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German Pages 638 [639] Year 2015
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Fredrik Wagener
Figuren als Handlungsmodelle Simon Petrus, die samaritische Frau, Judas und Thomas als Zugänge zu einer narrativen Ethik des Johannesevangeliums Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/ Contexts and Norms of New Testament Ethics Band VI
Mohr Siebeck
Fredrik Wagener, geboren 1985; 2005–11 Studium der Ev. Theologie, Mathematik und Erziehungswissenschaften; 2015 Promotion; seit 2015 Studienreferendar am Mainzer Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen.
e-ISBN PDF 978-3-16-154242-8 ISBN 978-3-16-154124-7 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
In Liebe und Freundschaft für Anja und Tobias
Vorwort (Joh 8,50a)
Die vorliegende Studie ist die für den Druck überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2014/2015 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Promotionsschrift angenommen wurde. Möge sie ihren Leserinnen und Lesern nicht nur eine anregende Lektüre bereiten, sondern auch gemäß Jesu Worten aus Joh 8 zu Gottes Ehre gereichen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Ruben Zimmermann für die hervorragende Betreuung. Ihm verdanke ich die Idee zur Promotion, den Wechsel nach Mainz, die Zuspitzung des Themas, zahlreiche inhaltliche, sprachliche und begriffliche Impulse sowie persönliche Begleitung und vielfältige Unterstützung bei den Rahmenbedingungen meines Promotionsvorhabens. Er hat in diesen Jahren dem Titel Doktorvater alle Ehre gemacht. Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Horn danke ich für die Zweitbegutachtung und die Anregungen zur Überarbeitung meiner Dissertation. Ich danke den Mitgliedern des Zentrums für Ethik in Antike und Christentum der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität, in dessen Rahmen diese Dissertation entstanden ist, für die gute Zusammenarbeit. Mein Dank gilt Prof. Dr. Jörg Frey als Herausgeber der Reihe „Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament“ für die Aufnahme meiner Dissertation in die 2. Serie sowie den Mitarbeitenden des Mohr Siebeck-Verlages für die kompetente und freundliche Betreuung der Drucklegung, besonders Rebekka Zech für ihre stets schnellen und geduldigen Rückmeldungen. Der Konrad-Adenauer-Stiftung danke ich für die Aufnahme in die Promotionsförderung und für die damit einhergehende in jeder Hinsicht hilfreiche und weiterbringende finanzielle und ideelle Unterstützung. Viele Menschen haben mich in der Promotionszeit begleitet und auf die eine oder andere Weise zum Gelingen beigetragen. Cornelis Bennema danke ich für den anregenden Austausch, Dr. Susanne Luther und Jörg Röder für die Möglichkeit der Mitnutzung ihres Büros und das gute, freundschaftliche Miteinander. Ein herzliches Dankeschön ergeht an Beate Bechthold dafür, dass sie ihr Büro mit mir geteilt hat und ich mich dort in so manchen Tages- und Nachtschichten ausbreiten durfte. Dem Kloster Engelthal danke ich für die
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Vorwort
herzliche Aufnahme zwecks intensiver Arbeitsaufenthalte, die ich auch als persönliche Bereicherung erlebte. Den Teilnehmenden der Mainzer neutestamentlichen Sozietätssitzungen sowie den Mitgliedern der AG-ASS danke ich für die konstruktiven Rückmeldungen. Namentlich genannt seien hier noch meine Mit-Promovenden Dr. Arne Bork und Maximilian Ebling sowie meine Mit-Promovendin Esther Verwold, denen ich für den guten kollegialen Austausch und die gegenseitige Motivation in der gemeinsamen Promotionszeit danke. Ferner danke ich meiner Schwester Berit Schulze für die fachkundigen Hilfestellungen bei der grafischen Gestaltung und der technischen Umsetzung der komplexen Abbildung zum johanneischen Figurenrepertoire sowie meinen Korrekturleserinnen und -lesern Pia Bockermann, Hannah Heisser, Dr. Susanne Luther, Carolin Piotrowski, Berit Schulze, Miriam Teutsch, Antonia von Vieregge sowie Christin und Dominik Weyl. Mit Fachkenntnis und Ausdauer haben sie die Mühe einer genauen Lektüre auf sich genommen und mit ihren teils formalen, teils sprachlichen, teils inhaltlichen Rückmeldungen wesentlich zur Qualität der Arbeit beigetragen. Meinen Eltern habe ich viel zu verdanken. Benannt und ausgesprochen sei an dieser Stelle mein Dank für die Ermöglichung meines Studiums, für die Ermutigung, das Promotionsvorhaben zu wagen, und für die finanzielle Rückendeckung. Ihnen, meinen Geschwistern und Großeltern, meiner Schwiegerfamilie sowie allen Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen danke ich für die Unterstützung, die Gespräche, die Ablenkung und das Durchtragen in dieser Zeit. Zuletzt seien Tobias Bergunde und Anja Wagener benannt, denen ich diese Arbeit widmen möchte. Tobias Bergunde gilt mein besonderer Dank für die intensive Freundschaft und vielfache Unterstützung, die hier nicht angemessen gewürdigt werden kann. Von inhaltlichen Diskussionen über zahlreiche Motivationsschübe und so manches ‚Einnorden‘ bis hin zu intensiven Korrekturlesearbeiten des Gesamtwerkes hat er größten Anteil an der Fertigstellung dieser Arbeit. Überboten wird dieser nur noch von meiner Ehefrau Anja Wagener. In den Jahren der Promotionszeit durften wir uns nicht nur lieben lernen und uns für einen gemeinsamen Weg durchs Leben entscheiden, ihr verdanke ich auch vielfältigen Rückhalt und stete Begleitung vom Bangen um die Finanzierung bis hin zur Drucklegung. Ich danke ihr für viel Geduld und Nachsicht mit mir, für zahlreiches Hineindenken in Fachthemen und Sachverhalte, für die Unterstützung in intensiven Arbeitsphasen und gleichzeitige Begrenzung der Arbeitszeiten und für seitenweise Korrekturarbeiten. Vor allen Dingen aber danke ich ihr dafür, dass sie diese Zeit zu einer glücklichen Zeit gemacht hat.
Mainz, September 2015
Fredrik Wagener
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... VII Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen ............................................. XVII
Teil I: Einleitung ...................................................................................... 1 1
Narrative Ethik ...................................................................................... 6
1.1 Zum Begriff........................................................................................... 7 1.1.1 Die Vieldeutigkeit narrativer Ethik – mögliche Strukturierungen eines komplexen Diskurses .............. 8 1.1.2 Der Mensch als narratives Wesen – Einblick in einen philosophischen Diskurs ................................14 1.2 Die drei Dimensionen einer Erzählung .................................................19 1.3 Was ist Ethik? ......................................................................................29 1.3.1 Zur Etymologie und zur philosophischen wie systematisch-theologischen Verortung ................................30 1.3.2 Definition von Ethik und das Konzept der impliziten Ethik .......37 1.4 Narratologisch-ethische Aufgabenstellung ...........................................43 2
Ethik im Johannesevangelium...............................................................47
3
Figurenanalyse – Grundbegriffe und Vorbemerkungen ........................56
3.1 Was ist eine Figur? Drei Konzepte im Überblick ..................................56 3.2 Die ‚Uhr der Figur‘ – ein heuristisches Modell zur Figurenanalyse ......59 3.3 Figurenanalyse im Johannesevangelium – die theoretische Basis .........62 4
Das johanneische Figurenrepertoire ....................................................64
4.1 Systematisierung des johanneischen Figurenrepertoires .......................64 4.1.1 Figur und Handlung – Aktanten und Archetypen .......................67 4.1.2 Konsistenz der Figuren ..............................................................70 4.1.3 Figurenaufstellung – Gruppen und Bezugsfiguren .....................73 4.2 Figurenauswahl ....................................................................................80
X
Inhaltsverzeichnis
Teil II: Methodologie .............................................................................83 1
Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse.................................88
1.1 Abgrenzung und Einbettung .................................................................89 1.2 Struktur der Szenen ..............................................................................94 1.2.1 Erzählstruktur ............................................................................95 1.2.2 Dialogstruktur .......................................................................... 102 1.2.3 Sprechhandlungsklassifikation (strukturell) ............................. 106 1.2.4 Verbklassifikation.................................................................... 108 1.2.5 Grammatikalische Subjekte und grammatikalische Objekte ..... 112 1.3 Entfaltung der Erzählten Welt ............................................................ 114 1.3.1 Zeitliche Termini und Zeitstruktur ........................................... 114 1.3.2 Verortung ................................................................................ 119 1.3.3 Atmosphäre ............................................................................. 122 1.3.4 Soziostrukturelle Figurenkonstellation..................................... 123 1.3.5 Sozial-kulturelles Setting ......................................................... 127 1.3.6 Lexemhäufungen ..................................................................... 128 1.4 Darstellung und Lebendigkeit von Figuren ......................................... 130 1.4.1 Ersteinführung und Letztnennung ............................................ 133 1.4.2 Figurenattribute ....................................................................... 135 1.4.3 Assoziierte Gegenstände .......................................................... 137 1.4.4 Zugeschriebene Charaktermerkmale ........................................ 138 1.4.5 Figuren als Handlungssubjekte ................................................ 142 1.4.6 Figuren als Erlebensobjekte ..................................................... 146 1.4.7 Innenleben der Figur ................................................................ 147 1.4.8 Kollektivzugehörigkeit ............................................................ 154 1.4.9 Emotionale Figurenkonstellation ............................................. 156 1.4.10 Implizit erschlossene Charaktermerkmale ................................ 158 1.4.11 Bewertungsschemata ............................................................... 162 1.5 Sprechhandlungen .............................................................................. 165 1.5.1 Redeinterne und implizite Adressaten ...................................... 166 1.5.2 Sprechmotivation und Sprechhandlungsbezogenheit................ 167 1.5.3 Inhaltliche Sprechhandlungsklassifikation ............................... 169 1.5.4 Wahrheitsgehalt ....................................................................... 172 1.5.5 Inhalte ..................................................................................... 174 1.5.6 Ausdruck ................................................................................. 176 1.5.7 Mehrdeutigkeit und Bildsprache .............................................. 178 1.5.8 Rede Jesu ................................................................................. 180 1.6 Leseranregung .................................................................................... 183 1.6.1 Leseransprachen durch Erzähler .............................................. 184 1.6.2 Leseransprachen durch Figuren ............................................... 185 1.6.3 Rück- und Vorverweise ........................................................... 187
Inhaltsverzeichnis
1.6.4 1.6.5 1.6.6 1.6.7 1.6.8 1.6.9 2
XI
Verweis auf Intertexte.............................................................. 188 Referenz- und Parallelfiguren .................................................. 190 Referenzorte ............................................................................ 192 Referenzmotive und -formulierungen ...................................... 192 Empathie und Identifikation – Leseremotionen ........................ 194 Metabewertung ........................................................................ 200
Darstellungsweise in den Figurenkapiteln .......................................... 201
2.1 Einordnung der Figur ......................................................................... 202 2.2 Einzelanalyse der Szenen – narratologisch-ethischer Kommentar ...... 202 2.3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität ............................... 204 2.3.1 Name und Identität .................................................................. 207 2.3.2 Merkmale und Identifikationsangebot ...................................... 209 2.4 Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik .............................. 212 2.5 Handlungen – Handlungsethik ............................................................ 214 2.6 Symbol und Funktion – Rollenethik ................................................... 214 2.7 Bündelung – ethischer Gehalt ............................................................. 216
Teil III: Simon Petrus, ein Hirtenschaf lernt Hirtenschaft .......... 219 1
Einordnung der Figur......................................................................... 219
2
Einzelanalyse der Szenen.................................................................... 220
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10
Szene 1 (1,40–42)............................................................................... 220 Szene 2 (6,67–71)............................................................................... 228 Szene 3 (13,1–30)............................................................................... 235 Szene 4 (13,31–38) ............................................................................. 247 Szene 5 (18,1–12)............................................................................... 252 Szene 6 (18,15–18.25–27) .................................................................. 257 Szene 7 (20,2–10)............................................................................... 265 Szene 8 (21,1–14)............................................................................... 270 Szene 9 (21,15–22) ............................................................................. 278 Szenen impliziter Nennung................................................................. 286
3
Charakter und Eigenschaften – ethische Identität............................... 287
3.1 Name und Identität ............................................................................. 287 3.1.1 Simon, der Hörende, und Petrus, der Beständige? (1,42) ......... 288 3.1.2 Hirte statt Fischer (21,3.15–17) ............................................... 289 3.2 Merkmale und Identifikationsangebot ................................................ 290 3.2.1 Zwischen Passivität und Aktionismus ...................................... 291
XII
Inhaltsverzeichnis
3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 4
Mut .......................................................................................... 293 Geduld ..................................................................................... 295 Unverständnis .......................................................................... 296 Gewalttätigkeit (18,10 f.) ......................................................... 298 Entwicklung und Identifikation................................................ 299
Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik .............................. 300
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Simon und Jesus ................................................................................. 301 Simon Petrus innerhalb der Jüngerschaft Jesu .................................... 303 Simon und Andreas – Bruderschaft und Jüngerschaft (1,40; 6,8) ........ 305 Simon Petrus und der Geliebte Jünger ................................................ 306 Simon Petrus und der Andere (18,15 f.; 21,18) ................................... 309 Simon Petrus in Joh 18 – Sklaven, Diener, die Türhüterin, Malchus und sein Verwandter ............................................................ 311 4.7 Simon Petrus und Maria Magdalena (20,2) ......................................... 314 5
Handlungen der Figur – Handlungsethik ........................................... 315
5.1 5.2 5.3 5.4
Bleiben und Bekennen (6,68 f.) .......................................................... 316 Nachfolgen ......................................................................................... 316 „Wieder bestritt Petrus“ (18,27) – Wahrhaftigkeit und Lüge .............. 319 Kleidsamkeit und Nacktheit (21,7) ..................................................... 322
6
Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik .................................... 325
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Simon Petrus als Leit- und (historische) Symbolfigur ......................... 326 Scheitern in der Jüngerschaft: Judas Iskariot und Simon Petrus .......... 328 Schuld und Vergebung ....................................................................... 330 Liebe, Leben und Tod......................................................................... 332 Verständnis der Fußwaschung (13,4–15) ............................................ 336
7
Bündelung – ethischer Gehalt............................................................. 338
Teil IV: Die samaritische Frau. Glaube überwindet Grenzen .... 341 1
Einordnung der Figur......................................................................... 341
2
Einzelanalyse der Szenen.................................................................... 341
2.1 Szene 1 (4,4–27)................................................................................. 341 2.2 Szene 2 (4,28f.) .................................................................................. 361 2.3 Szene 3 (4,39–42)............................................................................... 366
Inhaltsverzeichnis
3
XIII
Charakter und Eigenschaften – ethische Identität............................... 370
3.1 Name und Identität ............................................................................. 370 3.1.1 Weibliche Geschlechtlichkeit .................................................. 372 3.1.2 Samaritische Volkszugehörigkeit ............................................. 375 3.1.3 Kontrastfigur Nikodemus......................................................... 377 3.2 Merkmale und Identifikationsangebot ................................................ 378 3.2.1 Gesprächsbereitschaft .............................................................. 379 3.2.2 Traditionsbezogenheit.............................................................. 381 3.2.3 Pfiffigkeit ................................................................................ 383 3.2.4 Pragmatismus oder Faulheit? Entfaltung von Pausieren und Müßiggang (4,6.15) .......................................................... 385 4
Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik .............................. 386 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
5
Handlungen der Figur – Handlungsethik ........................................... 397 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
6
Bezeugen – die überzeugende Glaubensbotschaft (4,29.39) ..... 397 Offenheit für Entscheidungswechsel ........................................ 399 Gutes Sprechen – Die Samariterin als Wahr-Sagende (4,17 f.) 399 Der moralische Appell: Konkrete Reflexionsanregung statt prinzipieller Vorschrift ..................................................... 402 Aktivität .................................................................................. 403
Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik .................................... 404 6.1 6.2
7
Die Samariterin und Jesus – Seelsorge und Überwindung der Fremdheit .......................................................................... 387 Die Samariterin und die Samariter ........................................... 390 Die Samariterin und Jesu Jünger .............................................. 391 Jakob und die Väter (4,12–14.20–24) ...................................... 393 Die Samariterin und die Männer – Beziehung und Ehe (4,16–18) ................................................................................. 394
Durst und Leben (4,13–15) ...................................................... 405 Jesu Braut ................................................................................ 406
Bündelung – ethischer Gehalt............................................................. 409
Teil V: Judas: Verworfen. Verurteilt. Verstanden? ...................... 413 1
Einordnung der Figur......................................................................... 413
2
Einzelanalyse der Szenen.................................................................... 414
XIV
Inhaltsverzeichnis
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Szene 1 (6,67–71)............................................................................... 414 Szene 2 (12,1–8)................................................................................. 421 Szene 3 (13,1–30)............................................................................... 430 Szene 4 (18,1–12)............................................................................... 447 Szenen impliziter Nennung................................................................. 452
3
Charakter und Eigenschaften – ethische Identität............................... 455
3.1 Name und Identität ............................................................................. 455 3.1.1 Judas – der Iskariot .................................................................. 456 3.1.2 Judas – der Überliefernde ........................................................ 457 3.1.3 Judas – Einer der Zwölf ........................................................... 460 3.1.4 Judas – der Kassenwart (12,6) ................................................. 461 3.1.5 Judas – der Dieb (12,6) ............................................................ 464 3.1.6 Judas – der Heuchler (12,5 f.) .................................................. 467 3.1.7 Judas – ein Teufel (6,70 f.; 13,2) ............................................. 468 3.1.8 Judas – Sohn des Verderbens (17,2) ........................................ 469 3.1.9 Judas – der ungeliebte Jünger .................................................. 470 3.2 Merkmale und Identifikationsangebot ................................................ 472 3.2.1 Unreinheit (13,10 f.) ................................................................ 472 3.2.2 Gewaltbereitschaft (18,3)......................................................... 473 3.2.3 Zwischen Zuschreibung und Verhaltensrückschluss – Einspruch der Metabewertung ................................................. 474 3.2.4 Judas als Mahnbild .................................................................. 475 4
Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik .............................. 476
4.1 4.2 4.3 4.4
Judas und Jesus .................................................................................. 477 Judas und die Jünger........................................................................... 478 Judas, Maria und die betanische Tischgemeinschaft (12,1–8) ............. 479 Judas und der Verhaftungstrupp (18,3.5) ............................................ 480
5
Handlungen der Figur – Handlungsethik ........................................... 481
5.1 Viele böse Taten ................................................................................. 481 5.2 Almosen geben (12,5; 13,29).............................................................. 482 6
Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik .................................... 484
6.1 6.2 6.3 6.4
Judas als Repräsentant – Verurteilung von vielen ............................... 484 Personifikation von Moral – Maria und Judas im Kontrast (12,3–8) ... 486 Finsternis-Metaphorik ........................................................................ 487 Judas und Jesu ..................................................................... 488
7
Bündelung – ethischer Gehalt............................................................. 490
Inhaltsverzeichnis
XV
Teil VI: Thomas und der Weg in die Glaubensgemeinschaft .... 493 1
Einordnung der Figur......................................................................... 493
2
Einzelanalyse der Szenen.................................................................... 493
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Szene 1 (11,7–16)............................................................................... 493 Szene 2 (14,2–6)................................................................................. 502 Szene 3 (20,24f.) ................................................................................ 510 Szene 4 (20,26–29) ............................................................................. 516 Szene 5 (21,1–14)............................................................................... 522 Szenen impliziter Nennung................................................................. 525
3
Charakter und Eigenschaften – ethische Identität............................... 527
3.1 Name und Identität ............................................................................. 529 3.1.1 Thomas und Simon Petrus – ein doppelter Weg für den Leser 530 3.1.2 Thomas und Judas – Zwei der Zwölf ....................................... 534 3.1.3 Thomas und Nathanael – Zweifler in guter Gesellschaft .......... 535 3.1.4 Thomas und Lazarus – du sollst leben! .................................... 535 3.2 Merkmale und Identifikationsangebot ................................................ 537 4
Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik .............................. 539
4.1 Thomas und Jesus............................................................................... 539 4.2 Thomas und die Zwölf........................................................................ 540 5
Handlungen der Figur – Handlungsethik ........................................... 542
5.1 5.2 5.3 5.4
Thomas’ Handlungsappell (11,16) ...................................................... 543 Thomas’ Eingeständnis (14,5) ............................................................ 544 Thomas’ Wunsch: Sehen als Wissen oder Glauben? (20,25) .............. 544 Thomas’ implizites Tun und sein Bekenntnis (20,27 f.) ...................... 547
6
Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik .................................... 548
6.1 Lebensethik ........................................................................................ 550 6.2 Sinnbild für Nachfolge ....................................................................... 551 6.3 Glauben aufgrund des Zeugnisses anderer .......................................... 553 7
Bündelung – ethischer Gehalt............................................................. 554
XVI
Inhaltsverzeichnis
Teil VII: Fazit ........................................................................................ 557 1
Rückblick – Ausgangspunkt und Zielfindung ...................................... 557
2
Überblick – Chancen und Grenzen narrativer Ethik ........................... 559
2.1 Narrative Ethik im Joh: Erkenntnisse für den innertheologischen Diskurs ............................................................................................... 560 2.2 Narratologisch-ethische Analyse des Joh: interdisziplinärer Mehrwert ................................................................ 567 3
Ausblick – Horizonte und Plädoyer .................................................... 571
Anhang ....................................................................................................... 575 Literaturverzeichnis .................................................................................... 579 Stellenregister............................................................................................. 605 Autorenregister ........................................................................................... 615 Sachregister ................................................................................................ 617
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24:
Die drei Dimensionen einer Erzählung .........................................19 Erzählung als Kommunikationsprozess ........................................21 Verwendete Heuristik des Kommunikationsprozesses in dieser Arbeit .............................................................................26 Die ‚Uhr der Figur‘ – Konzeption und Analyse von Figuren nach J. Eder ..................................................................................60 Figurenaufstellung des Joh ...........................................................79 Erzählstruktur von Joh 9,18b–23 ................................................ 101 Dialogstruktur von Joh 1,38–46 – Version 1 .............................. 104 Dialogstruktur von Joh 1,38–46 – Version 2 .............................. 105 Sprechhandlungsklassifikation von Joh 7,45–52......................... 107 Verbklassifikation zu 6,16–21 .................................................... 112 Zeitstruktur von 8,2–11 .............................................................. 116 Sozial-strukturelle Figurenkonstellation in Joh 2,1–11 ............... 125 Figurenkollektive in Joh 6,66–71 (ohne die abgewandten Jünger) .................................................. 155 Emotionale Figurenkonstellation von Maria und Jesus in 12,1–8 .................................................................................... 157 Ausschnitt aus dem Bezugssystem für .. 163 Ausschnitt der Bewertungstafel für für die Figur Johannes ................................................................ 164 Figurenbewegungen in Joh 20,1–18 ........................................... 266 Wertehierarchie der joh. Lebensethik und in Modifikation durch Liebe als Eigenwert .......................................................... 335 Überlappende Erzählstruktur in Joh 4,28–42 .............................. 367 Kategorisierung der Figuren nach Geschlecht und Nationalität .......................................................................... 371 Alternativen der Sprechhandlungsklassifikation und -bezogenheit von Joh 13,18a ............................................... 433 Zeitstruktur von Joh 13,26–30 .................................................... 443 Zwei Bedingungen zur Seligkeit................................................. 508 Fokussierte Figuren im Szenenübergang in Joh 20,22–24 .......... 512
XVIII
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abb. 25: ‚Kollektiv-Überschneidungen‘ zwischen Sehenden und Glaubenden ......................................................................... 545 Abb. 26: Bewegungsorientierung des Thomas .......................................... 552 Abb. 27: Parallelisierung zwischen Thomas und den Samaritern .............. 554 Abb. 28: Wissenschaftliche Verortung der vorliegenden Arbeit ................ 575
Tabellen Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6:
Zugang zum Innenleben von Figuren (nach Joh 11,28–33) ......... 153 Mögliche inhaltliche Sprechhandlungsklassifikation im Joh ....... 170 Vergleich der drei ‚Leugnungs-Handlungen‘ .............................. 262 Grammatikalische Subjekte und Objekte in Joh 21,1–14 ............ 273 Vergleich der Situationen am .................................... 276 Gegenüberstellung der ‚Wassergaben‘ in Joh 4 .......................... 350
Teil I
Einleitung
„Im Anfang war das Wort.“ Mit diesen prägnanten Worten beginnt das Johannesevangelium (1,11). Bei einem von Anfang bis Ende auf gesprochene und geschriebene Sprache so ausgerichteten Text (vgl. 21,25) verwundert kein Zugang, der diese Sprachlichkeit betont. Dementsprechend wird in dieser Arbeit das Joh in seiner Sprachlichkeit wahrgenommen. Das Joh ist – wie alle Evangelien – vom Genre her kein beliebiger Text, sondern unter Inklusion verschiedener Elemente wie Reden, Dialoge, poetischer Abschnitte, Wiedergaben von Ereignissen sowie theologischer Diskurse ein narrativer2 Text, eine Erzählung.3 „Alles ist durch es [das Wort] gemacht“ (1,3). Diese eingängige theologische Aussage beinhaltet unter literarischer Perspektive eine beinahe banale Wahrheit: Durch Worte entstehen Vorstellung und Verständnis, wird in Erzählungen eine ganze Welt in der Fantasie dessen4, der die Worte liest, erschaffen.5 Zusammenhänge, Begrifflichkeiten, Orte, Figuren, Ereignisse – 1
Alle nicht anders ausgezeichneten Kapitel- und Versangaben beziehen sich auf das Johannesevangelium. Alle deutschen Übersetzungen des biblischen Textes entstammen – soweit nicht anders ausgezeichnet – der Arbeitsübersetzung des Verfassers. 2 Das Wort ‚narrativ‘ leitet sich von dem lateinischen Verb ‚narrare‘ (=erzählen) ab. 3 R. A. Burridge bezeichnet das Joh (wie auch die anderen Evangelien) als „biographical narrative“ (ders., Imitating, 346). Vgl. zur Genrefrage die Anmerkungen in der Einführung von Teil II – Methodologie. 4 In dieser Arbeit wird das generische Maskulinum als inklusive Form verwendet. In Bezug auf die Aussagen über Figuren im biblischen Text entspricht dies der griechischen Form, wird aber auch an geeigneter Stelle reflektiert (z. B. Teil IV – Die Samaritische Frau: 3.1.1). Andere generische Maskulina (insbesondere ‚der Leser‘) sind aus Gründen der Einheitlichkeit, der Kürze und des Schriftbilds alternierenden Bezeichnungen, einer Doppelnennung (‚Leserin oder Leser‘) und der Verwendung Sonderschriftzeichen (z. B. ‚Leser/in‘ oder ‚Leser_in‘) vorgezogen. Die Partizipbildung (‚Lesende‘) ist wegen des momentanen Handlungsbezugs – im Gegensatz zum Einnehmen einer Rolle – nur dort verwendet, wo dieser Aspekt betont werden soll. 5 Wenn hier eine literarische Auslegung des Anfangs des Joh vorgenommen wird, die den determinierten Singular nicht auf ein konkretes Wort, sondern (quasi als Singularetantum) auf das Sprechen bzw. Ausdrücken an sich bezieht, ist damit die theologische sowie die intratextuelle Dimension, welche v. a. die Personifizierung des und des-
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alles entsteht durch Worte. „Und das Wort wurde Fleisch“ (1,14). Dieser Satz bündelt als Mikroerzählung das, was im Johannesprolog (1,1–18) abstrakt und in poetischer Sprache ausgeführt ist. Wenngleich poetisch formuliert, setzt hier bereits Handlung ein, ein Geschehen, das lohnt, erzählt zu werden. So erzählt das Joh über 21 Kapitel hinweg die Geschichte des fleischgewordenen Wortes und lässt in der Vorstellungskraft seiner Leser die Worte Formen annehmen und erlebbar werden. Die Zusammensetzung und Wirkung von Erzählungen, wie das Joh eine ist, wird von der Narratologie untersucht, der Lehre von den Erzählungen.6 Die Narratologie, die sich aus der Epiktheorie emanzipierte, weitet den Untersuchungsgegenstand von Epen auf „Alltagserfahrungen, […] Witze, Mythen, Volkserzählungen, Sagen, Legenden, Trivialromane“ aus – eben auf alle mündlichen oder schriftlichen Texte, die erzählt werden.7 In einem Arsenal an komplexen Begriffen, von dem ‚Narratologie‘ nur einen Exponenten darstellt, geht rasch verloren, dass Erzählungen eine Alltagserfahrung sind, dass sie zeit-, kultur- und ortsübergreifend Menschen verbinden. Jeder Mensch begegnet ihnen und verwendet sie täglich mehrfach, sein Leben lang. Schon kleine Kinder beginnen mit einfachsten Erzählungen ihre Erfahrungen zu kommunizieren. So wird ‚Erzählen‘ bisweilen als Kerneigenschaft des Menschen direkt neben ‚Sprache‘ genannt.8 Der US-amerikanische Literaturtheoretiker und Holberg-Preis-Träger Frederic R. Jameson z. B. beschreibt den „all-informing process of narrative“ als „the central function or instance of the human mind.“9 In künstlerischer Form begegnen uns Erzählungen in verschiedenen Medien und die schriftlich fixierte Form ist nur eine von vielen.10 Die Universalität von Erzählungen ermöglicht eine breite quantitative Wirkmächtigkeit und der intuitive Zugang jedes Menschen durch ständigen Gebrauch (sowohl Produktion als auch Rezeption) eine qualitative. Wenn in dieser Arbeit eingangs Erzählungen thematisiert wurden, ist damit der eine Pol des titelgebenden Begriffs ‚narrative Ethik‘ benannt. In Bezug sen Identifizierung mit Jesus beinhalten, zurückgestellt. Wird hier die welterzeugende Kraft der Worte in der Leserfantasie hervorgehoben, sei noch auf ihre wirklichkeitsschaffende in der Gesellschaft verwiesen, wie sie sich in einem Urteilsspruch vor Gericht oder der Erklärung einer Eheschließung durch einen Standesbeamten äußert. 6 Den Begriff führte der bulgarischstämmige Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Tzvetan Todorov ein (vgl. ders., Grammaire, 10). Eine gute, übersichtliche Einführung (inklusive eines kurzen historischen Abrisses) bietet der Aufsatz ‚Narratology‘ von J. C. Meister im ‚Handbook of Narratology‘ (Hühn/Pier/Schmid/Schönert (Hgg.)), welches hier als Sammlung von 32 zentralen Grundbegriffen und Themen (inklusive eines guten Indexes) als Nachschlage- und Einführungswerk empfohlen wird. 7 Horn, Theorie, 64. 8 Vgl. Abbott, Introduction, 1. V. Nünning bezeichnet „Literatur“ sogar als „lebenswichtig“ (dies., Erzählen, 166). 9 Jameson, Unconscious, xiii. 10 Zur prinzipiellen Mittelbarkeit aller Erzählungen vgl. z. B. Bauer, Romantheorie, 85.
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auf diesen ist für die Betrachtung und Analyse des Joh der narrative turn grundlegend, der ausgehend von den Geisteswissenschaften seit Ende des 20. Jh. die verschiedensten Disziplinen und gesellschaftlichen Kontexte (von der Politik bis hin zu den Kognitionswissenschaften) erreicht hat.11 Er betont die Bedeutung von Erzählungen und vom Erzählen in sämtlichen menschlichen Lebensbereichen. In den Schwesterwissenschaften Philosophie und Theologie entfaltet diese Wende u. a. auch im Bereich der Ethik ihre Strahlkraft, was sich im Ausdruck ‚narrative Ethik‘ spiegelt. Damit sei der Blick auf den zweiten Pol dieses Ausdrucks gelenkt. Dass in dieser Arbeit Ethik eine zentrale Rolle zukommt, ist im Jahr 2015 nicht unbedingt überraschend: Seit den 1980er Jahren wird vom ethical turn12 in der Narrationsforschung gesprochen, welcher in einem verstärkten moralischen Interesse in sämtlichen gesellschaftlichen Diskursen Ausdruck findet.13 Auch in verschiedenen anderen Wissenschaften ist eine Steigerung an dezidiert ethischen Fragestellungen feststellbar und im gesellschaftlichen Diskurs finden Fragen der Moral verstärkt Beachtung. So reiht sich diese Dissertationsschrift als ‚Text seiner Zeit‘ in diese maßgebliche Entwicklung ein. Der Ausdruck ‚narrative Ethik‘ erregt seit Beginn des Jahrhunderts im philosophisch-literaturwissenschaftlich-theologischen Dialog Aufmerksamkeit. Zwar sind bislang einige richtungsweisende Sammelbände und Einzelartikel veröffentlicht worden, allerdings ohne dass ein Konsens darüber erreicht worden wäre, was ‚narrative Ethik‘ beinhaltet. Da der Ausdruck mehrdeutig ist, werden im interdisziplinären Diskurs sowohl verschiedene Lesarten des Begriffes theoretisch diskutiert als auch Applikationen mit konkreterem Charakter versucht (vgl. dazu 1.1). Dieser Diskurs wird in dieser Arbeit aufgegriffen. Sie leistet dabei Folgendes: Es wird ein Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion geliefert, der sich innerhalb dieser verortet und die Thesen der widerstreitenden Ansätze für die Arbeit im Neuen Testament fruchtbar macht. Dazu sind als Richtungsweiser 11
Vgl. Ryan, Definition, 22. Siehe auch Kreiswirth, Turn. Als Ausgangspunkt des narrative turns können die Ansätze der französischen Strukturalisten (Tzvetan Todorov, Roland Barthes, Gérard Genette etc.) Ende der 1960er Jahre gelten (vgl. Herman/Jahn/Ryan, Introduction, ix). Vgl. zur Universalität des Erzählens auch Koschorke, Wahrheit, 9–25. 12 In der Wissenschaftstheorie ist es derzeit in Mode, von ‚Wenden‘ zu sprechen, sodass mit narrative turn und ethical turn nur zwei Paradigmenwechsel aus einer Vielzahl (lingusitic turn, cultural turn, spatial turn, material turn u. v. m.) herausgegriffen sind. 13 Vgl. Korthals Altes, Turn; Bidmon/Gruschke/Illi/Modlinger, Einleitung. So formuliert auch S. Waldow in ihrem ersten Kapitel als Unterüberschrift „Ethik Allerorten: Ein Phänomen der Jahrtausendwende?“ und weist auf eine gewisse Regelmäßigkeit im Aufkommen ethischer Fragen hin (dies., Schreiben, 29). Siehe auch den von C. Lubkoll und O. Wischmeyer herausgegebenen Sammelband „‚Ethical Turn‘? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung“.
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zum einen die Texteinschränkung durch die Wahl des Joh14 und zum anderen die Aufnahme des figurenanalytischen Methodenrepertoires aus der Narratologie gewählt. Diese beiden Richtungsweiser lassen sich wie folgt begründen: Erstens scheint das Joh besonders reizvoll, um ein neues Konzept von Ethik zu erproben, da deren Existenz im Joh bislang prinzipiell in der ntl. Forschung eine untergeordnete Rolle spielte (vgl. Kap. 2). Zweitens bieten in Erzählungen gerade die Figuren ethisches Potential, da sie als Handlungsträger (vgl. Kap. 3) notwendiger Weise agieren und reagieren, sich zu anderen Figuren, Situationen, Handlungsvorgaben oder Themen verhalten. Figuren sind es, „[who] transmit the significance and values of the narrative to the reader“.15 Beim Lesen einer Erzählung entsteht zwischen dem Leser und den Figuren eine große Nähe mit ethischer Relevanz, da Menschen ‚erzählt strukturiert‘16 sind – in den Worten des US-amerikanischen Narratologen und Literaturwissenschaftlers Horace Porter Abbott: „[I]t is only through narrative that we know ourselves as active entities that operate through time“ (vgl. 1.1.2).17 Damit ist diese Arbeit wesentlich in drei wissenschaftlichen Diskursen verortet: 1. Ethik, 2. Forschung zum Joh und 3. Figurenanalyse. Diese drei Diskurse spannen ein Netz auf, dessen Eck- und Knotenpunkte hier umrissen werden sollen, um die vorliegende Arbeit insgesamt zu verorten sowie zu verdeutlichen, wie die einzelnen Kapitel der Einleitung den Forschungskontext der Arbeit abdecken. Im Anhang findet sich eine Visualisierung des hier skizzierten Diskursnetzes. Als Eckpunkte (und zugleich als wissenschaftstheoretische Verortungen) dieses Diskursnetzes können 1. Philosophie und Systematische Theologie, 2. die exegetischen Disziplinen der Theologie und 3. die Literaturwissenschaften – genauer: die Narratologie – benannt werden. Ethik, der erstgenannte Diskurs, wird vor allem innerhalb der Philosophie und innertheologisch in der Systematischen Theologie verhandelt. Doch auch die exegetischen Disziplinen beteiligen sich an diesem Diskurs. So wird innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft die Ethik des NT bzw. die Ethik im NT diskutiert. Ein Unterthema ist dabei die Ethik des bzw. im Joh, die hier vereinfachend als
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Angemerkt sei, dass zwar das gesamte Joh als Untersuchungsgegenstand dient, aber dennoch die intensive exegetische Arbeit an ausgewähltem Textbestand vorgeführt wird (vgl. 4.2), somit auch noch innerhalb dieser Einschränkung exemplarisch gearbeitet wird. 15 Bar-Efrat, Art, 47. Den anregenden Charakter der biblischen Figuren bezeichnet P. Merenlahti als Mysterium: „[T]he mystery of biblical characters is the mystery of the mustard seed: how does so much come out of so little?“ (ders., Characters, 49). 16 Inwieweit der Mensch aus philosophischer Sicht als ‚erzählt strukturiert‘ aufgefasst werden kann, diskutiert 1.1.2. 17 Abbott, Introduction, 130.
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joh. Ethik18 bezeichnet wird (vgl. Kap. 2). Damit ist die Brücke zum zweitgenannten Forschungsdiskurs, der Joh-Forschung, geschlagen. Innerhalb der exegetischen Disziplinen, als Teilgebiet der ntl. Wissenschaft gehört zur JohForschung auch die Auseinandersetzung mit joh. Figuren (vgl. Kap. 4). Neben der Joh-Forschung ist für die Erforschung der joh. Figuren ein Diskurs maßgeblich, der sich auf der Schnittstelle zwischen den exegetischen Disziplinen und der in den Literaturwissenschaften verorteten Narratologie befindet: Die Forschung zu biblischen Figuren als Teilbereich der biblischen Narratologie. Damit ist der letztgenannte Diskurs erreicht, um den sich das hier skizzierte Diskursnetz aufspannt: Die Figurenanalyse. Als Teilbereich der Narratologie hat sich die Forschung zu Figuren in Erzähltexten in den letzten Jahrzehnten zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt (vgl. Kap. 3). Das Netz schließt sich durch den Begriff ‚narrative Ethik‘, der den erst- und den letztgenannten Forschungsdiskurs verknüpft. Dieses Schlagwort befindet sich auf der Schnittstelle zwischen Narratologie und Ethik (vgl. Kap. 1). An ihm wird auch der literaturwissenschaftliche Beitrag am aktuellen Ethik-Diskurs deutlich. In dieser Arbeit werden vier Figuren des Joh (Simon Petrus, die samaritische Frau, Judas Iskariot und Thomas) narratologisch-ethisch analysiert. Dieser exegetische Anteil ist der Kern der vorliegenden Arbeit (Teil III–VI). Die Methode, mit der der biblische Text untersucht wird, wird im ‚Teil II – Methodologie‘ vorgestellt. Ein Fazit (Teil VII) bündelt und reflektiert die Ergebnisse, die Methodik und das Vorgehen. Dem hiesigen Einleitungsteil (Teil I) fällt die Aufgabe zu, die Grundlagen der Arbeit in vierfacher Hinsicht zu legen. Die oben genannten Forschungsdiskurse und ihre Schnittmengen konstituieren dabei das Feld, das abgeschritten werden muss. Um die ethische Dimension dieses Vorhabens deutlich zu machen, ist es notwendig festzuhalten, was unter Ethik verstanden wird. Dies wird im ersten Kapitel (Kap. 1) geleistet. U. a. wird dort der Ansatz der narrativen Ethik vorgestellt und eine Grundlage für die Wahrnehmung von Erzählungen gelegt. Im Anschluss (Kap. 2) wird der bereits aufgeworfene Forschungsdiskurs über Ethik im Joh skizziert, sodass diese Arbeit im exegetischen Diskurs verortet werden kann. Das folgende Kapitel (Kap. 3) widmet sich dem zentralen Stichwort des Titels: den Figuren. Dort wird in Vorbereitung auf die Methodologie (Teil II) der Begriff ‚Figur‘ eingeführt. Es wird erörtert, was eine ‚Figur‘ ist, und mit einem theoretischen Konzept (angelehnt an Uri Margolin und Jens Eder) untermauert. Ferner wird der in dieser Arbeit zentrale Begriff 18 Hier sei darauf hingewiesen, dass unter dem Begriff ‚johanneische Ethik‘ gewöhnlich die Ethik der fünf johanneischen Schriften des ntl. Kanons – also auch die Johannesbriefe und die Johannesapokalypse – verhandelt wird. In der vorliegenden Arbeit wird das Adjektiv ‚johanneisch‘ auf das Johannesevangelium eingeschränkt. Vgl. zu diesem Thema Kap. 2.
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‚Erzählte Welt‘ eingeführt. Schließlich werden die letztgenannten Themen ‚Figur‘ und ‚Johannesevangelium‘ zusammengeführt (Kap. 4). In diesem letzten Kapitel der Einleitung (Teil I) wird ein Überblick über die Figuren des Joh geboten, der Forschungsstand zu Figuren im Joh abgerufen und die Figurenauswahl, die dieser Arbeit zu Grunde liegt, erörtert.
1 Narrative Ethik 1 Narrative Ethik
Dass Erzählungen gattungsbedingt ein ethischer Gehalt innewohnt, ist keine neue Entdeckung des narrative turns.19 Bereits Aristoteles betont den Modellcharakter von dramatischer Handlung in Theater und Epik, welche Handlungsmöglichkeiten für das Publikum präsentiert und reflektiert.20 Auch Wilhelm Buschs „Moral von der Geschicht’“21 ist lange vor dieser narrativen Wende sprichwörtlich geworden. Bereits vor Busch schreibt die französische Schriftstellerin und Literaturtheoretikerin Madame de Staël im ausgehenden 18. Jh. über die Erlebbarkeit von Moral und ihren Bezug zur Handlung: „[M]an kann fast alle moralischen Wahrheiten fühlbar machen, wenn man sie in Handlung setzt.“22 Dieses ‚Fühlbar-Machen‘ von Moral ist ein wichtiger Ausgangspunkt für narrative Ethik.23 Was narrative Ethik umfasst und beinhaltet, in welchen Diskursen sie beheimatet ist und wie sie in dieser Arbeit Aufnahme findet, wird in diesem ersten Kapitel besprochen. Trotz der bis Aristoteles zurückreichenden Ursprünge ist der Begriff ‚narrative Ethik‘ verhältnismäßig jung. Wohl auch dadurch bedingt ist er noch nicht scharf konturiert und wird unterschiedlich gefüllt. Für einen Überblick werden hier einige Schlaglichter geworfen, wobei auf die einschlägige Forschungsliteratur verwiesen wird (1.1). Neben der forschungsgeschichtlichen 19
Zum narrative turn s. o. die Einführung von Teil I. Vgl. Bauer, Romantheorie, 14; Aristot. poet., 1451b. In seiner Hochschätzung von Dichtkunst steht Aristoteles Platon diametral entgegen, welcher Dichter der Lüge bezichtigt (vgl. Plat. rep., 377c–378e) und aus seinem ‚Idealstaat‘ verbannt (vgl. ebd.; a. a. O., 595a–608b) – ggfs. weil er in der Dichtkunst eine Gefahr für den Machterhalt sieht (vgl. Bauer, Romantheorie, 13). 21 Busch, Bad, 688. Die Formel leitet das Fazit der Erzählung ‚Das Bad am Samstagabend‘ ein. 22 Die deutsche Übersetzung findet sich bei Goethe, Versuch, 355. Ihr vollständiger Name lautet Anne Louise Germaine de Staël-Holstein. 23 J. H. Miller formuliert (1987) in diesem Sinne prinzipiell: „Without storytelling there is no theory of ethics. Narratives, examples, sories, such as Kant’s little story of the man who makes a promise intending not to keep it, are indispensable to thinking of ethics“ (ders., Ethics, 3). Sowohl Miller (vgl. a. a. O., 1–11, 127) als auch dem Konzept ‚narrativer Ethik‘ geht es aber um weit mehr als nur der Rückbindung ethischer Theorie an Erzählungen als Gedankenanregung und Beispiel. Millers dekonstuktivistischer Ansatz wird hier aber nicht weiter entfaltet. 20
1 Narrative Ethik
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Einordnung des Begriffs wird in diesem Unterkapitel auch ein Einblick in den philosophischen Narrativitätsdiskurs geboten. Da in diesem Unterkapitel der Begriff ‚narrative Ethik‘ zur Diskussion steht und das Verständnis von ‚Ethik‘ bei verschiedenen Autoren variiert oder nicht scharf definiert ist, ist dieses Unterkapitel der Definition von Ethik (s. u.) noch vorangestellt. Anschließend wird als narratologischer Hintergrund das Konzept der drei Dimensionen einer Erzählung eingeführt, welches verschiedene Analyseperspektiven begründet (1.2). Gewissermaßen wird damit auch die erste Sinnhälfte des Begriffs ‚narrative Ethik‘ vertieft. Im Anschluss rückt die zweite Sinnhälfte in den Mittelpunkt, indem die Definition von Ethik dargeboten wird, die dieser Arbeit zu Grunde liegt (1.3). Diese wird an verschiedene philosophische und theologische Ansätze rückgebunden. Aus den Ergebnissen der ersten drei Unterkapitel wird schließlich die Aufgabenstellung dieser Arbeit entwickelt (1.4). 1.1 Zum Begriff Was verbirgt sich hinter dem Begriff ‚narrative Ethik‘, der seit der Jahrtausendwende in den Geisteswissenschaften verstärkt verhandelt wird?24 1976 führt der Moraltheologe Dietmar Mieth in seiner Habilitationsschrift ‚Dichtung, Glaube und Moral‘ den Ausdruck ‚narrative Ethik‘ in Anlehnung an ‚narrative Theologie‘ ein und macht den Erfahrungsbezug ethischer Entscheidungen stark.25 Mieth geht es dabei primär um die „Möglichkeiten einer ethischen Literaturrezeption“.26 Nicht ganz zufällig wird der Ausdruck des studierten Theologen, Philosophen und Germanisten noch heute interdisziplinär verhandelt. Im deutschsprachigen Raum haben sich drei Sammelbände der narrativen Ethik von je unterschiedlicher Perspektive aus – nämlich philosophischer, literaturwissenschaftlicher und theologischer – genähert.27 Die 24 Zu den ‚Standard-Begriffen‘ innerhalb des ethischen Diskurses gehört ‚narrative Ethik‘ allerdings noch längst nicht, wie viele Einführungswerke belegen (vgl. die in 1.3 skizzierten). 25 Mieth, Dichtung. Vgl. v. a. a a. O., 41 f., 50,71–83. Die Habilitiationsschrift ist in zwei Bänden erschienen, von denen nur der genannte, den Begriff ‚narrative Ethik‘ trägt. Anzumerken ist, dass ‚narrative Ethik‘ zwar im Untertitel erschient, aber Mieth im Werk selbst überwiegend vom ‚Modell‘ (als gegenüber zur Norm) und ‚theologisch-ethischer Literaturinterpretation‘ spricht. Zu Mieths Verständnis der Terminus s. u. sowie ausführlicher Mieth, Literaturethik, 215–233; Hofheinz, Ethik, 32–37. 26 Mieth, Literaturethik, 216. 27 K. Joisten (Hg.): ‚Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen‘ (2007). C. Öhlschläger (Hg.): ,Narration und Ethik‘ (2009). M. Hofheinz/F. Mathwig/M. Zeindler (Hgg.): ‚Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik‘ (2009). Vgl. auch den von D. Mieth herausgegebenen Sammelband ‚Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik‘ (2000), der mit vielen Untersuchungen von literarischen Texten (z. B. Goethes ‚Faust‘ oder Thomas Manns ‚Das Gesetz‘)
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oben bereits angedeutete Vieldeutigkeit des Begriffs wird in allen drei Sammelbänden eingangs thematisiert. Im Folgenden wird über diese eine Übersicht geboten (1.1.1). Im Anschluss daran wird ein Verständnis von narrativer Ethik als hermeneutischer Hintergrund dieser Arbeit skizziert (1.1.2) 1.1.1 Die Vieldeutigkeit narrativer Ethik – mögliche Strukturierungen eines komplexen Diskurses In dem breiten und zugleich noch recht jungen Diskurs melden sich viele Stimmen zu Wort, die keine einheitliche Definition zulassen. In der Gegenüberstellung zeigt sich: Narrative Ethik ist nicht gleich narrative Ethik. Dementsprechend bezeichnet der systematische Theologe Marco Hofheinz den Begriff als „Pluraletantum“ und verweist auf das vielfältige Deutungsspektrum.28 Claudia Öhlschläger, die Herausgeberin des literaturwissenschaftlichen Sammelbands (vgl. 1.1), bietet keine systematische Darstellung von Deutungsmöglichkeiten ‚narrativer Ethik‘ (und benutzt den Ausdruck auch nur im Aufgriff anderer Autoren). Sie skizziert stattdessen verschiedene Verhältnisbestimmungen zwischen ‚Ethik‘ und ‚Ästhetik‘ seit Beginn der 1990er Jahre ohne den Diskurs zu strukturieren.29 Lediglich die Anordnung der Beiträge des Sammelbandes in vier Teile kann als heuristische Systematik erfasst werden, ist aber als solche nicht aufbereitet präsentiert.30 Deshalb werden hier die Strukturierungen, die in den anderen beiden Sammelbänden vorgenommen werden, in den Blick genommen. Verwiesen sei zuvor auf die Habilitationsschrift der Literaturwissenschaftlerin Stephanie Waldow, die das Verhältnis von Ethik und Narration im Prozess des Schreibens untersucht. Unter dem Titel „Schreiben als Begegnung mit dem Anderem“ reflektiert sie dieses in philosophischen und literarischen Texten der Gegenwart, erkennt „eine neuerliche Zusammenführung von Ethik und Ästhetik […] [als] unausweichlich“ 31 und führt dazu auch das Schlagwort ‚narrative Ethik‘ an.32 Da in der vorliegenden Arbeit jedoch die Textreden Schwerpunkt auf den ästhetischen Einfluss von Erzählungen „auf die Selbstkonstitution, die Identitätsbildung und die Evokation moralischer Reflexion“ legt (Thiemer, Kommentar, 296). Mieth spricht dabei von „narrativen Ethiken“ im Plural, setzt den Ausdruck jedoch in Anführungszeichen (ders., Einleitung, 7). 28 Hofheinz, Ethik, 11. 29 Vgl. Öhlschläger, Vorbemerkung. 30 Die vier Teile sind wie folgt bezeichnet. „1 Narrative des Ethischen: Philosophische Lektüren; 2 Narrative Verfahren und ihre Ethik; 3 Narrationen ethischer Herausforderung; 4 Ethik und Narration im interkulturellen Kontext“ (Öhlschläger, Narration, 5 f.). Angesichts der weiterführenden Systematisierungen von K. Joisten und M. Hofheinz wird hier auf den Versuch verzichtet, anhand der Überschriften und Beiträge Grundlinien des Diskurses aufzuzeigen. 31 Waldow, Schreiben, 12; vgl. a. a. O., 19. 32 Vgl. Waldow, Schreiben, u. a. 19, 167, 198, 369.
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zeption, nicht die Textproduktion, im Vordergrund steht, wird Waldows umfassendes Werk nicht eigens besprochen. Durch die Differenzierung von drei möglichen Lesarten hat die Kasseler Philosophin Karen Joisten, Herausgeberin des philosophisch orientierten Sammelbands, verschiedene Forschungsströme zu systematisieren versucht.33 Die erste Lesart, die in ‚narrativ‘ die Darstellungsform einer Ethik (quasi als erzählte Ethik) sieht, kann hier vernachlässigt werden. Zum einen muss sie als Oxymoron gelten, weil der „Wissenschaftscharakter einer Ethik im Widerspruch zu einem narrativen Vollzug steht“.34 Zum anderen findet diese Lesart in der Theologie keinen Wiederhall.35 Die beiden anderen Lesarten werden hier vorgestellt. Joistens zweite Lesart sieht in ‚narrativ‘ die Gattung vorgegeben, in der „moralische Phänomene und Zusammenhänge […] vermittelt“ werden.36 Somit ist es gemäß diesem Verständnis das Anliegen narrativer Ethik, erzählende Texte auf ihr ethisches Konzept oder ihre ethische Wirkmächtigkeit zu untersuchen. Erzählungen werden so als „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen“ begriffen.37 In dieser Perspektive wird der Leser als ethisches Subjekt verstanden, welchem anhand von Erzählungen seine moralischen Einstellungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen gespiegelt werden, welches diese reflektiert und ggf. zur Korrektur geführt wird. Narrative Ethik ist so gesehen eine Ergänzung zur argumentativen Reflexion des ethischen Subjekts, die einen spezifischen Zugang zu „moralischen Phänomenen“ ermöglicht, dessen Mehrwert in „Modellierung, Formung und fiktive[r] Gestaltung der Lebenswelt“ besteht.38 Die dritte Lesart narrativer Ethik, die Karen Joisten benennt, fasst viele philosophische und systematisch-theologische Ansätze zusammen, welche die humanistische Frage nach dem ‚Sein‘ des Menschen neu bestimmen. ‚Narrativ‘ weist somit eher auf die Beschreibung der Lebenswirklichkeit als auf den Untersuchungsgegenstand. Sowohl Wilhelm Schapps ontologische Definition
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Vgl. Joisten, Möglichkeiten, 9–12. Joisten, Möglichkeiten, 10. Vgl. auch die Ethikdefinition in Kap. 1.3. 35 Vgl. Hofheinz, Moral, Absatz 2. K. Weyer-Menkhoff nutzt diese Lesart jedoch, um sein Verständnis vom Joh auszudrücken, wenngleich er seinen Zugang dann Joistens zweiter Lesart (s. u.) zuordnet (vgl. ders., Ethik, 43). 36 Joisten, Möglichkeiten, 11. In diesem Sinne ist wohl auch die Arbeit M. E. Mills als narrative Ethik einzuordnen, die Erzählzusammenhänge des AT auf Moralperspektiven hin liest und dabei als drei Zugänge Figuren, Plot und Setting wählt (vgl. dies., Morality). Innerhalb der von Teil II – Methodologie wird auf dieses Werk noch verwiesen werden. 37 Ricœur, Selbst, 201. K. Joisten zitiert hier (vgl. dies., Möglichkeiten, 11) Ricœur nicht ganz sachgemäß, da dieser nicht die Erzählungen selbst, sondern die kognitiven Prozesse des Lesers im Lesen von Erzählungen als solche bezeichnet (vgl. 1.4). 38 Joisten, Möglichkeiten, 11. 34
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des Menschen als ein „in Geschichten verstrickt[es]“ Wesen39 als auch die aus Hannah Arendts Werken ableitbare „Erzählbarkeit als Grundbedingung ethischen Urteilens“40 können in dieser Lesart aufgenommen werden. Ebenso ist sie für Paul Ricœurs Begriff der „narrative[n] Identität“41 oder Alasdair MacIntyres „concept of a self whose unity resides in the unity of narrative“42 anschlussfähig.43 Zwar herrscht Uneinigkeit darüber, ob sich das Leben bereits narrativ vollzieht oder ob sich lediglich die gedankliche Formung des Erlebten (in Kommunikation oder Verschriftlichung) narrativ gestaltet,44 Erzählungen werden jedoch jeweils als Grundkonzept menschlichen Seins verstanden. Die Grundannahme ist dabei, „dass das Handeln und (Er)Leben der Menschen sich mittels der Narrativität deuten lässt“.45 An dieses Verständnis vom Mensch-Sein knüpft narrative Ethik insofern an, als folglich auch die Reflexion über Handlungsbewertungen und Moral narrativ angebunden sein muss, denn „[e]thische Reflexionen sind ohne Geschichten in nuce womöglich gar nicht denkbar“46. Marco Hofheinz, Mitherausgeber des Sammelbands aus theologischer Warte, entwickelt im Anschluss an Mieths Schülerin Hille Haker eine dreigliedrige Typologie, in der er narrative Ethik in ihrem Verhältnis zur Prinzipienethik (bzw. Normethik) untersucht und die Ansätze verschiedener Autoren den drei Typen zuordnet. Sein Typ 1 versteht „[n]arrative Ethik als Ergänzung zur Prinzipienethik“.47 Dieser sieht in der Modellhaftigkeit und Anschaulichkeit von (möglichen) Wirklichkeiten sowie der Anregung zur Handlungsmotivation die Stärke narrativer Ethik, die eine Prinzipienethik nicht bietet. Insbesondere Dietmar Mieths Ansatz einer bestimmten – nämlich ethischen – Lesart von Texten, also „Narrative Ethik als Literaturrezeption“48, ist diesem Typ zugeordnet. Damit entspricht jener weitgehend Joistens zweiter Lesart, wenngleich für diese das Verhältnis zur Prinzipienethik kein Kriterium ist. 39
Schapp, Geschichten. Ehrwein Nihan, Funktion, 216. 41 Ricœur, Zeit III, 395 u. ö.; ders., Identität; vgl. ders., Selbst, 141–206 [z. T. ist der Ausdruck kursiv gesetzt]. 42 MacIntyre, Virtue, 191. Ferner bezeichnet A. MacIntyre den Menschen als „storytelling animal“ (a. a. O., 201). 43 Zu einem kurzen Abriss der vier Positionen sowie der Möglichkeiten und Grenzen einer Aufnahme ihrer Ansätze hinsichtlich narrativer Ethik s. u. (1.1.2). 44 Vgl. Joisten, Möglichkeiten, 12. 45 Joisten, Möglichkeiten, 11. 46 Haker, Identität, 333. 47 Hofheinz, Ethik, 31. Vgl. für diesen Abschnitt a. a. O., 31–37. 48 Mieth, Moral, 84. Für D. Mieth ist die ethische Literaturinterpretation (als „Analyse des erzählten ethischen Modells“) allerdings nur ein Teilbereich Narrativer Ethik, zu der auch „die Analyse der Moral des Erzählens selbst“ sowie die Auswahl der Texte, die erzählt werden sollten, anhand ihrer Moral gehört (a. a. O., 84 f.). 40
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Hofheinz’ zweiter Typ sieht „[n]arrative Ethik als Surrogat für Prinzipienethik“.49 Ansätze (wie die von Alasdair MacIntyre oder Stanley Hauerwas), die er hier einordnet, teilen die Kritik an dem „moderne[n] Projekt der rationalen Letztbegründung“50, welches sich im Nachgang der Aufklärung entwickelt hat und in der „Degenerierung der moralischen Kultur der Moderne“ spiegelt.51 Sofern eine Prinzipienethik nicht vollständig von den Vertretern dieses Typs verworfen wird, so zumindest doch eine von Erzählungen unabhängige. Die theologischen Ansätze nehmen dabei Bezug auf eine Art Meistererzählung, die sie in der Geschichte Jesu Christi, in Einzelerzählungen des ATs (v. a. der Schöpfungserzählung) oder der Geschichte Israels sehen, durch die Gott jeden Menschen in seine Geschichte verwoben hat.52 Seinen Typ 3 überschreibt Hofheinz: „Von der Destruktion narrativer Ethik als Ethik oder besser: Vom postmodernen Übergang von Ethik in Literatur(wissenschaft)“.53 Ideologiekritisch und in der Tradition des Liberalismus wenden sich Ansätze dieses Typs gegen „die Suche nach und/oder den Versuch der Aufrechterhaltung von Meta-Erzählungen“ und propagieren Pluralität.54 Ethik wird hier als Theorie abgelehnt und in die Ästhetik verlagert. Zugleich entziehen sie damit der Philosophie und der Theologie die Ethik als Forschungsgegenstand und verlegen ihn in die Literaturwissenschaft. Das ethische Ziel besteht darin, Menschen zur Solidarität zu bewegen, indem sie das Leiden anderer wahrnehmen und verstehen lernen, was nur Kunst und Literatur vermögen. Schließlich sei hier noch auf den Theologen und Ethiker Johannes Fischer verwiesen, der sich besonders vehement in die (theologisch-philosophische) Debatte einbringt und in einer Arbeit zur narrativen Ethik nicht unerwähnt bleiben darf. Fischer wendet sich gegen jegliche Form einer Begründungs49
Hofheinz, Ethik, 38. Vgl. für diesen Abschnitt a. a. O., 38–48. Hofheinz, Ethik, 38. 51 Hofheinz, Ethik, 39. 52 In dieser Anbindung klingt W. Schapps Verstrickung des Menschen in die Weltgeschichte an, für die er in Bezug auf das Christentum die Geschichten von der Schöpfung, dem Sündenfall und dem Tod Christi für die Menschen nennt (vgl. ders., Geschichten, 201 f.). Auch den Ansatz von H. G. Ulrich (vgl. ders., Geschöpfe), den K. WeyerMenkhoff in seiner Dissertation über die Ethik im Joh positiv aufnimmt (vgl. ders., Ethik, 48 f.), verortet Hofheinz in dieser Kategorie. I. Fischer untersucht die gesamte Bibel (wobei sie einen deutlichen Schwerpunkt auf das AT legt) als eine Erzählung und zeigt ihre Relevanz für (christliche und jüdische) Identitätsbildung auf (vgl. dies., Bibel). 53 Hofheinz, Ethik, 48. Vgl. für diesen Abschnitt a. a. O., 48–55. 54 Hofheinz, Ethik, 48. Vgl. Lyotard, Randbemerkungen, 35. Ähnlich versteht wohl auch S. Waldow den Begriff ‚narrative Ethik‘, wenn sie resümiert „Die narrative Ethik löst die normative Moral ab, indem Literatur als Form des Erfahrungsaustausches, als ethischer Dialog verstanden wird“ (dies., Schreiben, 379). Dabei erkennt Waldow jedoch sehr wohl Positionierungen in Texten, die dem Leser nicht als Dekonstruktion, sondern als ethische Gesprächsangebote und -herausforderungen begegnen. 50
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ethik. 2007 macht er in seinem Aufsatz ‚Vier Ebenen der Narrativität‘ (in Joistens bereits erwähntem Sammelband) auf vierfache Weise die Bedeutung von Narrativität für Ethik stark. Er bindet moralische Einzelentscheidungen (1), überindividuelle Situations- und Handlungsmuster (2), die Ausrichtung in der Lebensführung (3) und das Welt- und Gottesbild als Grundlage aller Moral (4) an Erzählungen zurück.55 Fischer polemisiert zunehmend gegen ein rein rationalistisches Ethikverständnis. Markant ist sein wissenschaftlicher Disput mit Marcus Düwell im Jahr 2011.56 Mit Anbindung an emotivistische Ansätze entkräftet er (1.) die Argumente, die „Ethik als rationale Moralbegründung“ stützen.57 Im Anschluss zeigt er (2.) die Differenz zwischen moralischen Gründen und rationalen Argumenten auf. Er spricht (3.) „[l]ogische[n] Ableitungen“, die aus Merkmalsnennungen (statt Erzählungen) einzelner Situationen in rationaler Argumentation Verhaltensvorgaben für ähnliche Situationen ergeben, ab, „moralische Erkenntnis [zu] vermitteln“, da 55
Vgl. Fischer, Ebenen. In das (auch begrifflich) komplexe, 4-stufige Modell Fischers sei folgender Einblick gegeben: 1. Ebene: Das Zusammenspiel von Emotionen und Kognition in Erzählungen sowie die notwendige Anbindung von Normen und Überzeugungen (als rationale Erfassung und Argumentation) an Erzählungen in ihrer Anwendung setzt Fischer für ein Plädoyer für narrative Begründung ein. 2. Ebene: Er stellt theologische Ethik als deskriptive Ethik vor, die aus (narrativ vermittelten) Wahrnehmungen oder Darstellungen der Lebenswirklichkeit (z. B. in biblischen Erzählungen) Anleitungen für ein sittliches Verhalten entwickelt, sodass die so entstehenden „einprägsame[n] Bilder von generalisierten Individuen“ (a. a. O., 246) grundlegend für die Wirkmächtigkeit theologischer Ethik sind. 3. Ebene: Mit der Dominanz der Ausrichtung in der Lebensführung (z. B. barmherzig) über die Beurteilung von Handlungen, Situationen und Personen begründet er die ethische Bedeutung von Erzählungen, da diese gerade Orientierung für die Lebensführung und Haltung bieten, die sich erst sekundär im konkreten Verhalten niederschlägt. 4. Ebene: In den biblischen Erzählungen sieht er Mythos und Historie so vereint, dass sie zum Symbol für das Leben (als einheitliche Orientierung gegenüber der Pluralität der Gestaltungen des je konkreten Lebens) werden, was sich in der gesamten moralischen Ausrichtung spiegelt. Vgl. Fischer, Fundament. Eine Zusammenfassung des Aufsatzes bietet K. WeyerMenkhoff (vgl. ders., Ethik, 45–48). 56 Abgedruckt ist dieser in der Zeitschrift für evangelische Ethik (ZEE 55, 2011). Vgl. Fischer, Ethik als Begründung; Düwell, Rationalisten; Fischer, Argument. Düwell formuliert in seinem Aufsatz ‚Ästhetische Erfahrung und Moral‘ in Mieths Sammelband ‚Erzählen und Moral‘ pointiert seine Position, die eine getrennte Betrachtung von Ethik und Ästhetik als doppelten Ausgangspunkt wählt; obwohl er im spielerischen Erproben von Handlungsoptionen einen moralischen Wert von Literatur sieht, streitet er inhärente moralische Impulse ab (vgl. a. a. O., 26 f., 32). Diese Arbeit sieht sich weniger in der Folge Düwells, der eine narrative Strukturiertheit des Menschen bspw. nicht in den Blick nimmt. Vgl. zu Fischers Position auch eindrücklich ders., Sittlichkeit, v. a. 52–70, 146–171. 57 Fischer, Ethik als Begründung, 192.
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sie „rein kognitive Ableitung ohne motivierende Kraft“ seien.58 Seine „These besagt, dass die Wahrheit moralischer Urteile nicht argumentativ aufgewiesen werden kann.“59 Damit setzt er ein grundlegend anderes Verständnis von Moral voraus als Düwell und das Gros der Ethiker.60 Als Co-Autor des ‚Grundkurs Ethik‘ (2008) versucht er sein Konzept narrativer Ethik (jedoch nicht den Begriff!) auch in einem Einführungswerk unter den Grundlagen einer philosophischen und christlichen Ethik zu positionieren.61 Fischer versteht als radikaler Vertreter des Hofheinz’schen Typ 2 ‚narrative Ethik‘ gemäß Joistens dritter Lesart. Diese Arbeit versteht sich nicht in der Folgschaft Fischers, würdigt aber seine Profilierung und seinen Einsatz für einen Paradigmenwechsel im theologisch-ethischen Diskurs. Die Strukturierung der Deutungen und Ansätze narrativer Ethik in verschiedene Lesarten und Typen macht deutlich, wie disparat und kontrovers die verschiedenen Verständnisse zueinander stehen und diskutiert werden. Die Verwendung, an der sich diese Arbeit orientiert, mag angesichts der vorgestellten Typen noch konservativ oder wenig radikal wirken: In dieser Arbeit ist ‚narrative Ethik‘ primär nach Joistens zweiter Lesart verstanden, wäre also am ehesten Hofheinz’ erstem Typ zuzuordnen. Damit liegt die besondere Stärke narrativer Ethik darin, dass sie es vermag, eine Prinzipienethik individualethisch zu entfalten und zu kritisieren. Zugleich stellt Joistens dritte Lesart gewissermaßen den hermeneutischen Hintergrund für diese Arbeit bereit, indem jene Ansätze die Relevanz zur narratologisch-ethischen Analyse bezeugen. Insofern setzt sich diese Arbeit grundlegend von Karl WeyerMenkhoffs jüngst erschienener Dissertation zur Ethik des Joh ab, der sich an Fischer orientiert und eher Hofheinz’ Typ 2 zuzuordnen ist.62 Mit der Bindung an das Joh ist auch der (narrative) Untersuchungsgegenstand für die Exegese festgelegt. Diese Festlegung verhindert bereits, Positionen von Hofheinz’ Typ 3 zuzustimmen. Schließlich wird dem Joh als Jesuserzählung hier – sofern nicht bereits maßgeblich durch den Anspruch des Textes, so zumindest aus der Wahrnehmung des Lesers – ein Eigengewicht und eine Autorität 58
Fischer, Ethik als Begründung, 198. Fischer Argument, 214. 60 Vgl. dazu die Ausführungen zu Fischer in 1.3. J. Fischer steht mit seiner Position jedoch nicht allein. Z. B. fordert M. Zeindler: „Theologische Ethik muss sich in einem fundamentalen Sinne als narrative Ethik verstehen“ (ders., Erzählungen, 284). 61 Vgl. Fischer/Gruden/Imhof/Strub, Grundkurs, 47–66 (v. a. 49–51), 222–230. Innerhalb des theologischen Diskurses sei auch auf Fischers Monografie im Forum Systematik (FSy) verwiesen, wo er seine Position entfaltet (allerdings den Begriff ‚narrative Ethik‘ nicht nennt): ders., Theologische Ethik, v. a. 78–83, 92–120, 221–224. 62 Vgl. Weyer-Menkhoff, Ethik. Seine Dissertation ist ebenfalls in Mainz im Rahmen des ‚Zentrums für Ethik in Antike und Christentum‘ bei Ruben Zimmermann entstanden. Deshalb wird in Kap. 1 und Kap. 2 mehrfach auf diese hingewiesen und Parallelen und Abgrenzung werden deutlich gemacht. 59
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zugestanden, die in seiner Kanonizität63, letztlich in seiner Einordnung als Offenbarungsschrift, wurzelt und darin gründet, dass die erzählte Geschichte als Heilsgeschichte mit zeitunabhängiger Relevanz begriffen wird. Um noch einmal Marco Hofheinz zu Wort kommen zu lassen: „Für eine narrative Ethik ist es […] unerlässlich, die Bedeutung der story Jesu Christi als der normativen und prägenden Leit-Story der Kirche zu thematisieren“64 – und als ‚Leit-Story‘ jedes christlichen Lesers. Da Joistens dritte Lesart hier als hermeneutischer Hintergrund benannt wurde, seien dazu noch kurze Ausführungen vorgenommen, bevor der Weg entlang der zweiten Lesart beschritten wird. 1.1.2 Der Mensch als narratives Wesen – Einblick in einen philosophischen Diskurs Wenn an dieser Stelle thematisiert wird, was den Menschen zum Menschen macht, und theologische Antworten, die Gott als Bezugspunkt oder Gegenüber anführen, zu Gunsten einer philosophischen Annäherung ausgeklammert werden, kann dies nur als Einblick geschehen und muss notwendiger Weise verkürzt und unvollständig sein. Erst recht kann kein historischer Abriss erfolgen, der die Frage nach dem Sein des Menschen philosophiegeschichtlich nachverfolgt. Stattdessen werden einige Grundzüge so dargestellt, dass deutlich wird, inwieweit Ethik nach Joistens dritter Lesart narrativ sein kann.65 Wenn der Mensch hier als ‚narratives Wesen‘ bezeichnet wird, liegt der Schwerpunkt auf dem Adjektiv. Eine Diskussion darüber, ob der Mensch eher als Wesen oder Entität, Gestalt oder Charakter, Selbst oder Subjekt, Identität oder Person, Geschöpf oder Lebewesen bezeichnet werden sollte, wird vollständig ausgeklammert. In den Darstellungen der Ansätze wird der Sprachgebrauch des entsprechenden Philosophen insofern übernommen, als Verständlichkeit gewährleistet werden kann. Die bereits genannten vier Vertreter Wilhelm Schapp, Hannah Arendt, Alasdair MacIntyre und Paul Ricœur werden hier aufgegriffen, um das zu Grunde liegende Menschenbild und Wirklichkeitsverständnis als philosophischen Hintergrund darzustellen sowie um die
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Eine knappe Diskussion über die Bedeutung des Kanons für die ntl. Wissenschaft unternimmt J. Frey, wobei er die Legitimation einer Einschränkung auf kanonische Schriften unter pragmatischen Gesichtspunkten, nicht aber durch einen postulierten exklusiven Offenbarungsgehalt, für möglich hält (vgl. ders., Problem, 9–15, 46–48). 64 Hofheinz, Ethik, 63 f. 65 Den Zusammenhang zwischen Anthropologie und Ethik im NT (und Frühjudentum) thematisiert auch der jüngst erschienene Sammelband von M. Konradt und E. Schläpfer (vgl. dies. (Hgg.), Anthropologie). Ein Beitrag speziell zur Ethik im Joh enthält dieser allerdings nicht.
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Verschränkung der Konzepte ‚Narration‘ und ‚Ethik‘ zu erklären.66 Insbesondere die beiden letztgenannten Vertreter werden innerhalb des Diskurses zur ‚narrativen Ethik‘ stark rezipiert, während erst genannter besonders als Stichwortgeber verwendet wird. Einige Schlaglichter zur Annäherung von und Verbindung zwischen Ethik und Ästhetik im philosophischen Diskurs des 20. Jh. bietet Ruben Zimmermann, auf den hier verwiesen sei.67 Der deutsche Philosoph und Jurist Wilhelm Schapp (1884–1965) prägte in seinem Spätwerk das Bild vom „in Geschichten verstrickt[en]“ Menschen.68 Zu ethischen Fragen äußert sich Schapp nicht dezidiert. Handlungen stellt er als Momente der Geschichte69 dar, die mit ihren Hintergründen und Wirkungshorizonten, ihrer Vor- und Nachgeschichte immanente Teile dieser Geschichte sind. Ihre Bewertung ist immer Teil der Nachgeschichte als Blick auf die Vergangenheit. Jeder Mensch ist stets in die gesamte Geschichte verstrickt, von der die einzelne Handlung nur ein Teil ist. Durch diese Verstrickung und die Betrachtung der Handlungsbewertung als Nachgeschichte, welche jeweils Teil der gleichen Geschichte sind, kann Schapp in „Begriffen oder Gebilden von Kausalität und Freiheit des Willens, von Vorherbestimmtheit, von Voraussehbarkeit oder […] von Schuld und Sünde“ keinen Mehrwert für seinen Ansatz erkennen.70 Die deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt (1906–1975)71 thematisiert Erzählungen nicht mit eigenem Schwerpunkt, sondern eher beiläufig in ihren Werken. Den Eigenwert von Erzählungen sieht sie darin, dass 66
Die Darstellung erfolgt aus sprachlichen Gründen im Indikativ. Wenngleich hier philosophische Ansätze vorgestellt werden (da diese den Diskurs um narrative Ethik maßgeblich prägen), sei darauf verwiesen, dass auch in anderen Wissenschaften der Mensch als narrativ aufgefasst wird. Bspw. kann hier der Psychologe J. Straub als Vertreter genannt werden (vgl. ders., Geschichten). 67 Vgl. Zimmermann, Ethico-Ästhetik, 236–244. Ferner sei auch die bereits erwähnte Arbeit S. Waldows als Lektüre empfohlen, die die Verhältnisbestimmung in der jüngeren Literaturproduktion grundlegend aufarbeitet (dies., Schreiben, einführend v. a. 19–24, 29 f.). 68 Schapp, Geschichten; vgl. ders., Beiträge. Die Formulierung findet sich (ohne expliziten Bezug auf Schapp) auch bei H. Arendt wieder (dies., Vita, 239 f.). 69 In Anschluss an W. Schapp wird hier der Terminus ‚Geschichte‘ nicht im Sinne von ‚Historie‘ sondern von ‚Erzählung‘ verwendet. 70 Schapp, Geschichten, 162; vgl. a. a. O. 158–168. Kritisch zu einem Anschluss von narrativer Ethik an Schapp äußert sich H. P. Lichtenberger (vgl. ders., Geschichten). Er problematisiert insbesondere Schapps Auflösung aller Dualismen, die dabei die Spannungen innerhalb eines Subjektes aufhebt (und sogar das Subjekt selbst verschwinden lässt). Da „interne Spannungen“ eines Subjekts aber eine Notwendigkeit für moralische Fragen sind, hält er einen ethischer Anschluss an Schapp für bedenklich (a. a. O., 206). 71 Als deutsche Jüdin verließ Hannah Arendt 1933 NS-Deutschland und wurde später US-Amerikanerin. Arendt selbst spricht eher von ‚politischer Theorie‘ als von ‚Philosophie‘, hier wird ihr Ansatz dennoch als philosophischer gewertet.
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nur diese den Sinn und die Bedeutung von Handlungen bleibend festlegen.72 Als grundlegendes menschliches Bedürfnis sieht sie, „uns das, was in unserem Leben eine Rolle spielte, in Erinnerung zu rufen, indem wir es nach- und uns vorerzählen. […] Einen von diesen Geschichten ganz und gar ablösbaren Sinn gibt es nicht […]. Keine Lebensweisheit, keine Analyse, kein Resultat, kein noch so tiefer Aphorismus kann es an Eindringlichkeit und Sinnfülle mit der recht erzählten Geschichte aufnehmen“.73 Céline Ehrwein Nihan sieht die Bedeutung von Erzählen in Hannah Arendts Werk jedoch überinterpretiert74 und hält – trotz Hochschätzung ihres Werkes hinsichtlich der Reflexionsanregung über das Verhältnis von Erzählen, Politik und Ethik – einen Anschluss des Begriffs ‚narrative Ethik‘ nur nach einer „Neuformulierung ihres Ethikbegriffs“ für möglich.75 Der Wahl-US-Amerikaner und Philosoph Alasdair MacIntyre (*1929) knüpft an den Emotivismus an, demzufolge alle Werturteile ausschließlich Ausdruck von Haltungen, Emotionen und Neigungen sind.76 Sein Hauptwerk ‚After Virtue‘ (1981) kritisiert Kants Prinzipienethik und versucht stattdessen die aristotelische Tugendethik für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Narrativität ist ein wesentliches Konzept in seiner Argumentation. Das Subjekt findet seine Einheit in seiner Lebensgeschichte, wobei MacIntyre von Geburt, Leben und Tod eine Parallele zu Einleitung, Hauptteil und Schluss einer Erzählung zieht.77 So kann es als ‚narratives Selbst‘ verstanden werden.78 Durch Erzählungen ist auch der vorrangige Zugang zu anderen Menschen gegeben. Mit dieser Aussage wird die Ebene des einzelnen Individuums verlassen. Die 72
Vgl. Arendt, Menschlichkeit, 33 f. Arendt, Menschlichkeit, 35 f.; vgl. zu Handlung, Sprechen und Erzählungen u. a. dies., Vita, v. a. 213–241. 74 Vgl. Ehrwein Nihan, Funktion, 215, 222. 75 Ehrwein Nihan, Funktion, 222. Da H. Arendt „Ethik […] als eine innerliche, unsichtbare und unhörbare Tätigkeit“ versteht, steht diese zum Erzählen in Kontrast, da dieses Kommunikation – ein Hörbarwerden – voraussetzt (a. a. O., 221). 76 Vgl. MacIntyre, Virtue, v. a. 22–34. D. Birnbacher weist auf das Missdeutungspotential des Begriffes Emotivismus hin, welcher nicht auf ausgeprägten Emotionen oder gar Irrationalität gründet, sondern Einstellungen betont, die sich in (allen) moralischen Urteilen ausdrücken. Diese können durchaus emotional gefärbt sein, drücken aber nicht nur eine individuelle Vorliebe des Urteilenden aus, sondern spiegeln einen von jedem anderen überprüfbare n Sachverhalt, der die subjektive Perspektive übersteigt (vgl. ders., Einführung, 344–348). 77 Vgl. MacIntyre, Virtue, 191. Vgl. auch schon Arendt, Vita, 227, 239. 78 Unter dem Stichwort „narrative[s] Selbst“ bündelt K. Joisten MacIntyres Menschenbild in ihrem Sammelband (Joisten, Selbst). Vgl. zu den Details jenen, partiell etwas unzusammenhängenden Aufsatz (vgl. a. a. O.). Eine Übersicht darüber, inwiefern ‚narrativer Ethik‘ in MacIntyres Werk angelegt ist – inklusive der Schwerpunktverschiebung in ‚Whose Justice? Which Rationality?‘, der Fortsetzung seines Hauptwerks – bietet A. Fetzer (vgl. dies., Ansätze). 73
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ethische Relevanz des Verständnisses vom Menschen als ‚narratives Selbst‘ ergibt sich durch die Verantwortung, die es für die Lebensgeschichte übernehmen muss, welche aus der stetigen Rechenschaftsforderung anderer erwächst (was sich bei Ricœur gewissermaßen wiederfindet). Wie sich sein Menschenbild zugleich im Verständnis von Ethik ausdrückt, bringt MacIntyre wie folgt prägnant zum Ausdruck: „I can only answer the question ‚What am I to do?‘ if I can answer the prior question ‚Of what story or stories do I find myself a part?‘“79 Schließlich sei noch der französische Philosoph Paul Ricœur (1913–2005) benannt. Von den hier vorgestellten Ansätzen wird sein Werk in dieser Arbeit am stärksten rezipiert.80 In seinem dreibändigen Hauptwerk ‚Zeit und Erzählung‘ führt er Historiografie und literarische Dichtung derart zusammen, dass sie ihren gemeinsamen Angelpunkt in der Abhängigkeit von Zeit finden.81 Die Einsicht, dass nur das Erzählen Zeit erfahrbar macht, ist einer seiner Kerngedanken. Reichlich mit literarischen Beispielen versehen, entwickelt er einen Entwurf von dem, was der Mensch ist. Dies führt er in ‚Das Selbst als ein anderer‘, einer Zusammenstellung von zehn Abhandlungen, fort. Zentrale Position nimmt bei Ricœur die Identität ein, welche er als ‚narrative Identität‘ versteht. Besonders wirkmächtig ist sein begrifflich an Aristoteles anschließendes Modell der dreifachen Mimesis.82 Jeden Lesevorgang83 sieht er in ‚Präfiguration‘, ‚Konfiguration‘ und ‚Refiguration‘ unterteilt, wobei er nicht drei Phasen ausmacht, sondern die Trennung als heuristischen Schlüssel eines zirkulären Prozesses versteht. Verkürzt formuliert umfasst die Präfiguration das Vorverständnis des Lesers. Dies schließt seine Erfahrungen, sein Wissen über die Welt, seinen Wortschatz, seine Einstellungen und Werte ein. Die Konfiguration bezieht sich auf die Erzählung als in sich stimmige Einheit aus zahlreichen Elementen (zu denen auch die Figuren gehören). Mit dieser wird der Leser im Leseprozess konfrontiert bzw. in diese taucht es ein. In der Refiguration kommt das zum Tragen, was sich im Lesen zwischen Text und Leser entspinnt: Der Leser knüpft Verbindungen zwischen seiner Wirklich79
MacIntyre, Virtue, 201. Zu Ricœur vgl. auch Teil II – Methodologie: 2.3. Als weiterführende Literatur sei hier ferner auf P. Welsens Aufsatz verwiesen, der Ricœurs Ansatz hinsichtlich des Diskurses um narrative Ethik vorstellt und würdigt (vgl. Welsen, Erzählung), sowie auf das Kapitel zu Ricœur in S. Waldows Habilitationsschrift, die Ricœurs Verständnis von Ethik sorgfältig herausarbeitet und von diesem ausgehend auch dessen Konzept von Identität und Erzählen erschließt (vgl. dies., Schreiben, 167–196). 81 Vgl. Ricœur, Zeit. 82 Vgl. zum Modell v. a. Ricœur, Zeit I, 87–135; ders., Zeit III, 7–13, 398. 83 Auch wenn Ricœur zunächst von Literatur ausgeht, ist das Modell der dreifachen Mimesis nicht zwingend bzgl. des Mediums an das Lesen von schriftlichen Texten gebunden. Angemerkt sei auch, dass für Ricœur „Text […] immer schon Handlung“ ist und „Lesen […] per se eine ethische Dimension [enthält]“ (Waldow, Schreiben, 181). 80
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keit und der des Textes, erzeugt Sinn. Die Refiguration verändert zugleich die präfigurativen Voraussetzungen des Lesers für jede weitere Lektüre. Diese hier getrennten Prozesse laufen kontinuierlich, ineinander übergreifend und automatisiert beim Lesen ab – auch die Refiguration ereignet sich ohne Reflexion. Ricœurs Mimesis-Modell dient deshalb der Bewusstmachung und Analyse dieses Prozesses. Die vorgestellten philosophischen Ansätze haben eine Hochschätzung von Narrativität gemein. Aufgezeigt wurde, dass Narrationen als essentieller Bestandteil des menschlichen Lebens aufgefasst werden können.84 Insofern ist es plausibel, dass Ethik, die sich mit dezidiert menschlichem Handeln auseinandersetzt,85 narrativ angebunden – wenn nicht gar verortet – sein muss. Die Beschäftigung mit Ethik gelangt über dieses Identitätsverständnis und Menschenbild zwangsläufig zum Erzählen. Doch auch in umgekehrter Denkrichtung finden sich Ethik und Erzählen verbunden. Mit Paul Ricœur kann letzteres nämlich als „natürliche[r] Übergang zwischen Beschreiben und Vorschreiben“ (also Deskription und Präskription) verstanden werden, welche er als Handlungstheorie und Moraltheorie versteht.86 „Erzählen […] bedeutet einen imaginären Raum von Gedankenexperimenten auszubreiten, in denen das moralische Urteil im hypothetischen Modus durchexerziert wird“.87 So gelangt man – mit Ricœur – ausgehend vom ‚Erzählen‘ zwangsläufig in das Feld der Ethik.88 Damit sei der Kurzexkurs in die philosophische Theorie beendet, denn in dieser Arbeit wird ‚narrative Ethik‘ (entgegen der soeben vorgestellten Positionen) als Ethik in Narrationen und im Erzählprozess aufgefasst (vgl. 1.1.1). Die Narratologie stellt dabei als Erzählforschung den angemessenen wissenschaftlichen Kontext für narrative Ethik der zweiten Joisten’schen Lesart dar. Dementsprechend wird im Teil II eine narratologische Methodologie präsen84
Zur Universalität von Geschichten, ihrer vielschichtigen Durchdringung des menschlichen Lebens und Denkens aus kognitionspsychologischer Sicht vgl. Herman, Stories, 163–186. Neben der Philosophie wird u. a. in Psychologie und Kulturwissenschaften die Identitätskonstruktion an Erzählungen angebunden (vgl. dazu Nünning, Erzählen). Zur Bedeutung des Erzählens für den Menschen vgl. auch: Wolf, Was. Ein interdisziplinärer ‚Rundumschlag‘ muss hier ausbleiben. 85 Damit wird Ethik NICHT als Auseinandersetzung mit menschlichem Handeln definiert, sondern lediglich signalisiert, dass letzteres ein wesentlicher Aspekt von Ethik ist! Zur Definition vgl. 1.3. 86 Ricœur, Selbst, 208. 87 Ricœur, Selbst, 208. 88 In Stephanie Waldows Sammelband ‚Ethik im Gespräch‘ wird der Zusammenhang zwischen Literatur(-produktion) und Ethik (bzw. Moral) mit verschiedenen modernen Autoren besprochen. Z. T. wird dabei ein immanenter Zusammenhang postuliert (vgl. z. B. Politycki/Waldow, Ästhet, 37). Waldow versteht ‚narrative Ethik‘ dahingehend, dass diese den „verantwortungsvolle[n] Umgang mit Sprache“ hervorhebt (dies., Einleitung, 11). Da hier die Rezeption von Texten im Vordergrund steht, sei es bei diesem Hinweis belassen.
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tiert, um narrative Ethik herauszuarbeiten. Im folgenden Unterkapitel sei dafür eine entscheidende Grundlage geboten, die die Wahrnehmung von Narrationen betrifft und sich in drei Dimensionen auffächert. 1.2 Die drei Dimensionen einer Erzählung Innerhalb von Erzählungen gerät Ethik auf drei Ebenen in den Blick: simplifiziert gesprochen auf der des Autors, der des Lesers und der des Werkes, also der Erzählung selbst.89 Diese drei Dimensionen einer Erzählung – und eigentlich jedes Kommunikationsvorganges – spannen ein Dreieck auf, dessen Eckpunkte die Schwerpunkte der Untersuchung darstellen (vgl. Abb. 1).90 Autor
Rezipient
Erzählung Abb. 1: Die drei Dimensionen einer Erzählung
Jede dieser Größen bietet ein ganzes Spektrum an Forschungsmöglichkeiten. So kann die Erzählung in die drei Bereiche Erzählprozess, Erzähltext und 89 Wem diese literaturwissenschaftlichen Grundlagen vertraut sind, der möge dieses Unterkapitel überfliegen. 90 In seinem rhetorisch-ethischen Zugang zu Erzählungen bezeichnet J. Phelan diese drei Dimensionen („speaker, text, and audience“) als „rhetorical triangle“ (ders., Rhetoric, 209). Ähnlich bezeichnet R. Zimmermann die drei Perspektiven ntl. Hermeneutik als „the historical context, the text itself and the point of view of the reader who is trying to understand the meaning of the text“ (Zimmermann, „Implicit Ethics“, 402). So spannt sich nach Zimmermann ein „Hermeneutisches Dreieck des Bibelverstehens“ auf, welches er aus K. Bühlers Organon-Modell entwickelt (vgl. ders., Spielraum, 6–13). An jede der drei Eckpunkte knüpft eine entsprechende ‚intentio‘ (intentio auctoris, intentio operis, intentio lectoris) an, die als Interpretationszugang gewählt werden kann. Mit J. Straub können alle drei prinzipiell als „gleichermaßen berechtigte Ansatzpunkte“ aufgefasst werden (ders., Handlung, 236). Zu einer ausführlichen theoretischen Reflexion der drei Interpretationszugänge sei auf das entsprechende Kapitel in dessen Habilitationsschrift verwiesen (vgl. a. a. O., 226–326). S. Waldow spricht von diesen drei Größen als „Trias“ und hält für diese eine „Neuverortung“ hinsichtlich ihres Beitrags an Diskursen über Ethik für notwendig (dies., Schreiben, 369). Gewissermaßen leistet auch diese Arbeit einen Beitrag dazu. Die in dieser Arbeit vollzogene Schwerpunktsetzung innerhalb der drei Dimensionen wird im Folgenden (sowie in 1.4) ausgeführt und begründet.
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Erzählungsinhalt aufgespalten werden.91 Der Erzählprozess versteht Erzählung als Kommunikationsprozess: Jemand erzählt einem Publikum eine Geschichte. Dieser Prozess hat also einen definitiven Anfangs- und Endpunkt und während des Prozesses verstreicht eine messbare Zeit, z. B. 1¾ Stunden, wenn man das Joh vorträgt.92 Der Erzählprozess findet immer in einer konkreten, lokalisierbaren Situation statt. Sofern die Erzählung gelesen wird, fällt der Sprecher weg, das Publikum wird auf eine Person reduziert und anstelle des Sprechtempos legt die Lesegeschwindigkeit die Dauer fest. Der Erzähltext ist der vorliegende, schriftlich fixierte Text: hier das Joh. In einem Erzählprozess, in dem der Sprecher frei erzählt, entspricht der Wortlaut seines Sprechens dem Erzähltext. Messbar ist dabei die Zahl der Buchstaben, Wörter, Sätze – und aufgeschrieben – der Zeilen und Seiten.93 Im Joh (wie in allen biblischen Texten) kann auch die Gliederung in Verse und Kapitel als Maß herangezogen werden. Erzählreihenfolge und -perspektive, Wortwahl und Stil fallen in die Untersuchung des Erzähltextes – kurz: der gesamte Bereich der sprachlichen Präsentation von Ereignissen, das Wie der Erzählung. Der Erzählinhalt meint schließlich das Was der Erzählung, das Geschehen – z. B. im Joh alle Ereignisse innerhalb der gut zwei Jahre von den ersten Diskussionen von Johannes mit Priestern und Leviten (1,19–28) bis hin zum Gespräch zwischen Jesus und Simon Petrus (21,15–22). Aber auch das, was über diese Kernhandlung hinausgeht (z. B. das Werden aller Dinge durch den (1,3), die Gerüchte um das Überleben des Geliebten Jüngers (21,23), das nachösterliche Verstehen der Jünger (2,22; 12,16) sowie die Verschriftlichung der Ereignisse (21,24)) gehören zum Inhalt der Erzählung. Insgesamt wird dieser Bereich als Diegese bezeichnet.94 Alles, was über den Inhalt hinausgeht oder über diesen hinausweist, ist demnach extradiegetisch. Die Ereignisfolge, die das Geschehen einer Erzählung ausmacht, wird als Plot be91 In der Narratologie hat sich bislang kein einheitliches Vokabular etabliert. Bei G. Genette entsprechen dem Erzählprozess die Narration (narration), dem Erzähltext die Erzählung (récit) und dem Erzählinhalt die Geschichte (histoire) (vgl. ders., Erzählung, 12). S. Chatmans Begrifflichkeiten lassen sich hingegen nicht eins zu eins übertragen. Er unterscheidet story (als Erzählinhalt unter Integration von dessen im Erzähltext fixierter zeitlichen Anordnung) und discourse (als Erzähltext, wobei er Fragen des Erzählprozesses integriert) und fasst diese als narrative text zusammen (ders., Story, 19 f., 26). Zu einer tabellarischen Übersicht und Gleichsetzung der Begrifflichkeiten vgl. Martínez/Scheffel, Einführung, 28. Diese wird allerdings m. E. der Unterschiedlichkeit der Ansätze nicht gerecht. 92 Die Dauer eines Erzählprozesses ist abgesehen von der Länge des Erzähltextes insbesondere vom Sprechtempo des Erzählenden bzw. Vortragenden abhängig. Zu den Schwierigkeiten der Festlegung einer Dauer einer Erzählung vgl. Genette, Erzählung, 51 f. 93 Vgl. Vogt, Aspekte, 102. 94 Das zugehörige Adjektiv, das sich auf den dargestellten Inhalt der Erzählung bezieht, lautet ‚diegetisch‘.
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zeichnet. Dieser setzt sich zusammen aus (meist) einer Haupthandlung mit einem Protagonisten (oder Handlungsort o. ä.) im Zentrum und diversen Nebenhandlungssträngen. Aus welchen Elementen sich ein Plot zusammensetzt, ist z. T. genrebedingt.95 Für den Plot ist dabei die Erzählreihenfolge irrelevant. Eine Erzählung, die bspw. antichronologisch mit dem Tod des Protagonisten beginnen und bei seiner Geburt enden würde, hätte dennoch einen chronologischen Plot. Biblische Erzählungen orientieren sich m. E. überwiegend in ihrer Erzählreihenfolge am Plot. Der Haupthandlungsstrang des Joh wird in Teil II (Methodologie: 1.1) skizziert. Die beiden anderen Eckpunkte des Dreiecks – Autor und Rezipient – können auch als Sender und Empfänger aufgefasst werden. Wird Erzählung so als Kommunikation aufgefasst, lässt sich diese noch auf mehreren (i. d. R. zwei bis vier96) Ebenen ansiedeln, sodass ein derartiges Schaubild entsteht (vgl. Abb. 2).97 Sofern ein derartiges Modell aufgegriffen wird, liegt zumeist ein Schwerpunkt auf der mittleren (der impliziten) Kommunikationsebene.
Historischer Autor
Realer Kommunikationsprozess durch den Erzähltext
Implizierter Autor Erzähler
Impliziter Komm.-prozess innerhalb der Erzählung Komm.-prozess im Erzähltext
Realer Leser Implizierter Leser
Erzähladressat
Abb. 2: Erzählung als Kommunikationsprozess
Auch abgesehen von poststrukturalistischen Ansätzen, die die Deutungshoheit der Autorenintention prinzipiell zurückweisen,98 ist der historische Autor 95
Vgl. Culpepper, Anatomy, 81–83. M. Stare unterscheidet in ihrer Dissertation über Joh 6 gar fünf „Kommunikationsniveaus“, wobei die Unterscheidung zwischen historischem und realem Autor und historischem und realem Leser nicht recht deutlich wird und auch die Gespräche zwischen den Figuren innerhalb der Erzählung als eigenes Kommunikationsniveau bezeichnet werden (dies., Leben, 10–12). Vgl. zu Letzterem im Gegensatz die Aufteilung in Erzählebenen in der Methodologie (Teil II: 1.2.1). Z. T. werden die Kommunikationsvorgänge nicht in klare Ebenen positioniert, sondern einfach gestaffelt (vgl. z. B. mit acht Kommunikationsinstanzen: Martin, Theories, 154). Der heuristische Wert solcher Modelle mag angezweifelt werden. 97 Dieses Modell macht J. L. Staley als einer der Ersten (1985) zur Grundlage seiner Interpretation des Joh, welche den impliziten Leser ins Zentrum rückt (vgl. ders., Print’s). 98 Vgl. für einen Überblick über den Diskurs seit den 1940er Jahren den Lexikonartikel von F. Jannidis (ders., Author). Ausführlicher zu den Entwicklungen des Autorenbegriffs in der europäischen Literaturwissenschaft (folglich unter Ausschluss von Fish’s Ansatz, s. u.) vgl. Jannidis, Figur, 20–28. Besonders prägnant ist R. Barthes These vom ‚Tod des 96
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im Joh als anonym abgefasste Erzählung kaum zu identifizieren. Verschiedene Versuche, historische Autoren und Redakteure oder Autoren- und Redaktionskollektive aus der Quellenlage abzuleiten und Entstehungssituationen zu rekonstruieren, werben um Plausibilität, lassen sich in ihrer Widersprüchlichkeit aber nicht zu einem Konsens zusammenführen.99 Diese Problematik der Unvereinbarkeit zwischen historischer Autorenperson und Leserrückschlüssen teilt das Joh mit vielen anderen Werken. Als theoretische Größe wurde innerhalb der Literaturwissenschaft (von Wayne Clayson Booth100) deshalb der implizite Autor eingeführt. Dieser wird als vom historischen Autor geschaffene Größe betrachtet, die den Erzähltext verantwortet. Als quasimenschliche Größe verfolgt er Absichten, besitzt ein Wertesystem und hat eine Persönlichkeit. Durch die Erzählung kommuniziert er – z. T. auch über Autors‘, die er im gleichnamigen Aufsatz (1968) aufstellt. Einerseits tut Barthes den Autor als überholtes Konzept der Moderne ab, andererseits streitet er jegliche Bedeutung des Autors für einen Text nach dessen Abfassung und Veröffentlichung ab. Was ein Autor sagen wollte, ist für Barthes völlig unerheblich, was jener geschrieben hat, gilt es zu verstehen (vgl. ders., Tod). Ähnlich lehnt M. Foucault in seinem Vortrag ‚Was ist ein Autor?‘ (1969) die Autorenintention ab und stellt dagegen seine Diskurstheorie vor. Seine Analyse der Verwendung vom ‚Autor‘ in verschiedenen Kontexten schließt mit den Worten, die er derzeit noch als zukünftige Perspektive ausweist: „Wen kümmert’s, wer spricht?“ (ders., Autor, 227; vgl. a. a. O.). Auch U. Ecos Ansatz nutzt hinsichtlich des Interpretationsgeschehens (im Gegensatz zur Analyse von Textproduktion) den Autor eher als eine Textstrategie als als eine historische Person (vgl. ders., Lector, 74–82; vgl. auch ders., Kunstwerk, v. a. 31, 60). Als einer der radikalsten Vertreter kann wohl der im englischsprachigen Raum viel diskutierte US-amerikanische Literaturwissenschaftler S. E. Fish gelten, welcher nicht nur den (zumindest sofern nicht greifbaren) Autor, sondern auch den Text selbst als Deutungsdimension zurückweist und diese einzig in der Auslegungsgemeinschaft sieht (vgl. ders., Text; ders., Doing). Abschließend sei auf den Sammelband ‚Rückkehr des Autors‘ (Jannidis/Lauer/Martínez/Winko (Hgg.)) verwiesen, der die in den 1990er Jahren entstandene Gegenbewegung bezeugt. Vgl. dazu auch Waldow, Schreiben, 18, 377 f. 99 Anstelle exemplarischer Belege sei hier auf die Kommentarliste in Kap. 2 verwiesen. Studien, die sich (v. a. motivgeschichtlich) mit der historischen Verortung des Joh beschäftigen (vgl. z. B. den Sammelband von J. Frey und U. Schnelle ‚Kontexte des Johannesevangeliums), weisen auf den sinnstiftenden Effekt dieser Mehrdeutigkeit möglicher historischer Verstehenskontexte. In dieser Arbeit fließen derartige Ansätze nur bedingt ein (vgl. Teil II – Methodologie, 1.6.4), da textimmanente ethische Reflexionen und deren (gegenwärtige) Wirksamkeit im Analysefokus liegen. 100 Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler W. C. Booth (*1921) arbeitete vorwiegend zu fiktonaler Literatur. Er führte nicht nur den vielzitierten Begriff ‚implied author‘ in seiner Monografie ‚The Rhetoric of Fiction‘ (1961) ein (vgl. a. a. O., 70 f. u. ö.), in ‚The Compony We Keep‘ verbindet er auch bereits Ethik und Literatur. Er konzentriert sich dabei jedoch nicht auf die Ethik innerhalb von fiktiven Texten, sondern eher auf die prinzipielle Wirkung von Leseerfahrungen und die Bewertung von Büchern. In dieser Arbeit werden anstelle von Booth zum einen stärker philosophisch angebundene und zum anderen weniger Literatur vergleichende Ansätze aufgenommen (vgl. 1.1; 1.3).
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den Erzähler hinweg – mit dem (impliziten) Leser.101 So kann der implizite Autor seinen Erzähler kritisieren oder ironisieren, indem er ihn z. B. vor dem Leser unglaubwürdig erscheinen lässt. Inwiefern ein aus dem Text rekonstruierter impliziter Autor von biblischen Texten, der sich mit keinem realen Menschen identifizieren lässt, theologisch bedeutsam ist, wird hier nicht diskutiert. Auch der (eventuell unbeantwortbaren) Frage der Abgrenzung von Erzähler, implizitem und historischem Autor wird nicht nachgegangen. Letztere werden aus der Analyse weitgehend ausgeschlossen (vgl. 1.4). Stattdessen wird der Erzähler als Größe gewählt, die im Erzähltext greifbar ist und diesen dem Leser präsentiert. Dass der Erzähler des Joh in 1,14.16; 21,24 f. durch den Wechsel zwischen Plural und Singular eine gewisse Inkonsistenz aufweist, wäre bei einer Erzähleranalyse zu erörtern. Für die hier angestrebte Figurenanalyse wird der Erzähler als Präsentations- (und z. T. Bewertungsoder Reflexions-)instanz angenommen. Da es sich beim Erzähler um eine textinterne Größe handelt, ist ihr hypothetischer Gehalt gegenüber diversen Autorenkonstrukten gering. Sofern nicht von einem unzuverlässigen Erzähler ausgegangen wird,102 haben seine Aussagen absolute Glaubwürdigkeit – und für die Erzählung dementsprechend absolute Gültigkeit. Allerdings ist zu vermeiden, psychische Vorgänge, Annahmen und Absichten in den Erzähler hinein zu projizieren, da es sich um keine reale Person handelt. Als Reflexionsinstanz kommt er insofern nur soweit in den Blick, als Themen, Werte, Verhaltensnormen etc. im Text aufgegriffen, exemplifiziert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Relevanz des Rezipienten für den Diskurs über einen Gegenstand und seine aktive Beteiligung am Leseprozess ist im vergangenen Jahrhundert vielfach herausgearbeitet worden.103 In den exegetischen Wissenschaften schlägt sie sich z. B. in rezeptionsästhetischen Auslegungen nieder. Diese neuere Entwicklung baut auf antikes Verständnis auf. So hat bereits Horaz 101 Zur Kritik am Konzept des impliziten Autors (und des impliziten Lesers) als Zwischeninstanzen zwischen der realen und der erzählungsimmanenten Kommunikationssituation vgl. Genette, Autor. Er sieht den realen vom impliziten Autor nur in Ausnahmefällen (Fälschungen, Ghostwriter, Texte von einem Autorenkollektiv) unterschieden und dort zumeist nicht erkennbar (vgl. a. a. O., 242–244). Noch vehementere Kritik äußert A. Nünning (vgl. ders., Renaissance). 102 Zum Konzept des unzuverlässigen Erzählens siehe Martínez/Scheffel, Erzähltheorie, 103–106. Unzuverlässige Erzähler täuschen ihre Leser absichtlich oder unabsichtlich. Wird diese Technik angewandt, verliert der Erzähler seine absolute Autorität über die Erzählung. Erzähleraussagen sind dadurch nicht mehr zwingend wahr im Rahmen der Erzählten Welt. In solchen Fällen bekommt die Kommunikation des (impliziten) Autors mit dem Leser stärkeres Gewicht. In biblischen Texten ist diese moderne Technik m. E. nicht verwendet. 103 Als ein wirkmächtiger Vertreter sei hier exemplarisch W. Iser zitiert: „Zugleich wird man sagen müssen, daß ein Text überhaupt erst zum Leben erwacht, wenn er gelesen wird. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Entfaltung des Textes durch die Lektüre zu betrachten“ (ders., Appellstruktur, 228).
