books on O’Neill as well as postcolonial and multi-ethnic drama, including Transgressive Itineraries (2003) and Labyrinth of Hybridities (2010). Prof. em. Dr. Karl Maurer ist Romanist und Komparatist. Nach einem Studium der Romanistik, Klassischen Philologie und Germanistik an den Universita¨ten Freiburg, Basel, Lille, Paris und Pisa promovierte er 1951 an der Universita¨t Freiburg mit einer Studie zur Lyrik Paul Vale´rys; 1955 Habilitation an der Universita¨t Bonn (Habilitationsschrift zu Giacomo Leopardis ‚Canti‘), 1959 – 1965 Lehrstuhl fu¨r Romanische Philologie an der Universita¨t Bonn, 1965 – 1991 Lehrstuhl fu¨r Romanische Philologie an der Ruhr-Universita¨t Bochum, 1992 – 1994 Visiting Professor an der Stanford University. Als komparatistisch wie romanistisch wichtige Buchpublikationen seien exemplarisch genannt: Romantik: Aufbruch zur Moderne (Hg. mit W. Wehle, 1991), Goethe und die romanische Welt. Studien zur Goethezeit und ihrer europa¨ischen Vorgeschichte (1997) sowie die große kritische Ausgabe des Suen˜o de la muerte Francisco Quevedos (2013). Kristina Mendicino ist Juniorprofessorin fu¨r Neuere deutsche Literaturwissenschaft an Brown University. Sie hat an der Yale University und an der GoetheUniversita¨t in Frankfurt Germanistik, Klassische Philologie und Komparatistik studiert und ihr Studium mit einer Arbeit u¨ber Prophetie und Sprache bei Hegel, Wilhelm von Humboldt und Friedrich Ho¨lderlin abgeschlossen. Seit 2012 arbeitet sie als Redakteurin der Zeitschrift The German Quarterly. Anne-Rose Meyer, PD Dr., Vertretungsprofessorin an der Universita¨t Hamburg. Studierte Allg. u. Angew. Sprachwissenschaft, Germanistik u. Romanistik
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an der Universita¨t Bonn. 2004 – 2013 Juniorprofessorin an der Universita¨t Hamburg, Schwerpunkt Interkulturelle Germanistik. Lehr- und Forschungsta¨tigkeiten an den Universita¨ten Bonn, Paderborn, Bordeaux 3, Warschau, Pavia. Habilitierte 2009 an der Universita¨t Paderborn in den Fa¨chern Neuere deutsche u. Vergl. Literaturwissenschaft. Habilitationsschrift: Homo dolorosus. Ko¨rper – ¨ sthetik (Mu¨nchen 2011). Weitere Publikationen: Die deutschspraSchmerz – A chige Kurzgeschichte (Berlin 2013). Jenseits der Norm. Aspekte der Bohe`medarstellung in der deutschsprachigen und franzo¨sischen Literatur (Diss. Bielefeld 2001). Christian Moser ist Professor fu¨r Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universita¨t Bonn und Leiter der dortigen Abteilung fu¨r Komparatistik; Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft; Herausgeber von Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft; Mitglied im Editorial Board des European Journal of Life Writing. Publikationen (Auswahl): Verfehlte Gefu¨hle. Wissen – Begehren – Darstellen bei Kleist und Rousseau, Wu¨rzburg 1993; Kannibalische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis, Bielefeld 2005; Buchgestu¨tzte Subjektivita¨t. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tu¨bingen 2006; (Mithg.) AutoBioFiktion. Konstruierte Identita¨ten in Kunst, Literatur, und Philosophie, Bielefeld 2006; (Mithg.) Kopflandschaften. Landschaftsga¨nge. Zur Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs, Ko¨ln u. Weimar 2007; (Mithg.) Automedialita¨t. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, Mu¨nchen 2008; (Mithg.) Friedrich Schiller und die Niederlande. Historische, kulturelle und a¨sthetische Kontexte, Bielefeld 2012; (Mithg.) (Mithg.) Texturen des Barbarischen. Exemplarische Studien zu einem Grenzbegriff der Kultur, Heidelberg 2014; (Mithg.) Schreiben nach Kleist. Literarische, mediale und theoretische Transkriptionen, Freiburg i. Br. 2014 (im Druck). PD Dr. Alexander Nebrig ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fu¨r deutsche Literatur der Humboldt-Universita¨t zu Berlin. Studium der Deutschen, Franzo¨sischen, Slavischen Philologie in Freiburg, Bordeaux, Berlin (FU), Mu¨nchen, Paris. Publikationen (Auswahl): Rhetorizita¨t des hohen Stils. Der deutsche Racine in franzo¨sischer Tradition und romantischer Modernisierung (Go¨ttingen 2007); mit Evi Zemanek (Hg.): Komparatistik (Berlin 2012); mit Mark-Georg Dehrmann: Poeta philologus (Bern 2012); mit Carlos Spoerhase (Hg.): Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion (Bern 2012); Habilitation: Disziplina¨re Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Ha¨lfte des 20. Jahrhunderts (Berlin 2013).