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(65–8 v. Chr.) die Bedeutung des Rezipienten betont und ihn im Betrachten zum „reproduzierenden Künstler“ erklärt.104 Allerdings ist für eine Analyse stets zu klären: Wer ist der Leser? Klang bereits im vorausgehenden Abschnitt die Unterscheidung zwischen realem und implizitem Leser an, endet die Unterscheidung hier bei weitem nicht. Die Frage nach dem Leser ist ein eigenes Forschungsgebiet, welches zahlreiche ‚Lesertypen‘ hervorgebracht hat.105 Umrissen seien hier nur einige in Kürze: Zunächst sind Sie – beim Lesen dieser Zeilen – der Prototyp des realen Lesers dieses Textes. Jeder Leser tritt mit einem anderen Vorverständnis und Weltwissen an den Text heran. Das sogenannte Weltwissen umfasst dabei das gesamte Wissen, was ein Leser über seine reale Welt hat (und schließt historische Ereignisse, Verhaltensnormen, physikalische Gesetzmäßigkeiten, sprachliche Definitionen etc. ein). Wegen der subjektiven Wahrnehmung bietet dieses Verständnis vom Leser kaum Möglichkeiten für eine Analyse. Zudem ändern sich Weltwissen und Vorverständnis jedes Lesers über die Zeit hinweg – sogar mit jeder Textrezeption, sodass Sie bei einer zweiten Lektüre diesen Text bereits anders verstehen würden.106 Fasst man Menschen eines gewissen Kulturkreises zusammen, lassen sich reale Leserkollektive, z. B. der heutige, westliche Leser, bilden. Davon abzugrenzen sind die ebenfalls realen zeitgenössischen Leser, die zu den Erstrezipienten eines Textes gehört haben und deren Weltwissen mit dem des historischen Autors weitgehend deckungsgleich war. Wer die historischen Menschen waren, die einen Text gelesen haben, lässt sich aus einem Erzähltext selbst nicht erschließen. In der Nähe der realen Personengruppen ist der intendierte Leser zu verorten.107 Er ist eine konstruierte Größe, die dem Leserbild entspricht, das der Autor beim Schreiben seiner Erzählung ‚vor Augen hatte‘. Aus dem Erzähltext lässt er sich mit Hilfe umfassender historischer Studien (Zeit-, Religions- und Sozialgeschichte etc.) rekonstruieren. Gewissermaßen wird durch die Voraussetzung eines intendierten Lesers Narratologie innerhalb historisch-kritischer (Re-)Konstruktion verortet. Weitere Lesertypen sind z. B. der implizite Leser, der ideale Leser und der Modellleser, die den Text den Signalen des impliziten Autors entsprechend, umfassend in allen denkbaren Bezügen oder mit dem gesamten kultu104
Bauer, Romantheorie, 20. F. Segovia legt in einem kurzen Überblick dar, wie in den biblischen Wissenschaften – sowohl im ‚Historical Criticism‘ als auch im ‚Literary Criticism‘ und im ‚Cultural Criticism‘ – Leser konstruiert wurden und werden (vgl. ders., Significance, 372–375). 106 Vgl. das Konzept von P. Ricœurs dreifacher Mimesis (vgl. 1.1.2). 107 S. Finnern geht in seiner grundlegenden narratologischen Dissertation ‚Narratologie und biblische Exegese‘ vom intendierten Leser aus (vgl. zu Finnerns Ansatz Teil II – Methodologie). In Bezug auf das Joh vermutet J. Frey eine Übereinstimmung von impliziten und intendierten Lesern, ohne zu diskutieren, inwieweit diese aus dem Text unstrittig rekonstruiert werden können (vgl. ders., Eschatologie I, 455, Anm. 163). 105
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rellen und intertextuellen semantischen Gehalt gemäß der Autorenstrategie wahrnehmen.108 Die komplexen Konzepte der jeweiligen Ansätze werden hier nicht im Detail besprochen. Insgesamt fällt aber auf, dass viele Lesertypen wenig Bezug auf reale Leser nehmen. Vielmehr stehen historische Rekonstruktion, intertextuelle Konstruktion, Ideale oder Modelle im Vordergrund.109 Dies ist zumindest insofern fragwürdig, als die Cultural Studies aufgezeigt haben, dass Sinnstiftung und Geschichtsschreibung immer „recreations“ und „re-constructions“ heutiger realer Leser sind.110 Folglich liefert ein Leserkonzept, das den realen Leser ausblendet, nur eine scheinbare Objektivität. Was wird in dieser Arbeit unter ‚dem Leser‘ verstanden? Ausgehend von dem weit gefassten Begriff des möglichen Lesers wird hier eine doppelte Lesart vorgeschlagen: Einerseits wird der Evangeliumstext nur mit dem Wissen aus den Erzählzusammenhängen als Vorverständnis betrachtet. Dies stellt gewissermaßen die Variante eines minimalen Vorwissens dar. Dabei ist es notwendig, eine weitere Unterscheidung zwischen Erst- und Mehrfachlesern zu treffen. Eine Erzählung wird grundlegend anders wahrgenommen, wenn ihr Fortgang und alle auftretenden Figuren bereits bekannt sind. Biblische Texte werden häufig mehrfach gelesen (und sind ggf. sogar darauf angelegt111). So wird nur in Einzelfällen auf Textwirkungen auf Erstleser eingegangen. Andererseits wird die Analyse mit heutigem Weltwissen unter Rückbezug auf historische Forschung angereichert. Aus dieser Perspektive bleiben 108
Einen knappen Überblick über diverse empirische, erzähltheoretische, semiotische und hermeneutische Zugänge zum ‚Leser’ bietet Mayordomo, Analyse, 420–425. U. Ecos ‚Modellleser‘ setzt eine komplexe Textwahrnehmung voraus, in der der gesamte lexikalische Befund (auch Artikel und Modalpartikel) auf seinen – den (vom Autor genutzten) Kommunikationskonventionen entsprechenden – Bedeutungsgehalt entfaltet wird. Wenngleich sich Eco auf den Autor bezieht, ist dieser eher eine Interpretationshypothese als eine historische Person (vgl. Eco, Lector, 61–82) und anstelle der intentio auctoris die intentio operis als maßgeblich setzt und „große Diskrepanzen“ zwischen beiden für möglich hält (ders., Autor, 284). Vgl. insgesamt auch Martin, Theories, 156–162. 109 Vgl. Segovia, Significance, 372–375. Als Gegenbeispiel sei auf J. L. Staleys Lektüre des Joh verwiesen, der bereits mit den Leserkonzepten, die er dem Text unterordnet („Encoded Reader“, „Resistant Reader“ und „Agonistic Reader“), Begriffe prägt, die eher in einer Reaktion auf den jeweiligen Textabschnitt begründet liegen als ein theoretisches Modell aufgreifen (ders., Passion, vii, 27–109). Anschließend an eine vehemente Argumentation für aneignende Lesarten (vgl. a. a. O., 108 f.) präsentiert Staley seine eigenen Zugänge zum Joh (a. a. O., 113–234). 110 Segovia, Significance, 376. 111 Vgl. Mayordomo, Analyse, 427. J. Frey bündelt als wesentliche Erkenntnis der Rezeptionsforschung, dass „alle, auch wissenschaftliche Leser und Interpreten zuallererst Leser sind, in deren Lektüre Dispositionen, Interessen, Fragehorizonte konstitutiv die Sinnfindung mitbestimmen und auch durch die methodische Distanznahme nur graduell, niemals jedoch vollkommen auszuschalten sind“ (ders., Leser, 278).
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die Ergebnisse für den historisch-kritischen Diskurs und für heutige reale Leser anschlussfähig. Partiell werden zielgruppenspezifische Aussagen über mögliche Leser getroffen, die Charaktermerkmale, Einstellungen, Erfahrungen oder Situationen für Leser vorgeben, welche sich in besonderem Maße durch Figuren, Aussagen oder Themen angeregt, angesprochen oder zur Identifikation eingeladen wissen dürfen. Als realer Leser dieses Textes und des Joh sind Sie eingeladen, sich in ‚dem Leser‘ als vorgeschlagenes Konzept wiederzufinden. Um noch einmal das Modell von der Erzählung als Kommunikationsprozess aufzugreifen: Das Modell des impliziten Autors und des impliziten Lesers wurde als hypothetisches Konstrukt zurückgewiesen. Der reale Autor wurde (mitsamt dem historischen Entstehungsprozess des Textes zum Zeitpunkt X) wegen der Unverfügbarkeit und dem Schwerpunkt auf gegenwärtige Wirkungspotentiale des Textes außerhalb des Analyseziels positioniert. Seine Existenz ist jedoch vorausgesetzt. Somit bleiben Erzähler, Erzähladressat und der reale Leser als Größen des Kommunikationsprozesses erhalten (vgl. Abb. 3). Jeder reale Leser (L1, L2, L3, …, Ln) nimmt während des Lesens die Position des Erzähladressaten ein, indem er sich vom Erzähler ansprechen, die Geschichte erzählen lässt. Das jeweilige Vorverständnis (Erst-/ Mehrfachlektüre; Weltwissen) trägt er dabei in den Text ein. Historischer Autor
Realer Leser L2 Realer Leser Ln Realer Leser L1 identifizieren sich mit
hat Erzählung zum Zeitpunkt X abgefasst/ veröffentlicht
Erzähler
Erzählungsimmanenter Komm.-prozess im Erzähltext
Erzähladressat Vorliegender Erzähltext
Abb. 3: Verwendete Heuristik des Kommunikationsprozesses in dieser Arbeit
Durch die Offenheit für verschiedene Leser ergibt sich eine Deutungspluralität, denn die Wirkung „hängt […] wesentlich von der Einstellung seiner Leser ab“.112 So werden zumeist Verständnishorizonte aufgezeigt und plausibilisiert und keine Absicht des Textes und keine feststehende Aussage extrahiert. Durch den Leser als notwendigen Bestandteil für Sinnstiftung von Texten bleiben diese immer an den (realen) Lesenden rückgebunden. Auch einzelne Textteile können sich untereinander nicht wechselseitig kommentieren und 112
Bauer, Romantheorie, 23. M. Bauer bespricht dabei explizit die Wirkung des Romans. Diese lässt sich aber problemlos auf andere Erzählungen übertragen.
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ergänzen, sondern sind immer auf ein Subjekt angewiesen, dass diese miteinander in Beziehung setzt. In Paul Ricœurs Worten: „[E]in intratextueller konfigurierender Akt ist ohne die Begleitung eines Lesers undenkbar; und ohne einen Leser, der sich ihn aneignet, breitet sich keine Welt vor dem Text aus. Und dennoch entsteht immer wieder die Illusion, der Text sei in und durch sich selbst strukturiert und die Lektüre stoße dem Text als äußerliches und kontingentes Ereignis zu.“113 Leser nehmen Erzählungen (und Texte im Allgemeinen) unterschiedlich wahr. So ‚überliest‘ jeder Leser Teile einer Erzählung und blendet Inhalte und Implikationen aus. Ebenso trägt er aus seinen eigenen Erfahrungen Bewertungen oder auch Deutungen und Inhalte in eine Erzählung ein, die den Erzähltext sprengen.114 Horace Porter Abbott bezeichnet dies als „underreading“ und „overreading“.115 Beides sind natürliche Prozesse, die sich während des Lesens ereignen. Abzugrenzen ist ein übersteigertes ‚overreading‘ aber von dem Füllen von Leerstellen als notwendigem Bestandteil des Lesens von Erzählungen. Leerstellen sind Unbestimmtheiten innerhalb des Erzähltextes – also gerade das, was nicht gesagt wird, aber trotzdem vorgestellt oder verstanden werden muss. Wolfgang Iser führte den Begriff 1976 als „Gelenke des Textes“ ein, die dort liegen, wo Verbindungen zwischen „Textsegmente[n]“ fehlen.116 Der Leser wird aktiv und füllt diese Leerstellen kontinuierlich, indem er die Abschnitte oder Einzelaussagen als Teil eines sinnvollen Ganzen versteht und in Zusammenhang setzt.117 Er stößt im Lesen auf ein Element, das nicht zu seinen bisherigen Vorstellungen passt, und ist gezwungen, sich neue Vorstellungen zu machen. Während Iser v. a. verschiedene Darstellungsperspektiven durch Leerstellen verbunden sieht, werden hier alle Elemente, die sich in Leserirritationen widerspiegeln oder ein ‚Weiterdenken‘ erfordern, unter dem 113
Ricœur, Zeit III, 265. Inwiefern Leser im Leseprozess automatisch auf Wissen aus ihrem Gedächtnis zurückgreifen untersuchen Kognitionspsychologen unter dem Begriff ‚Resonanz‘. „Resonance is a fast, passive, and easy process by which cues in working memory interact in parallel with, and allow access to, information in long-term memory“ (Gerrig/Egidi, Foundations, 37). Dem erzählungsimmanenten Abrufen des Leserwissens wird insbesondere in den intratextuellen Referenzen Rechnung getragen (vgl. Teil II – Methodologie: 1.6.5; 1.6.6; 1.6.7). 115 Abbott, Introduction, 86–90. Psychologische Untersuchungen diskutieren wie solche abweichenden Wahrnehmungen zustande kommen. Unter verschiedenen Schlagworten, z. B. Primär- und Rezenzeffekt (siehe dazu Teil II – Methodologie: 1.4.1) werden einige dieser Phänomene erforscht (vgl. Finnern, Narratologie, 118–122, 132 f.). 116 Iser, Akt, 284. Zur Kritik an Iser bzgl. seiner Begriffspräzision und schwachen Profilierung vgl. Fish, Doing, 68–86. 117 Vgl. (auch zum Folgenden) Iser, Akt, 284–315. W. Iser betont die Bedeutung des Lesers im Textverstehen besonders: „Das [W]ichtigste […] [in einem Text] bleibt ungesagt“ (ders., Appellstruktur, 248). 114
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Begriff summiert. Dies kann sich z. B. auf die Beziehung zwischen zwei Figuren beziehen, die nicht soweit ausgeführt wurde, dass sich ihr Verhalten zueinander erklärt, oder durch plötzliche Szenenwechsel ausgelöst werden. Auch die unvermittelte Einführung einer Figur oder das Fehlen eines ‚Abgangs‘ einer Figur erzeugt eine Leerstelle. Alles, was die Vorstellung von dem Geschehen innerhalb der Erzählten Welt (vgl. Kap. 3) durchbricht oder unerklärt lässt, wird also als Leerstelle bezeichnet. Da eine Erzählung stets mehr nicht erzählt, als sie erzählt, und so der Leservorstellung großen Raum gibt,118 sind Leerstellen ein notwendiger Bestandteil. Im Joh sind bspw. das Alter oder Aussehen von Jesus nicht erzählt, auch fehlen eine Schilderung der Beziehung zwischen Nikodemus und den anderen Pharisäern, die Benennung der Entfernung des Gartens von dem Hof des Hohepriesters in Joh 18 und der Entstehungskontext des Freilassungsbrauches, von dem Barabbas profitiert. Derartige fehlende Informationen könnten in unendlicher Fortführung gelistet werden. Viele von ihnen sind jedoch nicht erforderlich, um der Erzählung zu folgen oder sie sinnvoll zu verstehen. Bei dem Füllen von Leerstellen geht es nicht um Spekulieren auf Grundlage der Erzählung, sondern um jene Fragen, die notwendiger Bestandteil der Erzählung sind und dennoch unbeantwortet bleiben. Z. B. schließt in 3,25 f. an einen Streit über die Reinigung (der nur als solcher benannt, aber nicht geschildert wird) eine Frage nach Johannes’ Zeugnis über Jesus und dessen Tauftätigkeit an. Ein Zusammenhang zwischen beiden Szenen wird angelegt, ist aber nicht ersichtlich. Inwieweit die Frage in Bezug zur Reinigung steht und eine Antwort sich zu der möglichen Streitfrage positionieren kann, ist eine Leerstelle. Im Gegensatz zu Filmen können schriftliche Erzähltexte viele Details aussparen.119 Durch Einbeziehung von Leerstellen ist eine detailarme Erzählung gerade nicht weniger aussagekräftig oder anregend. Im Gegenteil: „In the art of narrative, less can be more.“120 Leerstellen werden im Leseprozess vielfach automatisch geschlossen. Jeder Leser ergänzt die fehlenden, ihm schlüssig erscheinenden Informationen. „So ermöglicht die Leerstelle die Beteiligung am Vollzug des Textgeschehens.“121 Leerstellen sind für narratologische Analysen deshalb von großer Bedeutung, da sie die Wirkmächtigkeit von Erzählungen mitbestimmen. Das deduktive Einflechten und stetige Füllen von Leerstellen „gives the experience of narrative much of its power.“122 Manche Leerstellen regen 118
U. Eco begründet Leerstellen damit, dass „ein Text […] von dem – vom Empfänger [=Leser] aufgebrachten – Mehrwert an Sinn lebt […] [und] mit dem Übergang von der beschriftenden zur ästhetischen Funktion ein Text nach und nach die Initiative zu seiner Auslegung dem Leser zu überantworten sucht […]. Ein Text will, daß ihm jemand dazu verhilft zu funktionieren“ (ders., Lector, 63 f.). 119 Vgl. auch Teil II – Methodologie: 1.5.6. 120 Abbott, Introduction, 92. 121 Iser, Akt, 314. 122 Abbott, Introduction, 91.
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zu längeren Reflexionsprozessen an oder bleiben als unbeantwortbar oder verstörend dem Leser überlassen, z. B. ob Judas eine Wahl hatte, Jesus zu überliefern ( ) oder nicht.123 Innerhalb der vorgeführten Analyse ist das Aufgreifen von Leerstellen und Informationslücken, das Abwägen möglicher Füllungen und die Reflexion über die jeweiligen Ergebnisse ein wesentlicher Bestandteil. Da hier keine ideale Lesart des Joh vorgeführt werden soll, besteht weder der Anspruch, alle Leerstellen vollständig gefüllt zu haben, noch der Wunsch, dass jeder Leser allen Interpretationen, die Bilder vervollständigen und Mehrwert im Erzähltext erkennen, zustimmen kann. Ziel ist es jedoch, aufzudecken, wodurch und inwieweit Anregungen im Text enthalten sind, wie diese zur Entfaltung gelangen können und solche Lesarten zu plausibilisieren. Eine Grenze zeichnet dabei der Erzähltext (nicht sein historischer Entstehungskontext) auf. So ist z. B. in 18,17.25–27, wo Simon Petrus seine Jüngerschaft bestreitet, die Interpretation von ihm als schizophren oder vergesslich als übersteigertes ‚overreading‘ abzulehnen. Im Wechselspiel zwischen Erzähltext und Erzählinhalt, zwischen Erzähler und realen Lesern entfaltet das Joh im Leseprozess seine Wirkung. Im Rahmen dieses Dreiecks der Dimensionen einer Erzählung spannt sich eine narratologisch-ethische Lesart auf, die für diese Analyse leitend sein wird. 1.3 Was ist Ethik? Die Frage, was Ethik ist, darf in zweifacher Hinsicht erstaunen. Zum einen wird der Begriff ‚Ethik‘ in verschiedenen Diskursen verwendet, ohne dass das jeweilige Vorverständnis dessen, was ‚Ethik‘ ist, zuvor offengelegt worden wäre. So stehen verschiedene Ethik-Konzepte, z. T. im direkten Diskurs, nebeneinander, versammeln sich aber unter demselben Etikett ‚Ethik‘. So wurde auch oben (1.1) wie selbstverständlich über das Verhältnis von Ethik und Narrationen gesprochen, ohne festzulegen, was ‚Ethik‘ genau meint. Zum anderen muss die Frage als Unterüberschrift geradezu anmaßend wirken, als sei es möglich, diese in einem kurzen Abriss angemessen zu beantworten. Dementsprechend wird hier eine Definition geboten und verortet, die diese Frage für den Rahmen dieser Arbeit beantwortet. Sie dient dem Verständnis des Lesers für den hier vorgeschlagenen Zugang und soll als eine Stimme unter vielen im geisteswissenschaftlichen Diskurs über Ethik verstanden sein. Nach einer Übersicht über verschiedene Auffassungen von dem, was ‚Ethik‘ (aus philosophischer und systematisch-theologischer Sicht) bedeuten kann (1.3.1), wird die Definition, die dieser Arbeit zu Grunde liegt, geboten, erklärt und angebunden (1.3.2). Im Anschluss wird noch das Konzept der ‚Impliziten Ethik‘ als Rahmen der Definition (ebenfalls in 1.3.2) umrissen. 123
Vgl. dazu Teil V – Judas: 3.1.2.
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1.3.1 Zur Etymologie und zur philosophischen wie systematisch-theologischen Verortung Gemäß der Einführung des Begriffs durch Aristoteles meint Ethik „die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen (êthos).“124 Dabei hat Ethos im Griechischen gewissermaßen eine doppelte Wurzel. Während gemäß dem derjenige ethisch handelt, „der die Normen des allgemein anerkannten ‚Moralkodex‘ befolgt“, bedeutet ethisches Handeln nach „ im Sinne von Charakter“, „es sich zur Gewohnheit [zu] mach[en], aus Einsicht und Überlegung das jeweils erforderliche Gute zu tun“.125 Diese etymologische Doppelanlage wird auch in dieser Arbeit aufgegriffen. In mehr als 2300 Jahren hat der Begriff jedoch einen Wandel vollzogen, durch den sich der Untersuchungsgegenstand von „absolute[n] Maßstäbe[n] des Guten und Gerechten“, anhand derer die Sitten zu beurteilen sind,126 hin zu der Frage, „was vernünftige, gute, richtige oder gerechtfertigte Gründe für unser Handeln sind“,127 verschoben. Während die antike Ethik eher eine „Theorie der Lebenskunst“ in Ausrichtung auf ‚das gute Leben‘ darstellt, versteht sich die neuzeitliche Ethik i. d. R. eher als „Theorie der Moral“, die soziale Belange den individuellen überordnet und einen moralischen Verpflichtungscharakter integriert.128 Diese vereinfachte Zeichnung einer Entwicklung von einer „antike[n] Tugend- und Strebensethik“ zu einer „modernen Sollens- und Pflichtenethik“129 erschöpft bei Weitem nicht das Feld, in dem sich mögliche Definitionen von Ethik bewegen. Drei philosophische und drei theologische Ansätze werden im Folgenden umrissen, um über eine Anschlussfähigkeit an diesen Diskurs urteilen zu können. Warum, mag man fragen, diese breite Rezeption, wenn die eigene Definition von ‚Ethik‘ diese schließlich nicht übernimmt? Als Neutestamentler und Exeget ist Sprach- und Diskursfähigkeit auch mit anderen Disziplinen notwendig, um die Relevanz und Aussagekraft des NT immer wieder neu verständlich äußern zu können. Erst recht, wenn diese Stimme in einem interdisziplinär geführten Diskurs Gehör finden soll, ist dieser ‚Blick über den
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Düwell/Hübenthal/Werner, Einleitung, 1. Pieper, Einführung, 26. 126 Fischer/Gruden/Imhof/Strub, Grundkurs, 21. 127 Fischer/Gruden/Imhof/Strub, Grundkurs, 23. 128 Birnbacher, Einführung, 3. A. MacIntyre zeichnet die Entwicklungen von der Antike (anfangend beim Sprachgebrauch Homers sowie der Sokrates’ Auseinandersetzung mit den Sophisten) bis in die Neuzeit (bis Mitte des 20. Jh.) in seiner ‚Geschichte der Ethik im Überblick‘ nach. 129 Fischer/Gruden/Imhof/Strub, Grundkurs, 24. Erwähnt sei hier zusätzlich der Utilitarismus, der ein breite Strömung im modernen Ethikdiskurs ausmacht und teleologisch ausgerichtet ist. 125
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Tellerrand‘ unerlässlich.130 Um eine Fruchtbarmachung der Ansätze für die hiesige Definition vorzubereiten, werden die systematisch-theologischen Positionen bewusst auf eine Anschlussfähigkeit ihrer Ethik-Definition für biblische Wissenschaften zugespitzt. Folgende Positionen werden zunächst dargestellt und schließlich in der eigenen Definition (1.3.2) verwertet: Annemarie Pieper, Dieter Birnbacher, Dietmar Hübner sowie Wilfried Härle, Wolfgang Lienemann und Johannes Fischer. Die deutsche Philosophin Annemarie Pieper (*1941) benennt als Gegenstand der Ethik „moralisches Handeln und Urteilen.“131 Für die Art und Weise des Zugangs zum Gegenstand unterscheidet sie „deskriptive und normative Methode[n].“132 Diese klassische Unterteilung133 führt sie wie folgt zusammen: Ethik liefert „einerseits durch Beschreibung und Analyse moralischer Verhaltensmuster und Grundeinstellungen, andererseits durch methodische Begründung der Gesolltheit moralischer Praxis kritische Maßstäbe zur Beurteilung von Handlungen überhaupt“, wodurch die Strukturen des „komplexen Bereich[s] moralischen Handelns […] transparent“ werden.134 Mit ihrem Verständnis von Ethik „als philosophische Freiheitslehre“135 kreisen die Ziele von Ethik (die sie verkürzt in Erkennen moralischer Strukturen, Einüben von „moralischer Urteilskraft“136 und Hinweis auf die Bedeutung von diesem untergliedert) alle um eine Befähigung des einzelnen Menschen, „seine Geltungsansprüche im Hinblick auf die Geltungsansprüche seiner Mitmenschen jeweils so zu modifizieren, dass er nicht rücksichtslos auf Kosten der anderen seine Bedürfnisse befriedigt“, sondern dass jedem möglich gemacht wird, „ein lebenswertes Leben zu führen“.137 So erscheint bei ihr das Letztziel der Ethik gewissermaßen ein pädagogisches zu sein, nämlich Menschen zu sittlich guten zu machen, wenngleich Ethik nicht aufzeigt, was diesen guten Menschen ausmacht. Durch diese Zielführung lässt sich gut ein Übergang zu narrativer Ethik finden, indem das Individuum als ‚ethisches Subjekt‘ in sei130 Zur Möglichkeit und für die Notwendigkeit moralphilosophische Perspektiven in den ntl. Ethikdiskurs aufzunehmen, argumentiert auch E. de Villiers (vgl. ders., Morality), der in seinem Fazit warnt: „To depart from a definition of morality provided by analytical moral philosophy in the study of the moral language of the New Testament or in the Christian ethics may […] be not so innocuous“ (a. a. O., 66). 131 Pieper, Einführung, 13. 132 Pieper, Einführung, 11. 133 D. Fenner hingegen bezeichnet deskriptive Ethik nicht als philosophische Disziplin und stellt der normativen Ethik (im Bereich der Allgemeinen Ethik) die Metaethik gegenüber (dies., Ethik, 7). Letztere sieht Pieper als „sprachanalytische[n] Ansatz“ einer deskriptiven Ethik (dies., Einführung, 253–259). Eine differenzierte Gegenüberstellung der Systematisierungsversuche philosophischer Ethik muss hier ausbleiben. 134 Pieper, Einführung, 15. 135 Pieper, Einführung, 188. 136 Pieper, Einführung, 184. 137 Pieper, Einführung, 183. Vgl. a. a. O., 12 f., 30, 182–184.
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ner Entscheidungs- und Urteilskompetenz in Verantwortung genommen wird. Wie Pieper selbst schreibt, ist „das eigentliche Ziel der Ethik […] [,] die gut begründete moralische Entscheidung als das einsichtig zu machen, was jeder selbst zu erbringen hat und sich von niemandem abnehmen lassen darf“.138 Dieter Birnbacher (*1946) versteht Ethik als „die philosophische Theorie der Moral“, wobei letztere „als das komplexe und vielschichte System der Regeln, Normen und Wertmaßstäbe […] den Gegenstand der Ethik ausmacht.“139 Deutlich hebt er die (nicht etymologisch oder alltagssprachlich begründete, aber philosophisch etablierte) Trennung von Moral und Ethik hervor, indem er die direkte Praxisrelevanz und Anwendungsbezogenheit der Moral der Theorieorientierung der Ethik gegenüberstellt. Diese ist einem Wissenschaftlichkeitsideal verpflichtet und überprüft sich und die untersuchten Moralen u. a. daraufhin, ob sie rational, kohärent und systematisch sind.140 Wegen der Abgrenzungsschwierigkeit von „moralischen Urteilen, Normen und Grundsätzen“ gegenüber dem, was „nicht in den Bereich des Moralischen“ fällt,141 legt er „[v]ier Kennzeichen der Moral [fest:] 1. Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird. 2. Moralische Urteile sind kategorisch. Sie bewerten Handlungen unabhängig davon, wieweit diese den Zwecken oder Interessen des Akteurs entsprechen. 3. Moralische Urteile beanspruchen intersubjektive Verbindlichkeit. 4. Moralische Urteile bewerten Handlungen ausschließlich aufgrund von Faktoren, die durch Ausdrücke von logisch allgemeiner Form ausgedrückt werden können.“142
In den Handlungen sieht er den Bezugspunkt für alle übrigen Bereiche, deren Beurteilung Gegenstand der Moral ist: „Personen, Motive, Absichten und Verhaltensdispositionen, moralische Emotionen, moralische Ideale und Utopien und bestimmte normative Menschenbilder.“143 ‚Handlungen‘ grenzt Birnbacher gegenüber seinem Hyperonym ‚Verhalten‘ durch die Möglichkeit
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Pieper, Einführung, 15. Birnbacher, Einführung, 2. Birnbachers sechs Aufgaben der Ethik spannen von Deskription und Phänomenologie über Argumentationsstrukturen und Kritik bis zur Erarbeitung von Normen ein weites Feld auf, in das auch ontologische, erkenntnistheoretische und pragmatische (Wie kann eine Norm pädagogisch oder politisch in der Gesellschaft angebunden werden?) Fragen integriert sind (vgl. a. a. O., 57–63). 140 Vgl. Birnbacher, Einführung, 1–6. 141 Birnbacher, Einführung, 8 f. 142 Birnbacher, Einführung, 13. 143 Birnbacher, Einführung, 12. Auffällig ist dabei, dass er z. T. wieder über das Adjektiv ‚moralisch‘ Teilbereiche der Moral festlegt. Eine gewisse Zirkularität nimmt er also in Kauf, wobei seine vier Kennzeichen das Adjektiv ‚moralisch‘ zumindest inhaltlich zu füllen vermögen, u. a. durch einen Bezug zur Handlungsbewertung. 139
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des Vermeidens ab.144 Durch unverschuldeten Zwang oder unverschuldeten Mangel an Wissen, an Intellekt oder der Fähigkeit, Folgen abschätzen zu können, sind einzelne Verhaltensweisen oder Personen (z. B. Kleinkinder) aus dem Bereich des moralischen Urteils ausgeschlossen.145 Eine ausführliche Nachzeichnung von Birnbachers Verständnis und Abgrenzung der Moral146 muss hier unterbleiben. Zu seinem vierten Kennzeichen (s. o.) sei noch erwähnt, dass dieses für ihn Universalisierbarkeit ein- und damit an Eigennamen (wie z. B. Gott) gebundene Moralverständnisse (wie z. B. ein theologisches) ausschließt.147 Die sprachlich leicht verständliche und didaktisch aufgearbeitete ‚Einführung in die philosophische Ethik‘ Dietmar Hübners (*1968) nimmt ebenfalls eine Abgrenzung von Moral und Ethik vor, wobei er Erstere als „ein Normensystem [bezeichnet], dessen Gegenstand menschliches Verhalten ist und das einen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit erhebt.“148 Bemerkenswert ist, dass er auch „bloße Gedanken und Gefühle“ dem Bereich menschlichen Verhaltens zuordnet und als möglichen Bestandteil einer Moral integriert.149 Im Anschluss an seine Ausführungen zur Moral definiert Hübner Ethik: „Ethik ist die Wissenschaft von der Moral, d.h. derjenigen Fachdisziplin, die sich damit befasst, welche Moralen es gibt [deskriptive Ethik], welche Begründungen sich für sie angeben lassen [normative Ethik] und welcher Logik ihre Begriffe, Aussagen und Argumentationen folgen [Metaethik].“150 Die hier in eckigen Klammern ergänzte Dreiteilung bietet Hübner, um den Bereich, den die Ethik als Wissenschaft umfasst, zu gliedern. In seiner Monografie nimmt die normative Ethik mit den Ansätzen von Platon über Kant bis zum Utilitarismus den meisten Raum ein. Sein Hinweis auf die Verwendung des englischen Begriffs ‚ethics‘ sowohl für die Wissenschaft (Ethik) als auch für ein konkretes Normensystem (Moral) sei hier hervorgehoben,151 um auf die mögliche Ambivalenz bei in dieser Arbeit zitierter englischsprachiger Literatur hinzuweisen. Nach der Vorstellung dreier philosophischer Verständnisse von Moral und Ethik (denn keiner definiert letzteren Begriff ohne ersteren) wird nun der 144
Vgl. Birnbacher, Einführung, 15. Zu der Verwendung der Begrifflichkeiten ‚Handlung‘ und ‚Verhalten‘ in dieser Arbeit vgl. Teil II – Methodologie: 1.1; 1.2.1. 145 Vgl. Birnbacher, Einführung, 15 f. Angemerkt sei hier, dass der Begriff des ‚Verschuldens‘ wieder einer moralischen Bewertung unterliegt, sodass ein gewisses Welt- und Menschenbild (v. a. hinsichtlich Verantwortlichkeit) darüber entscheidet, welches Verhalten Gegenstand moralischer Urteile wird. 146 Vgl. Birnbacher, Einführung, 7–56. 147 Vgl. Birnbacher, Einführung, 34–37. Vgl. Teil VII – Fazit: 2.2. 148 Hübner, Einführung, 13. 149 Hübner, Einführung, 15. 150 Hübner, Einführung, 17; vgl. a. a. O. 23. 151 Vgl. Hübner, Einführung, 20.
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Wechsel in die Theologie als Schwesternwissenschaft vollzogen. Die ersten beiden Positionen werden dabei in einem Abschnitt behandelt. Alle drei Ansätze werden auch dahingehend ausgewertet, welche Bedeutung die biblischen Schriften in einer theologischen Ethik erlangen können. (Wenn im Nachgang zu der Position von Johannes Fischer auch Karl Weyer-Menkhoff aufgegriffen wird, geschieht dies als Abgrenzung aufgrund der Nähe seines Dissertationsthemas zu dem hiesigen.) Wenn von systematisch-theologischer Perspektive aus (seit Schleiermacher) Ethik als Gegenüber zu Dogmatik verstanden wird,152 ergeben sich daraus komplexe Systematisierungen. So seien hier exemplarisch Wilfried Härle (*1941) und Wolfgang Lienemann (*1944) aufgenommen. Letzterer definiert: „Ethik ist Darstellung und Kritik des Ethos und der Moral einer Gemeinschaft von Menschen. […] Ethik umfasst empirisch-analytische Darstellung, theoretische Reflexion und praktische Beratung.“153 Durchaus ähnlich verwendet Härle ‚Ethik‘ „als Bezeichnung für die theoretische Reflexion des Ethos bzw. der Moral […]“.154 Damit sind als wesentliche Faktoren einer Ethik die theoretische Reflexion (inklusive deskriptiver Darstellung, normativer Beurteilung und Hilfe zur Entscheidungsfindung) und der Bezug zu Ethos und Moral (inklusive der Verhaltensgewohnheiten155 einer Gesellschaft und ihres Normen- und Wertesystems) genannt. Bevor diese Faktoren aufgenommen werden, sei noch einmal Härle zitiert, der – wie die Auslassungszeichen bereits andeuteten – seine Definition noch fortführt. Härle gebraucht ‚Ethik‘ zwar für oben beschriebene Reflexion „[…] – aber auch für das Reflexionsprodukt, das dabei entsteht, z. B. in Form eines solchen Buches.“156 In diesem letzteren Sinn kann einerseits von keiner biblischen Schrift als Ethik gesprochen werden, da diese keine zusammenhängenden theoretischen Reflexionen über Moral entfalten.157 Birger Gerhardsson konstatiert, „[n]o individual book in the bible – much less the bible as a whole – 152 Vgl. Härle, Ethik, vii. F. Schleiermacher formuliert gewissermaßen mit normativer Stoßrichtung: „Die Formel unserer ethischen Aufgabe ist die Frage, Was muss werden aus dem religiösen Selbstbewusstsein und durch das dasselbe, weil das religiöse Selbstbewusstsein ist?“ (ders., Sitte, 23). 153 Lienemann, Grundinformation, 14. 154 Härle, Ethik, 12. Eine mögliche Differenzierung von ‚Ethos‘ und ‚Moral‘ bietet D. Hübner: „Ein ‚Ethos‘ ist eine oftmals über lange Zeiträume gewachsene und tradierte Moral, die ihre Geltung auf bestimmte Personen oder festumrissene Gruppen erstreckt und deren Lebensformen und Tätigkeiten wesentlich gestaltet oder überhaupt erst definiert“ (ders., Hübner, 20). S. u. zu J. G. van der Watts Ethos-Begriff. 155 ‚Verhalten‘ wird hier nicht im Birnbacher’schem Sinne verstanden, sondern fasst (wie auch sonst in dieser Arbeit verwendet) lediglich Handeln und Unterlassen zusammen. 156 Härle, Ethik, 12. 157 „Insgesamt finden sich in den ntl. Schriften überwiegend situationsgebundene Aussagen, die nur schwer in einer systematisierenden Darstellung zu einer E. [=Ethik] des NT zusammenzuführen sind“ (Horn, Ethik III, 1606).
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was written in order to present a carefully devised moral philosophy or system of ethics“, und weicht deshalb auf den Begriff ‚ethos‘ aus.158 Wayne A. Meeks vertritt eine noch radikalere Position, indem er Texte lediglich entweder als Zeugnisse für „norms and practices“ oder als Normgeber „in moral discourse[s]“ versteht. 159 Er schließt an: „Texts do not have an ethic; people do“.160 Von einer ‚Ethik des Neuen Testaments‘ oder einer ‚Ethik im Johannesevangelium‘ könnte demnach gar nicht gesprochen werden. Andererseits nimmt jede biblische Schrift Bezug auf ein gelebtes Ethos, verhält sich zu ihm und transportiert moralische Botschaften, sodass gewissermaßen jede biblische Schrift als ethisch aufgefasst werden kann. Ruben Zimmermann führt deshalb den Begriff der ‚implicit ethics‘ ein, wobei er „ethics“ als „systematic-theoretical examination of the lived ethos“ bezeichnet.161 Ob es eine Ethik im NT oder des NT gibt, hängt also wesentlich vom Verständnis von Ethik (und von Moral) ab.162 Eine rationalistische Reduktion, die ausschließlich auf Argumentation als Form setzt, schließt dabei das NT aus. Ein weiter gefasstes Verständnis bringt der oben zitierte Theologe Wolfgang Lienemann zum Ausdruck, wenn er auch die „Kommunikation von Menschen über Sittlichkeit und Moral“ als Ethik (in einem „vor-theoretischen“ Verständnis) begreift.163 So wird sowohl von exegetischer als auch von systematischtheologischer Seite aus vielfach für die Verwendung des Begriffs ‚Ethik‘ auch im Kontext des Neuen Testaments argumentiert, der nicht im Gegensatz zu Theologie, Christologie oder Dogmatik sondern in Verbundenheit mit diesen verstanden wird.164 Johannes Fischer geht dagegen nicht von der Trennung zwischen Dogmatik und Ethik aus,165 sondern knüpft an die empirische Moralforschung an und betont die Anbindung von moralischen Urteilen an Emotionen.166 Moral 158
Gerhardsson, Ethos, 1. Meeks, Origins, 4. 160 Meeks, Origins, 4. 161 Zimmermann, „Implicit Ethics“, 399. Zu seinem Modell s. u. 162 Vgl. Fischer, Bedeutung, v. a. 271. Zu Fischer, s. u. 163 Lienemann, Grundinformation, 16. Später spezifiziert er ‚Ethik‘ hinsichtlich Gegenstandsbereich und Theorie (vgl. a. a. O., 17 f.) und betont den wissenschaftlichen Charakter stärker. 164 Vgl. Löhr, Ethik, 151–155; Konradt, Wissenschaft, 278–280, 284; Körtner, Neue Testament, 287 f., 294, 297 f.; Rendtorff, Ethik, 51 f. Für das Joh konstatiert das auch bereits R. Bultmann (ders., Joh, 206); vgl. van der Watt, Ethcis through, 141; u. v. m. 165 Fischer nennt diese Zweiteilung der Systematischen Theologie in seiner ‚Theologischen Ethik‘ zwar, sie ist für ihn aber eher eine Verortung als der Ausgangspunkt seines Ansatzes, vgl. a. a. O., 14, 49–57, 74. 166 Vgl. Fischer, Ethik als Begründung, 198 f.; ders., Argument, 214. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Ammann, Emotionen. Emotionen werden so als zentral für die Realitätswahrnehmung verstanden und ihre Rolle nicht auf eine Motivierung von Handlungen reduziert. 159
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gründet für ihn in der „Anschauung“, also im Wahrnehmen oder Vorstellen von bestimmten Situationen und Verhaltensweisen.167 Wer rein rationale, argumentative Begründungen anführt, „urteilt dann gar nicht moralisch.“168 Fischers Anliegen ist es, mit Hilfe von Narrativität169 die Dichtomie zwischen "argumentativer Rationalität einerseits und Gefühlen andererseits“ zu überwinden.170 Ethik definiert er als Anleitung „zu richtigem moralischem Denken“ anstelle von „rationale[r] Begründung der Moral“171 und bestreitet, dass es „in der Ethik um Begründen […] [, sondern stattdessen] um Verstehen geht“.172 Dabei zieht er polemisch gegen Positionen wie die fünf zuvor genannten ins Feld, indem er „die Vorstellung einer universalen, kulturübergreifenden Moral [als] wirklichkeitsfremd“ bezeichnet.173 Durch seine Definition von Ethik kann Fischer auch problemlos die Bibel in eine theologische Ethik integrieren (vgl. 1.1.2). Er sieht den Wert der Bibel für die Ethik in „der Sensibilisierung für die moralische Signifikanz von Situationen und Lebenslagen“.174 Karl Weyer-Menkhoff schließt einerseits an Fischer an und greift andererseits Hans G. Ulrich auf, der Rechtfertigungslehre und Ethik so zusammendenkt, dass „im menschlichen Handeln Gott der Vater und der Sohn selbst handelt“.175 Daher wendet sich Weyer-Menkhoff mit seiner narrativen Ethik explizit von der Narratologie ab, da er die theologischen Bezüge der Ethik verstärkt wahrnehmen möchte.176 Hier wird ein anderer Weg eingeschlagen: Das Joh erscheint nicht als narrative Ethik,177 sondern es wird von narrativer Ethik im Joh gesprochen. Wenngleich hier nicht Fischers Weg einer narrativen Ethik beschritten wird, so wird doch zumindest mit ihm der Unbedingtheits- und Allgemeingültigkeitsanspruch von Moral, den Birnbacher und Hübner formulieren, zurückgewiesen. Zum einen wäre eine christliche Ethik ohne Gottes- und Christusbezug ein Widerspruch in sich, zum anderen kann im Anschluss an die poststrukturalistische Tradition (deren Erbe die Narratologie zumindest partiell trägt) die Möglichkeit einer unbedingten Gültigkeit prinzipiell angezweifelt werden. Birnbachers Ansatz wird so fast ausschließlich in Abgren167
Fischer, Bedeutung, 265. Fischer, Argument, 214. 169 Vgl. zu Fischers Verständnis von narrativer Ethik 1.1.1. 170 Fischer, Argument, 216. 171 Fischer, Ethik als Begründung, 192. 172 Fischer Bedeutung, 271. 173 Fischer, Ethik als Begründung, 202. 174 Fischer, Bedeutung, 266. 175 Weyer-Menkhoff, Ethik, 41; Vgl. a. a. O. 39–41; 48 f. 176 Vgl. Weyer-Menkhoff, Ethik, 51. 177 So versteht K. Weyer-Menkhoff das Joh als narrative Ethik, wobei er die hier prinzipiell abgelehnte erste Joisten’sche Lesart des Begriffs nutzt (vgl. Weyer-Menkhoff, Ethik, 43; 1.1.1). 168
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zung aufgenommen. Lediglich sein Verständnis von Handlungen, die Handeln und Unterlassen einschließen und durch Vermeidbarkeit gekennzeichnet sind, kann fruchtbar gemacht werden. Durch Einbeziehung der Situation, die ein wesentlicher Aspekt narrativer Ethik ist, kann die Entscheidung, ob Handlungen als vermeidbar gelten dürfen und in den Bereich der Ethik fallen, getroffen werden. Allerdings wird durch Einbeziehen der Situation auch die Handlungsintention in den Bereich der Moral integriert, was Birnbacher gerade zu vermeiden sucht. Gewissermaßen lassen sich Johannes Fischer und Dieter Birnbacher als Pole eines Spannungsfeldes um den Begriff Ethik verstehen. Nach der vollzogenen Abgrenzung von diesen beiden gilt es nun, sich zu den übrigen Ansätzen zu positionieren und – wichtiger noch – der negativen Definition durch Abgrenzung eine positive durch Füllung des Begriffs Ethik entgegenzustellen. Beides wird im folgenden Unterkapitel geleistet. 1.3.2 Definition von Ethik und das Konzept der impliziten Ethik Diese Arbeit schließt sich der Definition Ruben Zimmermanns an, wie er sie in dem Sammelband ‚Ethische Normen des frühen Christentums‘ formuliert: „Ethik ist die reflexive Durchdringung von Handlungsentscheidungen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel der Bewertung.“178 Auch wenn diese Definition Begriffe wie ‚Theorie‘, ‚Rationalität‘ und ‚Moral‘ vermeidet, vermag sie dennoch an obige Definitionen (vgl. 1.3.1) anzuschließen. Ferner aber bedarf auch diese Definition einer Zuspitzung hinsichtlich ihres Bezugs zu Narrationen (genauer des Joh als Narration). Beide Anliegen werden zugleich miterfüllt, wenn nun vier Bezugspunkte der Definition erörtert werden, um die Begrifflichkeiten inhaltlich zu füllen: Reflexive Durchdringung, Handlungsentscheidungen, leitende Normen und Bewertung. Reflexive Durchdringung: Wenn in obiger Definition von einer ‚reflexiven Durchdringung‘ die Rede ist, setzt dies eine Reflexionsinstanz voraus. Dabei kommen bei einem dezidierten Text- (genauer: Erzählungs-)bezug gemäß der drei Dimensionen einer Erzählung (vgl. 1.2) Autor, Erzählung und Leser in Frage. Insofern die Erzählung als Reflexionsinstanz bezeichnet wird, stellt sich sogleich die Frage, inwiefern ein Text reflektieren kann und ob Reflexion als bewusste ‚Gedankenarbeit‘ nicht Menschen vorbehalten ist. Dieser Einwand findet in der Ergänzung der ‚Durchdringung‘ eine Antwort. Mit diesem Substantiv wird die Bedeutung des Lesers als denkendes Subjekt, das den Text liest und darüber nachdenkt – ihn durchdringt – in allen drei Dimensionen hervorgehoben.179 Für die jeweiligen Dimensionen bedeutet das: 178
Zimmermann, Ethikbegründung, 3. Hier sei auf das bekannte Kommunikationsmodell von F. Schulz von Thun („Vier Seiten einer Nachricht“ (ders., Miteinander, 14 u. ö.)) verwiesen, der die Relevanz des 179
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Der Autor kann seine Reflexionen in einem Text (argumentativ, narrativ, metaphorisch etc.) niederschreiben und tut dies m. E. sogar zwangsläufig. Der Zugang zu ihm als Subjekt der Reflexion erfolgt aber nicht unmittelbar, sondern ist nur ‚durch den Text‘ möglich und muss also von einem lesenden Subjekt vollzogen werden. In Konfrontation mit dem Text wird der Leser auch zur Selbstreflexion angeleitet. Selbstreflexion des Lesers meint damit ein Nachdenken über sich, sein Leben, seine Einstellungen und Wertvorstellungen sowie seiner Lebenskontexte, ein ‚Überdenken‘ seiner selbst. Dabei ereignet sich diese nicht willkürlich, sondern gebunden an die Durchdringung des Textes. Die Erzählung selbst bezieht zu Themen, Positionen, Verhaltensweisen und Einstellungen narrativ (implizit und explizit) Stellung, liefert kontinuierlich Werturteile. Diese setzen allerdings noch keine Reflexion (zumal des Autors) darüber voraus. Im Lesen verfolgt der Leser diese Urteile jedoch nach, wird also in die Reflexion geleitet. Um die Selbstreflexion von eben dieser Reflexionsbewegung zu trennen, ist es pragmatisch sinnvoll, den Erzähler als Subjekt von Letzterer zu bezeichnen. Da alle Worte einer Erzählung dem Erzähler zugeordnet werden können, ist dieser in jedem Fall der Sprecher.180 Dass er als nicht-menschliche Entität kein denkendes Subjekt ist, wird mit der Leserbeteiligung aufgefangen. Die Formulierungen ‚der Text reflektiert‘, ‚die Erzählung reflektiert‘ oder ‚der Erzähler reflektiert‘ meinen also stets, dass der Leser in eine Reflexionsbewegung über erzählungsimmanente Themen mit hineingenommen wird. Damit sind Lienemanns und Härles Definition einer Ethik als theoretische Reflexion insofern zurückgewiesen, als die hier besprochene Reflexion nicht theoretischer Natur ist. Zwar werden auch theoretische Elemente, wie Begriffsbildungen oder Begründungszusammenhänge, berücksichtigt, aber dies geschieht stets unter einem starken Anwendungsbezug und mit konkreter Basis, denn „die wichtigsten moralischen Probleme [stellen sich] dort, wo es um die konkrete Beurteilung der Situationen und Institutionen und eine angemessene moralische Entscheidung geht.“181 Auf der Ebene des Erzählers als Reflexionssubjekt kann Piepers Ansatz aufgegriffen werden. Zielte ihre Ethik auf eine Befähigung des Menschen zum sittlichen Verhalten, wird in narrativer Ethik eben der Leser als ethisches Subjekt in seiner reflexiven Durchdringung gerade zu solchem aufgerufen und dazu befähigt, BewertunEmpfängers für die Bedeutung einer jeden Nachricht hervorhebt (a. a. O., 61 f.). In der Literaturwissenschaft greift der gesamte Forschungsstrom der Rezeptionsästhetik diesen Ansatz auf. 180 Zu einer Differenzierung von Erzählerrede und Figurenrede vgl. Teil II – Methodologie, 1.2.1. 181 Mandry, Identität, 283. C. Mandry fasst diese Konfliktfelder allerdings nicht unter ‚Ethik‘, sondern verwendet im Anschluss an (P. Ricœur) den Begriff ‚praktische Weisheit‘ (vgl. a. a. O., 185, 189–217, 283 f.; Ricœur, Ethik, 251, 262–267).
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gen vorzunehmen. Diesen Prozess möchte narrative Ethik (in der Betrachtung des Lesers als Reflexionssubjekt) sichtbar machen. Handlungsentscheidungen: Der weite Begriff der Handlungsentscheidungen greift auf den der Handlung zurück.182 Dabei wird Handeln nicht nur in Bezug auf konkret ausgeführte Aktionen, sondern allgemeiner (im inhaltlichen, aber nicht begrifflichen (!) Anschluss an Birnbacher) als Verhalten verstanden, schließt also Unterlassen mit ein. Die Erweiterung auf Handlungsentscheidungen nimmt zusätzlich die Motivation und Begründung, die rationalen, emotionalen und volitionalen Bedingungen auf, was Hübners Ansatz entspricht. Somit sind Einstellungen und erwogene, aber nicht tatsächlich durchgeführte Handlungen Teil der ethischen Reflexion. Damit wird auch die emotionale Gebundenheit aller Werturteile (vgl. Fischer) berücksichtigt. Bei Ethik geht es jedoch nicht um eine umfassende Handlungstheorie, was die letzten beiden Schlagworte deutlich machen. Leitende Normen: Mit dem Wort ‚Normen‘ wird hier ein spezifisch moralischer Terminus eingeführt. Vom lateinischen ‚norma‘ abgeleitet, geben Normen eine gewisse Richtschnur vor, die sich auf richtiges Verhalten (oder Denken) bezieht. Dabei steht ‚Normen‘ hier stellvertretend für verschiedene Begriffe des moralphilosophischen Diskurses: Werte, Tugenden, Pflichten, Prinzipien, Maximen etc. Je nach philosophischer Schule werden unterschiedliche Begriffe verwendet, die z. T. schwer abgrenzbar, z. T. keineswegs austauschbar sind. Jeweils gemein ist ihnen aber die situationsunabhängige und zumindest im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext allgemeingültige, orientierende Funktion in Bezug auf einzelne Handlungsentscheidungen. Hier werden also Regulative in die Reflexion eingeführt, anhand derer Verhalten bewertet wird und die selbst Teil der Reflexion sein können. Wenn Lienemann und Härle Ethos und Moral menschlicher Gemeinschaften als Gegenstand der Ethik ausmachen oder Hübner die Beschreibung eines Wertesystems als deskriptive Ethik festschreibt, findet beides hier Aufnahme. Prinzipiell gilt als ‚leitende Normen‘ alles zu berücksichtigen, was eine allgemeine Bewertung einer Einzelhandlung als gut, richtig, gerechtfertigt oder angemessen zu deklarieren vermag. Was als richtig bezeichnet wird, kann dabei sehr unterschiedlich sein. Die Vielfalt an möglichen ‚leitenden Normen‘ ist unüberschaubar. Als Beispiele seien Werte wie Liebe, Solidarität oder Freiheit, Tugenden wie Mut, Besonnenheit oder Fleiß sowie Leitsätze wie die Goldene Regel oder ‚Wer nicht wagt, der nicht gewinnt‘ genannt. Diese können – um die Definition dezidiert 182 Indem die Ethikdefinition an Handlungen rückgebunden wird, wird die Bedeutung von Narrativität einmal mehr unterstrichen. Neben einer narrativen Strukturiertheit des Menschen (vgl. 1.1.2) erfordert der Handlungsbegriff eine Einbeziehung von Narrativität, was auch der Handlungstheoretiker J. Straub hervorhebt (vgl. ders., Handlung, 141–162) und als Grenze „aller rationalistischen Handlungsmodelle“ ausmacht (a. a. O., 141).
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auf narrative Ethik zuzuspitzen – sowohl explizit begrifflich als auch symbolisch oder in narrativer Veranschaulichung in einer Erzählung enthalten sein. „Werte, Normen, auch Maximen und Prinzipien haben [also] durchaus ihren Ort in einer narrativen Ethik, sie lassen sich jedoch nicht aus rein begrifflichen und logischen Argumentationen ableiten, sondern müssen als allmähliche Abstraktionen emotionaler Erfahrung konzipiert werden.“183 Auch die Abhängigkeiten der verschiedenen Normen voneinander oder die Klärung, was einen Wert inhaltlich füllt, kann Inhalt der Reflexion sein. So sind Piepers höchste Werte ‚Freiheit‘ und ‚lebenswertes Leben‘ in der reflexiven Durchdringung konkret zu füllen, indem sie in konkreten Handlungsentscheidungen angewendet werden. Hier kommt insofern sogar ein metaethischer Zugang (vgl. Hübner) zum Tragen, als auch die Begriffssprache innerhalb der Erzählung geklärt und durch die reflexive Durchdringung ein System erkennbar wird. Bewertung: Dass Bewertung ein entscheidendes Moment von Ethik ist, wurde bereits in den Ausführungen zu den ‚leitenden Normen‘ deutlich. Ethik hat in jedem Fall mit Werturteilen zu tun. Dabei kann sowohl eine bipolare Einteilung (z. B. gut – schlecht; richtig – falsch) als auch eine Hierarchisierung (z. B. besser – schlechter) in den Blick genommen werden. Häufig treten auch Kombinationen beider Einteilungen auf. Z. B. kann im Joh Almosengeben als gute Tat eingeordnet, aber zugleich einer Salbung Jesu als besserer Handlung untergeordnet werden.184 Auch die Rechtfertigung von bestimmten Verhaltensweisen wird über die Bewertung oder die Abwägung verschiedener Normen vollzogen. Wenn als Ziel der Ethik die Bewertung genannt wird, ist damit ein normativ-ethischer Zugang gewählt. Damit sind die Handlungsentscheidungen Gegenstand der reflexiven Durchdringung, über die ein Urteil ausgesprochen werden soll. Mit Lienemann wird so praktische Beratung anhand einer biblischen Erzählung zum Gegenstand der Ethik. Unter Berücksichtigung der narrativen Beschaffenheit des Textes müssen diese Urteile nicht als Begründungsketten aus dem Erzähltext extrahiert, sondern können als Nachahmungs- und Reflexionsimpulse wahrgenommen werden. Hier wird erneut die Befähigung des ethischen Subjekts zum sittlich Guten (vgl. Pieper) untersucht. Die Definition ist hinsichtlich ‚Bewertung‘ auch anders lesbar. Das Verständnis verschiebt sich, wenn die Bewertung in die reflexive Durchdringung eingeschlossen wird. Syntaktisch gesprochen erscheint als Bezugswort von ‚Ziel‘ nicht ‚Ethik‘, sondern ‚Handlungsentscheidungen‘ – d. h. dass die Definition dann nicht angibt, worauf Ethik zielt, sondern stattdessen worauf die Handlungsentscheidungen zielen. Nach dieser Lesart reflektiert Ethik die Bewertung der Handlungsentscheidungen. Jede Entscheidung für oder gegen 183 184
Meuter, Identität, 58. Vgl. dazu Teil V – Judas: 2.2; 5.2.
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ein bestimmtes Verhalten dient der Bewertung des Verhaltens (wobei eine Entscheidung gegen ein Verhalten zumeist eine negative Bewertung implizieren dürfte). Demnach nimmt Ethik dann eine deskriptive Position ein. In Kürze: In der hier dargelegten Ethik-Definition spielen deskriptive, normative und metaethische Fragestellungen (vgl. Hübner) zusammen. Je nach Ebene und Perspektive kann der Schwerpunkt verschieden gewählt werden. Auf deskriptiver Ebene werden die Bewertungen der Handlungsentscheidungen festgestellt und die Normen als Bewertungsmaßstäbe aufgedeckt. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Ebene von Autor (wie denkt dieser ethisch?) und Text (wie wird erzählungsimmanent bewertet und wie richten sich die Figuren in ihrem Verhalten aus?). Damit treten hier gewissermaßen die Bereiche in Austausch, die Jan G. van der Watt in ‚ethics‘ als moralische Regeln und ‚ethos‘ als tatsächliches Verhalten differenziert.185 Auf normativer Ebene wird ein Anspruch deutlich, der innerhalb der Erzählung an Figuren gestellt oder an den Leser herangetragen wird. Metaethisch kann der Leser schließlich darüber reflektieren, auf welche Weise der Text seine leitenden Normen konstituiert und einführt, welche Begriffe (z. B. ‚sollen‘, ‚gut‘ oder ‚Werke‘) die Erzählung wie füllen oder inwiefern der Text sein Wahrheitsverständnis oder Weltbild (das des Lesers) herausfordert. Zu Hübners Ethikbegriff sei noch angemerkt, dass dieser hier insbesondere Eingang findet, wenn Philosophen oder Theologen als ‚Ethiker‘ bezeichnet werden. Da Hübner Ethik als wissenschaftliche Fachdisziplin ausmacht, ist demnach diese Arbeit auch der ‚Disziplin Ethik‘ zuzuordnen. Dabei wird Wissenschaftlichkeit jedoch nicht auf eine theoretische Begründungsstruktur bezogen, vielmehr steht hier eine theorieverankerte Methodik im Vordergrund, die bzgl. ihrer Kriterien wie Anwendbarkeit, Verständlichkeit oder Plausibilität eine wissenschaftliche ist. Bisher wurde die Definition Zimmermanns in einer besonderen Weite entfaltet. Nun sei noch sein Ansatz der impliziten Ethik vorgestellt. An diesem wird deutlich, wie vielfältig ethisch-exegetisches Arbeiten sein kann. In seinem Modell der impliziten Ethik stellt Ruben Zimmermann eine Methodik vor, die acht verschiedene Perspektiven umfasst.186 Das Adjektiv ‚implizit‘
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Vgl. van der Watt, Preface, vii. Die hier verkürzte Wiedergabe weist nur auf die Grundzüge der Differenzierung, wird aber nicht als entsprechende Definition verstanden. J. van der Watts Ethos-Begriff ist prinzipiell weiter gefasst als der von M. Wolter, welcher über bloße Verhaltensweisen und Gewohnheiten hinausgehend einen verpflichtenden Charakter und eine institutionalisierte Verankerung der „practices“ bzw. „habitualisierten Handlungen“ festsetzt (vgl. ders., Own, 200; ders., Ethos, 430 f.). F. W. Horn bezeichnet die „sittliche Prägung der frühchristl. Gemeinden“ als deren Ethos (ders., Ethik III, 1606). 186 Zimmermann, „Implicit Ethics“, 405–416. Vgl. ders., Ethics in, 21–50, v. a. 24–28. Die folgende Kurzvorstellung beruft sich auf die angegebenen Seiten. Die jeweils verwendeten englischen Originaltitel der Perspektiven entstammen diesen dabei nur z. T., da hier
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markiert dabei, dass die ntl. Schriften einer systematisierten Darstellung, die einer Ethik gewöhnlich innewohnt, zwar entbehren, die ethischen Entfaltungen aber an den Text gebunden bleiben.187 Ohne konkrete Werkzeuge verdeutlicht Zimmermann durch Fragestellungen und Beispiele die jeweilige Stoßrichtung der Perspektiven. Im Einzelnen werden diese hier nicht nachgezeichnet, sondern lediglich kurz benannt: 1. Linguistic Form: Intra-, interund extratextuell werden ethische Aussagen auf Syntax, Stil und Form untersucht und verglichen. Extratextuell meint dabei den Zugang heutiger Leser und die Wirkungspotentiale des Textes für diese. 2. Norms and Values for action: Moralische Instanzen, die Handlungen oder Anweisungen legitimieren, werden aufgelistet. Sowohl abstrakte Größen (bspw. Natur) und institutionalisierte Schriften (bspw. die Tora) als auch Personen (bspw. Jesus) und Werte (bspw. Liebe) können dabei genannt werden. 3. History of Traditions of individual norms: Eine moralische Instanz, wie sie unter 2 gelistet ist, wird historisch und gesellschaftlich verortet. Der semantische Gehalt, die gesellschaftliche Akzeptanz und die Verbindung zu Gründungmythen oder philosophischen Traditionen können hier aufgefächert und in Verbindung zu der Verwendung im ntl. Text gebracht werden. 4. Priority of Values: Die unter 2 aufgeführten Werte werden entsprechend ihrer intratextuellen Verwendung klassifiziert oder hierarchisiert, je nachdem ob sie eher absolut (gut und richtig; falsch und böse) oder vergleichend (besser, schlechter) gegenübergestellt werden. 5. Structure of Motives – Ethical Argumentation: Die Argumentations- oder Begründungsstruktur wird analysiert und so z. B. als teleologisch oder deontologisch aufgedeckt. 6. Moral Agent: Die Konstituierung und Befähigung des ethischen Subjekts wird untersucht, indem z. B. Figuren als Vor- oder Mahnbilder verstanden werden, ethische Urteilsfindung der Figuren bzw. Autoren (emotional, rational, volitiv) untersucht oder der Zusammenhang zwischen Individualethik und Sozialethik dargelegt wird. 7. Resulting ethos as lived: Die Konventionen und Bräuche, wie sie in den erhalten Quellen erinnert werden, werden rekonstruiert und die Position des Textes zu ihnen (Übereinstimmung, Ablehnung) ausgeführt. 8. Field of application: Der historische, intendierte, symbolische oder spätere Adressat des Textes wird auf seine Einstellungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen hin untersucht, die durch den Text ausgelöst werden. Dabei kann sowohl die mutmaßlich ursprüngliche als auch die de-kontextualisierte, wirkungsgeschichtlich die überarbeitete Grafik von 2012 (ders., Is there Ethics, 63) zu Grunde gelegt wurde. Vgl. auch seine ethische Auslegung von Joh 11: ders., Narrative Ethik, 157–169. Angemerkt sei, dass auch der Literaturwissenschaftler Thomas Wägenbaur in seinem Anschluss an Ludwig Wittgenstein von ‚impliziter Ethik‘ spricht, dies aber als „poetische[s] Prinzip der Narration“, also als Eigenschaft jeder Literatur und nicht als heuristisches Konzept, versteht, die wesentlich von der Darstellung performativen Handelns abhängt (ders., Ethik, 179; vgl. a. a. O., 265–268). 187 Vgl. Zimmermann, „Implicit Ethics“, 403.
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tatsächliche ethische Strahlkraft in den Blick genommen werden. In diesem Schritt ist auch die Beurteilung der Wirkungen gefordert und ihre Legitimität in Frage zu stellen. Wie der Weg zu einer narrativen Ethik des Joh aufgrund der verwendeten Ethikdefinition unter Bezug auf die drei Dimensionen einer Erzählung in dieser Arbeit konkret beschritten wird, stellt das folgende Unterkapitel dar. 1.4 Narratologisch-ethische Aufgabenstellung Das Ziel dieser Arbeit ist das Aufweisen von narrativer Ethik im (oder anhand des) Joh.188 Folglich lautet die Aufgabenstellung, eine Methodik vorzulegen, die in ihrer Anwendung den entsprechenden Ertrag auswirft. Von den drei vorgestellten Dimensionen einer jeden Erzählung (1.2) wird die Dimension des Autors – sowohl des realen bzw. historischen als auch des impliziten (vgl. dazu 1.2) – für den Kontext dieser Arbeit weitgehend ausgeklammert.189 Dies hat direkte Auswirkungen auf das theoretische Konzept vom Lese- und Analyseprozess. Als etablierte und gewohnte Form, Erzähltexte zu interpretieren, bezeichnet H. Porter Abbott „intentional readings“, welche dem impliziten Autor zu folgen und dessen Erzählabsichten zu ergründen suchen.190 Mit der Ausklammerung des Konstrukts des impliziten Autors verschiebt sich diese Perspektive. Anstelle intentionaler Kommunikationsabsichten werden im Erzähltext aufgegriffene, in ihn eingebundene und so reflektierte Handlungsbewertungen untersucht. Der Unterschied besteht darin, dass keine vom historischen Autor geschaffene Größe eines impliziten Autors angenommen wird und die Erzählung nicht als in sich abgeschlossen, sondern als sich im Lesen entfaltend betrachtet wird.191 Da von der Frage nach der Moral und den ethischen Reflexionen des Autors des Joh Abstand genommen wird, bleiben zwei Perspektiven für narrative Ethik bestehen. 188 Dass dem Joh als narrativem Text am ehesten eine narrative Ethik entspricht, wurde bereits in den ersten Abschnitten dieser Arbeit deutlich gemacht. W. Schrage sieht dagegen „im Vordergrund des Neuen Testaments eine argumentative Ethik […] und nicht eine ‚narrative‘“ (ders., Ethik, 12). M. E. spiegelt dies eher wider, dass sich seine Position innerhalb der Traditionslinien verorten lässt, die Ethik an argumentative Formen bindet, als dass er eine quantitative oder qualitative Gewichtung des gesamten ntl. Textbestands vorgenommen hat. 189 Dies ist eine Grundsatzentscheidung, die nicht in der Narratologie begründet liegt, die auch für historische Forschung wertvolle Beiträge leisten kann (vgl. z. B. F. Jannidis Ansatz einer „historischen Narratologie“ (ders., Figur)), sondern in dem Forschungsinteresse an der (v. a. gegenwärtigen) ethischen Wirksamkeit des Joh. In der Methodologie (Teil II) wird dezidiert darauf hingewiesen, inwiefern historisches Wissen oder historische Rekonstruktion einfließen. 190 Abbott, Introduction, 102 f. 191 So bindet auch z. B. Wolfgang Iser die „Intention des Textes“ nicht an den Autor zurück, sondern verortet sie „in der Einbildungskraft des Lesers“ (Iser, Appellstruktur, 248).
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Die eine Perspektive narrativer Ethik bezieht sich auf den Erzähltext und den Erzählinhalt, die andere fokussiert ethische Impulse und Reflexionen, die im Leseprozess wirksam werden.192 In diesem Wechselspiel zwischen dem Leser, der die Erzählung ‚zum Leben erweckt‘ und ausformt, und der Erzählung, die auf den Leser einwirkt, ihn stimuliert und leitet, steht jede – insbesondere aber eine narratologisch-ethische – Analyse von Erzählungen; mit Worten David Hermans: „stories both shape and are shaped by what minds percieve, infer, remember, and feel.“193 Unter dem erstgenannten Blickwinkel – dem der Erzählung – wird nach der Ethik des Joh gefragt: Welche Normen werden präsentiert? Welche Verhaltensweisen und Einstellungen werden positiv, welche negativ bewertet? Wie wird Verhalten gerechtfertigt? Wie werden Werte hierarchisiert? Werden Handlungsgewohnheiten, Normen, Prinzipien oder Tugenden deutlich?194 Das Ethos innerhalb der Erzählten Welt wird nicht als geschlossenes oder vollständiges System betrachtet. Stattdessen gibt das Joh Einblicke in ein Ethos, die als Versatzstücke des Gesamtbilds situationsbezogen aufgegriffen werden können. Präsentationsmedium ist dabei der Erzähler, der als innertextliche Größe geschaffen und im Joh als reale Person vorgestellt wird, deren ‚Erschaffer‘ aber weder gegriffen und analysiert werden kann noch muss. Durch den figurenbezogenen Zugang werden all diese oben aufgeworfenen Fragen in den konkreten Situationen, in denen sie in der Erzählung eingebettet sind, untersucht. Die Bewertung von Figuren im Allgemeinen sowie in Einzelsituationen lässt diese als Vorbild oder Abschreckungsbeispiel (als äquivalente Formulierung wird hier 192 Angemerkt werden muss hier, dass bereits diese Zweiteilung innerhalb der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung (und der biblischen Exegese) umstritten ist. So gibt es, z. B. Positionen, die eine leserunabhängige Ideologie in Erzählungen bestreiten und behaupten, dass das Vorverständnis eines Lesers dessen Ideologie ausformt (Konstruktivismus). Die Gegenposition (aus dem 20. Jh.) attestiert dem Text eine eigene Ideologie, die der Leser im Lesevorgang (als zumindest für die Erzählung gültig) – ggf. unbewusst – akzeptiert. Zwischen diesen Extremen werden zahlreiche Abstufungen vertreten. Vgl. Herman/Vervaeck, Ideology, 218 f. Die hier bezogene Zwischenposition räumt dem Text ein Eigengewicht ein und nimmt dennoch den konstruktivistischen Diskurs auf. Ähnlich sieht S. Waldow auf zwei Ebenen, „dass Ethik wesentlich an einen Aushandlungsprozess gebunden ist, und zwar sowohl innerhalb des Textgeschehens als auch zwischen Text und Leser“ (dies., Schreiben, 21). 193 Herman, Cognition, 257. Ähnlich formuliert J. Frey: „Zwar ist umstritten, wo das interpretatorische Hauptgewicht liegen sollte, auf der Textkomponente oder auf dem Leseraspekt, doch wird man beide Seiten des Lesevorgangs nicht mehr voneinander trennen oder gegeneinander ausspielen können“ (ders., Leser, 267). Dementsprechend ist die hier vorgenommene Differenzierung nicht trennscharf, zeigt aber auf, räumt aber „beide[n] Seiten des Lesevorgangs“ (ebd.) ein eigenes Gewicht ein. 194 Indem in dieser Arbeit die Orientierung stärker an Werten, Normen und Tugenden als an Pflichten, Maximen und Prinzipien vorgenommen wird, steht sie wohl der aristotelischen Tradition näher als der kantischen.
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der Ausdruck ‚Mahnbild‘ verwendet) erscheinen. Die Ethik, die sich im Miteinander der Figuren, in ihrem Verhalten, aufdecken lässt – also in den Moralvorstellungen und Verhaltensnormen innerhalb der Erzählten Welt195 –, wird in diese Perspektive narrativer Ethik integriert. Die zweite Perspektive ist stärker am Rezipienten orientiert.196 „Erzählungen konfrontieren uns mit Deutungen und Interpretationen von Sachverhalten“197 und Figuren eröffnen dem Leser durch „Lebensähnlichkeit Selbstbegegnung.“198 So setzt die Erzählung über die Figuren ethische Impulse, die den Leser zur Positionierung, Bewertung und Reflexion anregen. Damit trägt der Leseprozess zur Bildung einer narrativen Identität bei, die hier nach Ricœur dezidiert als ethische Identität verstanden wird.199 Der Ausdruck ‚ethische Impulse‘ betont dabei bereits, dass das zu erwartende Ergebnis keine Soll-Aussagen oder Regeln beinhalten kann.200 Vielmehr wird hier die ethische Wirksamkeit untersucht. Die Erzählung regt dazu an, Absichten und Verhaltensmotive der Figuren zu ergründen, das gelebte Ethos und das vorgeführte Einzelverhalten seinerseits zu bewerten und aufgrund dieser Reflexionen in der eigenen Urteilsfindung bestärkt zu werden. Leitende Fragen können dabei sein: Wodurch werden Leser in ihren Verhaltensweisen und Wertesystemen hinterfragt? Inwieweit werden sie zum Handeln emotional oder kognitiv angeregt? Lesen bedeutet eine unbekannte Welt und zugleich sich selbst zu entdecken. In Paul Ricœurs Worten führen Leser kontinuierlich „Gedankenexperimente“ durch, machen „Forschungsreisen durch das Reich
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Zum Begriff ‚Erzählte Welt‘ vgl. 3.1. Als verbindende Prämissen der rezeptionsästhetischen Ansätze nennt M. Mayordomo u. a.: „Texte haben nicht einen definitiven Sinn, sondern bergen in sich Sinnmöglichkeiten. […] Mögliche Sinnwelten ergeben sich durch aktive Teilnahme des Rezipienten am Leseprozess. Die Interpretation fragt daher nicht mehr nach dem Sinn des Textes, sondern nach der Interaktion zwischen Text und lesendem Subjekt“ (ders., Analyse, 418 f.). 197 Düwell, Rationalisten, 210. Dass diese Konfrontation ethische Reflexionen hervorruft, betont auch M. E. Mills: „The reading and interpretation of narratives challanges the reader to reflect on personally held beliefs and values“ (dies., Morality, 11). 198 Horn, Theorie, 117. 199 Wie im NT (Paulus, Joh, Mt) eine narrative Identität konstruiert wird, untersucht E. Reinmuth in seinem Aufsatz ‚Subjekt werden‘ und stellt (in Bezug auf das Joh z. T. mit narratologischen Erkenntnissen) die Identität der Glaubenden in Abhängigkeit von der Jesu Christi heraus (vgl. a. a. O.). Vgl. zu möglichen ntl. Beiträgen zum Diskurs um den postmodernen Subjekt-Begriff seinen gleichnamigen Sammelband ‚Subjekt werden‘. 200 Diese Einschätzung ist sicherlich vom Vorverständnis des Lesers und der Hochstellung des Rezipienten in den gegenwärtigen Diskursen abhängig. Für die Textproduktion formuliert dies S. Waldow prägnant: „Literatur übernimmt […] keine einseitig belehrende oder moralische Funktion mehr, sondern entwickelt gemeinsam mit dem Leser eine Ethik, die an das handelnde Subjekt rückgebunden ist (dies., Schreiben, 23). 196
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des Guten und Bösen“.201 Der Leser ist eingeladen, die Erzählung als ethisches Spielfeld wahrzunehmen, Verhaltensweisen und Einstellungen zu beobachten, mögliche Konsequenzen mitzuerleben, eigene Reaktionen und Emotionen festzustellen, ethische Erfahrungen zu machen. „Die ästhetische Präsentation der Erzählung schafft den Raum für die Reflexion.“202 Gewissermaßen umfasst die hier vorgestellte narrative Ethik damit das, was der USamerikanische Narratologe James Phelan seinem rhetorischen Zugang zu Erzählungen zuschreibt: Dieser ist „both an ethics of the told and an ethics of the telling.“203 So holt narrative Ethik viel mehr als moralphilosophische abstrakte Reflexionen das ein, was die Philosophin und Pieper-Schülerin Dagmar Fenner energisch fordert: „Ethik ist kein Privileg von Akademikern, sondern geht alle handlungsfähigen Personen etwas an!“204 Als narrativer Gegenstand liegt dieser Arbeit das Joh zu Grunde. Oben (1.3.1) wurden bereits die konträren Ansichten über das Verhältnis von Ethik und biblischem Text benannt und die Richtung angedeutet, nach der hier auch von einer Ethik im Joh gesprochen werden kann. Der unbestimmte Artikel vor ‚Ethik‘ zeigt an, dass eine gewisse Relativität konzeptimmanent ist. Wenn gemäß Umberto Eco die Poetizität eines Textes daran festzumachen ist, dass dieser „immer neue und andere Lesarten […] erzeug[t], ohne sich jemals ganz zu verbrauchen“,205 kann biblischen Texten wie dem Joh eine hohe Poetizität attestiert werden und die narrativ-ethische Lesart gewissermaßen als neue verstanden werden, welche in den Diskurs mit vielen anderen Lesarten eintritt. So wollen die hier vorgestellten Ergebnisse keinesfalls, die richtige oder gar einzige Deutung des Joh vorführen. Vielmehr werden Verständnishorizonte eröffnet und plausibilisiert, die zu einem neuen und vertieften Verständnis des Joh und seiner Ethik führen. Durch die u. a. am gegenwärtigen Leser orientierte zweite Perspektive wird auch „die Frage, ob und wie die biblische Normbegründung für gegenwärtige ethische Probleme anschlussfähig ist,“206 mitbedacht und so die gegenwärtige ethische Relevanz und Wirkmächtigkeit des Joh eingeholt.207 Wie Ethik und NT in der theologi201
Ricœur, Selbst, 201. Düwell, Rationalisten, 210. 203 J. Phelan, Rhetoric, 203. Phelan gibt drei Reaktionsarten von Lesern auf Erzählungen an: mimetisch (wobei die Figuren als Menschen wahrgenommen werden), thematisch (Figuren als Repräsentanten und die Verarbeitung von Tugenden, Lastern und Werten) und synthetisch (Erzählung ist erschaffen, künstlich kreiert); die Gewichtung der Reaktionsarten ist an die jeweilige Erzählung gebunden (vgl. a. a. O., 210 f.). 204 Fenner, Ethik, viii. Mit vielen anschaulichen Beispielen und Abbildungen bietet D. Fenner eine Einführung in ‚Ethik‘ als philosophische Disziplin. 205 Eco, Nachschrift, 17. 206 Horn/Zimmermann, Einführung, 5. 207 Zur Möglichkeit und Aufgabe das NT auf für eine gegenwärtige christliche Ethik fruchtbar zu machen vgl. de Villiers, Morality, 51 f. 202
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schen Forschung miteinander in Beziehung gesetzt werden, hat Richard B. Hays untersucht und die Möglichkeiten einer Verhältnisbestimmung in einer Sechsteilung strukturiert. Die mit dem Konzept der narrativen Ethik hier abgerufene Beziehung fällt am ehesten in die sechste Kategorie. In ihr wird betont, dass biblische Texte ihre (heutigen) Leser konfrontieren und formen; Ethik wird über reine Deskription hinaus erst im Prozess der Aneignung und Anwendung durch die Leser (Pragmatik) vervollständigt.208 In einer Stärkung des Lesers als Gegenüber des Textes (sowohl im Lesen als Reflexionsinstanz als auch in der Applikation als moralisch handelndes Subjekt) werden in dieser Arbeit jedoch auch ideologiekritische und Leser-Vorverständnisbewusste Ansätze (Hays’ vierte und fünfte Kategorie) berührt.209 Die narratologisch-ethische Aufgabe ist es, die Erzählung in Text und Inhalt und die Wirkungspotentiale des Erzählens in der Wahrnehmung im Leseprozess aufzugreifen.
2 Ethik im Johannesevangelium 2 Ethik im Johannesevangelium
Das Joh ist ein literarisches Werk, das eine Vielzahl von Deutungsspektren eröffnet.210 Wenn hier vom Joh die Rede ist, so sind dabei stets die gesamten 21 Kapitel im Blick. Diese Grundentscheidung ist primär dem narratologischen Zugang geschuldet. Die einzigen textkritisch sicher als sekundär belegten Passagen sind 5,3b f. und 7,53–8,11, wobei gerade letztere nicht unerheblichen Anteil an der ethischen Wirkungsgeschichte und Strahlkraft des Joh hat. Die entsprechenden Verse werden eingeschränkt in die Untersuchung einbezogen. Als Textgrundlage wird dabei das historische Konstrukt eines Urtextes des Nestle Aland28 verwendet, ohne dass textkritische Angaben im Einzelnen besprochen werden. Auch in diesen Grundsatzentscheidungen wird das narratologische Profil deutlich.211 208
Vgl. Hays, Field, 15–18. Beachte insbesondere das letzte vorgestellte Werkzeug der narratologisch-ethischen Analyse: Teil II – Methodologie: 1.6.9. 210 Für einen Überblick sei auf J. Freys Einführung in seine Aufsatzsammlung ‚Die Herrlichkeit des Gekreuzigten‘ verwiesen (vgl. ders., Wege). Frey betont die „Pluralität der vielen, ‚postmodern‘ nebeneinander praktizierten Ansätze der Lektüre“ (a. a. O., 3) und systematisiert diese in theologische, historisierende, zeitgeschichtliche, literarkritische bzw. redaktionsgeschichtliche und literaturwissenschaftliche bzw. narratologische Zugänge (vgl. a. a. O., 5–26). Gemäß U. Ecos Einteilung in ‚geschlossene‘ und ‚offene‘ Texte (vgl. ders., Lector, 69–72; vgl. ders., Kunstwerk) wäre das Joh als weitgehend offen zu bezeichnen, mit der wesentlichen Einschränkung, dass der Glaube an Jesus, die vorgeschriebene Interpretationsperspektive ist (20,31). 211 Zur Argumentation für diese Grundsatzentscheidungen vgl. Weyer-Menkhoff, Ethik, 58–60. 209
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Die oben erwähnten vielfältigen Deutungspotentiale des Joh sind im Forschungsdiskurs unbestritten. Der Ethik kam darunter jedoch vielfach nur eine Randposition zu.212 Dies spiegelt sich auch im Diskurs zur ntl. Ethik, in dem dementsprechend die Bedeutung des Joh zumeist hinter den synoptischen Evangelien sowie den paulinischen und katholischen Briefen zurückfällt.213 So spricht Heinz-Dietrich Wendland in seinem einschlägigen Zitat über die Ethik im Joh von dem „Eindruck einer gewaltigen Reduktion ethischer Fragen und Aussagen“214 und Michael Theobald konstatiert in Bezug auf das Joh: „Ein ethisches Interesse an der Gestaltung der Lebensbereiche der Ge-
212 Vgl. zur forschungsgeschichtlichen Übersicht auch K. Weyer-Menkhoffs Ausführungen, welcher auch die nicht publizierten und deshalb kaum rezipierten Dissertationen zur Ethik im Joh von Hans-Joachim Wachs (1952) und Werner Wittenberger (1970) bespricht (Weyer-Menkhoff, Ethik, 7–29). 213 Einige Werke seien hier als Bsp. angeführt: L. Goppelt nimmt in seiner Aufsatzsammlung ‚Christologie und Ethik‘ (1968) das Joh nur sparsam (im Vergleich mit Synoptikern und paulinischen Briefen), eklektisch und fast ausschließlich mit Bezug auf die Christologie auf. J. T. Sanders bietet lediglich neun Seiten mit Ausführungen zu den joh. Schriften in ‚Ethics in the New Testament‘ (1975), die er rund um das Liebesgebot, die Einheit der Kirche und die eschatologische Ausrichtung darlegt. S. Schulzes ‚Neutestamentliche Ethik‘ (1987) spricht zwar von einem „Zurücktreten der sozialethischen Thematik“ (a. a. O, 508), gibt dem Joh aber unter den Evangelien den größten Raum (26 Seiten), wobei es dennoch weit hinter Paulus (142 Seiten ohne Deuteropaulinen) zurückfällt. Auch in E. Lohses Einführungswerk ‚Theologische Ethik des Neuen Testaments‘ (1988) wird das Joh auffallend wenig aufgegriffen; nur auf drei Seiten werden die Belege zum Liebesgebot (Gottes- und Bruderliebe) und zu Jesu Freundschaftszusage als einziger joh. Beitrag ausgeführt. W. Schrage fragt in seiner ‚Ethik des Neuen Testaments‘ (1989), „ob in den Rahmen einer neutestamentlichen Ethik überhaupt ein Kapitel über die johanneischen Schriften hineingehört“ (a. a. O., 302), stellt aber in ihnen zugleich eine besondere Einheit von Dogmatik und Ethik fest (vgl. ebd.) und widmet den joh. Schriften (insgesamt!) immerhin 24 Seiten (a. a. O., 301–324). H. Schürmann reduziert die Erwähnung des Joh in seinen ‚Studien zur neutestamentlichen Ethik‘ (1990) auf lediglich zwei Bemerkungen zu Joh 13,34 (wogegen die synoptischen und paulinischen Schriften breit rezipiert werden). Schließlich findet sich im gesamten Sammelband von R. L. Brawley (Hg.) ‚Character Ethics and the New Testament‘ (2007) lediglich eine Viertelseite zum Friedensgruß Jesu im Joh als einzige Aufnahme des vierten Evangeliums. Für einen guten Überblick über die Forschungslage zur Ethik des NT um die Jahrtausendwende (bis 2009) verschafft die Lektüre von F. W. Horn Forschungsberichten (gegliedert in Überblicke, Zugänge (hermeneutisch, sozialgeschichtlich, atl.), Jesus, biblische Schriften und einzelne ethische Themen): ders., Ethik 1993 I; ders., Ethik 1993 II. Literatur, die sich dezidiert mit joh. Schriften auseinandersetzt, findet sich dort nicht (allerdings auch kein Werk, welches eigens an den Synoptikern arbeitet). Zu den Jahren 1982–1992 vgl. ders., Ethik 1982. 214 Wendland, Ethik, 109. Gleichwohl merkt er an, dass man „auch den johanneischen Typus unbefangen in seiner Eigenart würdigen“ soll (ebd.).
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meinde wird im Buch nirgends greifbar.“215 Umfassend bringt der Aufsatz ‚The Ethics of the Fourth Evangelist‘ von Wayne A. Meeks (1996) diese Position zum Ausdruck, welchen er bezeichnenderweise wie folgt einleitet: „The topic of this essay, suggested by the editors, either poses a question that cannot be answered, or it is an oxymoron.“216 Meeks weist auf, dass im Joh typische moralische Anweisungen Jesu fehlen, bezeichnet die Figuren als ungeeignet, um als Verhaltensmodelle oder für Imitation zu dienen, empfindet die Argumentationen durch Rätsel, Metaphern und Ironie als „antirational“217 und legt die dualistische Heilsperspektive des Evangeliums dahingehend aus, dass deren Prädetermination keinen Raum für moralische Entscheidungen lässt. Ruben Zimmermann bietet einen ausführlichen Überblick über die Forschungslage und subsummiert den Konsens in der titelgebenden Anfrage: „Is there ethics in the Gospel of John?“218 Im Anschluss an Meeks führt Zimmermann weitere mögliche Vorbehalte gegen Ethik im Joh an: Trotz des großen Redeanteils Jesu fehlen klare Handlungsanweisungen oder ein Äquivalent zur mt. Bergpredigt oder lk. Feldrede; auch zu typisch ethischen Themen wie Scheidung, Besitz oder der Einstellung gegenüber der römischen Besatzung äußert sich Jesus nicht.219 Dadurch sticht bei einer oberflächlichen Suche nach Ethik im Joh hervor, was Jesus seinen Jüngern als (einziges) neues Gebot aufträgt: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt“ (13,34a; vgl. 15,12–17). Dieses wurde vielfach als Kern und Inhalt der Ethik des Joh betrachtet.220 Als wesentlicher Anteil der 215
Theobald, Herrenworte, 565. Vgl. die ausführliche Literaturübersicht in R. Zimmermanns Aufsatz ‚Is There Ethics in the Gospel of John?‘ (a. a. O., 44–46). 216 Meeks, Ethics, 317. 217 Meeks, Ethics, 319. 218 Zimmermann, Is there Ethics; vgl. a. a. O., 44–51. Zu Zimmermanns Antwort auf seine Anfrage s. u. Einen ähnlich gelagerten Abriss präsentiert van der Watt, Ethics and Ethos, 147–149. 219 Vgl. Zimmermann, Is There Ethics, 46 f. 220 Vgl. Horn, Ethik III, 1608; Pokorný/Heckel, Einleitung, 572. M. Labahn summiert dementsprechend die ethische Forschung zum Joh seit G. E. Lessing unter der Überschrift: „‚It’s Only Love‘ – Is That All?“ (ders., love, 3–43). Zu Labahns Fazit s. u. M. Pfeiffer konzentriert in seiner ‚Einweisung in das neue Sein‘ (2001) seine ethische Entfaltung des Joh auf das „Bleiben in der Liebe (Joh 15,1–7)“ (a. a. O., 265–313). Insgesamt bietet er in etwa gleichgewichtig Entfaltungen zu synoptischer, joh. und paulinischer Literatur. Zentrale Position nimmt das Liebesgebot auch bei J. G. van der Watt ein (vgl. ders., Redefinition, 115–120). Ein kurzer (rd. 3-seitiger) Abriss der Forschung zum Liebesgebot hinsichtlich joh. Ethik findet sich bei Weyer-Menkhoff, Ethik, 15–18. Eine ausführliche Übersicht zu Publikationen zum Thema ‚Liebe‘ in den joh. Schriften bietet Zimmermann, Is There Ethics, 47 f., Anm. 14. Verwiesen sei auch auf die Monografie S. van Tilborgs, der die narrative Veranschaulichung von Liebe im Joh untersucht (vgl. ders., Love). Markant ist auch der Schnackenburg’sche Begriff einer „Liebesbewegung“, die von Gott ausgehend über Jesus zu den Jüngern (und ihrem Verhältnis untereinander) die Ethik des Joh kennzeichnet (ders., Joh I, 143). Vgl. auch Frey, Love; ders., Traditions.
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Ethik des Joh steht dieses außer Frage, aber eine Verengung ausschließlich auf dieses Gebot greift zu kurz, wie die neuere Forschung aufweist (s. u.). Eine weitere Forschungstendenz, die mit dem wechselseitigen Bezug des Liebesgebots einhergeht, ist die Einschränkung, die im Vergleich mit den Synoptikern auffällt.221 Anstelle von Nächsten- oder gar Feindesliebe222 fordert Jesus im Joh ‚nur‘ Liebe gegenüber anderen Jüngern als Gruppenmitgliedern.223 So wurde die Entstehung des Evangeliums und sein ursprünglicher Gebrauch vielfach in einer sektiererischen, weltfeindlichen Gemeinschaft verortet.224 Die daran anknüpfenden Begriffe für die joh. Ethik, wie „Ernst Käsemann’s dictum, conventicle ethics“,225 implizieren meist eine Abwertung des moralischen Anspruchs oder des ethischen Gehalts des Joh. Die Positionen einzelner Exegeten werden hier nicht nachgezeichnet. Dafür sei auf Michael Labahn verwiesen, der einen guten Überblick über fünf Argumentationslinien in der Zurückhaltung gegenüber joh. Ethik bietet.226 Diese Positionen bringen die Schwierigkeiten zum Ausdruck, eine Ethik227 im Joh aufzuspüren und zu verorten. Um erneut mit Meeks zu schließen: „the Fourth Gospel meets none of our expectations about the way ethics should be constructed.“228 Die Frage, die sich an Meeks’ Statement zwangsläufig anschließt, lautet: Wie meinen ‚wir‘ denn, dass Ethik aufgebaut (constructed) sein muss, und ist dieses Verständnis für narrative Texte angemessen? „Um die Ethik des Jo221 Z. B. schreibt F. W. Horn im Anschluss an seine Ausführungen zur Ethik der Synoptiker über die joh. Schriften: „Das Liebesgebot wird durchgehend auf die Bruderliebe begrenzt“ (ders., Ethik III, 1608). 222 Vgl. Mk 12,28–34 parr.; Mt 5,43 f.; Lk 6,27–35. 223 Dagegen sieht H. Weder in Jesu Liebesgebot im Joh eine zurückhaltende Zuwendung zur Welt und merkt an, dass gerade die Liebe zu den ‚Geschwistern‘ (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) wegen der Nähe zu ihnen z. T. besonders schwer sein kann, dass diese Nähe konkrete Umsetzungen der Liebe fordert, der sich eine allgemeine Liebe aller eher entziehen kann, und dass gruppeninterne Liebe als Voraussetzung für Liebesdienste über die Gruppe hinaus verstanden werden kann (vgl. ders., Gebot, 203 f.). 224 „This criticism, that John views the world with sectarian hostility, is so common that it bears some further examination“, stellt R. A. Burridgein seiner Untersuchung ethischer Themen im Joh fest (ders., Imitating, 332). W. Schrage erkennt in der „kritische[n] Distanz zur Welt“ einen „durchgehende[n] Grundzug der johanneischen Ethik“ (ders., Ethik, 312). 225 Zimmermann, Is There Ethics, 48. Auch W. Schrage spricht hinsichtlich Jesu Gebots zur Liebe untereinander (13,34 f.; 15,12.17) von „partikularistische[r] Konventikelethik“ (ders., Ethik, 322). 226 Vgl. Labahn, Love, 11–16. 227 Allerdings geht M. Labahn von einem prinzipienethischen Ansatz aus. 228 Meeks, Ethics, 320. Angemerkt sei hier noch die negative Einstellung gegenüber einer Ethik auf Grundlage des Joh, welche Meeks mit vielen Interpreten teilt. So zeichnet J. T. Sanders ein sehr negatives und grausames Bild von joh. Christen, die einen Verblutenden nur nach seinem Glauben und Seelenheil fragen und auf ewiges Leben vertrösten, anstatt ihm zu helfen (vgl. ders., Ethics, 100).
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hannes zu erfassen, darf man […] nicht zu kurz schließen“, warnte bereits 1989 Willi Marxsen229 und Richard A. Burridge resümiert: „[M]any people seem to think that John has no moral teachings and little relevance for Christian ethics today. However, studying John at a little more depth has shown quite the opposite to be the case.“230 Diesen Impuls aufnehmend wird obiger Frage mit dem Konzept narrativer Ethik (s. o.) begegnet. Für die Frage nach narratologischen Zugängen zum Joh sei hier dafür knapp historisch zurückgeblickt. Seit den 1970er Jahren entfaltete der linguistic turn, die Wende zur Sprache und Sprachlichkeit, auch in der Johannesforschung seine Wirkung. Die Dominanz literarkritischer Methoden ging in der Folge in einem pluralen Forschungsspektrum231 auf, in dem historisch-kritische, narratologische und rezeptionsästhetische Ansätze in unüberschaubarer Fülle neben- und miteinander diskutiert werden. Ein Überblick über die Veröffentlichungen, die diese Pluralität generiert, würde hier den Rahmen sprengen – als kleine Orientierung sei lediglich auf die Kommentar-Literatur verwiesen.232 Selbst ein 229
Marxsen, Ethik, 248. Burridge, Imitating, 346. Burridge sieht den Kern des ethischen Gehalts des Joh in einer mimetischen Lesart, die den Lesern aufträgt, „Jesus’ self-sacrificial example of the divine love“ zu folgen (a. a. O., 307; vgl. 330, 346). Für eine Zusammenfassung und Kritik an Burridge vgl. Weyer-Menkhoff, 26–29. Zur begrifflichen Differenzierung von Moral und Ethik (sowie ‚moral‘ und ‚ethics‘) vgl. 1.3. 231 Vgl. Frey, Eschatologie I, 392–395. H. W. Attridge bezeichnet diesen Vielklang weniger wertschätzend als „cacophony of competing voices“ (ders., Genre, 6). 232 Hier seien exemplarisch einige Kommentare verortet. Die Kurztitel in Klammern verweisen auf das Literaturverzeichnis. Die Jahreszahlen markieren stets die Erstveröffentlichung, während im Literaturverzeichnis die aktuellste bzw. verwendete Auflage datiert ist. (Zur Kritik an der hier aufgegriffenen Terminologie von Synchronie und Diachronie vgl. Finnern, Narratologie, 11 f.) Im deutschsprachigen Raum fokussieren folgende Autoren einen – vielfach maßgeblich durch R. Bultmann (Evangelium, 1941) geprägten – literarkritischen Ansatz, dessen (z. T. primäres) Ziel die Aufdeckung der Quellen- und Bearbeitungsschichten und z. T. die Rekonstruktion des ‚ursprünglichen‘ Joh ist: Schnackenburg (Joh I/II/III/IV, 1965/71/75/84), Becker (Evangelium 1/2, 1979/81), Haenchen (Joh, 1980), Dietzfelbinger (Evangelium 1/2, 2001), Siegert (Evangelium, 2008) und Theobald (Evangelium, 2009 – wobei Theobald das Joh auch als ‚dramatisch Erzählung‘ versteht und dies eingangs auf immerhin 15 Seiten entfaltet). Im englisch-sprachigen Raum geht der eindrückliche Kommentar von Brown (Gospel I/II, 1966/70) einen ähnlichen Weg. Mit seinem RelectureModell versucht Zumstein (Erinnerung, 1999) syn- und diachrone Methoden in Dialog zu bringen (eine Kommentierung des gesamten Joh gemäß seines Ansatzes steht aber noch aus). An einer solchen Zusammenführung sind auch Schnelle (Evangelium, 1998), Wilckens (Evangelium, 1998: Vertauschungshypothese, aber keine Quellenrekonstruktion oder Relecture) und begrenzt Wengst (Joh 1/2, 2000/01) interessiert, wobei stets ein dezidiert historisches Interesse dominiert. Busse (Joh, 2002) lehnt eine literarkritische Untersuchung ab, arbeitet aber v. a. mit historischen Bezügen. Auch der englischsprachige Kom230
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Teil I: Einleitung
Forschungsüberblick über die gesamte Literatur, die sich dem Joh narratologisch nähert, muss ausbleiben.233 Stattdessen sei der Radius – entsprechend des hier gewählten Zugangs – noch enger gezogen. Innerhalb des narratologischen Diskurses in der Johannesforschung geraten gegenwärtig verstärkt die Figuren in den Blick.234 Die Methodik der Figurenanalyse in der biblischen Exegese kann dabei auf die Diskussion innerhalb der Literaturwissenschaft zurückgreifen.235 So greift Alan Culpepper u. a. William John Harvey und mentar von Stibbe (John, 1993 – wenngleich sein historisches Anliegen (vgl. a. a. O., 18 f.) nur wenig durchschlägt) nimmt eine Zwischenposition ein. Schenke (Johannes, 1998), Thyen (Joh, 2005) und van Tilborg (Joh, 2005) forcieren dagegen einen synchronen (narratologischen oder rezeptionsästhetischen) Ansatz und messen Einleitungsfragen kaum Gewicht bei. Im englisch-sprachigen Raum seien hier Moloney (Gospel, 1998), Brodie (Gospel, 1993; dagegen an historischer Genese des Joh interessiert: ders., Quest, 1993), Neyrey (Gospel, 2007), Michaels (Gospel, 2010) und Bruner (Gospel, 2012) genannt. (Wenngleich folgendes Werk kein Kommentar ist, sei hier auch noch Berger (Anfang, 1997) erwähnt, der nicht nur für die Einheitlichkeit des Joh plädiert, sondern es auch als Primärbericht (Entstehung vor 70 n. Chr.) versteht.) U. Schnelle bietet einen Überblick über den Paradigmenwechsel von literarkritischer Prämisse hin zu einem vielgestalteten heterogenen Auslegungstableau sowie über eine Vielzahl der genannten Kommentare (vgl. ders., Literatur; vgl. auch ders., Einleitung, 589–594). Knapper ordnet J. Frey eine weitaus größere Fülle an Kommentaren und anderen exegetischen Arbeiten ein (vgl. ders., Wege, 28–31) und kritisiert vier verschiedene Prämissen, die diesen Werken z. T. zu Grunde liegen (vgl. a. a. O., 32–37). 233 Einen Abriss der Autoren im englischsprachigen Raum bis 1988, die die „dramatic qualities“ und „literary features“ des Joh fokussieren, bietet M. W. G. Stibbe (ders., Storyteller, 9). Einen Überblick über die Entwicklung ab 1983 und grundlegende Aspekte einer narratologischen Analyse zeichnet T. Thatcher nach: ders., Anatomies. Vgl. Staley, Passion, 5–16. Exemplarisch seien die Sammelbände von M. W. G. Stibbe (ders. (Hg.), The Gospel), von J. Frey und U. Poplutz (dies. (Hgg.), Narrativität) sowie von T. Thatcher und S. D. Moore (dies. (Hgg.), Anatomies) genannt. Ersterer weist als Sammlung von Aufsätzen aus dem 20. Jh. bereits 1993 die Tradition literarischer Zugänge zum Joh auf. Letzter versteht sich in der Forschungslinie von R. A. Culpeppers ‚Anatomy oft he Fourth Gospel‘ und Thatchers oben angeführter Artikel stellt die Einleitung zu diesem dar. 234 Vgl. Beirne, Women (2003); Bennema, Encountering (2009; 22014); Conway, Men (1999); Dschulnigg, Jesus (2002); Farelly, Disciples (2010); Hartenstein, Charakterisierung (2007); Nicklas, Ablösung (2001) und kürzlich in den Sammelbänden Skinner (Hg.), Characters and characterization in the Gospel of John (2013) sowie Hunt/Tolmie/Zimmermann (Hgg.), Character Studies in the Fourth Gospel (2013). Vgl. auch Metzner, Prominenten, 299–339. Letztgenannte Monografie untersucht alle Figuren des öffentlichen Lebens im NT und beschränkt sich damit im Joh auf Nikodemus, die Mitgliedes der Hohen Rats, Pilatus, Barabbas, den Kaiser und Josef von Arimathäa. Verwiesen sei hier auch auf den Überblick, den C. Bennema bietet (vgl. ders., Theory in NT, 11–19). Er stellt die theoriegeleiteten Zugänge zu joh. Figuren von achtzehn Autoren knapp dar (und benennt eingangs zahlreiche weitere Arbeiten zu joh. Figuren ohne Diskussion oder Aufgriff des Diskurses zur Figurentheorie). 235 Eine ausführliche Anbindung der biblischen Exegese an die narratologische Forschung bietet S. Finnern. Figurenanalyse ist bei ihm jedoch nur einer von fünf Bereichen
2 Ethik im Johannesevangelium
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Robert E. Scholes auf, D. François Tolmie auf Seymour Chatman zurück und Cornelis Bennema auf Yosef Ewen.236 Für die Ethik im Joh ermöglicht das weite Forschungsspektrum eine größere Offenheit für nicht-prinzipienethische und an Formen wie Mahnsprüche, Tugendkataloge oder Antithesen gebundene Zugänge. Michael Labahn ist der Erste, der 2003 (mit einem deutlichen Figurenbezug) den Begriff ‚narrative Ethik‘ auf das Joh anwendet.237 Sein figurenanalytischer Zugang zur narrativen Ethik des Joh beschränkt sich im Wesentlichen darauf, „das Identifikationspotential der offenen Figur des Blindgeborenen“ für Leser zu entfalten.238 In jüngster Zeit ist das Joh verstärkt auch im Hinblick auf seinen ethischen Gehalt in das Forschungsinteresse gerückt, wie u. a. der Sammelband „Rethinking the Ethics of John“ und Dissertationen wie „Die Ethik des Johannesevangeliums im sprachlichen Feld des Handelns“ zeigen.239 Ein verstärktes Interesse an Ethik ist nicht ganz zufällig, dringt doch mit dem ethical turn momentan das Bewusstsein für moralische und ethische Fragen in vielen Wissenschaften verstärkt in den Vordergrund.240 und er bezieht sich in seiner exemplarischen Anwendung nicht auf das Joh, sondern auf Mt 28 (vgl. ders., Narratologie). Vgl. dazu ausführlicher Teil II – Methodologie. 236 Culpepper, Anatomy: Harvey, Character; Scholes/Kellogg, Nature. Tolmie, Farewell; ders., Narratology: Chatman, Story. Bennema, Theory; ders., Encountering: Rimmon-Kenan, Fiction. Yosef Ewans Ansatz findet sich bei S. Rimmon-Kenan aus dem Hebräischen überliefert (vgl. dies., Fiction, 41 f.; zu Bennemas Ansatz: ders., Theory, 392, 402–410). Die drei exemplarisch angeführten Autoren nehmen alle über die genannten Literaturwissenschaftler hinaus einen breiteren Diskurs auf. Die genannten erscheinen bei Culpepper, Tolmie und Bennema nur besonders prägnant bzw. ausführlich rezipiert. 237 Vgl. Labahn, Weg. 238 Labahn, Weg, 78. Labahns nicht methodisch geleitete, wenngleich feinsinnige Lesart von Joh 9 wertet den Abschnitt als „Beispiel ethisch-sozialer Verantwortung“ aus (a. a. O., 78). Anstelle von einer joh. Weltabwendung sieht er Leser zu einem „kritischen […] Dialog mit gesellschaftlichen Strömungen und staatlichen Vorgaben“ aufgefordert (a. a. O., 80). 239 Van der Watt/Zimmermann, Rethinking (2012); Weyer-Menkhoff, Ethik (2014). R. Zimmermann hat sich im Diskurs um Ethik im Joh besonders profiliert. Bereits in seiner Habilitationsschrift (2004) wertet er die christologischen Bilder in Joh 10 in einer „ekklesiologisch-ethische[n] Dimension“ aus, in der Christus als Vorbild erscheint (ders., Christologie, 438–442). In seinem hier bereits mehrfach zitierten Einführungsartikel des oben erwähnten Sammelbandes argumentiert er auf vier Ebenen gegen Vorbehalte gegenüber Ethik im Joh: phänomenologisch, methodologisch, formkritisch und traditionshistorisch (ders., Is There Ethics, 51–79). R. Hirsch-Luipold verweist auf die auffallende Häufung von „imperativischen Sprachformen im Joh als Indiz für dessen ethisches Interesse und begründet eine „prinzipiell-theologische Ethik“ (vgl. ders., Ethik, 293–307). Seine leicht missverständliche Benennung, die K. Weyer-Menkhoff zu Recht kritisiert (ders., Ethik, 22), knüpft dabei nicht an eine Prinzipienethik an, sondern versteht die Anbindung jeglicher Ethik an Jesus Christus als prinzipiell im Sinne von fundamental. 240 Vgl. die Einführung von Teil I.
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Teil I: Einleitung
Der Diskurs zur Ethik im Joh bringt nicht nur eine neue Einschätzung des Joh mit sich, sondern geht mit einer Erweiterung des Verständnisses von Ethik – und was darunter im NT verstanden wird – einher. So lassen sich die verschiedenen Zugänge des Zimmermann’schen Modells der „Implicit Ethics“241 auch auf das Joh anwenden. Im Kontext dieser Arbeit werden u. a. Normen und Werte als Handlungsbegründungen (Kategorie 2), Wertehierarchien (Kategorie 4) und Übereinstimmung mit dem oder Durchbrechen des gelebten Ethos (Kategorie 7) aufgegriffen. Metaphorische, narrative, mimetische und doxologische Ethik242 z. B. ermöglichen einen Perspektivwechsel für die ethische Diskussion im Neuen Testament: von der Suche nach klaren Handlungsanweisungen und Verhaltensargumentationen hin zu einer Befähigung des Subjekts zum verantwortlichen Handeln in konkreten Lebensbezügen. So sieht Karl Weyer-Menkhoff in seinem Fazit gerade darin das Profil der Ethik des Joh, dass „nirgends Einzelanweisungen vom Nachdenken über das Handeln entbinden.“243 Bei einer Untersuchung der Ethik des Joh ist also kein geschlossenes System von Verhaltensregeln zu erwarten, sondern Reflexionsanregung sowie Fundament und Abgrenzung eines weiten Raumes von Handlungsmöglichkeiten, in denen der Leser zu Selbstverortung aufgefordert ist. In diesem Sinne macht Ruben Zimmermann (nach den oben skizzierten möglichen Einwänden gegen Ethik im Joh) das Rätselhafte und Uneindeutige des Joh für dessen Ethik stark und resümiert: „Thus, at the first glance, there is a lack of concrete ethical advice in John. Looking closer, however, John enables different readers in various situations to act concretely.“244 Nach einem Perspektivwechsel zu u. a. narrativer Ethik, wie auch diese Arbeit ihn vollzieht, kann das Joh z. B. als Reflexion auf griechische oder hebräische Wertesysteme verstanden oder können joh. Figuren als Handlungsmodelle gelesen werden.245 Für die Befähigung zum verantwortungsvol241
Vgl. Kap. 1.3. Diese Begriffe gaben als Titel der zweiten Themenreihe der ‚Mainz Moral Meetings‘ neue Impulse für die ethische Diskussion im Kontext der ntl. Forschung und des frühen Christentums (Datum der Tagungen: 17.01.2012; 26.06.2012; 23.01.2013; 12.11.2013). 243 Weyer-Menkhoff, Ethik, 261. 244 Zimmermann, Is There Ethics, 79. 245 Z. B. liest C. Bennema das Joh als Reflexion auf die vier Kardinalstugenden nach Platon (Klugheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit) (Bennema, Virtue); ob eine solche Lesart historisch angemessen ist, sei hier nicht beurteilt; hingewiesen sei aber auf die „sprachliche und sachliche Distanz“ zwischen antiker Tugendethik und dem „frühen Christentum“, die F. W. Horn (mit dezidiertem Paulusbezug) anhand des Ziels der Glückseligkeit deutlich macht (ders., Kardinaltugenden, 363). J. J. Kanagaraj präsentiert ausgehend vom Begriff (z. T. etwas gewollt) eine narrative Entfaltung jedes einzelnen Gebots des Dekalogs im Joh (ders., Ethics). J. G. van der Watt weist ausgehend von seiner bereits erwähnten (vgl. 1.3) Differenzierung von Ethik und Ethos ein Wertesystem im Joh auf, welches auf Akzeptanz und Neuinterpretation des jüdischen Gesetzes beruht (ders., Ethics and Ethos, 152–158). In einer zweiten Publikation wählt er die joh. Sprachformen 242
2 Ethik im Johannesevangelium
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len Handeln des Lesers als ethisches Subjekt ist auch für heutige Leser die Frage nach dem ethischen Gehalt der joh. Figuren zu stellen. Dieser Weg wurde bislang noch nicht beschritten. Selbst die Analyse Peter Dschulniggs bleibt – auch in seiner Frage nach Leseridentifikation – überwiegend historisch orientiert.246 In dieser Arbeit stehen die Figuren im Mittelpunkt der ethischen Untersuchung, da sie für narrative Ethik als besonders wirksame Größe einer Erzählung erscheinen. Wenn Meeks in diesen zwar negative und positive Rollen verkörpert sieht, sie aber durch ihre spezifische Situationsgebundenheit als Vorbilder für Leser ausschließt,247 geht ihm gerade die Stärke einer narrativen Ethik verloren. Welchen Figurenbestand das Joh zur Verfügung stellt, wird (inklusive einer kurzen Systematisierung) im direkten Anschluss dargestellt. Ferner wird dort auch die Wahl der Beispielfiguren, die für den Fokus dieser Arbeit gewählt wurden, begründet.
als Ausgangspunkt. Durch einzelne Lexeme, durch Stilmittel (wie Ironie oder sprachliche Bilder), Figurencharakterisierungen u. v. m. sieht er semantische Felder erstellt, die verschiedene Verhaltensweisen reflektieren und in der Kommunikation zwischen Leser und Text ethische Relevanz bekommen (vgl. ders., Ethics through, 148–167). Indem van der Watt „the decision for Christ“ zur „basic ethical action“ (und nicht nur zur Einstellung mit ethischer Relevanz) macht (a. a. O., 167), strapaziert er jedoch seine eigene Definition von Ethik. Eine komprimiert Wiedergabe von van der Watts Aufsätzen nimmt K. WeyerMenkhoff vor (ders., Ethik, 19–21). R. Zimmermann stellt Jesus im Joh als „Role Model“ vor (ders., Is There Ethics, 70–74). Verwiesen sei auch auf J. Bolyki, welcher bereits 2003 das Joh im Kontext antiker Dramen liest und die Konflikte zwischen jüdischen Autoritäten und Jesus als ethische Konflikte auswertet (ders., Ethics). Ist sein Ansatz zunächst historisch ausgerichtet, sieht er doch ein ethisch signifikantes Wirkungspotential in der Bereitstellung von „[e]thical archetypes“ anhand der eindrücklichen Figuren wie „Judas the betrayer“ oder „the waving Pilate“, die sich in der europäischen Kultur niedergeschlagen haben (a. a. O., 208). Wenn R. Hirsch-Liupold von „Schwierigkeiten“ einer „implizit-narrative[n] Ethik“ im Joh spricht (ders., Ethik, 290), ist dies wohl darin begründet, dass er diese auf „das vorbildliche Handeln des Protagonisten“ (ebd.) reduziert. Er macht als Gegensatz die ethischen Begründungszusammenhänge im Joh stark (vgl. a. a. O., 291–293), welche allerdings auch narrativ entfaltet werden, sodass diese in eine narrative Ethik implementiert werden können. Insgesamt sei an dieser Stelle vermerkt, dass implizite Ethik nicht unumstritten und mit dem Vorwurf konfrontiert ist, Ethik in die Texte ‚hineinzulesen‘. Terminologisch wird dies insofern aufgenommen, als der Text nicht nur auf ‚seinen ethischen Gehalt‘, sondern auch auf ‚ethische Impulse‘ und ‚Anknüpfungspunkte für ethische Reflexion‘ untersucht wird. Gerade die Wirkmächtigkeit von biblischen Texten wird in dieser Arbeit als Stärke angesehen. Prinzipiell ist die Unterscheidung von ‚Hinein- und Herauslesen‘ m. E. vom Urteil der Lesenden abhängig und eine Beantwortung der Frage nach ‚objektiven Kriterien‘ einer solchen Grenzziehung steht noch aus (vgl. dazu auch Teil VII – Fazit: Kap. 3). 246 Vgl. Dschulnigg, Jesus, 320–327. 247 Vgl. Meeks, Ethics, 318.
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Teil I: Einleitung
Mit der Konzentration auf Figuren ist eine Schwierigkeit in Kauf genommen. Im Gegensatz zur Handlungsfolge sind Figuren weniger greifbar.248 Sie entziehen sich der Festlegung viel stärker als linear angeordnete Ereignisse. Um dennoch methodisch abgesichert und nachvollziehbar vom Textbestand auf die Figuren und ihre ethischen Impulse zu schließen, folgt eine theoretische Grundlegung von dem, was eine Figur ist.
3 Figurenanalyse – Grundbegriffe und Vorbemerkungen 3 Figurenanalyse – Grundbegriffe und Vorbemerkungen
Im Zentrum dieser Arbeit steht die ethische Figurenanalyse, exemplarisch vollzogen an vier Figuren des Joh. Doch was ist eine Figur in der Narratologie?249 Der Begriff Figur250 stammt vom lateinischen ‚figura‘ (Gebilde, Erscheinung, Gestalt) ab und wird in den verschiedensten Kontexten verwendet: als Bewegungs- oder Tonfolge, als Spielstein oder Körperbau, in der Geometrie oder der Rhetorik. In der Narratologie sind Figuren die Handlungsträger der Erzählung und durch die Möglichkeit zum intentionalen Handeln bestimmt. Dieses Kapitel umreißt die theoretischen Grundlagen einer Figurenanalyse und kann gewissermaßen als Vorbemerkung zur Methodologie (Teil II) verstanden werden. Dabei wird der Diskurs um Figurendefinitionen nicht ausführlich dargestellt, da der Entwurf einer Methode und ihre praktische Anwendung am Bibeltext und nicht etwa eine Theoriebildung das Ziel dieser Arbeit ist. 3.1 Was ist eine Figur? Drei Konzepte im Überblick Grundlegend können drei verschiedene Konzepte unterschieden werden.251 Zum einen ist eine Figur ein Artefakt, welches in einer Kulturgemeinschaft existiert. Unter einer zweiten Perspektive ist eine Figur ein uneigtliches Individuum. Schließlich kann eine Figur als mentales Konstrukt in der Vorstellung des Lesers verstanden werden. Ausgeklammert und abgelehnt sind dabei bereits alle Ansätze, die Figuren lediglich als Textstrukturen betrachten, was suggeriert, dass diese leserunabhängig bestünden und objektiv aus dem Text 248
Vgl. Abbott, Introduction, 132. Vgl. dazu grundlegend Jannidis, Figur, 151–195. M. Bal bezeichnet Figuren als „intuitively the most crucial category of narrative, and also the most subject to projection and fallacies“ (dies., Narratology, 115). Sie legt besonderen Wert auf die Ähnlichkeit und zugleich Differenz zwischen Figuren und realen Personen: „Characters resemble people“ (ebd.; vgl. a. a. O., 114–132). 250 In der englisch-sprachigen Literatur wird meist der Ausdruck ‚character‘ verwendet. 251 Einen Überblick über die Forschung zur Figur in der Literaturwissenschaft mit Nennung zahlreicher Vertreter bietet J. Eder (vgl. ders., Figur, 45–60). Zu aktuellen (z. T. disparaten) Forschungspositionen vgl. a. a. O., 57 f. 249
3 Figurenanalyse – Grundbegriffe und Vorbemerkungen
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herausgearbeitet werden könnten.252 Die drei Konzepte sind nicht nur zentral für den Diskurs über Figuren, sondern bilden auch den Bezugsrahmen für diese Arbeit, wenngleich ein Konzept das Analysevorgehen dominiert. Entsprechend werden in den folgenden drei Absätzen die Konzepte in obiger Reihenfolge vorgestellt und zueinander ins Verhältnis gesetzt. Die Figur als Artefakt ‚lebt‘ in den Gedanken der einzelnen Personen der Kulturgemeinschaft und in ihren Diskursen. Insofern ist sie intersubjektiv vermittelbar, dynamisch und schwer begrenzbar. Ihren Eingang findet eine Figur als Artefakt über einen Text, mit dessen Rezeption ihr ‚Eigenleben‘ beginnt und die Deutungshoheit des Autors endet. Dabei ist die Kenntnis des Textes, dem eine Figur ihren Eingang in den Diskurs verdankt, nicht prinzipiell notwendig für den Einzelnen, um an dem Diskurs über die entsprechende Figur teilzunehmen. So ist im westlichen, christlich geprägten Diskurs ‚Judas‘ meisthin ein Synonym für ‚Verräter‘ – eine Kenntnis der kanonischen Evangelien ist nicht notwendig, um diese synonyme Verwendung zu verstehen. Nach diesem Verständnis ist die Figur also ein Artefakt im gesellschaftlichen Diskurs – oder besser: in verschiedenen gesellschaftlichen Diskursen, was gegenüber Jens Eders Terminologie (s. u.) abzugrenzen ist. Nicht ausgeschlossen ist in diesem Figurenkonzept, dass die Vorstellungen von einer konkreten Figur in den verschiedenen Vorstellungen und Diskursen variieren. Inwiefern der minimale Konsens (Schnittmenge) als Figur festgelegt werden sollte oder die Figur in sich alle existierenden (z. T. auch widersprüchlichen) Eigenschaften in sich vereint (Vereinigungsmenge), ist umstritten.253 Die Definition einer Figur als uneigentliches Individuum (oder als fiktives Wesen254) ist im Gegensatz zum Artefakt an eine konkrete Erzählung (als schriftlicher Text, als Film, als Theaterstück o. ä.) gebunden und wird nicht quellenungebunden verhandelt. Dieses Konzept trägt der Wirkung von Erzählungen auf ihre Leser Rechnung. Leser (und Hörer) nehmen Anteil an dem Erleben der Figuren und nehmen diese als Gegenüber wahr. Sie tauchen in die Erzählung – die Erzählte Welt – ein. Unter Erzählte Welt wird die Welt verstanden, die ein Erzähler in seiner Erzählung kreiert. Orte, Zeiten, Ereignisse, physikalische Gesetzmäßigkeiten, Figuren – all das sind Teile der Erzählten Welt, die mit denen der realen Welt übereinstimmen können, aber nicht müssen. Die Nähe oder Diskrepanz der Erzählten Welten biblischer Texte, insbesondere des Joh, zur realen Welt wird hier nicht diskutiert.255 In 252 Exemplarisch kann hier Joel Weinheimser als Vertreter genannt werden (vgl. Jannidis, Figur, 166–169). Den Gegensatz zwischen den Extrempositionen in der Figurenforschung skizziert S. Rimmon-Kenan unter der prägnanten Überschrift „People or words?“ (dies., Fiction, 31–34). 253 Zur Figur als Artefakt vgl. Margolin, Character, 67–70. 254 Vgl. J. Eders Modell der ‚Uhr der Figur‘ (3.2). 255 Vgl. dazu auch Ricœur, Zeit III, 253–293. Ricœur verwendet allerdings den Ausdruck ‚Welt des Textes‘. Dass innerhalb dieser Erzählten Welt Ethik entfaltet wird und
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Teil I: Einleitung
der Erzählten Welt sind die Figuren die eigentlichen Personen oder Individuen. Sofern und solange sich ein Leser auf die Erzählte Welt einlässt, sind die Figuren darin real. Gelingt es einer Erzählung, ihre Leser ‚in sie hineinzuziehen‘, endet die Faszination nicht mit dem Leseprozess.256 In Gedanken und Gesprächen werden Figurenaussehen und -eigenschaften, Verhalten und Werte der Figur, ihre Entscheidungen und Meinungen weiter reflektiert und diskutiert – als wären sie reale Personen. (Dieses Konzept entspricht damit dem intuitiven Verständnis, auf dessen Grundlage meist über Erzählungen im Alltag (z. B. nach dem gemeinsamen Gucken eines Films) gesprochen wird.) In dem Bewusstsein der (zumindest gegenwärtig) realen Nichtexistenz sind Figuren als uneigentliche Individuen zu bezeichnen. Trotz ihrer Bindung an die jeweilige Erzählte Welt lassen sich Figuren intertextuell – in der Zusammenschau mehrerer Texte (vgl. Methodologie 1.6.4) – als erzählungsübergreifend konsistent erkennen, sofern diese über ihren Namen hinaus auch in ihrer Darstellung übereinstimmen und erkennbar die gleiche Figur gemeint ist.257 Hier liegt der Übergang zum obigen Konzept der Figur als Artefakt. Nach diesen beiden Konzepten, die jeder aus seiner Alltagserfahrung kennt, folgt als drittes eine reflektiertere Wahrnehmung. Die dritte Perspektive versteht Figuren als mentales Konstrukt (‚mentales Modell‘) in der Vorstellung des Lesers.258 Das bedeutet, dass jeder Leser im Prozess des Lesens auf der textlichen Basis mentale Modelle erstellt, welche die Namen der Figuren tragen. Hier rückt also der Leseprozess in den Fokus des Interesses. Lesen wird als komplexes Geschehen verstanden, bei dem der Leser (gedruckte oder handgeschriebene) Wörter in Vorstellungen transformiert – und aus Buchstaben Figuren generiert. Die Komplexität wird noch dadurch gesteigert, dass beim Lesen Zeit verstreicht.259 Somit kreiert ein Leser eine Figur nicht ‚auf einen Schlag‘, sondern muss Textinformationen über eine Figur, die er im aktuellen Lesen aufnimmt, mit dem Bild seiner Erinnerung zusammenfügen. Dabei fließen Genrebedingungen und Weltwissen (das Wissen, das ein Leser – sowie jeder Mensch auch außerhalb des Leseprozesses – durch einen Zugang über Figuren erkundet werden kann, macht schon M. E. Mills deutlich: „Thus characterisation offers a method of exploration of moral meaning using the symbolic universe of the text as a setting for human beings and their choices, the consequences of those choices and moral commentary“ (dies., Morality, 25). 256 Diese Möglichkeit, Erzählungen mitzuerleben und als Leser die Erzählte Welt als real wahrzunehmen, ist durch verschiedene u. a. sprachliche Faktoren bedingt, die unter dem Schlagwort ‚Realitätseffekt‘ zusammengefasst werden (vgl. Finnern, Narratologie, 197 f.). T. Nicklas attestiert genau diese Wirkung des ‚In- die-Erzählte-Welt-Hineinziehens‘ dem Joh (vgl. ders., Verstrickung, 409). Vgl. auch Frey, Drewermann, 249. 257 Zur Figur als uneigentliches Individuum vgl. Margolin, Character, 70–76. 258 Vgl. zum Konzept der Figur als ‚mentales Model‘ Jannidis, Figur, 177–185. 259 Die Wahrnehmung von Lesen als Zeit-Erfahrung ist auch in P. Ricœurs Hauptwerk zentral (vgl. ders., Zeit).
3 Figurenanalyse – Grundbegriffe und Vorbemerkungen
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über seine Welt hat) in die Vorstellung von der Figur ein. So verfügen die menschlichen joh. Figuren alle übereinstimmend über einen menschlichen Körper, der anatomisch festgelegt ist (zwei Beine, zwei Füße, Fähigkeit zu laufen260 etc.). Die Existenz von Gott als nicht-menschliche Figur mit Allwissenheit, Allmacht etc. ist genrebedingt vorgegeben.261 Dieses dritte Konzept reflektiert also, wie eine (intuitive) Vorstellung von einer Figur (als uneigentliches Individuum) entsteht, und berücksichtigt, dass diese Vorstellungen stets subjektiv verschieden sind. (Wird diese Reflektionsebene des dritten Konzepts auf das erste (Figur als Artefakt) angewendet, ist dort zu fragen, auf welcher Grundlage (welche Erzählungen und Informationen) die Teilnehmer eines Diskurses ihre Figurenvorstellungen entwickelt haben.) Das dritte Konzept hebt sich also insbesondere von den vorigen dadurch ab, dass es das, was vermeintlich selbstverständlich gegeben ist und intuitiv wahrgenommen wird, als subjektiv gebunden entlarvt und nach dem Übergang von Figurendarstellungen zu Figurenvorstellungen fragt. 3.2 Die ‚Uhr der Figur‘ – ein heuristisches Modell zur Figurenanalyse Im Anschluss an die drei vorgestellten, gängigen Konzepte sei noch das Modell der „Uhr der Figur“ skizziert.262 Der Literatur-, Kommunikations- und Medienwissenschaftler Jens Eder (*1969) hat mit der umfassenden Ausarbeitung seiner Dissertation zur Monografie ‚Die Figur im Film‘ das umfassendste Konzept einer Figurenanalyse vorgelegt. Sein filmwissenschaftlicher Ausgangspunkt verhindert eine direkte Übertragung auf Literatur zwar partiell, dies wird aber durch eine breite interdisziplinäre Vernetztheit und weite medienungebundene Anteile gewissermaßen aufgefangen. Eders durchaus anregendes, wenngleich vielfach redundantes, Werk kann hier nicht ausführlich besprochen und angemessen gewürdigt werden. Im Folgenden wird sein Modell von dem, was eine Figur ist und wie ihre Rezeption und Analyse konzipiert werden kann, nachgezeichnet. 260
So wird die für alle Figuren selbstverständliche Fähigkeit zu Laufen für den Gelähmten in 5,5 durch den Begriff ausgeklammert und Jesu Heilung stellt die Konsistenz mit dem Weltwissen wieder her. 261 Narratologisch betrachtet kann Gott ebenso als Figur untersucht werden wie die menschlichen Figuren. Die Rede von ‚Gott als Figur‘ setzte in der biblischen Figurenanalyse verzögert ein und fehlt deshalb in vielen summarischen Figurenanalysen (z. B. Bennema, Encountering; Dschulnigg, Jesus; Hunt/Tolmie/Zimmermann (Hgg.), Character). In Skinners Sammelband unternimmt jedoch S. Harstine eine Charakterisierung von ‚Gott‘ im Joh (vgl. ders., Gospel’s). Als Beispiel für den gegenwärtig geführten Diskurs sei ferner auf die Dissertation von A. Freedman (dies., God), den für 2014 angekündigten Sammelband ‚Gott als Figur‘ (Eisen, Ute/Müllner, Ilse (Hgg.), HBS, Freiburg) und die dafür grundlegende Tagung der Universitäten Gießen und Kassel unter der gleich lautenden Überschrift (25.-27.04.2013) verwiesen. 262 Zur Begriffseinführung und zum Modell siehe Eder, Figur, 131–161, 710–728.
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Teil I: Einleitung
Eder weist ausdrücklich darauf hin, dass Figurenwahrnehmung kein eindimensionaler, überindividuell identischer Vorgang ist und dass Figuren nicht objektiv vorliegen, sondern sich angeeignet werden.263 Er macht die Figurenkonzepte, die sich in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen finden, vom jeweiligen Rezeptionsinteresse abhängig und definiert: „Eine Figur ist ein wiedererkennbares fiktives Wesen mit einem Innenleben – genauer: mit der Fähigkeit zu mentaler Intentionalität.“264 Dabei legt Eder Wert darauf, ‚Figuren‘ von ‚Figurendarstellungen‘ und ‚Figurenvorstellungen‘ abzugrenzen, sodass für ihn die Kommunikationsprozesse (in Produktion, Rezeption und Diskussion) von zentraler Bedeutung sind.265 Dies schlägt sich in seinem Rezeptionsmodell nieder, welches nun vorgestellt wird und sich in Abb. 4 dargestellt findet.266 Wenn im Folgenden Beispiele unter Verwendung narratologischer Fachtermini gegeben werden, sei prinzipiell auf den ‚Teil II – Methodologie‘ in dieser Arbeit verwiesen. Es wurden aber nach Möglichkeit intuitiv verständliche Begriffe gewählt. Analyse kommunikativer Ursachen und Wirkungen sowie soziokultureller Kontexte
Analyse der Gestaltung
Symptom Produktionsbedingungen und Rezeptionswirkungen
Artefakt2 Ästhetisches Objekt (sprachl. Darstellungsmittel und Einbettung in die Erzählung)
FIGUR
Analyse indirekter Bedeutungen
Symbol Indirekter und metaphorischer Gehalt
Fiktives Wesen Quasi-reale Person in der Erzählten Welt
Analyse von Körper, Persönlichkeit und Sozialität
Abb. 4: Die ‚Uhr der Figur‘ – Konzeption und Analyse von Figuren nach J. Eder
Grundlegend unterscheidet Eder zwischen der Figur als Artefakt2,267 als fiktives Wesen, als Symbol und als Symptom.268 Die Figur als Artefakt2 be263
Vgl. Eder, Figur, 134 (sowie ausführlicher a. a. O., 95–106). Eder, Figur, 64. 265 Vgl. Eder, Figur, 67–80, 131 f., 708 f. 266 Die Darstellung orientiert sich an Eders eigenen Grafiken, verwendet aber vereinzelt andere Begrifflichkeiten (vgl. ders., Figur, 141, 148 f., 427, 711). 267 Der Index verweist auf Eders Begriffsnutzung, die von der in 3.1 abzugrenzen ist. 264
3 Figurenanalyse – Grundbegriffe und Vorbemerkungen
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schreibt den direkten Zugang zu einer Figur über die Sprache des Textes – damit ist der Begriff bei Eder grundlegend anders verwendet als im oben (vgl. 3.1) vorgestellten Konzept! Hier rückt die ästhetische Erfahrung in den Vordergrund und bei der Analyse werden die Darstellungsmittel untersucht. Dazu zählen z. B. die Erzählperspektive oder Auftrittshäufigkeit, die Anordnung der Figurenauftritte sowie die Figurenkonzeption (komplex oder simpel, realitätsnah oder absurd etc.). Der zweite ‚Abschnitt‘ der ‚Uhr‘ widmet sich dem in der Forschung am häufigsten und breitesten betrachteten Aspekt einer Figur und beschreibt sie als fiktives Wesen. Dies entspricht weitgehend dem Konzept von einer Figur als uneigentliches Individuum. Ihre körperlichen Bedingungen, ihre Psyche mit Charaktereigenschaften, Einstellungen, Werten, Intentionen, Wünschen etc. sowie ihre Sozialität werden hier untersucht. Bei letzterer wird die Figur in einer Figurenkonstellation der Erzählten Welt gemäß Beruf, Gesellschaftsstatus, Verwandtschaftsverhältnissen etc. verortet. Auf dieser Ebene reagieren Leser empathisch und identifizieren sich mit Figuren, nehmen an ihrem Erleben Anteil. Wenn eine Figur als Symbol betrachtet wird, deutet sie auf einen weiteren Sinngehalt hin, der außerhalb der Erzählten Welt liegt. So kann sie als Repräsentation, Verkörperung oder Metapher von u. a. ‚Menschentypen‘, Tugenden, historischen Gruppierungen, Ideen oder thematischen Aussagen gelesen werden. Die Figur steht in dieser Lesart also „für etwas anderes“.269 Leser können Figuren auf dieser Ebene für Reflexionen über (ethische) Sachverhalte nutzen oder in ihr Selbstverständnis (ihrer narrativen Identität) oder ihre Weltsicht integrieren (durch Anlehnung oder Abgrenzung). Die Analyse in diesem Bereich ist in jedem Fall auf die Ergebnisse der vorausgehenden angewiesen. Gleiches gilt für die Figur als Symptom. Hier wird untersucht, welche Bedingungen die Entstehung der Figur hat: z. B. historische Vorbilder, kulturelles Wissen des Autors, zeitgenössische Diskurse. In die Analyse der Figur als Symptom fällt aber auch ihre reale (empirische) Wirkung. So kann untersucht werden, für welche Menschen und Handlungen sie als Vorbild gestanden oder als Verhaltensmodell gedient hat, wie sie einen gesellschaftlichen Diskurs geprägt hat oder mit welcher Symbolik oder welchen Charaktereigenschaften sie in der Auslegungsgeschichte besetzt wurde und welche Wirkung dies hatte. Wie der Pfeil auf dem Rand der ‚Uhr‘ (vgl. Abb. 4) andeutet, schlägt Eder ein rotierendes Analyseverfahren vor, das dem Rezeptionsvorgang entspricht. Dabei ist seine Trennung in die vier Dimensionen eine rein heuristische, die von Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Schritten ausgeht. Sofort ersichtlich ist dies, wenn über eine Figur diskutiert wird und dabei verschie268 Zu den jeweiligen Ausdrücken siehe bei Eder die entsprechenden Ausführungen in seinen Kapiteln 4–8, 11 und 14 (vgl. ders., Figur). 269 Eder, Figur, 710; vgl. a. a. O., 151.
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Teil I: Einleitung
dene Gesprächsteilnehmer unterschiedliche Ebenen (z. T. als Argumentationsstütze ihrer eigenen Position) einbringen. Der Rezeptionsvorgang beginnt mit dem Lesen von Schriftzeichen. Die erste „[b]asale Wahrnehmung“270 erfolgt demnach über den Text, ist also eine ästhetische Erfahrung gemäß der Figur als Artefakt2. In einem zweiten Schritt wird die Figur als fiktives Wesen in ihrer Erzählten Welt wahrgenommen und untersucht, wobei der Leser ein mentales Modell von ihr bildet, welches zum Gegenstand der Analyse wird. Anschließend erfolgen Assoziationen und Rückschlüsse auf indirekte (symbolische) Bedeutungen und auf reale Kommunikationskontexte (Symptom). Davon ausgehend wird auch die zunächst automatisierte Wahrnehmung reflektiert. Welche Darstellungsmittel weist der Text auf, die zu den Ergebnissen der vorigen Szenen führten? Das Modell, das Jens Eder entwickelt hat, ist in seiner Komplexität unüberboten und ermöglicht eine differenzierte, vielschichte Analyse von Figuren in Erzählungen. Fragenkataloge, die seine Kapitel abschließen, geben jedem Leser ein Analysevorgehen an die Hand, welches zu einer gleichsam gründlichen wie aufwändigen Wahrnehmung und Beschreibung der Figur, ihrer Darstellungen und der Vorstellungen von ihr, ihrer Bedeutung und Wirkung führt. Wegen des Umfangs einerseits und wegen der Auswertbarkeit für eine narratologisch-ethische Analyse andererseits wird Eder in dieser Arbeit nur bedingt aufgenommen und sein Modell nicht einfach adaptiert. Inwiefern eine Aufnahme erfolgt, stellt das anschließende Unterkapitel dar. 3.3 Figurenanalyse im Johannesevangelium – die theoretische Basis In diesem Unterkapitel wird nun das eigene Verständnis von ‚Figur‘ geboten, welches die Grundlage für das Analysevorgehen bietet. Figuren wurden eingangs von anderen Entitäten des Textes durch ihre Möglichkeit intentionalen Handelns abgegrenzt. Deutlich wurde, dass die unterschiedlichen, eingangs vorgestellten Konzepte von ‚Figur‘ eher verschiedene Perspektiven bieten, als dass sie klare Gegenmodelle wären. Durch Beschränkung der Untersuchung auf Figuren im Joh ist ein fester Erzähltext vorausgesetzt, sodass die Definition der Figur als Artefakt (nicht in Eder’scher Terminologie, sondern im Sinne eines Diskursgegenstands in einer Kulturgemeinschaft) bereits herausfällt. Zugleich möchte diese Arbeit aber einen Beitrag zu dem Diskurs der ausgewählten joh. Figuren leisten, sodass letztendlich dieses Verständnis den Rahmen bietet, in dem die Figuren schließlich wahrgenommen werden. Die dritte Perspektive liefert die Basis für die Methodologie, sodass bei den verschiedenen Werkzeugen stets die Generierung mentaler Modelle nachvollzogen und begründet wird. Dennoch werden schließlich, wie aus Sicht der zweiten Perspektive, die einzelnen Figuren als Wesen der Erzählten Welt aufgefasst, 270
Eder Figur, 135.
3 Figurenanalyse – Grundbegriffe und Vorbemerkungen
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welche dem Leser zum Gegenüber, zu Vorbildern und Abschreckungsbeispielen werden. Insbesondere für die ethische Wirkmächtigkeit ist gerade dies die Stärke von Erzählungen gegenüber anderen Textgattungen. Als ‚mentales Modell‘ aufgefasst sind Figuren sowohl text- als auch lesergebunden. Eine Figurenanalyse des vorliegenden Erzähltextes ist also zugleich eine Analyse des Leseprozesses. Da sich Lesen immer wieder neu ereignet und stets ein einmaliger und subjektiver Vorgang ist, liegt das Ziel der Analyse in möglichen und plausibilisierbaren, nie in den richtigen Interpretationen. Während Eders Figur als Artefakt naturgemäß die Grundlage für eine nachvollziehbare Analyse vorgibt, liegt der Schwerpunkt doch auf der Figur als fiktives Wesen in ihrer Erzählten Welt, dem auch laut Eder „wichtigste[n] Aspekt der Figurenrezeption“.271 In dieser Perspektive nehmen „wir Figuren als denkende, fühlende und handelnde Wesen wahr“272, wodurch der Anknüpfungspunkt für eine narrative Ethik gegeben ist. Der Leser gelangt in einen doppelten Reflexionsprozess, der durch verschiedene, z. T. spezifisch narrative Textelemente und -wirkungen generiert wird: durch Empathie und Identifikation, die situationsbezogene Vorstellung von Verhaltensweisen und ihre Konsequenzen, durch explizite und implizite Urteile, die Figuren und der Erzähler äußern, durch die Erfahrung eines zwischenmenschlichen Miteinanders, das auf Verhaltensgewohnheiten, -normen, und -regeln – einem bestimmten Ethos – beruht und in der Figurenkonstellation ein „Moral- und Sozialsystem“ bildet.273 Dieser Reflexionsprozess ist insofern ein doppelter, als er zum einen die Bedingungen, Bewertungen und deren Begründungen innerhalb der Erzählung, zum anderen jene Äquivalente in seinen eigenen Weltbezügen und seiner Identität zum Inhalt hat. Im Anschluss an Eder kann in dieser Hinsicht wie folgt festgehalten werden: „Die Aufgabe von Figurenanalyse besteht nun nicht zuletzt darin, das, was man [in der Erzählung liest] […] oder als selbstverständlich voraussetzt, sprachlich zu formulieren oder zu erklären.“274 Eders symptomatische Lesart und sein Analyseansatz finden in dieser Arbeit kaum Berücksichtigung. Zwar werden Figurenwirkungen im Rückgriff auf die exegetische Fachliteratur immer wieder eingespielt, eine dezidierte Betrachtung erfolgt aber nicht. Auch die Herstellungs- und Produktionsbedingungen der Erzählung werden mangels erzählungsexterner Belege weitgehend ausgeklammert (vgl. 1.2; 1.4). Eders dritte Dimension der Figur als Symbol dagegen bekommt in der Analyse einen eigenen Schwerpunkt im vierten Bündelungskapitel (vgl. Teil II – Methodologie: 2.6), indem Figuren als Entfaltung für eigene ethische Themen, als Symbol für Tugenden oder Laster, als Repräsentation bestimmter Werte oder für ein bestimmtes Men271
Eder, Figur, 713. Eder, Figur, 713. 273 Eder, Figur, 721. 274 Eder, Figur, 713. 272
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Teil I: Einleitung
schenbild betrachtet werden. Der ethische Gehalt liegt im Entdecken moralisch relevanter, subtiler Positionen und Sinnhorizonte, in der Reflexion des Lesers über dies und in seiner Entwicklung als ethisches Subjekt. „Figuren können Lernprozesse auslösen, zur Aufklärung, zur Entwicklung von Weltund Menschenbildern oder zur Bestätigung des gesellschaftlichen Status quo beitragen, Bausteine für die Identifikationskonstruktion liefern, Nachahmungshandlungen hervorrufen, soziale Defizite mildern oder soziale Aktivitäten verhindern.“275 Angemerkt sei hier noch, dass Figurenanalyse sich nicht nur mit einzelnen Figuren, sondern auch mit Figurenkollektiven befasst. In Eders Analyse spielen diese m. E. keine Rolle, was vermutlich in seiner Medienwahl begründet liegt. In Erzählungen treten im Gegensatz zu Filmen jedoch vielfach Kollektive auf, die als solche benannt, nicht auf ihre Individuen zurückgeführt werden können. (Im Theater bietet chorisches Sprechen ein weniger häufiges aber äquivalentes Phänomen). Zu den joh. Figurenkollektiven vgl. 4.1.2 und 4.1.3. im folgenden Kapitel. Dieses wendet sich jetzt dezidiert dem Untersuchungsgegenstand, den Figuren im Joh, zu.
4 Das johanneische Figurenrepertoire 4 Das johanneische Figurenrepertoire
Im letzten Einleitungskapitel wird ein Überblick über die Figuren des Joh geboten und die Auswahl der untersuchten Figuren begründet. Das Herzstück dieses Kapitels liegt dabei in der grafisch veranschaulichten Figurenaufstellung (Abb. 5, s. 4.1.3), die auch als Hilfsmittel für die figurenbezogene Lektüre des Joh dienen mag. 4.1 Systematisierung des johanneischen Figurenrepertoires Um eine Erzählung der Analyse zugänglich zu machen, bieten sich verschiedene Modelle und Strukturen an, diese aufzuschlüsseln. So kann bspw. die Gliederung in Einleitung, Hauptteil und Schluss oder in Kapitel oder Szenen, die jeweils eigene Erzählbögen beinhalten, hilfreich sein (vgl. Teil II – Methodologie: 1.1). Auch auf sprachlicher Ebene kann man Passagen gattungstypisch oder stilistisch voneinander abgrenzen. Ferner können Erzählperspektive, Fokalisierung oder Sprachstil zur Abgrenzung verwendet werden (vgl. Teil II – Methodologie: 1.2). Auf inhaltlicher Ebene bieten sich verschiedene Modelle, um den Plot zu strukturieren, Handlungen und Geschehnisse in einen temporalen und/oder kausalen Zusammenhang einzuordnen oder Figuren zu typisieren (vgl. Teil II – Methodologie: 1.3.1; 1.4).
275
Eder, Figur, 724.
4 Das johanneische Figurenrepertoire
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Für die Analyse von Figuren werden hier einige Modelle vorgestellt und auf das Joh angewendet, um so einen Überblick über das vorhandene Figurenrepertoire zu bieten. Der Begriff Figurenrepertoire schließt dabei alle Gestalten ein, die Subjekte oder Objekte von Handlungen sind oder über die als Personen gesprochen wird.276 Im Joh sind dies fast ausschließlich Menschen. Lediglich Gott (bzw. ‚der Vater‘), Satan, Engel und der Paraklet sind als übernatürliche Wesen hinzuzuzählen.277 Neben den auftretenden Figuren gehören dem Figurenrepertoire auch diejenigen an, die lediglich benannt werden. Dabei ist die Bezeichnung einer Figur mit Eigennamen kein notwendiges Kriterium (vgl. insbesondere Teil IV – Die samaritische Frau). Mit Ausnahme der Schafe, welche ausschließlich in der Figurenrede vorkommen und dort mit metaphorischem Gehalt angereichert sind, sind alle Tiere im Joh eher als Dinge denn als Figuren zu betrachten.278 Das joh. Figurenrepertoire umfasst insgesamt 59 Einzelfiguren, von denen allerdings 17 nicht in der Erzählten Welt anwesend sind.279 So taucht bspw. Mose zwar in der Figurenrede auf, hat aber keinen Anteil am Geschehen. Diese Nichtanwesenheit ist durch eine zeitliche oder räumliche Trennung markiert und lässt sich i. d. R. leicht erkennen. Neben den Einzelfiguren gibt es außerdem noch diverse Figurengruppen, sogenannte Figurenkollektive, wie z. B. ‚die Jünger‘ oder ‚die Juden‘. Treten diese im Kollektiv auf, agieren, reagieren und sprechen sie wie eine Einzelfigur. Auch abzählbare ‚Minikollektive‘ von zwei oder drei Einzelfiguren können der Gruppe der Figurenkollektive zugerechnet werden. Im Joh betrifft das die zwei Täuferjünger (1,35–39), von denen einer (Andreas) benannt wird, die Eltern des Blindgeborenen (9,18–23), die Engel am Grab (20,12 f.) und die Zebedaiden (21,2). Die Zählung der Kollektive wird insofern erschwert, als unterschiedliche Ausdrücke das gleiche Kollektiv beschreiben können, ohne dass dieses eindeutig ist und zugleich gleich benannte Kollektive in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich gefüllt gedacht werden können. So gibt es bis zu 50 Kollektivfiguren, wobei wiederum 11 von ihnen außerhalb der erzählten Handlung stehen. Eine genaue Abzählbarkeit von Kollektivfiguren ist jedoch nicht zwingend notwendig. Gerade sie haben eine Offenheit und Dynamik, sodass sie nicht in eine Liste 276
Vgl. Finnern, Narratologie, 125. Weitere übernatürliche Gestalten wie der Logos, ‚der Sohn‘ und der Menschensohn werden dabei als Synonymbezeichnungen für benannte Figuren angesehen. So werden obige Beispiele als Bezeichnungen für Jesus eingeordnet. 278 Diese Feststellung ist keinesfalls selbstverständlich, da (insbesondere in mythischen oder fantastischen Geschichten) häufig Tiere als Handlungsträger auftreten. Als prägnantes Beispiel können Fabeln dienen. Ein markantes biblisches Beispiel ist Bileams Eselin in Num 22,20–35. 279 An dieser Stelle ist insbesondere auf die ‚Hirtenrede‘ Jesu in Joh 10 hinzuweisen, in der viele Figuren auf der zweiten Erzählebene (vgl. Teil II – Methodologie: 1.2.1) auftreten. Außerdem fallen in diese Kategorie alle atl. Personen. 277
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Teil I: Einleitung
gepresst werden können und müssen. Die oben erwähnten Minikollektive werden als Figurenpaare (bzw. -trios) im Rahmen dieser Arbeit separiert betrachtet, da für sie spezielle Merkmale gelten. Eine ausführliche Liste der joh. Figuren (unter Absehung von den Horizontfiguren sowie Jesus und Gott bzw. ‚dem Vater‘) mitsamt den Szenen ihres Auftretens, den Belegstellen, die die Figuren nennen, und den jeweils zugeordneten Figuren, mit denen sie interagieren, bieten Steven A. Hunt, D. François Tolmie und Ruben Zimmermann.280 Zur Strukturierung der Figuren sind neben der grundlegenden Aufteilung in Individuen und Kollektive und in anwesende und nichtanwesende Figuren noch weitere Modelle möglich. Vorgestellt werden hier eine Zuordnung der Figuren in Bezug auf die Handlung (3.1.1) und eine Systematisierung durch eine Einordnung in Figurengruppen (3.1.3). Erstere greift auf Propps und Greimas Aktantenmodell, die filmanalytische Erweiterung Eders und die Heldenfahrttypologie Voglers und Campbells zurück. Letztere versucht die Figuren in Clustern anzuordnen. Kriterien können dabei z. B. die Positionierung zur Hauptfigur, die soziale Stellung oder Verwandtschaftsverhältnisse sein.281 Die Systematisierung nach äußeren Merkmalen (Haarfarbe, Kleidung, Statur etc.) ist theoretisch ebenfalls denkbar, entfällt aber im Joh, da dieses auf Äußerlichkeiten prinzipiell verzichtet.282 Die hier gewählte Anordnung bezieht sich auf Gruppenzugehörigkeit und z. T. Bezugsfiguren der jeweiligen Figur. Dazu werden die gegebenen Kollektive des Joh genutzt. So wird zunächst der Handlungsbezug vorgestellt, anschließend folgt eine Vorbemer-
280
Vgl. Hunt/Tolmie/Zimmermann, Table, 34–45. Sie listen insgesamt 66 Einzelfiguren und Figurenkollektive in der Reihenfolge ihres Erstauftritts. Ferner sei auf J. Hartensteins Habilitationsschrift verwiesen. Sie führt 30 „[w]ichtige Einzelpersonen“ auf, wobei sie das Figurenpaar ‚die Eltern des Blindgeborenen‘ darunter rechnet (Hartenstein, Charakterisierung, 54 f.). Ferner benennt sie 18 Kollektive (a. a. O., 56 f.). 281 Vgl. für entsprechende Kriterien Teil II – Methodologie: 1.3.4., 1.3.5. C. Bennema ordnet den Figuren ein „degree of characterization“ zu (ders., Encountering, 28) und erhebt eine Figurenbewertung anhand ihrer „responses to Jesus“ (a. a. O., 29; vgl. a. a. O., 350– 355). Diese beiden Kriterien eignen sich aber besser für Listen, wie Bennema sie bietet, als für eine Aufstellung mit größerer Anschaulichkeit. J. Hartenstein bietet eine ausführlichen Überblick über Charakterisierungen im Joh mit Listen und Ausführungen hinsichtlich Figurenbezeichnungen (v. a. Namen), Kollektivzugehörigkeiten, Verwandtschaftsverhältnissen, Herkunft, Handlungskonstellationen u. v. m. (dies., Charakterisierung, 54–116). Eine grafische Veranschaulichung findet sich dort jedoch nicht. Als Vorreiter in der Figurenanalyse wurde von feministisch-theologischer Seite das Geschlecht als wesentliche Kategorisierung betrachtet (vgl. z. B. Beirne, Women; Conway, Men; Schneiders, Women). 282 Vgl. zu wenigen Ausnahmen Teil II – Methodologie: 1.4.2.
4 Das johanneische Figurenrepertoire
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kung über die Konsistenz der Figuren und schließlich wird eine Figurenaufstellung präsentiert. Zur Veranschaulichung wird ein Soziogramm283 gewählt. 4.1.1 Figur und Handlung – Aktanten und Archetypen Da das Verhältnis von Figuren und Handlung zueinander seit den Ursprüngen der Untersuchung von Erzählungen eine zentrale Rolle spielt, wird dies hier aufgenommen, wenngleich es in dieser Arbeit nicht als Ausgangspunkt gewählt wurde. Handlung meint dabei nicht die Aktionen, die einzelne Figuren ausführen, sondern das gesamte Geschehen, quasi der dramatische Verlauf der Erzählung. Dabei sei hier die prinzipielle Diskussion einer Priorität von Figuren oder Handlung bei Seite gelassen.284 Hier wird eine Figurenwahrnehmung in Bezug auf die Handlung entlang der Märchenmorphologie Vladimir J. Propps und des Aktantenmodells von Algirdas J. Greimas sowie eine Vorstellung der Archetypenkonzeption nach Joseph Campbell und Christopher Vogler vorgenommen. Der russische Philologe Vladimir Jakovlevi Propp285 (*1895) untersuchte russische Märchen und stellte gewisse wiederholende Handlungselemente (wie z. B. Schenkung oder Zweikampf) und Figurentypen heraus. Diese kehren als optionale Elemente in den Märchen wieder und werden inhaltlich verschieden gefüllt. Nach Propp ist die Reihenfolge der Handlungsbausteine immer gleich, wobei Wiederholung oder Auslassung einzelner Bausteine möglich ist. Als Figurentypen („Handlungskreise“) erkennt er Held, Gegenspieler, falscher Held, Schenker, Helfer, Sender (des Helden) und Zarentochter (zzgl. ihres Vaters).286 Mit diesen sieben Typen lässt sich die Struktur aller (russischen) Märchen erklären. Der besondere Erkenntniswert dieser Morphologie für die hiesige Untersuchung liegt darin, dass Figuren und Handlungselemente als notwendige (genrebedingte) Funktion erscheinen und die damit ‚automatisch‘ einhergehenden Bewertungen aufgedeckt werden können (s. u.). Erzählstrukturell knüpfen Greimas viel rezipiertes Aktantenmodell (s. u.) und aus mythologiewissenschaftlicher Perspektive das Archetypenmodell von Campbell daran an. Der französische Semiotiker Algirdas Julien Greimas287 (*1917) entwickelte ein abstrakteres Schema als Propp, welches sich genreübergreifend auf Erzählungen anwenden lässt. Mit dem Ausdruck Aktanten versieht er Figuren und andere Elemente einer Erzählung hinsichtlich ihrer funktionalen Bedeu283
Zum wissenschaftlichen Hintergrund des Soziogrammes vgl. Teil II – Methodologie:
1.3.4. 284 Zur Kritik an handlungszentrierten Modellen in Bezug auf die Figurenanalyse vgl. Eder, Figur, 14 f. 285 Vgl. Propp, Morphologie. 286 Propp Morphologie, 79 f. 287 Vgl. Greimas, Semantik, 157–175.
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tung. In seinem Modell werden sechs Aktanten zu drei Paaren zusammengefügt. Sender und Empfänger, Subjekt und Objekt, Helfer und Gegner. Der Sender löst eine Handlung durch Beauftragung oder Motivierung aus. Er übermittelt dabei das Ziel der Handlung an den Empfänger, der aus der Handlung den Nutzen trägt. Das Subjekt führt die Handlung (am Objekt) durch. Zu dem Objekt steht es in einem Begehrensverhältnis. Helfer und Gegner richten sich auf das Subjekt, in dem sie es in seiner Handlung unterstützen oder behindern. Dabei sind diese sechs Aktanten nicht prinzipiell auf Figuren eingeschränkt, das aktantielle Objekt kann bspw. auch Ehre oder ein Schatz sein. Diverse Umstrukturierungen und Weiterentwicklungen des Modells sowie Anwendungsbezüge auf Diskurse und historische Entwicklungen werden hier nicht nachgezeichnet. Verwiesen sei nur auf Jens Eder, der dies reflektiert und mit alternativer Begrifflichkeit von Handlungsrollen und Handlungsfunktionen spricht.288 Für eine exemplarische Anwendung sei auf die Dissertation von Judith Hartenstein verwiesen. Diese bietet einen kurzen Überblick über das Aktantenmodell von Greimas und wendet es auf das Joh als Ganzes sowie auf einzelne Episoden an.289 Eine eigene Übertragung wird hier nicht vollzogen. Hartensteins Analyse stellt das Joh dabei eher als unethisch heraus, indem Jesus überwiegend als Subjekt erscheint, welcher allen anderen Figuren als Empfängern das Objekt (das Heil) zuteilwerden lässt. So gesehen geraten die Figuren in eine passive Position und nur Jesus kann als Vorbild und ethisches Modell einer Reflexion von Verhalten und Verhaltensbewertungen angesehen werden. Doch auch Hartenstein verweist auf eine aktivere Rolle anderer Figuren, die auf einen Aspekt des ethischen Potentials hindeutet, welchen diese Arbeit entfaltet: „Andererseits werden die EmpfängerInnen dann aber auch schnell zu eigenen Subjekten, die die Aufgabe Jesu weiterführen.“290
288 Vgl. Eder, Figur, 49 f., 484–495. Eders eigenes Modell mit acht Handlungsrollen versucht auch die im Folgenden vorgestellten Ansätze von Campbell und Vogler in ein aktantielles Schema zu integrieren (a. a. O., 492–494). Dass die Verschmelzung beider Ansätze sinnvoll ist, wird hier bezweifelt, sodass sie als verschiedene Heuristiken einzeln vorgestellt werden. Weiteführend sei auch auf F. Jannidis verwiesen, der das Aktentenmodell von A. J. Greimas und dessen Grundlagen bei V. Propps kurz darstellt und anschließend die Aufnahme in der deutschsprachigen Forschung aus- sowie Möglichkeiten und insbesondere terminologische Probleme aufführt (vgl. Jannidis, Figur, 98–105). Auch in den Bibelwissenschaften (im narrative criticism) wird Greimas’ Modell vielfach rezipiert. Vgl. z. B. Stibbe, Storyteller, 35–39. Zum narrative criticism sei auf das Standardwerk von M. A. Powell (ders., Criticism) und die gute Kurzeinführung von R. J. Cassidy (ders., Peter, 1–4). 289 Vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 110–114; ähnlich: Stibbe, John’s Gospel, 38– 53, 85 f. 290 Hartenstein, Charakterisierung, 114.
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In ihren Studien zu Mythologie und Filmen der Hoch- und Popkultur haben Joseph Campbell291 (*1904) und Christopher Vogler292 (*1949) die typische Plotstruktur eines Mythos (als Heldenreise) sowie verschiedene Archetypen herausgearbeitet. Eine Darstellung im Einzelnen würde hier den Rahmen sprengen und ist für eine ethische Lesart – abseits der Terminologie – nur bedingt hilfreich. Deshalb genügt ein kurzer Überblick. Die Archetypen sind Held, Herold, Mentor, Schwellenhüter, Gestaltwandler, Trickser und Schatten. Der Held steht als Protagonist im Zentrum der Erzählung. In den Evangelien ist dies Jesus.293 Alle übrigen Figuren der Erzählung sind anderen Archetypen zuzuordnen. Dabei ist eine solche Zuordnung nicht exklusiv. So kann eine Figur ihren Archetyp im Erzählverlauf – auch mehrfach – wechseln oder zugleich mehrere Archetypen repräsentieren. Wesentlich ist an dem Ansatz, dass alle Figuren nicht nur als Gegenüber zum Helden und als seine Interaktionspartner verstanden werden, sondern auch Verkörperungen verschiedener Charaktermerkmalen von diesem darstellen. Der Held als positiv gewertete Figur besteht ein Abenteuer, welches der Leser in der Erzählung mitverfolgt. Der Herold löst dieses Abenteuer aus, indem er dem Helden die Notwendigkeit oder Dringlichkeit des Abenteuers mitteilt. Der Mentor steht dem Helden als Vorbild oder Ratgeber zur Seite und rüstet ihn ggf. mit Informationen oder Hilfsmitteln aus. Schwellenhüter begegnen dem Helden in Konfliktsituationen, treten dem Held entgegen und prüfen diesen. Er überwindet sie und wächst an der Herausforderung. Der Gestaltwandler ist eine unberechenbare Figur, deren wahre Beweggründe verborgen bleiben. Für den Leser oder die anderen Figuren ist er über weite Teile der Erzählung nicht eindeutig zu bewerten und erscheint mal als guter Helfer, mal als gefährlicher Gegner. Der Trickser dient der Unterhaltung und Auflockerung der Erzählung und kommt in biblischen Erzählungen m. E. kaum vor. Der Schatten ist schließlich der größte Widersacher des Helden und verkörpert dessen Schwachstelle. Er muss zum erfolgreichen Bestehen des Abenteuers überwunden werden. Mit diesem Grundmuster lässt sich z. B. Johannes, der Täufer, als Herold lesen oder die Pharisäer, ‚die Juden‘ und die Hohepriester als Schwellenhüter. Sinnstiftend ist auch eine Lesart mit den Jüngern als ‚Helden‘, mit denen sich der Leser identifiziert und ihr Abenteuer mit Jesus ‚miterlebt‘. Durch Archetypenzuordnung können Rollengewohnheiten aufgedeckt werden, nach denen Leser Figuren entsprechend einordnen. So werden Einstellungen und Verhal291
Vgl. Campbell, Heros, insb. 63–270; zur schnellen Übersicht siehe a. a O., 264. Vgl. Vogler, Odyssee, insb. 79–156. 293 Vgl. Stibbe, John’s Gospel, 6. Bereits J. Fokkelman stellt dies in seinem anwendungsbezogenen Grundlagenwerk als Selbstverständlichkeit fest und skizziert die Ausrichtung aller Figuren auf Jesus in den Evangelien (vgl. ders., Narrative, 192 f.). M. W. G. Stibbe beginnt seine Analyse des Joh (reader response criticism) mit einer ausführlichen Untersuchung von Jesus als „Hero“ (ders, John’s Gospel, 5–31). 292
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tensweisen bereitgestellt, Empathie, Identifikation und Bewertungen gesteuert. Eine Figur, die als Mentor eingeordnet wird, bekommt so eine höhere Autorität – und wird damit zum ethischen Vorbild, ihr Verhalten zur Richtschnur und ihre Aussagen zur Bewertungsinstanz, während ein Leser dem Verhalten eines Gestaltwandler skeptisch begegnet und auch positive Wertungen hinterfragt. Durch Aktanten- (bzw. Handlungsrollen-) und Archetypenmodelle werden die Figuren mit Wertungen aufgeladen, die empathiestärkend oder -hemmend sind. Die verschiedenen Figuren präsentieren in ihren Rollen bzw. als Typen bestimmte Sichtweisen auf einzelne Situationen. So sehen z. B. die Hohepriester als Gegner, Schwellenhüter oder Schatten Jesus als Bedrohung der Macht, der bestehenden Umstände und ihrer Fürsorgeverantwortung (11,48). Wird ihre Negativwertung rollen-typisch eingeordnet, eröffnet sich ein Raum des Verständnisses für ihre Motive. „Jede Sichtweise hat ihre eigene Geschichte und u. U. auch ihre Berechtigung. […] Geschichten machen erfahrbar, dass sich die bestehenden Perspektiven ändern können, sie stellen damit Normalitäten und Traditionen in Frage.“294 Im Joh kann der Leser die Sichtweise der Hohepriester erproben, bekommt Zugang zu ihren Verhaltensgründen und findet in Nikodemus ein Beispiel für mögliche Perspektivänderung. Dieser an der Handlung orientierte Zugang zu Figuren wird hier als Anregung formuliert und in den Anwendungsteilen (Teil III – VI) bedarfsweise eingespielt.295 4.1.2 Konsistenz der Figuren Wie selbstverständlich wird bei der Analyse von Figuren i. d. R. von deren Konsistenz ausgegangen. Allerdings hat die Vorstellung der verschiedenen Konzepte von Figuren (vgl. 3.1) bereits gezeigt, dass bei dem Konzept einer Figur als gesellschaftliches Artefakt bei verschiedenen Menschen Unterschiede in Bezug auf die Festlegung einer Figur bestehen können. Auch das Verständnis als mentales Modell sowie Jens Eders Zugang weisen auf die Dynamik in der Figurenwahrnehmung und -vorstellung hin (vgl. 3.2). Wenn über eine Figur, wie z. B. Jesus, gesprochen und diese sogar analysiert wird, ist vorausgesetzt, dass sie stets die gleiche ist. Entwicklungen und Veränderungen – sogar in Bezug auf das Wesen (bspw. erscheint Jesus nach seiner Auferstehung einfach, was er zuvor nicht tat) – sind möglich, aber die Identität der Figur bleibt die gleiche (Jesus ist immer noch Jesus).296 Im Beispiel 294
Meuter, Identität, 59. Z. B. in Teil III – Petrus: 2.7; 4.6 oder Teil V – Judas: 3.2.3. 296 Hier lässt sich gut der Ricœur’sche Begriff der ‚narrativen Identität‘ verwenden. Vgl. 1.3.1; Teil II – Methodologie: 1.4.2; 2.3. J. Eder nimmt entsprechend dieses Konsistenzverständnisses ‚Wiedererkennbarkeit‘ in seiner Figurendefinition auf (vgl. ders., Figur, 64; 3.2). 295
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wird schon deutlich, dass der Name der primäre Konsistenzgarant im Erzähltext ist. Quasinamentliche Bezeichnungen wie bei dem ‚Jünger, den Jesus liebte‘ übernehmen in dieser Hinsicht die gleiche Funktion.297 Innerhalb des Joh entwickeln sich die Figuren dabei i. d. R. linear. Lediglich Prolepsen298, die über die Erzählte Welt hinausgreifen, brechen diese Konsistenz insofern auf, als sie die Identität der Figur so erweitern, dass der Leser zukünftige Eigenschaften und Handlungen in das Figurenkonzept integriert, die noch nicht eingetreten sind (z. B. 19,35). Die hier ausgeführten Beispiele bezogen sich auf Einzelfiguren. Im Joh treten darüber hinaus zahlreiche Figurenkollektive auf. Zwar besitzen nach P. Ricœur auch Kollektive eine narrative Identität,299 doch ihre Konsistenz ist von der Erzählung und dem jeweiligen Kollektiv abhängig. Wenn im Joh z. B. von ‚den Zwölf‘ die Rede ist, kann damit eine feste Jüngergruppe identifiziert werden, deren Zusammensetzung sich im Verlauf der Erzählung nicht ändert. Schwieriger ist es bei Kollektiven, die von ihrer Größe nicht eindeutig festgelegt werden. Mit einem Wechsel der Handlungsorte oder der Benennungszusammenhänge sind die Kollektivzusammensetzung und ggf. sogar der semantische Gehalt verändert. So ist das Kollektiv der Jünger Jesu kaum greifbar und auch seine Größe variiert und ist nur nach unten begrenzt – selbst in den Szenen von Jesu vertraulichem Abschied (Joh 13–17) ist nicht deutlich, wie viele und welche Figuren über die genannten hinaus anwesend sind. Ähnlich sind die feindlichen Kollektive weder in ihren Bezeichnungen trennscharf noch konsistent. So ist das Kollektiv ‚die Juden‘ nach 1,19.24 mit den Pharisäern, nach 18,3.12 darüber hinaus mit den Hohepriestern gleichgesetzt (vgl. auch 8,13 f.21 f. mit 13,33; vgl. 4.1.3). Zu erstgenanntem Kollektiv sind kurze Ausführungen notwendig: !" # $ sind im Joh sowohl eine Kollektivbezeichnung als auch der Verweis auf ein Volk (als geografische, kulturelle und religiöse Gemeinschaft), dem das Gros der Figuren der Erzählten Welt angehört. Eine figurenanalytische Arbeit greift dabei überwiegend auf die erste Verwendung zurück. Wird die Rede von ‚den Juden‘ in analytischen und interpretativen Ausführungen aber im Sinne der zweiten Bedeutung missverstanden, wird die Gefahr einer antijüdischen Lesart deutlich. Wegen der Notwendigkeit bei einer Figurenanalyse Figuren zu benennen, ist das Risiko, einer solchen Missdeutung zu erliegen oder sie zu ermöglichen, bei diesem Zugang besonders hoch. Deshalb sei hier als kurzer Exkurs ein Plädoyer gegen solche Deutungen eingeschoben. !" # $ sind als konkretes Kollektiv tendenziell negativ geprägt (z. B.: 6,42; 7,27; 8,14; 9,29). Darüber hinaus wird der Ter297
Vgl. zum Figurennamen und quasinamentlichen Bezeichnungen Teil II – Methodologie: 1.4.2; 2.3.1. 298 Zum Begriff vgl. Teil II – Methodologie: 1.6.3. 299 Vgl. Ricœur, Zeit III, 397 f.
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minus aber auch neutral und positiv verwendet – insbesondere in Jesu Volksgruppenzugehörigkeit in Joh 4 und im sozial-kulturellen Setting mit Zeit- und Ortsangaben.300 Insofern wird im Erzähltext selbst einer Stigmatisierung entgegen gesteuert. Unabhängig von dieser Beobachtung wird in dieser Arbeit eine antijüdische, antijudaistische oder antisemitische Lesart abgelehnt und verurteilt. Das Figurenkollektiv " # $ wird deshalb überwiegend in seiner deutschen Übersetzung durch einfache Anführungszeichen als Größe der Erzählten Welt markiert.301 Wegen der Verantwortung (insbesondere als deutscher Interpret) gegenüber der historischen Erfahrung der Shoa (und des Missbrauchs des Joh in dieser302) sei hier in aller Deutlichkeit eine Übertragung vom Figurenkollektiv im Joh auf eine religiöse Gemeinschaft, ein Volk oder anders bezeichnete Gruppierung oder Gemeinschaft zurückgewiesen.303 Im Kontext der hier vollzogenen Figurenanalyse erhält das Kollektiv keine eigene Entfaltung. Verwiesen sei auf drei Autoren, die sich dieses monografisch bearbeitet haben. Tobias Nicklas betrachtet als Erster ‚die Juden‘ genuin als Figuren der Erzählten Welt, kontrastiert sie mit Jüngernfiguren und zeichnet nach, wie der erzählte dramatische Konflikt innerhalb der Erzählten Welt die reale Wirkungsgeschichte mit-bedingt. Ausführlich untersucht Ruth Sheridan ‚die Juden‘ unter Rückgriff auf narratologische und intertextuelle Methoden in der ersten Hälfte des Evangeliums (1,19–12,15).304 300
Zur Analyse von Joh 4 vgl. Teil IV – Samaritische Frau: Kap. 2. Lars Kierspel hat einen Überblick über die Übersetzung von # $ in verschiedenen Englischen und Deutschen Bibelübersetzungen und -übertragungen zusammengestellt (vgl. ders., Jews, 220 f.). 302 Vgl. Kierspel, Jews, 1–12; Nicklas, Ablösung, 409; Sibbe, John’s Gospel, 108. Einen ausführlichen Exkurs, der deutlich die Spitzen einer anti-jüdischen Auslegung und die Gegenpositionen herausstellt, bietet U. Busse (vgl. ders., Joh, 304–310). M. W. G. Stibbe zeigt in einer narratologischen Analyse von 8,31–59 auf, dass die oft vorgenommene judenfeindlich Lesart die Passage missbraucht (vgl. ders., John’s Gospel, 107–131). Sein Fazit: „The blame for this [abuse] does not lie with the author, whose intention was pastoral and protective. The blame for this does not lie with the text, which is a satire of apostasy not of the Jewish people. The blame lies fairly and squarly on the shoulders of those who have interpreted John 8.31–59 with a prior commitment to anti-Semitism, and who have failed to see that this text is a condemnation not of ‘the Jews’ but of ‘Jews who had believed Jesus’“ (a. a. O., 131). Vgl. Teil VII – Fazit: Kap. 3. 303 Die Rekonstruktion einer mutmaßlichen Entstehungssituation, die den Textbefund erklärt, liegt nicht im Fokus dieser Arbeit, sodass auch keine Zuordnung zu einem zeitgenössischen Kollektiv (Jesu oder des historischen Autors des Joh) unternommen wird. Exemplarisch sei hier nur auf den Kommentar von K. Wengst (vgl. ders., Joh) und einen Aufsatz von J. Frey (vgl. ders., Juden) verwiesen. Letzterer bietet auch eine Auswahl von Publikationen, die die Diskussion um ‚die Juden‘ innerhalb der joh. Exegese deutlich machen (vgl. a. a. O., 339, Anm. 1) und zeichnet den Diskurs nach (vgl. a. a. O., 340–348). 304 Vgl. Sheridan, Scripture. In Bezug auf Figuren nimmt sie (z. T. kritisch) Bennema, Chatman, Culpepper, Forster, Koesters, Rimmon-Kenan und Tolmie auf (vgl. a. a. O., 68– 90). Zum partiell identischen Kollektiv ‚Pharisäer‘ vgl. Poplutz, Pharisäer; dies., Pharisees. 301
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Lars Kierspel bietet eine noch ausführlichere (allerdings weniger methodisch eingebettete) Untersuchung ‚der Juden‘ und stellt diese dem Kollektiv ‚die Welt‘ gegenüber. Seine Ausgangsfrage ist die nach einer Interpretation des Joh nach der Shoa.305 Nach dieser Bemerkung sei nun die Argumentation zur Konsistenz der Kollektive wieder aufgegriffen. Dass selbst das Kollektiv ‚die Zwölf‘ nicht mit zwölf Einzelfiguren eindeutig festgelegt und auch im Jüngerkollektiv in Joh 21 anonyme Jünger eingetragen werden, zeichnet ein typisches Merkmal des Joh ab. Die Kollektive sind offen gestaltet, bieten dem Leser Identifikationsräume und sperren sich gegen jedwede Zementierung. Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich auch von Kollektivfiguren eine narrative Identität erzählen ließe, aber eine Analyse der Merkmale und Eigenschaften oder der Beziehung zu anderen Figuren kaum möglich ist. Dementsprechend wird in dieser Arbeit kein Kollektiv als Figur untersucht. Werden dennoch Kollektive in ihrem Verhältnis zu Einzelfiguren (ausgehend von letzteren) in die Analyse einbezogen, ist die z. T. begriffliche, z. T. semantische mögliche Inkonsistenz zu berücksichtigen. 4.1.3 Figurenaufstellung – Gruppen und Bezugsfiguren In diesem Unterkapitel wird eine Übersicht über das joh. Figurenrepertoire geboten, welches alle Figuren der Erzählten Welt umfasst. Da im Joh mehr als 100306 Einzel- und Kollektivfiguren auftreten und/oder benannt werden, muss eine solche Übersicht strukturiert geschehen. Der Kreativität sind bei solchen Systematisierungen kaum Grenzen gesetzt und diese transportieren immer bereits Konnotationen oder ein Verständnis. Mögliche Reihenfolgen sind z. B. alphabetisch, nach Erstnennung oder nach Häufigkeit der Nennung. Interessanter als eine bloß in der Reihenfolge sortierte Liste sind jedoch Heuristiken, die die Figuren in Gruppen einordnen, z. B. nach ihren Auftritten in Erzählabschnitten (bspw. Kapiteln), ihrer Wertung (positiv – negativ), ihrer Bedeutung für die Handlung (vgl. 4.1.1), nach Einzel- oder Mehrfachauftritt oder hinsichtlich ihrer Eigenschaften als Bewohner der Erzählten Welt (bspw. Herkunft, Geschlecht oder Nationalität).307 Bipolare Einteilungen wie männ305
Vgl. Kierspel, Jews. Für einen Überblick über die semantische Vielfalt des Begriffs und über vorausgehende Forschungen (u. a. T. Nicklas) vgl. a. a. O., 13–59; für seinen eigenen Ergebnisse abseits des Vergleichs mit ‚der Welt‘ die den Hauptteil der Arbeit ausmachen a. a. O., 63–75. Vgl. zur umfassenden Auseinandersetzung mit der Thematik den Sammelband ‚AntiJudaism and the Fourth Gospel‘ (Bieringer/Pollefeyt/Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.)). 306 Nahezu 30 Figuren werden allerdings lediglich in der Figurenrede (z. B. Mose) oder als Referenz für Orte (z. B. Salomo) genannt. 307 Ähnliche Vorschläge bietet J. Eder für die Anordnung von Figuren in ihrer Figurenkonstallation (vgl. ders., Figur, 721).
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lich/weiblich, jüdisch/nichtjüdisch oder Galiläa/Judäa als Herkunftsort implizieren meist das Streben nach einer Bewertung gemäß dieser Kategorien (und sei es das Attestieren der Gleichwertigkeit). Wenn hier in der Überschrift eine ‚Figurenaufstellung‘ angekündigt wurde, verspricht das schon einen stärker anschaulichen Charakter als er in den meisten Listen gegeben ist. Ferner weist der Ausdruck auf eine Verhältnisbestimmung der Figuren untereinander hin – gleich welcher Art sie auch sei. Auch die Ergänzung ‚Gruppen und Bezugsfiguren‘ deutet auf ein Aufweisen der Beziehungen und Kollektivzugehörigkeiten hin. Gerade Letzteres ist für eine schnelle Übersicht über das Figurenrepertoire einer Erzählung besonders hilfreich, denn so lassen sich die Figuren in Kategorien einteilen, die einen schnellen Zugriff erlauben und die Merkfähigkeit erhöhen. Die Offenheit und Uneindeutigkeit der Kollektive (vgl. 4.1.2) taucht eine solche grafische Darstellung in ein sehr kritisches Licht, denn jede Skizze muss wie eine Festschreibung erscheinen, die die Dynamik und Offenheit zu Gunsten von Einfachheit und Eindeutigkeit aufgibt, welche der Erzähltext aber ja gerade vermeidet. So sei hier auf den heuristischen Wert verwiesen, der in dieser Darstellung liegt. Es geht in der Figurenaufstellung nicht um eine Übertragung der Erzählung in ein anderes (anschaulicheres) Medium, sondern um die Möglichkeit einer Verortung der Figuren. Die Analyse wird dadurch weder grundgelegt noch ersetzt; Leser bekommen aber die Möglichkeit einem Namen eine Position und Rolle innerhalb der Handlung des Joh und der Erzählten Welt zuzuordnen. Wenn hier die Kollektivzugehörigkeiten (trotz ihrer Unfassbarkeit) eingetragen werden, ist zumindest zum Kollektiv ‚die Zwölf‘ vorab einiges anzumerken. Die dezidierte Auseinandersetzung mit diesem Kollektiv ist nicht zuletzt den Figuren geschuldet, die schließlich im Hauptteil dieser Arbeit analysiert werden. Deshalb sei die Zusammensetzung des Kollektivs kurz besprochen. Die Festlegung des engsten Jüngerkreises auf zwölf Figuren wird im Joh in 6,67–71 (und später in 20,24) erwähnt. Eine namentliche Auflistung fehlt im Gegensatz zu den Synoptikern. Nachdem sich in Joh 6,66 viele seiner Jünger von Jesus abwenden, bleiben zumindest die Zwölf bei ihm und sind deshalb im Folgenden als in dem Begriff ‚Jünger‘ inkludiert zu verstehen. Außer Thomas gehören nach dem Joh308 explizit Judas Iskariot und durch den Erzählzusammenhang von 6,67–69 Simon Petrus zum Zwölf-Jünger-Kollektiv. Aus der Annahme, dass Jesus am Vorabend seiner Kreuzigung (Joh 13–17) mit ‚den Zwölf‘ zusammen ist, lassen sich auch die Jünger dieser Kapitel – der Geliebte Jünger, Philippus und der ‚andere Judas‘ – der Gruppe zurechnen. Die Anzahl dort wird durch die Handlung der Fußwaschung und das 308
Eine Namensliste der Zwölf, wie sie die Synoptiker (Mt 10,2–4; Mk 3,16–19; Lk 6,13–16) bieten, fehlt im Joh.
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gemeinsame Mahl innerhalb eines Hauses auf eine abzählbare Menge begrenzt. Dass nur die Zwölf ab Joh 13 anwesend sind, wird intratextuell durch den von Jesus proklamierten Erwählungsgedanken, der in 13,18; 15,16.19 dem aus 6,70 entspricht ( % %& ' ), wo er explizit ‚die Zwölf‘ als von ihm Erwählte bezeichnet, und intertextuell durch die (synoptisch bestätigte) Tradition der zwölf Jünger um Jesus in der Nacht seiner Gefangennahme bestätigt. Demnach wäre die Hälfte der Identitäten des Kollektivs geklärt. Ferner sind wohl die beiden namentlich bekannten, in der gleichen Episode wie Petrus und Philippus berufenen Jünger Andreas und Nathanael zum engsten Jüngerkreis zu rechnen, welcher m. E. dem Zwölferkreis gleichzusetzen ist.309 Nach 21,2 wären zudem die Zebedaiden hinzuzuzählen, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass der Geliebte Jünger einer der beiden ist. Von Josef von Arimathäa ist als ‚geheimer Jünger‘ abzusehen. Es bleiben also mindestens zwei Jünger unbenannt. So behält das Kollektiv ‚die Zwölf‘ trotz aller Zuordnungsversuche stets eine Offenheit, welche auch der Leseridentifikation dient. Übergeordnet ist dem Zwölferkollektiv noch das der Jünger.310 Durch die Nachfolge und den Glauben an Jesus, zu dem der Leser in der Erzählintention ermutigt wird (20,31), wohnt den Jünger prinzipiell ein großes Identifikationspotential311 und m. E. auch eine Vorbildfunktion312 inne. Anders als ‚die Zwölf‘, die lediglich offen sind, ist das Jüngerkollektiv durch Änderung der zugehörigen Einzelfiguren einer mehrfachen Instabilität ausgesetzt.313 Insbesondere ist von einem Anwachsen des Kollektivs bis 6,60 und einem Aufbrechen in 6,66 auszugehen. Eine solche Dynamik kommt zwar in der Figurenaufstellung nicht zum Ausdruck, betrifft aber auch keine Einzelfiguren, deren Kollektivzugehörigkeit hier primär zum Ausdruck gebracht wird. Gewählt wurde hier eine Aufstellung in Form eines Soziogramms314. Ausgeschlossen wurden alle Figuren, die nur als Referenz oder innerhalb von 309 Nathanael fehlt (genau wie der ‚andere Judas‘) im Gegensatz zu Andreas (sowie Simon Petrus, Philippus und Thomas) in den synoptischen Zwölferlisten (vgl. Mk 3,16–19 parr.). Apg 1,13 benennt einen Judas, Nathanael findet sich auch hier nicht. L. Schenke bestreitet die Zugehörigkeit von Nathanael und dem Geliebten Jünger zu ‚den Zwölf‘ und sieht den Jüngerkreis um Jesus als stets über diese hinausgehend (vgl. ders., Johannes, 142). 310 Ausführlich (hinsichtlich der Eigenschaften Glaube und Verstehen) analysiert N. Farelly das Kollektiv die Jünger (vgl. ders., Disciples, 14–88). 311 Vgl. Teil II – Methodologie: 1.6.8. 312 Gegen Davies, Rhetoric, 326: „The disciples […] are the kind of people with whom readers can sympathize but whom they should not imitate.“ 313 Vgl. 4.1.2. J. Hartenstein charakterisiert diese als „einheitliche Figur“, deren „genaue Zusammensetzung nicht festgelegt ist.“ (dies., Charakterisierung, 58). Hier sind ‚die Jünger‘ als positiv konnotiertes, aber divergentes Figurenkollektiv aufgefasst. Ihr wesentliches Merkmal ist ein zumindest zeitweises Stehen in Jesu Nachfolge. 314 Vgl. Teil II – Methodologie: 1.3.4.
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Figurenrede benannt werden. (Einzige Ausnahme ist das Kind in 6,9, welches offensichtlich anwesend ist.315) Die Schreibweise der Namen versteht sich als Transkription oder Übersetzung der Namen im griechischen Text.316 Bevor unten die Heuristik erklärt wird, sei hier eine ausführliche Legende der grafischen Elemente (kursiv gesetzt) geboten. Die Einzelfiguren tauchen in Abb. 5 (s. u.) nur als Namen auf, die Kollektive werden durch ‚Blasen‘ gekennzeichnet, die den Figurennamen am Rand tragen. Die gestrichelte Umrandung verweist dabei auf die Offenheit hinsichtlich der Größe eines Kollektivs und der möglichen Inkonsistenz bei mehreren Nennungen. So ist lediglich das Kollektiv ‚die Zwölf‘ mit einer durchgezogenen Linie umrandet. Stehen Figurennamen innerhalb von ‚Kollektiv-Blasen‘ gehören diese (entsprechend der skizzierten Darstellung von Mengen in der Mathematik) diesem Kollektiv an. Figurenpaare werden nicht mit einer solchen ‚Blase‘ versehen. Beziehungen unter den Einzelfiguren werden nur exemplarisch eingetragen, da das Ziel der Abbildung kein Verstehen der Dynamik der einzelnen Beziehungen, sondern ein Überblick über das Figurenrepertoire ist. Dazu dienen die Pfeile mit Kreisen auf der Linie, die mit einem Herz versehen ‚Liebe‘ einer Figur zu einer anderen ausdrücken und mit einer zeigenden Hand versehen ‚Weisungsbefugnis‘ markieren. Eigentlich notwendige Verbindungslinien, wie z. B. die Bekanntschaft zwischen ‚dem anderen Jünger‘ (18,15 f.) und dem Hohepriester oder das Verhältnis von Mutter Jesu zum Geliebten Jünger, wurden zu Gunsten der Übersichtlichkeit ausgespart. Gestrichelte Pfeile markieren etwaige Kollektivzugehörigkeiten. Durchgezogene Pfeile zeigen den Wechsel von Kollektivzugehörigkeiten an, wobei die entsprechende Versangabe als Beleg dient. Eine eckige Klammer vor mehreren Figuren ordnet diese der Episode zu, in der sie ausschließlich benannt sind. Die eckigen Klammern um die Figuren ‚ein Engel‘, ‚Ehebrecherin‘ und ‚Schriftgelehrte‘ markieren die Figuren der textkritisch sekundären Passagen 5,3b f. und 7,53–8,11. Die Kursivsetzung von Figurennamen zeigt an, welche Kollektive als ‚Menge‘ ggf. partiell identisch sind.317 Da die Anzahl der Figuren sehr groß ist und zudem viele Figuren hinsichtlich bestimmter Kategorien nicht eindeutig zuzuordnen sind (z. B. ist die Bewertung von Nikodemus umstritten, der soziale Status vieler Jünger unbekannt, die Nähe zwischen Jesus und den Eltern des Blindgeborenen spekulativ), wurde eine vierfache Anordnungssystematik gewählt. Im Mittelpunkt steht Jesus als Hauptfigur, welcher die Erzählung, die Figurenbewertung und die Relevanz der Figuren für die Handlung dominiert. 315
Der Erzähler nennt das Kind nicht. Lediglich Andreas verweist auf es. Es ist aber als anwesend in der Szene vorgestellt. 316 Zur Diskussion des Ortsnamens ‚Bethesda‘ vgl. Küchler, Jerusalem, 315 f.; Theobald, Evangelium, 369–372. 317 Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem Problem der Identitätsfestlegung der ‚Menge‘ im Joh s. u. (vgl. auch 4.1.2).
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Bei ihm sind einige der synonymen ‚Namen‘ angefügt, mit denen er bezeichnet wird. Diese Liste ist keinesfalls erschöpfend. Neben den ‚ ( ) ‘Identifikationen wären dort viele weitere Bezeichnungen, wie ‚Christus‘ oder ‚Sohn Gottes‘, anzuführen.318 Hinsichtlich der meisten anderen Figuren findet sich eine Auflistung aller Bezeichnungen sowie sämtlicher Versangaben, in denen die entsprechenden Figuren benannt sind, in der ausführlichen Tabelle im Sammelband ‚Character Studies in the Fourth Gospel‘, auf den hier verwiesen sei.319 Beides wird in dem hiesigen Schaubild nicht angefügt (s. u.). Jesus steht in Bezug zu den ersten drei Anordnungssystematiken. Um ihn herum gruppieren sich die beiden zentralen Kollektive im Joh, die die erste Systematik ausmachen: das der Jünger, die Jesus begleiten, und das der Feinde Jesu, die seinen Tod forcieren. Dies suggeriert eine schlichte Bewertungslinie in ‚gute‘ und ‚böse‘ Figuren. Ein solches Unterfangen durchbricht das Joh jedoch. Einzelfiguren, die diesen Kollektiven angehören, positionieren sich zum Teil entgegengesetzt. Sie sind dennoch in die Kollektive eingeordnet, da nicht die Bewertung, sondern die Kollektivzugehörigkeit hier das Kriterium ist. Zu einer Figur, der des Geliebten Jüngers, muss gesondert erwähnt werden, dass er ggf. mit anderen anonymen oder gar namentlich benannten Jüngerfiguren innerhalb des Kollektivs identifiziert werden kann. Lediglich Thomas, Judas Iskariot und Simon Petrus sind eindeutig auszuschließen. Die Unschärfe der Kollektive wird besonders bei den Widersachern Jesu deutlich, wo acht Begriffe z. T. synonym, z. T. subordinierend, z. T. komplementär genannt werden. Die hier vorgenommene Einteilung in eine Obermenge mit fünf und eine Untermenge mit drei möglichen Figurennamen mag eine Hilfe sein.320 Noch schwieriger ist die Lage bei einem weiteren zentralen Kollektiv im Konflikt um Jesus, welches wegen der Menge an Unschärfen mehrfach genannt ist: Die (jüdische) Bevölkerung. Diese wird teils als ‚die Juden‘, teils als Menge oder große Menge, teils als Menschen, als Volk oder auch mit verschiedenen Pronomen bezeichnet. Da hier jeweils im Einzelfall untersucht werden müsste, inwiefern die Bevölkerungsgruppen identisch oder überlappend zu verstehen sind und welche Dynamik sich innerhalb der Bevölkerung oder zwischen den entsprechenden Kollektiven entfaltet, werden hier nur einige (jeweils einzeln) benannt und kursiv gestellt. Die Figuren, die nicht zu einem der beiden Kollektive des zentralen Konfliktes (Wegbegleiter oder Gegenspieler) gehören, treten episodisch auf. Ihre Anordnung erfolgt entlang des dicken Pfeiles gegen den Uhrzeigersinn (ma318
Zu Hoheitstiteln Jesu vgl. z. B. Strecker, Theologie, 508–512. Vgl. Hunt/Tolmie/Zimmermann, Table. 320 Zum Kollektiv ‚Hohepriester‘ sei angemerkt, dass die Bemerkungen in 11,49.51 und 18,13 die häufige plurale Verwendung (7,32.45; 11,47 u. ö.) eigentlich ausschließen und dass der Figurenname im Singular teils mit Kajaphas, teils mit Hannas (vgl. 18,13.19.24) identifiziert wird. 319
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thematische Leserichtung) gemäß ihrer Erstnennung.321 (Die Belegstellen sind aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht angefügt.322) Abgesehen von Johannes (dem Täufer), dessen Jüngern, Jesu Mutter und seinen Brüdern sowie den Knechten der Hohepriester bzw. Pharisäer lassen sich alle Figuren auf eine oder mehrere Szenen innerhalb von maximal zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln einordnen, sodass die Reihenfolge einen ungefähren Überblick darüber gibt, ob eine Figur eher am Anfang, in der Mitte oder am Ende der Erzählung Bedeutung erlangt. Johannes kommt dabei eine besondere Rolle zu, da er als Wegbereiter fast auch Wegbegleiter ist und dem zentralen Konflikt um Jesus sehr nahe steht. Da er aber definitiv kein Jünger Jesu ist, ist er hier entsprechend der zweiten Systematik am Anfang des Pfeiles eingeordnet. Jesu Sterben ist als zentrales Ereignis durch ein Kreuz markiert.323 Die dritte und vierte Systematik betreffen jeweils nur wenige Figuren. Oberhalb von Jesus sind die metaphysischen oder transzendenten Figuren aufgeführt, die real, aber nicht sichtbar in der Erzählten Welt agieren. ‚Die Welt‘ ist als gewissermaßen metaphorische Figur dort ebenfalls aufgeführt. Inwieweit ‚die Welt‘ (in einer nicht-lokalisierenden Funktion) als Kollektiv verstanden werden muss und ob einige oder ggf. alle Figuren innerhalb der ersten und zweiten Anordnung in dieses Kollektiv eingetragen werden könnten, wird hier nicht diskutiert.324 Schließlich sind darüber hinaus noch die Figuren (und Erzähler) benannt, die außerhalb der Kernerzählung von Jesu Wirken, Sterben und Auferstehen (in etwa 1,19–21,22) benannt werden. Diese befinden sich quasi auf einer übergeordneten Erzählebene, die vor allem zeitlich über die übrige Erzählung hinausgeht, und durch die geschweifte Klammer (oben links) von den übrigen Figuren getrennt. Über eine mögliche Identifizierung zwischen Figuren auf den verschiedenen Erzählebenen (z. B. des Geliebten Jüngers mit dem Erzähler-Ich) ist damit keine Aussage getroffen. Zur Betrachtung des Schaubilds (Abb. 5325) empfiehlt es sich – entsprechend der vorgestellten Komplexität – eine Figur zu suchen und ihre Positionierung im jeweiligen System (zentral, episodisch, transzendent oder übergeordnet) zu betrachten und nicht das gesamte Figurenrepertoire erfassen zu wollen.
321
Einzige Ausnahme ist das Kollektiv ‚Knechte&Diener‘ der Hohepriester bzw. Pharisäer, welches wegen der zugehörigen Einzelfiguren nicht an der Stelle seiner Erstnennung (7,32) eingeordnet ist. 322 Siehe dazu Hunt/Tolmie/Zimmermann, Table. 323 Die Anzahl der Frauen, die in 19,25 bei Jesu Kreuz stehen, ist nicht eindeutig (je nach Lesart zwei, drei oder vier). Hier wurde die gängigste Lesart von vier Frauen gewählt (die drei genannten, zzgl. der Mutter Jesu). Vgl. dazu Tolmie, Women. 324 Vgl. zur ‚Welt‘ als Figur im Joh Skinner, World; zur Verwendung insgesamt Schnelle, Evangelium, 88 f. 325 Ich danke Berit Schulze für die technische Umsetzung der Grafik.
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Abb. 5: Figurenaufstellung des Joh
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4.2 Figurenauswahl Den Abschluss der Einleitung bildet die Auswahl der Figuren, die in den Teilen III–VI analysiert werden. Eine solche Auswahl war aus pragmatischen Gesichtspunkten notwendig, da angesichts von mehr als 100 Einzel- und Kollektivfiguren bei einer begrenzten Menge an Seiten und Zeit eine tiefschürfende Analyse und ein hohes Reflexionsniveau nicht hätten erreicht werden können. Um gleichzeitig eine gewisse Aussagekraft über die Möglichkeiten der narratologisch-ethischen Methode (Teil II) zu erhalten, wurde von vornherein entschieden, mehrere Figuren zu analysieren. Dies gewährleistet auch den exegetischen Schwerpunkt, der dieser Arbeit immanent ist. Während des Analyseprozesses kristallisierte sich eine Festlegung auf vier Figuren als sinnvoll und angemessen heraus. Doch wie sollten diese gewählt werden? Ausgeschlossen wurden prinzipiell Kollektive wegen der Konsistenzproblematik (vgl. 4.1.2) sowie alle lediglich benannten, aber nicht auftretenden Figuren, zzgl. der transzendenten und übergeordneten außerhalb der ‚realen‘ Interaktion in der Erzählten Welt (vgl. 4.1.3). Unter den anderen Figuren stand die Auswahl offen, wobei ein recht breites Spektrum an Figuren abgedeckt werden sollte. Ein ‚recht breites Spektrum‘ meint: Figuren, die (vom Erzähler) positiv, und welche, die negativ bewertet sind, Figuren mit vielen und wenigen Auftritten, Figuren beiderlei Geschlechts, Episodenfiguren, die nur für einen Nebenhandlungsstrang von Bedeutung sind, und andere, die eine zentrale Position in der Haupthandlung einnehmen, welche, die am Anfang der Erzählung, und welche, die am Ende auftreten, namentlich benannte und anonyme, Figuren mit intuitivem ethischen Gehalt und welche, bei denen man keine ethischen Applikationen vermutet. Wenngleich Jesus genau wie alle anderen Figuren als fiktives Wesen innerhalb der Erzählten Welt betrachtet werden kann, wurde er für die Analyse ausgeschlossen. Zu umfangreich wäre das zu untersuchende Textmaterial: Jesus ist in der überwiegenden Menge der Szenen anwesend und ist die Figur, die am häufigsten Subjekt oder Objekt von Handlungen ist. Ein Sechstel des gesamten Textes des Joh besteht gar aus wörtlicher Rede Jesu (vgl. Teil II – Methodologie: 1.5.8). Ferner ist er die wichtigste Bewertungsinstanz. Trotz seines Ausschlusses als primärem Untersuchungsgegenstand, fällt ihm für die Auswahl der Figuren eine besondere Rolle zu. Zum einen liegt das darin begründet, dass er als Hauptfigur (Held und Protagonist) an zentraler Stelle in der Figurenaufstellung steht und somit Figuren in Relation zu ihm und Abhängigkeit von ihm gewählt werden können (vgl. 4.1.3). Zum anderen sieht das Joh explizit (20,31) den Grund der Abfassung des Evangeliums im Glauben an Jesus. Demzufolge ist hier ein entscheidendes Bewertungskriterium – neben den von Jesus selbst geäußerten Urteilen – vorgelegt, was in der Einstellung der Figuren zu Jesus gründet.
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Die vier Figuren Simon Petrus, die samaritische Frau, Judas und Thomas decken das erwartete Spektrum sehr gut ab.326 Petrus ist nach Jesus die Figur mit den häufigsten expliziten Auftritten (neun).327 Als eine der ersten Figuren des Joh (1,40) und als letzte in Interaktion (abgesehen von der Vorausdeutung auf ‚die Brüder‘ durch den Erzähler; vgl. 21,22) ist er fast die gesamte Erzählung über (implizit) anwesend. Durch seine Vielzahl an Auftritten und Momenten, in denen er handelnd in Aktion tritt, ist er auffällig differenziert dargestellt. Er steht Jesus sehr nahe (u. a. 21,15–17) und hat als Jünger ein großes Identifikationspotential. Schließlich ist er eine der weniger Figuren, von denen neben ihrer Anteilhabe an der Geschichte Jesu in einem Nebenhandlungsstrang ein Teil ihrer eigenen Geschichte (bei Petrus: seine Verleugnung und ‚Rehabilitation‘) erzählt wird. Die samaritische Frau (drei Auftritte) fällt v. a. dadurch auf, dass sie in vielen Zuordnungen nicht dem Gros der Figuren im Joh entspricht. So ist sie anonym, weiblich und nicht-jüdisch. Als Episodenfigur tritt sie ferner nur in Joh 4 auf. Zugleich gehört sie (und das mag nach der vorausgegangenen Klassifizierung überraschen) zu den Figuren, mit dem größten Sprechanteil im Joh. Spannend ist sie auch, weil in ihrer ersten Szene auffällig viele atl. Verweise vorkommen, der metaphorische Gehalt in der wörtlichen Rede der Figuren hoch ist und sie eine breite Wirkungsgeschichte wegen ihres vermeintlich unsittlichen Verhaltens (vgl. 4,17 f.) hat. Judas (vier Auftritte) ist als Verräter, Mitglied des Zwölf-JüngerKollektivs und eindeutig negativ konnotierte Figur deutlich mit Spannungen beladen. Diese zeigen sich auch in seiner Beziehung zu Jesus (im wechselseitigen Verhalten und Jesu Äußerungen über ihn). Außerdem ist er eine der wenigen Figuren im Joh, die explizit mit sittlichen Regelungen in Verbindung gebracht werden. Er wird als Dieb bezeichnet und heuchelt den Wunsch, Almosen zu geben (12,5 f.). Seine Schlüsselrolle in der Erzählung macht eine Analyse zusätzlich lohnenswert. Thomas dagegen wird wirkungsgeschichtlich kaum in ethischer Hinsicht rezipiert und bietet im Gegenteil zu den vorausgehenden drei Figuren keinen intuitiven Anknüpfungspunkt an ein Thema für eine ethische Analyse. Vielmehr ist sein beinah idiomatisch gewordenes Zweifeln und sein abschließendes Bekenntnis genuin theologisch und so dominant aufgegriffen worden, dass daneben andere Wahrnehmungen von ihm als Figur (insbesondere die ersten beiden seiner fünf Auftritte) verblassen. Auch seine völlig unvermittel326
Entsprechend verwundert nicht, dass bei anderen Figurenanalysen, die eine Auswahl vornehmen, eine partiell überschneidende Auswahl getroffen wird (z. B. wählt J. Hartenstein u. a. Thomas und Petrus (vgl. dies., Charakterisierung) und N. Farelly u. a. Thomas, Petrus und Judas (ders., Disciples)). Eine narratologisch-ethische Analyse der Figuren findet sich in der Literatur zum Joh allerdings nicht. 327 Zur Abgrenzung der Auftritte bzw. Szenen vgl. Teil II – Methodologie: 1.1.
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te Ersteinführung und sein Zweit- bzw. Rufname versprechen Überraschungspotential. Als Jünger Jesu gilt für ihn in dieser Hinsicht gleiches wie für Simon Petrus. Natürlich wären auch andere Figuren für die weitere Analyse reizvoll: Pilatus wegen der Prozessgespräche, Malchus, der benannt ist, aber beinahe in Marginalität verschwindet, Nikodemus in seiner unklaren Bewertung, Kajaphas als Triebfeder des Todesurteils über Jesus, die anonyme Mutter Jesu in ihrem emotional ambivalenten Verhältnis zu ihrem Sohn, die betanischen Geschwister mit ihrer Nähe zu Emotionalität und Sinneseindrücken und in ihrer kontrastierenden Darstellung (11,1–12,11) u. v. m. Dieses Unterfangen muss allerdings an anderer Stelle in Angriff genommen werden. Bevor die hier gewählten Figuren analysiert werden können (Teil III–VI), ist die Methode darzustellen, mit der dies geschehen soll. Dies leistet der folgende Teil II, die Methodologie. Diese bietet ein umfassendes Instrumentarium zur Textanalyse, bettet dieses fachlich in literaturwissenschaftliche Ansätze ein und stellt die Struktur der daran anschließenden Anwendungskapitel zu Simon Petrus, der samaritischen Frau, Judas und Thomas vor. Die Reihenfolge der Figurenkapitel ist nach ihrem jeweiligen Erstauftritt angeordnet.
Teil II
Methodologie Die Methodologie bildet das theoretische und zugleich anwendungsbezogene System für die Synthese aus Figurenanalyse und ethischer Analyse, die das Ziel dieser Arbeit ist. Der Ausgangspunkt ist dabei ein dezidiert narratologischer, die Ausrichtung eine ethische.1 Durch Ersteres erhält die exegetische Arbeit am Bibeltext ein eigenes Gewicht gegenüber der Bündelung und Auffächerung der Ergebnisse und der Darstellung des ethischen Gehalts, was sich sowohl in der Erklärung der Werkzeuge (vgl. Kap. 1) als auch im Aufbau der Figurenkapitel (vgl. Kap. 2) widerspiegelt. Wenn der hier vorgestellte Umfang an Methodenschritten erschrecken mag, sei bereits vorweggenommen: Nicht alle Arbeitsschritte werden am gesamten untersuchten Bibeltext vorgeführt, denn nicht alle Arbeitsschritte sind bei jeder Figur für eine narrativethische Lesart von Ertrag (was angesichts der unterschiedlichen Ausgestaltung verschiedener Figuren und Textabschnitte einer Erzählung nicht erstaunt). Die Auswahl der vorgeführten Arbeitsschritte erfolgt zunächst anhand des Umfangs der jeweiligen Ergebnisse. Mit zunehmender Anwendungserfahrung entwickelt der Exeget aber ein Einschätzungsvermögen dafür, welcher Methodenschritt an welcher Stelle aussichtsreich ist. Wegen dieser Differenz zwischen umfassender Anwendung der Methode und verwertbarem Ertrag der Ergebnisse müssen auch Analysevorgehen und Darstellung divergieren. Dementsprechend werden in der Methodologie zuerst die Werkzeuge des narratologisch-figurenanalytischen Arbeitens am Bibeltext vorgestellt (Kap. 1) und anschließend die Darstellungsweise dargelegt und begründet, wie sie sich im Hauptteil der Arbeit, der Anwendung der Methodologie auf exemplarische Figuren (Teil III–VI), präsentiert findet (Kap. 2). Vorangestellt sind zwei Abschnitte: Der erste würdigt und erläutert die Dissertation Sönke Finnerns, die in Umfang und Verknüpfung von narratologischer Theorie und Anwendung in der ntl. Exegese beispiellos ist und für narratologisches exegetisches Arbeiten an biblischen Texten als grundlegend gelten darf.2 Sie stellt den Ausgangspunkt der Entwicklung der Methodologie
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Vgl. Teil I – Einleitung: Kap. 1. Als viel weniger umfassende, anschauliche Erstannäherung an das narratologische Arbeiten am biblischen Text mit vielen Bildern, Beispielen und Definitionen sei das aus dem 2
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Teil II: Methodologie
für diese Arbeit dar. Die zweite Vorbemerkung diskutiert die Angemessenheit der Anwendung narratologischer Methoden auf antike Texte im Kontext von Fiktionalität und Faktualität3. Sönke Finnern knüpft in seiner Dissertation4 an die in den exegetischen Wissenschaften rezipierten und entwickelten Ansätze, welche Bibeltexte als Erzählungen auffassen, an und liefert auf ihrer Basis eine konkrete Methodik für eine narratologische Analyse von Bibeltexten. Sein angestrebter enger Bezug zur Praxis der (narratologischen) Textauslegung vernachlässigt ein philosophisch-literaturwissenschaftliches Theoriegebäude, ohne darauf zu verzichten, gängige Begrifflichkeiten aufzugreifen, Verstehensmodelle vorzustellen und diese zu adaptieren oder zu verwerfen sowie Bezüge zur (im Jahr 2010) aktuellen Sozialwissenschaft, Psychologie und Literaturwissenschaft aufzuzeigen. Der Hauptteil von Finnerns Arbeit besteht in der Anwendung seiner ausgearbeiteten Methodik. Finnern fasst die Figurenanalyse als einen von fünf systematisch zu trennenden, aber eng miteinander verbundenen Analysebereichen auf. Innerhalb der Erzählung untersucht er mittels Handlungs-, Umwelt- und Figurenanalyse (Bereiche 1–3) inhaltliche Aspekte, die Perspektivanalyse (4) konzentriert sich auf die Darstellung und die Rezeptionsanalyse (5) fokussiert den (intendierten) Rezipienten. Finnern setzt sich zum Ziel, sowohl die Ansätze des Narrativ Criticism innerhalb der Bibelwissenschaft als auch aktuelle narratologische Entwicklungen innerhalb der Literaturwissenschaft aufzugreifen und so die bestehenden Modelle in einer Darstellung zu vereinen und anhand von Methoden zu konkretisieren.5 Für seine Figurenanalyse greift er insbesondere auf die filmanalytische Arbeit Jens Eders6 zurück und adaptiert und modifiziert diese für das Medium (biblischer) Erzählungen. Insbesondere seine Figuren- und Rezipientenanalyse waren für diese Arbeit instruktiv. Sie stellten sich für narrativ-ethische Fragen jedoch teilweise als zu wenig spezifisch heraus und erschienen andererseits in Anwendung auf das Joh partiell als übermäßig zergliedert7, sodass eine Ausdifferenzierung oder Weiterentwicklung der Finnern’schen Analyse verworfen und eine eigenständige Methodologie entwickelt wurde. Französischen übersetzte Einführungswerk ‚How to read Bible stories‘ (wenngleich nicht uneingeschränkt) empfohlen (Marguerat/Bourquin, Stories). 3 Aufgrund der prinzipiellen Gebundenheit von Fakten an einen Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozess kann (zumal in Erzählungen) kaum von Faktizität, sondern eher von Faktualität gesprochen werden. 4 Sönke Finnern: Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28, WUNT II 285, 2010. 5 Vgl. Finnern, Narratologie, 26 f. 6 Vgl. Eder, Figur; Teil I – Einleitung: 3.2. 7 So ist z. B. Finnerns Aufteilung des Innenlebens einer Figur in Pflichten, Wünsche, etc. im Joh kaum sinnvoll, da der Textbestand des Joh in den meisten Fällen keine Antworten auf die zugehörigen Fragen bietet.