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Beatrice Nickel, Akad. Ra¨tin am Institut fu¨r Romanische Literaturen der Universita¨t Stuttgart. Habilitation in den Fa¨chern AVL und romanische Literaturwissenschaft. Publikationen: Weltwissen und Sonettistik in der Fru¨hen Neuzeit. Frankreich, Spanien, England und Deutschland. Berlin 2008 / Tu¨bingen 2012; Studien zum Sonett von der Renaissance bis zur Konkreten Poesie. Berlin ¨ bersetzung zwischen imitatio und poetischem Transfer : 2010; Hg.: Lyrik-U ¨ Sprachen, Raume, Medien, Tu¨bingen 2012. Die Poesie und die Ku¨nste als inszenierte Kommunikation. Tu¨bingen 2011. Aufsa¨tze: u. a. zur europa¨ischen Sonettistik und Literatur der Avantgarde. Forschungsschwerpunkte: Die Literatur der Fru¨hen Neuzeit und des 20. Jahrhunderts, Intermedialita¨t, Globalita¨t der Literatur. Arndt Niebisch hat an der Johns Hopkins University mit einer Arbeit u¨ber die Sto¨rungsa¨sthetik des italienischen Futurismus und deutschen Dadaismus promoviert und lehrt an der Universita¨t Wien. Zu seinen Vero¨ffentlichungen geho¨ren die Edition von Raoul Hausmanns wissenschaftlichen und technischen Schriften und die Monographie Media Parasites in the Early Avant-Garde. Prof. em. Dolf Oehler lehrte Komparatistik an den Universita¨ten Frankfurt a. M., Orle´ans und Bonn. Buchpublikationen: Pariser Bilder 1 (1830 – 1848). An¨ sthetik bei Baudelaire, Daumier und Heine, Frankfurt a. M. 1979; tibourgeoise A Ein Ho¨llensturz der alten Welt. Zur Selbsterforschung der Moderne nach dem Juni 1848, Frankfurt a. M. 1988; Terrenos vulcaˆnicos, Trad. Samuel Titan Jr. u. a., Sa˜o Paulo, 2004; Aufsa¨tze zur Literatur von Boccaccio bis Sebald. Joseph D. O’Neil ist Assistant Professor of German Studies an der University of Kentucky (Lexington). Er hat an der University of Louisville, der JohannesGutenberg-Universita¨t Mainz, der Pontificia Universidad Cato´lica del Peru´ (Lima), und der Indiana University (Bloomington) studiert. Seine Dissertation Birthing the Political: Language and Crisis in Gracia´n, Goethe, and Kleist (Bloomington, 2009) handelt von der Figur der Geburt als Metapher des Politischen in Baltasar Gracians Critico´n, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, und Kleists Penthesilea, sowie im theoretischen Diskurs bei u. a. Carl Schmitt, Hannah Arendt, und Julia Kristeva. Sein aktuelles Projekt (2013) tra¨gt den Arbeitstitel Figures of Natality : The Birth of the Political in the Age of Goethe und stellt eine Weiterentwicklung der Dissertation dar. Im Folgeprojekt, The Fate of Thersites (Arbeitstitel), untersucht er die Figur des Dissidenten in der politischa¨sthetischen Theorie sowie in den Texten der Goethezeit an der Grenze zwischen Politik und Moral. Er hat Aufsa¨tze zu Goethes Lyrik, Brechts Lehrstu¨cke, und der Epistemologie und Ethik des Politischen bei Gracia´n, Lacan und Badiou vero¨ffentlicht.