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Da sich narratologische Ansätze vielfach auf die Märchen- und Romanforschung rückbeziehen, ist die Frage zu stellen, ob diese für fiktionale Texte entwickelten Methoden für faktuale8 Erzählungen, welche die biblischen Texte zumindest z. T. zu sein beanspruchen (vgl. 19,35; 21,24 f.), ebenfalls angemessen sind.9 Eine prinzipielle Debatte über das Verhältnis von Fiktionalität und Faktionalität muss hier unterbleiben.10 Zu einer Einordnung des Joh in die eine oder andere Kategorie fehlen insbesondere textexterne Signale, wie bspw. die Bezeichnung als ‚Roman‘ in der modernen Literatur. Die Genre-Frage, die bei der Entscheidung zwischen faktualen und fiktionalen Text
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Im Anschluss an H. White weisen die Adjektive ‚fiktional‘ und ‚faktual‘ auf den Inhalt der Erzählung, indem Letzteres einen Text klassifiziert, der sich auf „historische Ereignisse […], die einem bestimmten raum-zeitlichen Ort zugewiesen werden können,“ bezieht, während ein fiktionaler Text neben solchen Ereignissen auch von „vorgestellten, hypothetischen oder erfundenen Ereignissen“ handelt (ders., Klio, 145; angemerkt sei, dass der Terminus ‚Ereignis‘ abweichend vom übrigen Gebrauch in dieser Arbeit hier im geschichtswissenschaftlichen Sinn verwendet wird). 9 Innerhalb des Joh können aber auch deutliche Fiktionssignale wahrgenommen werden, z. B. der Einblick ins Innenleben von Figuren (z. B. 6,6; 12,6.42), welcher dem Erzähler einer faktualen Erzählung verschlossen bleibt oder als mutmaßlich interpretiert statt als absolut gültig eingestuft werden müsste. Zu textexternen und -internen Fiktivitätssignalen vgl. Finnern, Narratologie, 63–70. 10 Zur Verhältnisbestimmung existiert innerhalb der Narratologie ein eigener breiter Diskurs (vgl. z. B. Skalin (Hg.), Fact; zur Einführung vgl. Martínez/Scheffel, Einführung, 11–22). Verwiesen sei auf H. Whites Ansatz, der sich hier insofern durchschlägt, als nicht von Faktizität, sondern von Faktionalität gesprochen wird. White bezeichnet „historische Erzählungen als […] sprachliche Fiktionen […], deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist“ (ders., Klio, 102), arbeitet den konstruktiven Anteil von Geschichtswissenschaft (im Schaffen von Bedeutung, Aufzeigen von Zusammenhängen und Setzen von Bewertungen) heraus und betont den literarischen Anteil von Historiografie (a. a. O., 121; vgl. a. a. O., 101–122, 145–160). Gegen eine scharfe Trennung in Fiktionalität und Faktualität formuliert M. Zeindler: „In der Literatur lassen sich dokumentarische und fiktionale Anteile an Erzählungen oft kaum unterscheiden, und entsprechende Versuche würden auch das Wesen eines literarischen Zugangs zur Wirklichkeit verkennen“ (Zeindler, Erzählungen, 300). Auch wenn seine zuvorderst vorgebrachte, sehr pauschale Einschätzung hier nicht geteilt wird, kann jedoch letzterer Aussage gefolgt werden (s. u.). Eine ausführliche (wenngleich nicht erschöpfende) Literaturliste zur Verhältnisbestimmung von Fiktionalität und Faktualität bietet Finnern, Narratologie, 56 f., Anm. 138. Empfohlen sei ferner C. Bennemas kurze, figurenanalytisch und (u. a.) auf das Joh zugespitzte Reflexion (vgl. ders., Theory in NT, 63–67), die in einem Plädoyer für „a form of historical narrative criticism“ mündet (a. a. O., 67). Der Weg einer historischen Narratologie wird in dieser Arbeit nur eingeschränkt beschritten. Im Kontext der Fiktionalitäts-Faktualitäts-Diskussion sei auch auf den Sammelband von J.-A. A. Brant, C. W. Hedrick und C. Shea verwiesen, der frühchristliche (u. a. ntl.) und jüdische Texte unter dem bezeichnenden Titel ‚Ancient Fiction‘ versammelt und diskutiert. Das Joh findet abgesehen von wenigen Randbemerkungen allerdings keine Aufnahme.
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nicht unerheblich ist, wird im Joh unterschiedlich beantwortet.11 Sofern der Erzähler mit dem Autor identifiziert wird, gibt das Joh zumindest einige Hinweise auf Faktualität (1,14; 19,35; 21,24 f.). Dagegen wird durch die Wahl der 3. Person für den Zeugen und Autoren zugleich eine stärkere Mittelbarkeit erzeugt. Insbesondere die Allwissenheit des Erzählers12 ist ein Signal für Fiktionalität. Gewissermaßen wird im Joh innerhalb einer Fiktion Faktualität geschaffen. Im Passiv von 20,30 f. tritt der Autor gar ganz hinter seiner Erzählung zurück. Oft geht mit einer Klassifizierung in fiktionale und faktuale Texte eine Bewertung einher, die derzeitig die fiktionalen gegenüber den faktualen abwertet. Letzteren wird aufgrund ihrer historischen Faktizität eine höhere Wirklichkeitsrelevanz zugeschrieben, nach dem Motto: „Factual truth sells“.13 Zu einem konträren Ergebnis in der Gegenüberstellung kommt Aristoteles, der in erdachten Texten den größeren Wert sieht.14 Inwiefern dabei lediglich die Leserwahrnehmung eines Werkes als fiktional oder faktual dessen Wirkmächtigkeit beeinflusst, macht H. Porter Abbott an einigen Beispielen deutlich, wovon ausgehend er das Verhältnis von Fiktion und Nicht11 Eine Zuordnung des Joh zu einem bestimmten Genre (abgesehen von der als Erzählung) soll hier unterbleiben. Denn es enthält sowohl epische und biografische als auch tragische und dramatische Elemente. H. W. Attridge arbeitet (allerdings in Rückbezug auf den historischen Autor) heraus, wie viele verschiedene Genres das Joh in sich vereint, ohne eines in Reinform zu übernehmen oder einem zugehörig zu sein, und erklärt diese Vielfalt als Hinweis darauf, dass kein Genre für die Rede vom fleischgewordenen Logos angemessen ist (vgl. ders., Genre, v. a. 21). T. Wiarda analysiert Figurenmerkmale und -konstellationen in antiken literarischen Gattungen und versucht daraus die formalen Wurzeln der Petrus-Darstellung in den Evangelien zu erschließen, weist aber nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf, ohne eine Nähe oder gar eine Zuordnung zu einem bestimmten Genre vorzunehmen (vgl. ders., Peter, 183–205). Zum antiken Epos: P. Toohey betont, dass die Spannbreite der antiken Epen kaum Ausschlusskriterien für Werke zulassen (vgl. ders., Epic, 31), wobei gerade der Aufstieg des Christentums das Entstehen von Epen unterbindet; vgl. Griffin, Epic, 29 f. Als Tragödie im Aristotelischen Sinn versteht F. R. M. Hitchcock das Joh (ders., Gospel), was G. L. Parsenios als Engführung kritisiert (ders., Rhetoric, 10). Letzterer möchte das Joh im Kontext antiker Dramen insgesamt verstanden wissen (ders., Rhetoric, 11 f.). Zu Lesarten des Joh als Drama, Tragödie, antike Biografie und griechisch-römisches Bios vgl. Culpepper, Plot, 348–352. Er bezeichnet das Joh als „an ancient biography in dramatic form“ (a. a. O., 356). Vgl. ferner Lincoln, Gospel, 14–17; Stibbe, Storyteller, 30–49; ders. John’s Gospel, 35, 54–72. 12 Vgl. dazu Frey, Eschatologie II, 161 f. 13 Abbott, Introduction, 145. 14 Aristoteles sieht in der Dichtung die allgemeine Beschaffenheit der Welt ausgedrückt und schätzt sie damit gegenüber der Geschichtsschreibung als philosophischer ein (vgl. Aristot. poet. 1451b; zur Sonderstellung der Dichtkunst in den Fertigkeiten menschlicher Kultur vgl. a. a. O., 1460b). Empirisch belegt M. Appel in seiner Dissertation die Wirkung von Fiktionen auf Einstellungsänderungen (vgl. ders., Realität). Für die ethische Wirksamkeit einer Erzählung scheint demnach eine Klassifikation als fiktional oder faktual nicht entscheidend.
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Fiktion diskutiert.15 Die Erzählung bleibt von ihrer Einordnung unberührt. Die Lesewahrnehmung ändert sich lediglich – nicht zuletzt hinsichtlich der Figuren. Die Bezogenheit von Figuren auf den Leseprozess bedeutet für diese, dass immer Konstruktion im Spiel ist, wie H. Porter Abbott es visualisiert für fiktionale (a) und nicht-fiktionale (b) Erzählungen darstellt: (a) reader/viewer + narrative (b) reader/viewer + narrative
reader/viewer's construction of a character reader/viewer's construction of a real person16
Die Frage, ob das Joh nun z. B. einen fiktiven Thomas oder einen realen Thomas darstellt, ist für die Erzählung irrelevant.17 Für den Leser mag sie freilich von großer Bedeutung sein, kann aber hinter der Frage zurückgestellt werden, welche ethischen und theologischen Implikationen von Thomas ausgehen.18 In jedem Fall wird die Charakterisierung einer Figur in einer Erzählung dem realen Menschen nicht gerecht, da sie die Komplexität seiner Persönlichkeit (seiner Überlegungen, Gefühle, Eigenschaften, Motivationen, Handlungen etc.) auf das Erzählte verkürzt.19 Die Möglichkeit eines Rückbezugs des Joh auf einen historischen Jünger Thomas wird hier nicht diskutiert, wie auch die Frage nach dem historischen Jesus nicht verfolgt wird. Die wirklichkeitsformende und -verändernde Kraft von Erzählungen, die den biblischen Texten (unabhängig von einem Urteil über Fiktionalität und Faktizität) innewohnt, dient als Ausgangspunkt für eine Untersuchung, die auch mit einem Instrumentarium, welches ursprünglich der fiktionalen Erzählforschung entstammt, am Joh einer narrativ-ethischen Lesart dienlich ist. Damit ist die Perspektive von historischer Rekonstruktion auf sinnstiftende Auseinandersetzung verschoben.
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Vgl. Abbott, Introduction, 145–158; Vogt, Aspekte, 13–41. Als bedeutsamen Unterschied macht Abbott die Referenzialität aus, die nichtfiktionale Erzählungen an die Realität anbinden und Falsifizierbar machen (a. a. O., 153). 16 Abbott, Introduction, 134 f. 17 Verwiesen sei hier auf den Ansatz von C. Bennema, der seine Figurenanalyse mit weiteren Quellen jenseits des untersuchten Textes anreichert. Der betont: „the dramatis personae are composites of historical people and must be viewed within the sociohistorical context of first-century Judaism and not just on the basis oft he text itself“ (ders., Theory in NT, 63). Wenngleich in dieser Arbeit der Bezug historischen Menschen ausgeklammert wird (vgl. Teil I – Einleitung: 1.2 & 3.3), findet Bennemas Ansatz durch verschiedene Werkzeuge (v. a.) Eingang. 18 Hierin unterscheiden sich die biblischen von fiktiven, historisch verorteten Erzählungen. Während bei letzteren im Gegensatz zu den Orten und zeitgeschichtlichen Ereignissen die Figuren oder zumindest ihre Charakterisierung und die Figurenrede nicht als real angenommen werden (vgl. Bonheim, Modes, 26), sind diese bei biblischen Erzählungen umstritten und geraten immer wieder in Diskussion (vgl. nur die gesamte Suche nach dem ‚historischen Jesus‘). 19 Vgl. Abbott, Introduction, 136.
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1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse 1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse
Die Vielzahl narratologischer Werkzeuge, die einer Figurenanalyse mit ethischer Ausrichtung dienlich sind, lässt sich in verschiedene Kategorien einteilen. Diese Systematisierung ist keine zwangsläufige, sondern eine heuristische Strukturierung eines facettenreichen Vorgehens, sodass immer wieder Überschneidungen zwischen den Kategorien auftreten. Narratologie gleicht einer Werkzeugkiste, in der sich eine große Auswahl an Vorgehensweisen auftut. Zwischen Klauenhammer und Rohrzange, Fuchsschwanz und Maurerkelle, Winkel und Zollstock verliert man schnell den Überblick. Außerdem sind die Anwendbarkeit von Werkzeugen und ihr Ergebnis vom Bearbeitungsgegenstand abhängig. Bei der narratologischen Analyse werden keine Keller gefliest, Fahrräder repariert oder Schränke zusammengebaut. Deutungshorizonte eines erzählenden Textes werden aufgezeigt. Dazu bauen die verschiedenen Werkzeuge aufeinander auf, ergänzen sich und korrigieren einander. Abhängig vom spezifischen Textabschnitt einer Erzählung tragen verschiedene Werkzeuge auch das Gleiche aus. Dennoch werden sie nicht austauschbar, sondern bestärken sich vielmehr gegenseitig. Erst die Zusammenschau der verschiedenen Einzelergebnisse vermittelt eine adäquate Übersicht über die ethische Wirkmächtigkeit einer Figur. Gerade diese Verwobenheit von Werkzeugen verdeutlicht die Eigenart der Arbeit an narrativen Texten. Auf einer Vielzahl von Ebenen vollziehen sich Kommunikation und Wirklichkeitsentfaltung in einer Erzählung. Wenngleich sich also die Methoden hier nicht trennscharf abgrenzen lassen (Ist eine Kombizange eher Zange oder Schneidwerkzeug – und wo ist ein Leatherman einzuordnen?), kann die Unterteilung dennoch eine wertvolle Hilfestellung sein, um einen Überblick zu ermöglichen. Die Reihenfolge, in der die Werkzeuge vorgestellt werden, ist somit nicht als Abfolge der Anwendung gedacht. Vielmehr wurde eine Systematisierung vorgenommen, die hilft, einzelne Werkzeuge im Gesamtprozess zu verorten. Sechs Kategorien finden sich im Folgenden. Die Strukturierung erfolgt nach narratologischen Gesichtspunkten, die Bedeutung für die ethische Figurenanalyse wird in den jeweiligen Einzelwerkzeugen aufgeführt. Abgrenzung und Einbettung (1) stecken den zu untersuchenden Textbestand ab und verorten diesen im Gesamttextbestand. Zudem liefern sie einen Überblick über die Zusammensetzung der Szene. Die Struktur der Szene (2) konzentriert sich auf Erzählstimme und Syntax. In der Entfaltung der Erzählten Welt (3) wird die Situation, in der die Figuren auftreten, zusammengetragen. Der zentrale Abschnitt der Darstellung und Lebendigkeit von Figuren (4) analysiert die Einzelfiguren in ihrer Darstellung, ihren Beziehungen und ihrem Handeln. Besondere Beachtung innerhalb des Figurenhandelns verdienen die Sprechhand-
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lungen20 (5), in denen sich die Erzählte Welt, der Charakter und die Einstellung der sprechenden Figur und die Figurenverhältnisse spiegeln. Schließlich sammeln sich in der rezipientenorientierten Kategorie der Leseranregung (6) die Werkzeuge, die Denkprozesse des Lesers an Deutung und Sinnstiftung erzählender Texte betonen. Eine Übersicht über die Kategorien und die jeweils zugeordneten Werkzeuge findet sich im Anhang, wo eine solche Anordnung vorgenommen wurde, dass (im Gegenteil zum Inhaltsverzeichnis) alle Werkzeuge auf einer Seite aufgeführt sind. Die einzelnen Werkzeuge werden jeweils erläutert und begründet – wobei die Beziehung zwischen narratologischem Zugang und ethischem Gewinn dargelegt wird. Z. T. wird die Darstellung der Ergebnisse eines Werkzeugs diskutiert und reflektiert. Solche pragmatischen Überlegungen sind deshalb unerlässlich, weil die Darstellung wesentlichen Einfluss darauf hat, welche Erkenntnisse betont und welche vernachlässigt erscheinen. So legen Veranschaulichungen oft eine bestimmte Interpretationsrichtung nahe oder haben zumindest wesentlichen Anteil an der Plausibilisierung von Ergebnissen.21 In den sechs Kapiteln erfolgen vermehrt exemplarische Anwendungen an einer Szene oder Figur des Joh. Sofern ausführliche Applikationen geboten werden, befinden sie sich i. d. R. am Ende des jeweiligen Werkzeuges. Leser, die solcher Beispiele nicht bedürfen, mögen diese überspringen. Begrifflich wird die Figur, die mit Hilfe der jeweiligen Werkzeuge untersucht wird, als Fokusfigur bezeichnet und so von anderen Figuren der Erzählung unterschieden. Da die Beispiele ‚nur‘ der Veranschaulichung der Methode dienen, werden die jeweiligen Ergebnisse nicht – oder nur sehr eingeschränkt – mit den analytischen Teilen dieser Arbeit (III–VI) vernetzt oder mit Einschätzungen von Kommentaren, Monografien oder Aufsätzen abgeglichen. 1.1 Abgrenzung und Einbettung Der erste Schritt der Analyse ist eher formaler Natur. Die meisten Kommentare und Bibelübersetzungen strukturieren Bibeltexte und teilen sie in Sinnabschnitte ein. Eine solche Abgrenzung ist eher ein textlinguistischer als ein narratologischer Arbeitsschritt.22 Für die Analyse ist er jedoch zwingend erforderlich, um das zu untersuchende Textmaterial vom Gesamttextbestand abzugrenzen. Dabei ist Sorgfalt geboten, denn „[j]ede Aufteilung eines Textes beeinflusst die Auslegung.“23 Eine Reduktion auf die Sätze, in denen eine 20
Der Begriff Sprechhandlung umfasst alle verbalen Äußerungen von Figuren, die im Joh zumeist als direkte Rede wiedergegeben werden. Vgl. zum Begriff und der genauen Analyse 1.5. 21 Vgl. auch die Ausführungen zur grafischen Darstellung des joh. Figurenrepertoires (Teil I – Einleitung: 4.1.3). 22 Vgl. Finnern, Narratologie, 91. 23 Van Tilborg, Joh, 2.
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Figur erwähnt wird, erscheint schon deshalb nicht sinnvoll, da damit Handlungszusammenhänge abgerissen und die situative Einbettung von Figuren in ihre Erzählte Welt aufgelöst werden. Die aus Bibelübersetzungen bekannte Abgrenzung in Perikopen ist oftmals sehr umfassend und dient eher einer inhaltlichen als einer figurenbezogenen Strukturierung des Gesamttextes sowie der Einteilung in Abschnitte pragmatischer Länge. Deshalb werden hier andere Kriterien für eine Abgrenzung vorgeschlagen. Darüber hinaus wird erörtert, wie der jeweils abgegrenzte Textbestand in die Gesamterzählung eingebettet ist. Ferner werden in diesem Unterkapitel einige für diese Arbeit grundlegende Begriffe eingeführt und die Haupthandlung des Joh wird skizziert. Der Begriff ‚Figur‘ evoziert bereits eine hohe Anschaulichkeit. Zudem ist die Verbildlichung von Ereignissen in der Vorstellung des Lesers eine der besonderen Möglichkeiten und Eigenschaften von Erzählungen, was eine auffallende Nähe der Narratologie zu den Film- und Theaterwissenschaften begründet.24 So ist das Joh als „Historisches Drama“25 oder als „dramatische Erzählung“26 bezeichnet worden. Die Abgrenzung in Szenen ist demnach eine naheliegende Möglichkeit der Strukturierung.27 Die einzelnen Szenen werden durch Wechsel der Zeit, des Ortes oder der Figurenkonfiguration voneinander abgegrenzt.28 24
Gemäß der klassischen Trennung der literarischen Gattungen in Epik, Lyrik und Drama (vgl. Horn, Theorie, 8 f.) wäre das Joh wohl in den Bereich der Epik einzuordnen. Die moderne Gattungstheorie gibt aber Grenzüberschreitungen Raum und mit dem Aufkommen der Narratologie sind diese Grenzen bewusst durchbrochen (vgl. Horn, Theorie, 10 f., 16–18, 64 f.), sodass der dramatische und lyrische Gehalt des Joh unbedingt einbezogen werden darf. 25 Thyen, Joh, 111. 26 Theobald, Evangelium, 27. Gegenüber einer Einordnung des Joh als Drama betont J. Frey dessen narrativen Charakter (vgl. Frey, Eschatologie I, 325 f.). Dieser Kritik entspricht der Diskussionsbedarf der (theaterwissenschaftlichen) Abgrenzung einzelnen Szenen (s. u.). Dennoch trägt eine szenische Einteilung der Anschaulichkeit des Joh m. E. am besten Rechnung. 27 L. Schenke wählt eine Aufteilung in Akte, Bilder und Szenen (vgl. ders., Johannes, 9,14–17). Ähnlich vollzieht H. Thyen seine Gliederung in Akte und Szenen (vgl. ders., Joh, VI-XII). Kritisch angemerkt werden kann zu diesem Vorgehen, dass eine schriftliche oder mündliche Erzählung gerade nicht nur aus Szenen besteht (wie bspw. visuelle Medien wie Film oder Theater), sondern auch Passagen integriert, die jenseits einer konkreten Vorstellbarkeit liegen (vgl. dazu auch Koschorke, Wahrheit, 71–74). Dies spiegelt sich darin, dass die Szenenabgrenzung vielfach nicht im Text abgelesen werden kann, sondern z. T. intensiv diskutiert werden muss (s. u.). Dennoch ist diese Einteilung ein ausgesprochen hilfreiches Werkzeug zur pragmatisch notwendigen Reduktion des zu untersuchenden Materials. Zudem ist gerade die Figurenanalyse von solchen Abgrenzungsschwierigkeiten nur marginal betroffen. 28 Die Abgrenzungskriterien beziehen sich dabei auf das Geschehen der Erzählten Welt. Pro- oder analeptische (vgl. 1.6.3) Erzählerkommentierungen (vgl. 1.2.1) werden ebenso
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Allerdings entziehen sich Erzählungen teilweise einer solchen Einteilung in zeit-, orts- und figurenkonsistente Szenen (z. B. können Kommentierungen (vgl. 1.2.1) ohne raum-zeitliche Anbindung außerhalb des Handlungsverlaufs liegen). Diese Abgrenzungsschwierigkeiten seien kurz in Bezug auf Zeit, Ort und Figuren besprochen: Für die zeitliche Struktur einer Szene ist der Begriff der Erzählten Zeit – im Gegensatz zu dem der Erzählzeit – einzuführen. Erstere meint die Zeit, die innerhalb der Erzählung verstreicht, Erzählzeit hingegen die Dauer des Erzähl- bzw. Leseprozesses (vgl. Teil I – Einleitung: 1.3.1).29 Erzählzeit und Erzählte Zeit verlaufen nur selten synchron, wodurch ein Zeitwechsel innerhalb von Szenen beinahe zwangsläufig ist. Zudem ermöglichen iterative und raffende Sätze Zeitsprünge, welche teilweise das Geschehen der Szene ausmachen. Solche Zeitsprünge begründen keinen Szenenwechsel, sondern die Dynamik oder den Inhalt einer Szene. Auch ein Ortswechsel innerhalb einer Szene kann gerade durch die Handlung bedingt sein (z. B. wenn Figuren von A nach B reisen). Schließlich treffen Figuren manchmal zeitlich versetzt in einer Szene ein oder verlassen diese nacheinander, ohne dass die Handlung unterbrochen wäre (markant in 8,9). In einigen Fällen machen gerade diese Auf- und Abgänge (im theaterwissenschaftlichen Jargon gesprochen) die Handlung aus. In Erzähltexten, kann auch der Zeitpunkt des Eintreffens oder Abgehens einer Figur komplett verschwiegen werden (z. B. Nikodemus in 3,9–21). Dort verliert die Figurenkonsistenz ihren Anspruch als Abgrenzungskriterium. All diese Schwierigkeiten deuten darauf hin, dass die Szenenabgrenzung trotz der Kriterien im Einzelfall diskutiert und begründet werden muss. Z. T. werden zwei einzelne Szenen, die gemäß einer strengen Abgrenzung getrennt würden, zusammen als Doppelszene30 analysiert (z. B. 1,41 f.). Es gibt auch Erzählungen oder längere Passagen innerhalb von Erzählungen, die sich einer hier vorgeschlagenen Szenenabgrenzung vollkommen entziehen, da Ort, Zeit und Figurenkonfiguration über den gesamten Erzählwenig einbezogen wie Nennungen von nicht anwesenden Figuren innerhalb von Figurenrede und Erzählerverweisen. Der Terminus ‚Figurenkonfiguration‘ ist von M. Pfister übernommen (vgl. ders., Drama, 225) und meint alle zeitgleich am Erzählschauplatz anwesenden Figuren. Vgl. zur Figurenkonfiguration 1.3.4. Die Abgrenzungskriterien einer Szene entsprechen der Verwendung des Terminus in der Dramentheorie (abgesehen von Ausnahmen wie z. B. Shakespeare) (vgl. Balme, Szene, 321; Pfister, Drama, 312 f.). Eine Unterscheidung zwischen schauplatzgebundener Szene und personenkonsistenten Auftritten (vgl. Hofmann, Drama, 34 f.; Pfister, Drama, 314 f.) wird nicht vorgenommen. 29 Eingeführt wurde die Verhältnisbetrachtung der beiden Zeitbegriffe 1946 von Günther Müller (Vgl. Vogt, Aspekte, 100 f.). Im englischsprachigen Diskurs finden sich für Erzählzeit die Begriffe ‚narrative time‘ oder ‚discourse time‘ und für Erzählte Zeit ‚narrated time‘ oder ‚story time‘ (vgl. Bode, Roman, 97 f.). 30 Werden drei oder mehr Szenen so zusammengefügt, können entsprechende Bezeichnungen wie ‚Dreifachszene‘ o. ä. gebildet werden.
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verlauf hinweg nicht variieren. Ein prägnantes Beispiel sind Monologe.31 Durch solche kaum oder gar nicht unterbrochene Figurenreden können ‚Mammutszenen‘ von langer Erzählzeit entstehen, die in ihrem Ausmaß unübersichtlich werden und weiterer Einteilung nach anderen Kriterien bedürfen (z. B. 13,31–16,33).32 Um unverhältnismäßigen narratologischen Analysen entgegenzuwirken, kann eine Abgrenzung des Textmaterials einzeln begründet und vollzogen werden, um Binnenszenen zu bilden.33 Die Schwierigkeiten einer trennscharfen Abgrenzung machen die Notwendigkeit des zweiten Schritts deutlich: Die kontextuelle Einbettung der Szene.34 Oft bilden mehrere Szenen einen Erzählzusammenhang, der durch Themen (z. B. durch einen Konflikt, der aufgebaut und gelöst wird), Orte oder Figuren festgelegt wird. So lassen sich mehrere Szenen zu einer Episode zusammenfassen.35 Zur kontextuellen Verortung ist zunächst festzustellen, an welcher Position des Erzählplots sich die Szene befindet und damit, ob eher ein Nebenhandlungsstrang eröffnet oder ein Teil der Haupthandlung erzählt wird. Die Unterscheidung in Haupt- und Nebenhandlung lässt sich nicht trennscharf vollziehen.36 Erstere zeichnet sich dadurch aus, dass sich ihre Episoden erzähllogisch bedingen, der Wegfall einer von ihnen also Alternativepisoden erzwingt oder zur Unverständlichkeit führt. Umgekehrt können Episoden der Nebenhandlung aus einer Erzählung gestrichen werden, ohne dass der Erzählverlauf 31
Durch innere Monologe (Wiedergabe von Gedankengängen einer Figur in direkter Rede – als spräche eine Figur mit sich selbst) ist es sogar möglich, die Erzählte Zeit beliebig lange pausieren zu lassen. Zu inneren Monologen vgl. z. B. Vogt, Aspekte, 181–194. In biblischen Erzähltexten kommen längere innere Monologe nicht vor. 32 Im AT ist das Buch Hiob bezeichnend (Kapitel 3–31 sind eine Szene!). Inwiefern es außerhalb der Rahmenhandlung (Ijob 1 f.; 41) überhaupt als Erzählung einzuordnen ist, kann diskutiert werden. Im NT sei neben Joh 13,31–16,33 v. a. Mt 5–7 genannt. 33 Zu exemplarischen Abgrenzungen innerhalb von 13,31–16,33 vgl. Simon Petrus’ vierte und Thomas’ zweite Szene (Teil III – Petrus: Kap 4; Teil VI – Thomas: Kap. 2). 34 Die doppelte Einbettung einer Passage in den unmittelbaren Kontext und den des gesamten Joh führt auch bspw. M. W. G. Stibbe als ersten Schritt der Analyse ein (vgl. ders., John, 10 f.). 35 So erstreckt sich die Episode der Lahmenheilung am Sabbat (5,1–15) über vier Szenen. Diskutiert werden kann hier, ob die folgende Szene 5,16–47 zumindest teilweise (16 oder 16–18) hinzugezählt werden muss. Diese kann jedoch auch einfach als nächstgrößer gefasste Episode benannt werden. Der Begriff ‚Episode‘ wird hier in Anlehnung an die Begrifflichkeiten in Film- und Romantheorie gewählt und meint die Zusammenfassung mehrerer Szenen aus inhaltlichen Gründen. Von ‚Perikopen‘, die sich in erster Linie an einer praktikablen Länge für Lesungen orientieren, soll nicht gesprochen werden, da dies für die narratologische Analyse nur bedingt ein Kriterium ist, s. o. Wie obiges Bsp. bereits zeigt, ist der Begriff ‚Episode‘ nicht als klares Abgrenzungswerkzeug verwendet, sodass Episoden unterschiedlicher Länge ihrerseits wieder kürzere Episoden enthalten können. 36 Vgl. Pfister, Drama, 286 f.
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unverständlich wird. Die Haupthandlung des Joh wird wie folgt vorgeschlagen: Zentral für den Erzählzusammenhang sind Jesu öffentliches Auftreten und Wirken (Wunder und Lehre), welches ihm Anhänger (v. a. Jünger) und Gegner (diverse Kollektive, z. B. Pharisäer) zukommen lässt37 und schließlich zu einem Tötungsbeschluss führt, sein Kommen nach bzw. Aufenthalt in Jerusalem, die Überlieferung an die Feinde durch Judas, Jesu Festnahme, seine Verurteilung zum Tod (durch Pilatus), die Kreuzigung, Grablegung und die Begegnungen der Anhänger mit dem Auferstandenen.38 Einige Elemente können dabei verschieden ausgestaltet werden (z. B. die Steigerung des Konflikts: Wunder als Sabbatbruch in 5,9 f.16; 9,14.16 und enorme Popularität in 4,1; 6,15; 12,10 f.19 u. ö., welche den Unmut der geistlichen Oberschicht, Synagogenausschluss der Anhänger und Tötungsabsicht motivieren). In den übrigen Abschnitten werden Nebenhandlungen erzählt, ohne die der Plot ohne erzähllogische Brüche fortbestehen würde (z. B. die Samariaepisode in 4,4–43).39 Über die Verortung im Erzählplot hinaus wird zusammengefasst, was im Anschluss an die Szene geschieht und – wichtiger noch – was unmittelbar zuvor erzählt wurde. Letzteres ist vor allem wichtig, weil ein Leser der Erzählung das unmittelbar zuvor Wahrgenommene noch mit in den Fortlauf der Erzählung einträgt. Insbesondere Spannungen und Emotionen aus Vorszenen können so nachfolgende Szenen färben.40 Neben dem narrativen Kontext ist auch der ethische Kontext zu untersuchen. So werden insbesondere die Episodenthemen auf ihre Bewertungen untersucht. Erwähnte Normen und ethische Fragestellungen werden hinzugezogen. So wird bspw. die Heilung des Gelähmten in 5,2–9 im Kontext des Sabbatgesetzes (spezieller: der Sabbatverbote 5,10.16) erzählt. Krankheit wird gegenüber Schlechterem ( ) relativiert, wobei dies Schlechtere als Konsequenz von sündigem Tun dargestellt wird (5,14). Auch Begründungen 37
Vgl. dazu die Figurenaufstellung in der Einleitung (Teil I: 4.1.3). In der Haupthandlung stimmen somit die kanonischen Evangelien im Wesentlichen überein. A. Culpepper bietet eine ähnliche Zusammenfassung des joh. Plots im Sinne der Haupthandlung. Vgl. ders., Anatomy 97 f. Vgl. auch Farelly, Disciples, 168 f. Ausführliche Überlegungen zum Plot des Joh nehmen J. L. Resseguie (vgl. ders., Gospel, 169–196) und M. W. G. Stibbe (vgl. ders., John’s Gospel, 32–53) vor. Zur Analyse der Aktantenstruktur des joh. Plots vgl. a. a. O. 35 f., 45–48; vgl. Teil I – Einleitung: 4.1.1. 39 Als Argument für literarkritische Scheidung ist eine solche ‚Herauslösbarkeit‘ schwerlich ein hinreichendes Kriterium, da die Möglichkeit, Nebenhandlungsstränge einzubinden, zu Erzählungen gattungsbedingt dazugehört. Zur Samariaepisode ausführlich vgl. Teil IV – Samaritische Frau. 40 Eine dezidiert ethische Analyse des Plots unternimmt M. E. Mills für einige Figuren des AT, jedoch ohne ihr Vorgehen methodisch darzulegen (vgl. dies., Morality, v. a. 97 f., 160–162). 38
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für Tötungsabsichten werden im Kontext geliefert (5,18). So ist die Heilungserzählung in der Rahmung religiöser Richtlinien, zeitlicher Bindung von Bewertungskriterien (Bewertung ist wochentagsabhängig), der Abstufung von gutem und falschem (= sündigem) Handeln und auf einer Metaebene in den Konflikt zwischen Prinzipien- und Individualethik sowie deontologischer und teleologischer Begründung einzuordnen. Auf der Ebene der Erzählten Welt tragen die Figuren ihre vorherigen Erlebnisse mit in die Szene hinein.41 Ein neuer Szeneneinsatz macht Figuren nicht zur Tabula rasa. Eine szenische Abgrenzung darf deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erzählung fortlaufend weitergeführt wird und somit Erlebnisse und Emotionen aus vorigen Szenen das Verhalten der Figuren mitbestimmen.42 Der Ausdruck ‚Verhalten‘ weist darauf hin, dass neben der aktiven Ausführung von Einzelhandlungen auch das Unterlassen von Handlungen eingeschlossen ist.43 Für die untersuchten Einzelfiguren werden die Szenen expliziter Nennung chronologisch analysiert, sodass auf sie bezogen dieser Erkenntnis Rechnung getragen wird. Für alle übrigen Figuren und die Szenen der impliziten Anwesenheit leistet dieser Arbeitsschritt Kompensation, indem er vorige Ereignisse zusammenfasst und insbesondere hervorhebt, was die Figuren der jeweiligen Figurenkonfiguration zuvor erlebten. Nichtsdestotrotz begreifen auch viele der folgenden Werkzeuge die Szene nicht isoliert, sondern greifen auf den Erzählkontext zurück, was jeweils ausgeführt wird. 1.2 Struktur der Szene Die Werkzeuge, die sich mit der Struktur der Szene befassen, sind weitgehend deskriptiv. Sie klassifizieren den Text nach Erzählebene, Satzmodus und Verbarten und untersuchen die Syntax. Damit wird hier ein deutlicher linguistischer Einschlag ersichtlich, der bei einem textbezogenen Ansatz unumgänglich ist.44 In die Kategorie dieser, den Erzähltext strukturell wahrnehmenden, Werkzeuge fallen fünf Methodenschritte.
41 Natürlich können auch andere Entitäten wie z. B. Orte vorausgegangenes Geschehen in die Szene eintragen. 42 Bspw. erinnern die Jünger Jesus in 11,8 an die in 10,31 erzählte versuchte Steinigung. 43 Damit entspricht die Verwendung der Terminologie dem alltagssprachlichen Gebrauch, in welchem ‚Handeln‘ mit Aktivität konnotiert ist, und lehnt sich an J. Straubs Handlungstheorie an (vgl. ders., Handlung, 10–12). Eine ausführliche Aufnahme von Letzterer kann hier auch schon aus Platzgründen nicht geboten werden. An geeigneten Stellen wird aber auf diese verwiesen. 44 Zum Zusammenspiel von Sprache und Ethik im NT vgl. den von J. G. van der Watt und R. Zimmermann herausgegebenen Sammelband ‚Moral Language in the New Testament‘, einführend: Luther/Zimmermann, Language.
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1.2.1 Erzählstruktur Das erste Werkzeug dieser Kategorie ist die Erzählstruktur, welches zugleich den größten Raum einnimmt. Unterscheidungen, die vielfach intuitiv klar sind, werden hier durch begriffliche Differenzierungen nachvollziehbar gemacht. Die Begriffe sind im Text jeweils kursiv hervorgehoben. Wer eine solche, eher ‚trockene‘, Diskussion von Terminologien umgehen möchte, der sei auf das Beispiel am Ende von 1.2.1 verwiesen, das alle Differenzierungen, die die Erzählstruktur vornimmt, verdeutlicht. Erzählungen setzen sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Der bedeutsamste ist sicherlich das Erzählen von Handlung. Wenn sich in einem Text nichts ereignet, kann man schwerlich von einer Erzählung sprechen. Das Ausweichen auf das Lexem ‚ereignen‘ bringt dabei schon zum Ausdruck, dass nicht notwendiger Weise ein handelndes, figürliches Subjekt erforderlich ist. An dieser Stelle sei noch eine begriffliche Differenzierung vorgenommen: Das Geschehen jeder Erzählung setzt sich aus einer Folge von Ereignissen zusammen.45 Sofern nicht die Handlung im Sinne des Plots des Joh als Ganzes in den Blick genommen wird (s. u.), bezeichnet Handlung in dieser Arbeit ein Ereignis mit aktiver Figurenbeteiligung (z. B. ein Lahmer nimmt sein Bett, vgl. 5,9). Dagegen meint Geschehnis ein Ereignis ohne aktive Figurenbeteiligung (z. B. ein Sturm entsteht, vgl. 6,18). Für die Ereignisse in einer Erzählung ist unwesentlich, ob sich ein tatsächliches Geschehnis oder eine tatsächliche Handlung in der Erzählten Welt ereignen oder lediglich die Überlegungen in den Gedanken einer Figur ein Ereignis ausmachen. In den biblischen Erzählungen ereignet sich die Handlung stets innerhalb der Erzählten Welt – zum Teil in Figurenrede in Erzählten Binnenwelten46 (z. B. 10,1– 5). Damit wird schon eine wesentliche Unterscheidung der Erzählstruktur eingespielt: Die Erzählebene.47
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Der Begriff ‚Ereignis‘ wird hier im weiten Sinne verwendet (vgl. Ricœur, Selbst, 94– 109 – zunächst referiert P. Ricœur ‚Ereignis‘ allerdings als Gegenbegriff zu ‚Handlung‘ (vgl. a. a. O., 79–93)). Er setzt eine in irgendeiner Form wahrnehmbare Veränderung voraus. Ein Grad an Bedeutsamkeit oder die Möglichkeit von Verortung oder Datierung müssen nicht gegeben sein. Jedes Ereignis teilt die Erzählte Zeit (vgl. 1.1; 1.3.1) in ein ‚davor‘ und ein ‚danach‘. Im Text spiegelt sich dies i. d. R. durch Verben, die keine Zustände beschreiben. Der Leser weiß um die Veränderung in der Erzählten Welt und kann sie in seiner Imagination erleben. Vgl. auch S. Bar-Efrats Definition von Ereignissen als „kleinste Einheiten der Erzählung“ (ders., Bibel, 109). 46 ‚Erzählte Binnenwelt‘ meint die Erzählte Welt, die eine Figur in ihrer Figurenrede kreiert. Diese muss nicht mit der Erzählten Welt der gesamten Erzählung übereinstimmen. 47 G. Genettes bietet in seiner Erklärung der Erzählebene u. a. eine anschauliche Grafik, mehrere Bsp. und kurze Ausführungen zu möglicher Kritik (vgl. ders., Erzählung, 225– 232).
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Viele biblische Erzählungen greifen auf wörtliche Rede der Figuren zurück. In dieser Figurenrede spricht eine Figur primär48 zu anderen Figuren innerhalb der Erzählten Welt, also auf zweiter Ebene.49 Alle übrigen Sätze – außerhalb von Figurenrede, auf erster Ebene – sind dem Erzähler zugeordnet. Für die Erarbeitung der Erzählstruktur ist es hilfreich, weitere Erzählebenen zu markieren. Biblische Erzählungen lassen sich allerdings i. d. R. auf maximal drei Erzählebenen reduzieren (solch eine seltene dritte Erzählebene gibt es z. B. in 1,33). Da die Analyse der Figurenrede aber eigens vorgenommen wird (1.2.2; 1.5), muss die Differenzierung ab der zweiten Ebene hier nicht näher ausgeführt werden. Bei fehlenden Satzzeichen (wie in den biblischen Texten) sind die wichtigsten Hinweise auf einen Ebenenwechsel die Verwendung von verba dicendi50 und ein Wechsel von der 3. in die 1. oder 2. Person. Mit Hilfe dieser beiden Signale lässt sich der Text einer Szene zunächst auf die beiden Erzählebenen (Erzähler und Figurenrede) aufteilen. Der Textbestand außerhalb der Figurenrede lässt sich in beschreibende, erzählende und kommentierende Sätze und Halbsätze aufgliedern.51 Erkennungsmerkmal für die Unterteilung sind die Satzstruktur und die Verben. Kommentierungen, die zuvor Berichtetes aufgreifen (Interpretationen, Erklärung und Bewertung von Ereignissen, Übersetzungen von Begriffen) oder den Leser direkt (2. Person) ansprechen, lassen sich in erster Linie dadurch abgrenzen, dass sie über die Erzählte Zeit oder die dargestellte Situation in der Erzählten Welt hinausgreifen und erklärenden Charakter haben. Signalwörter können Konjunktionen oder Adverbien sein, die logische Zusammenhänge 48
Zu sekundären Funktionen der Figurenrede vgl. u. a. 1.6.2. Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung zwischen Figurenrede und ‚Erzählerrede‘ für die Erzählanalyse betont auch P. Cobley und knüpft dabei an den Aristotelischen MimesisBegriff an: „the seperation of the voices in Aristotelian imitative mimesis and the voices which frame mimesis remains a crucial analytic distinction“ (ders., Narrative, 66). Zu Mimesis vgl. auch 1.4. 50 J. Vogt spricht von der „inquit-Formel“ (ders., Aspekte, 151 u. ö.). 51 Dieses Einteilungsvorgehen, welches die Analyse der Erzählstruktur ausmacht, beschreibt H. Bonheim als „Mode Chopping“ (ders., Modes, 18–36). Sein Fokus auf moderne Kurzgeschichten trägt für eine figurenanalytische Untersuchung des Joh allerdings nur wenig aus. Der Ausdruck ‚Mode Chopping‘ legt die Möglichkeit trennscharfer, ‚harter‘ Abgrenzungen nahe, wenngleich er einer solchen Vorstellung ausdrücklich widerspricht (vgl. a. a. O., 18). Verwiesen sei hier auch auf E. Lämmerts ‚Bauformen des Erzählens‘. Lämmert unterscheidet „[s]zenische Darstellung“, „Bericht“, „Betrachtungen und Erörterungen“ sowie die „Grenzfälle“ „Beschreibung“ und „Sentenzen“ (a. a. O., 87 f.). Während die dritte Kategorie weitgehend deckungsgleich mit der hier gewählten der ‚Kommentierung‘ ist (welche allerdings Sentenzen einschließt), erscheint die Differenzierung zwischen den ersten beiden als nicht hilfreich für eine Analyse des Joh. Einen historischen Überblick über die Kontroverse zwischen Beschreiben und Erzählen als Gegensätze mitsamt ihrer Bedeutung für die ethische Diskussion bietet J. Jacob (vgl. ders., Beschreiben). 49
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herstellen (z. B. ).52 Der Erzähler nutzt übernatürliches oder überzeitliches Wissen und gibt es an den Leser weiter. Er weiß von Ereignissen, die zum Erzählzeitpunkt der Erzählten Welt noch in der Zukunft liegen und kann auf Gefühle, Wissensstand, Einstellungen und Motivationen der Figuren frei zugreifen. Zum Teil bewertet er auch das Geschehen oder die Entitäten (Figuren, Schauplätze etc.) der Erzählten Welt.53 In Beschreibungen werden Entitäten innerhalb der Erzählten Welt dargestellt, ohne dass sich Handlung ereignet.54 Für die Erzählte Zeit bedeuten sie gewissermaßen Stillstand. Formen von ‚sein‘ sind maßgebliche Indizien, aber auch andere statische Verben wie ‚haben‘, ‚stehen‘ oder ‚aussehen‘ weisen auf eine Beschreibung hin. Ferner können Verben der Wahrnehmung (vgl. 1.2.4) Beschreibungen kennzeichnen, denn eine Beschreibung „presents something which can be seen, heard, touched, smelled, tasted, weighed or measured.“55 Formen im Perfekt und Plusquamperfekt, die eher einen Zustand in der Gegenwart der Erzählten Welt betonen, können Beschreibungen anzeigen.56 Auch wenn der Erzähler natürlich die gesamte Erzählung erzählt, wird ‚Erzählen‘ hier im engeren Sinne auf Ereignisse reduziert, also auf Handlungen und Geschehnisse, die eine Veränderung innerhalb der Erzählten Welt bedeuten, Erzählte Zeit verstreichen lassen und Dynamik erzeugen. Die Klassifikation dieser Abschnitte als ‚Handlung‘ weicht der Doppelverwendung des Begriffs ‚Erzählen‘ aus und trägt dem Umstand Rechnung, dass die meisten Ereignisse im Joh Figurenhandlungen sind. Auch hier zeigt sich die Problematik fehlender absoluter Trennschärfe. Die meisten Kommentierungen, die Erzähltes deuten, beschreiben zugleich einen Teil der Erzählten Welt – meist, indem sie Einblick in Motivationen von Figuren geben. Ferner kann erwogen werden, ob in einer Zustandsbeschreibung im (Plusquam-)Perfekt eher analeptisches57 Erzählen oder eine Beschreibung einer Entität in der Gegenwart der Erzählten Welt im Vordergrund steht. Schließlich enthalten manche Kommentierungen Hinweise auf ein Geschehen zu einem anderen Zeitpunkt (oder an einem anderen 52
Vgl. Bonheim, Modes, 30. H. Bonheim macht die Tendenz aus, dass Kommentierungen, die sich auf ‚Handlung‘ (s. u.) oder Figurenrede beziehen, ethische Urteile kommunizieren und welche, die sich auf Beschreibungen beziehen, ästhetische (vgl. ders., Modes, 12). 54 Angemerkt sei, dass Beschreibungen (ebenso wie Kommentierungen) nicht ‚objektiv‘ oder wertneutral sind, sondern stets Werturteile implizieren (vgl. Bal, Narratology, 118). 55 Bonheim, Modes, 24. 56 Das ‚eher‘ macht dabei deutlich, dass hier keine interpretationsfreie, trennscharfe Abgrenzung vorgenommen ist. Die vorgeschlagenen Kriterien bieten eine Hilfe zur Systematisierung, aber nehmen den Leser nicht aus der Verantwortung in Einzelfällen zu entscheiden, ob Erleben oder Wahrnehmen bzw. Handlung (ggf. in der Vergangenheit) oder Beschreibung im Vordergrund steht. Zu dieser Ambivalenz einzelner Aussagen äußert sich auch J. Fischer, der die Begriffen ‚Schilderung‘ und ‚Beschreibung‘ nutzt (vgl. ders., Ebenen, 245). 57 Zu Prolepsen und Analepsen vgl. 1.3.1 und 1.6.3. 53
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Ort) innerhalb der Erzählten Welt, sind also erzählende Pro- oder Analepsen (oder Nebenhandlungen). Des Weiteren erzeugen negierte Aussagen Unschärfen. So können Handlungen, die nicht vollzogen werden (z. B. 21,12), oder Beschreibungen, die mit Verneinungen als Abgrenzung arbeiten (z. B. 1,8), immer auch als Kommentierungen gelesen werden.58 Unteres Beispiel (s. Abb. 6) verdeutlicht diese Schwierigkeiten.59 Insgesamt bilden solche Unschärfen im Joh aber die Ausnahme. Der Untersuchungsgegenstand bringt es in dieser Arbeit mit sich, dass metanarrative oder paratextuelle Aspekte, wie Überschriften und Einbandgestaltungen oder Reflexionen über das Erzählen an sich, Leseransprachen (1.6.1) und Postskripte, nicht als eigene Kategorie in die Analyse einbezogen werden.60 Die wenigen Teile des Joh, die in diese Kategorie fallen könnten (z. B. 21,24 f.) werden als Erzählerkommentierung aufgefasst und in diese Klassifikation integriert. Je nach Verhältnis der verschiedenen Anteile lassen sich Szenen anhand ihrer dominierenden Elemente einteilen.61 Entfaltungen der Erzählten Welt (Beschreibungen dominieren) und Erzählerinterpretationen (Kommentierungen dominieren) sind im Joh eher selten. Die meisten Szenen können als handlungszentriert oder dialogisch strukturiert bezeichnet werden. Erstere zeichnen sich durch eine Vielzahl von Ereignissen aus. Figurenrede ordnet sich dabei der Handlung unter, indem der Gesprächsinhalt auf Handlungen bezogen ist und sich keine längeren Dialoge (mehr als zwei Wortwechsel) entspinnen. In dialogisch (oder bei nur einer sprechenden Figur: monologisch62) strukturierten Szenen beschränkt sich der Erzähler (zum Teil nach einer Situationsschilderung) auf die Benennung der Sprecherwechsel und 58
Vgl. dazu auch Bonheim, Modes, 34 f. Einige eindrückliche Beispiele mit Abgrenzungsschwierigkeiten bietet Bonheim, Modes, 33 f. 60 H. Bonheim bspw. führt die „metanarrative elements“ als fünften Modus ein (ders., Modes, 13, 30). Vgl. auch Chatman, Story, 237–251. S. Finnern führt die „paratextuelle[n] Elemente wie Titel, Gattungsbezeichnung“ u. v. m. als eine Art von „direkte[n] Fiktionalitätssignalen“ (ders., Narratologie, 66). Vgl. zu weiteren Fiktionalitätssignalen a. a. O. 63– 73 sowie die Einführung von Teil II – Methodologie. 61 Ein solches Urteil lässt sich auch für eine gesamte Erzählung abgeben (vgl. Bonheim, Modes, 13 f.). 62 Im Gegensatz zur geläufigen Definition in den Theaterwissenschaften (vgl. Hofmann, Drama, 39; Roselt, Dialog, 67) wird nicht die Abwesenheit anderer Figuren als notweniges Kriterium für die Einordnung einer Sprechhandlung als Monolog gewertet, sondern die Länge der Sprechhandlung ohne Unterbrechung (strukturell) und die inhaltliche Abgeschlossenheit des Gesprochenen (inhaltlich). Um die mitunter fließenden Grenzen zwischen Dialog und Monolog noch differenzierter betrachten zu können, führt M. Pfister im Anschluss an J. Muka ovský die Ausdrücke „Monologhaftigkeit“ und „Monologcharakter“ ein (ders., Drama, 180–182). Einteilungen von einzelnen Sprechhandlungen oder Szenen auf einer linearen Achse zwischen Monolog- und Dialoghaftigkeit sind aber m. E. für die Figurenanalyse im Joh nicht weiterführend. 59
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wenige Kommentierungen zu dem Gesagten. Entscheidend ist neben der Quantität auch die Bezogenheit. Meist lässt sich eindeutig klären, ob eher ein Dialog eingeleitet und kommentiert wird oder Figuren innerhalb einer Handlung zu Wort kommen.63 ‚Mischszenen‘, in denen sich die verschiedenen Einteilungskategorien64 die Waage halten, sind eine Seltenheit. Der Wechsel der Kategorien und von verschieden strukturierten Szenen trägt zur Interessantheit einer Erzählung bei. Die Erzählstruktur betrachtet nicht nur das quantitative Verhältnis der verschiedenen Kategorien, sondern auch die Positionierung und Bezogenheit. So wird festgehalten, welche Erzählebene und Einteilungskategorie am Anfang und am Ende der Szene steht, an welchen Stellen die vorherrschende Kategorie gewechselt oder unterbrochen wird (z. B. Kommentierungen eingeschoben werden) und wie die verschiedenen Kategorien aneinander anknüpfen. So lässt sich mit Hilfe der Erzählstruktur ein Erzählstil herausarbeiten. Im Joh ist es üblich, dass Figurenrede vom Erzähler durch verba dicendi in die Handlung eingeführt wird. Beschreibungen verwendet der Erzähler sparsam – meist zur Einführung oder nachträglichen raum-zeitlichen Einbettung von Situationen oder Figuren. Kommentierungen sind vor allem Übersetzungen, Charakterisierungen von Figuren, Erfüllungszitate und Einblicke in zukünftiges (v. a. nachösterliches) Geschehen der Erzählten Welt. Direkte Leseransprachen kommen nur vereinzelt vor.65 Der Wert des Werkzeuges ‚Erzählstrukturanalyse‘ für die Gesamtanalyse liegt vor allem in einer pragmatischen Dimension. Durch die Einteilung einzelner Halbsätze und Sätze in verschiedene Kategorien, lassen sich die weitere Werkzeugauswahl und der Anwendungsbereich einiger Werkzeuge (im Sinne von Textmenge) beschränken. Zudem zeigen die Ergebnisse bereits Übergänge, Brüche und Spannungen an, auf die ein weiterer Blick lohnt. Somit hat dieses Werkzeug anregenden Charakter. Ausführungen über die unterschiedlichen Leserwirkungen der verschiedenen Erzählstrukturen müs63
Die hier vorgenommene Einteilung der Erzählstruktur findet in der historisch-kritischen Bibelexegese auch in den Grundzügen der Formgeschichte ihren Niederschlag. 64 Eine nahezu deckungsgleiche Einteilung schlägt auch H. Bonheim unter dem Stichwort Erzählmodus vor (vgl., ders., Modes, 11 f.). Seine Abgrenzung der Modi hinsichtlich der Dimensionen Raum und Zeit (‚Handlung‘ hat Raum- und Zeitaspekt, Figurenrede nur Zeit-, Beschreibung nur Raumaspekt und Kommentierung beides nicht, vgl. ebd.) ist grundsätzlich erhellend, aber wegen zu vieler Abweichungen und Differenzierungsnotwendigkeiten m. E. nicht hilfreich. Da der Ausdruck Erzählmodus in der Fachliteratur unterschiedlich gefüllt wird, wird er hier nicht genutzt. Bei G. Genette ist bspw. ein wesentlicher Teilbereich des Modus die Perspektive (vgl. ders., Erzählung, 118–135), die hier nicht einbezogen ist. Ausführungen zur Problematik des Begriffs ‚Erzählmodus‘, einen guten Überblick über Bonheims Einteilung und Kritik an dieser bietet U. Quinkertz (vgl. dies., Analyse, 141–148). 65 Z. B. 19,35; 20,31. Vgl. zu Leseransprachen 1.6.1.
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sen hier kurz gehalten werden. Sie lassen sich wie folgt skizzieren: Handlung erzeugt Spannung und erlaubt ein Spiel mit dem Erzähltempo. Damit ist sie wesentlich verantwortlich für die Dramaturgie. Beschreibungen illustrieren die Erzählte Welt und steigern damit ihre Anschaulichkeit. Sie regen die Vorstellungskraft des Lesers an. Figurenrede verringert die Distanz zwischen Leser und Erzählter Welt, indem sie den Erzähler ‚hinter‘ den sprechenden Figuren ‚verschwinden‘ lässt. Gerade im Vergleich zu indirekter Rede und Redebericht nimmt (‚wörtliche‘) Figurenrede den Leser stärker in die Erzählung hinein und steigert den Realitätseffekt, indem sie dem Leser suggeriert, die Szene selbst mitzuerleben.66 Der Entfaltung (theologischer) Inhalte, komplexer Themen und theoretischer Zusammenhänge dienen Monologe, Dialoge und Kommentierungen. Letztere bieten dem Erzähler zudem die Möglichkeit direkter Bewertung. Die Analyse der Erzählstruktur zeigt also erste Steuersignale für das Verhältnis von Erzählung und Leser auf und gibt Begrifflichkeiten zur Beschreibung der Szene an die Hand. Durch die Analyse aufgezeigte Wechsel und Umbrüche innerhalb der Erzählstruktur von ‚Mammutszenen‘ können zudem eine Hilfe zur Abgrenzung von Binnenszenen (vgl. 1.1) sein. Exemplarische Anwendung wird anhand des Gespräches zwischen ‚den Juden‘ und den Eltern des Sehendgewordenen (9,18b–23) geboten. Die Szene gibt eines der Streitgespräche wieder, die sich an die Heilung des Blinden durch Jesus anschließen. Als Figurenkollektive stehen sich die Juden und die Eltern des Geheilten gegenüber. Besser noch als die hier gewählten verschiedenen Schriftauszeichnungen (Anführungszeichen, Kursivsetzung, Kapitälchen, Unterstreichung) eignen sich farbige Markierungen zur Visualisierung der Erzählstruktur (vgl. Abb. 6). Im Mittelpunkt der Szene steht ein kurzer Wortwechsel zwischen ‚Juden‘ und Eltern. Abgesehen vom Reden der Figuren tritt Handlung in dieser Szene stark zurück – so ist bspw. das vorausgesetzte Kommen der Eltern auf den Ruf ‚der Juden‘ hin unterschlagen. Die Handlungen an Anfang und Ende der Szene (inklusive der Figurenrede innerhalb der Kommentierung) bilden die Anknüpfungspunkte zu den rahmenden Szenen, verankern die Szene stark in ihrem Kontext und betten sie so in den Handlungsverlauf der Episode ein. Die Beschreibung in 18b dient der Näherbestimmung des Elternkollektivs. Durch ein Partizip weist es analeptisch auf die Heilung zurück, deren Situie66 U. a. durch den hohen Anteil an Figurenrede bedingt ist der Realitätseffekt beim Joh im Vergleich zu den synoptischen Evangelien am höchsten (vgl. Finnern, Narratologie, 198). Der Begriff Realitätseffekt (franz.: l’effet de réel) wurde 1968 von R. Barthes eingeführt. Barthes fasst allerdings lediglich die Elemente einer Erzählung darunter, die für den Erzählverlauf keine Funktion übernehmen, sondern nur die Realität repräsentieren („[l]a ‚représentation‘ pure et simple du ‚réel‘“): „menu gestes, attitudes transitoires, objets insignifiants, paroles redondantes [kleine Gesten, vorübergehende Haltungen, bedeutungslose Gegenstände, überflüssige Worte (Übers.: FW)]“ (ders., L’effet, 30).
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rung der Leser aus 9,1–7 kennt. Zwar wird so der Auslöser der Szene erinnert, aber die resultative Formulierung des Partizips und das Fehlen von Subjekt und Details der Heilung ordnet die erinnerte Handlung der Beschreibungsfunktion unter. Primär wird die Entität ‚Figurenkollektiv Eltern‘ beschrieben. „Figurenrede“ – Handlung – BESCHREIBUNG – Kommentierung 18b
19
Bis sie [die Juden] seine Eltern riefen, DESSEN, DER SEHEND WURDE.
Und sie fragten sie:
Beschreibung des Elternkollektivs unter Verweis auf zuvor Geschehenes (in 9,7 erzählt)
„Ist dieser euer Sohn, von dem ihr sagt, dass er blind geboren wurde? Wie also sieht er jetzt?“ 20
Daraufhin antworteten seine Eltern und sagten:
„Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist und dass er blind geboren wurde. 21 Aber wie er nun sieht, wissen wir nicht oder wer seine Augen öffnete, wissen wir nicht. Fragt ihn, er ist volljährig, er selbst wird für sich sprechen.“ Einblick in das Innenleben des Elternkollektivs innerhalb der Kommentierung
22
Dies sagten seine Eltern, WEIL SIE DIE JUDEN FÜRCHTETEN. DENN DIE JUDEN HATTEN SCHON ENTSCHIEDEN, DASS WENN JEMAND IHN ALS CHRISTUS BEKENNE, ER AUS DER SYNAGOGE 23 AUSGESCHLOSSEN WERDE. Wegen diesem sagten seine Eltern: „Er ist volljährig. Fragt ihn.“
Beschreibung eines Zustands in der Erzählten Welt durch Verweis auf zuvor Geschehenes (noch nicht erzählt) innerhalb der Kommentierung Kommentierung mit Wiederholung des Erzählten inklusive der Figurenrede
Abb. 6: Erzählstruktur von Joh 9,18b–23
Großen Raum nimmt die Kommentierung ein. Diese hebt zum einen die Aussage der Eltern hervor, indem sie doppelt auf sie zurückverweist und sie sogar partiell wiederholt. Zugleich beschreibt der Erzähler die Eltern und die Situation in der Erzählten Welt. Für Letztere erzählt er ein – dem (Erst-)Leser bisher unbekanntes – Geschehen. So eröffnet er eine Nebenhandlung. Die Betonung des Ergebnisses (im Treffen einer Entscheidung) und fehlende Einbettung in eine konkrete Erzählsituation (v. a. Zeit und Ort) lassen die Beschreibungsfunktion erneut in den Vordergrund treten. Sowohl die Eltern als auch ‚die Juden‘ werden darin näher bestimmt. Das quantitative Gleich-
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Teil II: Methodologie
gewicht von Dialog und Kommentierung und die Zentralstellung der Aussage der Elternrede erfordern eine genauere Untersuchung des Inhalts von dieser und der Charakterisierung der Figuren sowie der Bewertung ihres Verhaltens in der beschriebenen Situation. Dies müssen allerdings andere Werkzeuge leisten. 1.2.2 Dialogstruktur Parallel zur Analyse der Erzählstruktur, die die ersten beiden Erzählebenen voneinander abgrenzte und bereits den Textbestand außerhalb der Figurenrede kategorisierte, konzentriert sich die Dialogstruktur auf die zweite Erzählebene. Der Figurenredeanteil einer Szene wird extrahiert und mithilfe der Erzählereinführungen den Figuren zugeordnet. Im Anschluss wird alles Gesagte so einander gegenübergestellt. Indirekte Rede kann dabei hinzugenommen und als solche markiert werden. Diese ist im Joh nur wenig verwendet. Gegenüber direkter Figurenrede wirkt sie weniger unmittelbar, erhöht die Distanz und vermag in ihrer raffenden Funktion, längere Sprechhandlungen in der Erzählten Welt zu suggerieren.67 Durch Einordnung der Figurenrede in verschiedene Spalten lässt sich die Aufteilung visualisieren. Hinzu kommt eine Adressatenbestimmung, sofern diese möglich ist. Teilweise werden redeexterne Adressaten vom Erzähler explizit als grammatikalische Objekte der verba dicendi genannt.68 In Szenen, in denen nur zwei Figuren anwesend sind, sind die Adressaten m. E. sofort klar.69 So ergibt sich eine Übersicht der Sprechhandlungen: Wer redet wie viel? Wie sind Gesprächsanteile verteilt? An wen richten sich die sprechenden Figuren? Welche Figuren unterbrechen Gespräche? ‚Gespräch‘ setzt dabei Sprechhandlungen von mindestens zwei Figuren voraus, die einander adressieren; mit dem Begriff ‚Rede‘ oder ‚Figurenrede‘ wird die Sprechhandlung einer Figur bezeichnet. Dabei handelt es sich also um keine festgelegte Form oder eine Sprechhandlung bestimmter minimaler Länge, wie der Ausdruck ‚Rede‘ im Alltagssprachgebrauch nahelegt. Eine Zusammenführung der Analyse von Erzähl- und Dialogstruktur kann in Tabellenform geleistet werden, sofern Übersichtlichkeit dann noch gegeben ist. Das Werkzeug ‚Dialogstrukturanalyse‘ separiert so die Sprechhandlungen aus dem gesamten Erzähltext. Dieser Effekt ermöglicht es, die Dialogstruktur mehrerer Szenen fortlaufend und zugleich übersichtlich zu betrachten, um 67
Vgl. Vogt, Aspekte, 152, 156. Zu verba dicendi vgl. 1.2.4, zu den grammatikalischen Objekten 1.2.5, zu redeinternen und impliziten Adressaten im Gegensatz zu den redeexternen 1.5.1. 69 Ausnahmen, die erwogen werden müssen, sind Selbstgespräche, Anrede unsichtbar anwesender Figuren (z. B. Gott) und Ausrufe, die ungerichtete Ausdrucksformen darstellen. Ferner sind implizit anwesende Figuren (im Joh v. a. die Jünger) als mögliche Adressaten einzubeziehen. Zu solchen redeinternen und impliziten Adressaten vgl. 1.5.1. 68
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größere Erzählzusammenhänge in den Blick zu nehmen. Das Werkzeug bereitet mit dieser Heraustrennung die Analysen der Figurenrede (1.2.3; 1.4.7; 1.4.9; 1.4.10; 1.5) vor und betont die Abschnitte, die der Leser als selbst erlebt wahrnimmt. Die Redeanteile verschiedener Figuren in einer Szene – ggf. Anzeichen für Dominanz – werden veranschaulicht. Die Ausrichtung der Figuren aufeinander (in ihren Sprechhandlungen) wird dargelegt und damit eine Grundlage für die Figurenkonstellation geschaffen. Wechsel der Gesprächskonstellation können Stellvertreterfunktion von Figuren aufzeigen, da sie die Position anderer übernehmen, ohne dass die Aussagen der Sprechenden inhaltlich deckungsgleich sein müssten. Vorteile dieses Werkzeuges sind Einfachheit, Nachvollziehbarkeit und gute Visualisierungsmöglichkeit des Analyseschrittes. Als Beispiel werden die fünf mittleren Szenen der Berufungsepisode (1,35–51) gewählt. Durch Johannes, den Zeugen, auf Jesus aufmerksam geworden folgen zwei zunächst anonyme Jünger diesem. Innerhalb von mehreren Tagen erfolgen die Wortwechsel. Das ausführlichste Gespräch zwischen Jesus und Nathanael innerhalb der letzten Szene ist hier außen vor gelassen, da zur Vorstellung der Methode die Zusammenschau aller sieben Szenen keine methodisch neuen Einsichten bringt. Zwei verschiedene Visualisierungen der Dialogstruktur wurden gewählt. Beide machen unterschiedliches deutlich. Die Pfeile weisen jeweils auf die Adressaten, die Figuren sind kursiv gesetzt. In Abb. 7 wurden die Dialogpartner jeweils so angeordnet, dass die jeweils zuerst sprechende Figur einer Szene in der linken Spalte positioniert ist und Adressaten und weitere Sprechende in folgende Spalten sortiert werden. Die Darstellung in nur zwei Spalten ist nur deshalb möglich, weil sich – selbst wenn mehr als zwei Figuren anwesend sind – das Gespräch innerhalb einer Szene stets zwischen nur zwei Dialogpartnern vollzieht. Dadurch wird die Stoßrichtung deutlich. Die Gespräche sind nicht auf Unterhaltung, sondern auf Informationsweitergabe ausgerichtet. Selbst in den beiden Fällen, wo eine Antwort gegeben wird, hat die erstsprechende Figur das letzte Wort. (Dieses Ergebnis ändert sich auch nicht, wenn man die beiden ausgesparten Szenen hinzuzieht.) Außerdem wird deutlich wie zunächst Andreas und dann Philippus die Position Jesu übernehmen. In der rechten Spalte sticht das Schweigen ins Auge, dass die Angesprochenen auszeichnet. Insbesondere Simon Petrus, aber auch Philippus verkörpern eine sprachliche Reaktionslosigkeit. Auch wenn eine Einteilung der Figurenrede erst Aufgabe der Sprechhandlungsklassifikation (1.2.3) ist, fällt bereits hier die Aufteilung in Fragen und Aussagen auf.
104
Teil II: Methodologie
Figur 2
Figur 1 Jesus Was sucht ihr?
Zwei Jünger Rabbi, wo bleibst du?
Sz. 1
Kommt und ihr werdet sehen. Andreas Wir haben den Messias gefunden.
Simon Petrus
Jesus Du bist Simon, der Sohn von Johannes, du wirst Kephas genannt werden.
Simon Petrus
Jesus Folge mir. Philippus Den, [über den] Mose schrieb im Gesetz und die Propheten, haben wir gefunden, Jesus, Sohn des Josef, den aus Nazareth.
Sz. 2
Sz. 3
Philippus
Sz. 4
Nathanael
Kann aus Nazareth irgendetwas Gutes sein?
Sz. 5
Komm und sieh! Abb. 7: Dialogstruktur von Joh 1,38–46 – Version 1
Abb. 8 hält die Spaltenzuordnung einer Figur auch über Szenengrenzen hinweg aufrecht und verhindert vertikale Unterbrechungen, sofern noch Figurenrede folgt. Jesus als Protagonisten fällt damit eine eigene Spalte zu. Diese Darstellung visualisiert, wie Andreas aus dem Zwei-Jünger-Kollektiv hervortritt und das Gespräch aus Szene 1 gewissermaßen weiterträgt. Auch kommt seine unbeteiligte Anwesenheit in Szene 3 zum Ausdruck. Besonders deutlich sticht die Sprachlosigkeit von Simon Petrus hervor, der trotz doppelter Ansprache nicht redet. In dieser Darstellung erscheint er stärker mit Nathanael parallelisiert. Im Gegensatz zu Petrus meldet sich dieser aber zu Wort (und spricht schließlich in 1,49 gegenüber Jesus ein Bekenntnis aus). Auch wird hier die sprachliche Bewegung der Szene deutlich, die figurenweise in zwei Runden verläuft: Von Jesus ausgehend, über Jüngergestalten (insofern Jesu Nachfolgeaufruf Philippus zu einer solchen macht) zu Dritten.
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Jesus
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2 Jünger
Was sucht ihr? Rabbi, wo bleibst du?
Sz. 1
Kommt und ihr werdet sehen. Andreas Wir haben den Messias gefunden.
Du bist Simon, der Sohn von Johannes, du wirst Kephas genannt werden. Folge mir.
Simon Petrus
Sz. 2
Sz. 3 Simon Petrus Philippus
Nathanael
Den, über den Mose schrieb im Gesetz und die Propheten, haben wir gefunden: Jesus, Sohn des Josef, den aus Nazareth.
Sz. 4
Sz. 5
Kann aus Nazareth irgendetwas Gutes sein? Komm und sieh! Abb. 8: Dialogstruktur von Joh 1,38–46 – Version 2
Insgesamt ergeben sich aus beiden Betrachtungen bereits Anregungen zu nachfolgenden Untersuchungsschritten. Vor allem die Sprachlosigkeit der Angesprochenen in Szene 2 bis 4 und die Parallelisierung von Simon Petrus und Nathanael sowie Andreas und Philippus, regen zu weiteren Untersuchungen an. Zudem ist das Handlungsmuster des Weitertragens markant. Vielerlei exegetische Bemerkungen könnten sich hieran anschließen, reichen aber über das Ziel dieses Werkzeuges hinaus.70 Die unterschiedlichen Arten der Darstellung zeigen die Möglichkeiten und gleichzeitig die notwendige Reflexion der Werkzeuganwendung. Die Dialogstruktur ist jedoch nur die erste Annäherung an die Figurenrede, welche das folgende Werkzeug fortsetzt. 70
Zur Analyse der Szenen 2 und 3 vgl. auch Teil III – Petrus: 2.1.
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Teil II: Methodologie
1.2.3 Sprechhandlungsklassifikation (strukturell) Von den Werkzeugen zur Analyse der Figurenrede (vgl. auch 1.5) fällt die strukturelle Sprechhandlungsklassifikation in den Bereich der Analyse der Szenenstruktur. Sie greift die Dialogstruktur auf, indem sie ebenfalls die Sprecher und Adressaten berücksichtigt. Zusätzlich werden die Sätze doppelt kategorisiert: Zum einen durch den Erzähler, der die Figurenrede in seiner Einführung bereits als Bitte, Frage oder Ähnliches klassifiziert, zum anderen durch Satzbau und Interpunktion. Der Inhalt der Figurenrede wird hier noch hintenangestellt. Im Joh beschränkt sich der Erzähler vielfach auf Formen von , um Figurenrede einzuführen. Somit ist die Sprechhandlungsklassifikation durch den Erzähler oftmals dürftig. Bei doppelten Einführungen einer Figurenrede kann die Form von ignoriert werden, die andere wird dann zur Einordnung verwendet. Zumindest ‚fragen‘ und ‚antworten‘ sind jedoch häufiger eingesetzte Verben. Da bei biblischen Texten die Interpunktion sekundären Charakter hat, darf diese nur mit Vorsicht hinzugezogen werden. Innerhalb der Figurenrede kennzeichnen Signalwörter bestimmte Klassifikationen. Imperative kennzeichnen Appelle (seien es Bitten oder Befehle), und z. T. Begründungen, die somit auf Argumentationen weisen. Ähnlich gelagert und ebenfalls argumentativ leitet Finalsätze und Bedingungen oder Voraussetzungen ein. Negationen wehren Aussagen ab, insbesondere in Kombination mit . Fragepronomina und manchmal auch Verneinungen klassifizieren einen Satz als Frage. Als ‚Antwort‘ wird sowohl die Beantwortung einer Frage, die Beipflichtung oder eine Erwiderungen verstanden. Die Klassifikation als eine solche ergibt sich aus der Dialogstruktur oder wird durch die einzeln stehenden (im Joh seltenen) Signalwörter und (am Akut zu erkennen: bzw. betont: ) angezeigt. Das Futur signalisiert Ankündigungen zukünftiger Geschehen (z. B. Vorhaben und Verheißungen). Eine dritte Erzählebene schließlich wird meist durch Verwendung der 3. Person markiert. Figurenrede in dieser wird wie in der Erzählstruktur abgegrenzt. Alle nicht signalisierten Sätze der Figurenrede sind zunächst einfach Aussagen.71 Zur Visualisierung der Ergebnisse bieten sich sowohl die Spalten an, die von der Analyse der Dialogstruktur bekannt sind, als auch vertikale oder horizontale Auflistungen. Eine Möglichkeit findet sich unten vorgestellt (s. Abb. 9). Ein Reiz dieses Werkzeuges liegt in dem Aufdecken von Spannungen, wenn sich die Erzählerzuschreibung und die Satzbau- oder Signalwortklassifikation nicht entsprechen. Im Vergleich mit der inhaltlichen Klassifikation (vgl. 1.5.3) kann eine weitere Spannungssteigerung aufgezeigt werden. Bei übereinstimmenden Ergebnissen lassen sich so Gespräche oder Figuren be71 Theoretisch lassen sich noch weitere Differenzierungen vornehmen. Z. B. zeigen Komparative, dass eine Figur Sachverhalte oder Entitäten gegeneinander abwägt und ggf. Position ergreift.
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1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse
reits charakterisieren. So kann eine Figur als fragend, ein Dialog als thematische Diskussion oder eine Figurenkonstellation als zugewandt oder angespannt eingeordnet werden. Weiterführende Deutungen zu den Figuren und die Rolle der Figuren in einem solchen Gespräch fallen jedoch in Kapitel 1.4. Damit liefert die Sprechhandlungsklassifikation eine Grundlage für große Teile der Figurencharakterisierung aufgrund ihres Sprechens und zeigt Impulse für die Analyse der Beziehungen von Figuren untereinander auf. Ohne eine weitere inhaltliche Betrachtung ist dieses Werkzeug i. d. R. nicht anzuwenden. Zur Veranschaulichung sei hier dennoch ein Beispiel geboten. Die Visualisierungsszene ist die zweite Nikodemusszene (7,45–52). Eingeleitet mit der Rückkehr der Diener ( ) zu den Hohepriestern und Pharisäern sprechen zunächst diese beiden Kollektive miteinander. Nikodemus’ Anwesenheit wird erst später im Szenenverlauf eingeführt und erfolgt somit für den Leser überraschend. Figuren H Hohepriester D Diener
P Pharisäer N Nikodemus
Sprechhandlungsklassifikation E Klassifikation durch Erzähler S Klassifikation durch linguistische Signale
Figurenrede (unübersetzt) mit Sprecher und explizitem Adressaten (horizontal zu lesen) P&H D: D: P D: '(
! " ) ' # !% ! ,! # - . 3 # 1 '( 4! N P(&H): '( 1 ' # 5'+ + 0 8 ) P(&H) N: '( ) !: ;# < ;# < # ?* #
#$ % #& '* # + + / ! ' - $ % 9 # = 6 ! &
012 # ! & '( 6!7 )>
Klassifikation der Figurenrede nach Erzähler und Textsignalen (vertikal zu lesen) Figur: E:
H&P Frage
D Antwort
P Antwort
N Aussage
P(&H) Antwort
S:
Frage
Aussage
Frage (2x) + abwehrende Aussage
argument. Frage
Frage +Appell (2x) +Aussage
Abb. 9: Sprechhandlungsklassifikation von Joh 7,45–52
108
Teil II: Methodologie
In der Visualisierung in Abb. 9 sind eine Form der Dialogstruktur und die Sprechhandlungsklassifikation zusammengestellt, sodass sich die Klassifizierung am (griechischen) Dialogtext schnell nachvollziehen lässt. Zudem finden sich dort die unten ausgesparten Adressaten der jeweiligen Figurenreden. Die dreifach verwendete optionale Ergänzung des Hohepriesterkollektivs liegt in dem Pronomen 6# und der 3. Person Plural begründet. Grammatikalisches Bezugswort sind jeweils die Pharisäer, ebenso logisch ist aber eine Ansprache von dem eingangs sprechenden Kollektiv; theoretisch möglich, aber abwegig, sind ferner die Diener. Die zielgerichtete Kommunikation der Szene weist bereits auf starke Bezogenheit der Figuren aufeinander. Textmenge sowie Erst- und Letztrede sprechen für eine Dominanz der Pharisäer. Bei der Klassifikation fällt die Spannung bei den beiden letzten Pharisäerreden auf. Der Erzähler leitet sie als Antwort ein, tatsächlich überwiegen aber Fragen und Appelle. Formal geben sie also entweder keine Antwort oder sie betten diese in anderen Klassifikationen ein. Dies stärkt die Figur gerade im Gegenüber zu ihren Gesprächspartnern. Dass trotz ihrer gestellten Fragen die angesprochene Figur nicht mehr reagiert, betont das Schweigen umso mehr. Ob die Diener und Nikodemus wegen äußerer Einflüsse, aus Arroganz oder aufgrund von Einschüchterung den Pharisäern die Antwort schuldig bleiben, muss eine inhaltliche Analyse klären. Dort ist auch das Abgrenzen eines Konfliktes gefragt. Dieser wird durch die abwehrende Aussage der Pharisäer und ihren Doppelappell angedeutet. Schließlich sticht heraus, dass Nikodemus die einzige Figur in der Szene ist, die eine Argumentation vorbringt – eventuell ein Hinweis auf seine Charaktereigenschaften. Mit der Klassifikation der letzten Pharisäerantwort endet die Diskussion dieses Werkzeuges. Ein Austausch von Argumenten liegt nicht in seinem Anwendungsfeld. Die Ausführungen verdeutlichen, dass hier die Analyse keinesfalls abbrechen darf, und haben zugleich motivierenden Charakter, indem sie zu weiterer Auseinandersetzung mit der Szene mittels anderer Werkzeuge anregen. 1.2.4 Verbklassifikation Das Werkzeug ‚Verbklassifikation‘ betrachtet die zentrale Wortart von Erzählungen. War die Bedeutung von Verben bereits bei den ersten drei vorgestellten Werkzeugen erwähnt worden, dient dieser Analyseschritt nun der systematischen Erfassung. Sie wird anhand der Sturmstillungserzählung in 6,16–21 vorgestellt. Zunächst werden alle Verben einer Szene (oder Szenenfolge) – unter Beachtung der Erzählebene – extrahiert und grammatikalisch vollständig bestimmt (in 6,17a: '@ # – Part. Aor. Akt. Nom. Pl. Mas.; A – Ind. Impf. Med. 3. Pl.). Letzteres dient der Beachtung der kontextuellen Veranke-
1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse
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rung und eröffnet Vergleichsmöglichkeiten.72 Im Anschluss werden die Verben noch einer Verbklasse zugeteilt. Die Festlegung der Verbklassen ist dabei diskussionswürdig. Je nach untersuchter Erzählung oder gar Einzelszene lohnen sich Anpassungen, da der Erzählstil wesentlichen Einfluss auf die Verwendung der Verbarten hat. Hier sei eine Sechsteilung73 vorgeschlagen: Verben der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens, der Fortbewegung, der objektbezogenen Handlung, der Kommunikation und der Zustandsbeschreibung. Verben der Wahrnehmung (verba percipiendi) umfassen die Sinne von Erzähler und Figuren – insbesondere sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken (z. B. % 8! in 6,19). Sie kennzeichnen, was eine Figur von der Erzählten Welt wahrnimmt oder lassen den Leser an den Sinneseindrücken der Erzählten Welt teilhaben. Gerade die Aktivierung von Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn des Lesenden steigert das Erleben von Erzähltem. Verben der kognitiven Wahrnehmung (z. B. erkennen) werden nur einbezogen, wenn ein Reiz der Erzählten Welt im Vordergrund steht. Ist dies nicht der Fall, sind sie eher der zweiten Klasse zuzuteilen. Verben des Denkens und Fühlens sind i. d. R. auf Figuren bezogen. Sie kennzeichnen emotionale, kognitive und volitive Prozesse und Zustände, umfassen Wünsche und Vorhaben (z. B. ? @*% ! in 6,19). Somit geben sie Einblick in das Empfinden, die Gedankengänge und Einstellungen – kurz: in das Innenleben von Figuren.74 Im Joh sind explizite Emotionen selten genannt und insgesamt ist diese Verbklasse eher schwach repräsentiert. Häufig sind dagegen Verben der Fortbewegung (z. B. @ ! in 6,16).75 Diese beschreiben vollzogene Ortswechsel von Figuren – im Joh vielfach mit Formen von B ' und @ (sowie ). Hinzu kommen die Verben des Bewegungsabbruchs wie ‚stehen bleiben‘. Auch sie betonen eine Bewegung, wenngleich aus der Perspektive des Nichtvollziehens. Bei dieser Verbklasse wird erstmalig die physische Aktivität betont, ähnlich verhält es sich bei der Folgenden. 72 In Bezug auf die Verbtempora im Joh sei auf die umfassende Arbeit J. Freys verwiesen, der diese statistisch und qualitativ untersucht (vgl. ders., Eschatologie II, 23–152). 73 Die Einteilung hat sich in der narratologisch-ethischen Analyse des Joh als hilfreich erwiesen. Für andere Texte sind ggf. andere Einteilungen notwendig. W. Kürschners Einteilung z. B. in Tätigkeits-, Vorgangs und Zustandsverben (vgl. ders., Kompendium, 83) ist für narrative Texte aber nicht differenziert genug. 74 C. Bennemas Kategorie ‚penetration into inner life‘ (nach Y. Ewen) ist weitgehend von dieser Verbklasse abhängig, ohne dass dieser eine Einteilung von Verben vornimmt (vgl. ders., Encountering, 37 f.; ders., Theory in NT, 78–82; ders., Theory in Gospel, 392, 405–407). Vgl. zum Innenleben von Figuren 1.4.7. 75 Zur Logienquelle Q hat A. Bork eine ausführliche Analyse sämtlicher Verben der Figurenbewegung dargeboten und dargelegt, wie Figurenbewegungen einen Erzähltext strukturieren und die Rezipientenwahrnehmung lenken (vgl. ders., Raumsemantik).
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Teil II: Methodologie
Die sprachlich etwas sperrige Klasse der Verben der objektbezogenen Handlung beinhaltet alle (oft auch komplexen) Handlungsvorgänge, die auf ein Objekt ausgerichtet sind und nicht in den Bereich der Wahrnehmung (oder der Kommunikation) fallen (z. B. @ in 6,21). Objekte können dabei auch andere Figuren sein. Sie bewirken die Veränderung einer Entität in der Erzählten Welt und wenn es nur der eigene Körper ist. Insgesamt machen Körperbewegungen und Gesten einen wesentlichen Anteil aus – auch fast alle typisch beruflichen Tätigkeiten fallen in diesen Bereich. (In anderen Erzählungen kann eine Differenzierung dieser umfassenden Klasse hilfreich sein.) Das Subjekt (vgl. 1.2.5 und 1.4.5) solcher Verben wird besonders in Aktion gezeigt, da die körperliche Dimension einer Handlung bei diesen Verben i. d. R. betont ist. Überschneidungen kann es zur Klasse der Kommunikationsverben geben. Im Wesentlichen sind dies verba dicendi (am häufigsten im Joh: , z. B. in 6,20), welche im Joh besonders häufig Sprechhandlungen (vgl. 1.5) einführen, aber auch andere Ausdrucksformen zählen in diesen Bereich. Im Fall der gestischen Kommunikation (z. B. 5,20: zeigen, 13,24: nicken) muss jeweils entschieden werden, ob dort die objektbezogene Handlung oder der Kommunikationsvorgang im Vordergrund steht. Als letzte Verbklasse wird die Zustandsbeschreibung vorgestellt, die bereits aus der Analyse der Erzählstruktur (1.2.1) bekannt ist. Hier sind vor allem Formen von ' zu nennen. Fallunterscheidungen müssen hier vorgenommen werden, wenn Verben zugleich das Ende oder schlicht das Fehlen von Fortbewegung ausdrücken. Bei einzelnen Verben lässt sich nicht entscheiden, ob sie in andere Verbklassen überlappen – z. B. kann # (rudern) in 6,19 sowohl eine Fortbewegung als auch eine objektbezogene Handlung umschreiben und ‚murren‘ (6,41: ,C ) als Kommunikation und Einstellungsoffenbarung (Denken und Fühlen) gelten. Nur eingeschränkt klassifiziert werden Modal- und andere ihrerseits verbgebundene Verben76 (z. B. ‚beginnen‘ in 8,9). Sie werden mit dem ihnen zugehörigen, klassifizierten Verb eingeordnet. Negationen zu den zugehörigen Verben werden ebenfalls angefügt. Sie bedingen auch ggf. einen Wechsel der Verbklasse, insbesondere Verben der Fortbewegung werden so zu einer Zustandsbeschreibung (z. B. in 6,17: 6% ). Die beschriebenen Unschärfen und Überlappungen sind nicht als Problem des Werkzeugs zu verstehen. Vielmehr regen sie zu genauerer Betrachtung und mehrschichtiger Deutung an. Die Ergebnisse lassen sich in einer Liste darstellen (s. Abb. 10). Eine weitere Möglichkeit besteht in der Bildung von Clustern entsprechend ihrer Verbklasse, die Schwerpunkte bspw. in der Fortbewegung verbildlichen (s. Abb. 10). Hier zeigt sich bereits, dass die Anwendung der Werkzeuge in 76
Vgl. Kürschner, Kompendium, 89 f.
1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse
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unterschiedlicher Reihenfolge sinnvoll sein kann. Ausgehend von der Verbklassifikation sind bspw. futurische Sätze für die Sprechhandlungsklassifikation oder verba dicendi zur Analyse der Erzählstruktur einfach aus einer Liste ablesbar. Da sämtliche Ereignisse einer Erzählung durch Verben zum Ausdruck gebracht werden, sind diese besonders für die Handlung relevant. Vielfach sind zudem Figuren Subjekte der Verben, wodurch diese auch für die Figurenanalyse eine zentrale Position einnehmen. Die Verbklassifikation ist damit ein Grundlegungswerkzeug für fast alle folgenden Werkzeuge. Einen Eigenwert bekommt sie durch die Möglichkeit der Klassifikation und Gegenüberstellung von Szenen. Ist eine Szene von Fortbewegung geprägt, sind ggf. die Orte von besonderer Bedeutung oder in der Folgeszene ist besonders das Fehlen von Bewegung wahrzunehmen. Wie auch bei der Erzählstruktur lassen sich Szenen als dialogisch einordnen. Dominiert eine Verbklasse eine Szene deutlich, bekommen die anderen umso mehr Bedeutung. Grammatikalische Übereinstimmungen motivieren Vergleiche, z. B. zwischen verschiedenen grammatikalischen Subjekten oder Objekten (vgl. 1.2.5 und 1.3.6). Im Beispiel (s. Abb. 10) fällt die Folge zweier Plusquamperfektformen (als seltenes Tempus) in 6,17 auf. Auch in der übrigen Bestimmung sind beide Verben parallel. Durch die Negation des zweiten werden beide Verben kontrastiert. Bei einer Betrachtung der Subjekte (vgl. 1.2.5) stehen sich hier die Finsternis und Jesus gegenüber. Die geclusterte Darstellung der Verben gibt die Szene als fortbewegungsdominiert zu erkennen, Wahrnehmung und Kommunikation sind unterrepräsentiert. Ortsangaben und -wechsel sowie Distanzen sind besonders zu beachten (s. 1.3.2), der Anblick Jesu und seine Sprechhandlung (beides im Präsens) stechen als einzige Vertreter ihrer Verbklasse im Erzählverlauf hervor. Die (in der Abbildung kursiv gesetzten) Unschärfen verlangen weitere Untersuchungen der Handlung (vgl. u. a. 1.4.5). Das Aufkommen des Sturmes in 6,18 erscheint durch die Verbklassen (unabhängig von der Einordnung des ) personifiziert bzw. figürlich dargestellt, was bei der Analyse der Atmosphäre (1.3.3) Bedeutung gewinnt. Das zweifache (6,16.21) konstruiert eine Rahmung der Erzählung. Die explizite und zudem doppelte Benennung eines Gefühls (‚fürchten‘), welche mit den beiden einmalig repräsentierten Klassen verbunden ist (gleicher Vers), erscheint in dieser Szene zentral. Bewertung von und Umgang mit Angst ist als eine ethische Dimension dieser Szene genauer zu untersuchen.
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Teil II: Methodologie
Verben in 6,16f. bestimmt und gelistet
Verben in 6,16–21 – geclustert (mit Überlappungen)
16 Ind. Aor. Med. 3. Sg. Zustandsbeschreibung @ ! Ind. Aor. Akt. 3. Pl. Fortbewegung 17 '@ # Part. Aor. Akt. Nom. Pl. m. Fortbewegung/ objektbezogene Handlung A Ind. Impf. Med. 3. Pl. Fortbewegung Ind. Plqp. Akt. 3. Sg. Zustandsbeschreibung 6% Ind. Plqp. Akt. 3. Sg. Fortbewegung negiert/ Zustandsbeschreibung
Kommunikation 20:
Wahrnehmung 19: % 8!
Objektbezogene Handlung # 18: 17: 18: 19: 21: @ Fühlen / Denken 18: 19: ? @*% ! Fortbewegung 20: „? @ !% “ 16: @ ! negiert 17: 21: A% 17: A 17: negiert 19: 19: 8 21: ; Zustandsbeschreibung 16: 17: (17: negiert) 19: ' 20: „ ' “ 21:
Abb. 10: Verbklassifikation zu 6,16–21
1.2.5 Grammatikalische Subjekte und grammatikalische Objekte In diesem Kapitel werden eigentlich zwei getrennte Werkzeuge vorgestellt. Da ihre Funktion und Anwendung aber größtenteils deckungsgleich sind, werden sie gemeinsam präsentiert. Beide sind Teil einer typischen syntaktischen Analyse von Texten, sie dienen der Absicherung der späteren Werkzeuganwendungen. Ausgehend von den Verben, deren Analyse in 1.2.4 vorgestellt wurde, werden bei diesen beiden Werkzeugen die Bezugswörter festgelegt. Die grammatikalische Bestimmung von Person und Numerus eines Verbs ist der erste Schritt. Passend zu diesem wird ein damit übereinstimmendes Subjekt des Satzes gesucht. Ist dieses durch ein Personalpronomen gegeben oder fehlt es, ist im Fall der 3. Person das letzte vorausgehende zulässige Substantiv mit
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gleichem Numerus (und Genus) aufzuspüren.77 Ein Substantiv ist nicht als Subjekt zulässig, wenn das Verb eine Handlung beschreibt die (nach den Regeln der Erzählten Welt) nicht möglich ist, im Joh z. B. ein Gegenstand sprechen sollte. Bei Formen der 1. Person ist der Sprecher (Figur oder Erzähler) zu benennen, bei denen der 2. Person der Adressat (Figur oder Leser). Bezüglich der Objekte wird ähnlich vorgegangen. Hier besteht allerdings die Möglichkeit, dass ein Verb keines oder auch mehrere Objekte besitzt. Für die Objekte wird das Verhältnis zueinander und zum Verb bestimmt. Für die Figurenanalyse ist bei der Bestimmung der grammatikalischen Subjekte und Objekte besonders auf die zu achten, bei denen es sich um Figuren handelt. Wie stark dieses Werkzeug mit dem vorigen zusammenspielt, wurde bereits im dortigen Beispiel deutlich (vgl. Abb. 10 und die zugehörigen Ausführungen). Innerhalb einer Szene wird durch die Bestimmung und den Vergleich aller figürlichen Subjekte und Objekte ein Verhältnis von Aktivität und Passivität, von Handeln und Ergehen deutlich. Die beiden hier vorgestellten Werkzeuge liefern aber immer nur ein vorläufiges Ergebnis, denn innerhalb einer Erzählung kommen Inhalte auch jenseits oder sogar entgegen der grammatikalischen Zuordnung zum Ausdruck. Interessant sind deshalb insbesondere der Abgleich mit den Handlungssubjekten und die Konsequenzen, die daraus entstehen. Wie das Beispiel in 1.4.5 zeigt, wird gerade in der Spannung zwischen Erzähllogik und Grammatik Mehrwert generiert. Durch die Darlegung der figürlichen grammatikalischen Subjekte und Objekte innerhalb einer Szene wird (Satz für Satz) deutlich, welche Figuren der Erzähler fokussiert und damit in den Blick der Leser rückt. So lässt sich die zentrale Figur einer Szene durch die Häufigkeit der Nennungen erkennen. (Bei längerer Figurenrede ist abweichend von den grammatikalischen Subjekten und Objekten auf der ersten Erzählebene die sprechende Figur im Fokus.) Indem der Erzähler den Fokus von einer Figur auf andere (Figuren oder Entitäten) verschiebt, kann er Figurenkonstellationen, Verortungen oder Charakterisierungen, die diese Figur betreffen, ‚einfrieren‘ und so die Wahrnehmung der Figur steuern. Außerdem eröffnen sich Leerstellen, da Wahrnehmung und Handlung, Innenleben und Charakterisierung von Figuren, die nicht im Fokus stehen, der Mutmaßung des Lesers überlassen werden (beachte allerdings dazu die Ausführungen unter 1.4.5 und 1.4.6). Tabellarisch (vers- oder satzweise) gelistet kann durch die Nennung der figürlichen grammatikalischen Subjekte und Objekte die Interaktion zwischen bestimmten Figuren, Repräsentation von Figuren durch andere oder ein Effekt verdeutlicht werden, der dem ‚Zoom‘ im Film entspricht. Z. B. kann der Erzähler einzelne Figuren in einem Kollektiv hervorheben, sodass das übrige Kollektiv ausgeblendet erscheint – er also quasi ‚hineinzoomt‘. Der Fokus durch die grammatikali77
Im Bsp. von Kap. 1.2.3 waren das die Pharisäer bei der fünften Figurenrede.
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schen Subjekte und Objekte ist eine der wichtigsten Möglichkeiten, die Leserwahrnehmung zu lenken. Als Beispiele für die Werkzeuge dieser Kategorie sollen die gegebenen Verweise auf die entsprechenden Beispiele der anderen Werkzeuge genügen. An ihnen wurden bereits mögliche Probleme veranschaulicht. Das Vorgehen ist klassisch linguistisch, nahezu selbsterklärend und demnach m. E. sofort klar. Deshalb wird hier auf die exemplarische Anwendung verzichtet. 1.3 Entfaltung der Erzählten Welt Eine Besonderheit narrativer Ethik ist die kontextuelle Eingebundenheit moralischer Entscheidungen. In Narrationen ereignet sich Geschehen i. d. R. nicht abstrakt, sondern immer in die Zusammenhänge der Erzählten Welt eingebunden. Insbesondere ist so jegliches Figurenverhalten situativ eingebettet. Obwohl der poetische Beginn des Joh noch konkrete Situierungen vermissen lässt, werden dort bereits Grundlagen der Erzählten Welt gelegt. Über den Prolog (1,1–18) hinaus gilt erst recht, dass „das Evangelium kein zeit- und ortloser Mythos“ ist.78 Dem trägt diese Werkzeugkategorie Rechnung, indem die hier gesammelten Werkzeuge der Offenlegung der Bedingungen der Erzählten Welt und der damit zusammenhängenden sprachlichen Vernetzung der Erzählung (1.3.6) dienen. 1.3.1 Zeitliche Termini und Zeitstruktur „Grundlegende Dimension“ von Erzählungen ist die Zeit.79 Dementsprechend hat die besondere Bedeutung der Zeit in der Narratologie große Aufmerksamkeit erfahren.80 Unter dieser Kategorie finden sich vier Werkzeuge aufgeführt, die sich untereinander vernetzt durchführen lassen. Das Spiel mit dem Verhältnis zwischen Erzählzeit und Erzählter Zeit macht einen besonderen Reiz von Erzählungen aus. Viele Narrationen erzählen ihre Ereignisse in überwiegend chronologischer Reihenfolge, so auch das Joh.81 Als eines der Kriterien zur Szenenabgrenzung kamen die Zeitangaben bereits in 1.1 in den 78
Frey, Leiblichkeit, 705. Vogt, Aspekte, 96. 80 Vgl. z. B. Chatman, Story, 62–84; Martínez/Scheffel, Einführung, 32–49; Vogt, Aspekte, 96–143. G. Genette führt Zeit grundlegend und ausführlich als eines der wesentlichen Strukturierungsmerkmale und Analysekategorien von Erzählungen ein (vgl. ders., Erzählung, 17–102). Von philosophischer Perspektive aus etabliert P. Ricœur nicht nur im Titel seines dreibändigen Werks „Zeit“ als Gegenüber zu „Erzählung“, sondern misst sogar die Bedeutung letzterer an der ‚Zeiterfahrung‘ (ders., Zeit I, 13; vgl. auch Zeit III, 434). Vgl. zu Ricœur auch 2.3. Verwiesen sei auf die ethische Analyse der Zeit im AT bei M. E. Mills (vgl. dies., Morality, 165–239, v. a. 238 f., 246–248) 81 Zur Zeitstruktur und zu Zeitangaben des Joh (prinzipiell und exemplarisch) vgl. Frey, Eschatologie II, 168–170, 173–207. 79
1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse
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Blick. Jede Szene kann hinsichtlich Jahr, Jahreszeit (und ggf. Monat), Wochentag und Tages- oder Uhrzeit eingeordnet werden. Gewöhnlich wird zunächst die Zeit des Szenenbeginns betrachtet. Da im Joh Zeitangaben die Ausnahme bilden, müssen die meisten erschlossen werden. Die (z. T. erschlossene) zeitliche Einordnung der Szene kann systematisch aus den Angaben innerhalb der Szene und dem weiteren Erzählkontext herausgearbeitet werden. Unsicherheiten können als Zeitfenster ggf. mit Tendenz angegeben werden. Bspw. spielt die Dreiszenenepisode 8,2–11 (Szenenaufteilung: 8,2.3– 9.10 f.) zwischen dem Laubhüttenfest (7,2.37) und Tempelweihfest im Winter (10,22). Anhand der möglichen Zeitsprünge (vor 8,2 nur nach 7,44) und der Erzähltextmenge ist eine zeitliche Nähe zum erstgenannten Fest suggeriert, eventuell sogar der Folgetag. Die Szene ereignet sich früh am Tag (8,2). Jahreszahlen können im Joh prinzipiell nur aus historischen Rekonstruktionen erschlossen werden. Der Wochentag ist ungewiss, lediglich ein Sabbat ist wegen der Aktivität der Pharisäer auszuschließen. Während einer Szene verstreicht notwendigerweise Erzählzeit und (sofern nicht die gesamte Szene eine Pause (s. u.) darstellt) auch Erzählte Zeit. Am Ende der Szene handelt es sich also um einen anderen Zeitpunkt als zu Beginn der Szene. Da überwiegend chronologisch erzählt wird, liegt dieser zeitlich nach dem Szenenbeginn. In 8,2–11 (s. Abb. 11) beispielsweise verstreicht ab dem Auftritt der Pharisäer und Schriftgelehrten nur wenig Zeit (mutmaßlich nur einige Minuten), sodass das Szenenende noch am gleichen Morgen einzuordnen ist. Analepsen und Prolepsen erlauben jedoch das Aufbrechen der Chronologie.82 Ein Beispiel ist das Partizip Perfekt '' in 8,3 (und gewissermaßen die Figurenrede in 8,4 f.). Auch alle Gleichzeitigkeit suggerierenden Konjunktionen sind gewissermaßen Analepsen, da die Erzählzeit fortschreitet und keine echte Gleichzeitigkeit ausdrücken kann.83 Solche Rück- und Vorverweise sind in Bezug auf die Zeitbestimmung der Szene auszublenden. Zur Funktion von diesem zeitstilistischen Mittel beachte die Anmerkungen in 1.2.1 und 1.6.3. Für die Zeitstruktur einer Szene sind sie m. E. nicht relevant. Zeitsprünge innerhalb der Szene sind ungewöhnlich, da diese i. d. R. gerade die Szenen voneinander abgrenzen, sodass Ellipsen84 innerhalb einer Szene m. E. nicht vorkommen. Raffungen, Dehnungen und Pausen85 hingegen kommen häufig vor. 82
Zu Analepsen (‚Rückblenden‘) und Prolepsen (‚Vorausblenden‘) vgl. 1.6.3. Vgl. Vogt, Aspekte, 135–137. 84 In Ellipsen verstreicht Erzählte Zeit, während die Erzählzeit still steht. Da die Erzählzeit aber kontinuierlich voranschreitet, sind Ellipsen also zeitliche Sprünge innerhalb der Erzählung in chronologischer Richtung. In der Erzählten Welt verstreicht erzählerisch ausgesparte Zeit und vollzieht sich ggf. auch Handlung. Die Mehrzahl der Szenenabgrenzungen beruht auf Ellipsen. 85 Bei Raffungen ist die Erzählzeit kürzer als die Erzählte Zeit, bei Dehnungen umgekehrt. In Pausen steht die Erzählte Zeit gar still, während die Erzählzeit beliebig lang 83
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Teil II: Methodologie
Jesus erreicht Tempel
Sprechhandlung Phar. & Gelehrte
Volk kommt zu Jesus
Jesus setzt sich
Jesus lehrt
Analepse
Phar. & Gelehrte fragen weiter
Dauer unbekannt
Frau wird gebracht
Älteste Phar. & Gelehrte gehen
Frau wird in Mitte gestellt
Übrige Phar. & Gelehrte gehen
Zeitpunkt unbekannt
Jesus beugt sich zu Boden
Jesus beugt sich zu Boden
Sprechhandlung Jesus
Jesus schreibt
Jesus schreibt
Jesus richtet sich auf
Erzählte Zeit
Sprechhandlung Jesus
Sprechhandlung Frau
Sprechhandlung Jesus
Dauer unbekannt Dauer festgelegt = Erzählzeit
8,6a: Erzählerkommentierung
Ohne Block oder Pfeil: Handlung ist in wenigen Sekunden ausführbar bzw. in andere Handlung integriert
Abb. 11: Zeitstruktur von 8,2–11
Mit Ausnahme von Monologen und Dialogen ohne Erzählereinführung verlaufen Erzählzeit und Erzählte Zeit nicht parallel. Durch dieses Phänomen ergibt sich nicht nur die Erzählgeschwindigkeit, welche ein wesentlicher Faktor für die Spannung ist, sondern auch eine dynamische Zeitentwicklung. Innerhalb einer Szene können sogar Jahre vergehen. Im Joh sind jedoch höchstens einige Tage gerafft (z. B. 11,7.54). Weniger offensichtliche Raffungen liegen in Verb-Reihungen und komplexen Handlungen (z. B. 9,7: Details ausführt. Im Grunde handelt es sich bei allen Beschreibungen und Kommentierungen um Pausen.