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Dr. Angela Oster, Akademische Ra¨tin an der Ludwig-Maximilians-Universita¨t ¨ sthetik der Atopie – Mu¨nchen. 2005 Promotion an der Universita¨t Tu¨bingen [A Roland Barthes und Pier Paolo Pasolini, Heidelberg: Winter Verlag 2006], Habilitationsprojekt an der LMU: Zum Wahnsinn in der Renaissance. Weitere Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur- und Technikforschung; Text und Bild (Franz. Kunstkritik); Literatur und Musik (Rokoko, Barockoper und Maschinentheater); Literatur und Film (‚Kino der Poesie‘); ital. und frz. Literatur der Fru¨hen Neuzeit und des 20. und 21. Jahrhunderts. Beisitzerin im Vorstand der DGAVL und Schatzmeisterin des DIV (Deutscher Italianistenverband). Nina Peter, Laufendes Dissertationsprojekt an der Graduiertenschule des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ an der FU Berlin u¨ber die Darstellung von Finanzkrisen in der Gegenwartsliteratur. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Freien Universita¨t Berlin und der E´cole Normale Supe´rieure Paris. 2009 – 2011 Mitarbeit im Forschungsprojekt „Emotionen in Wirtschaftskrisen“ am Exzellenzcluster „Languages of Emotion“. Vero¨ffentlichungen u. a.: „Kollabierende Sprachsysteme: Zwei Strategien sprachlicher Verarbeitung der Geldwirtschaft“, in: Ku¨nzel, Christine / Hempel, Dirk (Hg.): Finanzen und Fiktionen. Grenzga¨nge zwischen Literatur und Wirtschaft. Frankfurt a. M. / New York 2011, S. 137 – 154; „Die Krise als Drama. Explikations- und Darstellungsstrategien der Finanzkrise in der Gegenwartsdramatik“, in: Peltzer, Anja / La¨mmle, Kathrin / Wagenknecht, Andreas (Hg.): Krise, Cash & Kommunikation – Analysen zur Darstellung der Finanzkrise in den Medien. Konstanz 2012, S. 227 – 248; „‚Mo¨glichkeiten einer Geschichte‘. Erza¨hlte Kontingenz in Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) “, in: Studia austriaca 2013/21, S. 95 – 116. Nicole Po¨ppel, M. A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Neueren Deutschen und Allgemeinen Literaturwissenschaft an der Universita¨t Siegen. 2003 – 2010 Studium der vergleichenden Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften in Siegen und Tours; 2010 – 2012 wiss. Mitarbeiterin im DFGProjekt „Boulevard, Bohe`me und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialita¨t und Marginalita¨t“ (Prof. Dr. Walburga Hu¨lk-Althoff, Prof. Dr. Georg Stanitzek, Universita¨t Siegen); Dissertation mit dem Arbeitstitel „Grenzga¨nger im Sensationsmilieu: Die Bohe`me und der Boulevard“ sowie Sammelband zur „Bohe`me nach 68“, hg. zus. mit W. Hu¨lk-Althoff und G. Stanitzek in Vorbereitung. Dr. Keyvan Sarkhosh, ist Postdoc-Fellow am Max-Planck-Institut fu¨r empi¨ sthetik (Frankfurt a. M.). Studium der Komparatistik, Philosophie und rische A
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Ethnologie in Mu¨nster und Wien. Publikationen (Auswahl): Dissertation: Kino der Unordnung. Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg, Bielefeld 2014; mit Paul Ferstl (Hg.): Quote, Double Quote. Aesthetics between High and Popular Culture, Amsterdam 2014. Simone Sauer-Kretschmer arbeitet als Stipendiatin der Stiftung „Bildung und Wissenschaft“ an einem Dissertationsprojekt zu ‚literarischen Bordellen als Grenzra¨umen‘. Sie ist Lehrbeauftragte in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universita¨t Bochum, im SS 2013 als ErasmusGastdozentin an der Leopold-Franzens-Universita¨t Innsbruck. Letzte Publikationen: Erleben, um zu schreiben? Attentat und Medienkriege als Anla¨sse des Erza¨hlens, in: Mohi-von Ka¨nel, Sarah / Steier, Christoph (Hg.): Nachkriegsko¨rper. Preka¨re Korporealita¨ten in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Wu¨rzburg 2013. Als Herausgeberin (gemeinsam mit Christian Bachmann): Paul Auster. Beitra¨ge zu Werk und Poetik. Essen 2012. Dr. Claudia Schmitt ist Lehrkraft fu¨r besondere Aufgaben am Lehrstuhl fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universita¨t des Saarlandes, Saarbru¨cken. Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, ¨ lteren deutschen Philologie, Politikwissenschaft und Allgemeinen und VerA gleichenden Literaturwissenschaft. Promotion 2007 zur thematischen Verarbeitung von Film in der Gegenwartsliteratur (Der Held als Filmsehender. Filmerleben in der Gegenwartsliteratur); Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Intertextualita¨t, Literatur und andere Medien/Ku¨nste (vor allem ¨ kologie. Film), Erza¨hltheorie, Literatur und O Monika Schmitz-Emans ist seit 1995 Professorin fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universita¨t Bochum. Sie studierte Germanistik, Philosophie, Italianistik und Pa¨dagogik in Bonn. 1984 Promotion in Germanistik zu Jean Pauls Ansa¨tzen zu einer Theorie der Sprache. 1992 Habilitation zur Poetik der Entzifferung und des Schreibens in Bonn. 1992 – 1995 Professur fu¨r Europa¨ische Literatur der Neuzeit an der Fern-Universita¨t Hagen. Lehrta¨tigkeit u. a. an den Universita¨ten in Bonn, Essen und Jena. 1999 – 2005 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 2002 Max Kade Distinguished Visiting Professor an der University of Notre-Dame, Indiana (USA). Seit 2007 Pra¨sidentin der Jean-PaulGesellschaft. Dominik Schreiber, Postdoc in der Forschergruppe Kulturen der Nachhaltigkeit am Research and Study Center Dynamics of Change an der Universita¨t Mannheim. Promotion u¨ber die Narrative der Globalisierung am Mannheimer
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Promotionskolleg Formations of the Global. Studium der Deutschen Philologie, Soziologie und Politikwissenschaft an der Westfa¨lischen Wilhelms-Universita¨t Mu¨nster. Publikationen: „Literarische Kommunikation. Zur rekursiven Operativita¨t des Literatursystems“, in: Textpraxis 2010/1; „Einschluss und imaginative Fluchtstrategien – Stefan Zweigs Schachnovelle und Alessandro Bariccos Novecento im intertextuellen Vergleich“, in: Il-Tschung Lim u. a. (Hg.): WeiterDenken. Christa Karpenstein-Eßbach zum 60. Geburtstag (2011). Erhard Schu¨ttpelz, Professor fu¨r Medientheorie an der Universita¨t Siegen, Promotion mit einer Arbeit zur Rhetorik an der Universita¨t Bonn (Figuren der Rede, Berlin 1996), Habilitation an der Universita¨t Konstanz (Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Ethnologie und Weltliteratur (1870 – 1960), Mu¨nchen 2005). Studium und Forschung in Hannover, Exeter, Bonn, Oxford, Ko¨ln, New York, Konstanz und Wien. Letzte Vero¨ffentlichung: Akteur-Medien-Theorie, hrsg. mit Tristan Thielmann (Bielefeld 2013). Linda Simonis ist seit 2004 Professorin fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universita¨t Bochum. Nach einem Studium der Germanistik, Anglistik, Pa¨dagogik und Philosophie Promotion 1995 an der Universita¨t Ko¨ln mit einer Arbeit zu Literatur und Kulturgeschichtsschreibung. Habilitation 2000 in Ko¨ln (Habilschrift Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und literarische Darstellung im 18. Jahrhundert erschien. Heidelberg 2002). 