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; % D ) E )F % @ ) vor. Jede Szene kann durch diese Beobachtungen hinsichtlich der Zeitpunkte, an denen sich etwas ereignet, untersucht werden. Alle Verbtempora sowie zeitliche Konjunktionen, Präpositionen und Adverbien (z. B. 8 , D , ) sind zu beachten. Die Aufgabe dieses Werkzeuges ist das Aufzeigen der einzelnen Zeitpunkte einer Szene und der dynamischen Zeitstruktur. Pro- und Analepsen werden mit eingetragen, liegen aber gemäß ihrer Beschaffenheit z. T. außerhalb des übrigen Zeitfensters der Szene. Sinnvoll ist auch eine szenenübergreifende Anwendung, durch die der zeitliche Zusammenhang von Episoden oder sogar der gesamten Erzählung sichtbar wird.86 Die Dauer kann – ebenso wie die Zeitangaben zuvor – erschlossen und ergänzt werden. Die dynamische Zeitstruktur einer Szene lässt sich mithilfe von Zeitstrahlen darstellen. Im Gegensatz zu Visualisierungen der Erzählgeschwindigkeit liefert dabei nicht die Textmenge, sondern die Erzählte Zeit die Segmentierung des Zeitstrahls. So stechen Handlungen in ihrer Dauer heraus und erzählerisch betonte, weil ausführlich erzählte, Ereignisse werden zeitlich relativiert. Es ergibt sich eine chronologische Handlungsfolge, die für 8,2–11 in Abb. 11 veranschaulicht wurde. Als Schlaglichter werden hier die Überlappung von Handlungen im Mittelteil, die Unbestimmtheitsstellen bezüglich der Zeitpunkte der Ab- und Zuwendung Jesu (und damit einhergehend der Dauer des fortlaufenden Fragens), der proleptisch zweigeteilte Abgang der Pharisäer und Schriftgelehrten und die Pause in 8,6a in der Erzählerkommentierung benannt. Zu Jesus ist anzumerken, dass er, obwohl er öfter spricht (3x + 1x ! ), in dieser Episode länger schreibt. Die Störung der Kommunikation zwischen Jesus und dem Figurenkollektiv der Pharisäer und Schriftgelehrten wird durch die Gleichzeitigkeit der Handlungen verbildlicht. Zudem drückt sich in den Abschnitten mit unbekannter Dauer ein Dominanzkonflikt zwischen diesen beiden Figuren aus, welcher zu Gunsten Jesu entschieden wird. Besondere Beachtung verdienen die expliziten Zeitangaben (z. B. 2 % # in 8,2). Von ihnen dürfen Schlüsse auf die Atmosphäre und Situation gezogen werden.87 Dies geschieht auf zwei Ebenen, zum einen textlich begründet, zum anderen assoziativ unter Einbeziehung des historischen Wissens.88 Durch das Wortfeld (vgl. 1.3.6) der morgendlichen Frühe sind die Überlieferung Jesu an Pilatus (18,28), das leere Grab (20,1) und die Epiphanie des Auferstandenen (21,4) mit dieser Szene verbunden. Zugleich kennzeichnet dort der Morgen jeweils das Ende der Nacht (Zeitterminus der Gottesferne im Joh), welche 86
S. Finnern fordert in seiner Umweltanalyse die Skizzierung eines die gesamte Erzählung umfassenden Zeitstrahls, um das „Geschichtsbild“ dieser zu visualisieren (ders., Narratologie, 86), bei seiner Anwendung liefert er allerdings nur eine Listung der Zeitangaben (a. a. O., 286 f.). 87 Dies gesteht M. Davies nur einigen Angaben zu (vgl. dies., Rhetoric, 24). 88 Vgl. die Vorbemerkungen über das Verständnis vom ‚Leser‘ in dieser Arbeit (Teil I – Einleitung: 1.2).
118
Teil II: Methodologie
damit auch in 8,2 als vorausgehend mitgedacht werden darf. Auf frei assoziativer Ebene bilden angenehme Temperaturen oder gar morgendliche Frische, bevor die herbstliche Mittagshitze anbricht, die Atmosphäre. Der Tagesanbruch signalisiert auch die Zunahme des städtischen Treibens, was die Volksmenge ( G# 1 #) plausibilisiert. Die Tageszeit kann des Weiteren zur Charakterisierung der Pharisäer und Schriftgelehrten genutzt werden, die schon in aller Frühe Jesus auflauern und für seine Versuchung sogar auf Schlaf verzichten. Schließlich haben sie ja bereits eine Frau beim Ehebruch aufgegriffen, als sie Jesus erreichen. Sie bringen also einen hohen Einsatz zur Erreichung ihrer Ziele. Alternativdeutungen, wie eine Charakterisierung des Kollektivs als Frühaufsteher, müssen bei einer Analyse der Figur ebenfalls diskutiert werden.89 Im Beispiel wurde bereits die semantische Aufladung der Zeitstruktur und -angaben90 deutlich. Die Trennung zwischen zeitlichem Terminus und seiner Deutung ist aufrecht zu erhalten. Mögliche Alternativdeutungen (s. o.) können dabei helfen, die Relativität von Interpretationen wahrzunehmen. Wichtig ist, dass Argumentationsketten als solche ersichtlich bleiben. Dies sei exemplarisch an der Figur Nikodemus verdeutlicht: Der Rückschluss, dass Nikodemus Angst um seinen Ruf oder seine Position hat,91 ggf. sogar feige ist, ist das Ergebnis einer Argumentationskette, die in seinem nächtlichen Jesus-Aufsuchen (3,2; 19,39–42) entspringt. Dabei wird Nacht mit Dunkelheit und so mit Verborgenheit assoziiert und daraus eine heimliche Begegnung geschlossen. Auf der Suche nach Motiven für ein solches Unterfangen wird seine gesellschaftliche Rolle und die Einstellung des Kollektivs, dem er angehört, – nämlich das Nikodemus einer der / ! ist (3,1) und deren feindliche Haltung gegenüber Jesus – hinzugezogen. Das Beispiel veranschaulicht die Komplexität solcher Deutungsvorgänge. Dieses Werkzeug soll aber zunächst nur bei den Deutungen der Zeitangaben verbleiben und nicht andere Informationen hinzuziehen, wie bei obiger Auslegung geschehen. Die expliziten Termini und ihre Deutungsketten werden übersichtlich gelistet.
89
Dieses recht frei assoziierende (aber stets an den Text angebundene) Vorgehen zur Charakterisierung führt gewissermaßen D. F. Tolmies Vorgehen fort, der vielfach bei einer Beschreibung des Textbestands stehen bleibt, damit aber bereits Eigenschaften impliziert (vgl. ders., Farewell, 124–144; ders., Narratology, 44–53). Um einer willkürlichen Deutungspolyvalenz zu begegnen, ist es hilfreich die textimmanenten Argumentationen von den assoziativen zu trennen. Zur Atmosphäre vgl. 1.3.3 und zur Figurencharakterisierung 1.4.10. 90 Vgl. Pfister, Drama, 367 f. J. Frey betont dass „viele der johanneischen Zeitangaben nicht allein chronologische, sondern […] symbolische Bedeutung tragen“ (ders., Eschatologie II, 191). 91 Vgl. z. B. Dschulnigg, Jesus, 118; Moloney, Gospel, 510; Painter, Quest, 197; Theobald, Evangelium, 246 f.
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Die zeitliche Einbettung ist vor allem dann erhellend, wenn der Erzählzusammenhang dicht ist, bestimmte Zeitangaben also relativ genau erschlossen werden können. So kann bspw. eine Szene, die nach einer Abend- und vor einer Morgenszene stattfindet, in die Nacht eingeordnet werden, ohne dass dies genannt werden muss. Gerade Jahreszeiten, Festzeiten, Wochentage oder Tageszeiten sind Lesern bei der zusammenhängenden Textrezeption bewusst, gehen aber durch die Separation der Szenen verloren. Die Implikationen der expliziten Zeittermini haben eine besondere Bedeutung für die Situation und damit für die Figurencharakterisierung. Das Empfinden und Verhalten einer Figur wird entsprechend der Bedingungen wahrgenommen, in denen sie sich befindet. Dabei kommentieren sich die Szenen untereinander. Obiges Beispiel verdeutlicht dies. Die dynamische Zeit gibt Aufschluss darüber, wie die Figuren ihre Zeit verwenden, wie sie Zeitpunkte abpassen, um aktiv zu werden, und welche Handlungen sie häufiger oder über größere Zeiträume hinweg ausführen. So lassen sich Rückschlüsse auf Pflichten und/oder Prioritäten ziehen. 1.3.2 Verortung Jede Erzählte Welt hat ihre eigene Topografie, die unabhängig von den Gegebenheiten der realen Welt die Schauplätze der Erzählung bereitstellt. Diese Topografie einer Erzählung kreiert der Leser als ‚Cognitive Map‘ durch Ortsnennungen (z. B. Jerusalem), Schauplatzbeschreibungen, Figuren- und Objektbewegungen, Figurenhandlungen und Figurenwahrnehmung (sowie deren Negationen).92 Gerade in diesem Bereich wird Weltwissen schnell integriert und durch Verwendung von konkreten Ortsnamen beim Leser abgerufen.93 So fließen die Kartografie vom Israel der ntl. Zeit oder Ortwissen wie z. B., dass die Halle Salomos zum Tempel gehört, gewöhnlich unreflektiert in die Interpretation ein. Der Rückgriff auf solche textexternen Informationen (das Weltwissen des Lesers) wird hier keinesfalls abgelehnt – Narratologie ist ja gerade darauf angewiesen – aber bei diesem Werkzeug sollen die Informationsquellen (ob erzählungsintern oder -extern) besonders bewusst gemacht werden. Ähnlich wie im vorausgehend vorgestellten Werkzeug ist bei der Analyse von einzelnen Szenen hinsichtlich der Orte keine große Vielfalt zu erwarten, da Szenen per Definition meist ortsgebunden sind. Die Größe möglicher Handlungsorte variiert stark. Theoretisch sind sowohl Universen als auch Angaben auf atomarer Ebene möglich. Im Joh ordnen sie sich zwischen Landstrichen (wie Judäa) und konkreten Topoi (wie der Jakobsbrunnen oder das Grab Jesu) an. Eine Ausnahme sind abstrakte und kosmologische Anga92
Vgl. Ryan, Maps, 219–221. M.-L. Ryan gibt auch Beispiele an, verdeutlicht Visualisierungsmöglichkeiten solcher ‚Cognitive Maps‘ und arbeitet die Bedeutung von Leerstellen bzgl. der Topografie heraus (vgl. a. a. O. 217–238). 93 Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung, 152.
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ben in Prolog und Figurenrede (wie z. B. ‚bei Gott‘ (1,1) oder ‚in der Welt‘ (17,11)). Neben den konkreten Ortsnennungen sind auch die Ortswechsel von besonderem Interesse. Sie verschieben nicht nur den Wahrnehmungsraum der Erzählten Welt topografisch, sondern können auch semantischen Gehalt transportieren und so weitere Bedeutungsebenen in die Erzählung eintragen.94 Zwei miteinander verbundene Werkzeuge werden hier vorgestellt.95 Zunächst wird für die Szenenanalyse der jeweilige Handlungsort bestimmt. Nach Möglichkeit wird die Verortung aufgefächert angegeben, z. B. Halle Salomos in Jerusalem in Judäa (10,22 f.). Gibt es weitere Handlungsorte (weil die Szene ‚Fortbewegung‘ (vgl. 1.2.4) enthält), werden diese ebenfalls angegeben und das Verhältnis (Distanz, Größe) der Orte zueinander beschrieben. Z. T. können diese auch kartografisch oder durch ein Bewegungsschema veranschaulicht werden. Letzteres markiert die Verortungen einer (oder mehrerer) Figur(en) auf der einen Achse, während auf der anderen Achse, je nach Wahl die Erzählzeit oder die Erzählte Zeit den Handlungsverlauf aufgreift. So können Fortbewegungen angezeigt werden, indem Pfeile die Wechsel vom einen zum anderen Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt der Erzählung oder innerhalb der Erzählten Welt visualisieren (vgl. Teil III – Simon Petrus: 2.7). Im Joh sind viele Figurenbewegungen gerafft in der Aufbruchssituation oder der Ankunft von Figuren zusammengefasst. So nehmen die Ortswechsel, die zwischen verschiedenen Szenen innerhalb der Erzählten Welt von Figuren vollzogen werden, in der Erzählzeit wenig Raum ein. Auffällig sind dabei insbesondere die geografisch großen Distanzen zwischen Judäa bzw. Jerusalem und Galiläa, die Jesus mehrfach zurücklegt und die das Joh strukturieren.96 Fehlen Ortsangaben, müssen diese aus dem Erzählzusammenhang erschlossen werden. Wo das nicht möglich ist, werden Eingrenzungen vorgenommen und Ausschlussverfahren angewendet. Eine solche Verortung der Erzählhandlung nehmen Leser i. d. R. automatisch vor.97 Hinzu kommen Angaben, die sich auf das Raumverhältnis beziehen. Dies umfasst Richtungen (z. B. 8,23: oben und unten) und Distanzen (z. B. 6,19: nahe), die sich auch auf Figurenpositionierungen beziehen.98 Auch Präpositionen können Aus94
So zieht z. B. K. Erlemann durch die Ortswechsel in Joh 1–12 eine Strukturierung „bestimmte[r], semantisch ausweisbare[r] Themenfelder“ angelegt (ders., Beobachtungen, 392). Erlemann bleibt aber durch seine Auswertung der ‚Elemente‘ einer Sequenz, worunter er Szenen- oder Gesprächsinhalte und -themen versteht und die er gelistet sammelt (vgl. a. a. O.), hinter einer möglichen Ausschöpfung von Raumsemantik und Bewegungsmetaphorik zurück. 95 Eine instruktive Analyse verschiedener Orte und Ortsverhältnisse des Joh nimmt J. L. Resseguie vor, die als richtungsweisend gelten darf (vgl. ders., Gospel, 63–107). 96 Vgl. Schenke, Johannes, 9, 13–15; Theobald, Evangelium, 17–19. 97 Vgl. Martínez/Scheffel, Einführung, 151. 98 Figurenpositionen im Verhältnis zueinander können zugleich auch Spiegel der sozialen oder emotionalen Figurenverhältnisse sein (vgl. Emmott, Space, 315–318).
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druck von Verortungen oder Verhältnissen der Entitäten im Raum zueinander sein. In einem zweiten Schritt werden die Orte und Raumverhältnisangaben, wie schon die expliziten Zeittermini, mit Assoziationen angereichert, da beide semantisch oder symbolisch aufgeladen sein können.99 Auch diese werden dem Verständnis des Lesers gemäß100 auf zwei Ebenen vollzogen. Auf der ersten Ebene werden textexterne Informationen und Ausschmückungen der Vorstellungskraft ausgeblendet, sodass nur erzählungsimmanente Bezüge einbezogen werden. Auf der zweiten werden freie Assoziationen zugelassen und reichhaltige Hintergrundinformationen hinzugezogen.101 In 10,23 ist der Ort als Säulenhalle (! ) angegeben, mit der Möglichkeit umherzugehen und zumindest grobem Witterungsschutz (Winter). Ferner liegen dort lockere Steine (10,31). Durch historisches Wissen kann die Halle Salomos nicht nur dem Tempelbezirk zugeordnet, sondern z. T. sogar rekonstruiert werden. In beiden Fällen muss das entstehende Bild vom Ort begründet werden. So wird einerseits eine textimmanente und andererseits eine umfassende Vorstellung von dem Schauplatz generiert. Die Szene wird mit beiden möglichen Verortungen gelesen. Im hiesigen Beispiel erscheint die Zuordnung als Tempel von Bedeutung, da nicht nur übrige Tempelszenen dieser gegenübergestellt werden können, sondern auch die Schafstallmetaphorik zu einer Übertragung des Bildes auf das jüdische Kultzentrum einlädt. Zugleich erhöht sich die dramaturgische Spannung durch den Steinigungsversuch an einem sakralen Ort. Matthias Pfeiffer ordnet der ethischen Frage des „Was soll ich tun?“ die Frage des „Wo gehöre ich hin?“ vor, indem er den etymologischen Ursprung von F% # im „gewöhnliche[n] Aufenthaltsort“ angibt, sodass die Ortsgebundenheit zum Ausgangspunkt ethischer Fragen wird.102 Im Gegensatz zu Pfeif99
Vgl. Pfister, Drama, 339–345. Dieser Schritt entspricht der Beobachtung, dass Ortsangaben in den meisten Erzählungen nicht nur als Teil des Settings sind, sondern einen eigenen thematischen Beitrag leisten (vgl. Bal, Narratology, 136). Dies bringt M. Bal terminologisch darin zum Ausdruck, dass sie von „space“ anstatt von „place“ spricht (a. a. O., 133). Zum symbolischen Gehalt von (insbesondere dualistischen) Ortsangaben (z. B. oben – unten) vgl. z. B. Bal, Narratology, 135–138, 214–217. Verwiesen sei besonders auf A. Bork, der den Zusammenhang zwischen den Kategorien ‚Zeit‘, ‚Raum‘ und ‚Figuren‘ anhand der Logienquelle Q ausführlich ausgearbeitet hat und den semantischen Gehalt der Verortung der Figur im Raum sowie ihrer Bewegungen herausstellt (vgl. ders., Raumsemantik). 100 Vgl. dazu die Vorbemerkungen über den ‚Leser‘ in Teil I – Einleitung: 1.2. 101 Zur historischen Verortung kann bei biblischen Texten auf entsprechende Kommentare verwiesen werden. Zum Joh vgl. z. B. Theobald, Evangelium. Einen historischen Überblick über Jerusalem, Judäa, Galiläa, Samaria und nicht eindeutige Orte liefert M. Davies (vgl. dies., Rhetoric, 276–285). 102 Pfeiffer, Einweisung, 23; vgl. a. a. O., 14 f. Pfeiffer nimmt die Verortung jedoch nicht narratologisch oder raumsemantisch, sondern ontologisch vor, sodass er den Menschen im Joh als „Mensch in der Finsternis“ begreift (a. a. O., 95–136).
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fers philosophisch-ontologischem Zugang wird diese Frage hier narratologisch ausgewertet. So leistet die Verortung einen wichtigen Beitrag zur Situierung einer Szene. Lokalitäten legen Rollen und Verhaltensweisen fest. So wird z. B. eine Figur in dem Haus einer anderen Figur automatisch ein Besucher (ob Gast, Gefangener oder Eindringling entscheiden Situation und Figurenkonstellation, vgl. 10,1 f.; 11,31; 18,16.19.33). Durch die Assoziationen werden zudem Bedingungen und Begrenzungen von Handlungen festgelegt und eine Atmosphäre erzeugt. Vergleiche dazu insbesondere 1.3.3 und 1.6.6. 1.3.3 Atmosphäre Weniger greifbar als Orts- und Zeitangaben erscheint die Atmosphäre. Sie wird durch die beiden Größen zwar mitbestimmt, unterliegt aber noch weiteren Einflüssen wie Klima und Wetter. Das hier vorgestellte Werkzeug nimmt den Anwendenden am stärksten in die Begründungspflicht. Weil Erzählungen ihre Wirkmächtigkeit im Lesererleben entfalten, ist die Atmosphäre einer Szene besonders wichtig. Da Menschen Situationen aber sehr unterschiedlich wahrnehmen, kann hier kein allgemeingültiges Ergebnis herausgearbeitet werden. Zunächst müssen alle Angaben, die Einfluss auf die Atmosphäre haben, zusammengetragen werden: Ortsangaben (vgl. 1.3.2), Zeitangaben (vgl. 1.3.1), Witterung, zuvor geschehene Ereignisse in räumlicher oder zeitlicher Nähe, anwesende Figuren (inkl. ihrer Situation und Vorerfahrung) und ggf. die Figurenkonstellation (vgl. 1.3.4 und 1.4.7).103 Metaphorische Deutungen oder Metonymien reichern die Situation zusätzlich an.104 Dieses Panorama liefert das Setting. Die Bedeutung der aufgeführten Angaben ergibt sich aus den anderen Analyseschritten oder kann durch textimmanente Bewertungsmuster ermittelt werden. So ist z. B. Finsternis (! ) als Gegenpol zum Licht, welches Jesus personifiziert, im Joh negativ konnotiert. Dementsprechend trägt in 20,1 ! diese Bewertung mit in die Szene ein. Ein interpretativer Akt ist es nun, von Beklemmung, Gefahr, Bedrohung, Anwesenheit des Bösen, Ungewissheit oder Unbehagen zu sprechen. Anschließend an eine Auflistung der Hinweise wird auf Grundlage der Zusammenschau aller Einflüsse die Atmosphäre in eigenen Worten umrissen, eine Bewertung vorgenommen und für die Leseranregung (vgl. 1.6.8) bereitgestellt. In 18,19–24 liegen beinahe alle Hinweise auf die Atmosphäre außerhalb der Szene. Jesu Gefangennahme zuvor (18,12), die Anwesenheit von Soldaten (18,12), der 103
Zum Erschließen und zur Bedeutung des sozialen Raums (der sich hier außer gebündelt in der Atmosphäre auch gesondert in Figurenkonstellation (1.3.4 und 1.4.9) und im sozial-kulturellem Setting (1.3.5) spiegelt) bietet C. Emmott ein Vorgehen und einige Beispiele (vgl. dies., Space, 305, 297–315). 104 Zur Nähe von Metaphorik und Metonymie und ihrer Bedeutung in der Narratologie vgl. Fludernik, Erzähltheorie, 89 f.
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Palast des Hohepriesters als Wohnstätte des mächtigen Feindes (18,15; vgl. 7,32 u. ö.), die Rahmung mit Simon Petrus’ Verleugnung (18,16–18.25–27), die nächtliche Tageszeit (13,30; 18,28), der durch die Festnahme bedingte Bruch von Vertrautheit hin zu Einsamkeit (18,2 f.8 f.), die Kälte (E8 # F , 18,18) und schließlich die Gewalttat an Jesus innerhalb der Szene (18,22) vermitteln hier eine unangenehme Atmosphäre, in der Bedrohung (Hinweis 1–3), Unheil (Hinweis 4–5), Verlassenheit (Hinweis 5–7) und der Lebensfeindlichkeit (Hinweis 7–8) kennzeichnend sind. Der Beitrag der Temperaturangabe E8 # zur Atmosphäre sei hier als Beispiel dargelegt. Sie wirkt auf zwei Ebenen. Als direkte körperliche Empfindung ist sie kontextuell als unangenehm klassifiziert, da die anwesenden Figuren ihr entgegen wirken (sich wärmen). Die Weiterführung auf ‚Lebensfeindlichkeit‘ ist doppelt begründet: Einerseits schränkt es innerhalb der Erzählten Welt die Handlungsfähigkeit der Figuren ein und ist so eine Hemmung, andererseits ist eine gewisse Körpertemperatur – nach dem Weltwissen – notwendiges Zeichen des Lebens. Auf metaphorischer Ebene bezeichnet ‚kalt‘ eine Figurenbeziehung, die durch Ablehnung und Abschottung gekennzeichnet ist (mit Wärme als Gegenpol und Sinnbild für Geborgenheit). Diese ‚soziale Kälte‘ begründet ein Empfinden von ‚Verlassenheit‘. Durch diese Atmosphäre werden nicht nur eine Negativbewertung der Situation und eine klare Gut-Böse-Einteilung der Figuren innerhalb der Szene vorgenommen, auch die Leseremotionen werden angeregt. Der Leser kann bspw. die augenscheinliche Machtlosigkeit und Bedrückung in Jesu Verhörszene miterleben. Als Steuerungselement für das Erleben und daraus folgend für das Verhalten von Figuren ist die Atmosphäre eine bedeutsame Größe für die situative Einbettung. Sie liefert abstrakten Bewertungskategorien ein Gegenüber der Kontextbezogenheit. Darüber hinaus kann sie als Spiegel von Gefühlen oder Einstellungen von Figuren oder ihrer (impliziten) Charakterisierung dienen.105 Z. B. kann Regen tränenmetaphorisch Trauer spiegeln oder ein verschlossener Raum Ablehnung symbolisieren. Dazu siehe 1.4.8. Schließlich hat sie wesentlichen Einfluss auf die Leseremotionen, welche wiederum die ethische Wirksamkeit bedingen (vgl. 1.6.8). 1.3.4 Soziostrukturelle Figurenkonstellation In nahezu jeder Szene einer Erzählung treten Figuren auf. Alle explizit genannten und implizit erschlossenen Figuren bilden die Figurenkonfiguration einer Szene. Alle Figuren der Erzählten Welt aus allen Szenen zusammen bilden das Figurenrepertoire.106 Figuren, die nur als Bezugsgrößen (v. a. in105
Vgl. Pfister, Drama, 261, 348–350. Vgl. Teil I – Einleitung: 4.1.3. Anstelle von ‚Figurenrepertoire‘ verwendet M. Pfister den Ausdruck „Personal“ (ders., Drama, 225), welcher für Erzählungen wegen der Nähe zum Begriff ‚Person‘ und der Assoziation der Besetzung von Rollen wenig geeignet er106
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nerhalb von Figurenrede) genannt werden oder deren Abwesenheit expliziert wird, sind von der Figurenkonfiguration einer Szene abzutrennen. Sie sind Teil der erweiterten Figurenkonfiguration.107 Während eine einfache Aufzählung der Figurenkonfiguration bereits zur Szenenabgrenzung notwendig ist (vgl. 1.1), wird mit der Figurenkonstellation nun noch eine Verhältnisbestimmung vollzogen. Dazu werden alle Einzelfiguren und Figurenkollektive zueinander positioniert. Im Gegensatz zur Analyse der emotionalen Figurenkonstellation (vgl. 1.4.7) ist bei diesem Werkzeug die soziale Struktur von Interesse. ‚Soziostrukturell‘ meint Rollenverhältnisse und Hierarchien. Dazu werden Kollektivzugehörigkeit (vgl. 1.4.2), gesellschaftliche Positionen und Berufsbezeichnungen, Verwandtschaftsbeziehungen sowie Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse betrachtet. Diese lassen sich aus Erzählerangaben, dem Figurenverhalten und der Figurenrede ablesen oder rückschließen.108 In 2,1–11 z. B. sind die Jünger Jesus hierarchisch untergeordnet und in eine auf Jesus ausgerichtete (geistliche) Gemeinschaft eingeordnet; Jesus und seine Mutter (und in 2,12 Jesu Brüder) bilden eine familiäre Konstellation; Bräutigam, Oberkellner und Diener agieren auf drei Stufen der beruflich bedingten Befehlshoheit; Jesus, seine Mutter und seine Jünger sind Gäste des Bräutigams. Der G# $ % # der Figurenrede (2,10) wird als nicht-konkrete Figur hier ausgespart. Die Darstellung erfolgt über ein Soziogramm (vgl. Abb. 12).109 Alle Figurennamen der Figurenkonfiguration werden auf einer Ebene verteilt. Verbindende Linien und Pfeile mit diversen Symbolen ausgestattet, verbildlichen die Verhältnisbestimmung. Die Symbole sind frei wählbar. So können z. B. ein Smiley Freundschaft oder zwei Ringe Ehegemeinschaft scheint. S. Finnern bietet „Figurenensemble“ als entsprechenden Begriff (ders., Narratologie, 129). 107 S. Finnern spricht vom Figurenbestand, wobei unsicher ist, ob die implizit erschlossenen Figuren zu diesem hinzuzählen (vgl. ders., Narratologie, 128). Figuren, die in der gesamten Erzählung nicht auftreten, sondern nur benannt werden, werden als ‚Horizontfiguren‘ bezeichnet; M. Pfister nennt diese „backstage characters“ (ders., Drama, 225 f.). 108 Figurenrede kann durch die verwendete Sprache, bestimmte Formulierungen oder Ausdrücke, ebenfalls Rückschlüsse auf den sozialen Status zulassen. Vgl. auch Hofmann, Drama, 37. In biblischen Texten ist dies nur begrenzt der Fall, z. B. können aber die „ '( '* “-Formeln Jesu als Signal für Autorität gedeutet werden. 109 Soziogramme sind Darstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb von Gruppen. J. L. Moreno nennt sie als eine Möglichkeit der Zusammenhangserstellung innerhalb der Soziometrie (mathematische Erfassung psychologischer Einstellungen in Gruppen), die immer auch eine Vereinfachung der Realsituation mit sich bringt (vgl. ders., Grundlagen, 33). Er definiert: „Das Soziogramm veranschaulicht mittels einer Reihe von Symbolen die beiderseitigen zwischenmenschlichen Beziehungen oder die zwischen den Mitgliedern einer Gruppe“ (a. a. O., 445). Es dient dabei nicht nur zur Beschreibung des Zustands, sondern auch um Umstrukturierungen einer Gruppe vorzunehmen (vgl. a. a. O., 312 f., 316 f.).
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Frauen
symbolisieren.110 Die Freundschaft zwischen Jüngern und Jesus wird in der Beispielszene nicht (und erst in 15,14 f. explizit) zum Ausdruck gebracht. Daher wird sie nicht eingezeichnet.
Mutter Jesu
Mutter
Sohn
Diener
Bräutigam
Jesus Gastgeber
Männer
Oberkellner Jünger Gäste
Bedienstete
(beruflich) abhängig weisungsbefugt
Abb. 12: Sozial-strukturelle Figurenkonstellation in Joh 2,1–11
Die Anordnung der Namen kann ebenfalls gezielt vorgenommen werden. So kann die Ebene zweigeteilt werden, um bspw. Männer und Frauen (siehe Abb. 12)111, Oberschicht und gemeines Volk oder Freunde und Feinde Jesu voneinander abzugrenzen.112 Auch Einteilungen in mehrere Flächen und Subunterteilungen sind möglich.113 Im Soziogramm von 2,1–11 fällt unter anderem auf, dass das Rollenverhältnis zwischen Gastgeber und Gast durch die gemeinsame Hierarchisierung über den Dienern zum Ausdruck gebracht wird. In einer Zusammenschau mit den Handlungen (1.4.5) ergibt sich ferner, dass zwischen diesen beiden Figurenclustern nur mittelbarer Kontakt entsteht. Eher selten ändert sich die soziale Struktur innerhalb einer Szene. Ist dies doch der Fall, können verschiedene Linienfarben die Entwicklung veran110
Moreno nutzt verschiedenfarbige und verschieden dicke Linien sowie Pfeile für Gefühle und Zu- bzw. Abneigung (vgl. ders., Grundlagen, 67). 111 In Abb. 12 sind ‚die Jünger‘ vollständig und ‚die Diener‘ tendenziell als männliche Kollektive eingeordnet. Beide können auch als geschlechtergemischt eingeordnet werden. So übersetzt z. B. die Bibel in gerechter Sprache „Jüngerinnen und Jünger“ und „Bedienstete“. Inwiefern – gerade in Bezug auf das Jüngerkollektiv – an dieser Stelle im Joh nur ein Geschlecht oder beide Geschlechter im Blick sind, wird hier nicht diskutiert. 112 Zur Wahl der Gliederungsmerkmale vgl. 1.3.5. 113 Moreno klassifiziert die Gruppenmitglieder grafisch nach Geschlecht, sozialer Rolle (z. B. Lehrer/Kind) und Hautfarbe (vgl. ders., Grundlagen, 67). Er unterscheidet dabei durch verschiedene Symbole (z. B. Dreieck für männlich, Kreis für weiblich). Die hier vorgenommene Einteilung in Flächen findet sich bei ihm nicht.
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schaulichen. In einer solchen dynamischen Darstellung sind Änderungen der Figurenkonstellation besonders interessant. Die Umstände und Verursacher einer solchen Veränderung sind jeweils genauer zu untersuchen. Durch die relative Stabilität der Figurenkonstellation kann dieses Werkzeug auch szenenübergreifend, z. B. auf eine ganze Episode, angewandt werden. Ein soziostrukturelles Figurensoziogramm kann sogar für eine gesamte Narration erstellt werden, läuft aber Gefahr unübersichtlich zu werden, vor allem wenn das Figurenrepertoire groß ist und alle Veränderungen der Konstellation mit dargestellt werden.114 Für eine Gesamterzählung sind deshalb i. d. R. mehrere Soziogramme zu zeichnen, die jeweils eine Momentaufnahme der Figurenkonstellation abbilden. Angemerkt sei ein Spezialfall, der zwar kaum als ‚soziostrukturell‘ bezeichnet werden kann, aber für die Figurenkonstellation bedeutsam ist. Durch die Existenz metaphysischer Entitäten (z. B. Paraklet) kann ein Soziogramm Figuren enthalten, die als solche außerhalb der ‚real sichtbaren‘ Erzählten Welt stehen. Diese können zudem in übernatürlicher Beziehung zu anderen Figuren stehen, indem sie z. B. in diesen verortet werden. So erscheinen sie als in einer anderen Figur anwesend, als infiguriert. Infigurierte Entitäten sind in gewisser Weise körperlos oder körperungebunden und nehmen gleichzeitig Einfluss auf die Charakterisierung und Bewertung der Figuren, in denen sie sich befinden. Sie befinden sich stets auf einer Grenze zwischen bildlicher Sprache der Figurencharakterisierung und übernatürlichen Figurenkonstellationen einer Erzählten Welt, die metaphysische Größen inkludiert. Die soziostrukturelle Figurenkonstellation hat zwei Funktionen. Zum einen veranschaulicht sie das soziale Setting der Szene und zeigt so den gesellschaftlichen Rahmen auf, in dem ethische Fragen überhaupt veranschaulicht werden können, z. B. berufliche Hierarchieverhältnisse oder innerfamiliäre Beziehungskonstellationen. Zum anderen kann jede Figur in ihren sozialen Beziehungen und Rollen betrachtet werden, was für die Handlungsmotivation und -bewertung mitunter bedeutsam ist.115 Durch diese ergeben sich Handlungszwänge, Motivationen und Pflichten. Da für Leser die Motivationen für Figurenhandeln von besonderer Bedeutung sind, um ihr Verhalten nachzuempfinden (vgl. dazu 1.6.8), liefert dieses Werkzeug darüber hinaus eine Grundlage dafür, einen vielfach verdeckt ablaufenden Prozess offenzulegen (vgl. auch 1.4.5 und 1.4.7).
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Vgl. die Figurenaufstellung aller auftretenden Figuren im Joh in der Einleitung (Teil I: 4.1.3), die dementsprechend soziostrukturelle Aspekte kaum integriert. 115 C. Emmott hebt die Figurenkonstellation für Handlungen besonders hervor: „From a social point of view, we are constantly making assumptions about how the actions of characters affect the other character who are co-present“ (dies., Space, 304). Vgl. 1.4.6 und 1.4.9.
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1.3.5 Sozial-kulturelles Setting Die Analyse des sozial-kulturellen Settings ist das vorletzte Werkzeug, welches in der Kategorie ‚Entfaltung der Erzählten Welt‘ vorgestellt wird. Hier werden die in der soziostrukturellen Figurenkonstellation genannten Rollen inhaltlich gefüllt und gesellschaftliche Verhaltensvorschriften extrahiert. Dementsprechend lauten Fragen bspw.: Wie ist das gesellschaftliche Geschlechterverhältnis, wo gibt es Berührungen zwischen den Geschlechtern, wo Distanzen, welche verschiedenen Rollenvorstellungen und -anforderungen sind mit dem Geschlecht verbunden? Welche Anlässe legitimieren eine Reise, welche Vorbereitungen werden getroffen, welcher Umgang mit Reisenden wird erwartet? In dieser Art werden möglichst umfassend Fragen gesammelt und im Gesamtzusammenhang der Erzählung beantwortet.116 Auch hier ist sorgfältig zu trennen, was explizit im Text gesagt wird, was erschlossen ist und was gemutmaßt oder aus sozial- und kulturhistorischer Forschung in die Erzählte Welt eingetragen wird.117 Als keinesfalls vollständige Liste möglicher Themen seien genannt: Geschlechterverhältnis (Mann – Frau), Generationsverhältnis (Alt – Jung), finanzielles Verhältnis (Reich – Arm),118 Dienstverhältnis (Herr – Diener), Nationalitätsverhältnis (konkrete Völker und 116
J. G. van der Watt führt Grundzüge eines Systems von Verhaltensgewohnheiten („customs“) und Werten („values“) in der Erzählten Welt des Joh auf, die durch Vollzug bzw. Akzeptanz der Figuren als solche gekennzeichnet sind (ders., Redefinition, 109–112). Der ethische Charakter dieses Werkzeuges wird in der Analyse von M. E. Mills deutlich, die u. a. die atl. Erzählungen von Rut, Josef und Jona untersucht (dies., Morality, 161 f., 252–254). 117 L. Herman und B. Vervaeck stellen unter dem Stichwort ‚Ideologie‘ einen bedeutsamen Teil des hier untersuchten Bereich als eigenes Forschungsgebiet dar. Dabei betonen sie, dass „however, these norms and ideas are never completely systematized or made explicit“ (dies., Ideology, 217). Eine vollständige Herausarbeitung der Ideologie einer Erzählung (oder ihres Autors) ist damit eine komplexe Aufgabe. Die Festlegung des Schwerpunktes auf Figuren schränkt diesen Bereich insofern ein, als er nur als Rahmen für Situationen, als Spannungsfelder, in die Figuren geraten, oder als Positionierungen von Figuren bzgl. bestimmter Normen beachtet wird. Als Beispiel für die historische Beantwortung der Fragen mag M. Davies Untersuchung dienen. Sie zieht zur Einbettung des räumlichen und sozial-kulturellen Settings verschiedene Quellen heran (AT, synoptische Evangelien, Josephus etc.). Davies listet entsprechende joh. ‚Leerstellen‘, die sie so zumindest z. T. zu füllen vermag, auf (vgl. dies., Rhetoric, 24 f., 27–31) und bietet zum räumlichen und kulturellen Setting historisch orientierte Ausführungen zu Geografie, Botanik, Klima, Struktur der jüdischen Gesellschaft, jüdischer Kultur und Religiösität, samaritischer Religiösität und römischem Recht (a. a. O., 276–315). 118 Geschlecht, Alter und sozialen Stand bezeichnet M. Pfister als prinzipielle Gliederungsmerkmale eines Figurenrepertoires. Genretypisch bedingt nennt er weitere wie städtisch – ländlich oder natürlich – affektiert (vgl. ders., Drama, 228–231). Die hier Gelisteten sind für das Joh zugeschnitten.
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Volksgruppen zueinander; Einwohner – Fremder), Berufsklassifikation (Aufgaben und Ansehen bestimmter Berufsgruppen), politisches Verhältnis (Machtstrukturen; Herrschende – Untergebene), religiöses Verhältnis (Kult, Bräuche, religiöse Autoritäten), Zeitgeistverhältnis (Tradition – Offenheit für Veränderung/Progressivität), familiäre Verhältnisse (Familienmodell und Familienrollen), Gesundheitsverhältnis (Kranke – Gesunde). Diese können auch als Gliederungsmerkmale der Figurenkonstellation in ein Soziogramm eingetragen werden (vgl. 1.3.4). Je fremder eine Gesellschaft und eine Kultur dem Leser sind, desto erhellender ist dieser Arbeitsschritt. In 5,1–18 (Heilung am Teich Bethesda119) sind z. B. Jerusalem als Pilgerort, die Bedeutung von Krankheit (Erwerbslosigkeit, Angewiesen-Sein auf Hilfe), tagesgebundene Verbote (Sabbatgesetze), Hierarchien (‚die Juden‘ als Rechtfertigungsfordernde) darzulegen. Insbesondere können eine sorgfältige Fragensammlung und Beantwortung gesellschaftliche Normen, Werte und Bräuche extrahieren, die in der Erzählung aufgegriffen und ggf. reflektiert werden. Z. T. lässt sich die Bewertung dieser Normen, Werte und Bräuche aus ihrer Darstellung (Wortwahl, Distanzierung, Kommentierung) ablesen.120 Zumindest im Verhalten von Figuren gemäß oder entgegen den Vorgaben des sozial-kulturellen Settings (z. B. durchbricht Jesus das Sabbatverbot in 5,8) sind Reaktion und Umgang – und damit auch eine Bewertung – vorgeführt. 1.3.6 Lexemhäufungen Etwas stupide mag dieses eher sprachliche als narratologische Werkzeug anmuten. Es hebt die sprachliche Dimension der Entfaltung der Erzählten Welt in den Vordergrund. Bei den ‚Lexemhäufungen‘ geht es um das Zählen von Wörtern auf vier Ebenen.121 Die exemplarische Verdeutlichung erfolgt v. a. an der Doppelszene 11,1–6. Auf der ersten Ebene wird eine Szene auf den genauen Wortbestand untersucht. Jedes Wort wird in seiner konjungierten oder deklinierten Form aufgeführt (z. B. !% in 11,3.6 oder in 6,16.21; vgl. 1.2.4). Auf der zweiten Ebene werden aus diesen gelisteten Wörtern alle Lexeme in ihrer Grundform abgeleitet, also ohne Flexion betrachtet ( !% in 11,1.2.3.6). Die dritte Ebene fasst die verwandten Lexeme mit gleichem Wortstamm (also Derivate wie ? # und ?* (11,1.2.3.5) oder !% und !% (11,1.2.3.4.6)) zusammen. Auch Komposita können hier aufgenommen werden. Auf diesen drei Ebenen wird 119
Zur Diskussion des Ortsnamens vgl. Küchler, Jerusalem, 315 f.; Theobald, Evangelium, 369–372. 120 Vgl. den Abschnitt unter der Überschrift „Group Norms“: Palmer, Mind, 344–347. 121 M. Fludernik betrachtet die Häufung von „Schlagwörtern“ und „Wortfeldern“ unter dem Stichwort „Begriffsgeflecht“ (dies., Erzähltheorie, 91). Diese entsprechen in etwa der zweiten und vierten Ebene.
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das jeweilige Lexem im Fokus auf übrige Belegstellen und die dortige Verwendung untersucht. Finden sich keine Belegstellen zu einem Lexem, handelt es sich um ein Hapax legomenon, welches sich durch seine einmalige Verwendung aus dem Erzähltext hervorhebt und ggf. besonders (etymologisch oder kontextuell) auf semantische Konnotationen zu untersuchen ist. Schließlich werden mehrere Wörter auf der vierten Ebene zu Wortfeldern (wie ‚Liebe‘ ( , ? in 11,1–6), ‚Tod‘ oder ‚Ausdruck‘) zusammengefasst.122 Dass bei diesem Werkzeug einige Wortarten, wie z. B. Artikel und Konjunktionen, ausgeschlossen werden können, liegt auf der Hand. Deshalb beschränkt sich die Analyse der Lexemhäufungen i. d. R. auf Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien. Präpositionen können ggf. hinzugezogen werden. Im Einzelfall kann es hilfreich sein, Alternativformulierungen zu erwägen, um die Bedeutung eines genauen Wortlauts oder die Verwendung eines bestimmten Lexems zu plausibilisieren.123 Insbesondere wenn der Erzähler (bzw. eine Figur) an anderer Stelle eben andere Formulierungen oder Ausdrücke verwendet, wird die Bedeutung des Vorliegenden gesteigert. Über die vier Ebenen ergeben sich Parallelen und Querverbindungen im Erzähltext und – insbesondere durch die letzte Ebene – Themenschwerpunkte einer Szene (in 11,1–6: Krankheit, Geschwister, Liebe). Bei oftmals lohnenswerter szenenübergreifender Anwendung auf eine Episode können größere Sinnzusammenhänge sprachlich veranschaulicht werden (in 11,1–12,11 ‚Tod‘). Bei der Untersuchung der Gesamterzählung treten ferner Lexeme heraus, die häufig verwendet und folglich ein besonderes Eigengewicht in einer Erzählung haben. Solche Zentrallexeme werden durch die gesamte Erzählung hindurch zur Entfaltung gebracht (z. B. ? ). Entsprechend haben sie in einzelnen Szenen Signalwirkung und tragen einen Aspekt zu dem jeweiligen Themenfeld bei. Bei der Mehrfachlektüre entstehen ein erzählungsimmanentes Konzept von Zentrallexemen und eine besondere Sensibilisierung für diese beim Leser i. d. R. nebenbei. Zur Plausibilisierung von Begründungen bei Anwendungen anderer Werkzeuge der Kategorien (3) bis (6) liefern die ‚Lexemhäufungen‘ eine gute Grundlage, die zudem auf den ersten 122
Jeder Begriff wird im Leseprozess mit Inferenzen aus dem Weltwissen angereichert, sodass Wortfelder i. d. R. durch diese Inferenzbildung zustande kommen (z. B. weiß jeder Leser, dass jemand, der stirbt, tot ist; vgl. zum Thema ‚Tod‘ insbesondere Joh 11; 19 f.). Wie sich dieser Vorgang ereignet untersucht die Kognitionsforschung (vgl. Gerrig/Egidi, Foundations, 41–43) und kann hier nicht ausführlich besprochen werden. U. Früchtel veranschaulicht, wie Visualisierungen solcher Wortfelder kreativ umgesetzt werden können – an den Beispielen ‚Leere‘ und ‚Fülle‘ sowie ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ (im gesamtbiblischen Kontext) (vgl. dies., Bibel, 22, 48). 123 Ein solches Vorgehen legitimiert und veranschaulicht M. Toolan ausführlich (vgl. ders., Language, 231–244). Als Nicht-Muttersprachler ist bei der eigenständigen Formulierung selbstredend äußerste Vorsicht walten zu lassen. Vgl. zur Bedeutung der Formulierung auch Herman, Cognition, 251–253.
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drei Ebenen völlig objektiv und frei von unterschiedlichen Leserwahrnehmungen (allerdings bei ntl. und anderen in variierender Fassung überlieferten Texten abhängig von der Textkritik) bleibt. 1.4 Darstellung und Lebendigkeit von Figuren Diese Werkzeugkategorie nimmt bei der Analyse von Figuren eine Zentralstellung ein. Die beiden ersten Substantive der Überschrift bringen dabei die beiden Dimensionen der Figurenanalyse zum Ausdruck.124 Die Darstellung einer Figur auf der Textoberfläche zu untersuchen, ist naheliegend und eher deskriptiv orientiert. Kleinschrittigkeit ist hier besonders wichtig, da Leser zunächst jedes Detail einer Figur als relevant wahrnehmen und als charakterisierend einordnen können, sofern kein Widerspruch zu entsprechenden Einschätzungen im Text auftaucht.125 Aus dieser Darstellung auf einen Charakter oder figureninterne emotionale und kognitive Prozesse zu schließen, enthebt die Figuren dem Status einer bloßen Entität des Textes und verleiht ihnen Züge realer Personen. Dies entspricht der Wahrnehmung, dass Erzählungen miterlebt werden können (und Figuren als uneigentliche Individuen126 wahrgenommen werden). Der Ausdruck ‚Lebendigkeit‘ trägt dieser Einsicht Rechnung. Im Gegensatz zu Menschen in der realen Welt bleiben Figuren aber an ihre Erzählung und die Erzählte Welt gebunden. Die verschiedenen Werkzeuge dieser Kategorie fokussieren z. T. eine der beiden Dimensionen, andere bringen beide miteinander ins Gespräch. Eine Aufteilung in Körperlichkeit, Psyche und Sozialität, wie Jens Eder sie vorschlägt,127 wird hier nicht übernommen. Zum einen bietet das Joh kaum Aussagen zur Körperlichkeit, zum anderen würden so die ethisch bedeutsamen Aspekte der Handlungen, Motivationen, Emotionen, Bewertungen, Einstellungen etc. zu wenig differenziert. Die Anordnung hier stellt wieder keine Vorgabe der Reihenfolge der Analyseschritte dar, sondern orientiert sich an einer Staffelung von beschreibenden zu stärker interpretativen und bewertenden Analyseschritten. Zentrale Position nimmt das Werkzeug ein, welches die Figurenhandlungen untersucht (1.4.5), wobei die Sprechhandlungen sogar als eigenständige Kategorie (1.5) ausgelagert sind. In diesen beiden Unterkapiteln ist es ein we124
Dies entspricht gewissermaßen der Trennung in Figurendarstellung und -vorstellung, die Eder mehrfach fordert (vgl. Teil I – Einleitung: 3.2; ders., Figur, 60, 67 u. ö.) und damit den Dimensionen des Erzählens in Erzählung und Leser (vgl. Teil I – Einleitung: 1.2). 125 Vgl. M. Pfister, der für Dramen feststellt, dass „der ideale Rezipient zunächst einmal davon ausgeht, daß jedes Detail bezeichnend und bedeutsam ist, und daß er sich erst, wenn sich keinerlei Korrelationsmöglichkeit eröffnet, dazu entschließt, es als nicht charakterisierend […] aufzufassen.“ (ders., Drama, 222). Vgl. auch 1.4.10. 126 Vgl. Teil I – Einleitung: 3.1. 127 Vgl. Eder, Figur, 175–179, 248–310, 714 f.
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sentliches Anliegen, offen zu legen, was Menschen beim Lesen von Erzählungen (laut Paul Ricœur) ohnehin kontinuierlich tun: „[Sie] erforschen […] unablässig neue Bewertungsweisen für Figuren und Handlungen.“128 Vor der Vorstellung der Werkzeuge wird die figurenanalytische Fachliteratur betrachtet. Da im Fachdiskurs verschiedene Konzepte und Begrifflichkeiten prägend geworden sind, werden sie in Bezug auf das Joh umrissen oder diskutiert, bevor die Einzelvorstellungen der Werkzeuge erfolgen, die z. T. auf diese zurückgreifen, sich z. T. von ihnen distanzieren. Insgesamt gibt es folgende Tendenz: Je breiter der Raum ist, den eine Figur in einer Erzählung einnimmt, desto genauer und zugleich komplexer können ihre Darstellung, der erschließbare Charakter und die Einblicke in ihr Innenleben sein. Bezüglich der bipolaren Einteilung von Figuren in „round“ und „flat“, mit der Edward Morgan Forster 1927 prägend wirkte,129 herrscht in der Diskussion über das Joh Uneinigkeit darüber, ob seine Figuren prinzipiell als überwiegend flach130 oder viele unter ihnen doch als ambivalent und komplex angesehen werden sollten.131 Nach E. M. Forsters Einteilung lässt sich jede flache Figur auf einen Satz reduzieren, der alles Verhalten steuert; ihr Verhalten ist für den Leser vorhersehbar und keinesfalls überraschend.132 So wäre nach Forster wohl z. B. Johannes als flache Figur mit dem Satz „Ich weise auf Jesus hin“ einzuordnen. U. a. weil der Begriff ‚flach‘ negativ konnotiert ist, wird er hier vermieden.133 Auch verdeckt Forsters Zweiteilung den 128
Ricœur, Selbst, 201. Forster, Aspects, 46. 130 Vgl. Collins, John, 365 f.; Davies, Rhetoric, 332,338; Krafft, Personen, 32; Tolmie, Farewell, 142. Letzterer schildert dieses Urteil allerdings als nicht adäquat. Auch C. Conway schätzt alle Figuren abgesehen von Jesus als flach ein, hinterfragt aber die bipolare Einteilung und betont zugleich die Bedeutung der sogenannten ‚flachen‘ Figuren (vgl. dies., Men, 58 f.). P. Dschulnigg ordnet die joh. Figuren abgesehen von Jesus (ohne Rückgriff auf diese Termini) einerseits als gegenüber den Synoptikern „deutlicher profiliert“ ein, andererseits streitet er eine „Zeichnung individueller Porträts“ ab und sieht die Figuren „in typisierender Absicht gezeichnet“ (ders., Jesus, 1). 131 Vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 109 f. Trotz einer Einordnung der joh. Figuren als repräsentative Typen, kennzeichnet C. R. Koester sie als „distinctive individuals“, die gerade in ihrer Repräsentationsfunktion „their most distinctive traits“ ausbilden (ders., Symbolism, 34, 35). C. Bennema kennzeichnet viele der joh. Figuren als „more complex or ‚round‘ than Johannine scholarship has made out“ (ders., Encountering, 349). T. Nicklas spricht von einem „Nebeneinander“ typisierender und individualisierender Figurendarstellung (ders., Ablösung, 399; vgl. a. a. O., 84–86, 399 f.). 132 Vgl. Forster, Aspects, 47, 54. 133 Ferner suggeriert die Bezeichnung einer Figur als ‚flach‘, dass diese keine Tiefe hat und verschleiert Sinnhorizonte, die in Figurenverhältnissen, Formulierungen, Mehrdeutigkeit und Ausdruck von Figurenrede sowie innerhalb der rahmenden Entfaltung der Erzählten Welt aufzudecken sind. Aus ähnlichen Gründen lehnen auch z. B. S. Rimmon-Kenan und D. F. Tolmie Forsters bipolare Kategorisierung ab (vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 40 f.; Tolmie, Farewell, 122 f.; ders., Narratology, 54 f.). 129
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Übergang von Figurendarstellungen in Figurenvorstellungen und die Leserbeteiligung an dem, was eine Figur ist (vgl. Teil I – Einleitung: 3.1).134 Figuren, die gemäß Forster als ‚flach‘ eingeordnet würden, können für symbolische, typisierende und funktionale Lesarten (vgl. auch 2.6) besonders ertragreich sein.135 So ordnet R. Alan Culpepper die meisten joh. Figuren als Repräsentationen von „particular ethical types“ ein.136 Eine prinzipielle Schwierigkeit von Forsters Begriffspaar liegt darin begründet, dass es mehrere Kategorien wie Komplexität, Rezipientenerwartung und Entwicklung137 zusammenfasst.138 Um die strikte Trennung in runde und flache Figuren zu durchbrechen, wurden verschiedene Alternativen vorgeschlagen. Cornelis Bennema z. B. arbeitet mit einer Einteilung in vier Kategorien, die er aus drei Komponenten (nach Yosef Ewen139: Complexity, Developement, Penetration into the inner life) generiert: agent, type, character with personality, individuality.140 Da hier Einzelanalysen im Fokus liegen und nicht Klassifikationen des gesamten Figurenrepertoires, werden entsprechende Konzepte in Querverweisen der passenden Werkzeuge aufgenommen, jedoch keine weitere Alternative vorgeschlagen. Betrachtet man die Figur in Bezug auf ihre Funktion für den Handlungsverlauf, ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten der Benennung mit verschiedenen Abstufungen, die oft mit einem Zuwachs von Eigenschaften einhergehen. So sind Horizontfiguren in der Figurenrede genannt, treten aber selbst nicht auf. Statisten sind zwar Teil der Erzählten Welt, führen aber keine 134
„In the Gospels, characters are most often not yet quite complete. In the event of being read, some of them will increase, while others must decrease“ (Merenlahti, Characters, 71). 135 Die Veranschaulichung von D. Marguerat und Y. Bourquin ist dahingehend zu kritisieren, dass sie Forsters Begrifflichkeiten auf eine Detailliertheit der Figur hin verschiebt (vgl. dies., Stories, 61). Dies entspricht der Umdeutung, gemäß der seit S. Chatman die Abgrenzung zwischen ‚round‘ und ‚flat‘ häufig am Umfang der Charakterzüge vorgenommen wird (vgl. z. B. Chatman, Story, 132; Finnern, Narratologie, 156; Eisen, Poetik, 134). S. Finnern bezeichnet das Begriffspaar (welches er von J. Eder übernimmt) als „synthetische[s]“, welches die Interessantheit der Figur umschreibt (ders., Narratologie, 161). 136 Culpepper, Anatomy, 103. Insgesamt gibt er kein Urteil zu den Figuren ab, inwiefern sie als rund oder flach zu bezeichnen sind, reduziert sie aber auf ihre Antwort gegenüber Jesus (a. a. O. 102–104, 145–148). 137 Vgl. Forster, Aspects, 47 f., 54. 138 Kritik an der Anwendung von Forsters Einteilung auf das Joh äußert bereits 1992 auch M. W. G. Stibbe (vgl. ders., Storyteller, 24). 139 Da Y. Ewen nur in hebräischer Sprache verfügbar ist, bezieht sich C. Bennema auf die Zusammenfassung von S. Rimmon-Kenan: Dies., Fiction, 41 f. 140 Vgl. Bennema, Encountering, 27–29. C. Bode unterteilt Personifikationen (als ‚flachste‘ Figuren), Typen bzw. stock figures (stereotype Figuren mit einem Merkmalsbündel) und Individuen (komplexe, veränderliche und zugleich offene Figuren) (vgl. ders., Roman, 127–129). Vgl. auch D. F. Tolmies Verweis auf Alternativen (ders., Narratology, 54–56).
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Handlungen aus. Nebenfiguren agieren oder reagieren in einer oder mehreren Episoden, sind im Plot aber verzichtbar oder austauschbar. Die zentralen Positionen in der Erzählung füllen die Protagonisten aus. Sie sind die hauptsächlichen Handlungsträger.141 Erwähnt seien noch die Begriffe Episodenund Schaufigur, welche unabhängig von der obigen Vierteilung verwendet werden. Erstere tritt lediglich in einer Episode innerhalb der Erzählung auf. Letztere stellt eine Eigenschaft dar oder bringt ein bestimmtes Verhalten zu Veranschaulichung.142 ‚Schaufigur‘ ist eine Zuschreibung, die auch nur für einzelne Szenen oder Episoden einer Figur zugeordnet werden kann. Von Bedeutung für die Einordnung und den Vergleich von Figuren ist eine Aufteilung der Figurenkonzeption in Gegensatzpaarungen (wie statischdynamisch, transparent-opak, simpel-komplex).143 Für die Einzeldarstellung haben die polaren Begriffe lediglich bündelnden und erwartungssteuernden Charakter. So ist bei einer Figur, die als dynamisch beschrieben wird, die Schilderung ihrer Entwicklung nachzuliefern. Referenz für die Zuordnung auf solchen Konzeptionsskalen ist immer der entsprechende Textkorpus. Andernfalls wären wohl biblische Figuren gegenüber denen aus modernen Romanen prinzipiell als wenig komplex einzuordnen. Anstelle einer vergleichenden Einordnung auf derartigen Skalen werden in dieser Arbeit Einzeldarstellungen entsprechend der Ergebnisse aus den Anwendungen der Werkzeuge vorgenommen. 1.4.1 Ersteinführung und Letztnennung Für das Bild, das der Leser von einer Figur entwickelt, sind der erste und letzte Auftritt besonders wichtig, gemäß dem Sprichwort: Der Anfang prägt, das Ende haftet.144 Wie wird eine Figur dem Leser vorgestellt, mit welchen Worten wird sie eingeführt? Was Menschen aus ihrem Lebensumfeld kennen, entfaltet auch bei der Rezeption von Erzählungen Wirkung: Der erste Eindruck prägt die Figurenkonzeption entscheidend. Dieses Phänomen wird als Primäreffekt bezeichnet. Natürlich bedeutet das nicht, dass bei der ersten 141 Ohne Horizontfigur belegt in der Dreiteilung von D. Maguerat und Y. Bourquin der agent (= Handelnder) die Mittelposition auf der Figurenkomplexitätsskala zwischen Protagonisten und Walk-ons. Vgl. dies., Stories, 60. Finnern bietet sieben Termini zusammen, die die Figuren nach unterschiedlich Aspekten (Relevanz für die Handlung, Dauer des Auftretens) als Haupt-, Neben-, Hilfs-, Schau-, Rand-, Hintergrunds- oder Episodenfigur benennt. Vgl. Finnern, Narratologie, 148 f. 142 Weitgehend synonym, wenn auch nicht immer vollständig deckungsgleich, sind die Begriffe ‚Typ‘ oder ‚Repräsentant‘. 143 Vgl. Eder, Figur, 373–399; Finnern, Narratologie, 156–161; Jannidis, Figur, 86–98; Pfister, Drama, 240–492. 144 Vgl. zu diesen beiden Effekten Eder, Figur, 213. Die Betonung von Anfang und Ende kann auch in Bezug auf den Satzbau (erstes und letztes Wort) und Szenenaufbau (einführender und abschließender Satz) fruchtbar gemacht werden.
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Nennung bereits Charakter und Bewertung einer Figur unumkehrbar festgelegt werden. Die weitere Figurenwahrnehmung wird jedoch von dem Erstauftritt gesteuert. Johannes z. B., üblicherweise mit dem Beinamen ‚der Täufer‘ ausgezeichnet, wird als von Gott gesandter Zeuge eingeführt (1,6 f.). Demzufolge ist sein Reden von höchster Instanz autorisiert und bekommt im weiteren Verlauf besonderes Gewicht – insbesondere da der erste Auftritt der Hauptfigur (Jesus) durch ihn begleitet und von ihm kommentiert wird. Der Rezenzeffekt betont, dass die letzten Bemerkungen zur Figur dem Leser besonders stark in Erinnerung bleiben und so das finale Bild, das der Leser nach abgeschlossener Rezeption von der Figur hat, prägen. So kann eine Abschlussbemerkung die Rolle einer Figur re-interpretieren oder sie in einer Situation darstellen, in der sie im Lesergedächtnis verhaftet bleibt. Johannes wird in 10,40 f. ein letztes Mal genannt. Wird dort zwar seine Tauftätigkeit erwähnt, ist die letzte Aussage erneut seinem Zeugnis gewidmet („…alles, was Johannes über diesen [Jesus] sagte, war wahr“). Der Ersteinführung und Letztnennung der Figur Johannes entsprechend wird in dieser Arbeit meist von ‚Johannes, dem Zeugen,‘ anstatt von ‚Johannes, dem Täufer,‘ gesprochen.145 Für die Analyse einzelner Szenen sind beide Effekte nur von begrenzter Bedeutung in Bezug auf eine bestimmte Figur. Zwar kann innerhalb einer Szene besonderes Augenmerk auf die erste und letzte Nennung bzw. Aussage über eine Figur gelegt werden. Im Joh zeigt aber die Szenenlänge bei einem solchen Versuch rasch eine Grenze auf. Zum Teil fallen Erst- und Letztnennung sogar zusammen (z. B. in 19,25 beide Marias). Größere Bedeutung haben die Effekte bei einer Figurenbetrachtung über die Gesamterzählung hinweg. Für die Einzelszene bedeutet dies, dass die Figureneinführung in der Szene, in der eine Figur erstmalig erwähnt wird, und ebenso die letzten Angaben über die Figur in der Szene ihrer letzten Erwähnung besonders untersucht werden müssen. Pro Figur bekommen zwei Szenen also gesteigerte Aufmerksamkeit (sofern die Figur in mindestens zwei Szenen genannt wird). Dieses Werkzeug ist für sich genommen noch kein Analyseinstrument. Es hierarchisiert lediglich die Abschnitte des zu untersuchenden Textbestands zu einer Figur und damit ggf. auch die Ergebnisse anderer Werkzeuganwendungen. Für die ethische Figurenanalyse sind vor allem die Identifikations- und Bewertungssignale in den entsprechenden Szenen hervorzuheben.
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C. Bennema klassifiziert Johannes als „Witness Par Excellence“ (ders., Encountering, 61; vgl. a. a. O., 72). Vgl. Williams, John, 46.
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1.4.2 Figurenattribute Als Figurenattribut wird alles bezeichnet, was die Figur näher bestimmt und äußerlich ausmacht.146 Während ‚Attribut‘ die Kategorie angibt, in der eine Information einzuordnen ist (hier kursiv gedruckt), wird der jeweilige Inhalt als ‚Attributsausprägung‘ benannt. Die wichtigste Zuschreibung ist der Name einer Figur.147 Er stellt die Konsistenz der Zuordnung durch den Leser her, macht eine Figur benennbar und wiedererkennbar. Mit dem Namen können bereits Implikationen verbunden sein. So ist neben der Verweisfunktion (vgl. 1.6.5)148 auch etymologisch zu klären, welchen Ursprung und welches Bedeutungsspektrum ein Name hat. Die Bedeutung des Namens wird in vielen biblischen Texten betont.149 Sprechende Namen, wie vor allem in allegorischen Texten breit belegt,150 sind auch in der Bibel sehr häufig.151 Insofern kann ein Name bereits eine Figur charakterisieren oder typisieren. Bei anonymen, also namenlos auftretenden Figuren wird nach einem Äquivalent zum Namen gesucht, was die eindeutige Zuordnung der Figur ermöglicht. In einer quasinamensgebenden Funktion ist die entsprechende Formulierung besonders relevant und nimmt oft stärker noch als ein Name eine Charakterisierung vor. 146
Den Begriff verwendet auch T. Nicklas bei seiner Analyse. Er fasst darunter den Namen und die Appositionen im Text (bei Nikodemus z. B. $ % # + / ! , $ + H , ) und füllt diese mit historischem und intratextuell belegtem Wissen an (vgl. ders., Ablösung, 225–227; 394; u. ö.). 147 Auch für reale Personen gibt P. Ricœur den „Eigennamen“ als geläufigste Kennzeichnung einer Identität an, knüpft daran aber die Notwendigkeit, die Lebensgeschichte der entsprechenden Person einzubeziehen, wodurch er die „narrative Identität“ begründet (ders., Zeit III, 395). In der narrativen Identität sieht Ricœur – stark verkürzt – die Möglichkeit, Diskontinuität, Brüche und Andersartigkeit in die Identität eines Menschen zu integrieren und gewissermaßen Kontinuität herzustellen ohne die Spannungen aufzuheben. Er überträgt den Begriff von einer Figur in einer Erzählung (die ihre narrative Identität durch die entsprechende Erzählung erhält) auf den Menschen als Subjekt. Vgl. ausführlich Ricœur, Selbst, 141–206; ders., Identität, 211–225; knapp Welsen, Erzählung, 173–175. 148 J. Hartenstein betont auch den Abruf eines „schon bekannte[n] Bild[s] der Person“ durch eine Namenserwähnung (dies., Charakterisierung, 65) und rückt dabei insbesondere die rekonstruierte, frühchristliche Leserschaft in den Fokus (vgl. a. a. O., 33). Ein solcher Rückgriff auf ein Bild – oder vielleicht besser mehrere Bilder – einer Figur in der Leservorstellung wird hier nicht ausführlich vollzogen, da keine Einschränkung auf einen bestimmten (historisch rekonstruierten) Rezeptionskontext vollzogen wird. 149 Vgl. z. B. Ex 3,13 f.; Jes 43,1; Mt 28,19; Phil 2,9; Offb 3,5. 150 Zahlreiche Beispiele finden sich quer durch die gesamte Hoch- und Popkultur: Von Prometheus und Epimetheus über Max Frischs Gottlieb Biedermann zu Disneys Daniel Düsentrieb. Vgl. auch Pfister, Drama, 222, 262 f. 151 So bedeutet z. B. ‚Adam‘ ‚Mensch‘, verleiht Gott (oder Jesus) neue Namen und werden Namen für den Leser übersetzt (Gen 29,31–30,24; Mt 1,23; Joh 1,42). Vgl. zur Namensgebung auch Teil III – Petrus: 2.1. Zum Zusammenhang zwischen Namensdeutung und Wesensdeutung einer Figur vgl. Hoffmann, Namensdeutung, 7 f. Zur Gen vgl. z. B. McKeown, Genesis, 31, 145f, 155.
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Aber auch bei nicht-anonymen Figuren kann eine Begrifflichkeit quasi-namentlich fungieren. Insbesondere Kollektive entziehen sich häufig einer namentlichen Konsistenz. Bei ihnen ist deshalb zu überprüfen, inwiefern mehrere Bezeichnungen die gleiche Figurengruppe meinen können. Neben dem Namen sind körperliche Merkmale unter den Figurenattributen zu listen. Das Geschlecht kann bei nahezu allen Einzelfiguren festgelegt werden. Die Implikationen, die mit dieser Einordnung einhergehen, sind aus dem sozial-kulturellen Setting abzulesen (vgl. 1.3.5). Aussehen wird in vielen biblischen Texten vollkommen ausgeblendet.152 Sind dazu Angaben gemacht, stechen diese deshalb besonders hervor. Im Joh gibt es bis auf Hinweise zur Bekleidung bei Jesus und Simon Petrus (1,27; 19,2.5.23; 21,7), zur Erscheinung der Engel im Grab (20,12), auf die Wundmale des Auferstandenen (19,34; 20,25.27) und auf eine gewisse Haarlänge bei Maria von Bethanien (11,2; 12,3) keine Angaben zum äußeren Erscheinungsbild. Ein weiteres Attribut ist das Alter. Bei biblischen Erzählungen finden sich explizite Altersangaben überwiegend im AT, im Joh überhaupt nicht.153 Zum Teil lässt sich aber ein Mindest- oder Höchstalter festlegen.154 Familiäre Konstellationen implizieren zudem gewisse Altersverhältnisse. Damit ist schon auf die nächste Rubrik verwiesen, auf die das Augenmerk gelegt wird: Familienstand und familiärer Kontext. Beide werden nur in wenigen Fällen thematisiert.155 Aus einer Nicht-Erwähnung darf allerdings nicht geschlossen werden, dass eine Figur keine familiären Bindungen hat und/oder ledig ist. Z. B. wird der Ehestatus Simons im Mk erst eine ganze Weile nach seiner Erstnennung (1,16) und nur nebenbei erwähnt (1,30). So ist auch im Joh zu diesem Bereich bei vielen Figuren keine Aussage möglich. Ähnlich verhält es sich beim Beruf. Sind im AT viele Berufe aus dem Erzählkontext zu erschließen und werden in den synoptischen Evangelien mehrfach Angaben zum Beruf gemacht, spart das Joh derartige Informationen weitgehend aus.156 Dies reduziert derartige Informationen auf plotrelevante Funktionen von Figuren.157 152 Im einigen Erzählungen im AT werden Einzelheiten zum Aussehen thematisiert (z. B. Schönheit: Gen 12,14; 29,17; 1 Sam 9,2; 16,12; Est 2,7; Körpergröße: 1 Sam 9,2; 17,4; Haare: Ri 16,14.19). 153 Im NT nur Mk 5,42; Lk 2,36 f. 42; 3,23; 8,42. 154 So ist z. B. der Gelähmte mindestens 38 Jahre alt (5,5) und Jesus höchstens 49 (8,57). 155 Die Mutter Jesu, wird allerdings sogar durch ihr ‚Mutter-Sein‘ identifiziert. Vgl. auch Teil III – Petrus: 4.3; Teil IV – Samaritische Frau: 4.5; 6.2. 156 So ist im Joh z. B. kein Jüngerberuf explizit benannt – im Gegensatz zu Mk 1,16; 2,14 parr. 157 M. Davies wertet die spärlichen Angaben zu Figurenattributen (sie nennt Aussehen, Alter, Nahrung, Schlafstätten, Herkunft) als prinzipielle Betonung der Sprechhandlungen (vgl. dies., Rhetoric, 22 f.).
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In der Reihe der Figurenattribute sei als letztes noch die Nationalität oder Volksgruppenzugehörigkeit genannt. Sie markiert in vielen Erzählungen eine natürliche Einteilungsgrenze und Konfliktlinie, unterscheidet Bekanntes von Fremdem. Da eine Erzählung meist von einem Land ausgeht, in dem das Geschehen stattfindet, können alle Figuren ohne explizite Angaben der ‚Normnationalität‘ zugeordnet werden. Zum Teil geben auch Namen oder Familienzugehörigkeit einen Hinweis. Im Joh sind nur vier Nationen separiert: Juden, Samariter, Griechen und Römer. Die meisten Figuren, bei denen keine expliziten Angaben gemacht werden, dürfen wohl als Juden kategorisiert werden. Weitere Untergruppen, wie die Pharisäer, ermöglichen feinere Differenzierungen. Diese Angaben haben immer eine Doppelfunktion, sodass sie auch als Kollektivzugehörigkeit (1.4.8) zu untersuchen sind.158 Die Figurenattribute ordnen die Figur in das Setting der Erzählten Welt ein und liefern die Grundlage für eine Charakterisierung159 (vgl. 1.4.10). Explizite Nennungen deuten auf eine Thematisierung der entsprechenden Rubrik. An die Attributsausprägungen sind (oftmals implizite) Erwartungen eines bestimmten Verhaltens gebunden. Die Figur ist auf ihr Verhalten entsprechend der oder entgegen dieser Erwartungshaltungen zu untersuchen. Figuren gleicher Attributsausprägungen können überdies gegenübergestellt und verglichen werden. 1.4.3 Assoziierte Gegenstände Die Analyse der assoziierten Gegenstände knüpft zum Teil an die Figurenattribute an, greift aber auch in die Kategorie des Figurenbesitzes. Das Vorgehen ist denkbar einfach, da lediglich alle Gegenstände, die eine Figur hat, trägt oder benutzt, gesammelt werden müssen. Diese dienen der impliziten Charakterisierung.160 Auch Tiere oder Gebäude können bei diesem Werkzeug als Gegenstände eingeordnet werden. Im Einzelfall muss jedoch entschieden werden, ob Gebäude eher der Verortung dienen und Tiere eher als Figuren erscheinen. In einem zweiten Schritt wird für jeden Gegenstand differenziert, ob er als Besitz der Figur impliziert oder dieser nur für einen situativen Gebrauch zugeordnet ist. So ergibt sich eine Zweiteilung der genannten Gegenstände. Implizierter Besitz lässt Rückschlüsse auf Wohlstand und eventuell auf Berufe zu. Aus diesen Angaben lassen sich Tendenzen einer Besitzethik extrahieren. Folgende Fragen sind stets zu klären: Welchen materiellen und ideellen Wert hat der Gegenstand? Wozu wird er eingesetzt? Wird die mit oder an dem Gegenstand vollzogene Handlung bewertet? Wo wird der
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Vgl. bspw. dazu Teil IV – Samaritische Frau: 4.2. M. Bal betont: „Every mention of the identity of the character contains information that limits other possibilities“ (dies., Narratology, 123). 160 Vgl. Pfister, Drama, 260 f. 159
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Gegenstand außerhalb der untersuchten Szene in der Erzählung noch genannt? Welchen ethischen Gehalt bekommt der Gegenstand in der Szene? Eine exemplarische Beantwortung hinsichtlich des ‚Brotes‘ in 6,3–15 ergibt Folgendes. Der materielle Wert des Brots in 6,3–15 ist angesichts der Menge und durch die explizite Thematisierung der Kosten hoch, der ideelle aufgrund der Bedürftigkeit und als Inbegriff von Nahrung ebenfalls. Das Brot wird erfragt, genommen, für es wird gedankt, es wird verteilt (vermehrt und gegessen (6,23)) und seine Reste werden eingesammelt. Die Speisung und die wundersame Vermehrung werden von der anwesenden Menge positiv aufgenommen. Für Philippus allerdings wird es zum Symbol der Versuchung. Außerhalb der Szene wird es in der Lebensbrotdoppelrede (6,25–59) zur Kritik an Wundergläubigkeit und in der Personifikation Jesu zum überirdischen, heilsbringenden Lebensmittel. In 21,1–14 ist Brot Teil des gemeinschaftsstiftenden Mahls. Insgesamt überwiegen somit die positiven Verwendungen von Brot. Es ist als sättigend, glaubensstiftend und lebensspendend einzuordnen. In Bezug auf Philippus geht vom Gegenstand aber ein doppelter Appell aus – nämlich auf Jesu göttliche Möglichkeiten zu vertrauen (was die Einstellung zu allen finanzethischen Entscheidungen hinterfragt) und als Handlungsauftrag zur leiblichen Versorgung der Vielen. Wie das Beispiel deutlich gemacht hat, ist auch die (bildliche) Identifizierung von Figuren mit Gegenständen möglich. Abgesehen vom Prolog wird eine solche aber im Joh nicht in der Erzählerrede vollzogen.161 Leserzentrierter ist die Frage nach symbolischen Konnotationen der Gegenstände. Aus symbolischen Dimensionen können Rückschlüsse auf Charaktertypisierungen und Bewertungen gezogen werden, wie sie aus der Ikonografie bekannt sind. Ein Schwert (18,10 f.) gilt z. B. als Symbol für Herrschaft, Urteilskraft und Gewalt – und in der christlichen Ikonografie auch für Märtyrertum – und ist so sowohl positiv als auch negativ belegt. Da die Lesarten von solchen Symbolen zeitgebunden sind, muss zwischen intuitiv rezeptionsästhetischer und historisch angebundener unterschieden werden. Je nach Umfang einer Erzählung kann dieser Bereich sehr ausufern und muss ggf. auf markante (häufig genannte oder außeralltägliche) Gegenstände beschränkt werden. Da im Joh aber nur wenige Gegenstände benannt werden, lässt sich dieses Werkzeug problemlos durchführen. 1.4.4 Zugeschriebene Charaktermerkmale Wichtiger als die Äußerlichkeiten einer Figur ist ihr Inneres. Anhand von Charakterzügen sind einem Leser Figuren mehr oder weniger sympathisch, zeichnet sich ihr Wesen aus, werden Bewertungskategorien angesetzt und der 161 V. a. Jesus identifiziert sich in seiner Bildsprache selbst mit verschiedenen Gegenständen. Da dies in den Bereich von Figurenrede fällt, ist es allerdings eher bei der Analyse der Sprechhandlungen zu berücksichtigen (vgl. 1.5.7 & 1.5.8).
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Charakter einer Figur bedingt ihr Verhalten. Dementsprechend haben Charaktermerkmale in der Figurenanalyse viel Raum eingenommen. Die explizite Benennung von ihnen wird im Gegensatz zu den erschlossenen (1.4.10) als ‚Zuschreibung‘ bezeichnet.162 ‚Zuschreibungen‘ können ausschließlich wertend sein (7,12: „Er ist gut“), Wertungen implizieren (8,23: „Ihr seid von unten“) oder wertfrei erscheinen (4,6: „Jesus war müde“163). Die geläufige, von Percy Lubbock 1921 eingeführte Unterscheidung in telling (auch narrativer Modus oder narrative Methode) und showing (auch dramatischer Modus oder dramatische Methode) wird hier vermieden.164 Zum einen sind die Begriffe in der Fachliteratur unterschiedlich gefüllt, zum anderen täuscht die Zweiteilung über die Differenzierungen hinweg, die zwischen den beiden Kategorien eintreten können.165 Auch der Anschluss an Platons Diegesis und Mimesis, wie ihn u. a. Seymour Chatman vornimmt,166 ist sachlich ungenau, da jener zwischen Erzählen und Nachahmen, also Rede durch den Erzähler und Figurenrede trennt.167 Der Begriff ‚Mimesis‘ ist in Bezug auf fiktive Erzählungen missverständlich, da der Verfasser Figurenreden nicht imitiert, sondern vielmehr erdichtet.168 Inwiefern das Joh als Chronik tatsächlicher 162
Auch der Ausdruck direkte Präsentation wäre hier wählbar, da dieser aber zumeist Äußerungen innerhalb der Figurenrede ausschließt, wird er hier nicht aufgenommen. Vgl. Resseguie, Criticism, 127 f. J. L. Resseguie nutzt aber primär den Begriff telling und inkludiert dabei aber auch das Innenleben von Figuren, welches hier unter 1.4.7 gesondert dargestellt wird. Zu prinzipiellen Kritik an dieser Begrifflichkeit s. u. 163 Inwiefern dies eher ein situativer körperlicher Zustand als ein Charaktermerkmal ist, muss in der Einzelanalyse geklärt werden (vgl. Teil IV – Samaritische Frau: 2.1). 164 Tendenziell umfasst showing meist das Agieren der Figuren (inklusive der Figurenrede), telling ihre Beschreibungen, wobei der Erzähler als vermittelnde (und z. T. bewertende) Instanz hervortritt. Somit dient die Unterscheidung einer Klassifizierung der Distanz zum Leser und der Erlebbarkeit (vgl. auch 1.4.7). 165 Bereits die grundlegende Vierteilung der Erzählmodi in 1.2.1 und die Überschneidungen in der exemplarischen Anwendung stellen eine solche binäre Differenzierung in Frage. Nach D. Marguerat und Y. Bourquin umfasst showing direkte Rede und was hier (1.2.1) als „erzählende“ Passagen eingeordnet wurde. Telling hingegen schließt neben den Beschreibungen und Kommentierungen auch indirekte Rede ein (vgl. dies., Stories, 69 f.). Zur Kritik am Begriff showing vgl. auch Genette, Erzählung, 104f; Rimmon-Kenan, Fiction, 109. Zur Kritik an der Zweiteilung in showing und telling vgl. Quinkertz, Analyse, 144, 150. 166 Vgl. Chatman, Story, 32. 167 Vgl. Plat. rep., 392c–394d. Dementsprechend lassen sich Dramen – ebenso wie antike Tragödien und Komödien (vgl. a. a. O., 394b–c) – als nachahmend einordnen (vgl. Pfister, Drama, 19 f.). Da sie quasi ausschließlich aus Sprechhandlungen bestehen, müsste Figurenrede in Erzählungen das passende Äquivalent (nach Chatman „showing“) bilden. Zur Umdeutung des platonischen Mimesis-begriffs in Bezug auf Erzählungen bemerkt H. Bonheim: „Mimetic now means practically the opposite of what it once did“ (ders., Modes, 26). 168 Vgl. Bauer, Romantheorie, 18.
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Gespräche gelesen werden kann und soll, wird hier nicht diskutiert. Eine Nachahmung von realen Personen, die sich in speziellem Sprachduktus niederschlagen würde, ist m. E. aber (abgesehen von Jesus) nicht erkennbar. Zum Begriffspaar showing und telling sei noch erwähnt, dass dies Sönke Finnern bspw. – folgerichtig nach Platon, aber entgegen der üblichen literaturwissenschaftlichen Verwendung – als auktoriale bzw. narratoriale und figurale Charakterisierung einführt.169 Diese für die Aussagekraft der Zuschreibung entscheidende Unterteilung wird unten besprochen. Figuren werden z. B. als freundlich, verbittert, furchtlos oder grausam beschrieben. Entsprechend der sprachlichen Vielfalt ist es kaum möglich eine erschöpfende Liste aller möglichen Merkmale vorzulegen. Dies ist aber nicht in erster Linie ein Problem, sondern ein großer Schatz an Differenzierungsmöglichkeit, den es zu nutzen gilt (vgl. Kap. 2.3.2). Oft stehen sich positive und negative Charaktermerkmale gegenüber – z. B. Mut und Feigheit, Großzügigkeit und Geiz. Eine solche Einteilung in Tugenden und Laster muss aber keineswegs von jeder Erzählung geteilt werden. Darum muss die intuitive Bewertung anhand der Bewertungsschema (vgl. 1.4.11) überprüft werden. Die Schlagworte sagen kaum etwas über ihren inhaltlichen Gehalt aus. Wann wandelt sich Mut in Leichtsinn oder Großzügigkeit in Verschwendung? Erzählungen haben die Möglichkeit solche Grenzen situationsbezogen festzulegen. Zudem ist die Relation der Merkmalsbewertung von Bedeutung. Ist z. B., sofern beide als Tugenden anerkannt werden, Klugheit oder Freundlichkeit besser? Erzählungen enthalten komplexe Systeme von Merkmalen – ihre Bedingungen und ihre Verhältnismäßigkeit herauszuarbeiten ist ein Ziel narrativer Ethik. In dem figurenbezogenen Ansatz umfasst dies zunächst Einzelfiguren. Mit diesem Werkzeug werden alle explizit genannten Eigenschaften und Charaktermerkmale einer Figur gesammelt. Sprachlich schließt das insbesondere Adjektive, die mit Seins-Aussagen mit einer Figur verbunden oder ihr attributiv beigeordnet werden (z. B. „der gute Hirte“ in 10,11) sowie attributive Details von Handlungen (vgl. 1.4.5; z. B. „sie stand schnell auf“ in 11,29) ein.170 Komplexere Eigenschaften (wie Jesus als der, der „die Sünde der Welt trägt“ 1,29) sind zusätzlich als Grundlage für implizit erschlossene Charaktermerkmale einzuordnen (vgl. 1.4.10). Prinzipiell ist der Wahrheitsgehalt dabei von der Glaubwürdigkeit des Sprechers abhängig.171 Einem zu169
Vgl. Neumann/Nünning, Introduction, 53. Die substantivische Benennung von Charakterzügen, die mit Habens-Aussagen Figuren zugeordnet werden können, kommt im Joh m. E. nicht vor. Lediglich 16,33 (% E B ) kann als Grenzfall betrachtet werden. 171 D. Marguerat und Y. Bourquin ordnen den drei hier im folgenden vorgestellten Ausdrucksmöglichkeiten – Erzählerkommentierung (= explizite Zuschreibung durch den Erzähler), direkte Rede (= explizite Zuschreibung durch die Figur selbst) und indirekte Rede (=explizite Zuschreibung durch andere Figur gegenüber dritter Figur) – als vierte Option 170
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verlässigen Erzähler, wie dem im Joh, ist höchste Glaubwürdigkeit zuzuschreiben. In Figurenrede172 ist die Situation maßgeblich dafür entscheidend, ob eine Zuschreibung stimmt. Tendenziell sind Ich-Aussagen (Selbstoffenbarungen) im Gegensatz zu Du-Aussagen oder Zuschreibungen durch Dritte (Fremdoffenbarungen) durch die Nähe zur betroffenen Figur überzeugender (vgl. 1.5.4). Situationsbedingt kann eine Figur aber auch bewusst lügen, sich verstellen, über- oder untertreiben. Z. B. ist Judas’ Sorge um die Armen (12,4 f.) durch den Erzähler als Lüge entlarvt. Da die obigen Abstrakta, wie Mut, nur eine Möglichkeit der zuschreibenden Charakterisierung darstellen, muss die Analyse noch erweitert werden. Bezeichnungen, die Eigenschaften als Vergleichspunkt haben oder zumindest haben können, sind ebenso zu betrachten, verlangen aber – mehr noch als die oben genannten – Interpretation. Wird eine Figur als Taugenichts oder Trunkenbold (oder eben als Dieb, vgl. 12,6173) bezeichnet, verlaufen diese Aussagen auf der Grenze zwischen Charakterzügen und Beschreibungen, die Charakterzüge implizieren oder zumindest Verhaltensmuster suggerieren. Wird eine Figur (z. B. Jesus) mit König (12,13 u. ö.) oder Lamm (1,29.36) tituliert (ohne dass sie ein Tier oder von Beruf König ist), ist der Vergleichspunkt zu finden und der entsprechende Wesenszug zu extrahieren. Besonders interpretationsbedürftig sind die Charakterisierungen durch Handlung und Reaktion (vgl. 1.4.5; 1.4.10). Diese bleiben bei diesem Werkzeug allerdings außen vor. Die so gewonnenen, expliziten und impliziten zugeschriebenen Charaktermerkmale werden gelistet aufgeführt. Dabei werden die impliziten Merkmale in einem Zweischritt angegeben, indem der expliziten Beschreibung (z. B. Lamm) die Deutungen angefügt werden (z. B. sanft, demütig oder dumm). Da im Joh explizite Merkmale selten sind, ist die Liste i. d. R. relativ knapp.174 Das Werkzeug ‚zugeschriebene Charaktermerkmale‘ hat einen bedeutenden Anteil an der Charakterisierung von Figuren als Träger von Moral. Tugend- und Lastervorstellungen gehen damit einher. Figuren können diese verkörpern, ausleben oder situativ veranschaulichen.
die Beschreibung des Ereignisses (= implizit durch Handlung) bei (vgl. dies., Stories, 69– 71). Letztere wird aber wegen ihres großen Gewichts in 1.4.10 gesondert behandelt. 172 Vgl. M. Pfisters Ausführungen zu „explizit-figuralen Charakterisierungstechniken“ (ders., Drama, 251) und ihre Abhängigkeit von der Sprechsituation sowie der Überlagerung „durch implizite Selbstcharakterisierung“ (a. a. O., 253) der Sprechenden (a. a. O., 251–257). 173 Ausführlich dazu: Teil V – Judas: 3.1.5. 174 Vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 59 f.
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1.4.5 Figuren als Handlungssubjekte Im Fokus dieses Analyseschritts liegt das Verhalten der Figuren.175 So werden alle Verben darauf untersucht, was das Handlungssubjekt des erzählten Ereignisses ist.176 Vielfach stimmt das Handlungssubjekt mit dem grammatikalischen Subjekt überein, sodass die Ergebnisse aus 1.2.5 als Grundlage dienen, von der ausgehend das Handlungssubjekt bestimmt wird. Wo ein solches fehlt (v. a. bei passiven Verben), wird es nach Möglichkeit aus dem Kontext erschlossen. Einige Verben implizieren zudem über ihren expliziten Gehalt hinaus voraus- oder einhergehende Handlungen, die nicht eigens genannt werden. Bspw. setzt ‚hören‘ immer ein Geräusch voraus, welches im Joh meist als Sprechhandlung einer anderen Figur identifiziert werden kann. Aus den gesammelten Handlungen wird für jede Figur pro Szene eine Liste der Verhaltensweisen erstellt. Entsprechend der Verbklassifikation (1.2.4) sind diese in Kategorien einzuteilen. So ergibt sich ein umfassendes Bild von dem, wie sich eine Figur verhält. Emotions- und Kognitionsverben weisen dabei auf die emotionale Figurenkonstellation (1.4.9) und das Innenleben der Figur (1.4.7) hin. Ebenso verhält es sich bei verba dicendi, wobei diese im Joh in den meisten Fällen eine wörtlich wiedergegebene Sprechhandlung nach sich ziehen (vgl. dazu 1.5). Verben der Wahrnehmung fokussieren das Erleben von Figuren (vgl. 1.4.6). Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen noch die physischen Handlungen (inkl. Fortbewegung). Bei diesen wird der Leser zum Beobachter und Interpreten des Geschehens in der Erzählten Welt. Sind Vokabeln in ihrer Bedeutung uneindeutig, werden sie bei der Analyse der Handlungssubjekte aufgeschlüsselt und ihre jeweiligen Implikationen aufgezeigt. Im Einzelfall kann dabei eine große semantische Vielfalt mit verschiedenen Umständen der Handlungsdurchführung zum Vorschein kommen. Dies gilt nicht nur für die Vollverben, wie bei der Verbklassifikation, sondern für die gesamte Kon175
Dementsprechend wäre der Ausdruck ‚Verhaltenssubjekte‘ eine mögliche Benennung des Werkzeuges. Nicht nur aus Gründen der Prägnanz und der Sprachästhetik ist dieser nicht gewählt. Hier wird die Konnotation aktiveren Tuns von ‚Handlung‘ gegenüber ‚Verhalten‘ genutzt (vgl. 1.1), um auf die Figur im Fokus des Geschehens hinzuweisen, da sich alle Figuren einer Szene zu einer Handlung verhalten, aber die für den jeweiligen Abschnitt zentrale Figur analysiert wird. Ferner wird so der bedeutsame Bereich der Sprechhandlungen (vgl. 1.5) terminologisch eingeschlossen, welche sich nicht als ‚Sprechverhalten‘ bezeichnen lassen, ohne Missverständnisse zu provozieren. 176 Dem Handlungssubjekt entspricht der linguistische Fachterminus ‚Agens‘ in Passivsätzen (vgl. Kürschner, Kompendium, 181 f.). Zeichnet sich das Agens durch „Intentionalität“, „Verursachung einer Veränderung“ und „aktiver Beteiligung“ aus (Bußmann, Lexikon, 14), wird der Ausdruck ‚Handlungssubjekt‘ dahingehend erweitert, dass auch Wahrnehmungen und psychische Vorgänge (z. B. sehen oder wissen) eingeschlossen werden. Dies entspricht insofern J. Straubs Handlungstheorie, als eine Reduktion auf Körperbewegungen als Handlungen zurückgewiesen wird (vgl. ders., Handlung, 28–30).
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struktion, welche die Handlung umfasst. So müssen z. T. Objekte, Modalverben, adverbiale Ergänzungen etc. hinzugezogen werden. Bei der Wahl von Hypernymen177, welche im Joh häufig sind (v. a. bei Sprechhandlungen meist ) bleiben viele Details offen und müssen aus dem Kontext erschlossen werden. Ausgeschmückt werden die expliziten Ereignisse z. T. durch suggerierte Handlungen. So umfasst ‚aufstehen‘ einen komplexen Bewegungsvorgang und ‚bauen‘ oder ‚ernten‘ eine Kette von Einzelhandlungen. Auch Wahrnehmungen suggerieren z. T. äußerlich erkennbare Bewegungen oder Haltungsänderungen (z. B. anblicken oder lauschen). Inwiefern diese impliziten Vorgänge die benannten ergänzen, hängt von der bildlichen Vorstellung des Lesers ab. Der Vorteil von sprachlichem gegenüber visuellem Erzählen (z. B. in Film und Theater) ist die Möglichkeit, diese bildliche Ebene offen zu lassen. So kann der Satz ‚Sechsundvierzig Jahre wurde dieser Tempel erbaut‘ (2,20) ohne Verbildlichung gelesen werden. Die Bauenden (ein im Passiv ausgespartes Handlungssubjekt) handeln aktiv, sodass ein Gebäude entsteht. Einzelhandlungen von Vermessungen bis zu etwaigen Bemalungen werden ausgespart. Wenn solche impliziten Handlungen in den Blick genommen werden, muss begründet werden, wodurch die Vorstellung evoziert wird. Ansonsten beschränkt sich die Analyse auf benanntes Verhalten. Bei allen so gelisteten Verhaltensweisen ist stets zu fragen: Warum wird die Handlung ausgeführt?178 Dass eine bestimmte Handlung dem Leser vorgeführt wird, also er der ‚Adressat‘ der Handlung ist, kann nicht per se ausgeschlossen werden. Dies ist insbesondere bei Sprechhandlungen der Fall (vgl. 1.5.1; 1.6.2). Das Ergebnis der Analyse der Handlungssubjekte wird mit dem der grammatikalischen (1.2.5) verglichen. Wo diese nicht übereinstimmen, ist das grammatikalische Subjekt betont. Durch Passivformulierungen kann so das Ergebnis einer Handlung und das Erleben einer Figur (vgl. 1.4.6) in den Vordergrund gestellt werden. Ist das Handlungssubjekt ein Kollektiv und das grammatikalische eine Einzelfigur wird ihr Tun hervorgehoben, die übrigen Figuren des Kollektivs werden ausgeblendet oder die Einzelfigur bekommt einen Führungsstatus zugesprochen (s. u. zu 4,46).179 Negationen sind insofern wichtig, als bestimmte Handlungen demnach nicht ausgeführt werden, aber als mögliche Handlungen vorgestellt werden. Sie tragen die Kategorie des Unterlassens zu diesem Werkzeug bei. 177
Hypernyme sind inhaltliche Oberbegriffe, vgl. Kürschner, Kompendium, 21 f. Die Existenz einer Handlungsabsicht ist nach P. Ricœur gerade das Spezifikum einer Handlung (ders., Selbst, 95). Das Schließen auf nicht-explizierte Figurenabsichten geschieht – abhängig von der Bedeutsamkeit der Handlung für das gesamte Geschehen – im Lesen automatisch und macht die dramaturgische Spannung wesentlich aus. 179 Vgl. dazu auch die Anmerkung zur prinzipiellen Wahl von Formulierungen durch den Erzähler in 1.3.6. 178
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Das Verhalten (Tun und Unterlassen) der Figuren ist Grundlage für Rückschlüsse auf Charaktermerkmale (1.4.4; 1.4.10) und Innenleben (1.4.7). Dabei sind neben den Verben, die die Handlung beschreiben, Attribute, welche die Art und Weise der Handlung darlegen, einzubeziehen.180 So kommen Einstellungen, Prinzipien, Normen und Werte zum Ausdruck. Gefragt wird: Wie verhält sich die Figur in bestimmten Situationen, gegenüber anderen Figuren, in Bezug auf und bei der Verwendung von Gegenständen (vgl. 1.4.3) und durch was wird ihr Tun motiviert? Insbesondere vom Erzähler vorgestellte oder vom Leser erwogene Alternativhandlungen verdeutlichen die Bedeutung des einzelnen Verhaltens. So sind in diesem Schritt neben der umfassenden Darstellung des Handelns einer Figur, stets mögliche Alternativhandlungen aufzuführen, welche der Plausibilisierung der Argumentation dienen. Durch die situative Einbettung von Handlungen und Figuren in die Erzählte Welt, welche bei narrativer Ethik besonders zu betonen ist, kann hier kein formalisiertes Vorgehen oder gar ein Algorithmus zur Auswertung der Handlungen geboten werden. Entsprechend der Deutungsoffenheit narrativer Texte ist eine monofinale Argumentation auch nicht erstrebenswert, sondern vielmehr eine Eröffnung von Sinnhorizonten. Exemplarisch werden die einzelnen Schritte dieses Werkzeuges an der ersten Szene der Episode von der Fernheilung des Sohnes des @ ! # (4,46– 50) verdeutlicht. Zu Beginn ist Jesus das grammatikalische Subjekt, das nach Kana kommt (4,46: F % ). Impliziert ist jedoch, dass seine Jünger mitgehen. So ist hier ‚Jesus und seine Jünger‘ das Handlungssubjekt.181 Die Differenz zwischen Handlungs- und grammatikalischem Subjekt, weist daraufhin, dass die Präsenz der Jünger für die Begegnung zwischen Jesus und dem @ ! # und die Heilung seines Sohnes irrelevant ist und betont den Führungsstatus Jesu. Eine implizierte, aber nicht benannte Handlung findet sich in 4,47. Dort wird in dem Hören des @ ! # vorausgesetzt, dass andere Figuren ihm von Jesu Ankunft erzählen. Diese implizite Handlung steigert die Bedeutung Jesu in der Erzählten Welt, da sein Eintreffen (sogar in geografischer Distanz) zum Gesprächsthema erhoben wird. Eine Auflistung des Verhaltens des @ ! # ergibt folgendes Ergebnis: Er hört (von Jesu Ankunft), geht (zu Jesus), bittet (um Heilung seines Sohnes), spricht (eine dringliche Bitte aus), glaubt (Jesu Worten) und geht. Als einziges Wort der Verbklasse ‚Emotion und Kognition‘ ist damit das Glauben des @ ! # (an Jesu Worte) für seine Charakterisierung zentral. Weitere Hinweise auf seinen 180
M. Fludernik betont die Bedeutung von Adjektiven und Adverbien, die das oftmals wichtigere WIE einer Handlung gegenüber dem WAS zum Ausdruck bringen (vgl. dies., Erzähltheorie, 57). Im Joh sind diese eher selten. 181 Seit 2,13 (Reise nach Jerusalem) sind Jesu Jünger in die meisten Fortbewegungen Jesu eingeschlossen. Auch wenn sie in der gesamten Episode (4,46–54) nicht erwähnt werden, sind implizit anwesend.
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Charakter bieten die Redewiedergabe (4,47) und die Figurenrede (4,49), welche jeweils durch verba dicendi gekennzeichnet sind. Eine genaue Analyse gehört allerdings in den Bereich 1.5. Das zweifache Gehen des @ ! # strukturiert nicht nur die Szene, sondern setzt eine Motivation für die Fortbewegungshandlung voraus. Diese kann im Zusammenspiel aus der Krankheit des Sohnes (s. u.) und der Figur Jesus (seiner Anwesenheit und seinem Heilungsvermögen) begründet werden. Zur Art und Weise der Fortbewegung kann daran anschließend gemutmaßt werden, dass der @ ! # schnell geht. Exemplarisch sei eine Deutung des @ ! # als Handlungssubjekt umrissen. Die Auslegung seiner ersten Handlung lässt sich gut durch eine Alternativhandlung veranschaulichen: In 4,47 hört @ ! # von Jesu Ankunft und geht zu ihm. Er schickt keine Boten, obwohl er laut 4,51 welche hat. Sein Anliegen ist persönlich. Damit ist seine emotionale Betroffenheit bereits von Beginn an ausgedrückt. Bezugspunkt sämtlicher Handlungen des @ ! # ist Jesus. Von ihm hört er, zu ihm geht er, ihn bittet er, zu ihm spricht er, ihm glaubt er. Nur seine letzte Handlung zielt nicht auf Jesus, ist aber von diesem ausgelöst (4,50: „ 6 ,“ – 6 ). Grammatikalisch wird die Ausrichtung auf Jesus bestärkt, da Jesus stets das Objekt (oder Teil des Objekts) für den @ ! # als Handlungssubjekt ist. Bei der Suche nach der Motivation für sein Tun steht allerdings eher die Sorge um das Leben seines Sohnes im Mittelpunkt (4,47.49). Diese Annahme wird durch die Analyse der Sprechhandlungen und durch die Figurenkonstellation gestützt (was allerdings nicht mehr in einem Bsp. zu diesem Werkzeug ausgeführt werden kann). In der Beispielszene hat das Leben seines Sohnes den größten Wert für die Figur des @ ! #. Durch diese Verknüpfung von grammatikalischer Ausrichtung und erzähllogischer Motivation wird Jesus als Adressat für die Anliegen und Gefühle in der Notsituation etabliert. Die Analyse des Innenlebens (1.4.7) zeigt Verzweiflung und Hoffnung als mögliche Kernemotionen auf. Der attestierte Glaube an Jesu Heilungsversprechen (4,49) lässt zumindest am Szenenende Letzteres als maßgeblich hervortreten. Als einziger expliziter Einblick in das Innenleben dominiert er die Charakterisierung der Figur. Im Zurückgehen des @ ! #, weist sich sein Bittanliegen insofern als erfüllt, als er Jesus wieder verlassen kann. Der Glaube an Jesu Worte ist dafür die Voraussetzung. Der @ ! # verkörpert ein ideales Verhalten und eine ideale Einstellung – umso mehr, da sein Vertrauen später (4,51) nicht enttäuscht wird. Die hier umrissene, schlaglichtartige Deutung ist natürlich mit anderen Ergebnissen, z. B. der Figurenkonstellation oder den Lexemhäufungen abzugleichen. In den zahlreichen Verweisen zeigt sich, dass die Werkzeuge stets nur im Zusammenhang Deutungspotentiale aufweisen.