2001 – 2004 Heisenbergstipendiatin der DFG. Vertretungsprofessuren an den Universita¨ten Amsterdam und Wuppertal. 2008 – 2014 Stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Poetiken des ¨ sthetik und Politik in Drama und Oper Geheimen, literarische Zeitkonzepte, A der Fru¨hen Neuzeit, Literatur und Kulturkritik, Modelle des Apokryphen in Literatur und Wissensgeschichte. Christian Sinn, Professor fu¨r Deutsche Sprache und Literatur an der PH St. Gallen (Schweiz); Dr. phil. Konstanz 1993 (Jean Paul. Hinfu¨hrung zu seiner Semiologie der Wissenschaft 1995); Habilitation Konstanz 2001 (Dichten und Denken. Entwurf zu einer Grundlegung der Entdeckungslogik in den exakten und ‚scho¨nen‘ Wissenschaften 2001). Publikationen zur Fru¨hen Neuzeit, Goethezeit, Romantik, zum Realismus, zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften und zur Literarischen Ethik, darunter : Die Messbarkeit des Unmessbaren. Literarische Kompetenzmessung im Kontext von Bildungsstandards (2013); Macht Lesen glu¨cklich? Bemerkungen zur theoretischen Relevanz des Glu¨cksbegriffes in der vormodernen Literatur (2010); Liebe. Anmerkungen zur Wissenschaftstheorie Friedrich Schlegels (2009); Schleier, Rose, Ring. Zur immanenten Poetologie von
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Clemens Brentanos „Aloys und Imelde“ (2008); The Figure in the Carpet: Metadramatical Concepts in Jacob Bidermann’s „Cenodoxus“ (1602) (2007). Schiffbau mit Zuschauer. Dekonstruktion einer Daseinsmetapher in Wilhelm Raabes „Die schwarze Galeere“ (1861) (2006). Christiane Solte-Gresser, seit 2009 Professorin fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universita¨t des Saarlandes. Arbeitsschwerpunkte u. a.: Literaturtheorien und -methoden, Literatur und Philoso¨ sthetik des Allta¨glichen, Intermedialita¨t, Theorie und Geschichte der phie, A Autobiographie. Publikationen (Auswahl): Spielra¨ume des Alltags. Literarische Gestaltung von Allta¨glichkeit (2010), Leben im Dialog. Wege der Selbstvergewisserung in den Briefen von Se´vigne´ und Charrie`re (2000), Mitherausgeberschaften: Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen (2013), Relire Madeleine Bourdouxhe (2011), Mittelmeerdiskurse in Literatur und Film (2009), Aktuelle Forschungsmethoden in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften (2005), Eros und Literatur (2005), E´critures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie (2004). Dr. phil. Alice Stasˇkova´, Studium der Germanistik und Romanistik, in Prag, Paris, Leipzig und Heidelberg, Promotion 2005. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fu¨r Deutsche und Niederla¨ndische Philologie der Freien Universita¨t ¨ sthetik, Berlin. Buchvero¨ffentlichungen: Na¨chte der Aufkla¨rung. Studien zur A Ethik und Erkenntnistheorie in Voyage au bout de la nuit von L.