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1.4.6 Figuren als Erlebensobjekte Den Handlungssubjekten entsprechend lassen sich Verben auch Erlebensobjekte zuordnen, die ebenfalls unabhängig von den grammatikalischen (vgl. 1.2.5) sein können.182 Insbesondere verkehren Passiva die Zuordnung, sodass die grammatischen Subjekte von passiven Verben stets Erlebensobjekte sind. Durch die syntaktische Positionierung als Subjekt bei Passivbildung ist dieser Erlebnisgehalt bei Erlebensobjekten betont. Z. B. wird in 19,20.41 durch ! , 4% der Fokus bei der Verortung des Kreuzigungsgeschehens vollständig auf Jesus gelegt und die Kreuzigenden als unwesentlich ausgeblendet. Muss eine umfassende narratologische Analyse alle Erlebensobjekte erschließen, genügt es hier, sich auf die figürlichen zu beschränken. Mit den Figuren erlebt auch zugleich der Leser die Geschehnisse in der Erzählten Welt. Daraus folgt bereits, dass eine Figur alle Ereignisse in der Erzählten Welt wahrnimmt – selbst wenn diese sich nicht auf die Figur beziehen. So erlebt Martha in 11,39 Jesu Aufforderung Lazarus’ Grab zu öffnen. Auch wenn sie nicht direkt angesprochen ist (der implizite Adressat (vgl. 1.5.1) ist wohl das Kollektiv aus 11,36 oder 11,37), nimmt sie Jesu Auftrag wahr und reagiert auf diesen. Damit ist bereits die Figurenwahrnehmung thematisiert. Hinzu kommen bei der Untersuchung des Erlebens von Figuren nämlich Handlungssubjekte von Wahrnehmungsverben. Die Figur ist dabei aktiv, aber zugleich Rezeptor eines Geschehens. Durch solche Verben wird das Erleben einer Figur ebenfalls verstärkt. Die explizite oder implizite Festlegung eines Sinnes verstärkt dabei den Erlebnisfaktor für den Leser. Insbesondere gewöhnlich weniger angesprochene Sinne (Geruchs-, Geschmacks-, Tast- und Temperatursinn) sind dabei von Bedeutung. Explizite Sinnesfestlegung erfolgt über Lexeme, die einem Sinn eindeutig zugeordnet werden können: Z. B. sehen, betrachten, anschauen, Augen, Blick für den Sehsinn. Implizit sind Betonungen eine Eigenschaft des Wahrgenommenen, die auf den Sinn schließen lassen: Für den Sehsinn bspw. Helligkeit, rot, gelb, grün; meist auch Schrift, Bewegungen, Mengen, Größen und Geschwindigkeiten. ‚Sehen‘ ist i. d. R. als primäre Wahrnehmungsmöglichkeit, ‚hören‘ als sekundäre verwendet.183 Andere Sinne kommen weit seltener zum Einsatz. In 11,38–45 182 Den Erlebensobjekten entspricht der linguistische Fachterminus ‚Patiens‘ (vgl. Bußmann, Lexikon, 512). Im Anschluss an J. Straub wäre hier der sperrige Begriff des ‚Widerfahrnisobjektes‘ zu bilden (vgl. ders., Handlung, 41–43). Die hier gewählte Terminologie lehnt sich nicht nur aus sprach-ästhetischen Gründen nicht an Straub an, sondern spielt einen stärkeren Erfahrungsbezug ein, indem mit ‚erleben‘ ein stärkeres Anteilnehmen impliziert wird. Dies spiegelt auch die Erfahrung des Lesers wider, welcher z. B. in Identifikation mit Figuren (vgl. 1.6.8) die Erzählung eher erlebt, als dass sie ihm widerfährt. 183 Schon Aristoteles hebt den Sehsinn als bedeutsamsten hervor (vgl. Aristot. metaph., 980a; auch in seiner Beschreibung der fünf Sinne beginnt Aristoteles beim Sehsinn: vgl. Aristot. an., 418a–419b). U. Margolin hebt (nicht nur hinsichtlich der Figurenhandlungen,
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hört der Vater Jesus explizit. Durch den Erzählzusammenhang und ihre Reaktionen ist erkennbar, dass Martha Jesu Worte hört (s. o.), Umstehende den Wortwechsel verfolgen (11,41) und schließlich Lazarus Jesu Ruf vernimmt. In der ausführlichen Schilderung von Lazarus’ Erscheinung wird der Sehsinn angesprochen. Expliziert wird er in 11,45, wodurch das dortige Subjekt zum Erlebensobjekt der Auferweckung wird. Schließlich ist in der Beispielszene sogar ein olfaktorischer Reiz gesetzt, indem Martha vor dem Verwesungsgestank warnt. Inwiefern die Anwesenden diesen bei und nach dem Entfernen des Steines erleben, bleibt offen. Durch Synästhesien kann diese trennscharfe Einteilung durchbrochen werden. So werden Leser auf mehreren Ebenen angesprochen. Parallel zu dem Vorgehen im vorigen Kapitel werden alle Ereignisse gesammelt, von denen die Figur im Fokus der Analyse als Erlebensobjekt betroffen ist. Angereichert mit den Wahrnehmungen der Figur ergibt sich ein Bild, das das Erleben einer Figur umfassend darstellt. Für Martha im Beispiel sind hier die Figurenreden Jesu zu nennen (hören), das Forttragen des Steines, das Hervortreten von Lazarus und sein Anblick (sehen) und ggf. der befürchtete Gestank (riechen). Berührungen von Stein oder ihrem Bruder (Haptik) sind nicht naheliegend, da das jeweils von Jesus beauftragte Kollektiv sich von Martha abgrenzen lässt (vgl. 1.4.8). Diese rein rezeptive Perspektive fließt in die Analyse des Innenlebens (1.4.7) ein und bildet die Grundlage für situative Handlungsbewertungen (z. B. ist Marthas Dienst in 12,2 so plausibilisiert). Wichtig ist dieser Bereich vor allem, weil der Leser in diesem Prozess der Figur besonders nahe kommt (auch der Leser ‚sieht‘ Lazarus’ Auferstehung – wie die Zum-Glauben-Kommenden in 11,45) und Leseremotionen, einstellungen und -verhaltensmuster auf dieser Ebene stark beeinflusst werden können (1.6.8). Das formale Vorgehen verläuft analog zu 1.4.5. 1.4.7 Innenleben der Figur Wenn hier das Innenleben einer Figur untersucht wird, ist vorausgesetzt, dass eigentlich nur der Einblick in dieses betrachtet wird.184 Das Innenleben umfasst dabei Wissen und Gedankengänge, Motivationen, Meinungen und Ein-
sondern auch für die Leserwahrnehmung einer Erzählung) „visual perception as a key mode of information intake“ hervor (ders., Science, 289). 184 Ähnlich verwendet S. Rimmon-Kenan und im Anschluss C. Bennema inner life als gekürzten Ausdruck für penetration into inner life (vgl. Bennema, Encountering, 27 f., Rimmon-Kenan, Fiction, 41 f.). Ihnen dient die Kategorie aber primär zur Klassifizierung der Figuren, nicht zur Entfaltung ihrer Lebendigkeit. Vgl. die Einführung in 1.4. Zum Generieren des Innenlebens und Charakters einer Figur aus impliziten und expliziten Informationen vgl. Palmer, Mind, 322–347.
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stellungen sowie die Gefühlswelt.185 Charakterzüge fließen somit indirekt ein, wenn eine Figur z. B. ängstlich ist, wird sie oft das Gefühl ‚Angst‘ empfinden. Im Gegensatz zu den relativ stabilen und damit statischen Charakterzügen ist das Innenleben der Figur dynamisch und damit in jeder Szene neu zu betrachten. Hier werden einige Beispiele aus 11,28–31 genutzt. Durch die Inklusion von Einstellungen und als Antrieb des Verhaltens bietet die Analyse des Innenlebens gute Anknüpfungspunkte für narrative Ethik. Diese argumentiert für eine Verzahnung von kognitiven und emotionalen Prozessen, wie sie sich in diesem Analyseschritt widerspiegelt. In der Reihenfolge der obigen Aufzählung werden hier die verschiedenen Bereiche des Innenlebens untersucht. Neben dem Wissen einer Figur ist auch ihr Nichtwissen für die Figurenanalyse interessant. Gibt der Erzähler Einblick in diesen Bereich, kann einfach übernommen werden, was die Figur weiß oder nicht weiß. Etwas komplexer ist das Herausfiltern des (Nicht-)Wissen der Figuren, wenn der Erzähler Figurenverhalten kommentierend begründet. Indem er die Informationen, die er dem Leser weitergibt, als Verhaltenslegitimation der Figuren anführt, ist vorausgesetzt, dass die Figuren Entsprechendes wissen. Z. T. stellen Figuren auch gegenüber anderen ihr Wissen zur Schau. Formen von = sind hierbei Signalwörter. Bei Formen von 4! verhält es sich ähnlich, allerdings steht dort ein Wahrnehmungsprozess oder ein Gedankengang im Vordergrund.186 Prinzipiell lassen alle Sprechhandlungen auf Figurenwissen und Figurennichtwissen schließen.187 So weiß Martha z. B. in 11,28, dass Jesus da ist und behauptet zu wissen, dass er Maria sprechen – oder zumindest sehen – möchte. Entsprechend der Sprechhandlungsklassifikation (1.2.3; 1.5.3) weisen Fragen insbesondere auf Nichtwissen, Antworten und Behauptungen auf (vermeintliches) Wissen hin. Neben den expliziten und impliziten (Nicht-) Wissenshinweisen durch den Erzähler und den Rückschlüssen aus der Figurenrede gibt das Erleben der Figuren (vgl. 1.4.6) – inklusive der Sprechhandlungen ihrer Dialogpartner – Aufschluss über die „Informiertheit“188, indem das Wissen kontinuierlich angereichert wird. So weiß nach Marthas Sprechhandlung auch Maria, dass Jesus da ist. Dass jede Figur – bereits beim ersten Auftritt – Vorwissen in eine Szene mitbringt, von dem der Leser nichts wissen kann, versteht sich von selbst (z. B. dass Maria weiß, dass Martha Jesus 185
Nach U. Margolin kann das Innenleben der Figur als ihre „mental dimension“ aufgefasst werden; diese teilt er in Wahrnehmung, Emotionen, Willen und Kognition (ders., Charakter, 72). Während die Wahrnehmung unter dem Figurenerleben (1.4.6) gesondert betrachtet wird, sind Kognition und Willen hier noch differenziert. 186 J. Vogt benennt prinzipiell verba credendi als Signalwörter für Gedankenberichte, welche bei ihm das gesamte Innenleben von Figuren umfasst (vgl. ders., Aspekte, 158). 187 Für dialogische Szenen sind die Sprechhandlungen – ebenso wie in Dramen (vgl. Pfister, Drama, 80 f.) – die einzige Quelle um die „Informiertheit“ (ebd.) zu erschließen. 188 Pfister, Drama, 79. Vgl. auch a. a. O. 80 f., 87.
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als 1 ! # bezeichnet). Sofern es aber nicht artikuliert oder impliziert wird, bleibt es von der Analyse ausgeschlossen.189 Unterschiede im Wissen zwischen Figuren oder einer Figur und dem Leser können die Spannung steigern.190 Der Wissensstand von Figuren kann als Verhaltenslegitimation herangezogen werden. Ist eine solche Legitimation abgelehnt, werden bestimmte Werte oder Verhaltensweisen wissensstandsunabhängig bewertet. Damit wird Wissen als Größe in einem ethischen Diskurs positioniert. Ebenfalls kognitiv orientiert ist die Analyse der Gedankengänge. Diese können explizit durch den Erzähler angegeben werden.191 So denken ‚die Juden‘ in 11,31, Maria bräche zum Grab auf. Implizites Erschließen von Gedankengängen (und Handlungsabsichten192) ist aufgrund verbaler und nichtverbaler Reaktionen von Figuren möglich. Zum Teil ermöglichen Sprechhandlungen, den Figuren ‚beim Denken zuzuschauen‘. Insbesondere das bereits erwähnte Lexem 4! zeigt dies an. Die Gedankengänge offenbaren Argumentationsstrukturen und geben Aufschluss über die Motivation für bestimmtes Verhalten. In 11,31 ist die Motivation des Judenkollektivs implizit aus ihrer derzeitigen Aufgabe, ihrem Verhalten und ihrem Gedankengang zu erschließen193: Sie wollen Maria (auch am Grab) trösten. So lässt sich aus ihnen ein Wertesystem entnehmen. Alternativhandlungen können gegenübergestellt und abgewogen werden,194 Aktionen und Reaktionen werden legitimiert, Werte hierarchisiert. In Bezug auf das hiesige Beispiel skizziert: Marias Trauer wirkt für das Verhalten des Judenkollektivs bestim189
Vgl. Pfister, Drama, 80. Vgl. Hofmann, Drama, 42; Pfister, Drama, 79–86. Die possible worlds theory betrachtet gerade diese verschiedenen Wissenswelten der Figuren und leitet daraus (theoretisch unendlich viele) mögliche Erzählte Welten, die miteinander konkurrieren und erst im Erzählverlauf bestätigt oder verworfen werden (vgl. Busse, Analyse, 35 f.). 191 Eine strukturelle Unterscheidung in ‚direkte innere Rede‘, ‚erlebte Rede‘ und ‚Gedankenbericht‘ ist nicht nur wegen erzählungbedingter Unschärfen der Dreiteilung (vgl. Fludernik, Erzähltheorie, 98 f.), sondern auch wegen des prinzipiell seltenen Vorkommens in biblischen Erzählungen nicht sinnvoll. Ausführliche Darstellung und Exemplifizierung der drei Bereiche bietet Vogt, Aspekte, 158–194. 192 Vgl. 1.4.5. 193 Ähnlich schließt J. Garvey auf Charakterzüge und das Innenleben rück (ders., Characterization, 74 f.; 1.4.10). U. Margolin betont die Möglichkeit und sogar Notwendigkeit die Kognition von Figuren zu erschließen, wenn diese – wie zumeist – nicht benannt ist (vgl. ders., Science, 284 f.). A. Palmer liefert ein Beispiel, wie aus einzelnen Handlungen eine Vielzahl von Wahrnehmungen, Überlegungen und Entscheidungen erschlossen werden können; i. d. R. vollzieht sich ein solches Erschließen im Leseprozess automatisch (vgl. ders., Mind, 325 f.). Zur Begründung von Figurenhandlung vgl. a. a. O. 338 f. 194 Insbesondere in Anbetracht der possible worlds theory erscheint das Erwägen von Alternativhandlungen angemessen. Gegen Pfister, Drama, 221. Zur literaturwissenschaftlichen possible worlds theory vgl. Busse, Analyse, 33–37. 190
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mend. Ihr Weinen am Grab ist als erwartete Handlung legitim. Bequemlichkeit hat gegenüber dem Spenden von Trost niedrigere Priorität, da das Kollektiv nicht im Haus bleibt, als Maria aufbricht. Distanz und Raum für Alleinsein der Trauernden wird nicht als Option angeboten. Bei der Untersuchung der Verhaltensmotivation und des Wertesystems ist der Übergang zu Meinungen und Einstellungen der Figur geschaffen. Die Analyse von diesen zielt auf Bewertungen. Auf dem Horizont der Themen, die eine Figur innerlich beschäftigen, zeigen Einstellungen die Positionierung an. Mit ‚Einstellungen‘ ist die Zustimmung zu oder Ablehnung von Werten oder Verhaltensweisen gemeint. In Marias unmittelbarer Reaktion in 11,29 zeigt sie, dass sie dem Aufruf ihrer Schwester zustimmt – sei es, dass sie deren Autorität anerkennt, dass sie Jesus gehorchen will oder (nach 11,3 m. E. am plausibelsten) dass sie sich nach der Begegnung sehnt. Meinungen sind von ihrer Struktur her komplexer. Sie können ebenfalls eine Zustimmung oder Ablehnung enthalten, aber darüber hinaus Werte, Normen, Tugenden oder Verhaltensweisen gegeneinander abwiegen und zueinander positionieren. Der Erzähler kann Figuren zueinander ins Verhältnis setzen und so Einstellungen kontrastieren; zudem kann er durch Einblicke in ihre Gedanken (s. o.) dem Leser ihre Positionierung offenlegen. Meist sind Meinungen in der Figurenrede explizit kundgetan, z. T. implizit in Aussagen verborgen. Deshalb sind bei diesem Bereich des Innenlebens die Kommunikationsbedingungen besonders zu beachten (vgl. 1.5). Die Art des Ausdrucks von Meinungen und die Vehemenz ihrer Vertretung sind insbesondere von Gefühlen (Emotionen) abhängig. Diese sind der Schlüssel zu narrativer Ethik und deshalb auch bei der Figurenanalyse von besonderer Bedeutung. Dabei sind die Lesergefühle (die die ethische Wirksamkeit der Erzählungen mitsteuern) vielfach nicht mit den Emotionen der Figuren identisch. Dennoch besteht eine Abhängigkeit (vgl. 1.6.8). So kann das Leiden einer Figur beim Leser z. B. Mitleid oder Schadenfreude auslösen. Insbesondere sind die Gefühle für die Empathie wichtig. Ein Leser kann sich mit Figuren, deren Emotionen er erfährt, besser identifizieren, sofern er die Gefühle aus eigenem Erleben kennt. In biblischen Erzählungen werden Emotionen z. T. explizit (durch den Erzähler oder Figuren) genannt. Dabei ist das Gefühlsspektrum bspw. im Vergleich zu den sprachlichen Möglichkeiten des Deutschen recht begrenzt. Häufig werden Angst, Zorn oder Freude benannt. Ob die Freude aber Ausgelassenheit, Beschwingtheit, Schadenfreude, Zufriedenheit oder Erheiterung meint, wird nicht unterschieden. Um eine differenzierte Darstellung der Gefühlswelt zu erreichen, ist deshalb zusätzlich der Erzählzusammenhang mit einzubeziehen. Manche Figurenemotionen sind ausschließlich implizit zu erschließen. Insbesondere kann aus einem bestimmten Figurenverhalten eine Emotion rückgeschlossen werden. Im Weinen Marias (explizit in 11,33) spiegelt sich z. B. Traurigkeit. Ähnlich wie bei den Charakterzügen (vgl. 1.4.10) sind implizit erschlossene Gefühle keines-
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falls zweitrangig. Im Gegenteil, meist lassen sie sich sogar als besonders wirkungsvoll bezeichnen. Dies hängt mit dem körperlichen Bezug zusammen, den alle Emotionen haben und der sich neurologisch, biochemisch und verhaltensanalytisch nachweisen lässt. Entgegen der intuitiven Wahrnehmung geht sogar die körperliche Reaktion dem Gefühl voraus.195 So generiert der Leser aus dem dargestellten Figurenverhalten die Figurenemotionen. Um Gefühle zu systematisieren, sind verschiedene Modelle der Emotionsforschung möglich.196 Sinnvoll erscheinen vor allem eine Systematisierung nach Intensität und eine Einbeziehung des Gefühlsauslösers – fehlt ein externer Auslöser ist möglicherweise ein Charakterzug für das Gefühl verantwortlich. Maria ist wohl nicht prinzipiell als traurige Figur gekennzeichnet, da ihr Weinen im Tod ihres Bruders einen externen Auslöser hat. Die Bewertung des Gefühlszustands (positiv oder negativ) folgt nicht unbedingt der Intuition des Lesers. Ein gutes Beispiel dafür ist Furcht. Im heutigen Kontext eher negativ belegt, wird es auf Gott bezogen in der Bibel oft positiv gedeutet. Eine Bewertung der Gefühle darf also erst in einem zweiten Schritt geschehen, ist für die Erzeugung von Empathie aber nicht zwingend nötig. Die Figurenemotionen liegen besonders dicht an den Charaktermerkmalen. Wird ein Gefühl einer Figur mehrfach zugesprochen (hohe Quantität), lässt es sich als Charaktereigenschaft festhalten. Da im Joh als relativ kurze Erzählung die meisten Figuren, abgesehen von Jesus, ohnehin wenig Textumfang einnehmen, laufen Gefühle ohne externen Auslöser und Charaktermerkmale meist parallel. Eine Figur, die Angst hat (ohne dass die Ursache beschrieben wird), ist also ängstlich (vgl. 1.4.10). Als Grenzbereich der Gefühle werden Empfindungen eingeschlossen. So werden z. B. Wärmeempfinden oder Müdigkeit 195
Vgl. Welzer, Gedächtnis, 126 f., 130–135. Eine mögliche Systematisierung ist die Einteilung in primäre (genetisch angelegt und damit kulturunabhängige) und sekundäre (kulturgebunden erfahrungsbedingte) Emotionen. Als primäre Emotionen gelten Furcht, Zorn, Ekel, Trauer, Glück und z. T. Überraschung (vgl. Welzer, Gedächtnis, 127–129). Die Zweiteilung in primäre und sekundäre Emotionen ist für biblische Figuren nur bedingt hilfreich, da die Emotionen stets in ihrer gesamten (angeborenen und erlernten) Vielfalt wahrgenommen werden. Die fünf Primäremotionen können allerdings ein Emotionsfeld aufspannen, in das sich übrige Emotionen in unterschiedlicher Ausprägung einordnen lassen. Vgl. zu Differenzierungen auch Eder, Figur, 650–655. Der Psychologe P. Ekman spricht in diesem Sinne von „Familien von verwandten Emotionen“, wobei er sieben (kulturübergreifend vorhandene) Familien benennt: „Trauer, Zorn, Überraschung, Angst, Ekel, Verachtung und Freude“ (ders., Gefühle, 82; vgl. a. a. O., 13–19 u. ö.). Wie Gefühle von Bewertungen abhängen, veranschaulicht die gut strukturierte Grafik von U. Mees, die zugleich eine Systematisierung von Emotionen bietet (vgl. ders., Sprache, 290). Liebe wird von ihm z. B. als Attraktivitätsemotion bezeichnet, die von einer Bewertung von Personen, Objekten oder Eigenschaften in Bezug auf eigene Vorlieben ausgeht; Erleichterung ist dagegen eine Erwartungsemotion, die nach einem erwartungswidrigen Ausgang von Furcht entsteht und auf die Bewertung von Ereignissen in Bezug auf Wünsche oder Ziele gründet (vgl. ebd.). 196
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(als Gefühl aufgefasst) ins Innenleben einer Figur integriert (wobei Ersteres auch einen Reiz innerhalb der Erzählten Welt widerspiegelt und so Teil der Atmosphäre (vgl. 1.3.3) ist). Bei den vier vorgestellten Bereichen wurde jeweils die gleiche Abstufung vorgenommen. Explizite Informationen aus Erzählerkommentierungen und inneren Monologen sind am gesichertsten. Explizite Aussagen innerhalb der Figurenrede nehmen den zweiten Rang ein, sind aber immer auf eine Interpretation der Kommunikationssituation angewiesen. Figurenrede der untersuchten Figur, in der das Innenleben nicht expliziert wird, ist auf der dritten Stufe der Skala einzuordnen. Die Deutung von Erlebnisberichten, sonstigem Verhalten und Figurenreden zweiter und dritter Figuren bekleiden schließlich den vierten Rang. Das Figurenverhalten wird dabei insbesondere auf Grundlage des Werkzeugs 1.4.5 einbezogen. Eine exemplarische Veranschaulichung verdeutlicht die Unterteilung (vgl. Tab. 1). Mit jeder Stufe nimmt die Einbeziehung des Lesers (und damit die Interpretationsbedürftigkeit) zu. Die drei Kriterien sind Explikation, Nähe zur analysierten Figur (Direktheit) und Interpretationsnotwendigkeit. Sie bestimmen, welche Zugänge dem Leser bei der Analyse offen stehen. Explizite Aussagen sind am eindeutigsten, da sie das Gefühl, das Wissen oder die Einstellung benennen. Direkte Aussagen werden auktorial (vom Erzähler) oder figural von der betroffenen Figur getätigt, während indirekte Einblicke über andere Figuren gewährt werden. Sprechhandlungen sind zudem von der Kommunikationssituation abhängig und müssen somit vom Leser interpretiert werden. Bei Erlebnisberichten und der Wiedergabe von Verhalten ist der Leser ebenfalls als Interpret gefragt.197 Im Beispiel (Tab. 1) wurde die Traurigkeit Marias verschieden dargestellt. Während die ersten vier Stufen die Emotion explizit nennen („traurig“), ist sie bei den übrigen implizit zu erschließen. Die Unsicherheit bei den unteren drei Beispielen wird sofort deutlich. So kann die Verhaltensmotivation für ihre Handlungen als Erschöpfung oder Müdigkeit gedeutet werden. Der Erlebnisbericht weist zunächst nur auf hohe emotionale Betroffenheit, schließt in Schilderung der körperlichen Reaktionen des mutmaßlichen Gefühls Traurigkeit aber bspw. Euphorie als Alternative nicht aus. Schließlich spiegelt die Figurenrede ‚der Juden‘ ggf. eher die eigene Traurigkeit. Marias Traurigkeit kann dort als implizit vorausgesetzt betrachtet werden, bleibt aber von der Leserinterpretation der Kommunikationssituation abhängig. 197
Wie Rückschlüsse von geschildertem (und beobachtetem) Erleben oder Verhalten auf zu Grunde liegende Emotionen gezogen werden, ist ein komplexes Forschungsfeld. Eher intuitiv (aber vermutlich zumindest partiell kulturell gebunden – inwieweit ist jedoch auch umstritten) werden hier Handlungen gedeutet. Argumentationen dienen der Plausibilisierung, da noch keine gesicherte Methode vorliegt. Lediglich, dass aus Verhaltensbeobachtungen und Erlebnisberichten Gefühle rückgeschlossen werden, ist Konsens. Vgl. Herman, Cognition, 255.
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Die Stufeneinteilung stellt nicht notwendigerweise eine Hierarchisierung dar. Gerade Erlebnisberichte und Verhaltensschilderungen können einen starken Erlebnischarakter auslösen – insbesondere, wenn dadurch mehr Erzählzeit in Anspruch genommen wird. So ist ihr Aussagegehalt bzgl. des Innenlebens zwar schwieriger eindeutig zu bestimmen, aber zugleich ist die Leserempathie – und so die Wirkmächtigkeit – gesteigert (vgl. 1.4.10). Erzählform Kommentierung/ Bericht Innerer Monolog Selbstoffenbarung
Fremdoffenbarung
Eigene Figurenrede
Erlebnisbericht
Verhalten
Fremde Figurenrede
Beispiel Maria war traurig.
Leser-/Analysezugang Explizit, direkt
Ich bin traurig. Maria sagte: „Ich bin traurig.“
Explizit, direkt Explizit, direkt, interpretationsbedürftig (Kommunikation) Explizit, indirekt, interpretationsbedürftig (Kommunikation) Implizit, direkt, interpretationsbedürftig (Kommunikation) Implizit, direkt, interpretationsbedürftig (körperliche Reaktion) Implizit, direkt, interpretationsbedürftig (Verhaltensmotivation) Implizit, indirekt, interpretationsbedürftig (Kommunikation)
Jesus sagt zu Maria: „Sei nicht traurig!“ / Martha sagt: „Maria ist traurig.“ Maria fragt: „Wenn du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben.“ (11,32) Maria schossen die Tränen in die Augen. Maria zieht ein Tuch hervor, wischt sich über das Gesicht. Sie reibt sich die Augen. Die Juden sagen: „Lasst uns mit Maria zum Grab gehen, um dort mit ihr zu weinen.“
Tab. 1: Zugang zum Innenleben von Figuren (nach Joh 11,28–33)
In biblischen Erzählungen kommen innere Monologe und Erlebnisberichte nur selten vor. Abgesehen von den vereinzelten Erzählerkommentierungen ist die Erschließung des Innenlebens einer Figur also ein interpretativer Vorgang. Ein Interpretationsschema kann gemäß der sprachlichen Vielfalt nicht vorgegeben werden. Dementsprechend ist es notwendig, einzelne Schlüsse jeweils zu begründen. Neben den Erzählerangaben bieten vor allem die Sprechhandlungen (vgl. 1.5) Einblick in das Innenleben von Figuren. Gerade Wissen, Gedankengänge und Einstellungen lassen sich vielfach ausschließlich aus der Figurenrede der jeweils untersuchten Figur ablesen. Da Jesus im Joh als ‚allwissende Figur‘ (vgl. 1.5.8) Einblick in die Gedankenwelt aller Figuren zugeschrieben wird, sind seine Sprechhandlungen darüber hinaus zu berücksichtigen. Über die hier vorgestellten Erzählformen hinaus kann auch die Atmosphäre (vgl. 1.3.3) als Spiegel des Innenlebens einer Figur genutzt werden. Ein
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solches Vorgehen bezieht den Leser aktiv mit ein und lässt den größten Raum an Unsicherheiten. Vor allem ist bei der Anwesenheit mehrerer Figuren fraglich, das Innenleben welcher Figur die Atmosphäre spiegelt. Auch wenn ein bewusster Einsatz dieses Stilmittels in biblischen Schriften eher fraglich ist, lohnt eine Betrachtung der Erzählungen unter diesem Gesichtspunkt. Die Übertragung der Atmosphäre auf das Innenleben von Figuren ist stets ein interpretativer Vorgang. Naheliegend ist dieser, da für viele innere Vorgänge bereits Metaphern benutzt werden, um einen Bereich beschreibbar zu machen, der sich der Anschaulichkeit entzieht. Beispiele mögen hier dem Vorgehen am dienlichsten sein. Ein Sturm (wie z. B. in 6,18) kann symbolisieren, dass eine Figur (das Jüngerkollektiv) aufgewühlt ist; eine dicht gedrängte Menschenmenge, dass eine Figur ihre Situation als ausweglos ansieht; verschlossene Türen zeigen die Ablehnung eines Ereignisses an; kalte Witterung weist auf emotionale Distanzierung. Diese Beispiele verdeutlichen, dass eine solche Interpretation ein kreatives Unterfangen ist und somit eher in den Bereich der Rezeptionsästhetik gehört. Inwiefern die Atmosphäre die Leseremotionen anregt, wird in Kap. 1.6.8 besprochen. 1.4.8 Kollektivzugehörigkeit Die Bestimmung der Kollektivzugehörigkeit ist ein wesentliches Instrument zur Einordnung einer Figur in die Erzählte Welt. In den meisten Erzählungen agieren Figurengruppen als Kollektive wie eine Einzelfigur. Diesen Aspekt betont der Ausdruck ‚Kollektivfigur‘. Eine bildliche Vorstellung des Sprechens, Handelns und Erlebens der Kollektive führt z. T. zu absurden Situationen. Hier reichen die Möglichkeiten einer schriftlichen Erzählung über die anderer Medien hinaus. Ohne dass eine Partizipation der einzelnen Mitglieder eines Kollektivs an jeweiligen Handlungen visualisiert werden muss, können diese daran teilhaben. Durch Kollektive entsteht eine Figurenschachtelung, da Kollektive aus mehreren Einzelfiguren wiederum Teil eines größeren Kollektivs sein können. So ist zu jeder Einzelfigur die Zugehörigkeit zu allen Kollektiven zu benennen, denen sie angehört. Hierbei sind explizite Nennungen (Signalwort , z. B. in 3,1 Nikodemus als $ % # + / ! ) von den impliziten zu unterscheiden. Auch innerhalb von Szenen lassen sich alle Kollektivzugehörigkeiten beschreiben (vgl. Abb. 13). Durch die in ein Kollektiv eingeschlossenen Figuren entstehen oftmals Gegenkollektive198, welche die übrigen Figuren umfassen, die zu einem Kollektiv gehören, aber nicht benannt werden. So ist in 6,66 f. z. B. das Jüngerkollektiv mehrfach unterteilt: zum einen in die Jünger, die sich abspalten und Jesus nicht weiter nachfolgen, zum anderen in diejenigen, die bei ihm bleiben. Letztere enthal198
Der Begriff ‚Gegenkollektiv‘ entspricht dem mathematischen Terminus der Gegenmenge.
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ten das Kollektiv ‚die Zwölf‘ (oder sind deckungsgleich mit ihm). Gegenkollektive sind hypothetische Figuren der Erzählten Welt. Ihre Existenz wird zwar suggeriert, aber solange sie nie erwähnt werden, lassen sie sich nur aus der Abgrenzung zu den Benannten und als Negation von diesen fassen. I. d. R. sind Gegenkollektive für die Figurenanalyse unbedeutend. Figurenkollektive müssen hinsichtlich ihrer Untergruppen (Unterkollektive) und ihrerseits ihrer Kollektivzugehörigkeiten untersucht werden. Darstellen lässt sich die Kollektivzugehörigkeit entsprechend mathematischen Modellen der Mengenlehre (vgl. Abb. 13). Dort besteht das Kollektiv der Jünger, die bei Jesus bleiben aus ‚den Zwölf‘ und evtl. weiteren Jüngern, welche als Gegenkollektiv unbestimmter Größe zusammengefasst werden können. Die unbestimmte Größe lässt offen, ob ggf. keine Figuren in diesem Kollektiv enthalten sind – demnach ‚die Zwölf‘ mit den bleibenden Jüngern deckungsgleich wären.
Simon Petrus (impl. 6,67f.) Judas (expl. 6,71)
Gegenkollektiv aus 10 Einzelfiguren
Bleibende Jünger
‚Die Zwölf‘ (impl. 6,66f.)
Gegenkollektiv zu ‚den Zwölf‘ von unbestimmter Größe
Abb. 13: Figurenkollektive in Joh 6,66–71 (ohne die abgewandten Jünger)
Aus der Kollektivzugehörigkeit ergeben sich diverse weitere Untersuchungsbereiche. 1. Inwieweit erweitert die Kollektivzugehörigkeit die Partizipation der Figur a) an Erzählabschnitten und b) an Ereignissen innerhalb der Erzählten Welt? Über Kollektivzugehörigkeit können so Einzelfiguren in Szenen integriert werden, in denen sie nicht eigens benannt werden. So ist Judas fortan bei allen ‚Jünger‘-Nennungen implizit anwesend. In der Analyse werden diese unter ‚Szenen impliziter Anwesenheit‘ zusammengefasst. 2. Wie verhält sich die Figur gegenüber ihrem Kollektiv und welche Rolle nimmt sie (in der Erzählten Welt und in der Leserwahrnehmung) innerhalb von ihm ein?
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Ist sie z. B. besonders dominant oder fungiert als Stellvertreter?199 Sind diese Fragen bereits durch die Analysen der Figurenkonstellation (1.3.4; 1.4.9) abgedeckt, können die Ergebnisse von dort übernommen werden. 3. Wie entwickelt sich die Kollektivzugehörigkeit unter dynamischer Perspektive? Wann wird eine Figur in das Kollektiv integriert? Scheidet sie zu einem gewissen Zeitpunkt wieder aus dem Kollektiv aus? Wie verändert sich das Kollektiv dadurch? Diese Fragen liefern nicht nur Anhaltspunkte für Veränderungen innerhalb der Figurenkonstellation der Erzählten Welt, sondern auch für die Bewertung der Einzelfigur, sofern die Kollektive positiv oder negativ konnotiert sind. 1.4.9 Emotionale Figurenkonstellation Wie auch die soziostrukturelle (1.3.4) erfüllt die emotionale Figurenkonstellation die Funktion, die zwischenfiguralen Beziehungen zu analysieren, um das Setting einer Szene, einer Episode oder der gesamten Erzählung differenzieren zu können und die Einzelfigur in ihren Verbindungen zu sehen. Auf Letzterem liegt hier der Schwerpunkt, weswegen dieses Werkzeug in den Bereich der Darstellung und Lebendigkeit von Figuren fällt. Vieles von dem dort (in 1.3.4) Dargelegten gilt auch hier. Da es bei diesem Werkzeug um die emotionale Gesinnung von Figuren zueinander geht, sind in jedem Fall Wechselwirkungen zu untersuchen. So ist von jeder Figur einer Szene (oder Episode) die Haltung gegenüber einer jeden anderen Figur zu beschreiben. Dabei kann auf die Erkenntnisse aus dem Innenleben der Figuren zurückgegriffen werden. Das Verhältnis kann bspw. beschrieben werden: A hat Angst vor B; B beneidet A; A liebt C; C nimmt A nicht wahr. Die Darstellung wird ebenfalls mit einem Soziogramm vorgenommen. Gefühle sind weit weniger konstant als Rollen. Im Gegensatz zu der soziostrukturellen Konstellation ist deshalb hier der dynamische Aspekt weitaus wichtiger. Zugleich ist das emotionale Verhältnis oft weniger eindeutig. So ist dieses Werkzeug vielfach szenenübergreifend anzuwenden. Dennoch lohnt es, vergleichend zu arbeiten und z. B. die Konstellation am Szenenbeginn der am Szenenende gegenüberzustellen. Lohnenswert ist auch, Ausschnitte zu betrachten. Wenn bspw. zwischen drei Figuren einer Szene die Beziehung einem besonderen Veränderungsprozess ausgesetzt ist, können übrige Figuren ausgeblendet und dafür die emotionalen Änderungen der betroffenen Figuren en detail untersucht werden. Diese Möglichkeit, mehrere ‚Ausschnittssoziogramme‘ der gleichen Figurenkonstellation zu bilden, ist vor allem aus pragmatischen Gesichtspunkten bzgl. der Ergebnisdarstellung hervorzuheben. Übersichtlichkeit und Anschaulichkeit können hier gesteigert werden. Die differenzierten Aussagen zur emotionalen Einstellung zueinander lassen sich auf vier Ebenen klassifi199
Vgl. dazu z. B. Teil III – Petrus: 4.2.
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zieren. Die erste Unterscheidung trennt positiv, neutral und negativ, die zweite zugewandt, abgewandt und ‚weder noch‘, die dritte (optional) zeigt die Intensität des Gefühls (schwach, mäßig, stark) und die vierte (ebenfalls optional) entscheidet über das Machtgefälle (oder im Theaterjargon: den Statusunterschied) mit dominant, ebenbürtig und unterlegen. Letzteres kann mit dem Rollenverhältnis einhergehen, aber auch unabhängig von oder gegenläufig zu diesem sein. Die Kombination aus ‚neutral‘ und ‚weder noch‘ zeigt dabei an, dass kein erkennbares emotionales Verhältnis vorliegt. Lediglich eine positive emotionale Einstellung und ‚Abwendung‘ auf der zweiten Ebene schließen sich gegenseitig aus. So ergibt sich eine Vielzahl von Kombinationsmöglichkeiten (34–1=80). Visualisiert werden kann das Figurenverhältnis durch Pfeile zwischen den Figuren, die durch zusätzliche Zeichen die verschiedenen Ebenen darstellen: z. B. für die Einstellung +, o, - , für den Grad der Zuwendung eine zweite Pfeilspitze in Pfeilrichtung, eine entgegengesetzte oder eine vertikale Linie für ‚weder noch‘, für die Intensität kann die Pfeildicke variiert werden, für das Machtgefälle kann der Pfeil nach oben zeigen, horizontal verlaufen oder nach unten verlaufen. die mit Kreisen mit. Ein Beispiel zur Visualisierung findet sich in Abb. 14, wobei die nicht verwendeten Pfeile auch in der Legende ausgespart wurden. +
Zuwendung
+
Maria
positiv +
‚weder noch‘
Jesus
stark schwach
Abb. 14: Emotionale Figurenkonstellation von Maria und Jesus in 12,1–8
Maria bringt mit ihrer Salbungsgeste in Joh 12 eine Zuwendung zum Ausdruck, da ihre Handlung vollständig auf Jesus ausgerichtet ist. Die positiv konnotierte Salbungshandlung („Duft“, Königsmetaphorik, materieller Wert) weist die Zuwendung als positive aus. Körperlicher und materieller Einsatz kennzeichnen die Emotionen als ‚stark‘. Das Verhältnis von Füßen und Haaren spiegelt die unterlegene Position im Machtgefälle. Um das so beschriebene Gefühl zu benennen, eignen sich ‚hingebungsvoll‘, ‚verfallen‘, ‚umwerbend‘. Diese Interpretationen sind kontextuell zu prüfen. Jesus hingegen wendet sich nur Judas und dem Anwesenden-Kollektiv zu. Ob er sich dadurch von Maria abwendet, ist aber offen, sodass hier ‚weder noch‘ gewählt wurde. Da er Maria verteidigt, ist seine Einstellung aber positiv. Jesu Gefühlsintensität ist kaum zu erkennen. Da sich seine (lediglich verbale) Handlung jedoch primär auf das Verhältnis zwischen Judas und Maria und
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der Bedeutung ihrer Handlung (nicht ihrer Person – Jesus nennt sie nicht einmal) konzentriert, gibt es keine Anzeichen für eine hohe Intensität. Dass Jesus Marias Verteidigung übernimmt, ordnet ihm eine dominierende Position zu. Deutlich wurde an diesem Beispiel, dass Emotionen aus der Interpretation des Erzähltextes gewonnen werden. Die Begründungen der jeweiligen Zuordnungsentscheidungen plausibilisieren eine Steuerung der Wahrnehmung der Erzählten Welt. Das emotionale Figurenverhältnis betont die Beziehungen der Figuren untereinander. So kann Verhalten, welches andere Figuren betrifft, auf dieser Grundlage bewertet werden. Ggf. lassen sich auch Motivationen für bestimmtes Verhalten ableiten. Ein Vergleich mit dem soziostrukturellen Konstellationssoziogramm ist ebenfalls reizvoll. Negative Gefühle oder Abwendung zwischen rollenbedingt nahestehenden Figuren oder positive Emotionen und Zuwendung zwischen rollenbedingten Konfliktfiguren sind dabei besonders spannungsgeladen. Dort ist zu untersuchen, in welchem Verhalten sich Emotionen niederschlagen, ob diese die Rollenvorgabe dominieren oder umgekehrt und wie dieses bewertet wird. 1.4.10 Implizit erschlossene Charaktermerkmale Als vorletztes Werkzeug dieser Kategorie sei das implizite Erschließen von Charaktermerkmalen benannt, welches vielfach unter den Schlagwörtern showing, dramatische Methode oder indirekte Repräsentation vollzogen wird.200 Wie bereits die Ausführungen zum impliziten Einblick in das Innenleben von Figuren (1.4.7) gezeigt haben, ist dabei ein interpretatives Vorgehen notwendig.201 Insgesamt stehen sich diese beiden Werkzeuge recht nahe und fast alle Ergebnisse aus 1.4.7 können zur impliziten Charakterisierung verwendet werden. Entsprechend der Fülle an möglichen Charaktermerkmalen202, die Figuren (ebenso wie Menschen) zugeschrieben werden können 200
Vgl. Resseguie, Criticism, 126 f. I. d. R. schließt showing etc. aber auch weitere Aspekte einer Figur, wie z. B. ihr Innenleben, ein. Beachte die Anmerkungen zu showing in 1.4.4. Vgl. ferner M. Pfisters „implizit-figuralen Charakterisierungstechniken“ durch äußerliche Erscheinung, Mimik, Gestik, Requisiten, Bühnenbild, Verhalten und Sprechhandlungen in Inhalt und Form (ders., Drama, 257–261). 201 Bereits in der Einleitung wurde Lesen als konstruktiver Prozess vorgestellt. (W. Iser spricht deshalb von einer „Beteiligung des Lesers im Text“ (ders., Akt, 314) und von einer „Appellstruktur der Texte“ (ders., Appellstruktur).) Dies ist bei den Figuren im besonderen Maß der Fall. Dabei bedient sich jeder Leser seines eigenen Weltwissens und seiner Vorstellungskraft, welche er ihrerseits aus Erzählungen und Erfahrungen generiert hat und ständig erweitert und modifiziert. „[I]t is clear that in some way we draw upon pre-existing types that we have absorbed from our culture and out of which, guided by the narrative, we mentally synthesize, if not the character, something that stands for the character.” (Abbott, Introduction, 116). 202 Vgl. Jannidis, Figur, 162 f.
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(vgl. 1.4.4), würde jedes algorithmisch formalisierte Vorgehen die Vielfalt einschränken und die Lebendigkeit von Figuren beschneiden. Somit ist sorgfältige Argumentation in diesem Bereich notwendig. James Garveys Rückschlussmethode wird hier aufgegriffen und erweitert.203 Er unterscheidet zwischen physikalischen (äußerlichen) Attributen und psychologischen. Charaktereigenschaften sind als psychologische Attribute aus physikalischen (z. B. Jesu Verhalten im Tempel in 2,15: „und er stieß die Tische um“), aus psychologischen (z. B. 11,5: „Jesus liebte Martha“) oder aus beiden (z. B. sehen die Jünger im nächtlichen Sturm Jesus auf dem Wasser und fürchten sich (6,19)) rückzuschließen. Ersteres Beispiel lässt die Figur aggressiv (Charakterzug) oder aufgebracht (Gefühl) erscheinen, das zweite suggeriert eine emotionale Grundhaltung hinsichtlich einer anderen Figur und das dritte Angst vor übernatürlichen Erscheinungen. In den Bereich der physikalischen Attribute sind auch die assoziierten Gegenstände (1.4.3) einzuordnen. Hinzu kommen die soziale Einordnung der Figur (1.3.4; 1.3.5; 1.4.2; 1.4.8) und die atmosphärisch-situative (1.3). Letztere bietet nicht nur den Rahmen für die Figurenauftritte und -darstellung, sondern kann auch als Spiegel fungieren. Denn alles, was im Kontext einer Figur erwähnt wird, kann diese charakterisieren. Für die meisten Figuren im Joh ist das (physikalische) Verhalten am bedeutsamsten für die Extrahierung von Charaktermerkmalen.204 Demzufolge wird hier auf die Ergebnisse der Analyse der Handlungssubjekte (1.4.5) und der Sprechhandlungen205 (1.5) zurückgegriffen. Die Handlungen müssen – wie auch die Figuren insgesamt (s. o.) – gemäß der situativen Einbettung im Kontext der atmosphärischen (1.3.3), sozialen (1.3.4; 1.3.5; 1.4.9) und – zzgl. – mentalen (1.4.7; 1.4.9; 1.4.6) Gegebenheiten interpretiert werden.206 Bei den Sprechhandlungen kommt besonders der Ausdruck (1.5.6) zur Geltung, da dieser die Art und Weise des Sprechens charakterisiert. Auch eine Dominanz bestimmter Sprechhandlungsklassen (1.2.3; 1.5.3) dient der impliziten Charakterisierung einer Figur, da sie zusammen mit der Verteilung der Rede-
203
Vgl. Garvey, Characterization, 74 f. C. Bode benennt in seiner Romananalyse als „literarästhetisch wirkungsvollste Weise, eine Figur zu charakterisieren […], sie in Aktion zu zeigen“ (ders., Roman, 132). Er betont auch die stärkere Nachhaltigkeit von Charakterzügen, die sich ein Leser „selbst ‚erarbeiten‘ muss“ (ebd.). Insofern ist dieses interpretative Vorgehen gegenüber den expliziten Zuschreibungen keineswegs degradiert. 205 Sprechhandlungen sind nicht eindeutig als physikalische (verbale (klangliche) Äußerung) oder psychologische Attribute (Expression von Gedanken, Einstellungen, Meinungen etc.) einzuordnen. 206 Man beachte, dass die oben genannte (soziale etc.) Einordnung der Figur z. T andere Werkzeuge als die der Handlungen aufgreift. 204
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anteile (vgl. 1.2.2) und den Redeinhalten (1.5.5) das Sprechverhalten einer Figur ausmacht.207 Neben dem Erschließen unbekannter Merkmale kann dieses Werkzeug zu einer Bestätigung oder kontextbezogenen Aktualisierung zugeschriebener Charaktermerkmale (1.4.4) dienen. Im Verhalten spiegelt sich die Auswirkung eines Charakterzuges. Eine Unterscheidung in situative und prinzipielle Merkmale fließt dabei nur begrenzt ein. Eine Figur, deren Angst vom Erzähler zum Ausdruck gebracht wird, ist nicht unbedingt ein ängstlicher Charakter. Charakterzüge werden also immer hinsichtlich der Situation und im Vergleich mit den Reaktionen anderer Figuren betrachtet. Haben viele Figuren angesichts einer bedrohlichen Situation Angst, ist primär die Gefahr betont, nicht die Figur charakterisiert. Dennoch nimmt der Leser zunächst jedes Merkmal, das er vorgeführt bekommt, als prinzipielles an.208 Wird es bei weiteren Auftritten nicht bestätigt, verblasst es in der Charakterisierung, wird es bestätigt, wirkt es verstärkt. Die bereits unter 1.4.7 erwähnte Nähe zwischen Gefühlen und Charaktermerkmalen wird durch diesen Vorgang bestärkt. Insofern lassen sich viele Gefühle nicht trennscharf von Charakterzügen abgrenzen. In einigen Wortfeldern lassen sich sprachliche Unterscheidungen vornehmen. So kann bspw. aus dem Gefühl ‚Trauer‘ der Charakterzug ‚depressiv‘, ‚melancholisch‘ oder ‚niedergeschlagen‘ statt ‚traurig‘ abgeleitet werden, sodass letzteres Adjektiv einen situativ gebundenen und zeitlich beschränkten Zustand angibt. Stärker noch als bei der Interpretation der Figurenemotionen sind bei der des Figurenverhaltens monokausale Schlüsse nur eingeschränkt zulässig. Lediglich bei typisierter Darstellung von Figuren – d. h. eine Figur dient der Verkörperung eines Charakterzuges oder Ideals – sind sie korrekt und stellen damit immer nur eine Deutungsvariante dar. Auf die Möglichkeit der Figurencharakterisierung durch eine Lesart der Atmosphäre, der Zeit- oder Ortsangaben als Spiegel wurde bereits hingewiesen (vgl. 1.3.1–1.3.3). Auch bei diesen sind die Schlussfolgerungen kleinschrittig zu begründen. Die Vielzahl der eingespielten Werkzeuge macht bereits die Komplexität der Charakterisierung deutlich. Wie schon in 1.4.4 werden die implizit erschlossenen Charaktermerkmale gelistet dargelegt. Die Vernetzungen innerhalb dieses Prozesses deuten bereits die Komplexität des Vorgehens an. Für ethisches Urteilen über Charaktermerkmale ist dieser Schritt aber besonders ergiebig, da durch die Konkretisierung in einem Verhalten und die Situierung in konkreten Lebenszusammenhängen (der Erzählten Welt) dieses auf geringer Distanz zum Leser geschieht und somit besonders wirkmächtig ist.209
207
Vgl. zum Sprechverhalten Pfister, Drama, 259. Vgl. Pfister, Drama, 222. 209 Ähnlich urteilt Pfister, Drama, 258. 208
1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse
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Beispielhaft sei die implizite Charakterisierung der Eltern des Blinden aus Joh 9 umrissen (vgl. zur Erzählstruktur 1.2.1).210 Ihr erster und einziger Auftritt211 erfolgt innerhalb einer Konfliktsituation (9,16: ! !' ; 9,18: ! ,! ). Verstärkt wird dies durch die Zeitangabe: Sabbat. Dieser ist bislang stets nur als Konfliktursache genannt worden (5,9–18; 7,22 f.). Diese Spannung und Bedrohung kennzeichnet die Atmosphäre. Die soziale Struktur ordnet sie als Eltern des zuvor Angefeindeten und hierarchisch unter den Dialogpartnern ein (sie kommen der Rechtfertigungsforderung nach und folgen dem „Rufen“; s. u.). Die nach Garvey als physikalisch bezeichneten Eigenschaften lassen sich auf Erleben und Verhalten beschränken, da keine Äußerlichkeiten erwähnt oder Gegenstände zugeordnet werden. Ihre einzige explizite Handlung besteht in einer Figurenrede, die durch vier Verben (dreimal davon ), die Angabe der Motivation und die Wiederholung durch den Erzähler besonders betont wird. Einblick in ihr Innenleben geben sie selbst (Wissen) und der Erzähler (Empfinden). Ersteres ist als Sprechhandlung zunächst mit den Werkzeugen aus 1.5 zu untersuchen. Wegen des dadurch bedingten Umfangs der Analyse werden hier (im Beispiel) nur die Rückschlüsse aus dem implizierten Verhalten dargestellt. Als Objekt des Rufens ‚der Juden‘ fällt dieses Ereignis in den Bereich ihres Erlebens. Die Reaktion auf den Ruf ist ausgespart, aber impliziert, da im Anschluss ein Wortwechsel wiedergegeben wird. Es findet folglich eine Begegnung statt. Da der Erzählfokus in 9,18 f. bei ‚den Juden‘ bleibt (Subjekt) und ‚die Juden‘ die Eltern rufen, anstatt sie aufzusuchen, ändert sich der Handlungsort nach 9,18 nicht. Die Eltern folgen also dem Ruf und begeben sich zu dem Judenkollektiv (implizierte Fortbewegung). Dadurch wird nicht nur die hierarchische Struktur deutlich (s. o.), die Eltern werden auch als höflich, hörig oder autoritätsbewusst gekennzeichnet. In jedem Fall gestehen sie ‚den Juden‘ Autorität zu, die dem eigenen Wollen entspricht oder diesem übergeordnet ist. Als psychisches Attribut ist die Furcht vorm Judenkollektiv ( ? @ 8 :# H , ,#) markant. Von diesem Gefühl auf eine prinzipielle ‚Ängstlichkeit‘ zu schließen, wird durch die Erzählerkommentierung verweigert. Er gibt eine Bedrohung, von der die Eltern (impliziert) wissen, an. Damit werden zwei Größen einander gegenüber gestellt: Die Furcht vor dem Judenkollektiv und dem Synagogenausschluss einerseits und das Zeugnis für die Heilung durch Jesus andererseits. Obwohl erfragt, geben sie letzteres nicht an. Die Furcht ist dominierend. Einer wahrheitsgemäßen Beantwortung der zwei210
Eine dezidierte Analyse dieses Figurenpaares nimmt M. Labahn vor, welcher die Eltern als ängstlich charakterisiert, insgesamt negativ bewertet und mit ihrem Sohn kontrastiert sieht, wodurch Letzterer in seinem furchtlosen Verhalten zum Vorbild wird (vgl. ders., Parents, v. a. 450). 211 Eingeführt sind die Eltern jedoch bereits durch 9,2 f., wo Jesus sündiges Tun der Eltern als Ursache der Blindheit zurückweist.
162
Teil II: Methodologie
ten Frage weichen sie aus. Aus dieser Gegenüberstellung lassen sich die Eltern als vorsichtig (wertneutral) oder feige (negativ konnotiert) charakterisieren. Eine Bewertung wird nicht unmittelbar vollzogen und dem Leser überlassen. Im Kontrast zu ihrem Sohn (9,34) riskieren sie keinen Rauswurf um eines Zeugnisses für Jesus willen. In der Retrospektive trifft die Eltern auch das Urteil aus 12,42 f. (einzige weitere Nennung von !, #): „Sie liebten die Ehre der Menschen mehr als die Ehre Gottes.“ Viel ließe sich hier noch ausführen. Z. B. dass sie die Verantwortung für das Ergehen ihres Sohnes zurückweisen und ihr eigenes Wohlergehen über das ihres Sohnes stellen oder dass in ihrer Sprechhandlung keinerlei Emotion gegenüber ihrem Sohn oder seiner Genesung deutlich wird. Auch dass sie sich nicht mit ihm solidarisieren und an dem Fortlauf der Streitfrage nicht teilhaben, kann in eine Charakterisierung einfließen. Hier werden diese Ansatzpunkte als Analyseanregung unkommentiert belassen. Deutlich wurde im Beispiel, wie in diesem Analyseschritt viele Werkzeuge für die Charakterisierung zusammenspielen. Eine ausführliche Zusammenführung kann hier exemplarisch nicht vollzogen werden, wird aber in der Anwendung geboten (vgl. 2.3). Erst im Abgleich können mögliche Nuancen und bestätigte Merkmale differenziert werden. 1.4.11 Bewertungsschemata Vielfach wurde bereits auf Bewertungen von Figuren, Situationen, Strukturen der Erzählten Welt und Verhaltensweisen hingewiesen. Aber wie vollzieht sich Bewertung innerhalb einer Erzählung?212 Zunächst gibt es allgemeingültige Tendenzen. So ist z. B. der Protagonist einer Erzählung eine gute Orientierungslinie. Egal, ob dieser einen moralisch verwerflichen Charakter hat oder böse handelt: Der Leser nimmt an seinem Ergehen den größten Anteil. So entsteht eine besondere Verbundenheit zu ihm. Figuren oder Strukturen, unter denen der Protagonist leidet oder die ihm schaden, werden so als schlecht eingestuft, wer sich ihm positiv zuwendet oder ihm hilft, ist gut. Damit erzeugt der Protagonist eine Richtschnur für falsches und richtiges Verhalten, für Gut und Böse. Das wichtigste Korrektiv zu der protagonistenorientierten Bewertung ist der Erzähler. Er kann Entitäten oder Handlungen einfach als ‚gut‘ oder ‚böse‘ titulieren. Dabei wird sofort deutlich, dass die Sprache der Schlüssel zu den Bewertungskategorien ist.213 So explizit 212 Die Bewertung von Figuren stellt auch C. Bennema in seiner Figurentheorie des NT an zentrale Stelle. Er unterscheidet dabei innerhalb der Erzählung zwei Berwertungsverfahren, durch die Perspektive des Erzählers (‚point of view‘) und durch den Plot. Daneben stellt er ferner den repräsentativen Wert einer Figur für heutige Leser (vgl. ders., Theory in NT, 90–106). Hier wird durch die Bewertungsschemata noch 213 Mitunter gibt es Erzählungen, die die Bewertungskategorien tauschen, sodass ‚böse‘ als positiv und ‚gut‘ als negativ konnotiert wirkt. Für die biblischen Erzählungen ist dies allerdings nicht der Fall.
1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse
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diese Begriffspaarung ist, so selten tritt sie auf. Wichtiger ist deshalb eine Ausweitung der Wertungswörter und Wertungsausdrücke. Prinzipiell funktionieren nicht nur Adjektive so, sondern auch Substantive und Verben. Diese sind z. T. gesellschaftlich, z. T. durch das Genre bedingt. Der Wolf ist z. B. in Märchen und Fabeln prinzipiell böse. In biblischen Erzählungen ist ‚Gott‘ (als Gott Israels) positiv, ebensolches gilt für ‚Liebe‘. Da ‚Gott‘ eine Figur ist, kann auch diese Figur als prinzipiell ‚gut‘ eingeordnet werden. Auch wenn eine solche Wertung vom Rezipienten hinterfragt und kritisiert werden kann, ist (auch im Joh und dort direkt zu Beginn) durch Gott eine positive Wertungskategorie eingeführt. Ausgehend von solchen Wertungskonstanten entfaltet jede Erzählung ein Netzwerk über das gesamte verwendete Vokabular. Begriffe werden einander zugeordnet und übernehmen so die Bewertung. Bei Verben z. B. sind insbesondere die zugehörigen Subjekte von Bedeutung (vgl. 1.2.5; 1.4.5). Weiterführend sind auch Wortkombinationen oder Inhalte als Wertungsausdrücke positiv oder negativ konnotiert, ohne dass diese explizit als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ bezeichnet werden. Durch 1,1 bspw. (1 # F -# - % I ) % -# F 1 #) überträgt sich die Positivwertung Gottes auf den #. Teilweise werden einzelne Lexeme oder Formulierungen ihren Bewertungen wieder enthoben oder in Relation gesetzt. So ist ‚Liebe‘ im Joh absolut gesetzt zwar positiv, relational verwendet aber von dem Zielpunkt der Liebe abhängig. Die Finsternis zu lieben (3,19) oder die Ehre der Menschen (12,43), ist z. B. negativ. Der Prolog (1,1–18) ist deshalb trotz eines Mangels an anschaulichem Erzählen, seiner eher poetischen Form und z. T. hoher Abstraktion für narrative Ethik als Normierung für Bewertungswörter wichtig. Zugeordnete positiv Bezugsinhalt: positiv Subjekte des – Jesus Wertung vom Bezeugens: – Konkrete Aussagen Einzelfall abhängig meist Jesus, Wortfeld „wahr“ oft Johannes %K (10 mal), vereinzelt Antonym: weitere 5! glaubensweckend (keine eindeuz. B. 1,7; 4,39 tig negativ Erstnennung: 1,7: positiv konnotierten 3 #F % #' , Figuren im Indikativ) ' , *!7 ) 8 ? #I Mit Jesus identifiziert, # ! 6! ! 0 z. B. 8,12 8& Abb. 15: Ausschnitt aus dem Bezugssystem für '
,
J'
,
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Teil II: Methodologie
Ein Bewertungsschema läuft so auf zwei Ebenen. Zum einen wird rein sprachlich ein Wortfeldsystem erstellt, in dem jedes Lexem als positiv, negativ oder wertneutral bzw. ambivalent eingeordnet wird. So kann zunächst eine Wortfeldtafel als Bezugssystem erstellt werden, um die verschiedenen Bezüge eines Lexems aufzuzeigen (vgl. Abb. 15). Die grob gestrichelten Pfeile weisen auf bewertungsrelevante Bezüge, die fein gestrichelten deuten auf andere Lexeme, für die eigene Tafeln erstellt werden müssen und von denen die Wertung abhängig sein kann, die durchgezogenen zeigen vorhandene Bewertungen an. Mit Hilfe einer Bewertungstafel wird die Übertragung der positiven und negativen Konnotationen nachvollzogen. Bezugswörter (inkl. Subjekte und Objekte), Synonyme und Antonyme sind dabei die entscheidenden Signale. Soll die Struktur der Bewertung übersichtlich bleiben, können Pfeile auf das jeweilige Wort oder die jeweiligen Wörter zurückweisen, von dem die Konnotation übertragen wurde (vgl. Abb. 16). Versnennungen an den Pfeilen belegen die Konnotation. Das folgende Beispiel zeigt unter Nennung exemplarischer Versangaben, wie von den Worten ?+# und ! 6 , der Figur Jesus und dem Wortfeld um %*# das Lexem ' , zu einem positiven Wertungswort (zumindest hinsichtlich der Figur Johannes) wird.
! 6
Bezugswort bedingt positiv (20,31)
als Konsequenz 1,7; 19,35
Jesus
Hauptsächliches Handlungssubjekt
positiv, da Protagonist u. v. m.
Positivtendenz
Bezugswort bedingt für Johannes 1,7.34 ; 5,33 etc.
positiv
Bewertungsprüfung: Zeugnis wahr = positiv 5,33; 8,13f.; 21,24
Identifikation 8,12
%K
1,7
positiv (14,6)
positiv (1,1–4)
5C *
1,4
- ?+#
1,4f.; 3,19f. positiv negativ
Abb. 16: Ausschnitt d. Bewertungstafel für '
,
J'
,
5! für d. Figur Johannes
Die gestrichelten Pfeile markieren die Wertungsübertragungen und ggf. deren Bedingung, die durchgezogenen weisen auf die Wertung eines Lexems. In Abb. 16 wird ferner ein Wertungssystem erkennbar, wobei z. B. ?+# und ! als gegenseitige Antonyme Positiv- und Negativwertungen mit sich
1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse
165
tragen. Bei diesen beiden Worten ist sogar die Wertung so stark (d. h. mehrfach und polarisiert ausgedrückt), dass für beide Worte eine rein beschreibende, wertneutrale Verwendung ausscheidet. Ein solches Wortfeldsystem wird vom Leser meist unbewusst übernommen. Dabei vollzieht sich die Aneignung gewöhnlich vorerst nur für die Erzählung. Ein Leser, der es gerne dunkel mag, kann im Joh dennoch Licht als positiv- und Dunkelheit als negativwertendes Signalwort wahrnehmen, ohne diesen Wertungen in anderen Texten oder im eigenen Verständnis zu folgen. Die Wertungswörter ihrerseits zu kritisieren, gebührt der Metabewertung (vgl. 1.6.9). Die zweite Ebene des Bewertungsschemas vollzieht sich anhand des Protagonisten, also im Joh anhand von Jesus. (Auch dies kam im Beispiel bereits zum Ausdruck.) Alles, was Jesus sagt und tut, wird zunächst als richtig beurteilt. Andere Figuren werden anhand ihrer Einstellung zu ihm bewertet.214 Einzelsituationen müssen damit auf ihre Wirkung auf Jesus und anhand der Reaktion Jesu untersucht werden. Hier verläuft die Bewertung nun komplexer als auf der Wortfeldebene, zugleich aber nicht weniger intuitiv. Kritik an Verhalten lässt sich nicht mehr an einzelnen Worten ablesen, sondern muss im Erzählzusammenhang entdeckt und an diesem begründet werden. 1.5 Sprechhandlungen Wurde im vorausgehenden Kapitel bereits oft auf diese Werkzeugkategorie verwiesen, erweist sich die Legitimation ihrer Eigenständigkeit vor allem im Untersuchungsgegenstand. Bei Erzählungen mit geringem Figurenredeanteil genügt eine wesentlich geringer ausgeprägte Analyse der Sprechhandlungen215. Da das Joh zur Hälfte aus Figurenrede besteht, muss dies auch in der Methodik seinen Niederschlag finden. Darüber hinaus ist aber gerade „die sprachliche Kommunikation generell vielleicht der wichtigste Hinweis auf Persönlichkeit und Sozialität“,216 was auch die vielfachen Verweise in Kap. 1.4 begründet. Die im Joh seltene indirekte Rede wird in diesem Kapitel z. T. einbezogen, insbesondere wenn die Abgrenzung nicht eindeutig ist. Da in biblischen Texten keine Unterscheidung anhand von Satzzeichen oder Konjunktivformen möglich ist, bleibt oftmals nur der Wechsel von der 3. in 214
Zahlreiche Autoren erheben die Reaktion auf Jesus gerade zu einer der Prämissen der Figurenanalyse im Joh. Vgl. z. B. Bennema, Encountering, 204–207; Culpepper, Anatomy, 145–148; Dschulnigg, Jesus, 2 f., 320–327. 215 Anstelle von Sprechhandlungen wird in der Fachliteratur z. T. auch von Sprechakten oder Personenrede gesprochen (vgl. Vogt, Aspekte, 144–146). Der gewählte Begriff wird auch von J. Straub benutzt (vgl. ders., Handlung, 34–40 u. ö.). Ohne die Diskussion um illokutionäre Akte (Bedeutung von Äußerungen in ihrem situationsspezifischen Kontext) hier aufzuarbeiten, wird als Sprechhandlung alles bezeichnet, was Figuren sprachlich artikulieren (also insbesondere Figurenrede). 216 Eder, Figur, 262.
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Teil II: Methodologie
die 1. oder 2. Person als Signal.217 Welche Sätze (oder Wörter) zu einer Figurenrede gezählt werden, ist im Zweifelsfall zu begründen. Bei einigen der Werkzeuge können zusätzlich formulierte (aber nicht ausgesprochene) Gedanken gleichsam untersucht werden, z. B. bei der Sprechhandlungsbezogenheit oder den Inhalten; dass bei Gedankengängen bspw. implizite Adressaten oder der sprachliche Ausdruck nicht untersucht werden müssen, versteht sich von selbst. Die Werkzeuge werden in folgender Reihenfolge vorgestellt: von der Situierung und den Bezügen zu anderen Figuren (1.5.1 und 1.5.2) über den Inhalt (1.5.3–1.5.5) zum Ausdruck und der Art und Weise des Sprechens (1.5.6 und 1.5.7). Dass abschließend einige Bemerkungen zur Analyse der Figurenrede von Jesus als eigenes Unterkapitel präsentiert werden (1.5.8), ist nicht nur dem Sachverhalt geschuldet, dass Jesus als Protagonist im Zentrum der Erzählung steht, sondern vor allem der konkreten Erzählung, da im Joh ca. zwei Drittel der Figurenrede und damit ein Drittel des gesamten Evangeliums auf Rede Jesu fällt. 1.5.1 Redeinterne und implizite Adressaten Während die Dialogstruktur (1.2.2) lediglich die Erzählereinführungen betrachtet, konzentrieren sich die Werkzeuge dieser Kategorie auf das Gesprochene selbst. So werden hier die Adressaten aus dem erschlossen, was eine Figur sagt. Die redeinterne Zuordnung ist sehr einfach. Wird eine Person mit Namen oder Titel angesprochen, ist sie der Adressat. Bei Titeln sind theoretisch Mehrdeutigkeiten möglich (im Joh sind sie aber i. d. R. eindeutig zuzuordnen), bei Namen nur, wenn gleichnamige Figuren auftreten. Im Joh ist letzteres abgesehen von Judas nicht der Fall und dessen Name wird von keiner Figur ausgesprochen. Verwendet der Sprechende Personalpronomina in der 2. Person, ist der redeinterne Adressat kontextuell mit einer Einzelfigur oder einem Kollektiv zu identifizieren. Weniger offensichtlich als der Rückschluss aus der Anrede ist der auf die impliziten Adressaten. Diese müssen aus dem Erzählinhalt erschlossen werden. In Frage kommen prinzipiell alle Figuren der Figurenkonfiguration einer Szene. Die Erzählerzuordnung und der redeinterne Adressat können von dem impliziten Adressaten abweichen. Z. B. richtet sich in 11,41 Jesu mit F :# L?% ' :# $ eingeführte Sprechhandlung in der Anrede an ‚den Vater‘. Redeextern wird keine Figur adressiert, aber die angegebene Sprechrichtung (nach oben) entspricht dem redeinternen Adressaten. Implizit aber – zumindest laut Jesu nachfolgender Ausführung – richtet sich Jesus an die Umherstehenden. Sie werden explizit als Sprechmotivation (vgl. 1.5.2) benannt. Somit wird in diesem Schritt be217 Z. T. weisen auch das Fehlen von Konjunktionen (z. B. ) oder Signalwörter, wie Anreden oder Ausrufe (z. B. > ), auf direkte Figurenrede. Zur Wirkung von indirekter Rede vgl. die Anmerkungen in 1.2.2.
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reits die Komplexität von Kommunikationsvorgängen deutlich. Der implizite Adressat ist in einigen Fällen dadurch erkennbar, dass ihm gegenüber von der Sprecherfigur eine Erwartungshaltung deutlich wird. So ist in 11,39b f. neben dem expliziten ( 9 bzw. M) und redeinternen ( 6 bzw. ! ) Adressaten Jesus bzw. Martha die Menge der Menschen implizit angesprochen, die die Öffnung des Grabes erst im Anschluss ausführt – also durch Marthas Einwand aufgehalten und durch Jesu Gegenrede zur Ausführung seines Appells gedrängt. Ferner ist die Relevanz des Inhalts ein Erkennungsmerkmal. Ist dieser für anwesende, nicht explizit oder redeintern adressierte Figuren von Bedeutung, sind diese – quasi als Adressaten des Redeinhalts – zumindest mitadressiert. Im Joh sind die häufigsten impliziten Adressaten wohl die Jünger, für die viele von Jesu Worten wichtig sind, auch wenn er gerade mit den Antagonisten oder mit Einzelfiguren spricht. Dieses Werkzeug steigert die Sensibilität für Sprechhandlungen und erweitert zudem das Feld der Erlebensobjekte und des Figurenerlebens indirekt (siehe dazu 1.4.6). Fehlen in Erzähleinführungen oder redeintern die Adressaten, ist auch die Leseransprache gesteigert; dieser Effekt wirkt noch stärker, wenn es keinen impliziten Adressaten gibt (vgl. 1.6.2). Zur Ergebnispräsentation sind die Gründe für die Benennung der impliziten Adressaten offenzulegen. Die oben exemplarisch für 11,39b–41 genannten Adressaten der Erzählereinführung, der Anrede und des Inhalts können tabellarisch gegenübergestellt werden. 1.5.2 Sprechmotivation und Sprechhandlungsbezogenheit Dieses Werkzeug sucht von der Rede einer Figur ausgehend nach Bezugspunkten im situativen Kontext. Die Frage hinter dem Vorhaben lautet: Warum spricht die Figur, warum ergreift sie das Wort? Da sie ggf. für Inhalt, Bedeutung und Interpretation der gesamten Sprechhandlung maßgeblich ist, ist dies ein unverzichtbarer Analyseschritt.218 Nur in seltenen Fällen gibt der Erzähler im Joh die Motivation (in einer Kommentierung) an, so z. B. bei den Eltern des Sehendgewordenen (9,22 f.: „ 8 = N N“) oder bei Judas’ Einwand gegen die Fußsalbung durch Maria (12,6: „ = O 8 NI 0 N“). Ist eine solche explizite Angabe nicht gegeben, muss die Sprechabsicht aus dem Kontext abgelesen werden. Einfach ist dies, wenn eine Figur zuvor etwas gefragt wurde und dann spricht, um auf diese Frage zu antworten (z. B. die ersten Sprechhandlungen des Sehendgewordenen: 9,11 f.). Manchmal sind Bedürfnisse, Einstellungen oder Emotionen 218 M. Hofmann sieht bei Dramen im Herausarbeiten von „den Zielen der Figuren“ gar die primäre Aufgabe der Analyse von Sprechhandlungen (ders., Drama, 36). Zur umgekehrten Perspektive von Sprechhandlungsbezogenheit, welche aus den Sprechhandlungen Ereignisse in der Erzählten Welt rückschließt, anstelle in den Ereignissen der Erzählten Welt die Sprechmotivation zu suchen, vgl. 1.5.5.
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Teil II: Methodologie
(vgl. 1.4.7) Auslöser für eine Sprechhandlung (z. B. Jesu Entrüstung für 2,16), manchmal das Verhalten anderer Figuren oder Geschehnisse in der Erzählten Welt, welche das Erleben der Figur (vgl. 1.4.6) ausmachen (z. B. das Ängstigen der Jünger für 6,20). Es muss auch in Betracht gezogen werden, dass es mehrere Intentionen und Auslöser gibt, die hierarchisiert oder gleichwertig nebeneinander stehend die Sprechhandlung motivieren. So ist in 2,10 die Sprechhandlung des Speisemeisters einerseits durch die Diener ausgelöst, die ihm den ausgezeichneten Wein zum Kosten bringen (Erleben), andererseits Ausdruck seiner Verwunderung oder Kritik (Gefühl oder Einstellung). Dass das Innenleben i. d. R. an Situationen oder Ereignisse der Erzählten Welt rückgebunden werden kann – und dementsprechend Jesu Appell in 2,16 auch auf Ärger schließen lässt und nicht als emotionslose Reaktion auf 2,14 zu deuten ist – wurde bereits in 1.4.7. betont. In Dialogen beziehen sich die Sprechhandlungen i. d. R. auf die unmittelbar vorausgehende Figurenrede. Dies wird mit dem Begriff ‚Sprechhandlungsbezogenheit‘ ausgedrückt. So ist zu jeder Figurenrede der Auslöser im Text (also im zuvor Erzählten) oder außerhalb des Textes (in implizit Erschlossenem) zu suchen. Letzteres ist notwendig, wenn keine Sprechmotivation erkennbar ist. Dabei kann über Wissen aus der Situation (Atmosphäre, Konstellation, Innenleben) nach Anknüpfungspunkten gesucht werden. Im Beispiel (in 2,16) ist Jesu Ausruf („$ 8 8% I '( = 8 # ' , = ' ,“) zugleich Erklärung für sein zuvor geschildertes Tun (2,15), Reaktion auf die Situation in 2,14 (und das implizite Verhalten der Kollektive ‚Wechsler‘ und ‚Händler‘), Ausdruck seiner Wut und Aufruf zur Verhaltensänderung. Insofern lassen sich dieser Sprechhandlung viele Motivationsursachen zuordnen. Weitere Intentionen können z. B. Provokation (des impliziten Adressatenkollektivs ‚die Juden‘, die der folgende Wortwechsel spiegelt) oder Angst um die Heiligkeit des Tempels sein. Gerade letzteres ist aber wenig plausibel, da Jesu Handlung und die Gedanken der Jünger keinerlei Angst spiegeln. Werden mit diesem Werkzeug formulierte Gedankengänge untersucht, fällt die Frage nach der Motivation für den Gedankengang weg. Einen Bezug herzustellen, kann dennoch erhellend und, gerade weil die Gedanken direkter Teil des Innenlebens (1.4.7) einer Figur sind, bedeutsam sein. In diesem Fall wird der Ausdruck Gedankengangsbezogenheit statt Sprechhandlungsbezogenheit verwendet, da weder gesprochen wird noch Gedanken eine zeitliche Ausdehnung haben, die eine Grundlage für den Begriff Handlung bildet. Wie exemplarisch vorgeführt wurde, sind mögliche Alternativen für Sprechmotivationen und Sprechhandlungsbezogenheit vorzuzustellen und nach Kriterien der Plausibilität abzuwiegen. Plausibilität gewinnen gemutmaßte Sprechmotivationen durch ihre situative Anbindung, verlieren tun sie sie durch Inkongruenzen (in 2,14–17 widersprechen die Betonung des Eifers (C; #) und die gewalttätige Handlung (2,15) der Annahme, Angst oder
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Besorgnis sei Jesu Sprechmotivation). Da Sprechmotivationen sehr vielfältig sein können, ist eine Übersicht nicht möglich. Für die Analyse hier sind diejenigen besonders von Interesse, die durch normierte Verhaltensweisen bedingt sind (indem sie sich z. B. gegen Normverstöße richten), auf eine charakterliche Tugend oder ein solches Laster schließen lassen, Rechtfertigung für das Verhalten anderer fordern, Kritik an diesem üben oder eigenes Verhalten legitimieren. Eine erweiterte Variante der Sprechhandlungsbezogenheit kann auch innerhalb einer Figurenrede nach Anknüpfungspunkten für einzelne Sätze oder Aussagen suchen. So kann die interne oder externe Vernetzung und Anbindung von längeren Figurenreden sichtbar gemacht werden. Jesus nimmt im Joh bei der Erschließung der Sprechmotivationen eine Sonderposition ein. Zum einen hat er durch sein übernatürliches Wissen Absichten, die auf die Zukunft gerichtet sind. Es ist also möglich, dass sich seine Sprechmotivation erst im Gesprächsverlauf – quasi nachträglich – zeigt. Sein Sprechen ist somit z. T. nicht begründet, sondern vielmehr zweckbestimmt – mit dem Unterschied zu anderen Figuren, dass er das sichere Eintreffen des Zieles bereits zum Redebeginn weiß. Außerdem setzt Jesus oftmals eine Rede an, um anwesende Figuren zu lehren bzw. Gottes Botschaft weiterzugeben (vgl. 1,18; 15,15). Diese Absicht muss nicht im einzelnen Kontext jeweils neu begründet werden, sondern darf als stetige Motivationsoption gelten. Die Darstellung der Ergebnisse kann bspw. durch Pfeile im (ggf. um Redeeinführungen und Kommentierungen gekürzten) Fließtext erfolgen. So kann jede Rede auf einen vorausgehenden Satz oder z. T. sogar an ein vorausgehendes Schlagwort angeknüpft werden. Insbesondere in Dialogen wird so ein roter Faden des Gesprächs ersichtlich (und in der erweiterten Variante auch innerhalb längerer Monologe). 1.5.3 Inhaltliche Sprechhandlungsklassifikation Die inhaltliche Sprechhandlungsklassifikation knüpft an die Sprechmotivationen an. Wie schon bei der strukturellen Sprechhandlungsklassifikation (1.2.3) werden alle Aussagen der Figurenrede klassifiziert.219 Demnach kann 219
M. Pfister unterscheidet für Dramen folgende Funktionen von Sprechhandlungen: referentielle (Verweise auf Ereignisse der Erzählten Welt; s. u. Verweis), expressive (Ausdruck des Innenlebens, v. a. eigener Gefühle; vgl. 1.4.7; 1.5.6), appellative (Beeinflussung anderer Figuren; s. u. Appell, vgl. 1.6.2), phatische (Kontakt herstellen – Sprechen um des Sprechens willen), metasprachliche (Aufdeckung verschiedener sprachlicher Codes oder Thematisierung des Sprechens bzw. Theaters) und poetische Funktion (ästhetische, Stilmittel-reiche Formulierungen; vgl. 1.5.7). Er unterscheidet stets die Kommunikationsebene zwischen Figuren und die zwischen Figuren und Rezipienten (ders., Drama, 153–167). Diese verschiedenen Ebenen werden hier, wie angemerkt, unter verschiedenen Werkzeugen behandelt.
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wieder auf den vom Kontext isolierten Redetext der Dialogstruktur (1.2.2) zurückgegriffen werden. Allerdings werden bei diesem Werkzeug nicht die Syntax und die wortartspezifischen Signalwörter untersucht. Stattdessen wird durch den Inhalt – und die Intention (vgl. 1.5.2) – ein jeder Satz (und Halbsatz) in Figurenrede klassifiziert. Die Ergebnisse können parallel zu denen der strukturellen Klassifikation laufen, müssen dies aber nicht. Der geläufigste Fall ist wohl die rhetorische Frage. Eine Figur formuliert eine Frage (strukturell), möchte aber eigentlich eine Aussage treffen (inhaltlich). Folgende Klassifikationen werden vorgeschlagen, wobei die eingerückten Unterkategorien kennzeichnen, die bei Bedarf zugeordnet werden können. Klassifikation Frage Appell – Befehl – Bitte – Einladung
Erkennungsmerkmal/Figurenintention (F. = Figur) F. möchte von einer anderen F. etwas wissen F. möchte eine andere F. zu einem bestimmten Verhalten bewegen F. äußert Appell dominant / aus hierarchisch höher gestellter Position F. äußert Appell devot / aus hierarchisch niedriger gestellter Position F. äußert Appell ebenbürtig / aus hierarchisch gleichgestellter Position – Rechtfertigungs- F. äußert Appell, der zur Verhaltensbegründung auffordert und imforderung plizit Verhalten kritisiert (s. Kritik) Kritik F. bewertet einen Umstand, eine F. oder ein Verhalten Behauptung F. tut eigenes (vermeintliches) Wissen kund – Vergleich F. behauptet einen Wertigkeitsunterschied (vgl. Kritik) – FremdF. behauptet etwas (eine Eigenschaft, eine Einstellung o. ä.) über eine offenbarung220 andere F. – Bekenntnis F. behauptet eine Identität einer anderen F., die diese positiv wertet, sodass Fremd- und Selbstoffenbarung zusammenfallen – Lüge F. behauptet Unwahres (vgl. 1.5.4) – Vermutung F. behauptet etwas, über dessen Wahrheitsgehalt sie ungewiss ist F. behauptet ein zukünftiges Ereignis oder gibt ein Versprechen ab – Verheißung221 Kommentar F. interpretiert ein Ereignis (z. B. eine eigene Sprechhandlung)
220
Der Begriff entspricht in etwa dem des ‚Fremdkommentars‘ bei M. Pfister (vgl. ders., Drama, 251–257). 221 Verheißung wird wertneutral als Klassifikationskategorie verwendet und schließt also auch z. B. ‚Androhungen‘ als negativ konnotierte Voraussage mit ein. Verheißungen tragen ein besonderes Moment von dramatischer Spannung in die Erzählung ein, da der Leser auf ihre Erfüllung oder Widerlegung warten muss (vgl. Hofmann, Drama, 42). Je kürzer er warten muss, desto geringer der Spannungseffekt, vgl. z. B. die Heilung des Blinden (9,3.7) mit Simon Petrus’ Verleugnung (13,37 f.; 18,17.25–27; vgl. Teil III – Petrus: 2.4; 2.6). Innerhalb der possible worlds theory werden der realisierten Erzählten Welt mögliche Erzählte Welten gegenübergestellt, die sich aus den Wünschen, Pflichten und Wissen der Figuren generieren (vgl. Busse, Analyse, 35 f.). Verheißungen generieren als artikulierte Möglichkeiten insbesondere solche possible worlds.
1 Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse Klassifikation Begründung – Legitimation – Einwand Selbstoffenbarung222 – Gefühlsschau Verweis223 Ankündigung
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Erkennungsmerkmal/Figurenintention (F. = Figur) F. will einen Zusammenhang erklären / eine andere F. überzeugen F. begründet eigenes Verhalten oder das anderer Figuren (z. T. mit Offenlegung der Intention) F. begründet, dass eine Behauptung/Begründung nicht stimmt F. gibt Einblick in ihr Innenleben F. offenbart eigene Gefühle F. erinnert an bereits Gesagtes oder weist auf ein Ereignis in der Erzählten Welt hin F. will Nachfolgendes betonen, folgende Aussagen bewerten
Tab. 2: Mögliche inhaltliche Sprechhandlungsklassifikation im Joh
Diese Klassifikation (Tab. 2) ist nicht ausschließlich, sodass eine Aussage bspw. zugleich Kritik und Einwand sein kann. Insbesondere die emotionale Figurenkonstellation (1.4.9) und das Innenleben von Figuren (1.4.7) fließen in dieses Werkzeug ein. Jesu Monologe werden bei diesem Analyseschritt weitgehend ausgeklammert, da sie zu umfangreich und sowohl strukturell als auch intentional zu komplex sind, als dass die reduzierte Begriffsvorgabe hier genügen würde. Die vorgestellten Kategorien wollen eher anregend als begrenzend wirken. Sie können nach Bedarf also erweitert oder modifiziert werden. Aus ethischer Sicht sind vor allem Legitimationen und Rechtfertigungsforderungen besonders interessant. Sie stellen Bewertungsschemata vor und ermöglichen ein Hinterfragen von diesen. Außerdem ist wörtliche Rede, also Figurenrede, prinzipiell wirkmächtig, da sie immer auch den Leser direkt anspricht. Diese Adressatenebene außerhalb der Erzählten Welt kommt insbesondere bei Fragen und Appellen zum Einsatz. Neben den angesprochenen Figuren wird der Leser zur Beantwortung oder Reaktion auf den Appell herausgefordert (vgl. 1.6.2). Als Beispiel sei die Begegnung zwischen dem @ ! # und Jesus in 4,47–50 dargestellt. Dessen erste Sprechhandlung wird in indirekter Rede wiedergegeben. Formal als Frage ( ) eingeführt ergeben die im Anschluss angegebene Sprechmotivation und die Anfrage von bestimmten 222
Dies schließt insbesondere M. Pfisters „Eigenkommentar“ als „explizite Selbstdarstellung“ ein (ders., Drama, 177, 251–253). Den Terminus verwendet auch F. Schulz von Thun, um den Selbstmitteilungsgehalt einer jeden Nachricht in einem Kommunikationsprozess zu benennen (vgl. ders., Miteinander, 14, 26 f. u. ö.). Wenngleich die Entschlüsselung des ‚Selbstoffenbarungsinhalts‘ gewissermaßen an Schulz von Thun anknüpft, ist der Begriff bei diesem Werkzeug doch spezifischer verwendet, indem er zur Abgrenzung von anderen Sprechhandlungen dient. 223 Je dialogdominierter eine Szene, desto größer die Notwendigkeit, dass Verweise in der Figurenrede den Leser informieren. So ist er in Dramen prinzipiell höher als in narrativen Texten (vgl. Pfister, Drama, 168).
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Teil II: Methodologie
Handlungen Jesu einen Appell. Aus der Dringlichkeit der Situation und der Angewiesenheit des @ ! # auf Jesus sowie der Einführung durch 4 kann gefolgert werden, dass es sich bei dem Appell eher um eine Bitte als um eine Einladung oder einen Befehl handelt. Jesu Reaktion ist zunächst die Behauptung eines Zusammenhangs. Da er damit Einblick in das Innenleben u. a. des @ ! # gibt, ist die Sprechhandlung als Fremdoffenbarung zu kennzeichnen. Das Satzende '( ! 6! bringt aufgrund des Bewertungsschemas, nach dem ‚glauben‘ positiv und ‚nicht glauben‘ negativ konnotiert ist (vgl. 1.4.11), zudem eine Kritik zum Ausdruck. Der folgende Appell (Handlungsaufforderung) wird durch die Anrede als demütig eingeordnet und somit erneut eine Bitte. Der Nebensatz bringt nicht nur Dringlichkeit zum Ausdruck, sondern ist zugleich ein Verweis auf eine Situation in der Erzählten Welt. Dem Leser ist diese aus 4,47 bereits bekannt. Da dabei in die Zukunft gewiesen wird, kann der Nebensatz auch als Verheißung eingeordnet werden. Inwiefern Jesu Antwort Bitte, Befehl oder Einladung zum Handeln ist, lässt sich nicht entscheiden – in jedem Fall handelt es sich um einen Appell. Der folgende Verweis auf das Überleben des Sohnes ist präsentisch formuliert. Kontextuell weist er aber in die Zukunft, da nicht nur der aktuelle Zustand, sondern das fortwährende Leben (durch eine Heilung) erbeten war und ist somit als Verheißung einzuordnen. Zudem ist für den @ ! # die Feststellung der Wahrhaftigkeit Jesu Verweises erst in der Zukunft der Erzählten Welt möglich. Darüber hinaus ist 1 ,P # ! , CM eine Begründung, die deutlich macht, warum der @ ! # gehen soll und ihn zu diesem Tun motiviert. Aus ethischer Perspektive kann hier z. B. der zwischenmenschliche Umgang untersucht werden. Der @ ! # begegnet Jesus – ungeachtet seiner mutmaßlichen Position – als Bittsteller, der sich ihm unterordnet. Seine Beharrlichkeit behält sein Anliegen (nämlich die Genesung seines Sohnes) im Fokus, ohne eine Rechtfertigung oder Begründungen auch angesichts Jesu Kritik abzugeben. Dass er damit Erfolg verbuchen kann, spricht für Klarheit und Beharrlichkeit. Jedoch sind bei einer Bewertung auch die Inhalte (vgl. 1.5.5) einzubeziehen. Jesu letzte Aussage vereint Verheißung mit Handlungsaufforderung. Zu untersuchen wäre hier, inwieweit prinzipiell im Joh eher Verheißungen und Zusprüche als Drohungen ein bestimmtes Verhalten beim Gegenüber motivieren. Diese Reihung von Schlaglichtern ausführlich zu entfalten, bleibt den Anwendungskapiteln überlassen. 1.5.4 Wahrheitsgehalt Die inhaltliche Klassifikation der Sprechhandlungen in die Kategorie ‚Behauptung‘ und insbesondere in ‚Lüge‘ deuten auf einen wesentlichen Aspekt
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von Figurenrede hin. Figuren sind nur bedingt zuverlässig.224 Sie können lügen. Zunächst ist also jede Figurenrede mit einer gewissen Skepsis bezüglich des Wahrheitsgehaltes zu betrachten. So ist bei dem gesamten Erschließen von Charakterzügen (1.4.4; 1.4.10) und Innenleben (1.4.7) von Figuren aus Sprechhandlungen Vorsicht geboten. Dennoch nimmt ein Leser zunächst alles Gesprochene als wahr an. Die Sprechmotivationen können vielfach einen Hinweis darauf geben, ob eine Figur die Unwahrheit sagt. Zu unterscheiden sind bewusste und unwissentliche Täuschung. Der Leser kann unwahre Figurenrede daran erkennen, dass a) der Erzähler die Figurenrede durch eine Kommentierung als Lüge entlarvt oder b) der Erzählzusammenhang in der Erzählten Welt die Aussage der Figur widerlegt. Vermuten kann er sie, wenn c) eine Figur eine Täuschungsabsicht verfolgt, d) eine Figur einen Grund hat anwesenden Figuren nicht zu vertrauen, e) sie prinzipiell als unglaubwürdig eingeführt wurde oder f) eine Figur etwas behauptet (vgl. 1.5.3), über das sie nach Wissensstand des Lesers nichts wissen kann. Deutliche Anzeichen für eine Lüge, ohne dass deutlich ist, welche Aussage nicht der Wahrheit entspricht, liegen vor, wenn g) verschiedene Figuren gegenläufige Aussagen treffen oder h) eine Figur in verschiedenen Figurenreden konträre Aussagen trifft. Insgesamt gilt bei Abwägungsfragen (wenn konträre Behauptungen formuliert werden), dass Erzähleraussagen den höchsten Wahrheitsgehalt haben. Innerhalb der Erzählten Welt haben Selbstoffenbarungen (Ich-Aussagen) i. d. R. einen höheren Wahrheitsgehalt als Fremdoffenbarungen (Du- und Er-/Sie-Aussagen), da angenommen werden muss, dass das Figurenwissen über sich selbst höher ist als das über andere (vgl. 1.4.4). Dass sich dies in Simon Petrus’ Sprechhandlungen in 18,17.25 f. nicht bestätigt findet, ist durch die Täuschungsabsicht begründet (c) und durch den Erzählzusammenhang (b) aufgedeckt. Im Joh sind Lügen eher Ausnahmen. Dies hängt damit zusammen, dass überwiegend Jesus spricht. Als personifizierte Wahrheit (14,6) und in Besitz übernatürlichen Wissens (inklusive des Wissens über zukünftige Ereignisse) hat Jesus beinahe den gleichen Stellenwert bzgl. Zuverlässigkeit wie der Erzähler. Somit können seine Fremdoffenbarungen auch die Selbstoffenbarungen anderer Figuren überbieten. Außerdem ist davon auszugehen, dass Jesus nicht lügt. Siehe dazu aber die Ausführungen in 1.5.8. Bei diesem Werkzeug sind nur die Abschnitte von Figurenrede (z. B. farblich) zu markieren, deren Wahrheitsgehalt fragwürdig ist, sowie die, von denen sichergestellt werden kann, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen. Insgesamt sind im Joh davon wenige Sätze betroffen. Aus ethischer Perspektive ist dieses Thema natürlich sehr interessant. Der Umgang mit Lüge und 224 Prinzipiell ist auch der Erzähler nur bedingt zuverlässig. Da aber das Konzept des unzuverlässigen Erzählens in biblischen Erzählungen m. E. nicht vorkommt, ist dies für das Joh nicht weiter zu berücksichtigen (vgl. Teil I – Einleitung: 1.2).
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Teil II: Methodologie
der Wert von wahrem Sprechen werden aber anhand der Analyse des Erzähltextes selbst und nicht in einer metaethischen Reflexion über den Methodenschritt vorgenommen.225 1.5.5 Inhalte Nach der schematischen Einteilung der Inhalte sollen diese noch im Einzelnen untersucht werden. Anknüpfend an die Sprechhandlungsbezogenheit (1.5.2) sind v. a. Themenkomplexe herauszuarbeiten, die den Gesprächsgegenstand ausmachen. Dafür sind die Lexemhäufungen auf der vierten Ebene (vgl. 1.3.6) hilfreich. Wortfelder, aus denen viele Lexeme stammen, sind geeignet, um als Gesprächsthema226 aufgenommen zu werden. Dabei kann über die Nennung eines Stichwortes hinausgegriffen und eine inhaltliche Aussage formuliert werden (z. B. statt ‚Hochzeit‘: ‚Johannes’ Hochzeitsfreude über Jesu Reden‘ (3,29 f.); statt ‚Tempel‘: ‚Dauer von Abriss und Aufbau des Tempels‘ (2,19 f.)). Die Beispiele veranschaulichen bereits das Vorgehen. Mehrere Sätze werden auf Gemeinsamkeiten (Lexemhäufungen, vgl. 1.3.6) überprüft. Diese werden in ihrem Kontext verortet und die entstehenden Aussagen werden abstrahiert. Die Aussagen sind so zu formulieren, dass sie als Themenwiedergabe der betroffenen Figurenreden fungieren. Dabei reihen sich die Themen nicht trennscharf aneinander. Oft werden mehrere Themen (z. T. auf mehreren Gesprächsebenen) gleichzeitig, ineinander verschachtelt oder zumindest mit Überschneidungen beim Wechsel besprochen. So ist ggf. auch die Sprechhandlung zu gliedern und nach Strukturierungsmerkmalen (Parallelismen, Chiasmen, Wechsel von Subjekten oder Objekten, Tempus, Modus oder Klassifikation der Verben etc.) zu suchen. Lässt sich dabei ein Thema ausschließlich in den Sprechhandlungen einer Figur verorten, dient es zugleich der Charakterisierung der Figur und kennzeichnet einen für sie bedeutsamen Inhalt.227 Neben der Zuordnung der Gesprächsthemen geht es bei diesem Werkzeug auch um die Erschließung der Einzelinhalte. Ein Spezialfall ist der Rückschluss auf Ereignisse und insbesondere Figurenverhalten in der Erzählten Welt228 – zugleich die Gegenperspektive zur Sprechhandlungsbezogenheit (vgl. 1.5.2). Ist bei dramatischen Texten durch die Visualisierung des Geschehens auf der Bühne bei jeder Inszenierung zu erfragen, in welchem Ver225
Siehe Teil III – Petrus: 5.3; Teil IV – Samaritische Frau: 5.3. Die Begriffe ‚Gesprächsgegenstand‘ und ‚Gesprächsthema‘ setzen nicht notwendigerweise einen Dialog voraus. Auch in Monologen (v. a. in Figurenrede Jesu) können die Inhalte als ‚Gesprächsthema‘ bezeichnet werden, wenngleich keine weitere Figur das Thema bespricht. 227 Vgl. Pfister, Drama, 179. 228 Insofern gesteht auch H. Bonheim, welcher Figurenrede als ‚ohne Raumaspekt‘ einordnet, dieser doch eine räumliche Komponente zu (vgl. ders., Modes, 12 f.). 226
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hältnis Ereignisse und Verhalten auf der Bühne zu dem Gesprochenen stehen,229 geraten in narrativen Texten solche Rückschlüsse nur in den Fokus, wenn direkt auf Verhalten und Ereignisse Bezug genommen wird. So legen z. B. Appelle, Legitimationen und Ankündigungen (vgl. 1.5.3) eine folgende oder vorausgehende Handlung nahe. Erfolgt diese nicht (in Erzählerrede expliziert), ergeben sich Leerstellen. Bspw. wird die Frage, ob die samaritische Frau (4,7 ff.) Jesus Trinken gibt, unterschiedlich beantwortet.230 Hingegen wird in 11,44 i. d. R. davon ausgegangen, dass Lazarus (von den Binden) befreit wird. Durch solches Vorgehen kann auf Geschehnisse und Figurenverhalten der Erzählten Welt rückgeschlossen werden, welches zunächst nur die Ereignismenge der Erzählten Welt anreichert, aber darauf aufbauend zu Bewertungen und Charakterisierungen von Figuren führen kann (z. B. ist die samaritische Frau als gehorsam, zugewandt oder hilfsbereit charakterisierbar und dadurch positiv bewertet, sofern sie Jesus etwas zu trinken gibt). Solch ein Vorgehen birgt durch die zwangsläufige Leserbeteiligung von Leerstellen aber immer eine gewisse Unsicherheit. Weitere Einzelinhalte können dadurch erschlossen werden, dass abgegrenzt wird, was eine Figur nicht sagt. Hilfreich für eine Bewusstmachung ist folgender Schritt: Nach dem Lesen der Figurenrede (z. B. der Dialogstruktur entnommen) wird diese ohne stetigen Abgleich mit dem Text in eigenen Worten nacherzählt. Bei einem anschließenden Vergleich mit dem Original werden Abweichungen deutlich. Im Anschluss an die inhaltliche Sprechhandlungsklassifikation (1.5.3) werden die Aussagen, die eine Figur über sich selbst, über andere Figuren, über Gegenstände und über Themen macht, der chronologischen Abfolge enthoben und sortiert. Sofern alles Gesagte als ‚wahr‘, d. h. den Sachverhalten in der Erzählten Welt entsprechend, eingestuft wurde (1.5.4), lässt es Rückschlüsse auf die Meinungen und das Innenleben der Figur insgesamt (z. B. Argumentationsstrukturen, Wissen und Einstellungen) zu (1.4.7). Behauptungen mit zweifelhaftem (oder sogar abgestrittenem) Wahrheitsgehalt lassen, sofern keine Täuschungsabsicht erkennbar ist (vgl. 1.5.3 und 1.5.4), ebenfalls auf Meinungen, vermeintliches Wissen und Einstellungen schließen. Diese unterliegen aber bereits der Erzählerbewertung. In ihrer Allgemeingültigkeit und Glaubwürdigkeit eingeschränkt sind sie abgewertet. Eine ethische Analyse des Inhalts von Figurenrede kann aus den erschlossenen Gesprächsinhaltsaussagen ethische Themen extrahieren und diese auf Bewertung oder Positionierung in den Figurenreden untersuchen. Fällt z. B. 229 Dazu stellt M. Pfister Identität, Bezogenheit und Unbezogenheit von Rede und Handlung gegenüber (vgl. ders., Drama, 169–171). Ferner differenziert er in aktionale und nicht-aktionale Monologe, wobei erstere v. a. Handlungsentscheidungen einer Figur als eigenes Geschehen meinen (a. a. O. 190 f.). 230 Vgl. dazu Teil IV – Samaritische Frau: 2.1.
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der Begriff ‚Familie‘, werden die einzelnen Figurenreden daraufhin untersucht, ob sie Familie als Wert verstehen, ob er positiv oder negativ konnotiert ist und ob bestimmtes Verhalten an den Begriff gebunden wird. So können durch die Figuren Begriffsreflexionen vollzogen werden. 1.5.6 Ausdruck Das sechste Werkzeug dieser Kategorie ist wesentlich vom Kommunikationsvorgang von Erzählungen inspiriert – vom Vorlesen oder szenischem (filmischen) Darstellen eines Erzähltextes. Es bezieht sich auf die Art und Weise, in der Sprechhandlungen geäußert werden. Was direkte oder wörtliche Rede ausdrückt, ist in Kommunikationsvorgängen nur zu einem geringen Anteil von den tatsächlich gesagten Worten abhängig.231 Insofern ist Figurenrede in Erzähltexten gewissermaßen in seiner Kommunikation beschnitten. Jeglicher übersprachlicher (paralinguistischer) Ausdruck ist im erzählten Text verloren. Moderne Romane und Erzählungen geben diesen vielfach (durch Erzählereinführungen, -erklärungen, Interpunktion oder orthografische Anpassung an die Phonetik) an, in biblischen Texten fehlt er aber bis auf wenige Ausnahmen. Unter übersprachlichem Ausdruck sind Lautstäke, Artikulation, Betonungen, Atempausen, Heben und Senken der Stimme z. B. um Ironie oder Zitate anzuzeigen, das Imitieren von anderen Figuren, insgesamt Mimik und Gestik sowie charaktertypische Merkmale wie Sprechfehler zusammengefasst. Nur der Erzähler hat die Möglichkeit, diese Aspekte von Sprechhandlungen in die Erzählung einzutragen, da seine Stimme die einzige in der Kommunikationssituation mit dem Rezipienten ist. In biblischen Texten tut er das selten und i. d. R. lediglich durch die Redeeinführungen. Beim Vorlesen oder Inszenieren von Figurenrede in Erzähltexten fällt dieser Mangel an übersprachlichem Ausdruck auf. Je nach Lesart von Dialogen lesen sich Szenen sehr unterschiedlich. Die Reduktion auf die gesprochenen Worte ist aber auch ein Gewinn. So entsteht eine große Deutungsvielfalt. Insbesondere Ironie ist schwer zu fassen.232 So klingt Nikodemus’ huldigende Begrüßung (3,2) ironisch gelesen nach Spott und Hohn, was für seine Charakterisierung und Entwicklung sowie Jesu Verhalten gegenüber ihm von großer Bedeutung ist. Dieses Werkzeug dient primär der Erfassung des Ausdruckes, sofern er aus der Erzählung ableitbar ist. Sekundär werden mögliche Ausdrucksformen mit ihren Subbotschaften in den Blick genommen. Letzteres ist insbesondere für 231
Vgl. Eder, Figur, 263–265; zum Ausdruck prinzipiell Pfister, Drama, 178 f. Zur dramatischen Ironie (also primär nicht in Figurenrede, sondern in der Darstellung durch den Erzähler) im Joh vgl. z. B. Culpepper, Anatomy, 165–180; Scholtissek, Ironie. Dramatische und verbale Ironie im Joh behandelt J. L. Resseguie, wobei sein Schwerpunkt ebenfalls auf ersterer liegt (vgl. ders., Gospel, 28–41). Monografisch hat sich P. D. Duke diesem Thema gewidmet (vgl. ders., Irony). Zur verbalen Ironie vgl. a. a. O. v. a. 21–23, 45–53. 232
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die Präsentation von Erzählungen ein wichtiges Instrument. Für die Analyse liegt der Zweck in einer Auffächerung von möglichen Verständnishorizonten eines Gesprächs. Ggf. sind Figuren auch durch ihren Ausdruck charakterisiert. Prinzipiell lassen sich Figurenmerkmale aus einem bestimmten stilistischen Ausdruck (berufliche Fachsprache, Sprachniveau, Dialekte etc.) ableiten. In biblischen Erzählungen ist dies aber i. d. R. nicht möglich, da der sprachliche Duktus verschiedener Figuren weitgehend übereinstimmt. Die Erfassung des Ausdruckes kann zunächst aus den Erzähleinführungen abgeleitet werden. Da diese im Joh sehr sparsam gestreut sind (z. B. 6,41: murren; 9,28: schmähen; 19,6: schreien), ist die Rückführung aus den Sprechhandlungen selbst umso wichtiger. Im Einzelfall muss diese dargelegt und begründet werden, sodass eine pauschale Kategorisierung hier nicht geboten werden kann. Einige Beispiele sollen jedoch verdeutlichen, wie dieses Vorgehen funktioniert. Werden ultimative Aussagen durch Wörter wie ‚immer‘ oder ‚nie‘ (oder markant im Joh ‚in Ewigkeit‘) getätigt, ist der Ausdruck emphatisch und mit besonderer Vehemenz versehen. Wird eine Aussage wiederholt oder durch eine Ankündigung (vgl. 1.5.3) vorbereitet, ist sie besonders betont. Der Ausdruck ist dann in Entsprechung zu dem Inhalt zu sehen. Wird ein Witz gemacht (kommt im Joh m. E. nicht vor), ist der Ausdruck kokettierend oder ironisch, wird eine wichtige Information weitergegeben, ist er ernsthaft, wird eine Bedrohung formuliert, ist er aggressiv. Insbesondere Anteile der Figurenrede, die keinen eigenen, notwendigen Inhalt ausdrücken, sind also Signale. Z. T. kann man auch von Charaktermerkmalen oder der emotionalen Figurenkonstellation auf den Ausdruck schließen. Oft bleiben aber mehrere Lesarten möglich. So kann eine Frage nach Befinden einer Schmerzen leidenden Figur höhnisch oder besorgt sein, ein Appell wie „Kommt und ihr werdet sehen!“ (1,39) befehlend, einladend, bittend oder geheimnisvoll. Zu letzterem Beispiel kann weiter differenziert werden: Negative Lesarten (wie eine Drohung) sind durch den Sprecher der Rede (Jesus) und die bereits bestehende Nachfolgesituation, die im Appell („Kommt!“) wieder aufgenommen wird, ausgeschlossen. Zwei Signale sprechen für den einladenden Ausdruck – gegenüber dem befehlenden oder bittenden: die Kombination aus Imperativ und Verheißung und die dialogstrukturbedingte Einordnung als Antwort. Trotz dieser Hinweise bleibt aber der geheimnisvolle Ausdruck ebenso möglich und kann ähnlich plausibilisiert werden. Eine besondere Vielfalt möglichen Ausdrucks von Figurenrede findet sich u. a. in 4,17a.233
233
Vgl. dazu Teil IV – Samaritische Frau: 2.1.
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1.5.7 Mehrdeutigkeit und Bildsprache Mehrdeutigkeit liegt nicht nur im mutmaßlichen Ausdruck von Sprechhandlungen begründet, sondern auch im Inhalt selbst. Dies liegt an der Möglichkeit, auf mehreren Ebenen gleichzeitig kommunizieren zu können.234 Bereits der Ausdruck ‚Mehrdeutigkeit‘ – im Gegensatz zu ‚Uneindeutigkeit‘ – hebt das positive Verständnis hervor, das im Anschluss an Aristoteles sogar Kennzeichen guter Dichtkunst ist.235 Eine offensichtliche Möglichkeit mehrdeutiger Ausdrucksweise ist die Verwendung von Bildsprache und Metaphern. Diese ist im Joh besonders reichhaltig.236 Sie setzt bereits im Prolog ein. (In 1,8 ist als erster Beleg die Metaphorizität von ‚Licht‘ (?+#) aufgedeckt. In der Retrospektive (1,14) erweist sich auch die Rede vom # (1,1) als metaphorisch, wobei bereits die Nähe zu (F -# - % ) und die Identifikation mit Gott dies nahelegen.) So wird der Leser auf diese bildlichen Kommunikationsebenen von Anfang an vorbereitet, die allen Figuren voran Jesus in seiner Rede fortführt. Eine vollständige oder umfassende Untersuchung der Bildsprache im Joh kann im Rahmen einer Figurenanalyse nicht geleistet werden. Bei der Analyse der Sprechhandlungen geht es um Folgende vier Aufgaben: die verschiedenen Ebenen aufweisen, das Hörverhalten der Dialogpartner darlegen (und v. a. auf welcher Ebene sie das Gesagte verstehen), Deutungsvorschläge für die Bilder zu machen, die sich im Gespräch entfalten oder weitere Horizonte in das Gespräch eintragen (welche sich dem Leser, aber nicht unbedingt den Figuren zeigen) sowie Bewertungen aufzeigen, die mit entsprechenden Bildern und Metaphern einhergehen. Zum Vorgehen wird hier folgende Bearbeitungsreihenfolge vorgeschlagen: Zunächst werden innerhalb eines Dialogs (vgl. 1.2.2 Dialogstruktur) alle sprachlichen (ausdrucksunabhängigen, vgl. 1.5.6) Mehrdeutigkeiten und Bilder benannt. Für jede Metapher einzeln werden mögliche Sinnebenen aufgefächert und dazu Vergleichspunkte aufgeführt. In 3,26–36 sind z. B. 8 8, das Bild vom Bräutigam (V. 29), der Zuwachs-Vergleich (V. 30), 1 $ % ' #, 1 Q ;# ;# und 1 8 8 234 Kommunikationstheoretiker sprechen von mehreren Dimensionen von jeweils ein und derselben sprachlichen Äußerung: „Gegenstände und Sachverhalte darstellen, ihre Einstellung zum Gemeinten kundgeben und an die Adressaten appellieren, in ihnen ein inneres oder äusseres Verhalten auslösen.“ (Horn, Theorie, 14; vgl. Bühler, Sprachtheorie, 24–33). Zudem sei hier auf das Standardmodell innerhalb der Kommunikationstheorie von F. Schulz von Thun verwiesen, der als vier Ebenen jeder Nachricht den Sachinhalt, die Selbstoffenbarung, die Beziehung (zwischen den Kommunizierenden) und den Appell ausmacht (vgl. ders., Miteinander, zur Übersicht des Modells: a. a. O. 13–16). 235 Vgl. Bauer, Romantheorie, 15; Aristot. poet., 1457b–1458b. 236 Vgl. Zimmermann, Christologie, 86. Verwiesen sei exemplarisch auf den Sammelband ‚Imagery in the Gospel of John‘ (Frey/van der Watt/Zimmermann (Hgg.)) und R. Zimmermanns ober genannte Habilitationsschrift ‚Christologie der Bilder im Johannesevangelium‘.
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' #, der „ohne Maß“ gegebene Geist und 2E C * aufzulisten. Exemplarisch sei hier der Zuwachsvergleich aufgefächert. Prägnant formuliert Johannes (3,30): R I 'O O 8!% & Die beiden kontrastierten Verben sind insofern als Bild anzusehen, als sie sich hier auf Figuren beziehen. Es ist damit also keine Menge und wohl auch nicht die körperliche Ausdehnung gemeint. Damit ist der mit dem Kontrast gemeinte Aspekt der Figur mehrdeutig. Naheliegend ist eine Übertragung auf die Bedeutung der Figuren, ebenso sind aber konkretere Handlungen wie Tauftätigkeit, Jüngergewinnung oder Lehrtätigkeit möglich. Auch die räumliche Ausdehnung des Wirkungsgebietes (Ortsnennungen in 3,2 f.26) ist denkbar. Als möglicher bildspendender Bereich ist von R Natur und/oder Landwirtschaft zu nennen, wodurch die von Johannes als notwendig erklärte Änderung ( ) als natürlicher Prozess erscheint. Durch die Gegenüberstellung mit wird ein Gleichgewichtsbild erzeugt, sodass Johannes’ Geringer-Werden als eine Ausgleichsnotwendigkeit erscheint. Auf einen bildspendenden Bereich (z. B. Abwiegen von Waren) lässt sich dies aber nicht verengen. Angemerkt sei noch, dass innerhalb des Joh 1 8 8 ' # nach 6,38–51 (u. ö.) als eindeutige Chiffre für Jesus betrachtet werden kann. Innerhalb der Szene bleibt die Identifizierung mit Jesus jedoch aus und damit der semantische Gehalt des ‚Kommens vom Himmel‘ als Bild von Bedeutung. Trennscharfe Gattungsunterscheidungen zwischen Vergleich und Symbol, Metapher und Metonymie, Allegorie und Parabel etc. können bei diesem Schritt ausgespart werden.237 So sei insgesamt von Bildern oder metaphorischer Sprache die Rede. Der Ausdruck ‚Bild‘ impliziert dabei stärker als ‚Metapher‘ eine visuelle Vorstellungsmöglichkeit – dennoch können beide synonym eingesetzt werden. Eine Untersuchung der Arten von Bildsprache (z. B. eine Vorliebe für Vergleiche oder Rückgriff auf einen bestimmten bildspendenden Bereich) kann für Figurencharakterisierung verwendet werden.238 An der hiesigen Beispielfigur Johannes exemplifiziert: Zusammen mit den Metaphern ‚Taube‘ und ‚Lamm‘ (1,29–36) weist R in der Figurenrede von Johannes auf eine Affinität zur Natur. Die mehrfache Gegenüberstellung mit Jesus (1,15.26 u. ö.) rückt sein Selbstverständnis in völlige Abhängigkeit zu diesem. Treten mehrere Metaphern in einem Gespräch auf, werden diese auf die Konsistenz bezüglich der Sinnebene befragt. Ebenfalls über die Ein237 Vgl. auch Zimmermann, Christologie, 74–87. Vgl. ferner R. Zimmermanns vehementes Plädoyer gegen verengende Gattungsbestimmungen in der Gleichnishermeneutik (vgl. ders., Parabeln). 238 Vgl. zu Wirkungen von Bildsprache in Figurenrede auch M. Pfisters Ausführungen zum figurativen Sprechen, welcher neben den rhetorischen Funktionen der Ausschmückung, Veranschaulichung und Nachdruck auch Figurencharakterisierung, sprachliche Schaffung eines Raums, Themeneinspielung, Integration durch parallele Bilder und Spannungserzeugung nennt (vgl. ders., Drama, 216–219).
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zelmetapher hinaus wird untersucht, inwieweit Gesprächspartner die verschiedenen Sinnebenen (wörtliche und übertragene) erfassen. Sofern keine Antwort auf eine metaphorische Rede ergeht, keine andere Reaktion geschildert wird, die sprechende Figur nicht selbst auf fehlendes oder vorhandenes Verständnis hinweist und der Erzähler keinen Einblick in das Verständnis der Dialogpartner gewährt, entfällt diese Bilddeutung innerhalb der Erzählten Welt (so im hiesigen Beispiel 3,26–36). Abschließend werden die Bilder noch auf Bewertungen untersucht. Stellen sie einen Sachverhalt eher positiv oder negativ dar? Übertreiben oder relativieren sie? Dazu können insbesondere die Bewertungsschemata aus 1.4.11 herangezogen werden. Das Bild vom Bräutigam und dessen Freund ist z. B. deutlich positiv gefärbt (5 ) ebenso wie der Rückgriff auf das Wachstum, wodurch das eigene Geringer-Werden ebenfalls positiv eingeordnet wird. Eine eigene Metabewertung der Metaphern als gut oder gelungen (z. B. gemäß dem aristotelischen Kriterium der Praxisnähe239) wird nicht vorgenommen. Metaphern sind besonders geeignet, um Bewertungen subtil einzubinden. Gerade bildhafte Sprache hat hohen Anschauungs- und Erlebnisgehalt, ruft negative oder positive Assoziationen beim Leser wach. So wird das Verstehen sowohl in der Erzählten Welt als auch beim Leser emotional gefärbt. Auf der Metaebene lässt sich sogar die ganze Erzählung als Bild betrachten, das den Leser anregt und einnimmt, um ihm Inhalte und Werte, Theologie und Ethik ganzheitlich zu vermitteln. Solche Überlegungen gehen allerdings über die Untersuchung der Sprechhandlungen hinaus. 1.5.8 Rede Jesu Jesu Rede nimmt ungefähr ein Drittel des gesamten Evangeliumstextes – und damit der Erzählzeit – ein.240 Dadurch sind in der Mehrheit der Szenen seine Sprechhandlungen zu untersuchen. Nimmt eine einzelne Figur solch eine große Rolle ein, lohnt die Fokussierung, da sich alle anderen Figuren gewissermaßen im Vergleich zu dieser präsentieren. So werden hier noch einmal die angesprochenen Bereiche zusammengefasst. Damit ist hier kein ‚Werkzeug‘ im eigentlichen Sinne vorgestellt, sondern eher ein ‚Werkzeugaufsatz‘, der die Untersuchung der Sprechhandlungen für eine Figur kanalisiert. Da Jesus als von Gott gesandt und personifizierte Wahrheit dargestellt wird, sind all seine Aussagen besonders an den Leser gerichtet. Dies trifft vor
239
Vgl. Bauer, Romantheorie, 15. Für das antike Drama bemerkt M. Hofmann, dass derartige „extrem lange“ Figurenreden nicht unüblich sind (ders., Drama, 35). Aus moderner Perspektive entsteht beim Lesen so m. E. der Eindruck von „Monotonie […], die immer droht, wenn allzulange Personenreden den Erzähler verstummen lassen“ (Vogt, Aspekte, 156). 240
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allem für seine Monologe241 zu und für Sprechhandlungen, in denen explizite (und implizite) Adressaten fehlen (vgl. 1.6.2). Seine Sprechmotivation ist durch seine Allwissenheit, die auch die Zukunft einschließt, besonders schwierig erschließbar. Seine Absichten entpuppen sich z. T. erst im Gesprächsverlauf und müssen aus der Retrospektive stets neu erwogen werden, da er ggf. bestimmte Aussagen nur in Erwartung der entsprechenden Reaktion getätigt hat (vgl. 1.5.2). Bei einem derart hohen Redeanteil sind auch die inhaltlichen Klassifikationen einzelner Aussagen stärker zu differenzieren. Dennoch kann eine erste Einteilung bereits Argumentationsstrukturen aufdecken. Da weder Jesus als Einzelfigur im Zentrum dieser Arbeit steht noch seine Monologe umfassend analysiert werden, sei hier nur auf die Möglichkeit verwiesen, weitere Klassifikationen, wie z. B. Folgerungen, mit denen eine Figur aus einer Behauptung eine andere ableitet, einzuführen. Darf der Wahrheitsgehalt von Figurenrede im Joh prinzipiell hoch angesetzt werden, gilt dies für Jesu Rede besonders. Zentral für diese These ist das absolute Wissen, welches Jesu zugestanden wird (2,25; 4,18; 6,61.64; 9,3; 11,4.11; 13,1.3.21.26.38; 16,30; 18,4; 21,17 u. ö.). Damit sind alle Aussagen Jesu dem Status einer Vermutung enthoben. So spricht er entweder die Wahrheit oder lügt bewusst. Letzteres wird aber ausgeschlossen. Zum einen wird Jesus mit der Wahrheit als Abstraktum identifiziert (1,17; vgl. 14,6). Zum anderen wird sein wahrhaftiges Zeugnisgeben mehrfach thematisiert (5,31–37; 8,13–18; 16,7; 18,37). Dort wird auch der von Gott gesandte Johannes als Zeuge eingesetzt. In diesem Kontext muss vor allem Jesu Falschaussage gegenüber seinen Brüdern diskutiert werden (7,8.10). Dort gibt Jesus vor, nicht zum Fest gehen zu wollen, handelt aber entgegengesetzt. Inwieweit dort die Wahrhaftigkeit von Jesu Reden geschmälert wird oder wie diese Aussage zu bewerten ist, wird in Teil III (Petrus) in 5.3 ausgeführt. Bedeutend ist zumindest, dass die Wahrhaftigkeit Jesu nicht das Verschweigen von Inhalten unterbindet. Dies ist aber nicht mehr unmittelbar Thema der Sprechhandlungen Jesu. Da Jesu Wissen auch die Zukunft einschließt, sind seine Prophezeiungen als „mantische Vorausdeutung“242, die in der Erzählten Welt bindend gültig sind, einzustufen. Die Inhalte der Rede Jesu skizzieren zu wollen, muss schon an der Textmenge scheitern. So werden sie hier nicht einmal umrissen. Wichtig ist aber, dass seine Sprechhandlungen eine Fülle an Wertungsvokabular und 241
Monologe sind inhaltlich geschlossene, längere, unterbrechungsfreie Sprechhandlungen. Über die Anwesenheit anderer Figuren lässt der Ausdruck ‚Monolog‘ keine Rückschlüsse zu. Vgl. Kap. 1.2.1. 242 Hofmann, Drama, 42. „Zukunftsgewisse Vorausdeutungen“, wie Jesus sie trifft, bestreitet J. Vogt für Figuren im Roman (ders., Aspekte, 125). In biblischen Erzählungen ist Vogts Urteil nur eingeschränkt gültig. Prinzipiell wird Gott (und davon ausgehend auch seinen Engeln, Priestern, Propheten und insbesondere Jesus) die Möglichkeit des Wissens um die Zukunft zugestanden, unterliegt aber dennoch z. T. einer gewissen Unbeständigkeit (vgl. z. B. Jona 3,10; evtl. auch Joh 7,8.10).
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Lexemkonnotationen enthalten. So werden bspw. die in den Ich-bin-Worten verwendeten Substantive durch ihre Identifikation mit ihm positiv belegt. Ähnliches wie für die Inhalte gilt auch für Jesu Ausdruck. Die Vielfalt möglicher Obertöne ist enorm. Insgesamt sind seine Sprechhandlungen überwiegend wenig persönlich. Sein Kundtun eines übernatürlichen Wissens und seine 4 ' -Aussagen lassen auf einen würdevollen oder gar distanziertarroganten Ausdruck schließen. Dieser Eindruck entsteht vor allem durch die Duldung von Kritik in der Erzählten Welt. Für jede Situation kennt Jesus bessere Interpretationsmöglichkeiten als seine Gegenüber und vielfach weist er andere Figuren auf Fehlverhalten und -annahmen hin. Er selbst bleibt auf übernatürliche Weise von den Ereignissen der Erzählten Welt unberührt. Selbst das Benennen von Bedürfnissen erscheint relativiert (z. B. 19,28; vgl. Teil IV – Samaritische Frau: 2.1) und emotionales Sprechen (z. B. 13,21) ist eine Seltenheit. Dennoch ist entgegen einer schroff-abweisenden Lesart ebenso gut Jesu Sprechen als einfühlsam-einladend lesbar. Deutlich wird jedenfalls, dass hier mit dem Ausdruck bereits eine Charakterisierung Jesu einhergeht.243 Unabhängig von dieser Charakterisierung fällt auf, dass er besonders häufig rätselhaft formuliert (und von seinen Dialogpartnern oft nicht oder falsch verstanden wird). Dies liegt insbesondere in dem hohen Anteil von Bildsprache in seiner Figurenrede. Die Bilder, auf die er zurückgreift sind dabei nicht allegorisch konsistent. So geht Jesus einen Weg, welcher er selbst ist (14,2–6), ist zugleich Tür zum Schafstall und Hirte, der durch die Tür tritt (10,1–11), oder gibt Wasser, welches selbst zur Quelle wird (4,14). Jesu Bilder dienen insbesondere dazu, geistliche Inhalte darzustellen und zu interpretieren. Bspw. bietet die Metapher seines Weggangs als Deutung der Kreuzigung eine Betonung der aktiven Beteiligung Jesu, stellt das geistliche Geschehen – nämlich die Re-Union von Vater und Sohn – im irdischen Geschehen des Sterbens dar und konnotiert seinen Tod als Zielpunkt und Rückkehr positiv. Die Bewertungen der Bilder in Jesu Rede bewerten dabei stets auch die bildspendenden Bereiche der Erzählten Welt. In 6,53–56 wird so bspw. ‚Jesu Blut‘ ( S' ) als lebensspendend positiv besetzt. Ist für einen heutigen Leser Blut als Zeichen von Verletzung, Verwundung, Gewalt und Tod eher negativ belegt, erfährt es in Jesu Rede eine Umwertung in der Erzählten Welt. So ist 19,34 nicht mehr primär die Bestätigung des Todes, sondern Zeichen des Heils. So sind Jesu Rede insgesamt und seine sprachlichen Bilder im Besonderen für die Bewertungsschemata (1.4.11) bedeutsam.
243 Entgegen der üblichen Charakterisierungen auf Grundlage von Vergleichen zu anderen Figuren ist Jesus unabhängig von diesen zu sehen. Durch die Hochschätzung Jesu bedingt spiegelt sein Sprechanteil z. B. eher die Bedeutsamkeit seiner Worte, sodass diese erzählt werden, wider, anstatt dass er Jesus als geschwätzig oder egozentrisch – wie nach Pfister, Drama, 179 naheliegend wäre – charakterisiert.
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Als Metareflexion über Jesu Sprechen ließe sich dies noch als Maßstab für andere Figuren betrachten. Durch die Zentrierung auf und uneingeschränkte Positivwertung von Jesus sind übrige Figurenreden in Bezug auf ihn und im Vergleich mit ihm zu beurteilen. Da dieser Abschnitt nur als Bündelung fungiert, ist es nicht notwendig, exemplarisches Vorgehen vorzuführen. So folgt nun der Übergang zur letzten Werkzeugkategorie, welche die Wirkungen über die Erzählte Welt hinaus betrachtet und den Leseprozess stärker in den Blick nimmt. 1.6 Leseranregung Der Leser ist der gänzlich unverfügbare Teil eines Erzählvorgangs. Zugleich ist er bei einer narrativ-ethischen Lesart besonders wichtig, da die Wirkmächtigkeit und ethische Strahlkraft eines Textes sich auf ihn beziehen.244 Gerade biblische Texte wollen und sollen Anspruch auf die Lebenswirklichkeit der Leser haben, also über die Erzählte Welt hinaus wirken. Durch den Erzähltext wird der Leser stimuliert und gelenkt,245 behält aber immer die Freiheit, sich diesem Prozess zu entziehen. So dienen die hier vorgestellten Werkzeuge immer als Entfaltung von Angeboten, die der Erzähltext dem Leser unterbreitet, und als Prägungen, die die Erzählung für den Leser bereithält. Vorerfahrungen und Vorverständnis von Lesern sind stets individuell, sodass eine bestimmte (ethische) Wirkung eines Textes nicht festgelegt werden kann. Gerade darin liegt der Gewinn narrativer Ethik, Wirkungspotentiale aufzuzeigen. Die Anordnung der zehn Werkzeuge dieser Kategorie verläuft entlang einer Abnahme von eindeutigen innertextlichen Signalen. Während die Leseransprachen die direkteste (und z. T. sogar explizite) Steuerung und Anregung der Leserwahrnehmung enthalten, ist diese bei Verweisen und Referenzen oft von der Aufmerksamkeit des Lesers abhängig und hat stärkeren Angebotscharakter. Die Werkzeuge 1.6.4–1.6.7 sind vor allem wegen Übersichtlichkeit und Abgrenzung getrennt dargestellt, lassen sich aber auch als inter- und intratextuelle Verweise zusammenfassen. Mit der Analyse von Empathie und Identifikationsangeboten wird ein besonders wirksamer und oftmals unterbewusst bleibender Zugang des Textes zum Leser untersucht. Das Werkzeug ‚Metareflexion‘ bezieht sich schließlich auf Prozesse gänzlich außerhalb der Erzählung und nimmt einen Leser an, der sich als Gegenüber zum Text positioniert.
244 Natürlich ist der Leser bei allen Lesarten von Erzählungen von Bedeutung. Deutlich betont das auch P. Ricœur, der feststellt, dass der Leser „die Einheit“ der dreifachen Mimesis „auf seinen Schultern trägt“ (ders., Zeit I, 88 f.). Vgl. zur dreifachen Mimesis Teil I – Einleitung: 1.1.2. 245 Vgl. Iser, Akt, 314 f.
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1.6.1 Leseransprachen durch Erzähler Eine Erzählung richtet sich immer an einen Rezipienten, der diese Erzählung wahrnimmt. Dieser Kommunikationsprozess zwischen dem Erzähler einer Narration und ihrem Rezipienten verläuft unterschiedlich verdeckt. Prinzipiell ist die gesamte Erzählung eine Leseransprache.246 Mit diesem Werkzeug werden aber nur jene Erzählabschnitte untersucht, in denen der Kommunikationsprozess zwischen Erzähler und Leser sichtbar wird. Explizite und implizite Ansprachen können unterschieden werden. Explizite Ansprachen zeichnen sich durch die 2. Person auf der Erzählebene aus. Solange der Erzähler nicht als Ich-Erzähler (Verwendung der 1. Pers. Sg.) auftritt und den Leser an wörtlicher Rede oder inneren Monologen teilhaben lässt, ist dieses Signal eindeutig. In biblischen Erzähltexten ist dies immer der Fall. Im Joh gibt es nur zwei derartige Ansprachen: 19,35 und 20,31. Die sparsame Verwendung betont diese besonders und gibt eine Lesart für die gesamte Erzählung vor. Der Leser wird zum Glauben gerufen ( ! 6! )247. Was ‚Glauben‘ aber bedeutet und wie sich das äußert, wird narrativ präsentiert. Prinzipiell sind alle Kommentierungen implizite Leseransprachen. Sie geben dem Leser Informationen über Sachverhalte der Erzählten Welt weiter, die ihm noch nicht bekannt waren oder an die er erinnert werden soll. Werden die Kommentierungen mit der Analyse der Erzählstruktur (1.2.1) bereits vom übrigen Textbestand abgegrenzt, dient dieses Werkzeug ihrer Interpretation hinsichtlich der Leserwirkung. Insbesondere wird hier die Interpretation einer Figur (oder ihres Handelns) unabhängig von und in einem zweiten Schritt im Vergleich zu dem übrigen Erzählten betrachtet. Bspw. klassifiziert 12,6 Judas als Dieb, ohne dass der Leser eine diebische Handlung präsentiert bekommen hätte. So wird zunächst der Inhalt einer Aussage dargelegt und im Anschluss werden damit verbundene Implikationen aufgeführt. Zugleich kann ein bestimmtes Leserbild, gewissermaßen der implizite Leser, durch diese Analyse herausgearbeitet werden. Werden z. B. Begriffe aus anderen Sprachen übersetzt, ist wohl unterstellt, dass der implizite Leser die übersetzte Sprache
246
Kommunikationstheoretisch deckt sich diese Erkenntnis mit der Feststellung einer „Appellaspekt[es]“ einer jeden Nachricht (Schulz von Thun, Miteinander, 14; vgl. a. a. O., 29 f. u. ö.). Was S. Waldow für Texte der Gegenwart formuliert, gilt zumindest für heutige Leser gewissermaßen für alle Texte, nämlich dass die Gesprächsangebote in diesen „als Appell an den Leser verstanden werden [können], der nun aufgefordert wird, sich mit den Positionen des Erzählers auseinanderzusetzen“ (dies., Schreiben, 24). 247 Dass einige Lesarten (z. B. Codex Sinaiticus (erste Hand), Codex Vaticanus) anstelle des Aorists hier das Präsens bieten, ist hier nicht von Bedeutung. In 19,35 ist der Halbsatz um ein ) ' # erweitert, in 20,31 weiter ausgeführt.
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nicht versteht. Solche Rückschlüsse können bei dieser Analyse aber höchstens am Rand einfließen.248 Für eine Figurenanalyse sind Leseransprachen durch den Erzähler abhängig von ihrem Inhalt von Bedeutung. Wenn sie sich auf das Handeln oder die Identität von Figuren beziehen, liefern sie eine Interpretationsvorlage. Stehen sie unabhängig von konkreten Figuren, ist lediglich ein Thema dadurch betont. Taucht dieses im Kontext bestimmter Figuren auf (vgl. 1.3.6 und 1.5.5), wird die Bedeutung dieser Szenen gestärkt und die Inhalte und Positionierungen der Leseransprache und der Erzählszene sind abzugleichen. Bei der Anwendung dieses Werkzeugs werden also die Leseransprachen durch den Erzähler identifiziert, es wird extrahiert, inwieweit sie ein bestimmtes Verständnis vorgeben, und die Auswirkungen auf die Darstellung und Bewertung von Figuren werden daraus abgeleitet (im Beispiel von Judas in 12,6 eine Abwertung). 1.6.2 Leseransprachen durch Figuren Figurenrede, die direkt wiedergegeben wird, ist in der Erzählten Welt als akustischer Reiz einzustufen. Somit senkt sie die Distanz zum Leser. Dieser kann das Geschehen nicht nur beobachten, sondern auch hören. Wörtliche Rede wird so zunächst im Lesen visuell erfasst, in der Erzählten Welt dann auditiv wahrgenommen. Sie spricht Leser somit auf zwei Sinnebenen an. Damit wird der Leser zum extradiegetischen impliziten Adressaten aller Sprechhandlungen, sodass man bei Erzählungen ähnlich wie im Theater von einer „doppelten Adressierung“249 sprechen kann. Fehlen diegetische Adressaten (vgl. 1.5.1; 1.2.2), ist diese Bedeutung noch verstärkt. Dadurch ist es möglich, dass Figuren sich direkt an den Leser richten, ihm Informationen mitteilen, ihn hinterfragen oder zum Handeln auffordern. Im Joh ist dies m. E. nicht der Fall. So ist der Leser als impliziter Adressat angesprochen. Fragen und Appelle (vgl. 1.5.3) entfalten dabei besondere Wirkung. Erstere erfordern eine Antwort und konstruieren deshalb eine Antworterwartung. In dem Moment, in dem eine Frage von einer Figur formuliert wird, wird vom Leser eine Antwort abgerufen.250 Auf diegetischer Ebene wird er dazu ange248
Vgl. zum impliziten Leser Teil I – Einleitung: 1.2. Roselt, Dialog, 67. „Die Äußerungen einer Figur können sich an andere Figuren richten bzw. auf die dargestellte Situation beziehen (inneres Kommunikationssystem), sind dabei aber auch direkt oder indirekt an das Publikum gerichtet (äußeres Kommunikationssystem)“ (ebd.). 250 Indem ein Leser sich als Beobachter des Geschehens der Erzählten Welt betrachtet, kann er sich natürlich stets solchen Stimulierungen entziehen. Insofern ist Figurenrede immer nur als Potential von Leseranregung zu verstehen. Das Vorverständnis einer andauernden Lebensrelevanz von biblischen Texten begünstigt das Fruchtbarwerden von solchen Potentialen. 249
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regt zu überprüfen, inwieweit er Figuren einschätzen und die Geschehnisse vorhersehen kann. Auf extradiegetischer Ebene wird er angefragt, welche Antwort er persönlich geben würde. Dieser Aspekt kommt umso stärker zum Tragen, wenn persönliche Meinungen oder Einstellungen erfragt werden. Ähnlich verhält es sich mit Appellen. Auch sie fordern diegetisch andere Figuren zu etwas auf, verlangen aber extradiegetisch auch eine Reaktion vom Leser. Ist dabei ein diegetisch kontextuell situativ gebundenes Verhalten erfragt (z. B. 19,21), verläuft die Leserreaktion nur durch Identifikation mit dem/den Adressaten und die Frage ‚Wie würde ich mich in dieser Situation verhalten?‘ (vgl. 1.6.8). Appelle, die zwar kontextuell eingebettet, aber nicht an diesen gebunden sind (z. B. 15,9: ' M 7 M 'M), richten sich noch direkter an den Leser. Ebensolches gilt für entsprechende Verheißungen.251 In seiner momentanen Situation ist der Leser dazu aufgefordert, einem bestimmten Verhalten zu entsprechen, oder er bekommt eine bestimmte Perspektive für sein Leben aufgezeigt. Die beiden vorgestellten Ebenen (Identifizierung mit angesprochener Figur und Leseranregung in dessen Lebenswirklichkeit) sind bei diesem Werkzeug stets zu trennen. Im Joh nehmen Jesu Reden auch in diesem Bereich eine besondere Stellung ein. Durch den Umfang seiner Figurenrede bedingt erfolgen die meisten der Leseransprachen durch Figuren durch ihn. Zusätzlich ist Jesus mit besonderer Autorität ausgestattet. Gott ist im Joh die höchste und zugleich absolut positiv gewertete Instanz. Als Ausleger (1,18: R ' ) Gottes für das Erzählerkollektiv aus 1,14 und in Einheit mit Gott (10,30; 14,10 f.; 17,21 f.) ist Jesus auch für den Leser besonders bevollmächtigt.252 Zudem werden in seinen längeren Monologen die Adressaten nahezu ausgeblendet. Auch ist mit der erklärten Erzählabsicht, zum Glauben an Jesus zu führen,253 alles, was dieser sagt, – und besonders seine Lehren – in seiner Bedeutung betont. Damit greift Jesu Autorität über die Erzählte Welt hinaus auf den Leser zu. Inwieweit dieser jene anerkennt, ist damit freilich noch nicht gesagt. Bei diesem Werkzeug werden also sämtliche Figurenreden mit dem Leser als Adressaten betrachtet und daraus die Impulse abgeleitet, welche den Leser in seinen Einstellungen und seinem Verhalten lenken oder Reflexionsprozesse anregen. Diese können in Stichpunkten oder kurzen Sätzen aufgefächert werden.
251
Vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 42 f. Die mögliche Lesart, 1,16–18 als Figurenrede von Johannes aufzufassen, macht hier keinen Unterschied, da Johannes ebenfalls mit größtmöglicher Glaubwürdigkeit ausgestattet ist und so statt des Erzähler- ein Zeugenkollektiv Jesu besondere Autorität stützen. 253 Die Verkürzung der Leseransprachen durch den Erzähler in 20,31 (vgl. 1.6.1) auf diese Aussage lässt sich leicht durch eine Betrachtung des Lexems ! 6 , welches vielfach im Joh Jesus als Objekt nach sich zieht, stützen. 252
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1.6.3 Rück- und Vorverweise Die Struktur der Erzählten Zeit ist ein besonderes Mittel für Spannung und Wirkung einer Erzählung. Hier seien die Zeitsprünge in den Blick genommen. Prolepsen und Analepsen informieren den Leser über Geschehen innerhalb der Erzählten Welt, welches (raum-)zeitlich von dem aktuell Erzählten getrennt ist.254 Letzteres wird hier als Szene bezeichnet, während die Analepsen und Prolepsen als Verweise benannt werden. Durch das ‚Einschieben‘ solcher Verweise in den Erzählverlauf wird ein Zusammenhang mit der Szene oder eine Bedeutung für ihre Handlung suggeriert. Zur Aufdeckung lohnt sich eine Gegenüberstellung der Erzählreihenfolge (wie sie die Erzählstruktur liefert (1.2.1)) mit der Ereignisreihenfolge. Für letztere werden Handlung und Geschehnisse in der Erzählten Welt in ihre chronologische Reihenfolge gebracht und auf einem Zeitstrahl der Erzählten Zeit angeordnet. Mit Versangaben versehen werden dabei Überlappungen und Zeitsprünge anschaulich gemacht. Durch nicht-chronologisches Erzählen wird der Leser in seiner Wahrnehmung gelenkt. Unmittelbar nacheinander erzählte Ereignisse erscheinen in einem kausalen oder finalen Zusammenhang. Auch ohne derartige Konjunktionen (damit, weil, denn etc.) wird ein Zusammenhang suggeriert, der in diesem Schritt dargelegt wird. Insbesondere, wenn dadurch Wertungen in eine Szene eingespielt werden, ist dies für die narrativ-ethische Analyse von Bedeutung. Die bei der Abgrenzung und Einbettung einer Szene (1.1) oder Betrachtung der Zeitstruktur (1.3.1) auffallenden Verweise werden in diesem Arbeitsschritt aus dem Erzählzusammenhang herausgelöst. Es ist zu untersuchen, ob die Ereignisse, auf die verwiesen wird, im übrigen Evangelium ausführlicher erzählt werden. Ist dies der Fall, werden jene Szenen zu Parallelszenen, die als solche der eigentlich untersuchten Szene gegenübergestellt werden können. Derartige Analepsen und Prolepsen sind damit eine Spezialform von den Motiv- und/oder Formulierungsreferenzen, die in 1.6.7 vorgestellt werden. In jedem Fall sind die Zusatzinformationen über Figuren, die der Leser durch die Verweise oder durch die Parallelszenen enthält, herauszustellen und in Abgrenzung zum Szenentext zu bestimmen, inwiefern diese die Leserwahrnehmung verändern. Vor- und Rückverweise heben in jedem Fall ein Ereignis der Erzählten Welt besonders hervor, da es aus der Chronologie herausgelöst zwischengeschaltet wird. Auch die Verknüpfung mit der Szene 254
Minimale Analepsen, die Gleichzeitigkeit von zwei Handlungen suggerieren (z. B. 4,27), dabei aber den Rahmen der Szene nicht verlassen (vgl. 1.3.1), dürfen bei diesem Werkzeug vernachlässigt werden, da sie eher den Erzählverlauf lenken als den Leser anregen. Vor- und Rückverweise in Figurenrede wurden unter 1.5.5 behandelt; vgl. auch 1.5.8. Zu weiteren Differenzierungen verschiedener Pro- und Analepsen siehe Vogt, Aspekte, 119–135. Eine weitaus ausführlichere Auseinandersetzung bietet Lämmert, Bauformen, 100–192.
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ist zu untersuchen. So kann bspw. Figurenhandeln begründet, eine Charakterisierung vorgenommen oder an eine vormalige Einstellung erinnert werden. Diese ist für die Figur (ähnlich wie in 1.4.1) als besonders wichtig einzuordnen und auf ihre Bedeutung für die Szene (oder Episode) zu betrachten. So beeinflusst der Beschluss zum Synagogenausschluss die Antwort der Eltern des Sehendgewordenen (9,22). Nikodemus ist doppelt durch sein Aufsuchen Jesu gekennzeichnet (7,50; 19,39), welches jeweils als Analepse eingeblendet wird. Maria wird in 11,2 mit ihrer besonderen Zuwendung zu Jesus (vgl. 12,3) eingeführt. 1.6.4 Verweis auf Intertexte Mit dem Stichwort ‚Intertextualität‘ ist ein Konzept der Textbetrachtung eingetragen.255 In seiner weitesten Lesart ermöglicht es, prinzipiell jeden (auch nicht schriftlichen) Text mit einem beliebigen anderen in einem intertextuellen Vergleich gegenüberzustellen. Die Wahl der Texte kann zeitlich, lokal, thematisch oder gattungsspezifisch begründet sein, muss es aber nicht. Der hier verwendete Begriff ‚Intertexte‘ weicht von diesem Ansatz insofern ab, als er eine prinzipielle Gleichwertigkeit mehrerer Texte aufhebt. Da im Analyseinteresse ein bestimmter Text – nämlich das Joh – liegt, werden übrige Texte nur in Hinblick auf das Joh und aus dessen Perspektive betrachtet. Die Vorsilbe inter weist dabei auf den Mehrsinn hin, der sich nur im Zusammenspiel beider Texte entfaltet und sich so ‚zwischen‘ den Texten befindet. Eine nicht-willkürliche Wahl zusätzlicher Texte kann über Referenzialität erfolgen, welche in den Abschnitten 1.6.5 bis 1.6.7 auf intratextueller Ebene dargestellt wird. Bei einer narratologischen Analyse eröffnet Intertextualität ein zusätzliches, eigenständiges Feld, welches in dieser Arbeit nicht abgeschritten werden kann. Die einzigen Intertexte, die hier berücksichtigt werden, sind die des AT. Dies hat den Grund, dass diese durch die Begriffe 255
„Das Konzept der Intertextualität stellt […] die Aufgabe, die Beziehungen, die ein Text mit anderen Texten einzugehen in der Lage ist, zu erforschen“ (Alkier, Bibel, 1). In der Literaturwissenschaft wird ‚Intertextualität‘ als eigener Forschungsgegenstand, der über die Bezüge zwischen zwei Texten (bspw. in Anspielungen oder Zitaten) hinausgeht, seit der Begriffseinführung durch Julia Kristeva 1967 ausführlich untersucht. Ausgangspunkt ist eine Perspektive, die Texte als Bestandteile eines dynamischen Gewebes aus allen Texten (auch nicht-schriftlicher Art, z. B. Filme) begreift. Das Themenfeld der Intertextualität lässt sich in zahlreiche Ansätze und mitunter eher philosophisch als textwissenschaftliche Theorien auffächern, sodass eine ausführliche Diskussion hier unterbleiben muss. Vgl. Berndt/Tonger-Erk, Intertextualität, 7,17; Abbott, Introduction, 101 f.; Moraru, Intertextuality. Zur Aufnahme von Intertextualität in der Exegese ausgehend von der philosophisch-literaturtheoretischen Begriffsbildung vgl. Schneider, Texte. Zur Anwendung von Intertextualität als Interpretationskonzept für biblische Texte vgl. den Sammelband von S. Alkier und R. B. Hays, welcher allerdings keinen eigenen Beitrag zum Joh enthält (dies., Bibel).
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' #, ?* und ?* # eingespielt und explizit zitiert werden. Nun ist das tradierte, heute vorliegende AT wohl kaum deckungsgleich mit den vorliegenden Texten, auf die bei der Abfassung des Joh zurückgegriffen wurde. In diesem Sinne handelt es sich bei diesem Werkzeug um eines der modernen christlichen (oder unter Ausschluss der Spätschriften des AT einer dezidiert evangelischen) Lesart. Sinnstiftend ist es insofern, als durch die Kanonisierung zum einen die Texte in einen Verstehenszusammenhang eingebettet sind. Zum anderen sind die ursprünglichen Texte nur als hypothetisches Konstrukt zu denken und heutigen Interpretationen nicht zugänglich. Darüber hinaus darf zumindest bzgl. der Erzählmotive Konsistenz zwischen den eingespielten und den heute zugänglichen Texten vorausgesetzt werden. So wird in 6,25–59 auf Ex 16,10–19.35 Bezug genommen, was allerdings auch in mehreren anderen Passagen des AT verkürzt referiert wird (z. B. Neh 9,15.20; Ps 105,40). Ein weiteres Prophetenzitat (6,45) verdeutlicht, dass die ganze Episode an das AT rückgebunden ist. Durch die Nennung des Namens Mose (6,32) und ein mit %4# ! '' eingeführtes Zitat innerhalb der Figurenrede wird der Verweis in 6,31 (mutmaßlich auf Ps 78,24 f.) noch expliziert. Nicht nur Jesus als „Brot vom Himmel“ wird dadurch auf Grundlage der Exoduserzählung charakterisiert (bspw. als von Gott gegeben, als lebenserhaltend oder gar -notwendig), sondern auch Jesu Gegenüber (das Volk bzw. ‚die Juden‘) erscheinen in Parallele zu dem Volk Israel im AT-Text, sodass ihre Auflehnung gegen Jesus der gegen Mose bzw. Gott in Ex 16,2.7 f. gleicht und so doppelt negativ erscheint. Kann man das Joh auch als intertextuelles Spiel mit anderen Texten lesen,256 werden Texte abseits des AT nicht berücksichtigt. Nun bietet allein das AT eine solche Vielzahl an Eigennamen (von Figuren und Orten), Motiven und Formulierungen, die im Joh aufgegriffen werden, dass dies eigener Methodik und Analysen bedarf. Deshalb wird der intertextuelle Vergleich auf Parallelen und Kontraste zwischen den Figuren reduziert.257 So werden entsprechend der Vorge256
So liest z. B. H. Thyen in seinem Kommentar das Joh als intertextuellen Spiel mit den synoptischen Evangelien (vgl. ders., Joh, 4). Für eine synoptische Kenntnis des Joh argumentiert bereits T. Sigge und skizziert die Forschungslage zur Aufnahme der Synoptiker im Joh bis ins 20 Jhd. (vgl. ders., Joh, 10–16, 26–40, 213 f.). Zu einem aktuelleren Überblick und dem Modell starker wechselseitiger Abhängigkeit der Traditionen im vorschriftlichen Stadium siehe Anderson, Gospel, 101–126. J. Hartenstein untersucht vier Figuren in religionsgeschichtlichen antiken Paralleltexten und stellt sie der joh. Darstellung gegenüber (dies., Charakterisierung). 257 In Bezug auf die Figuren kommt darin auch das „doppelte Paradox von Verbindung und Trennung sowie von Differenz und Ähnlichkeit“ (Berndt/Tonger-Erk, Intertextualität, 11), welches Intertextualität innewohnt zum Tragen. Die verbindenden Elemente und Parallelen bringen erst die Abgrenzung und Kontraste zum Ausdruck, letztere begründen aber erneut die Gemeinsamkeiten. In diesem typisch intertextuellen Spannungsfeld erfolgt die Werkzeuganwendung.
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hensweise der Werkzeuge 1.6.5 bis 1.6.7 auch atl. Intertexte hinzugezogen. Figuren werden auf ihre Merkmale, ihre Rolle und ihr Verhalten hin verglichen. So können bspw. Lesererwartungen und Handlungsalternativen deutlich werden. 1.6.5 Referenz- und Parallelfiguren Mit Referenzfiguren sind Figuren gemeint, die bereits in anderen Szenen von Bedeutung waren. So sind alle Figuren, die in einer Szene genannt werden, auf übrige Nennungen hin zu untersuchen. Wird eine Figur vollständig analysiert, ergibt sich dies von vornherein, da stets alle Szenen betrachtet werden, in denen eine Figur auftritt. Doch auch für die übrigen Figuren wird in diesem Analyseschritt geklärt, was der (Erst-)Leser bereits über diese weiß und welche zusätzlichen Informationen der Mehrfachleser hat. Diese Zusammenschau ist als vom Text angeregt einzuordnen, bleibt aber in ihren Ergebnissen stark dem Leser überlassen. Jesus muss als Protagonist bei diesem Werkzeug ausgeklammert werden. Natürlich ist bei der kontextuellen Einordnung (1.1) stets seine Rolle zu beachten, eine ausführliche Untersuchung ist aber bei weitem zu umfangreich. Für ihn sind eher die Sprechhandlungen zu vergleichen – also inwiefern er als Gegenüber zu verschiedenen Figuren unterschiedlich spricht. Wie er eigene Aussagen aufgreift oder szenenübergreifend ein Gesamtbild vermittelt, kann höchstens am Rande einfließen, da eine Entfaltung der Lehre Jesu im Joh ein eigenes, sehr komplexes Themenfeld ist, welches eher in den Bereich rhetorisch-ethischer als narrativ-ethischer Figurenanalyse fällt. Manch eine Figur tritt in einer Szene auf, um als Parallelfigur etabliert zu werden. Der Leser hat die Möglichkeit, Figuren in ihrem Verhalten, ihren Eigenschaften, ihren Einstellungen und ihrem Ergehen einander gegenüberzustellen.258 So sind Maria und Martha z. B. als Schwesternpaar als Parallelfiguren zu identifizieren. Abgesehen von ihrer Einführung und ihrer Position in der Figurenkonstellation regt besonders die Übereinstimmung im Wortlaut ihrer Anrede an Jesus die Parallelisierung an (11,21.32). Die Unterschiede in der Darstellung, im Verhalten, in Jesu Reaktion und in der Bewertung dienen einer Vorstellung verschiedener Optionen und regen eine Leserpositionierung an. Dominieren die Kontraste oder sollen diese hervorgehoben werden, wird anstelle von Parallelfiguren von Kontrastfiguren gesprochen, wobei jede Kontrastierung eine gewisse Parallelisierung voraussetzt. Kontraste machen die Figuren dabei zu verschiedenen Polen, Parallelen haben verstärkende
258
M. Pfister bezeichnet diese „KORRESPONDENZ- und KONTRASTRELATIONEN“ als „wichtigste Form der implizit-auktorialen Charakterisierung“ (ders., Drama, 263). In narrativen Texten sind die Möglichkeiten der Charakterisierung durch den Erzähler jedoch weit größer als in dramatischen.
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Wirkung.259 Solche Gegenüberstellungen lassen sich gut tabellarisch anfertigen, indem alle vorhandenen Informationen nebeneinander gestellt werden. Fehlt ein Äquivalent zu einer Eigenschaft, Einstellung o. ä. bei einer Figur, kann versucht werden, durch die Gegenüberstellung dort eine Parallele oder einen Kontrast zu mutmaßen. Intertextuelle Lesarten, die sich durch Referenzfiguren gut begründen lassen, werden nicht intensiv vollzogen. Lediglich für Figuren im Analysefokus wird ein knapper Überblick über die Nennungen in anderen Schriften – und vor allem in den synoptischen Evangelien – geboten, um joh. Besonderheiten zu verdeutlichen (vgl. 2.1). Die Analyse erfolgt aber unabhängig von diesem. 1.6.6 Referenzorte Die Analyse der Referenzorte läuft parallel zu dem der Referenzfiguren (vgl. 1.6.5). Mit diesem Werkzeug werden die verbleibenden Eigennamen – die von Ländern, Regionen, Städten etc. – und andere Ortsbezeichnungen herausgegriffen. Da intertextuelle Spiele ausgeschlossen werden (beachte aber 1.6.4), wird nur intratextuell nach Übereinstimmungen gesucht. Da eine Beschreibung und Auffächerung der Implikationen bereits in 1.3.2 geliefert wird, ist dies hier nicht mehr notwendig. Jedoch werden Orte, die nur in der Figurenrede vorkommen und deshalb ggf. bei der Verortung ausgespart blieben, hinzugezogen. Dieses Werkzeug dient der Parallelisierung von Szenen durch Übereinstimmung der Verortungen und der Analyse des Einflusses vom Leserwissen über die Orte auf die zu untersuchende Szene. Für ersteres genügt es hier, auf 1.6.5 zu verweisen. So sind z. B. das Weinwunder (2,1– 11) und die Fernheilung des Sohns des Königlichen (4,46–54) über den gemeinsamen Handlungsort Kana (zudem durch die ! ' -Zählung) parallelisiert. Für letzteres wird auf das Leserwissen über die genannten Orte zurückgegriffen. Dort geschehene Ereignisse, mit Orten assoziierte Figuren, die Symbolfunktion und Bewertung der Orte werden als Untertöne der Szene gelesen. So spielt eine Nennung von Jerusalem bspw. die Figurenkollektive ‚Priester‘, ‚Leviten‘ und ‚Pharisäer‘ (1,19.24), die Themen Tempel- und Religionskult, Gebet und jüdische Feste (2,13–22; 4,20 u. ö.) sowie Zeichengläubigkeit (2,23) ein. Zugleich wird Jerusalem als Ort der Konflikte etabliert. So lässt sich jede Szene mit einer Ortsnennung auf deren Konnotationen hin lesen. Dabei ist die gewohnte Ausrichtung der Werkzeuge auf die Figuren beizubehalten. Somit ist hier zu fragen, wie Figuren und ihr Tun und Reden durch Referenzorte charakterisiert und bewertet werden.
259
Je nach Dominanz des einen oder anderen wird in der Fachliteratur vielfach von Parallel- und Kontrastfiguren gesprochen.
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1.6.7 Referenzmotive und -formulierungen An die Referenzfiguren und -orte schließen sich die Referenzmotive an. Bereits bei den Lexemhäufungen (1.3.6) wurden Worte miteinander in Zusammenhang gebracht. Hier werden darauf aufbauend Motive unterschiedlicher Komplexität einer Szene entnommen.260 So kann als einfaches Motiv bereits das Hineingehen einer Figur (in ein Gebäude) betrachtet werden (10,1 f.; 18,15 f.; 18,33), komplexer ist die Weitergabe von etwas Essbaren von einer Figur an eine andere (6,11; 6,32; 13,26) oder die Gesprächsstruktur FrageGegenfrage-Antwort (1,38 f.; 9,35–37). Unerheblich ist dabei, ob die Motive in Erzählerrede oder Figurenrede auftreten. In jeder Szene lassen sich damit eine Fülle von Motiven finden. So gefundene (inhaltliche und strukturelle) Motive werden nun auf intratextuelle Parallelen untersucht. Insbesondere sind solche Motive zu untersuchen, die in einer Szene hervorstechen, z. B. durch wiederholtes Vorkommen, dadurch dass sich das gesamte Geschehen einer Szene darauf bezieht, dass der Erzähler oder eine Figur sie hervorhebt (vgl. 1.5.3 ‚Ankündigung‘ und 1.2.1 ‚Kommentierung‘), dass die Einspielung des Motivs für die Szene unerheblich ist oder gar stört. Je nach Umfang der untersuchten Erzählung muss die Reduktion von Motiven stärker vollzogen werden, da ansonsten die Suche nach Parallelen, auf die diese Motive referieren, uferlos wird. Leser nehmen in unterschiedlichem Maße verschiedene Referenzmotive wahr. Der Vergleich von exegetischen Kommentaren macht dies sehr gut deutlich. Bei diesem Werkzeug sind deshalb die Begründungen als Plausibilisierung des Verweischarakters von Bedeutung. Motive sind im besonderen Maße referentiell, wenn zudem Formulierungen übereinstimmen. Bereits ein einzelnes Wort kann Signalwirkung entfalten und den Leser an andere Szenen erinnern. Dies setzt eine sprachliche Erinnerungsfähigkeit bei Lesern voraus. Dabei ist die Seltenheit eines Wortes ein gutes Kriterium für Auffälligkeit. Häufige Verwendungen werden als ‚Sprachstil‘ wahrgenommen und sind kaum noch auf die einzelnen Belegstellen rückführbar. Artikel, Konjunktionen oder Präpositionen haben i. d. R. kaum Signalwirkung. Eher sind Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien in Abhängigkeit von ihrer übrigen Verwendung im Erzähltext und ihrer Bedeutung für die Szene in den Fokus zu rücken. Der Referenzcharakter von Formulierungen verstärkt sich, wenn mehrere Worte hintereinander überein260 Eine Unterscheidung zwischen Motiven (z. B. eine Figur schlägt eine andere; ein Schwert) und Themen (z. B. Gewalt) als konkrete und abstrakte Inhalte (vgl. Abbott, Introduction, 95) wird hier nicht vollzogen. Durch Bezug auf Referenzmotive können kognitionspsychologischen Untersuchungen zu Folge auch konkrete Figurenverhaltensweisen eingespielt werden, die einer Situation oder einem Ort entsprechen und aufgenommen oder durchbrochen werden (vgl. Gerrig/Egidi, Foundation, 40 f.). Dies ist nicht nur intratextuell möglich, das Aufgreifen des Weltwissens, welches jeder Leser im Leseprozess abruft, wird bei diesem Arbeitsschritt ausgeklammert.
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stimmen. Ist gar ein kompletter Halbsatz identisch, werden inhaltliches und sprachliches Erinnerungsvermögen des Lesers angeregt. Ein Beispiel für eine wirkmächtige Formulierung ist im Joh Jesu 4 ' .261 Bei diesem Werkzeug werden Formulierungen gesammelt und (mit Hilfe von elektronischen Suchfunktionen, sofern entsprechende Nennungen nicht durch Mehrfachlektüre ausgelöst sich bereits in Erinnerung rufen) auf ihr Vorkommen im übrigen Erzähltext untersucht. Zum pragmatischen Vorgehen werden zunächst alle Einzelwörter in eine Suchmaske eingegeben. Bei mehr als zwanzig Nennungen werden zwei Wörter zusammengefasst. I. d. R. sind bereits dann die Ergebnisse so überschaubar, dass schnell überprüft werden kann, ob an den gefundenen Referenzstellen weitere Wörter übereinstimmen. Bei den gefundenen Übereinstimmungen wird der Kontext betrachtet und versucht als Konnotation oder Kontrast einer Szene zu lesen. Gerade Referenzformulierungen können ein wirksames Mittel sein, um Figuren zu parallelisieren (vgl. Maria und Martha in 11,21.32). Referenzmotiven und -formulierungen stehen in engem Zusammenhang. Es ist naheliegend auf die gleichen Worte zurückzugreifen, wenn man das gleiche sagen möchte. In solchen Fällen ist die Referenzialität besonders stark. Für die Fälle, dass nur eines von beiden zutrifft, werden folgende Überlegungen angestellt: Ist das Motiv gleich, aber die Wortwahl unterschiedlich, kann das verschiedene Gründe haben. Zum einen gibt der Erzähler einen größeren Wortschatz und eine größere Sprachfähigkeit zu erkennen, wenn er die Möglichkeit für sprachliche Variationen hat und nutzt. Insbesondere in engem Zusammenhang (z. B. in Szenen, die aufeinander folgen) dient so ein Formulierungswechsel dem Erhalt der Leseraufmerksamkeit (gewissermaßen der Unterhaltung). Ein weiterer Grund liegt in der Abgrenzung. Abweichende Formulierungen zwischen einem mehrfach Erwähnung findenden Motiv erzeugen eine Distanz. Bei dem umgekehrten Fall, dass die Formulierung gleich, aber das Motiv verschieden ist, sind die Motive miteinander ins Verhältnis zu setzen. Besonders reizvoll ist es, wenn sie im Gegensatz zu einander stehen. Dann fungiert die Referenzformulierung als Hinweis auf ein Kontrastmotiv. Zum Teil fallen Referenzmotive oder -formulierungen mit Prolepsen oder Analepsen zusammen. Meist ist dann ein Ereignis doppelt berichtet – eine knappe Wiederholung kann dabei mit weniger Worten ein ausführlich berichtetes Geschehen einspielen (z. B. in 4,46 das Weinwunder). Dass in solchen Fällen von referentiellen Verweisen mehrere Werkzeuge greifen (1.6.3 und 1.6.7), hebt die Bedeutung der Szenen, auf die so verwiesen wird, hervor. Die Ergebnisse der Analyseschritte sind aber ähnlich, sodass entsprechende 261 Eine traditionshistorische Analyse und Interpretation der Ich-bin-Worte hat E. Schweizer vorgelegt (vgl. ders., Ego). Eine (knappe, erbauliche) Auslegung der sieben (und zwei weiterer) Ich-bin-Worte bietet Lamparter, Hoheit.
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Schritte nur einmal vollzogen werden müssen. Bedeutsam sind die Referenzialitätswerkzeuge vor allem, weil sie zur Leitung von Interpretationen dienen und die Plausibilität von vollzogenen Interpretationen steigern.262 Referenzen sind gewissermaßen Wiederholungen, die sich wechselseitig kommentieren und den Leser in seiner Wahrnehmung, Beurteilung und dem Füllen von Leerstellen lenken. 1.6.8 Empathie und Identifikation – Leseremotionen Der wohl wirkmächtigste Bereich narrativer Ethik ist der der Empathie und Identifikation des Lesers gegenüber Figuren.263 „Die Grundlagen moralischen Erlebens und Handelns liegen in Prozessen der Identitäts- und der Empathiebildung, und Geschichten ermöglichen, stabilisieren, dynamisieren sowohl Identität als auch Empathie.“264 Erzählungen vermögen es, Leser zu Tränen zu rühren, zwischen Hoffen und Bangen Spannung zu empfinden und das
262
Vgl. Abbott, Introduction, 95–97. Verwiesen sei zu diesem Kapitel prinzipiell auf die ausführliche, auf Filme zugespitzte Darlegung in J. Eders Dissertation (vgl. ders., Figur, 561–706), wobei sich die Überlegungen zu filmtechnischen Mitteln (a. a. O., 604–646) einer Applikation auf nichtvisuell kommunizierte Erzählungen weitgehend entziehen. Hervorgehoben sei insbesondere Eders Tabelle 12: Diese verschafft einen guten Überblick darüber, wie Rezipientenemotionen durch verschiedene Auslöser in der Erzählung entstehen können, und veranschaulicht den Zusammenhang durch Beispiele (vgl. a. a. O., 685 f.). S. Finnern unterscheidet sieben „Rezeptionswirkungen“, von denen er zwei („Empathie“ und „Sympathie“) als figurenbezogen einordnet (ders., Narratologie, 190). Finnerns breite Ausführungen (a. a. O., 186–205) werden hier nur insofern aufgegriffen, als sie für eine Analyse des Joh sowohl relevant als auch anwendbar erscheinen. Für eine Auseinandersetzung mit theoretischer – insbesondere auch psychologischer – Literatur sei auf ihn verwiesen. Zitiert sei schließlich C. Bennema, der als wichtige Erkenntnis seiner Theorie zur Analyse ntl. Figuren festhält: „The study of New Testament characters […] is not merely a cognitive exercise but also involves the volitional and affective aspects of the reader s personality“ (ders., Theory in NT, 188). 264 Meuter, Identität, 45. Die Bedeutung von Emotionen für eine christliche Ethik (u. a. im Rückgriff auf psychologische Erkenntnisse) thematisiert der Zürcher Sozialethiker C. Ammann ausführlich in seiner Dissertation (ders., Emotionen), womit er J. Fischer (vgl. Teil I – Einleitung: 1.1.1; 1.3.1) nahe steht. Eine theoretische Entfaltung des Zusammenhangs zwischen Erzählen und Empathie (welcher bereits von Aristoteles hervorgehoben wird (vgl. Aristot. poet., 1452a)) bietet F. Breithaupt (ders., Kulturen, 10, 114–189). Die Leserempathie bei der Rezeption von (fiktiven) Erzählungen bekommt in seiner Abhandlung einen eigenen Schwerpunkt und wird von ihm unter dem Stichwort ‚Narrative Empathie‘ gebündelt (vgl. a. a. O., 153–175). Leider nur als Ausblick diskutiert er die Relevanz der Empathie (und knapper noch der narrativen Empathie) für die Moral einer Gesellschaft und eines Individuums (vgl. a. a. O., 190–193). 263
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gesamte Spektrum der Gefühle wachzurufen.265 Dabei sind die Empfindungen eines Lesers beim Lesen einer Erzählung komplex und nicht monokausal darstellbar. Da diese auch erheblich von dem lesenden Individuum, seinem Kontext und seiner Situation abhängen, sind hier nur textliche Anreize und Impulse zu identifizieren. Herauszuarbeiten, inwieweit sie im Prozess des Lesens zur Entfaltung gelangen, ist keine Aufgabe der Narratologie. Da affektiv konnotiertes Lernen besonders stabil ist,266 eine emotionale Anteilnahme an Erzählungen die Änderung von Überzeugungen deutlich verstärkt267 und „Emotionen die zentralen Bewertungsoperatoren für unsere Erfahrungen sind“268, sind die Leseremotionen bei der Vermittlung und Aneignung von Verhaltensmustern, Moral, Normen etc. entscheidend.269 Unterschieden werden kann zwischen zwei emotionalen Reaktionen auf eine Erzählung. Erlebt ein Leser die Erzählung mit und versetzt sich in eine Figur hinein, teilt er deren Emotionen (vgl. zu Figurenemotionen 1.4.7 und 1.4.9.). Indem sich ein Leser mit einer Figur identifiziert270, solidarisiert er sich meist zugleich mit ihr, auf Empathie folgt Sympathie. Damit ist ihre
265 Was J. Eder über Filme sagt, gilt wohl für Erzählungen allgemein: „Dass Figuren in uns Gefühle hervorrufen, ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass wir Filme sehen“ – und man mag ergänzen – und Erzählungen lesen (ders., Figur, 724). 266 Vgl. Welzer, Gedächtnis, 148 f. 267 Vgl. Appel, Realität, 340. 268 Welzer, Gedächtnis, 145. C. Ammann arbeitet die Bedeutung von Emotionen für eine christliche Ethik umfassend aus (vgl. ders., Emotionen). U. a. referiert und hinterfragt er die Positionen der Philosophen Martha Nussbaum, die „Emotionen als perspektivische Werturteile“ betrachtet (a. a. O., 47–59) und Christopher Cordner, welcher Ethik in Alltagserfahrungen aufdeckt und herausstellt, dass Gefühle wie Liebe oder Respekt moralischen Entscheidungen inhärent sind (vgl. a. a. O., 170–194). Vgl. auch J. Fischers Position (Teil I – Einleitung: 1.3.1). 269 Die Art und Weise, wie Erzählungen diese Wirkung erzielen, ist noch nicht ausreichend untersucht, sodass weder von Einstellungs- oder Verhaltensänderungen eines Rezipienten auf Elemente der Erzählung rückgeschlossen werden kann noch umgekehrt (vgl. auch Finnern, Narratologie, 225). Ohnehin ist die Wirkung stets stark vom Rezipienten abhängig, sodass der jeweils konkrete Leser in eine solche Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Erzählung und Rezipientenwirkung stets einbezogen werden müsste, was jedoch den Bereich der Narratologie übersteigt. Dennoch ist es hilfreich, aufzuzeigen, welche Möglichkeiten es gibt, auf eine Erzählung emotional zu reagieren. Dies wird im hiesigen Unterkapitel unternommen. Zu einer ausführlichen Listung möglicher Einstellungs- und Verhaltensänderungen durch Elemente der Erzählung sei auf die entsprechende Tabelle in Finnerns Dissertation verwiesen: a. a. O., 240–242. 270 J. Eder fasst diesen Bereich unter dem Ausdruck „Emotionale Perspektivenübernahme“ zusammen (ders., Figur, 666). P. Ricœur definiert: „Sich eine Figur durch Identifikation aneignen bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so zu imaginativen Variationen des Selbst werden“ (ders., Identität, 222 f.).
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Bewertung stets positiv gefärbt.271 Identifikation wird durch a) gleiche oder ähnliche Attribute (1.4.2), Charaktereigenschaften und/oder Verhaltensmuster oder durch b) gleiche oder ähnliche erlebte Situationen ermöglicht.272 Im Bereich a) erkennt sich der Leser in der Figur wieder und wählt Figuren, die ihm ähnlich sind. Dabei stellen große Differenzen in (physischen oder charakterlichen) Merkmalen, in der umgebenden Welt und Kultur oder in den sozialen Beziehungen keinerlei Hindernis dar.273 So ist auch für einen heutigen Leser die Identifikation z. B. mit Nikodemus unproblematisch, selbst wenn er kein jüdischer Gelehrter ist, nicht zu einer religiösen Elite gehört, nicht in Jerusalem lebt, er das israelische Klima nicht kennt, das historisch bedingte kulturelle Umfeld (Technologie, Lebensstandard, etc.) gänzlich verschieden ist u. v. m. – nicht einmal das Geschlecht ist zwingend bindend. Allein der aus dessen Begegnung mit Jesus (3,1–21) erschlossene Wunsch, Jesu Bildsprache zu entschlüsseln und seine Lehre logisch zu durchdringen, kann als Identifizierungsbrücke genügen. Für b) ist die Leseridentifikation weniger stark ausgeprägt, da Leser evtl. eher einen beobachtenden Standpunkt einnehmen (s. u.). In jedem Fall werden Leser, die eine Situation wie die in der Erzählten Welt häufig erleben, besonders angeregt. Haben sie sie bereits einmal erlebt, ist die mögliche Identifizierung noch stark. Steht eine erzählte Situation eventuell bevor oder ist ein eigenes Erleben wahrscheinlich, ist zumindest die Möglichkeit zur Identifikation gegeben. Bedeutsamer als die besonders ausgeprägte, starke oder in geringem Maße vorhandene identifikatorische Wirkung von Situationen ist eine retrospektive Wirkung. Leser erleben eine Situation, erinnern sich an die Erzählung und handeln entsprechend ihrer Leseerfahrung. Dadurch dass viele Situationen im Joh eine physische Begegnung mit Jesus inkludieren, diese in besonderem Maß relevant ist und Jesu Darstellung ihn der ‚normalen Menschlichkeit‘ zumindest partiell enthebt (Allwissenheit, Einheit mit Gott etc.), ist der Bereich b) abgeschwächt repräsentiert. Dass Leser sich mit verschiedenen Figuren einer Erzählung und in verschiedenen Situationen identifizieren, entspricht der Erfahrung, dass Menschen in ihren realen Lebensbezügen in unterschiedlichen Rollen und Sozialgefügen verschiedene (narrative) Identitäten ausbilden.274 Hat eine Figur einen besonders hohen Identifikationsgehalt und bietet durch
271
„Sympathie und Moral müssen aber nicht zusammenfallen“ (Hofmann, Drama, 40). Auch eine sympathische Figur kann in einzelnen Handlungen oder Charakterzügen vom Leser kritisch hinterfragt werden, z. B. Simon Petrus (vgl. Teil III – Petrus: 3.2). 272 So dient wohl auch die Feststellung eines repräsentativen Werts der joh. Figuren bei C. Bennema der Auflistung möglicher Leseridentifikation – wenngleich die Ermittlung des Wertes sich zwar aus den Analysen ableiten lässt, nicht jedoch erklärt wird (vgl. ders., Encountering, 366–370). 273 Vgl. Fludernik, Identity, 265. 274 Vgl. Fludernik, Identity, 261 f. Vgl. 2.3.2.
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Merkmale, Verhaltensweisen oder Situationen, die ihr widerfahren, gute Möglichkeiten für Leser-Empathie, wird sie sie als Empathor bezeichnet. Diese Ausführungen zur Begünstigung von Identifikation beziehen sich auf den Erzählinhalt, das Was? der Erzählung. Auf der Ebene des Erzähltextes, dem Wie? der Erzählung, lenkt der Erzähler das Identifikationspotential. Zwei Aspekte werden unterschieden. Erstens ermöglicht der Fokus des Erzählers, eine Figur ins Zentrum zu rücken und so durch ausgiebige Schilderung sich in das Denken, Fühlen und Erleben einer Figur hineinzuversetzen. Hier sind also Einblick ins Innenleben (1.4.7) und die Breite (also Ausführlichkeit) der Darstellung einer Figur maßgebend. Der zweite Aspekt ist oft eng mit dem ersten verbunden, bezieht sich aber auf die Art der Figurendarstellung durch den Erzähler und seine Bewertung. Positiv geschilderte Figuren bieten i. d. R. stärkere Identifikationspotentiale als negativ dargestellte. In diesem Zusammenhang ist auch die Erzählperspektive zu berücksichtigen, die in den biblischen Erzähltexten variiert. Besonders häufig tritt der Erzähler allerdings als allwissend auf,275 schreibt in 3. Sg. über seine Hauptfigur und tritt hinter dem, was er erzählt, zurück. Dies ist auch im Joh überwiegend der Fall.276 Insgesamt spielen erzählinhaltliche und erzähltextliche Komponenten zur Identifikationsbildung zusammen. Andere Leseremotionen entstehen, wenn der Leser sich nicht in eine Figur hineinversetzt und die Emotionen der Figur übernimmt, sondern affektiv auf die Empfindungen und Verhaltensweisen einer Figur (oder des Erzählers) bzw. die geschilderten Situationen reagiert.277 Der Leser erlebt die Erzählung dann nicht aus einer bestimmten Figurenperspektive, sondern als Beobachter des Geschehens mit. So kann Verachtung (8,3 f.) in der Erzählten Welt beim Leser Wut erzeugen, Angst (6,19) zu Belustigung führen, körperliche Gewalt (18,10) Mitleid mit dem Betroffenen hervorrufen. Diese Beispiele zeigen bereits wie vielfältig solche Leserreaktionen sind. Somit können hier immer nur mögliche Leseremotionen genannt werden, deren Existenz jeder Leser im Selbstversuch erfahren kann. Sie müssen stets mit Begründungen für ihre Plausibilität werben.278
275
Vgl. Frey, Eschatologie II, 162. Im Joh nutzt der Erzähler die 1. Person lediglich in 1,14.16; 21,24 f., was außerhalb des konkreten Erzählzusammenhangs die Gesamterzählung kommentiert. 277 Auch F. Breithaupt grenzt „Parteinahme“ von „Identifikation“ ab (ders., Kulturen, 165–169), was gewissermaßen der hier vollzogenen Differenzierung entspricht, wenngleich seine verabsolutierende Definition von Identifikation zurückgewiesen wird. J. Eder klassifiziert diese Leseremotionen als durch eine „Außenperspektive“ bedingt, wobei er als Bezugspunkt Figuren und Situationen unterscheidet (ders., Figur, 666). 278 Als theoretische Entfaltung des Prozesses sei auf F. Breithaupts „Narrative Empathie“ verwiesen, die er anhand des Begriffes ‚Parteinahme‘ entfaltet und die als Übergang zu Bewertungsprozessen in Konfliktsituationen ohne eigene Beteiligung verstanden wer276
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Zu einer Szene werden in diesem Schritt mögliche Leseremotionen aufgefächert. Als Beispiel dient die Szene von Jesu nächtlichem Seewandel (6,16– 21). Dazu werden die Anknüpfungspunkte für Identifikation bei Figuren und Situationen gesucht. In der Beispielszene rückt der Erzähler die Jünger in den Mittelpunkt, begleitet sie in ihrem Tun und Erleben. Prinzipiell ist die Identifikation mit den Jüngern hoch, da sie als Kollektiv charakterliche Unbestimmtheiten und Offenheit zulassen, sodass sich Leser in dieses hineinprojizieren können. Zudem ist es durch Jesu Nähe und Zuwendung am positivsten dargestellt. Außerdem teilen Leser, die an Jesus glauben, diese für das Jüngerkollektiv zentrale Eigenschaft mit diesem (vgl. 2,11). Die Identifikation mit Jesus ist dagegen geringer. Sein Weg vom Berg zum See wird ausgeblendet und der Erzähler erwähnt ihn erst wieder, als die Jünger ihn wahrnehmen. Ferner ist Jesus als fleischgewordener Logos, mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten etc. (s. o.) vom Leser als Mensch distanziert. Zur Situation sind zu nennen: Nächtliche Dunkelheit, Gefahr (Sturm), Anstrengung (25 bis 30 Stadien Rudern), Entpuppen einer Angst als unbegründet bzw. harmlos, wundersames Erreichen des Ziels und – eher mutmaßlich – Warten auf jemanden mit letztendlichem Aufbruch, da dieser nicht erscheint (als es Abend wurde). Aus Jesu Perspektive kommt die Begegnung mit sich ängstigenden Menschen hinzu. Durch die Kombination dieser Aspekte erkennen sich Leser in der Situation wieder – bspw. im verstärkten Erleben von Angst in nächtlicher Dunkelheit. Bei dem Vorgehen ist die Distanz, die zwischen Leser und Erzählter Welt aufrechterhalten wird, zu berücksichtigen. Während Figurenrede, sinnliche Eindrücke und detaillierte Schilderungen von Situationen diese minimieren, erzeugen Kommentierungen und Verweise Distanz. So sind die Angaben zu dem Sturm bspw. extrem kurz (T % !! ' ,' , # ), sodass der Leser die Information für die Situation der Jünger einordnen kann, selbst aber nur zu erleben vermag, wenn er sich die Szenerie mit entsprechender Fantasie ausmalt. Zugleich folgt der Erzähler weitgehend der Perspektive der Jünger, berichtet chronologisch und abgesehen von den resultativen Plusquamperfekten ( und 6% ) ohne Zeitsprünge. Auch die Häufung von (zumal teilweise präsentischen) Verben, die Ungenauigkeit der ‚gefühlten‘ zurückgelegten Distanz und die sinnlichen Eindrücke ( , % ) steigern die Erlebbarkeit, die das Jüngerwissen übersteigende Kenntnis von Jesu Identität senkt diese jedoch. Die zentrale Emotion ist Angst (weitere sind mutmaßlich z. B. Erschöpfung und Erleichterung). Diese dient als Empathiebrücke. Auch unabhängig von Seenot oder unerklärlichen Erscheinungen kann sich ein Leser mit den sich fürchtenden Jüngern identifizieren.
den kann (ders., Kulturen, 170–175; für eine gute schematische Darstellung vgl. a. a. O., 174 f.).
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Je stärker die Identifikation und das Erleben der Erzählten Welt sind, desto direkter wirkt die Leseransprache durch Figuren – in 6,20: 4 ' U '( ? @ !% . Der Leser ist gefragt, wie er auf Fragen antworten oder sich verhalten würde, wenn ihn Appelle treffen. In Identifikation mit den Jüngern: Was würde Jesu Ansprache bei ihm in der Situation auslösen?279 Es entstehen Vergleichsmöglichkeiten zu den Figuren mit großem Identifikationspotential (d. h. mit großen Übereinstimmungen zwischen Leser und Figur gemäß ihrer Lebendigkeit (1.4) und der erzählten Situation (1.3), im Bsp. zu den Jüngern). Leser können vergleichen, inwiefern die Reaktion der Jünger, Jesus an Bord nehmen zu wollen, und das so implizierte Ende der Furcht auch der eigenen Einschätzung entsprechen. Vielleicht wäre Skepsis oder ein Vorwurf wegen des eingejagten Schreckens eher naheliegend? In diesem Sinne gereicht die Jüngerreaktion Lesern zum Vorbild. Der vorgeführte Gedankengang spielt vor, inwiefern Identifikation anregend wirkt und Bewertungen und Verhaltensmuster hervorbringt. Durch Identifikation mit Figuren bekommt in Erzählungen der Leser die Möglichkeit, Situationen zu erleben, Verhaltensweisen zu erfahren und Rollen einzunehmen, die ihm in seinem realen Leben verwehrt bleiben. Durch die emotionale Beteiligung reichen die neuen Erfahrungen über ein theoretisches Gedankenexperiment hinaus. Bei mehreren Figuren kann das Identifikationspotential in Relation angegeben werden. Welche Figur bietet sich in einer Szene, einer Episode oder der Gesamterzählung am ehesten als Identifikationsfigur an? Zu welcher Figur werden dem Leser gute Möglichkeiten der Identifikation geboten? Z. B. ist das Identifikationspotential der Jünger höher als das Jesu. Welche Figuren sprechen welche ‚Lesertypen‘ an? Letztere Frage ist für andere Szenen spannender, bspw. bei einem Vergleich zwischen Martha und Maria in Joh 11. Als Beobachter der Szene weichen die Leseremotionen von denen der Figuren ab. Die Furcht der Jünger kann Anlass zum Amüsement bieten. Nicht angesichts des aufgewühlten Sees, sondern als Jesus erscheint, fürchten sich die Jünger. Dabei sind gerade mit dem Erscheinen Jesu die Jünger gerettet aus der bedrohlichen Sturmsituation, da Jesus, mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, ihnen helfen kann. Eine völlig andere Leserreaktion wäre Verachtung für die Jünger, die nicht mit Jesu Erscheinen rechnen, obwohl sie schon mehrere Wunder erlebt haben – oder Bewunderung für ihr schnelles und zweifelsfreies Erkennen Jesu nach dessen Worten. Empfindet ein Leser die Jüngerangst als lächerlich, verliert Angst ggf. ihre oftmals lähmende Wirkung. Sie wird als irrational und auf falscher Wahrnehmung begründet abgetan. Angst wird die Legitimation, verhaltensprägend zu sein, aberkannt. Eine solche Lesart mit in die Passionserzählung zu übernehmen, wäre sicherlich reizvoll. Diese schlaglichtartige Darstellung möglicher Leseremotionen zeigt, 279
Zum Angesprochensein als Leser in seinem eigenen Lebens- und in diesem Fall Angstkontext vgl. 1.6.2.
200
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dass dieses Werkzeug kaum erschöpfend vollzogen wird. Vielmehr wird hier die Position des Lesers stark gemacht, der sich durch den Text anregen lässt. Folglich wird dieses Werkzeug nicht intensiv durchgeführt. Wichtig ist vor allem, das Leserempfinden als nicht notwendig übereinstimmend mit den Figurenemotionen zu betrachten, an denen der Leser durch Empathie teilhaben kann. Die Darstellung dieses Arbeitsschrittes erfolgt (wie am Beispiel vorgeführt) diskursiv, um Ergebnisse möglichst plausibel darzulegen. Tabellen, die den Versen/Sätzen und Halbsätzen (erste Spalte) die aus 1.4.7 und 1.4.9 übernommenen Figurengefühle zuordnen (weitere Spalten entsprechend der Anzahl der Figuren) und daraus mögliche Leseremotionen ableiten (letzte Spalte/n), sind möglich. Allerdings laufen sie Gefahr statisch und unplausibel zu erscheinen, da die Gefühle durch Textabschnitte oder gar einzelne Worte abgegrenzt und unbegründet präsentiert werden. 1.6.9 Metabewertung Narrative Ethik entfaltet sich nicht nur innerhalb der Erzählten Welt und in der Kommunikation zwischen Erzähler und Leser, sondern auch in Provokation.280 So sind Leser auch eingeladen, den Bewertungsschemata und den ethischen Reflexionen der Erzählung nicht zu folgen, sondern sich gegen diese zu erwehren. Die Freiheit dazu ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Ein Leser muss der Erzählintention (20,31: damit ihr glaubt) nicht entsprechen und vielfach wird er dies auch nicht. Diese Freiheit liegt aber nicht nur jenseits der Erzählung; auch der Text bietet Anreize für so eine Revolte des Lesers gegen das ethische Konzept der Erzählung (welches vom Erzähler gesteuert wird). Normen, Bezugsgrößen wie Wahrheit, Bräuche etc. entfalten sich in der Erzählten Welt, wirken aber im Leseprozess über diese hinaus. Gerade biblische Texte dürfen und sollen mit dem Anspruch gelesen werden, über die Erzählte Welt hinaus Gültigkeit zu haben – ja, für den Leser gar lebensnotwendige Wahrheit bereitzuhalten. Die Schnittstelle zwischen Erzählung und realer Welt ist aber nicht unmittelbar, sie liegt im Leseprozess. Der Leser nimmt das, was er in der Erzählung erlebt und erfahren hat, mehr oder weniger reflektiert in seine Weltanschauung, seine Normen und Werte, seine Verhaltensmuster und Bewertungsraster mit auf. Dienen die vorausgehenden Werkzeuge dazu, diese möglichst umfassend offenzulegen, ist die Metabewertung gerade das Gegenstück zu dem bisher geleisteten. Dieses Werkzeug bespricht die ethischen Konsequenzen, wenn Bewertungsschemata der Erzählung nicht greifen oder wenn diese bewusst kritisiert werden. Da dies prinzi280
In diesem Sinne liest M. Niehaus die „Opferung Isaaks“ (Gen 22,1–19) als „ethische Herausforderung“ (ders., Opferung).
2 Darstellungsweise in den Figurenkapiteln
201
piell zu allen ethischen Aspekten einer Erzählung geschehen kann, muss hier eine Einschränkung vorgenommen werden. Textexterne Auslöser (wie z. B. eine Leseabsicht, die auf Christentumskritik zielt) bleiben als rein rezeptionsästhetisch verortet ausgeklammert.281 Als textinterne Auslöser können alle Spannungen betrachtet werden, die sich innerhalb der Analyse mit den vorausgehenden Werkzeugen ergeben. Laufen das zu erwartende und das erzählte Figurenhandeln konträr, widersprechen die Einblicke ins Innenleben einer Figur ihrem Handeln, sind die Erzählerbewertungen nicht durch die Figurencharakterisierung gedeckt, werden Normen in einem sozial-kulturellen Setting etabliert und zugleich durchbrochen? Alle Möglichkeiten zur Spannungserzeugung können hier nicht aufgezählt werden. Aufgabe der Metabewertung ist es, im Einzelfall diese Spannungen wahrzunehmen und Reflexionen eines Lesers vorzuführen, der sich zu diesen positioniert. Eine solche Position kann ein bereichernder Gegenpol zu der erzählungsimmanenten Ethik sein.282
2 Darstellungsweise in den Figurenkapiteln 2 Darstellungsweise in den Figurenkapiteln
Für die Analyse wurden die Figuren Simon Petrus, die samaritische Frau, Judas Iskariot und Thomas gewählt. Zu diesen wurden die jeweiligen Szenen ihres Auftretens mit den in Kapitel 1 vorgestellten Werkzeugen analysiert. Da Ergebnisse aber besonders im Zusammenspiel der verschiedenen Analyseschritte entstehen, erfolgt die Darstellung in einem Siebenschritt. Die Einordnung (1) dient dabei einem Überblick und einer Hinführung zu der entsprechenden Figur. In der Analyse der Einzelszenen (2) liegt der exegetische Schwerpunkt der Arbeit. Hier werden die Ergebnisse der Werkzeuganwendung präsentiert. In den nachfolgenden Bereichen erfolgt die Fusion und ethische Auswertung der exegetischen Arbeit. Während bei Charakter und Eigenschaften (3) die Figur als einzelne Entität in den Blick genommen wird, dient das Kapitel zum Verhältnis zu anderen Figuren (4) dem Aufzeigen der interfiguralen Beziehungen in der Erzählten Welt. Daran anschließend werden die Handlungen (5) der Figur auf ihre ethische Bedeutsamkeit untersucht. Die Ausführungen zur Rolle und Funktion (6) greifen typisierte und symbolische Lesarten von Figuren auf und stellen die Bedeutung für den Plot der 281 Die verschiedenen Zugänge, die aus feministischer, psychologischer etc. Sicht Erzähltexte hinterfragen und an den von J. Derida initiierten Dekonstruktivismus-Diskurs anknüpfen (vgl. auch Teil I – Einleitung: 1.1), lassen sich gewissermaßen als Metabewertung bezeichnen. Diese von H. P. Abbott als „symptomatic readings“ zusammengefassten Interpretationsansätze kritisieren primär den realen Autor oder dessen kulturelles Umfeld, welches sich in seiner Erzählung niederschlägt, (ders., Introduction, 104–106) – und in ihrer Wirkungsgeschichte zur Anschauung gelangt. 282 Als gutes Beispiel kann hier Judas dienen. Vgl. Teil V – Judas: 3.2.3.
202
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Erzählung dar. Die schematische Aufteilung in diese Bereiche wird an einigen Stellen durchbrochen. So lassen sich einige Ergebnisse der Analyse, wie z. B. parallelisierende und kontrastierende Lesarten mehrerer Figuren, in verschiedene Kapitel einfügen. Dies soll nicht im Voraus als starres Raster festgelegt werden, sodass sich die Methodik dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand (also der jeweiligen Figur) anpasst. Entsprechend fallen die verschiedenen Kapitel bei den Figuren unterschiedlich umfangreich aus. Am Schluss steht eine Bündelung (7), die die Ergebnisse zusammenfasst und die ethischen Horizonte einer Figur aufzeigt. 2.1 Einordnung der Figur Am Anfang der Darstellung einer Figur wird diese kurz eingeführt. Dabei werden Schlaglichter auf ihre Wirkungsgeschichte geworfen, die den Leser dieser Arbeit in seinem Vorwissen abholen. Insbesondere wird hier ein Vergleich zu den synoptischen Evangelien geboten und ggf. die Bedeutung der Figur für übrige kanonische Schriften des NT umrissen. Religionsgeschichtliche Ausführungen oder Erwähnungen in apokrypher Literatur hingegen werden höchstens am Rande aufgenommen. Zudem werden in diesem Kapitel die Auftritte der Figur im Joh in einer Übersicht dargestellt. So wird mit Nennung von Namen, Erwähnungszusammenhängen und Auftritten zugleich die Bedeutung der Figur deutlich. Da hier nur Interesse an der Figur – und besonders an der joh. Darstellung von ihr – geweckt und noch keine Analyseergebnisse ausführlich dargeboten werden sollen, fällt der Abschnitt i. d. R. relativ kurz aus. 2.2 Einzelanalyse der Szenen – narratologisch-ethischer Kommentar Nach dem Überblick über die Figur im ersten Kapitel werden die Einzelszenen des Auftretens analysiert. Dieser Abschnitt stellt für jede Figur das Herzstück des exegetischen Arbeitens dar. Eine Beibehaltung der oben methodisch getrennten Schritte würde in der Darstellung zu häufigen Redundanzen führen, da der Textbestand mindestens fünfmal (vgl. 1.2 bis 1.6) vorgeführt werden müsste. Zudem überschneiden sich die Ergebnisse der Methoden teilweise, sodass auch diesbezüglich Wiederholungen auftreten. Ein weiteres Problem besteht darin, dass gerade die Gegenüberstellung der verschiedenen Ergebnisse und die Spannung zwischen ihnen (z. B. Differenz von grammatikalischem und Handlungssubjekt) sinnstiftend fruchtbar gemacht werden kann. Deshalb wurde in der Darstellung die in der Bibelwissenschaft geläufige Methode des exegetischen Kommentars gewählt. Das – so weit möglich – versweise Durchschreiten des Szenentextes erlaubt dem Leser gute Möglichkeiten, dem Erzählverlauf (im Bibeltext) zu folgen. Zugleich wurden Abschnitte gebildet, um die Anwendung der einzelnen Methodenschritte voneinander abzugrenzen, sofern die Ergebnisse verschiedener Werkzeuge nicht
2 Darstellungsweise in den Figurenkapiteln
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zusammenfallen oder gerade verglichen werden sollen. Signalwörter wie ‚Sprechhandlung‘ oder ‚Figurenkonstellation‘ weisen auf die jeweiligen Werkzeugkategorien und Einzelwerkzeuge zurück. Insgesamt erscheint die Wahl des exegetischen Kommentars am geeignetsten, um Deutungspotentiale leserfreundlich zu plausibilisieren. Gegenüber systematischer, gar tabellarischer Auflistung von Ergebnissen wird ein kommentierender Textfluss eher der Offenheit und Dynamik einer Erzählung und ihrer Figuren gerecht. Zu Beginn einer jeden Szenenanalyse stehen die Ergebnisse der ersten Werkzeugkategorie. Die Szene wird vom übrigen Textbestand abgegrenzt und in den Erzählzusammenhang der Gesamterzählung eingeordnet. Der unmittelbare Kontext wird als Grundlage der situativen Einbettung des Geschehens angegeben. Damit wird die Herauslösung einer Einzelszene aus einem zusammenhängenden Text kompensiert. Hinzu kommen Ergebnisse aus den Kategorien (2) und (3). Orts-, Zeit- und Figurenangaben legen die Begrenzung der Szene fest und geben zugleich die Situation an, in der sich Geschehnisse und Handlung der Szene ereignen. Eine Übersicht über die Struktur der Szene (z. B. eher dialogisch oder handlungszentriert) bereitet auf die zu erwartenden Werkzeuge vor. Die Ergebnisse der ‚Abgrenzung und Einbettung‘ (1) sind damit von den übrigen Arbeitsschritten am ehesten zu trennen und fließen in die folgende versweise Kommentierung nur in Ausnahmefällen ein. Im Fortlauf des exegetischen Kommentars werden einzelne Ergebnisse der Analyse in Tabellen oder Diagrammen visualisiert. Ferner zeige Querverweise die Befunde anderer exegetischer oder thematischer Arbeiten zum Textbestand sowie die Vernetzung der einzelnen Kapitel untereinander an. Der Schwerpunkt liegt aber in der fortlaufenden Kommentierung des Szenentextes anhand der Ergebnisse der Analyse nach den Kategorien (2) bis (6). Da der jeweilige Szenentext nicht vorangestellt und nur auszugsweise zitiert wird, empfiehlt es sich, den Bibeltext parallel zur Analyse mitzuverfolgen. Werden in der Form die Szenen mit expliziter Namensnennung der Figur durchschritten, sind im Anschluss die impliziten anzufügen. Ergänzt werden also die Szenen, in denen die Figur als einem Figurenkollektiv zugehörig ‚mitzudenken‘ ist. Diese finden sich jeweils unter der Überschrift ‚Szenen impliziter Nennung‘ zusammengefasst. Damit erfolgt zwangsläufig eine erste Charakterisierung, da auch die Kollektivzugehörigkeit (vgl. 1.3.4; 1.4.8), welche meist die Voraussetzung für die implizite Anwesenheit ist, als ein Merkmal gelten kann. Eine genaue Analyse des Gefüges erfolgt allerdings erst in Kapitel 4 (Verhältnis zu anderen Figuren). Die so zu ergänzenden Szenen sind insofern gesondert zu betrachten, als trotz Fehlens einer expliziten Nennung die Partizipation einer Figur am Geschehen impliziert sein kann, dies jedoch vom Leser nicht notwendiger Weise erfasst wird. Unter die Szenen impliziter Nennung fallen auch die, in denen eine Figur als Teil der erweiterten Figurenkonfiguration auftritt. Wenn Figuren also über die zu unter-
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suchende Figur sprechen oder der Erzähler auf diese verweist, sie aber nicht anwesend ist, gilt dies als Szene impliziter Nennung. Dabei muss ihr Name nicht zwangsläufig genannt werden, sofern der Bezug auf sie eindeutig ist. Vielfach erscheinen Szenen impliziter Nennung durch Referenzmotive, -formulierungen oder -figuren bereits in die expliziten eingespielt und werden dann im Kontext von diesen besprochen. Nach der Szenenanalyse erfolgt die ethische, szenenübergreifende Bündelung der Ergebnisse. 2.3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität Das erste ethische Bündelungskapitel entfaltet, wer die Figur ist. Es steht unter dem von Paul Ricœur eingeführten Stichwort ‚ethische Identität‘, welches hier allerdings weiter gefasst wird (s. u.). Mit ‚Identität‘ in der Bündelung zu beginnen, entspricht der Wahrnehmung, dass diese einen besonderen Schwerpunkt in der Narratologie ausmacht. Mit Worten Paul Cobleys: „The key ‘use’ of narrative concerns identity.“283 Die Bedeutung der Identität für ethische Fragen betont auch Jan G. van der Watt: „A person’s identity has a direct and determinative influence on what follows, namely ethics and ethos“.284 Der Begriff ‚Identität‘ wirkt im narratologischen Kontext dabei auf zwei Ebenen. Zum einen bezeichnet er die Identität des Lesers, der sich in der Erzählung – in Identifikation und Abgrenzung – erlebt. Dies wird am Ende dieses Kapitels ausgeführt. Zum anderen bezieht er sich auf den Charakter und die Eigenschaften der Fokusfigur. Wenn hier vom ‚Charakter‘ einer Figur gesprochen wird, klingt darin bereits eine Grundsatzentscheidung an: So setzt dieses Kapitel ein Verständnis von Figuren voraus, nach dem sie individualisiert dargestellt sind. Gegen eine Einschätzung aller Figuren des Joh als ‚flache Typen‘ wurde bereits unter 1.4 argumentiert. Dies ist auch in Bezug auf den antiken Entstehungskontext nicht abwegig. Sowohl in der antiken paganen Literatur als auch in der jüdischen Tradition gibt es Belege für die Darstellung von Figuren als Individuen.285 Eine scharfe Trennung zwischen individualisierten und typisierten Figuren wird jedoch nicht vollzogen. Zum einen sind die meisten Figuren m. E. kaum eindeutig kategorisierbar, zum anderen erweitert sich der Horizont, wenn beide Lesarten an Figuren versucht 283
Cobley, Narrative, 37. Vgl. auch die Ausführungen in Teil I – Einleitung: 1.1; 1.4. Van der Watt, Preface, vi. Vgl. Teil I – Einleitung: 1.3. 285 Vgl. Bennema, Theory in Gospel, 379–389. G. Misener legt in ihrer Untersuchung der Darstellung des äußeren Erscheinungsbildes von Figuren dar, dass sich bereits in der Antike (z. B. bei Plutarch) neben der typisierenden – gerade bei Heldengestalten – individualisierte Darstellungen finden (vgl. dies., Portraits, 109–111). Vgl. zu individualisierten Darstellungen im bíos nach Plutarch: Wördemann, Charakterbild, 63 f. Im AT sind die großen Erzählzyklen (z. B. Abraham, Jakob, Josef, David, Rut), die Schicksale und Entwicklungen Einzelner gute Beispiele für die individualisierte Darstellung. 284
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werden – somit also die Einteilung von Typen und Individuen von der Erzählung in den Leseprozess verlagert werden. So wird hier die Lesart der Figur als Individuum betont, während die typische unter 2.6 verstärkt in den Blick genommen wird. Die Attribute und Eigenschaften einer Figur sind der Bereich, der sie maßgeblich bestimmt. Der traditionelle Begriff der Figurenkonzeption wird wegen der damit einhergehenden Skalierung des Figurenrepertoires gemieden (vgl. 1.4). Das Wissen darum, wie eine Figur ist, zeigt dem Leser, wer sie ist. Damit sind über den Namen hinaus die Eigenschaften entscheidend für die Identität einer Figur. Vielfach sind diese allerdings nicht explizit genannt (1.4.4), sondern Leser erschließen sie hauptsächlich aus dem Figurenverhalten (1.4.10). Bemerkenswert ist, dass erschlossene Merkmale in ihrer Wirkung auf den Leser den expliziten nicht nachstehen. Im Gegenteil: Durch die Konkretion eines Merkmals in einem Verhalten wirkt die Figur komplexer und zieht den Leser stärker in ihren Bann. Mit dem Begriff ‚komplexer‘ ist bereits ein Stichwort gefallen, das eine Abstufung der Figuren anhand einer Komplexitätsskala nahelegt. Ein kurzer Abriss über die Theorie wurde bereits unter 1.4 geboten und wird hier nicht wiederholt. Das erste der vier bündelnden Kapitel ist jeweils in die Unterkapitel ‚Name und Identität‘ (2.3.1) und ‚Merkmale und Identifikationsangebot‘ (2.3.2) gegliedert. Ersteres legt die Figur als Entität der Erzählten Welt fest, grenzt sie gegenüber anderen ab und bespricht damit – aus der Zusammenschau aller Auftritte – eine eher fixierte Identität (quasi das Bild, welches die Erzählung von einer Figur zeichnet).286 Es beantwortet die Frage nach dem Wer? und sieht die Figur primär als Größe der Erzählten Welt. Das zweite Unterkapitel fächert die einzelnen Charakterzüge der Figur auf, die ggf. nur in Einzelauftritten zur Anschauung gebracht werden. Dort werden demnach verschiedene Seiten der Figur deutlich, die jeweils für Leser situative Identifikationspotentiale aufweisen. Hier wird die Frage nach dem Wie? des Seins der Figur beantwortet. Damit ist nicht nur eine dynamischere und erlebensorientierte Wahrnehmung der Figurencharakterisierung vollzogen, sondern auch der Leser stärker in den Blick genommen, was sich insbesondere in der Darlegung des Identifikationsangebots spiegelt. Entsprechend der Figurendarstellung im Erzähltext (ob eher eine festgelegte Identität (vgl. Judas) oder ein ambivalentes Tableau verschiedener Charaktermerkmale (vgl. Simon Petrus) im Vordergrund steht) fällt die relative Gewichtung der Unterkapitel verschieden aus. 286 U. Margolin führt neben der Abgrenzung einer Figur von anderen und der Bestimmung der individuellen Eigenheiten noch die Klassifikation der Figur an (vgl. ders., Character, 72). Letztere findet hier entweder im Zuge der Identität oder der Merkmale Eingang (z. B. Geschlecht) oder wird in der Positionierung in der Figurenkonstellation (2.4) deutlich.
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Der titelgebende Ausdruck ‚ethische Identität‘ ist von Paul Ricœur adaptiert. Da dessen philosophischer Ansatz vom Subjekt ausgeht und keine literaturwissenschaftliche Untersuchung von Einzelerzählungen bietet, versteht es sich von selbst, dass die hiesige Verwendung eine Modifikation vornimmt. Zwar bezeichnet Ricœur auch die Identität von Figuren als narrative Identität,287 der Ausdruck der ethischen Identität ist allerdings den ‚realen Menschen‘288 vorbehalten. Letzteres Verständnis wird im Bereich der Identifikation (vgl. 2.3.2) aufgegriffen, allerdings auf den Leseprozess reduziert. Bei Ricœur ist der ethische Gehalt der Identität wesentlich durch ‚Verantwortung‘ und ‚Rechenschaft‘ gegenüber den Mitmenschen geprägt.289 Hier wird dagegen betont, dass der Leser seine ethische Identität u. a. im Lesen von Erzählungen in der Identifikation mit Figuren – im Erproben von Verhaltensweisen und im Erleben von Handlungswirkungen – ausbildet und schult. Die ethische Identität der Figur ist die Entfaltung der Figur als Charakter, dessen Eigenschaften situationsgebunden vorgeführt, bewertet und ggf. hierarchisiert werden.290 Dieser Anteil macht i. d. R. den Hauptteil des Kapitels aus. Prinzipiell sei hier zu Ricœur noch angemerkt: Die situativ verorteten, moralischen Entscheidungen und ihre Bewertung wurden als besondere Stärke narrativer Ethik (vgl. Teil I – Einleitung: 1.1.2) deutlich gemacht. Bei Ricœur fällt dieser Diskurs unter den hier nicht verwendeten Begriff ‚praktische Weisheit‘.291 Ethik besteht für Ricœur (gemäß Aristoteles; „teleologisch“) in der „Ausrichtung auf ein erfülltes Leben“ und schließt die Moral (gemäß Kant; „deontisch“) als „Artikulierung dieser Ausrichtung in Normen“ gewissermaßen ein.292 Für eine grundlegende, systematisch-theologische Auseinandersetzung mit Paul Ricœurs ‚ethischer Identität‘ sei auf Christof Mandrys Dissertation verwiesen.293 Nach diesem begriffsgeschichtlichen Exkurs folgt nun die Darstellung der Unterkapitel ‚Name und Identität‘ sowie ‚Merkmale und Identifikationsangebot‘.