-F. Ce´line und Die Schlafwandler von H. Broch (2008), als Hg.: Friedrich Schiller und Europa. ¨ sthetik, Politik, Geschichte (2007), als Hg. zus. mit Paul Michael Lu¨tzeler : A Hermann Broch und die Ku¨nste (2010). Robert Stockhammer, Professor fu¨r Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU Mu¨nchen (seit 2007), Sprecher des Graduiertenkollegs Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung, LMU (seit 2012). Promotion 1989 (Leseerza¨hlungen. Alternativen zum hermeneutischen Verfahren, 1991); Habilitation 1998 (Zaubertexte. Die Wiederkehr der Magie und die Literatur, 1880 – 1945, 2000); weitere Buchmonographien: Ruanda. ¨ ber einen anderen Genozid schreiben (2005), Kartierung der Erde. Macht und U Lust in Karten und Literatur (2007). Derzeitige Arbeitsschwerpunkte: Verha¨ltnis von Globalisierung und Literatur, Mehrsprachigkeit, Literatur und Wissen (schaft), Geschichte der Grammatik. Dr. Barbara Ventarola ist Romanistin und Komparatistin, Akad. Ra¨tin an der Universita¨t Wu¨rzburg. Ausgewa¨hlte Publikationen: „In den Zwischenra¨umen
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des Bewusstseins. Der Halbschlaf als epistemologische, bewusstseinstheoretische und poetologische Metapher in Prousts Recherche“, in: Achilles, Jochen / Borgards, Roland / Burrichter, Brigitte (Hg.): Liminale Anthropologien (2012); ¨ sthetisieals Hg.: Literarische Stadtutopien zwischen totalita¨rer Gewalt und A rung (2011); „,fanta´stico pero no sobrenatural‘ – Irrealisierung und Objektivita¨t bei Jorge Luis Borges“, in: Bender, N. / Schneider, S. (Hg.): Objektivita¨t und literarische Objektivierung seit 1750 (2010); „Passagen zu einer ethnographischen Semiologie – Roland Barthes: L’empire des signes“, in: Zaiser, R. (Hg.): Literaturtheorie und ‚sciences humaines‘ (2008). Kirsten von Hagen, Studium der Romanistik, Komparatistik, Germanistik und Anglistik an den Universita¨ten Bonn, Oxford und Reims; Forschungsaufenthalte in Paris, Salamanca und Granada; Zahlreiche Forschungsstipendien (u. a. Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung, LiseMeitner-Habilitationsstipendium). Habilitation Universita¨t Bonn 2006, Vertretungsprofessuren (u. a. Universita¨ten Bonn und Erfurt); von 2012 – 2013 Akademische Ra¨tin am Romanischen Seminar der Universita¨t Mannheim, seit September 2013 Professorin fu¨r Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universita¨t Gießen. Arbeitsschwerpunkte u. a.: Franzo¨sische und Spanische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts; Intermedialita¨t; Poetik des Briefromans, Inszenierungsformen von Oper in Literatur und Film; Literatur und Medizin um 1900. Vero¨ffentlichungen: Inszenierte Alterita¨t: Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, Mu¨nchen 2009; Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ „Les Liaisons dangereuses“, Tu¨bingen 2002; Hg. mit Claudia Hoffmann u. Volker Roloff, „Ein unerho¨rtes Glu¨cksgefu¨hl…“ – Von der Kunst des Genießens bei Marcel Proust, Proustiana XXIV, Frankfurt a. M. 2006. Zuletzt erschienen hg. mit Ansgar Thiele, Transgression und Selbstreflexion: Roadmovies in der Romania, Tu¨bingen 2013. Dr. Evi Zemanek ist Juniorprofessorin fu¨r Neuere Deutsche Literatur / Intermedialita¨t an der Albert-Ludwigs-Universita¨t Freiburg i. Br. Forschungs¨ bersetzung, Lyriktheoschwerpunkte: Interart Studies, Interkulturalita¨t und U rie/-geschichte, Gegenwartsliteratur, Ecocriticism. Publikationen (Auswahl): Das Gesicht im Gedicht. Studien zum poetischen Portra¨t, Ko¨ln u. a. 2010; SonettKu¨nste. Mediale Transformationen einer klassischen Gattung, hg. v. Erika Greber u. Evi Zemanek, Dozwil 2012; Einfu¨hrung in die Komparatistik, hg. v. Evi Zemanek u. Alexander Nebrig, Berlin 2012; Anna¨herung, Anverwandlung, ¨ bersetzungen in poetologischer und interkultureller Aneignung. Goethes U Perspektive, hg. v. Markus May u. Evi Zemanek, Wu¨rzburg 2013.