287
Vgl. Ricœur, Selbst, 182. Ein solcher Ausdruck findet sich freilich bei Ricœur nicht. Eine verständliche Entfaltung von Ricœurs Verständnis vom Subjekt, von Selbstheit und Selbigkeit, würde hier allerdings den Rahmen sprengen. 289 Vgl. Ricœur, Selbst, 202 f. 290 Damit lässt sich die ethische Identität der Figur gewissermaßen in Ricœurs Konfiguration und die des Lesers in dessen Refiguration verorten (vgl. zu diesen Begriffen Ricœurs Teil I – Einleitung: 1.1.2, sowie ders., Zeit I, 87–89, 104–135; ders., Zeit III, 253–293). 291 Vgl. Ricœur, Selbst, 291. 292 Ricœur, Selbst, 208. Vgl. a. a. O., 209–289. 293 Mandry, Identität (2002). Für einen ersten Zugang hinsichtlich narrativer Ethik vgl. Welsen, Erzählung, 169–185. In Rückgriff auf v. a. zeitgenössische Philosophen (z. B. Foucault und Levinas) stellt auch S. Waldow Ricœurs sowohl ethischen als auch narratologischen Ansatz dar (vgl. dies., Schreiben, 181–196). 288
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2.3.1 Name und Identität Der Name ist das eindeutige Zuordnungsmerkmal für Figuren in jeder Erzählung. Durch ihn erkennt der Leser, wenn mehrfach von der gleichen Figur gesprochen wird. Aus sprachlichen Gründen wird die stetige Wiederholung des Namens teilweise vermieden und so werden Figuren unter unterschiedlichen Bezeichnungen eindeutig zugeordnet. Vorname, Rufname, Nachname, Titel, Beruf, Position im Raum, aktuelle Handlung, körperliche Merkmale und markante Eigenschaften wechseln sich ab und dienen zur Identifizierung einer Figur, ohne sie mit dem gleichen Ausdruck benennen zu müssen. All diese genannten Attribute werden zusammen getragen, um die Identität einer Figur abzugrenzen. Auch wenn in biblischen Texten eine Scheu vor Namensrepititionen kaum zu erkennen ist und vielfach lediglich Personal- und Demonstrativpronomen den Namen ersetzen, lohnt eine Untersuchung übriger Identifizierungen.294 Insbesondere bei anonymen Figuren sind die Identifizierungsmerkmale besonders wirksam, da so die Attribute Namensersatzfunktion erhalten. Die Identität einer Figur ist durch das bestimmt, was sie von anderen (in einer Szene anwesenden) Figuren unterscheidet. Angereichert wird sie zusätzlich durch Seins-Aussagen (Signalwörter sind ' und v. a. ' ), die nicht zeitlich begrenzt oder situativ gebunden sind. Auch explizit benannte Kollektivzugehörigkeiten oder Abgrenzungen durch Kontrastfiguren können für die Identität wirksam werden. Die Identität wird auf drei Ebenen zum Ausdruck gebracht. Am (qualitativ und quantitativ) bedeutsamsten sind Identifizierungen auf erster Erzählebene, also durch den Erzähler zugeordnete. Innerhalb von Figurenrede sind sie hinsichtlich der Sprechmotivation und des Wahrheitsgehaltes des Sprechenden einzuordnen (1.5.2; 1.5.4). Häufiger als Selbst- und Fremdoffenbarungen (vgl. 1.5.3; 1.5.5) sind Anreden (vgl. 1.5.1). Entsprechend ergibt sich eine Liste der expliziten Nennungen identitätsrelevanter Aussagen. Zu allen Bereichen der Figurenidentität werden die Implikationen aufgeführt. Das betrifft zunächst den Namen und seine (etymologische) Bedeutung295, dann alle übrigen Figurenidentitätsattribute und Seins-Aussagen. Diese werden hinsichtlich ihrer kontextuellen Verwendung und ihres übrigen Gebrauchs in der Erzählung dargelegt. In den ersten Abschnitt fließen somit neben den oben benannten Sprechhandlungsanalysen insbesondere die Ergebnisse der Werkzeuge Figurenattribute (1.4.2), Kollektivzugehörigkeit 294
Die meisten Identifizierungen hat bei weitem Jesus. Bei ihm lassen sie sich in erstens Ehrentitel und Bekenntnisse, zweitens Selbstoffenbarungen, drittens Schmähungen durch andere Figuren und viertens Erzählerbezeichnungen einteilen. 295 Die etymologischen Deutungsmöglichkeiten eines Namens werden dabei nur hinsichtlich ihrer Implikationen auf die Charakterisierung der Figur, ihre Bewertung oder ihre Rolle in der Erzählung betrachtet. Eine ausführliche, historisch-kulturelle Einordnung (wie sie bspw. A. Hoffmann zu David bietet, vgl. ders., Namensdeutung) erfolgt nicht.
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(1.4.8) und Lexemhäufungen (1.3.6) ein. Letztere leisten einen wertvollen Anteil für die Auffächerung der Implikationen. Sofern Parallelisierungen und Kontrastierungen zu anderen Figuren (vgl. 1.6.5; 1.6.7) identitätsbedeutsam sind, werden sie bereits hier aufgeführt.296 Besondere Bedeutung haben die Erst- und die Letztnennung (1.4.1), da die dort genannten Identifizierungen das Konzept in der Vorstellung des Lesers besonders stark und nachhaltig beeinflussen. Bei der Darstellung des ersten Abschnitts wird zuerst der Name in seinen Bedeutungspotentialen entfaltet. Er wird sprachgeschichtlich aufgeschlüsselt und hinsichtlich seiner Wirkung innerhalb der Erzählten Welt und in der Leserreflexion über die Erzählung untersucht. Im Anschluss folgen die übrigen Identifizierungsbegriffe, sofern sie für die Figur von Bedeutung sind. Eine erschöpfende Liste von Identifizierungen kann hier nicht geboten werden (insbesondere Personalpronomina werden ausgespart). Durch die Analyse von vier Figuren und die ausführliche Rezeption des Joh darüber hinaus werden folgende vorgeschlagen: Geschlecht, Volksgruppenzugehörigkeit, Besitzstand, gesellschaftlich-religiöse Position, Gesundheitszustand, Alter, Beruf, familiäre Einbindung, Kollektivzugehörigkeit, markante Handlung, markante Eigenschaft, metaphysische Identifikation, Werturteil und Kontrastfigur. Überschreiten die Ausführungen in einzelnen Bereichen eine halbe Seite, werden Unterabschnitte gebildet, um eine Übersicht zu gewährleisten. Nach Möglichkeit werden diese kohärent betitelt. Die Reihenfolge der Darstellung kann dabei entweder nach Bedeutsamkeit für die Figur (durch Zentralstellung, Mehrfach-, Erst- oder Letztnennung einer Identifizierung) oder nach chronologischer Erwähnung vorgenommen werden. Entsprechend des unterschiedlichen Umfangs dieses Abschnitts wird lediglich eine Einordnung der Figurenidentität vorgenommen, die eine Grundlage für die folgenden Kapitel bildet, oder werden bereits identitätsbedingte ethische Aspekte entfaltet. Insbesondere sind Bewertungen der Figur relevant. Sie sind sowohl für die Eigenschaften und Handlungen als auch für Lesersympathie grundlegend. Ist eine Figur abgewertet, überträgt sich dies zunächst prinzipiell auf ihre Charakterzüge und ihre Handlungen. Ist sie positiv bewertet, erscheint sie im Sein und Tun vielmehr als Vorbild. So können Tugenden verkörpert und vorbildliche Handlungen oder Einstellungen vorge-
296 Andernfalls finden Parallellesarten in den Kapiteln 2.4–2.6 an geeigneter Stelle Raum (z. B. Simon Petrus und Johannes im Kapitel zur Handlungsethik (2.5): Teil III – Petrus: 3.5). Die Bedeutung von Parallelisierungen und Kontrastierungen betont auch M. Pfister. Nach ihm ergibt sich eine Charakterisierung im Drama durch einerseits Situationsveränderung und -stabilisierung und andererseits im Vergleich mit allen anderen Figuren (vgl. ders., Drama, 224 f.). Ersteres wurde insbesondere durch 1.4.5 berücksichtigt. In Erzählungen gibt es über die interfigurale Ebene hinaus v. a. durch den Erzähler vielfältigere Charakterisierungsmöglichkeiten.
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führt werden.297 Treten Figuren zu anderen in Kontrast, erlauben Wertungen die Hierarchisierung der Figuren. In diesem Sinne wird die Identität der Figur als ethische Identität ausgewertet. 2.3.2 Merkmale und Identifikationsangebot Im zweiten Abschnitt des Kapitels werden die Merkmale und das Identifikationsangebot der Figur dargelegt. Die Merkmale einer Figur umfassen drei Bereiche: Ihre körperlichen und rollenspezifischen Attribute, ihre Fähigkeiten (inklusive Wissen) und drittens die Art und Weise, sich zu verhalten. Zu ersterem gehören z. B. ‚schön‘, ‚hat eine Glatze‘, ‚blind‘, ‚ist Fischer‘, ‚hat Geschwister‘, zum zweiten ‚kann schnell laufen‘, ‚kennt Gott nicht‘, ‚kann sich gut Dinge merken‘ und zu letzterem ‚mutig‘, ‚spricht in Rätseln‘, ‚hat Angst vorm Tod‘. Die Beispiele machen deutlich, dass die Merkmale unterschiedlich komplex und konkret sein können. Während der erste Bereich direkt aus den Figurenattributen (1.4.2) abgelesen werden kann, sind die anderen beiden mit Ergebnissen aus verschiedenen Werkzeugen zu füllen. Diese werden als Charaktermerkmale zusammengefasst. Hier sind nun die seltenen expliziten (durch Erzähler und Figuren), die implizit zugeschriebenen (beides 1.4.4) und die implizit erschlossenen (1.4.10) zusammenzuführen. Zu letzteren muss hier noch ausgeführt werden, wie die verschiedenen Werkzeuge zusammenspielen. Bereits aus dem Verhalten (vgl. 1.4.10) und aus dem Innenleben (1.4.7) lassen sich Eigenschaften rückschließen. Hinzu kommen die in der szenischen Situation implizierten.298 Tritt bspw. eine Figur bei Nacht, im Tempel, in klimatischer Kälte, als Amtsinhaber oder mit einem Schwert auf, können daraus Charaktermerkmale wie furchtsam, böse oder beschämt im ersten und gewaltbereit, sicherheitsbedürftig oder mutig im letzten Beispiel rückgeschlossen werden. Nicht zwangsläufig muss dabei eine eindeutige Wahl getroffen werden, allerdings lassen sich alle Deutungsmöglichkeiten in der kontextuellen Einbettung, durch Lexemhäufungen und in der Zusammenschau mit übrigen Merkmalen argumentativ hinsichtlich ihrer Plausibilität gewichten. Analogien werden mitunter durch inter- und intratextuelle Referenzen eingespielt (vgl. 1.6.4–1.6.7). Intertextuelle Analogien werden gemäß dem Schwerpunkt auf dem Einzeltext i. d. R. in diesem Kapitel ausgeklammert. Abschließend zu nennen sind die Figurenattribute, aus denen ebenfalls Charaktermerkmale rückgeschlossen werden können. So kann bspw. ein Na-
297 Vergleichbar liest M. E. Mills in ihrer Analyse Abraham, David und Ester als Vorbilder und bezeichnet sie als „models of the attitude to cosmos and community, which a person should have“ (dies., Morality, 91; vgl. a. a. O., 93). 298 S. Finnern führt diesen Bereich unter Analogie als dritte Möglichkeit für implizite Rückschlüsse neben Handlung und Rede ein (vgl. ders., Narratologie, 152 f.).
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me sinnbildlich auf eine Eigenschaft hindeuten oder ein Beruf bestimmte Fähigkeiten voraussetzen. Anhand der Listen von Charaktermerkmalen (1.4.4 und 1.4.10) mitsamt den hier vorgestellten Rückschlussmöglichkeiten lässt sich ein umfassendes Bild eines Charakters erstellen. Dabei ist es nicht Ziel, die Figuren in ein Charakterraster einzusortieren. Folglich kann auf den gesamten Wortschatz zurückgegriffen werden. Entsprechend der sprachlichen Vielfalt ist die Menge an charakterisierenden Adjektiven beinahe unerschöpflich. Dies spiegelt sich in vielen Kommentaren und Analysen, in denen dieselbe Figur mit völlig verschiedenen Eigenschaften beschrieben wird.299 Die gesammelten Eigenschaften werden gruppiert und entsprechend ihrer Gewichtung sortiert. Zur Gewichtung können neben der Erst- und Letztnennung (1.4.1) die Quantität, Frequenz und Distribution herangezogen werden. Diese fragen nach der Ausführlichkeit der Informationen, der Häufigkeit ihrer Nennung und der Verteilung der Informationen über die Figur im Erzähltext (am Stück oder peu à peu).300 Eine große Quantität und eine hohe Frequenz betonen ein Merkmal. Die Distribution ist vor allem im Vergleich mit den Schilderungen anderer Figuren interessant: Wird eine Figur im Gegensatz zu den übrigen bei ihrem ersten Auftritt ausführlich vorgestellt? Oder: Dient eine ganze Szene nur zur Etablierung eines Merkmals einer Figur? So lassen sich zentrale Charakterzüge von marginalen abgrenzen.301 Jedes bedeutsame Merkmal wird durch die textliche Basis begründet, situativ gedeutet und schließlich auf Bewertung, ethische Bedeutung und Identifikationspotential hin untersucht. Demensprechend erfahren verschiedene Merkmale zu einer Figur in eigenen Unterabschnitten Entfaltung. Wurden die Charakterzüge bereits als Identitätskern der Figur im vorigen Abschnitt dargestellt, fällt dieser Abschnitt entsprechend kurz aus. Bei der Vorstellung der einzelnen Merkmale erfolgt die Bewertung – wenn möglich – auf drei Ebenen. Zum einen wird das Merkmal situativ in der Erzählten Welt eingeordnet. Dabei sind die Erwartungshaltungen anderer Figuren und die sozial-kulturellen Strukturen von besonderer Bedeutung. Entspricht die Figur mit ihrem Merkmal diesen, veranschaulicht sie ggf. eine Norm oder durchbricht sie sie? Spiegelt und veranschaulicht der Charakter 299
Die Uneinigkeit hinsichtlich der Charakterisierung wird natürlich enorm durch die verschiedenen Interpretationen von Figurenhandlungen gesteigert (vgl. 1.4.5). Die hier, bei aller Vorsicht vorgeschlagenen, Charakterisierungen werben in ihren Ausführungen stets um die Zustimmung des Lesers. 300 Vgl. Finnern, Narratologie, 154. 301 Eine hierarchische Einordnung und Verhältnisbestimmung sämtlicher Eigenschaften untereinander, wie z. B. S. Rimmon-Kenan sie vorschlägt (vgl. dies., Fiction, 37–40), wird allerdings nicht vollzogen. Anhand des knappen Textbestands im Gegensatz zu modernen Romanen ist so eine Gewichtung nur selten möglich. Folglich werden eher einzelne Eigenschaften (oder komplementäre Eigenschaftspaarungen) in separaten Kapiteln ausgeführt.
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(F% #) die gesellschaftlichen Sitten (B% #) oder konterkariert er sie und hinterfragt so ihre Legitimität? Auf der zweiten Ebene wird die Bewertung durch den Erzähler betrachtet. Diese kann durch die Gesamtbewertung der Figur oder auch unabhängig von dieser situativ erfolgen. Die dritte Ebene ist die des Lesers. Dieser hat die Möglichkeit, sich den vorgegebenen Bewertungsvorgaben zu entziehen und in einer Reflexion über die Figur zu einem anderen Urteil zu gelangen. Treten diese Bewertungen auf den verschiedenen Ebenen in Spannung zueinander, erhöht sich ihre ethische Wirksamkeit, da Reflexionsprozesse ausgelöst werden, welche eine stärkere Einbeziehung des Lesers herbeiführen. Das zweite Stichwort der Überschrift ist für die ethische Wirksamkeit ebenfalls bedeutsam. Durch Identifikation mit Figuren wird der Leser stärker in eine Erzählung involviert. Der Erlebnisfaktor steigt und damit auch die emotionale Beteiligung. In Figuren mit hohem Identifikationsgehalt findet ein Leser nicht bloß Vorbilder und Abschreckungsbeispiele, sondern ist selbst von den Situationen betroffen und kann gute und schlechte Verhaltensweisen leicht auf sein eigenes Leben applizieren, um erstere nachzuahmen und letztere zu meiden. Der Grad an Identifikation, der von einer Figur ausgeht, ist stark leserabhängig und kann somit nicht allgemeingültig festgelegt werden (vgl. 1.6.8). Drei Faktoren beeinflussen die Identifikation in besonderem Maße: Die Figur selbst (in Darstellung und Lebendigkeit), die erlebten Situationen in der Erzählten Welt und die Bewertung der Figur. Bewertung und Identifikation stehen häufig in Wechselwirkung zueinander. Figuren, mit denen sich ein Leser identifiziert, bewertet er positiv und legitimiert ihr Verhalten. Zugleich steigt der Identifikationsgrad zu als ‚gut‘ dargestellten Figuren, da Wertungen durch Identifikationsprozesse auch auf den Leser übergehen. An dieser Stelle fügt sich erneut das Schlagwort aus der Kapitelüberschrift ‚ethische Identität‘ ein, den Paul Ricœur ausgehend von seinem Konzept der narrativen Identität einführt (s. o.: 2.3). Wurde bereits in der Einleitung begründet, inwiefern sich Erzählungen aufgrund der narrativen Struktur des menschlichen Selbst besonders für ethische Betrachtungen eignen,302 wird hier dieser Gedanke noch fortgeführt. Anstelle einer kohärenten, abgeschlossenen Vorstellung von Identität gründet das Konzept narrativer Identität auf performativer und kontextbezogener Identitätsbildung.303 Durch Wahrnehmung von und Einbettung des Selbstverständnisses in die verschiedenen Lebensbezüge entwickelt jeder Mensch diverse Identitäten, die bzgl. Eigenschaften und Einstellungen widerstreitend und von Brüchen durchzogen sein können, aber über Erzählungen verknüpft und zusammengehalten werden. Z. B. kann jemand gegenüber seiner Familie, seinem Partner oder seinen 302 303
Vgl. Teil I – Einleitung 1.1.2. Vgl. zu narrativen Identitäten Fludernik, Identity, 261 f.
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Kindern großzügig sein und im Umgang mit Kollegen und Freunden sparsam oder gar geizig. So sind Charakterzüge bedingt und lassen sich kontextuell verorten und zumeist erzählerisch plausibilisieren. Die verschiedenen kontextbezogenen Selbstverständnisse motivieren die Pluralverwendung des Begriffs ‚Identität‘. Die verschiedenen narrativen Identitäten bieten den Bezugspunkt zu den Identitäten der Figuren der Erzählten Welt. In ihnen und in ihren Situationen kann sich der Leser gespiegelt finden. Durch Identifikation erweitert er sein Repertoire an narrativen Identitäten um fiktive Erfahrungen. So kann bspw. die Großzügigkeit – oder gar Verschwendung – von Maria (12,3.5) und Nikodemus (19,39) als Herausforderung zum eigenen Umgang mit materiellen Werten dienen. Gerade im Beispiel von Maria (12,3–8) bekommt der Leser Verwendungsalternativen, Reaktionen des Umfeldes und eine Verhaltenslegitimation vorgeführt. Diese gelesen-erlebten Erfahrungen können in die eigene ethische Identität integriert werden – z. B. in Aussagen wie ‚Wofür ich Geld ausgebe, geht niemanden etwas an, denn sonst muss ich meine Ausgaben rechtfertigen‘ oder ‚Lieber verschenke ich verschwenderisch an jemanden, wo ich direkt die Dankbarkeit des Beschenkten erlebe, als dass ich mein Geld irgendwo hingebe, wo ich nicht mitbekomme, was damit passiert‘ oder ‚Ich mache nicht den Bedürftigen, sondern der hierarchiehöchsten Person Geschenke, damit diese in Konfliktsituationen für mich einsteht und meine Kritiker mundtot macht‘ (vgl. dazu auch Teil V – Judas: 2.2; 3.1.4). Die Vielfalt der vorgeschlagenen Aussagen zeigt bereits, dass die Erzählung Anknüpfungspunkte bietet, die von Lesern verschieden aufgegriffen werden können. Durch die Verknüpfung mit Bewertungen der Verhaltensweisen und Einstellungen, ihrer Begründung und Legitimation wurde die Brücke zur ethischen Identität geschlagen. In der Identifikation mit Figuren findet der Leser situativ verortete, erzählte Modelle für solche Begründungen und Legitimationen. Zugleich werden seine narrativen Identitäten durch die Konfrontation mit Alternativhandlungen und -einstellungen hinterfragt. Über die erzählungsimmanenten Bewertungen (durch Erzähler und Figuren) hinaus, eröffnen diese Situationen dem Leser eigene Positionierungsmöglichkeiten, die in ihrer Vielfalt (m. E.) nie vollständig ausgeschöpft werden können. In diesem Sinne werden in diesem Kapitel erzählinterne Impulse für die ethische Identität des Lesers geboten. 2.4 Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik Das zweite der Bündelungskapitel betrachtet die Figur in ihren Beziehungen zu anderen Einzelfiguren und Kollektiven. Gerade bei ethischer Betrachtung der Figuren kann das Verhältnis der Figuren untereinander fruchtbar gemacht werden, denn Ethos und Moral konstituieren sich stets in einer Gesellschaft
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oder Gruppe, in der mehrere Menschen zusammenleben.304 Dabei sind in diesem Kapitel primär alle Figuren im Blick, mit denen die Fokusfigur interagiert – insbesondere betrifft das Jesus als Hauptfigur des Joh. Sekundär werden die betrachtet, zu denen irgendeine Verbindung (z. B. gleichzeitige Präsenz; Nennung in der Figurenrede der Fokusfigur) besteht. Dies schließt insbesondere die Kollektive ein, denen die Figur selbst zugehörig ist. Kontrast- und Parallelfiguren, die nur extradiegetisch in ein Verhältnis zu der Fokusfigur gesetzt werden, wurden – sofern die Gegenüberstellung identitätserhellend ist – bereits unter Charakter und Eigenschaften (vgl. 2.3) aufgeführt oder werden als typisierte Rollenmodelle unter ‚Rolle und Funktion‘ (vgl. 2.6) dargestellt. Die Figuren werden nacheinander – zumeist in Unterkapiteln – in ihrem Verhältnis zu der Fokusfigur untersucht. Die Beziehungsethik umfasst vier Ebenen. Grundlegend ist jeweils die soziostrukturelle Konstellation, was Abhängigkeits- und Familienverhältnisse sowie die Positionen innerhalb der Figurenkonstellation einschließt. Dabei fließt auch ein, welche sozialen Rollen das Einfordern von Verhaltensrechtfertigungen erlauben und welche dies verhindern. Auf der zweiten und dritten Ebene wird die wechselseitige Einstellung (inklusive der Bewertung) und das Verhalten zur jeweils anderen Figur betrachtet: Figur A zu Figur B und Figur B zu Figur A. Dabei sind besonders die Momente der Erzählung herauszuarbeiten, in denen sich die Beziehung verändert. Intensiviert sich das Verhältnis oder entsteht eine Distanz? Welche Figur und welches Verhalten initiiert die Veränderung und wie ist diese bewertet? Schließlich werden auf der vierten Ebene Themen diskutiert, die in der Beziehung zwischen diesen beiden Figuren entfaltet werden (z. B. Familie zwischen der Mutter Jesu und sowohl Jesus als auch dem Geliebten Jünger oder Umgang mit Konflikten zwischen dem Knecht und Jesus in 18,22 f.). In dieses Bündelungskapitel fließen damit insbesondere die Ergebnisse aus den Werkzeugen zur Analyse der Anreden (1.5.1), der Figurenkonstellationen (1.3.4 und 1.4.9), der Kollektivzugehörigkeit (1.4.8), der Sprechhandlungen (1.5) insgesamt, sofern sie sich an den jeweils anderen richten, und die aufeinander bezogene Handlungen (1.2.5; 1.4.5; 1.4.6) ein. Für die narrativ-ethische Lesart sind die Bewertungen und vorgestellten Handlungsoptionen besonders wichtig. Bei den Themen (vierte Ebene) sind Hierarchisierungen von Werten und Vorstellungen sowie Reflexionen von Normen oder Handlungsleitlinien von Bedeutung. So kann z. B. untersucht werden – sofern ‚Familie‘ sich als Thema einer Beziehung darstellt –, inwiefern dies ein Ideal ist, wie Familie gegenüber Nachfolge oder Gruppenzugehörigkeit eingeordnet ist, welche Verhaltensweisen und welche 304
Vgl. dazu Teil I – Einleitung: 1.3. Für das AT untersucht M. E. Mills ähnliche Aspekte - allerdings unter der Überschrift „Plot“, da sie das Verhältnis zwischen Gemeinschaft/Gesellschaft und Individuum im Plot entfaltet sieht (vgl. dies., Morality, 20 f.). Exeplarisch vollzieht sie ihre Analyse an Rut, Josef und Jona (vgl. a. a. O., 97–162).
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Einstellungen zueinander innerhalb einer Familie (an dem Beispiel der entsprechenden Figuren) vorgestellt und welche nahegelegt werden. Die Anbindung der Beurteilung an den Text wird durch die Lexemhäufungen (1.3.6) und die Bewertungsschemata (1.4.11) gewährleistet. 2.5 Handlungen – Handlungsethik Nach der Charakterisierung und den Beziehungen werden die Handlungen gesondert in den Blick genommen. Dazu wird das Figurenverhalten (1.2.5 und 1.4.5) dargestellt, (mit Rückgriff auf 1.3) situativ verortet, die eingetragenen Bewertungen werden aufgedeckt und auf Nachahmungsimpulse im Sinne einer mimetischen Ethik untersucht. Die Handlungen werden entsprechend der Verbklassifikation (1.2.4) gruppiert und gemeinsam untersucht. So entsteht bereits eine Tendenz bezüglich des Wirkungsfeldes (z. B. eher wahrnehmungsorientiert oder in Bewegung), aber auch ein Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität, was auf einen initiierenden oder zurückhaltenden bzw. trägen Charakter weist (vgl. 2.3). Herausragende Verhaltensweisen, die als einzige Vertreter ihrer Klassifikationskategorie auftreten, nur von dieser Figur ausgeführt oder besonders ausführlich dargestellt werden, werden einzeln besprochen. Dabei steht jede Handlung nicht nur für ein konkretes Verhalten innerhalb der Erzählten Welt, sondern auch für prinzipielles Verhalten in verschiedenen Lebensbezügen oder – auf symbolischer Ebene – für eine andere Handlung, die in dem Figurenverhalten verbildlicht wird.305 So kann ‚gehen‘ bspw. als Ausdruck von Nachfolge Glaubensleben visualisieren. Hier wird besonders deutlich, dass die Kapitel untereinander vernetzt sind und den gleichen Untersuchungsgegenstand haben. Lediglich die Perspektive verschiebt sich. Dienten die Handlungen in 2.3 der Aufdeckung der Figurenidentität und der Charakterzüge und in 2.4 der Interaktion innerhalb von Beziehungen, ist hier lediglich durch die gesonderte Betrachtung des Tuns die Perspektive eine andere als in den vorausgehenden Kapiteln. Für die narrative Ethik ist besonders die innerhalb der Erzählung vorgenommene und auf Grundlage von der Erzählung vom Leser vollzogene Reflexion der Bewertungen dieser Handlungen zu betonen. 2.6 Symbol und Funktion – Rollenethik Das letzte der ethischen Auswertungskapitel bietet eine weitere Perspektive. Es reflektiert den ethischen Gehalt der Figur für das Gesamtwerk. Dabei wird die Einordnung in Haupt- und Nebenhandlung aufgegriffen. Inwiefern ist die Figur unverzichtbar plotrelevant? Oder trägt sie zusätzliche (ethische) Elemente in die Erzählung ein? Liegt Ersteres (also eine Notwendigkeit) nicht 305
C. R. Koester entfaltet diverse Handlungen Jesu auf symbolischer Ebene. Vgl. ders., Symbolism, 79–140.
2 Darstellungsweise in den Figurenkapiteln
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vor, ist die Bedeutung insofern gesteigert, als eine (theologische oder ethische Relevanz) postuliert werden darf, da der Erzähler sie als absichtlich ausgewählt präsentiert (vgl. 20,30 f.; 21,25). Zum Plot des Joh siehe die Skizzierung in 1.1. Die Rolle einer Figur wird nicht nur hinsichtlich des Gehalts für den Plot, sondern auch auf ihre typischen Lesarten (z. B. Nathanael als Verkörperung des „wahren Israeliten“ (1,47)) untersucht. Im Gegensatz zu einer konzeptionellen Einteilung aller Figuren eines Figurenrepertoires in die Kategorien wie Personifikation, Typ und Individuum306 werden hier die typischen und funktionellen Eigenschaften jeder Figur betont. Damit wird gemäß Eders Modell der ‚Uhr der Figur‘307 die symbolische Dimension ethisch ausgewertet – begrenzt aber auch die symptomatische Dimension einer Figur (und hinsichtlich ihrer Plot-Funktion die Dimension der Figur als Artefakt) einbezogen. Die typisierte Auswertung jeder Figur ist nicht nur in Bezug auf die Wahrnehmung von fiktionalen Figuren in Erzählungen angemessen, es spiegelt auch die Wahrnehmung von realen Menschen, die in ihrer Individualität nur typisiert (und kategorisiert) erfasst und beschrieben werden können.308 Verkörperungen von Lastern und Tugenden sind im Joh nur als allegorische Lesarten möglich und finden hier nur begrenzt Eingang. Notwendiger Weise gibt es bei einer typischen Lesart Überschneidungen mit dem Charakter und den Eigenschaften einer Figur (2.3). Die Blickrichtung ist dabei jedoch der aus 2.3 entgegengesetzt. Wurde dort die Figur als Teil der Erzählten Welt und als Gegenüber zum Leser stark gemacht, wird hier untersucht, welche Rollenmuster, gesellschaftliche Positionen oder Eigenschaften sie verkörpert oder welche durch sie in die Erzählung eingetragen werden. Pilatus bspw. würde hier in seiner Funktion als Richter und Verurteilender oder als Verkörperung der römischen Staatsmacht betrachtet. Aufgegriffen werden dabei die noch nicht in anderen Kapiteln ethisch entfalteten Aspekte. So wäre bei Pilatus wohl seine Richterfunktion als Identität (2.3) aufgefächert und als Verurteilender wäre er im Verhältnis zu Jesus (2.4) oder im Kapitel zur Handlungsethik (2.5) betrachtet worden. Demnach würde in seinem Kapitel zur Rollenethik nur die Verkörperung der römischen Staatsmacht ausführlich dargelegt, während sich zu den anderen beiden möglichen Themen auf Querverweise beschränkt würde. Neben der Einordnung in den Plot und der Ideal-Repräsentation und Typen-Verkörperung wird in diesem Kapitel gefragt: Welche Themen werden durch diese Figur entfaltet, die andernfalls im Joh fehlen würden bzw. welchen Aspekt eines Themas bringt die Figur zum Strahlen? So dient z. B. Nathanael (1,46.49) dazu, als Gegenpol zu den Pharisäern (7,48 f.52) das 306
Vgl. z. B. Pfister, Drama, 244–246. Vgl. Teil I – Einleitung: 3.2; Eder, Figur, 137 f., 521–560. 308 Vgl. Abbott, Introduction, 136 f. 307
216
Teil II: Methodologie
Themenfeld Stolz-Demut bzw. Starrsinn-Einsicht zu beleuchten. Gewissermaßen wertet dieses Kapitel durch seine symbolische, funktionale, typisierte, repräsentationssuchende und symptomatische Lesart die verschiedenen Rollen der Figur aus, weshalb die Ergebnisse unter dem Begriff Rollenethik zusammengefasst werden. Selbstredend wäre in diesem Bereich eine weitere Differenzierung möglich, wie bereits die Vereinigung von bis zu drei der vier Eder’schen Dimensionen einer Figur deutlich macht. Da in dieser Arbeit ein Schwerpunkt auf die Figur als Wesen seiner Erzählten Welt gelegt wurde, entspricht die Bündelung als Rollenethik der Ausrichtung und Zielsetzung der Methodologie. 2.7 Bündelung – ethischer Gehalt Ein abschließendes Bündelungskapitel dient dazu, die verschiedenen gesponnen Fäden zusammenzuführen und als Schlaglichter die ethischen Themen und Impulse der Figur auf den beiden Ebenen – werkbezogen und leserbezogen – einzuordnen. Dass dabei nicht eine ethische Aussage als Fazit der Figur – oder gar der Erzählung – forciert wird, liegt in der Natur der Erzählung, die Deutungsoffenheit auch in Bezug auf ihr Kernthema und ihre Intention und Funktion zulässt.309 So wird ein ethisches Feld aufgespannt, auf dem Positionen bezogen, Richtungen angegeben und Horizonte aufgezeigt werden. Die hier gewählte Feld-Metaphorik weist bereits daraufhin, dass es nicht das Ziel ist, die Ethik oder den ethischen Gehalt einer Figur skaliert messbar oder abgeschlossen festzulegen. Leitend sind bei der Bündelung folgende Fragen. Auf der werkbezogenen Ebene: Inwieweit greift die untersuchte Figur ein Ethos oder Moralvorstellungen der Erzählten Welt auf, bestätigt diese oder kritisiert sie? Welche ethischen Themen werden durch die Figur reflektiert, diskutiert oder veranschaulicht? Wie gut wird Identifikation ermöglicht? In welchen Beziehungen lebt und agiert die Figur, wie beeinflusst sie diese? Welche Verhaltensweisen werden durch die Figur konkret und situativ gebunden vorgeführt und machen die Figur zu einem Mahnbild oder einem Vorbild im Sinne einer mimetischen Ethik? Auf leserzentrierter Ebene: Welche Lesererfahrungen und -vorverständnisse verstärken oder verringern eine Identifikation? Wie werden Leserbewertungen von einzelnen Handlungen und der Figur insgesamt gesteuert? Welche Anknüpfungspunkte und Herausforderungen bietet die Figur für metaethische Reflexionen? Die Fülle an Fragen markiert Wegpunkte, an denen sich die Bündelung vollzieht. Je nach Komplexität und Schwerpunkten der Figur, sind einzelne Fragen auszusparen und andere stärker auszuführen. Da all diese Fragen auf 309
Vgl. Abbott, Introduction, 194 f., 199. (Deutungsoffenheit sei nicht mit Deutungswillkür verwechselt. Zu dieser Diskussion vgl. Teil VII – Fazit: Kap. 3).
2 Darstellungsweise in den Figurenkapiteln
217
die Kapitel 2.3–2.6 zurückweisen, ist hier stets nur die Essenz der jeweiligen Kapitel zu benennen. Ziel der Bündelung ist es, einen anregenden Überblick darüber darzubieten, was die Figur jeweils für narrativ-ethische Fragestellungen zu leisten vermag. Die hier vorgestellte Methodologie wird in den folgenden vier Kapiteln zu Simon Petrus, der samaritischen Frau, Judas und Thomas zur Anschauung gebracht. Der Aufbau orientiert sich dabei an der hier im Kapitel 2 vorgestellten Struktur: Einordnung, Szenenanalyse, ethische Identität, Beziehungsethik, Handlungsethik, Rollenethik und Bündelung. Entsprechend des Textumfangs und den Schwerpunkten jeder Figur fällt die Gewichtung zwischen den Kapiteln sehr unterschiedlich aus. Die vier ausführlichen Beispiele verdeutlichen, wie die Fülle der vorgestellten Werkzeuge zusammenspielt und aus verschiedenen Blickwinkeln für ethische Perspektiven fruchtbar wird.
Teil III
Simon Petrus, ein Hirtenschaf lernt Hirtenschaft 1 Einordnung der Figur 1 Einordnung der Figur
Simon Petrus ist der Jünger Jesu, der in allen kanonischen Evangelien am stärksten profiliert erscheint. Insbesondere das Mt zeichnet ein deutlich positives Bild von ihm.1 Auch in der Apg und in der Briefliteratur sowie den apokryphen Evangelien und anderen frühchristlichen Schriften wird vielfach auf ihn verwiesen. I. d. R. nutzen Verweise auf ihn den Namen ‚Petrus‘, sodass sein (laut Evangelienüberlieferung) ursprünglicher Vorname weniger bedeutsam ist. Innerhalb der Kirchengeschichte markiert vor allem das sich auf Petrus berufende Papsttum dessen Bedeutung in der christlichen Tradition. Als literarische Figur findet er sich im Joh zum Teil in Übereinstimmung mit den synoptischen Berichten dargestellt. Jedoch hat insbesondere die Profilierung des Geliebten Jüngers im Gegenüber zu ihm zu der Einschätzung geführt, er sei im Vergleich mit seiner Darstellung bei den Synoptikern abgewertet. Solche Lesarten mit den synoptischen Evangelien als Intertexte fließen hier nur marginal ein. Als einer der ersten Jünger in der Nachfolge Jesu ist er beinahe in der gesamten Erzählung implizit präsent. Mit neun Auftritten ist er nach Jesus die am häufigsten in Interaktion stehende Einzelfigur des Joh. Als Szenen ergeben sich für ihn seine ‚Berufung‘, das Bekenntnis der Zwölf, sein Einwand bei Jesu Fußwaschung und die Überlieferungsankündigung, das Nachfolgeversprechen und die Verleugnungsankündigung, sein Eingreifen bei Jesu Gefangennahme, die Verleugnung im Hof des Hohepriesters, der Besuch des leeren Grabes mit dem Geliebten Jünger, der wundersame Fischzug am See Tiberias und schließlich sein Hirtenauftrag am Ende des Evangeliums.
1
Vgl. v. a. Mt 16,15–19.
220
Teil III: Simon Petrus
2 Einzelanalyse der Szenen 2 Einzelanalyse der Szenen
2.1 Szene 1 (1,40–42) Der erste Auftritt von Simon Petrus ist – obwohl sogar zwei Szenen als Doppelszene zusammengefasst werden – sehr kurz und beinhaltet die ersten drei Nennungen von ihm. Er selbst wird dabei nur als grammatikalisches Objekt, nicht als Subjekt genannt. Die Szene ist innerhalb der Episode von der Berufung der ersten Jünger angesiedelt. Nach dem Zeugnis durch Johannes folgen zunächst zwei nicht namentlich genannte Jünger Jesus zu seiner ‚Bleibe‘. Im Nachhinein wird einer von ihnen dem Leser als Bruder von Petrus vorgestellt. Nach der Szene, in der auch dieser Jesus begegnet, werden noch die Berufung von Philippus und Nathanael erzählt.2 Obwohl später (6,67) von einem Kollektiv von zwölf Jüngern gesprochen wird, sind diese fünf Jünger die einzigen, deren Erstbegegnung mit Jesus erzählt wird. Abgegrenzt wird die Szene durch den Einführungssatz in 1,40,3 der eine nachträgliche Information über die vorausgegangene Szene vermittelt. Diese führt das Subjekt des Folgeverses ein. Die erste Szene endet bereits 1,41 und erzählt nur, wie Andreas sich (in wörtlich wiedergegebener Figurenrede) an seinen Bruder wendet. Die anschließende Szene stellt die Begegnung zwischen Jesus, Andreas und Simon Petrus dar. In dieser spricht Jesus letzteren an. In beiden Sprechhandlungen übersetzt der Erzähler dem Leser ein Wort. Da gerade die Bewegung zu Jesus einen bedeutenden Teil der Handlung ausmacht, werden die drei Verse, obwohl Zeit, Ort und Figurenkonstellation wechseln, zusammenhängend als Doppelszene analysiert. Nach hinten ist die Szene durch den markanten Einsatz in 1,43 ( ) begrenzt, da dort die Erzählung am nächsten Tag fortgesetzt wird. Der Ort ist nicht genau definiert, da nach der Nennung von Bethanien4 am jenseitigen Jordanufer (1,28) sowohl Zeit- als auch Ortswechsel erzählt werden (1,29.35.37.39). Letzterer kann, aber muss nicht, auf eine andere Stadt hinweisen. Innerhalb der Szene findet zudem ein Ortswechsel statt. Die narrative Reduzierung der Bewegung auf das Zu-Jesus-Bringen ohne Nennung verschiedener Orte oder einer Distanz lässt die Entfernung zwischen den Schauplätzen eher klein erscheinen. Durch die Angabe von Bethsaida als Heimatort von Simon Petrus (1,44) ist dieser in der Retrospektive als Ort des Szenenbeginns eine Alternative zu Bethanien. Zeitlich liegt die Szene am 2
Möglich ist, dass in 1,43 Simon Petrus das Subjekt ist. Da aber Jesus – oder ggf. Andreas (vgl. de Boer, Andrew, 144 f.) – hier wahrscheinlicher als das Handlungssubjekt gelten darf, wird dieser Vers bei der Analyse der Figur Simon Petrus jenseits der kontextuellen Rahmung nicht berücksichtigt. 3 Zur Abgrenzungsproblematik s. u. 4 Die historisch geografische Lage von Bethanien ist unklar. Eine Lokalisierung in der Nähe von Jerusalem ist wegen 11,7 unwahrscheinlich (gegen Lincoln, Gospel, 119).
2 Einzelanalyse der Szenen
221
dritten oder vierten Tag der Erzählung, die sich über mehrere Jahre erstreckt. Am zweiten Tag tritt Jesus erstmalig auf, am dritten Tag folgen zwei Täuferjünger Jesus nach und bleiben einen Tag bei ihm (1,39). Danach wird die zeitliche Abgrenzung unklar, da hier zwei Tageszählungen konkurrieren.5 Das eintägige Bleiben der Täuferjünger stößt sich mit dem zeitlichen Strukturierungsmerkmal , weil Letzteres 1,35–42 am selben Tag verortet und so Andreas diegetisch zeitgleich an zwei Orten positioniert: zum einen bei Jesus (39b) und zum anderen nicht bei Jesus (41), wodurch er Petrus zu diesem führen kann (42a).6 Die Zeitangabe am Ende von 1,39 ( 5 R. Bultmann schloss auf eine Quellenbearbeitung durch den Evangelisten und führt die Unstimmigkeiten innerhalb der Handlung in der Erzählten Welt deutlich auf (vgl. ders., Evangelium, 68). Vielfach werden diese jedoch einfach ignoriert, aber unterschiedlich gedeutet (vgl. z. B. Theobald, Evangelium, 143 f., 183; Van Tilborg, Joh, 20). So übernimmt z. B. J. L. Stanley in seiner Analyse, die sich auf den impliziten Leser beruft (!), die Tagesgliederung in 1,19–2,12 ohne die Abgrenzung der Tage zu diskutieren (vgl. ders., Print’s, 75–90). H. Thyen versteht 1,35–42 als eine Szene am gleichen Tag, die er mit der pronominalen Nennung Jesu in 1,40 und der Gliederungsformulierung begründet (vgl. ders., Joh, 131). Keines dieser Signale geht aber – entgegen dem, was Thyen seinen Lesern glaubend machen will – über den Status eines Indizes hinaus. 6 Diese Spannung weist (mindestens) drei Verstehensmöglichkeiten auf, die das Problem nicht auf Interpolationen oder in literarkritische Quellenscheidung verlagern. 1. Das Bleiben bei Jesus in 1,39 ist eine symbolische Aussage. Im Kontext des späteren Bleibens in Jesus (6,56; 15,4–7) ist bereits hier eine Verbundenheit ausgedrückt, die keine körperliche Nähe bedeuten muss (vgl. Schenke, Johannes, 47; seine Differenzierung in ein körperliches Bleiben des unbenannten Täuferjüngers und ein symbolisches Bleiben von Andreas, während dieser seinen Bruder aufsucht, ist allerdings schwierig haltbar). Problematisch ist diese Deutung aus zweifacher Sicht. Die Verwendung von in einem metaphysischem Sinn erfolgt erst weit später im Erzähltext und wird folglich hier nicht rückgreifend wachgerufen. Selbst bei mehrfacher Lektüre des Joh ist der Kontext sehr verschieden: die Unterscheidung der zugehörigen Präposition (hier im Gegensatz zu ), die hier fehlende Wechselwirkung der beteiligten Personen und der Wechsel der Erzählstimme (hier der Erzähler im Gegensatz zu Jesu Figurenrede) sind sprachliche Unterschiede. Ferner ist im erzählten Kontext chiastisch mit eingeführt worden (1,38c.39a), wobei alle drei Verben auf wirkliches Geschehen weisen. 2. Die Jünger bleiben einen Tag bei Jesus und das weist auf das Verstreichen des selbigen hin, ersetzt quasi das . Folglich fände die Begegnung zwischen Simon Petrus und Jesus erst am vierten Tag statt und insgesamt sind fünf Tage erzählt (vgl. Bultmann, Evangelium, 68, Anm. 5, allerdings mit Quellenscheidung; gegen Frey, Eschatologie II, 193 f.). Die Angabe der zehnten Stunde wäre dann als Nachtrag zur Erstbegegnung oder zum Erreichen von Jesu Bleibe zu verstehen. Da die zehnte Stunde 16 Uhr entspricht (vgl. Theobald, Evangelium, 181; siehe auch die Anmerkung zu 11,9 in Teil VI – Thomas: 2.1.), hätte sich die Begegnung am Nachmittag ereignet. Die Tageszeit von Szene 1 ist dann unbekannt. Die starke Regelmäßigkeit des Erzählereinsatzes zur Markierung eines neuen Tages spricht allerdings dagegen. Ferner kann die Abgrenzung von Tag und Nacht, die im Joh mehrmals vollführt wird (vgl. 9,4; 11,9 f.), als Indiz gewertet werden, dass die Täuferjünger eben nur am Tag und nicht in der Nacht bei ihm blieben. 3. Die
222
Teil III: Simon Petrus
)7 kann dabei abschließend die vorausgehende oder einleitend die nachfolgende Szene einordnen. Hier wird Szene 1 am vierten Tag der Erzählung positioniert und die Zeitangabe zur vorigen Szene gezählt, sodass die Tageszeit der Szene unbekannt ist. Ein weiterer Bruch mit dem Kontext findet sich gleich zu Beginn der Szene. Hier wird scheinbar eine Figur neu eingeführt: Im Nachhinein wird einer der Täuferjünger als Andreas vorgestellt. Erklärt wird er über den Zusatz „Bruder des Simon Petrus“ (1,40). Problematisch ist daran, dass dies die Erstnennung von Petrus ist. Er ist dem Leser also nicht aus dem vorausgehenden Erzähltext bekannt.8 Diese Information setzt also entweder beim Erstleser ein Vorwissen – nämlich die Kenntnis von Simon Petrus – voraus, richtet sich an den Mehrfachleser als Erinnerung oder ist ein Mittel zur Leserirritation. Eine ähnliche Einführung findet sich bei Maria und Martha in 11,1. Ebenso treten folgende Figuren ohne vorige Einführung auf: Thomas (11,16) und Judas (14,22). In jedem Fall erhöht eine solche Einführung die AufmerkBegegnung mit den Täuferjüngern findet morgens statt und sie bleiben den Tag über bei Jesus. Am späten Nachmittag (zur zehnten Stunde) verlässt Andreas Jesus, um seinem Bruder von seiner Begegnung zu berichten. Diese plausible Erzählreihenfolge schließt einen Kompromiss aus der Erzählerstrukturierung und dem berichteten Geschehen. Die Nennung der zehnten Stunde ist damit der Auftakt des weiteren Geschehens und Beginn der Szene. Problematisch ist daran allerdings, dass erstens Jesu zweiter Auftritt nicht auf den Morgen festgelegt ist und dass die Täuferjünger so nicht einen ganzen Tag (vgl. 11,9!) bei ihm bleiben, was 1,39b widerspricht. Eine eindeutige Auflösung dieser Spannung in der Erzählten Zeit gibt es nicht. Die zweite Alternative scheint aber dadurch am plausibelsten, dass sie nicht dem erzählten Inhalt, sondern nur den Lesersignalen widerspricht. Diese können als Gliederungsmerkmal verstanden werden, welches die Berufung der ersten drei Jünger von den folgenden beiden abgrenzt. Zudem sind nachträgliche Zeit- oder Ortsangaben ein typisches Merkmal des Erzählers im Joh (vgl. z. B. 1,28; 5,9; 6,59; 8,20; 13,30). Ferner schließt 1,40 nicht an das zuvor Erzählte an. Als doppelte Szeneneröffnung gelesen, stoßen sich die beiden , da beide Sätze – obwohl als Zeit- und Figurenangabe der gleichen Szene – unverbunden hintereinanderstehen. Es kann erwogen werden, ob 1,40 noch als zweiter Nachtrag zu der vorausgehenden Szene betrachtet wird. Dadurch wird aber erneut die Unverbundenheit beider Sätze deutlich. Ferner ist die gegebene Namensinformation für das Folgende stärker von Bedeutung, da der andere Jünger weiter unbenannt bleibt. Auch das in 1,41 weist unmittelbar auf den vorausgehenden Vers zurück. Schließlich markiert ein am Satzbeginn deutlich häufiger den Einsatz einer neuen Szene als einen Nachtrag (vgl. 3,1.23; 11,1.55; 18,25. Übrige (z. T. als Neueinsatz diskutierbare) Belegstellen sind 1,9; 5,9; 7,2). 7 Zu der symbolischen Deutung der Zehnzahl siehe Thyen, Joh, 130 f. Als Erzählereinschub deutet J. Frey die Zeitangabe und sieht durch den Stillstand der Erzählten Zeit darin das vorausgehende betont (vgl. ders., Eschatologie II, 189–191). 8 M. Bockmuehl bemerkt: „The only others previously treated in this way are God, Jesus, and Moses“ (ders., Simon, 58). Zu anderen, ebenso uneingeführt auftretenden Figuren (s. u.) äußert er sich nicht.
2 Einzelanalyse der Szenen
223
samkeit des Lesers. Ein Leser, dem die Figur nicht bekannt ist, wird irritiert und erkennt die besondere Relevanz der Figur, die der Erzähler ihm als bekannt suggeriert. Der Mehrfachleser weiß um die Spannungsfelder (vgl. 3.2), in denen die Figur im Joh entfaltet wird. Zur Erstnennung von Andreas muss angemerkt werden, dass er von insgesamt drei Auftritten bei seinen ersten beiden jeweils mit Hinweis auf seinen Bruder Simon Petrus eingeführt wird. Dass dies eine Verwechslung mit einem anderen Andreas verhindern soll, findet intratextuell keinen Anhaltspunkt. Durch die Doppelung des Verweises und den Erstverweis auf eine noch nicht genannte Figur ist eine Hierarchie zwischen den Brüdern aufgezeigt. Andreas ist Petrus in der Relevanz nachgeordnet. Dies ist umso markanter, weil Andreas einer der beiden erstberufenen Jünger Jesu ist.9 In 1,44 werden Andreas und Petrus gemeinsam als Referenz für die Figur Philippus gebraucht. Dort werden sie nebeneinander in der Reihenfolge ihrer ‚Berufung‘ genannt. Die Herkunftsstadt des Brüderpaars (sowie Philippus’) ist der Fischerort !" # 10. Andere Begründungen für die Namensreihenfolge sind, dass eine der oben aufgeführten Reihenfolge widersprechende Hierarchisierung eingespielt oder Andreas als der ältere der beiden vorgestellt wird. Hier sei auch die zweite Belegstelle genannt, in der Simon Petrus als Referenzfigur genutzt wird. In 6,8 wird er wieder zur Charakterisierung seines Bruders erwähnt. Andreas wird dort durch zwei Zugehörigkeiten ausgezeichnet: $ % ! % & ' und ( )*+ , .. Gleichwertig steht seine Zugehörigkeit zu seinem Bruder neben der Jüngerschaft. Wird Andreas (ebenso wie Philippus) hier erneut aktiv,11 findet sich über Petrus nichts erzählt oder berichtet. Diese Nennung ist damit lediglich für das Familienverhältnis und den Vergleich von Parallelfiguren relevant. Andreas’ Einführung wird auch in 1,40 doppelt angebunden. Neben der Darstellung als Simon Petrus’ Bruder wird er als „ $ % […]“ bezeichnet. Dieser Rückbezug auf das vorige Geschehen macht deutlich, dass Petrus noch nicht unter den Jüngern ist, die Jesus folgen. Das hier erstmals mit Jesus als grammatikalisches Objekt verwendete ( ) .! bekommt
9 1,40 bezeichnet Simon Petrus als % , als ersten. Dies bezieht sich zunächst auf die Handlung von Andreas, kann aber auch absolut gelesen werden (vgl. Schenke, Johannes, 47). Adverbiell verstanden weist % auf die folgenden Finde-Episoden voraus, was insofern problematisch ist, als Andreas an ihnen nicht mehr beteiligt ist. So ist vielleicht aber ein weiteres Jünger-Finden impliziert. Angemerkt sei noch, dass einige Schriftzeugen (u. a. Codex Sinaiticus) den Nominativ lesen, welcher auf Andreas bezogen werden müsste. 10 Bethsaida ist Aramäisch und kann als „Fischhausen“ übersetzt werden (Theobald, Evangelium, 190; Zwickel, Betsaida, 182). 11 Philippus reagiert dabei wie schon in Joh 1 auf Jesu Ansprache, Andreas hingegen auf eine Situation, die er wahrnimmt.
224
Teil III: Simon Petrus
für Petrus im Nachhinein Signalcharakter.12 Auch der Plural in Andreas’ Rede spielt den unbekannten Jünger und das ‚Zuvorkommen‘ anderer Jünger vor Petrus ein.13 Jener erscheint immerhin als drittberufener Jünger, wobei von den beiden Erstberufenen die Identität des einen im Ungewissen bleibt. Vielfach wurde erwogen, den Geliebten Jünger in diesem Unbenannten zu sehen,14 womit er Petrus deutlich vorangestellt würde. Dies ist sicher denkbar, aber die Offenheit der Figur soll nicht zu Gunsten einer solchen Festschreibung eingeschränkt werden.15 Ein direktes Verhältnis zwischen Petrus und dem Anonymen wird nicht erwähnt. Simon Petrus wird zu Beginn der Szene mit seinem Doppelnamen benannt. Das wichtigste Figurenattribut variiert bei ihm. Alle Möglichkeiten der Benennung finden sich in dieser ersten Szene vorgeführt. Die Doppelnennung benutzt ausschließlich der Erzähler – meist zu Beginn einer Szene. Den traditionell verwendeten Namen ‚Petrus‘ gibt der Erzähler als Übersetzung des Namens an, den Jesus ihm als neuen Namen (s. u.) verheißt: / *0 . Den eigentlichen Vornamen ‚Simon‘ verwendet Jesus unter Hinzuziehung des Vaternamens. In dieser Szene greift zudem der Erzähler auf ihn zurück, um ihn als Objekt der Handlung von Andreas zu benennen. Dies ist narrativ insofern folgerichtig, als die Nennung in der Erzählten Zeit vor der Begegnung mit Jesus – und somit vor der Namensverheißung durch diesen – liegt. Die Erstnennung ‚Simon Petrus‘ bei der Einführung von Andreas ist dabei auf einer anderen Ebene anzusiedeln. Dort (1,40) wird dem Leser in einer Beschreibung eine Information über eine Figur vermittelt, hier (1,41) wird Handlung erzählt.16 12
Siehe dazu 5.2. Vielfach wurde die spätere Berufung von Simon Petrus (gerade im Vergleich mit der synoptischen Überlieferung) als Abwertung der Figur eingeordnet. M. Labahn stellt dagegen heraus, dass für ihn, indem er nicht zu den beiden Erstberufenen gehört, sicher gestellt wird, dass Jesus – und nicht etwa Johannes, der Zeuge – Ursache für dessen Glauben ist (vgl. ders., Simon, 153). In der Nicht-Erstberufung sieht er (unter Verweis auf C. Böttrich) die Bedeutung von Petrus gesteigert: „Peter is of special importance for the narrative characterization of the disciples“ (ebd.; wenn C. Böttrich vom „Signalcharakter“ der Drittberufung spricht (ders., Petrus, 242), hebt er damit m. E. die Gegenüberstellung mit dem Geliebten Jünger und nicht die besondere Bedeutung von Petrus im Joh hervor). Inwiefern Andeas nach 1,41 f. als Petrus’ ‚Glaubensauslöser‘ gewertet werden kann, reflektiert Labahn nicht. 14 Vgl. z. B. Schultheiß, Petrusbild, 82 f.,278. T. Schultheiß sieht als Indizien einer Identifizierung mit dem Geliebten Jünger die rätselhafte Anonymität beider, die nachträglich angegebene Autorenschaft, die eine Anwesenheit des Geliebten Jüngers von Anfang der Erzählung an plausibel erscheinen lässt, sowie eine Gegenüberstellung mit Simon Petrus (u. a. intertextuell mit Mk 1,16; 3,16). 15 Vgl. 4.5. Siehe zu der Identität sowie der Figur des unbekannten Jüngers in 1,35–40 D. Toveys Artikel (ders., Disciple, 133–136). 16 Zur Deutung der beiden Namen siehe 3.1.1. 13
2 Einzelanalyse der Szenen
225
Die Handlung ist mit drei Verben ausgedrückt. Dabei umschließt das erste eine Vielzahl von möglichen Umständen des Geschehens. Das Verb 1 " kann eine konkrete Suche voraussetzen. Die Verwendung des Lexems in Andreas’ Figurenrede zur Beschreibung der Begegnung zwischen Jesus und den zwei Täuferjüngern lässt aber eher auf ein zufälliges Zusammentreffen schließen oder zumindest eines, das von anderen Figuren als dem Handlungssubjekt initiiert wurde. Es bleibt also offen, ob Andreas zufällig seinem Bruder begegnet, ob er absichtsvoll als erstes ( % ) diesen aufsucht oder ob gar Jesus als Initiator des Geschehens angesehen werden kann. Alle Möglichkeiten führen letztlich zu der Einordnung der emotionalen Figurenkonstellation zwischen den Brüdern als positiv. In 1 " ist eine Bewegung impliziert. Insgesamt fällt 1 " in der gesamten Episode auf. In 1,43.45 werden weitere Figuren gefunden und in die Jüngerschaft eingereiht. Zusammengesehen ergibt sich eine Reihe von Findungen, welche das zentrale Motiv der Berufung ausmacht. Die Begegnung untereinander, das Aufsuchen des anderen ist der Ausgangspunkt für die Jesusbegegnung. Damit ist 1 " sowohl für das Handlungssubjekt als auch für das Erlebensobjekt in diesem Kontext ein positives Wertungswort. Das zweite Verb leitet eine Sprechhandlung ein, die eine (evtl. gemeinsame) Messiaserwartung suggeriert. Der Titel ist dabei das zweite Zeugnis und der zweite Hoheitstitel. Nach der Aussage des Täufers als exponiertem Zeugen (vgl. 1,6 f.) bestätigt Andreas als erster Jünger Jesu Sonderrolle. Mit 2 "" und der Übersetzung " 3 ist ein Einblick in das Innenleben von Andreas geboten, da ein religiöses Konzept abgerufen wird, welches zumindest die Besonderheit und Einmaligkeit der bezeichneten Figur beinhaltet. Dass er den Ausdruck seinem Bruder unerklärt präsentiert, lässt sich als Einblick in dessen Innenleben werten und auf ein gemeinsames Wissen um den Messias schließen. Da das Lexem ferner nur in 4,25 und ebenfalls in Figurenrede benutzt wird,17 lässt sich das Konzept hinter dem Lexem intratextuell nur im Ansatz erschließen. Mit 19 Belegstellen trägt der als Synonym eingeführte " 3 mehr zu einer semantischen Füllung bei. Abgesehen von den Verwendungen als Namensattribut für Jesus (1,17; 17,3) ist ‚der Gesalbte‘ eine bestimmte Figur, die von mehreren Figuren im sozialkulturellen Setting erwartet wird, die sich durch besondere Handlungen auszeichnet (taufen, verkündigen, Zeichen tun), mit der bestimmte, z. T. widersprüchliche Eigenschaften verbunden werden (7,27: Herkunft ist unbekannt; 7,41 f.: kommt aus Bethlehem; bleibt ewig) und die Objekt des Glaubens ist (7,31). Als Sohn Gottes und ‚in die Welt kommend‘ beschrieben (11,27; vgl. 20,31) ist er zugleich eine metaphysische Figur. Andreas’ Sprechhandlung beantwortet durch 1 4 zudem nachträglich die Frage Jesu aus 1,38:
17
Vgl. Teil IV – Samaritische Frau: 2.1.
226
Teil III: Simon Petrus
„Was sucht ihr?“. Dies bestärkt die Erwartungsdimension des Titels, die sich auch in den vorausgehenden Belegstellen findet (vgl. 1,19–28). Wie Simon Petrus auf die Begegnung und das Zeugnis seines Bruders reagiert, bleibt offen. Andreas fährt mit seinem Handeln fort und bringt Petrus zu Jesus. Als grammatikalisches Objekt ist er zumindest Handlungssubjekt der Fortbewegung, die in 56 impliziert ist. Diese Handlung wird aber in der gegebenen Formulierung unterschlagen. Petrus erscheint nicht agierend. Die Begegnung zwischen Jesus und Simon Petrus ist durch Jesu Wertschätzung geprägt. Zum einen ist die bewusste Wahrnehmung ( 7) ) durch Jesus erwähnt. Des Weiteren spricht er Petrus als redeinternen Adressaten (dritte Namensnennung) persönlich an. Drittens spricht Jesus ihm einen neuen Namen zu.18 Der Zuspruch eines neuen Namens hat berufenden Charakter. Er drückt einen Neuanfang und eine neue Identität aus. Gleichzeitig etabliert er ein Abhängigkeitsverhältnis oder zumindest einen Statusunterschied. Der Namensgeber ist dem Namensträger in der soziostrukturellen Figurenkonstellation übergeordnet, da er dessen Identität festlegt. Durch die Übersetzung und gleichzeitige Wiederholung des Namens betont der Erzähler diesen noch. Der metaphorische Gehalt des Namens Kephas wird aber nicht aufgelöst, sondern bleibt offen.19 Intertextuell betrachtet baut die Neubenennung auf atl. Berufungsgeschichten auf.20 In jedem Fall gibt Jesus Petrus so eine große Bedeutung21 – für die Erzählte Welt, für das Jüngerkollektiv und für den Handlungsverlauf. Jesu Sprechhandlung verrät dem Leser ein weiteres Familienmitglied. Der Vatername lautet Johannes22. Der Rückbezug auf den Vater ist in der Erzählten Welt nicht unüblich (vgl. 6,42.71). Er ist aber darüber hinaus zweifach bedeutsam. Zum einen drückt er auf der Beziehungsebene aus, dass Jesus Simon Petrus kennt, indem er ihn mit Namen und sogar Vaternamen ansprechen kann. Dadurch fokussiert Jesus die persönliche Beziehung, die die emotionale Figurenkonstellation prägt. Sprachlich findet das im "8 9 seinen Ausdruck (s. u.). Durch die sinnliche Wahrnehmung als einzigen Sprechhandlungsbezug wird Jesu umfassendes Wissen offenbart, was Petrus in seinem 18
Zur Bedeutung des Namens im Joh vgl. 17,11 f. In Offb 3,12 wird der neue Name ferner als eigenständiges Motiv genutzt. 19 Vgl. auch 3.1.1. In der Sekundärliteratur wird der neue Name meist auf Simon Petrus’ „Art und [seine] Bedeutung für das Gottesreich“ gedeutet, wie W. Bauer hier bereits formuliert, ohne die Aussage zu konkretisieren (ders., Joh, 40) – offenbar, weil dies ohnehin sofort durch die Petrus-Tradition verständlich ist (standhaft und unerschütterlich sowie Fels der Kirche; vgl. Mt 16,18). 20 Vgl. Abraham, Sarah, Jakob (Gen 17,5.15;32,29). Die ntl. Intertexte bleiben hier ausgespart. 21 Vgl. Schnackenburg, Joh I, 311. 22 In einigen Überlieferungen findet sich die an Mt 16,17 angeglichene Kurzform ‚Jona‘.
2 Einzelanalyse der Szenen
227
letzten Auftritt in 21,17 selbst formuliert. Jesus kennt ihn, ohne ihm begegnet zu sein. (Dass Andreas Jesus von seinem Bruder berichtet hat, wird nicht einmal angedeutet.23) Hier wird Jesu Allwissenheit als zeitübergreifende Dimension zum Ausdruck gebracht. Er kennt Petrus’ Herkunft und weiß über dessen Zukunft Bescheid. Sprachlich findet sich der zeitübergreifende Aspekt in dem doppelten " ausgedrückt. Das "8 9 benennt für die Gegenwart, "8 ) !4": spricht über die Zukunft. Diese Verheißung Jesu wurde durch den Erzähler bei der Erstnennung Petrus’ als erfüllt bestätigt. Im Erzählverlauf der Gesamterzählung erhält Jesu erstes Wort an Simon Petrus ("8 9 + Prädikativum) noch besondere Bedeutung, wie die Analyse der Lexemhäufungen zeigt. Verbunden mit diversen Hohetiteln wird "8 9 zur Bekenntnisformel (z. T. zum Ausdruck der Skepsis an solch einem Bekenntnis)24 und ein Gegenüber zu Jesu 6; < .25 So leiten 6; < und "8 9 die Identitätsaussagen schlechthin ein. Jesus kennt also nicht nur Simon Petrus’ Namen, sondern auch seine Identität. Eine Antwort bietet Petrus erst in seiner nächsten Szene – in dieser Episode kommt ihm Nathanael mit seinem Bekenntnis zuvor (1,49). Nach Jesu wörtlicher Rede endet das erzählte Geschehen. Mit der Übersetzung des Erzählers von Simons verheißenem Rufnamen schließt die Szene ab. Eine Reaktion auf Jesu Worte bleibt aus. Dies erstaunt angesichts der direkten Ansprache sehr, passt aber zu dem bisher von Simon Petrus gezeichneten Bild des Nicht-Agierens. Sowohl der Fortgang des Geschehens als auch Petrus’ Innenleben mit emotionalen oder kognitiven Prozessen, die durch sein Erleben ausgelöst werden, bleiben der Leserfantasie überlassen. Insgesamt erstaunt Simon Petrus’ Passivität. Insbesondere ein Vergleich mit den Szenen im direkten Kontext betont dies. Sowohl die vorausgehende als auch die nachfolgenden Berufungserzählungen sind nicht nur durch den unmittelbaren Kontext und den ähnlichen Inhalt, sondern auch durch das zeitlich strukturierte Erzählschema ( ) und das Verb 1 " parallelisiert. Dabei werden alle anderen sechs Figuren als handelnd und (abgesehen von Jesus selbst) sogar bekennend dargestellt.26 Petrus sticht dabei heraus. Er erscheint einzig als Objekt von Handlungen. Obgleich suggeriert ist, dass er seinem Bruder und Jesus zuhört, dass er zu Jesus geht,
23
Gegen Haenchen, Joh, 180. 1,49; 6,69; (10,24;) 11,27; 18,33. 25 Zum 6; < siehe auch Teil V – Judas: 6.4. 26 Johannes bekennt Jesus als Lamm Gottes und Gottes Sohn, Andreas und der unbekannte sprechen ihn als Meister an und haben ihn – laut Andreas – als Messias erkannt, Philippus bezeichnet ihn als den in Gesetz und Propheten Verheißenen und Nathanael als Gottes Sohn und König von Israel. 24
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Teil III: Simon Petrus
diesen ebenfalls ansieht und – zumindest im Rückblick von 6,68 aus – ihm nachfolgt, ist dies alles nicht berichtet.27 Bei der fünften Namensnennung in 6,8 ist die Information, dass Simon Petrus Andreas’ Bruder ist, nicht neu.28 So wirkt seine Erwähnung dort als Erinnerung des Lesers an seine Existenz und es fällt umso mehr auf, dass Petrus wieder nicht handelt. So steigt die Lesererwartung, wann Petrus aktiv werden wird. In 1,44 (vierte Nennung) steht wegen dieser fehlenden Aktivität sogar die Frage im Raum: Folgt Petrus überhaupt Jesus nach? Die Antwort liegt in seiner, dem Leser vermittelten, Bedeutung und im Zuspruch Jesu. Dieser, nicht Petrus’ eigenes Handeln, zeigen dem Leser die ab hier gedachte implizite Anwesenheit. 2.2 Szene 2 (6,67–71) Simon Petrus sechste Nennung, sein zweiter Auftritt und sein erstes InAktion-Treten ereignen sich in Joh 6. Nach der sogenannten Brotrede kommt es zu einer Trennung innerhalb der Jüngerschaft Jesu. Nachdem die Abkehr von vielen erzählt wurde, wendet sich Jesus an ‚die Zwölf‘. Übrige mögliche Anwesende werden dabei ausgeblendet. Diese Fokusverschiebung von den Abwendenden zu Jesus hin markiert den Beginn der Szene, die neue Ortsund Handlungsnennung in 7,1 das Ende. Der letztgenannte Ort ist die Synagoge in Kapernaum (6,59). So kann wohl Kapernaum als Ort festgehalten werden – zumal Jesus in 7,1 (weiterhin) in Galiläa ist. Ob das kurze Gespräch jedoch ebenfalls innerhalb der Synagoge stattfindet, ist zweifelhaft.29 Erstens bezieht sich 6,59 ausdrücklich nur auf das vorausgehende und zweitens markiert das & in 6,66 als Raffung einen neuen Erzählabschnitt. Das = in 6,67 kann sich sowohl auf den Moment des Abwendens der vielen als auch auf die Spanne des Nicht-mehrMitgehens rückbeziehen, sodass eine direkte zeitliche Kontinuität nicht gegeben ist. Durch die Nennung der Feste im größeren Kontext ist die Szene nur sehr grob eingeordnet: kurz vor, während oder irgendwann nach dem Passafest (6,4), welches im Frühling stattfindet (15. Nissan), und in jedem Fall vor dem Laubhüttenfest (7,2) im Herbst (15. Tischri). Damit ist seit 2,13 (und folglich seit Szene 1) in der Erzählten Zeit ungefähr ein Jahr verstrichen. Die 27
Der Einschätzung von L. Simon, gerade im Gegensatz zu Philippus und Nathanael (1,43–51) sei Simon Petrus’ Nachfolge unbestrittener und direkter (ders., Petrus, 129 f., 191), muss m. E. widersprochen werden, da diese der Passivität und dem Fehlen einer expliziten Reaktion nicht Rechnung trägt. 28 H. Tyhen sieht darin den Szenenanfang mit ihrem Ende (6,69) verbunden und so rückwirkend Jesu Auftrag in 6,12 an ‚die Zwölf‘ gerichtet (ders., Joh 338, 380). Die Zusammenschau beider Verse kontrastiert die Brüder in ihrer Skepsis an Jesu Wundermacht und das Bekenntnis zu ihm als Göttlichen. 29 Vgl. Schenke, Johannes, 119.
2 Einzelanalyse der Szenen
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Tageszeit (nach 6,22 ff. zumindest nicht nachts oder früh morgens) ist nicht erschließbar. Nachdem Jesus durch die Brotvermehrung viele begeisterte Anhänger (6,15) gefunden hat, suchen diese ihn am Folgetag auf. Innerhalb seiner Brotrede identifiziert er sich selbst (im ersten Ich-bin-Wort) mit dem Brot des Lebens (6,48), fordert zum Essen seines Fleisches und Trinken seines Blutes auf und attestiert im Anschluss einigen Anwesenden Unglauben (6,64). Aufgrund seiner Rede wenden sich viele ( )) ) seiner Jünger ab, wobei der genaue Auslöser und die Anzahl der Abwendenden unerwähnt bleiben.30 Jesu Zuwendung zu ‚den Zwölf‘ löst ein von Simon Petrus ausgesprochenes Bekenntnis des Kollektivs aus. Jesu Reaktion sondert einen aus der Zwölfergruppe als 7 ) aus. Den Szenenschluss bildet ein erklärender Erzählerkommentar. Da diese Szene auch einen Auftritt der Figur Judas enthält, sind zwei Schwerpunkte der Analyse im entsprechenden Kapitel dort zu finden.31 Dies betrifft zum einen das Kollektiv ‚der Zwölf‘ mit Jesu Ansprache an sie und zum anderen Jesu 7 ) -Ausspruch mit der Erläuterung des Erzählers im Anschluss. Jesus fragt die Zwölf, ob sie weggehen (1 6 ) möchten. Sein einleitendes 4 deutet bereits an, welche Antwort er erwartet. Die angesprochenen Jünger werden seine Frage verneinen. Diese Reaktion lässt sich doppelt begründen: Erstens – aus diegetischer Sicht – sind sie ja bereits geblieben, während andere gingen. Zweitens zeigt eine Reflexion im Nachhinein: Jesus hat sie erwählt (6,70). Jesu Frage richtet sich als Leseransprache auch über die Erzählung hinaus an den Leser.32 Auch er wird zu einer Entscheidung für oder gegen Jesus genötigt, da in dem erzählten Verhaltensdualismus (weggehen oder nicht weggehen) kein Spielraum für ein ‚vielleicht‘ verbleibt. In der MitBetroffenheit des Lesers steigert sich die Empathie zu den Angesprochenen. Die Zwölf, als die bei Jesus gebliebenen, liefern ein kollektives Identifikationsangebot. Die Antwort auf Jesu Frage gibt Simon Petrus. Er wird als Teil und zugleich als Sprecher der Zwölf etabliert, seine Antwort gilt als Antwort aller, was sich auch innerhalb der Sprechhandlung durch die konsequente Verwendung der 1. Person Plural ausdrückt. Auch die Struktur des gesamten Dialogs unterstreicht dies. Der Erzähler macht nicht nur die Sprechenden, sondern jeweils auch die Angesprochenen explizit. Jesus spricht als Einzelfigur im Singular ein Kollektiv (‚die Zwölf‘) im Plural an. Die Antwort gibt Petrus als 30
S. E. Hylen liest diesen Abschnitt als intertextuelles Spiel mit der Exoduserzählung (Ex 16 f.). Vgl. dies., Believers, 63 f. 31 Vgl. Teil V – Judas: 2.1. 32 Vgl. Schnelle, Evangelium, 154.
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Teil III: Simon Petrus
Einzelfigur, der im Plural von sich redet und Jesus im Singular anspricht. Daraufhin spricht Jesus wieder zu „ihnen“ ( & > ) im Singular von sich unter Verwendung einer Anrede im Plural. Die Dialogstruktur erweist also redeextern und in den Sprechhandlungen zwei Dialogpartner: Jesus und die Zwölf. Einzig die Sprechhandlungseinleitung in 6,68 nennt eine Einzelfigur anstelle des Kollektivs. Petrus substituiert so das Kollektiv der Zwölf. Dadurch kommt seine Kollektivzugehörigkeit implizit und zugleich sehr deutlich zum Ausdruck. War Jesu Sprechhandlung als Leseransprache betrachtet worden, ist der Leser eingeladen, Petrus’ Antwort als seine eigene Antwort gelten zu lassen, sich in den Plural zu integrieren und Petrus auch zu seinem Sprecher zu erklären.33 Dabei ist dessen erstes Wort die Anrede . Diese ist bereits durch mehrere Nichtjüngerfiguren für Jesus etabliert.34 Sie fungiert als höfliche Ansprache, deutet eine Unterordnung an, ohne bereits als Bekenntnis zu gelten. Dieses wird erst später in den Ausdruck eingetragen.35 Simon Petrus beantwortet Jesu Frage mit einer rhetorischen Gegenfrage. Dabei greift er das ‚Weggehen‘ – allerdings mit der Vokabel des Erzählers, nicht mit der, die Jesus verwendete – auf, wechselt jedoch den Fokus. War durch das Ende von 6,66 und Jesu Frage eher das Abwenden von diesem im Blick, fragt Petrus nach einem Alternativziel. Ist diese Frage tatsächlich rhetorisch? Nach 6,66 wäre eine durch den Erzähler vorgeschlagene Möglichkeit: < ? @ " . Dieses unkonkrete ‚zurück‘ wird aber durch das personelle ausgeschlossen. Eine andere Figur als Jesus, die hier gemeint sein könnte, wird nicht vorgestellt. Petrus bekennt, dass es keine alternative Person gibt, der sie sich zuwenden können. Indem er sein Bekenntnis mit einer Alternativlosigkeit formuliert, nimmt er eine Extremposition ein. Es gibt nur eine Richtung, die ihr Weg einschlagen kann, nur eine Person, an der sie sich ausrichten können. Petrus erscheint so durch seine Sprechhandlung als extremer und nachdrücklicher Jesusanhänger charakterisiert. Auch die folgende Begründung innerhalb seiner Figurenrede unterstreicht das. Simon Petrus ordnet Jesus ein Attribut zu, das definitiv positiv, aber nicht vollends verständlich ist. „Worte eines ewigen Lebens“ kommen nur an dieser Stelle im Joh vor. Die A4 , die im Joh nur die Worte Jesu bezeichnen,36 wurden unmittelbar zuvor (6,63) von Jesus mit Leben (und Geist) identifiziert. Inwiefern Worte (Geist und) Leben sein können, wird nicht konkreti33 C. R. Koester betont die Einflüsse aus verschiedenen christlichen Traditionen in Simon Petrus’ Antwort und die dadurch erwachsende Christentums-einende Funktion (vgl. ders., Symbolism, 70). 34 4,11.15.19.49; 5,7; 6,34. 35 Siehe dazu 4.1 sowie in Teil VI (Thomas) 2.4. 36 Es gibt zwölf (ausschließlich pluralische) Belegstellen des Lexems AB , die sich sämtlich auf Jesus beziehen. Angemerkt sei, dass in 8,47 A4 direkt Gott zugeordnet ist und nur indirekt durch den Kontext (8,46) Jesus; ähnlich, aber expliziter in 3,34.
2 Einzelanalyse der Szenen
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siert. Die naheliegende Deutung ist, dass sie Leben spenden.37 Diese weiterhin abstrakte Ausdeutung erfährt zwar in 11,43 f. Konkretion, muss aber auch in der metaphorischen Bedeutungsebene der Worte ‚Tod‘ und ‚Leben‘ über die reale Existenz hinaus auf die geistliche bezogen werden. Gerade die Verbindung mit < . in 6,68 betont eine metaphysische Dimension. Der Ausdruck ‚ewiges Leben‘ wird mehrfach im Joh, vor allem in Jesu Rede, verbunden erscheint es bei seiner Erstnenverwendet.38 Ebenfalls mit nung in 3,15 f. Im Kontext dieser Referenzformulierung verheißt Jesus denjenigen ewiges Leben, die an den Menschensohn bzw. den Sohn Gottes glauben. In 3,34–36 wird das wiederholt. Dort ist es erstens mit dem Geist, den Gott gibt, und zweitens mit dem Leben, das die Glaubenden erhalten, verbunden. Drittens wird festgehalten, dass Jesus die Worte Gottes ( ? A4 ' ! ') spricht. So wirkt Petrus’ Ausspruch in 6,68 als Wiederaufnahme der Motive jener Verse. Auch in dem Szene 2 vorausgehenden Abschnitt, in der sogenannten ‚Brotrede‘, führt Jesus Ursachen an, die ewiges Leben bedingen,39 und betont den endzeitlichen Aspekt durch die Verbindung mit der Auferweckung am jüngsten Tag. Dreimal wird mittels einer Partizipkonstruktion Handlungen zur Voraussetzung für ewiges Leben: Brot bzw. Jesu Fleisch essen und sein Blut trinken.40 Dass Jesus die Kriterien zur Erlangung ewigen Lebens kennt und diese sämtlich mit ihm verbunden sind, bestätigt, dass Petrus nicht irrt, als er Jesus zuspricht: „Du hast Worte eines ewigen Lebens“.41 Das von ihm gewählte Verb drückt keinen Besitz im Sinne eines ‚Festhaltens‘ aus, sondern vielmehr eine Zugehörigkeit. Schon der Begriff A4 schließt die Weitergabe ein, da sie erst durch das Aussprechen zu Worten werden.42 Inwiefern die eingespielten Referenzmotive in Petrus’ Wissen einbezogen werden können, ist schwierig zu beurteilen. Die Sprech37
M. Stare sieht darin die Besonderheit von Jesu Worten, dass sie „das Leben vermitteln“ können, wobei sie betont „nicht vergängliches, sondern ewiges ( G ) G "! H ())I 6J G ) G 1 0 . Die Zugehörigkeit der Zwölf zu Jesus beruht nicht auf einer eigenmächtigen Entscheidung. So sind in Jesu Antwort sowohl Zuspruch und Bestätigung als auch Korrektur und Kritik lesbar. Der folgende Nachsatz stößt nun eindeutig in negative Richtung, indem er einen Teufel unter den Zwölf ausmacht. Für die Jünger bleibt dieser unausgedeutet, für den Leser deckt der Erzähler die Identität der gemeinten Figur auf: 7 ) -Ausspruch Jesu zugeJesus spricht von Judas.51 Dass Judas dem ordnet wird, bedeutet für Simon Petrus zunächst, dass er damit nicht gemeint ist.52 Zugleich ist er aber als Sprecher der Zwölf auch Sprecher von diesem geworden. Einerseits stehen sich der bekennende Petrus und der überliefernde Judas im Kontrast gegenüber, andererseits gehören sie zusammen zu den zwölf Jüngern um Jesus, sind in Jesu Wahl vereint und zusätzlich durch den 50 Auch die Berufungserzählungen veranschaulichten mit Ausnahme von Philippus (1,43) keine Auswahl Jesu – vielmehr forcierten dort andere Figuren die Begegnung (ihre eigene oder die anderer) mit Jesus. 51 Zu Details zu diesen Versen siehe Teil V – Judas: 2.1. 52 Zum intertextuellen Spiel mit Mk 8,33 parr. siehe Thyen, Joh, 382.
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Namen Simon verbunden.53 Dies ist der erste von drei expliziten gemeinsamen Auftritten. Der zweite folgt in Joh 13. 2.3 Szene 3 (13,1–30) Simon Petrus’ dritte Szene füllt zusammen mit seiner vierten (vgl. 2.4) das gesamte Kapitel 13 des Joh. Die Abgrenzung nach vorne ist durch die auffällige Erzählereinführung markiert, die sich – insbesondere mit dem Motiv des Kommens von Jesu Stunde54 – markant vom Vorausgehenden abhebt. Szene 3 endet mit einer Änderung der Figurenkonstellation, indem Judas die Jüngergemeinschaft verlässt. Trotz großer Textmenge wird auf die Bildung von Binnenszenen55 verzichtet. Stattdessen werden bei der Analyse dieser Szene Schwerpunkte – und zwar auf die Verse 4–10.12–17.21–30 – gelegt. Neben Petrus wird auch Judas in dieser Szene mehrfach genannt oder es wird auf ihn angespielt.56 Die Szene spielt in einem Jerusalemer Haus57, in dem Jesus und seine Jünger gemeinsam zu Abend essen (13,2). Besteht dieser Vertrautenkreis in Jesu letzter Nacht aus ‚den Zwölf‘,58 wären dreizehn Figuren anwesend. Die Anzahl wird durch die benannten Figuren in dieser und der Folgeszene auf mindestens sieben festgelegt und durch die Handlung der Fußwaschung und das gemeinsame Mahl innerhalb eines Hauses in jedem Fall auf eine abzählbare Menge begrenzt. Die Szene beginnt am Abend und endet laut 13,30 in der Nacht. Im Nachhinein wird deutlich, dass es sich um die Nacht auf den 14. Nisan, Jesu Todestag, handelt.59 Vor dem neuen Einsatz der Erzählung in 13,1, welcher oft als Auftakt für den zweiten Teil des Evangeliums gesehen wird,60 schildert der Erzähler die 53 Die etwas einseitig negative Zeichnung von C. M. Conway drückt die Ungewissheit einer Bewertung des Zwölferkollektivs mit dem Ausdruck „shadow auf betrayal, which is cast over the whole group“ treffend aus (dies., Men, 169). 54 Das Kommen von ‚Jesu Stunde‘ ( ) wird zuvor mehrfach angekündigt: 2,4; 7,30; 8,20; vgl. 4,21.23. 55 Mögliche Zäsuren sind nach 13,3.15.17.18.21. 56 So ergänzen sich die Analyse hier und die der Szene bei Judas (vgl. Teil V – Judas: 2.3). 57 Seit 12,20 befindet sich Jesus in Jerusalem (triumphaler Einzug in 12,12–19), in 13,30 geht Judas ‚hinaus‘. 58 Vgl. Teil I – Einleitung: 4.1.3. 59 Da sich (abgesehen von den Verweisen auf jüdische Feste und Nennung von Jahreszeiten) keine Datierungen oder Monatsangaben im Joh finden, beziehen sämtliche dieser Angaben Rückschlüsse aus historischer Forschung ein. Hier dienen die Angaben in erster Linie dazu, die Chronologie der Ereignisse der Erzählten Welt benennen zu können. Vgl. zur Datierung von Jesu Todestag z. B. Ruckstuhl, Chronologie, 13–19; zu den jüdischen Festen im Joh vor dem Hintergrund rabbinischer Literatur z. B. Felsch, Feste. 60 Vgl. Bruner, Gospel, 745; Bultmann, Evangelium, 348, 351; Schenke, Johannes, 12, 253; Theobald, Evangelium, 27–29; anders z. B. Thyen, Joh, 509, 582.
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Teil III: Simon Petrus
Reaktion auf Jesu vorletzte öffentliche Rede. Unter Aufnahme von zwei Jesajazitaten begründet und kritisiert er in einer Kommentierung den Unglauben der Menge und den heimlichen Glauben ‚vieler Angehöriger der Oberschicht‘ ( % ( 3 )) KL). Jesu letzte Rede greift in aller Kürze bereits benannte Themen auf und endet offen. Weder Adressaten noch eine Reaktion werden benannt. Mit der veränderten Situation setzt in 13,1 erzählerisch ein Ritardando ein, bis in Joh 14–17 schließlich Erzählte Zeit und Erzählzeit nahezu synchron laufen. Nachdem Judas das Haus verlassen hat (13,30), spricht Jesus – von wenigen Rückfragen unterbrochen – ausgiebig zu seinen Jüngern und bereitet sie auf zukünftige Ereignisse vor. Szene 3 ist durch das Handeln und vor allem Reden Jesu geprägt. Außer ihm agieren nur drei weitere Figuren: Simon Petrus, der Geliebte Jünger und Judas. Nach einigen Erzählererläuterungen, die über die Erzählte Zeit hinausgreifen, doch durch Zeit- und Situationsangaben mit dieser verknüpft sind (13,1.2: + M B N B ' " ; .6 .), setzt in 13,4 die Handlung mit einer bemerkenswerten Detailfülle ein. Jesus steht auf, legt sein Gewand ab, nimmt ein Tuch, bindet es sich um ( D; . KO), füllt Wasser in eine Schüssel, wäscht die Füße der Jünger und trocknet sie. Mit den sieben Verben der Fortbewegung und überwiegend objektbezogenen Handlung wird Jesu Tun hervorgehoben und bekommt ein eigenes Gewicht. Die metaphysische Einordnung der Situation (13,1–4), das Ausschmücken der Handlung und die Vielzahl assoziierter Gegenstände markieren das Ereignis als besonders in der gesamten Erzählung. Die Waschung vollzieht Jesus am Kollektiv der Jünger.63 Obwohl die Handlung an jeder Einzelfigur nacheinander vollzogen vorgestellt werden muss, rückt durch die Raffung nicht der Dienst am Einzelnen in den Blick. Auf der Grundlage von 13,1 sind die anwesenden Jünger als P Q einzuordnen und die Fußwaschung als Konkretion von Jesu Liebe zu ihnen.64 Gleichzeitig kontrastiert der Akt der Fußwaschung die bestehende soziostrukturelle Figurenkonstellation. Das Waschen von Füßen ist eine Geste der Unterordnung (vgl. Joh 12,3) und kennzeichnet die niedere Stellung des Waschenden.65 Simon Petrus unterbricht die Handlung. Jesu Bewegung zu ihm wird eigens erzählt und kündigt so an, dass diese Begegnung sich von den übrigen, kollektiv zusammengefassten Waschungen unterscheiden wird. Dass ausge61
Zu P 5 als Figur siehe Luther, Authorities. Zum Thema ‚Kleidung‘ siehe 5.4. 63 Zu einer Einordnung von Fußwaschungen in den antiken Kontext siehe J. Augenstein, Liebesgebot, 29–32, welcher rituelle Reinheit und Reinigung vor dem Essen ausschließt. 64 Fußwaschungen konnten innerfamiliär gegenüber dem Vater „als Ausdruck der Liebe verstanden“ werden oder „als Zeichen der Hochachtung, wenn der Schüler dem Lehrer die Füße wusch“ (Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 155 f.). 65 Vgl. Bruner, Gospel, 762f; Augenstein, Liebesgebot, 31; Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 155 f. 62
2 Einzelanalyse der Szenen
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rechnet Petrus in der Szene betont wird, überrascht. Er war seit 6,68 f. nicht mehr genannt worden. Naheliegender wäre ein Konflikt mit dem vom Teufel beauftragten Judas (vgl. 13,2). Doch nicht ‚der Überlieferer‘, sondern ‚der Fels‘ tritt mit Jesus in Dialog. Als Kontrastfiguren werden die beiden Jünger auch im weiteren Verlauf dargestellt. Gegenüber Petrus’ Auftritt in Szene 2 ist hier seine Initiative noch deutlich verstärkt. Reagierte er dort auf eine Frage Jesu, offenbart hier seine Sprechmotivation seine Meinung zu der Handlung Jesu. Unaufgefordert ergreift er das Wort. Er ist dabei der Erstsprechende der Szene. Mit der bereits geläufigen Anrede wendet er sich an Jesus und unterbricht diesen in seinem Tun. Er betont in seinem Einwand sein Gegenüber durch das Personalpronomen " . Dabei formuliert er so, dass beide Personalpronomina zusammenstehen. Jesus ist an erste Stelle gestellt, Simon Petrus ordnet sich in seiner unmittelbaren Nähe ein. Eine besondere Nähe zwischen den Figuren Petrus und Jesus ist bislang nicht zum Ausdruck gekommen. In der Menge des erzählten Geschehens von zwölf Kapiteln stechen die Neubenennung (Sz. 1) und der Wunsch zu bleiben (Sz. 2) kaum heraus. Durch die Hervorhebung von Petrus aus dem Kollektiv wird Jesu Handlung an ihm betont und ein besonderes Verhältnis zur Darstellung gebracht. Obwohl sie zuvor explizit erwähnt wurden, erscheinen alle übrigen Jünger während des Dialoges ausgeblendet – dies wird sowohl in der redeexternen Adressatennennung der Figurenreden als auch in den Sprechhandlungen selbst deutlich. Wie die anderen Jünger reagieren, wie sie empfinden, was sie wissen und verstehen, bleibt unausgesprochen, eine Leerstelle.66 Auch dass Petrus (als einziger Jünger) überhaupt einen Einwand vorbringt, weist auf eine besondere, positiv gefärbte Beziehung zwischen den beiden in der emotionalen Figurenkonstellation hin. Dass Jesus auf den Einwand eingeht, bestätigt diese. Hinzu kommt die Nebeneinanderstellung der Personalpronomina, die sogar das . von 8 3 trennt. Simon Petrus’ Einwand verdeutlicht das sozial-kulturelle Setting und die soziostrukturelle Figurenkonstellation der Anwesenden. Es gebührt Jesu Stellung nicht, einen Dienst wie die Fußwaschung an seinen Jüngern auszuführen. Eher wäre die Aufgabenverteilung umgekehrt. So wie die Jünger den Einkauf, die Verwaltung des Geldes oder das Schöpfen von Trinken für Jesus übernehmen,67 sollten sie selbstverständlich auch das Füßewaschen ausführen. Petrus ist dies bewusst und so unterbricht er Jesus in seinem Tun. Jesu Antwort weist zwei Kontrastierungen auf: eine auf der Beziehungsebene und eine temporale. Die erste bezieht sich auf das Verhältnis zwischen ihm und Simon Petrus. Sprachlich rücken die Personalpronomina auseinan66 T. Wiarda vermutet, dass sie Simon Petrus’ Unbehagen, von Jesus bedient zu werden, teilen und den symbolischen Gehalt ebenfalls nicht verstehen (ders., Peter, 107). 67 Vgl. Teil IV – Samaritische Frau: 2.1; Teil V – Judas: 2.2.
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Teil III: Simon Petrus
der, inhaltlich wird Jesu Tun Petrus’ Nichtwissen gegenübergestellt. Explizit nennt Jesus beide ( 6; und " ). Petrus wird als grammatikalisches Subjekt dabei eine Negation zugeordnet. Da das zugehörige Verb ( 9 ) positiv konnotiert ist, steckt in dieser eine Wertung. Petrus wird defizitär gezeichnet. Jesus bestätigt seine Vorrangstellung (explizites 6;) und weist Petrus’ Einwand mit einer Fremdoffenbarung begründet zurück. So gibt Jesus dem Leser einen Einblick in dessen Innenleben. Ferner betont er so die unterschiedlichen Ebenen, auf denen die beiden Figuren agieren. Jesus handelt (objektbezogene Handlung), Petrus spricht (Sprechhandlung). Jesus agiert in vollem Bewusstsein seiner Tat, Petrus äußert aus Unwissen heraus Skepsis. Jesu Tun steht über Petrus’ Wissen. Ob damit eine prinzipielle Aufwertung des Tuns gegenüber dem Sprechen verbunden ist, kann erwogen werden. Die Hierarchie unter den Figuren steht jedoch im Vordergrund. Die zweite Kontrastierung liegt in Jesu Verheißung begründet. Einerseits wertet diese Simon Petrus wieder auf: Sein bestehendes Wissensdefizit wird ausgeglichen werden. Zum anderen rückt sie die Figur Petrus in eine zeitliche Spannung. Ungewiss ist die Dauer zwischen dem 5 und dem ? ' . Der Hinweis auf die diesbezügliche Begrenzung seiner Unvollkommenheit mahnt dazu, sich selbst zurückzunehmen und in Geduld zu üben. Vor allem die Unbestimmtheit des ‚Wann‘ der Erfüllung baut Spannung auf. Die Verben der Kenntnis 9 und 6 ;" verhalten sich zueinander tendenziell so, dass 9 einen Zustand beschreibt, während 6 ;" den Zeitpunkt der Veränderung dieses Zustands von Unwissen zu Wissen hin angibt. In diesem Sinn ist Wissen als ein Besitz, Erkenntnis als Veränderungsmoment dargestellt. Nicht nur Petrus wird durch diese Aussage Jesu vertröstet. Auch beim Leser löst die Verheißung die Erwartung aus, den Sinn der Fußwaschung zu erfahren – dass dieser eine bloße Reinigung der Füße übersteigt, ist durch die Betonung der Handlung und die soziostrukturelle Figurenkonstellation nahegelegt. Simon Petrus überzeugt Jesu Legitimation nicht, ihm genügt dessen Verheißung nicht. Er schließt eine weitere Figurenrede an. Seine Reaktion entspricht dabei einer Extremposition und unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht von seinem ersten Einwand, wenngleich der Inhalt beider Aussagen übereinstimmt. Zunächst fällt auf, dass Simon Petrus Jesus nicht mehr als Herr anspricht. Abgesehen von dem fällt auch die Ansprache mit dem Personalpronomen " weg. Die vormalige Unterordnung und Aufrechterhaltung der Hierarchie fehlt hier. Die emphatische Formulierung (s. u.) lässt auf einen vehementen Ausdruck der Sprechhandlung schließen, die eher einen Befehl (genauer: ein Verbot) als eine Bitte suggeriert. Wird demnach die soziostrukturelle Figurenkonstellation durch Petrus aufgebrochen? Falls ja, liegt ein Paradox vor, denn Petrus bricht dann mit der bestehenden Hierarchie gerade deshalb, weil er sie aufrechterhalten und die Unterordnung Jesu nicht akzeptieren will.
2 Einzelanalyse der Szenen
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Statt einer skeptischen Anfrage (wie zuvor) drückt er vehementen Widerspruch aus. Dies wird durch die doppelte Verneinung ( & 4), den Prohibitiv und durch < + 9 [ & ) = V 4" -
[
< ]
Tab. 3: Vergleich der drei ‚Leugnungs-Handlungen‘
Nach der Begegnung mit der Türhüterin wendet sich Simon Petrus einer anderen (Kollektiv-)Figur zu: Das als P ') P1 bezeichnete Kollektiv positioniert sich im sozial-kulturellen Setting auf niedrigster sozialer Stufe. Äußerliche Einflüsse zwingen Petrus in die Nähe zu den Opponenten aus Szene 5. Die Kälte kann als Spiegel von Petrus’ Gefühlslage gelesen
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werden. Da der andere Jünger nicht mehr erwähnt wird, ist er allein unter Feinden. Zugleich hat er bereits seine Identität abgestritten und darüber hinaus wurde Jesus als sein Freund (15,15), Herr und Lehrer (13,13) verhaftet. Die Nähe zu dem Dienerkollektiv wird durch das I & % und die gemeinsame Handlung betont. Dass sich Petrus hier in ein ungeeignetes Umfeld begeben hat, zeigen ein Vergleich mit 21,9125 und die folgenden Ereignisse. Während Simon Petrus bei der Dienerschaft steht und sich wärmt, wird Jesu Verhör erzählt. Die ineinander verschlungene Anordnung der beiden Szenen ohne erkennbare zeitliche Sprünge fällt in der Gesamtkomposition des Joh auf. So bilden die beiden Szenen (und insbesondere ihre jeweiligen Protagonisten) strukturell, mehr aber noch inhaltlich einen starken Kontrast.126 Der Hohepriester befragt Jesus nicht nur zu seiner Lehre ( B B & '), sondern auch über seine Jünger ( % ! % & '), was Petrus einschließt. Ferner fordert er zur Befragung Dritter als Zeugen auf. Als Jesus im Verhör Gewalt angetan wird, verlangt er dafür Rechtfertigung und kritisiert diese (vgl. Szene 5). Am Ende des Verhörs wird er weitergesandt, sodass, als die Erzählung der Szene von Petrus fortsetzt, schon die räumliche Distanz zu Jesus erheblich größer ist. Jesus wird weiter geschickt (( " ) ), Petrus verharrt stehend ( N" ; ). Der Kontrast durch die Verben der Fortbewegung bzw. fehlenden Fortbewegung verstärkt die Negativwertung der Situation von Petrus. Vom nicht näher bestimmten Kollektiv angesprochen bestreitet Simon Petrus abermals seine Jüngerschaft. Durch den Kontext und den sprachlichen Rückverweis ist das im Prädikat ( 9 ) enthaltene Subjekt mit den Dienern und Sklaven aus 18,18 zu identifizieren. Die Schilderung von Petrus’ Handlung entspricht in 18,25 der Formulierung in 18,18: N" J ! 3 . Auch die Sprechhandlung weist auf die Anfrage der Türhüterin als Referenzformulierung zurück (18,17). Die Doppelung der Wortwahl klammert beide Begegnungen trotz sieben Versen Abstand und Szeneneinschub zusammen. In der Figurenrede ist lediglich der demonstrative Hinweis auf Jesus ( ' ( ! ; . .) durch ein Relativpronomen ( & ') ersetzt. Ohne dass Jesus genannt wird, ist dieser offensichtlich gemeint. Die Änderung greift die Distanz zu Jesus auf, die durch sein WeitergeführtWerden entstanden ist. Wen das " in der Anfrage als Jünger neben Petrus begreift, ist mangels erneuter Erwähnung des anderen Jüngers im Kontext völlig offen. So verweist das eher auf ein allgemeines Wissen um eine Jüngerschaft Jesu. Das 4 erwartet eine verneinende Antwort. Dies kann zwar auf diegetischer Ebene als geringe Abschwächung des Befragungsdruckes und der Gefahr gewertet werden, extradiegetisch kommt dadurch aber 125
Siehe dazu 2.8. M. W. G. Stibbe schätzt die Szenen wegen dieser Kontrastierung als „highly ironic“ ein (ders., Storyteller, 97). Vgl. zur Kontrastierung a. a. O., 98 f. 126
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das Thema der Szene zum Ausdruck: Petrus’ Jüngerschaft wird angezweifelt. Die weitgehend wortgetreue Doppelung von Frage und Reaktion leitet den Leser zu einer Zählung des Geschehens. Die zweite Anfrage ist für Petrus eine zweite Chance, sich anders zu verhalten. Doch er wiederholt nur das, das Jesuswort kontrastierende, & < . Der Erzähler betont die Sprechhandlung, indem er sie doppelt einführt. Zu dem üblichen 9 tritt V 4" , welches Petrus’ Worte als Verleugnung klassifiziert und auch die Verheißung Jesu (13,38) aufgreift und als Referenz einspielt. So wird der Leser erinnert, dass eine dritte Verleugnung folgen wird. Diese schließt nun unmittelbar an. Aus dem Dienerkollektiv127 tritt eine Einzelfigur hervor, welche die Anfrage vierfach verschärft. Zum einen wird sie konkreter, indem als Sprecher eine genauer bestimmte Einzelfigur ( $ ) auftritt, anstatt eines nur im Prädikat enthaltenen Subjekts. Diese Gegenüberstellung spiegelt sich auch im 6; " in der Figurenrede. Weiter wird eine Beziehung zu Simon Petrus angegeben, die über das Zusammenstehen am Feuer hinausreicht und Malchus als Referenzfigur benennt. Diese Beziehung der Miteinander-Sprechenden ist so vor der Interaktion bereits spannungsgeladen. Denn kam Petrus in Szene 5 ungestraft für seine Gewalttat davon, vermag das Auftreten des Verwandten nachgeholte Konsequenzen mit sich zu bringen. Der explizite Rückverweis durch Wiederholung der Tat steigert diese Spannung. Außerdem wird die Frage nach der prinzipiellen Jüngerschaft durch den konkreten Vorwurf der Anwesenheit bei der Gefangennahme ersetzt. Dieser wird durch das Verb der Wahrnehmung ( ), die IchAussage,128 die Betonung des 6; und die Nennung des Ortes verstärkt. Viertens wird erstmalig erwartet, dass Petrus die Frage bejaht. Kam in den vorigen Fragen im 4 zum Ausdruck, dass die Sprecher nicht erwarten, dass Petrus wirklich ein Jünger ist, zeigt das & eine Gewissheit des Sprechers an, mit seiner Aussage im Recht zu sein. Dieser Katalog von Änderungen gegenüber den vorausgehenden Anfragen verschärft die Bedrohung der Situation erheblich. So ist der Auftakt zur dritten Verleugnung wirkungsvoll als Höhepunkt der Szene ausgestaltet. Simon Petrus muss reagieren und gemäß Jesu Verheißung lügen. Mit einem ) eingeleitet wird die iterative Dimension des Geschehens betont. Auch die Wiederholung von V 4" greift auf die vorige Verleugnung zurück. So ist die dritte und damit letzte erwartete Verleugnung abgeschlossen. Eine Sprechhandlung, die den Wortlaut des Abstreitens beinhalten wür127
In Joh 18 werden die Worte P 1 und P ') nahezu synonym verwendet und zumindest vermag ersterer Begriff letztere Figuren zu inkludieren (vgl. 18,3.10.12.26). Entsprechend wird der Ausdruck ‚Dienerkollektiv‘ als Oberbegriff betrachtet. 128 Selbstoffenbarungen kommt prinzipiell ein höherer Wahrheitsgehalt und in diesem Fall stärkerer Druck zu als Aussagen über andere Figuren.
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de, wird vom Erzähler nicht wiedergegeben. So erscheint Petrus vielleicht sogar als sprachlos. Er sagt nichts mehr zu seiner Verteidigung. In den Prozessmotiven und -metaphern der Szenen ab 18,13 wirkt die knappe Darstellung in zeitlicher Raffung wie ein Urteil, besiegelt durch den unmittelbaren ( &! ) Hahnenschrei. Dieser wirkt vor allem dadurch endgültig, dass er als Nachsatz die Szene beendet und Petrus nicht mehr reagiert. Für den Leser verbleibt er (N" ; ) in dieser Situation der Verleugnung am Feuer, als würde das Bild eingefroren. Noch vor Jesu Verurteilung wird das Urteil über Petrus gefällt. Jesu Verheißung hat sich erfüllt: Petrus ist ein Verleugner und Lügner. Damit ist der Tiefpunkt in Petrus’ Entwicklung erreicht. Durch die stetige Betonung des Verhältnisses zu Jesus als bedeutendste Dimension einer jeden Figur ist die dreimalige Leugnung der Beziehung zu diesem für Petrus der Ausdruck von gescheiterter Nachfolge und verfehlter Jüngeridentität. So erscheinen Judas und Petrus sehr nah beieinander. Als Signal der Hoffnung für Petrus kann nur die Zeitangabe des Szenenendes dienen. Der Hahnenschrei signalisiert den Anbruch des Morgens und beendet in diesem Sinn die Nacht.129 In der Negativbewertung von Simon Petrus’ Verhalten insbesondere durch die zunehmende Distanz zu Jesus und seine Position in steter Konfrontation werden Werte gewichtet: Das Bekenntnis zu Jesus – eventuell als Form von Treue und Aufrichtigkeit – wird dabei sehr hoch angesetzt. Es steht über Werten wie Sicherheit und Wohlbefinden. 2.7 Szene 7 (20,2–10) Simon Petrus’ nächster Auftritt ist erst nach Jesu Verurteilung, Hinrichtung und Begräbnis geschildert. Die Doppelszene beginnt mit Marias Erscheinen bei Petrus und dem Geliebten Jünger, welche auch das Figurenrepertoire der Szene bilden. Die Ortsangaben separieren nicht nur 20,1, sondern markieren auch zwischen 20,2 und 3 eine Szenenabgrenzung. Wegen der besonderen Bedeutung der Fortbewegungen werden die Szenen hier zusammen analysiert.130 Die Szene spielt an drei Orten: dem Ort, an dem Maria beide aufsucht, auf dem Weg zum Grab und am Grab selbst. Zeitlich ist sie am Morgen des 16. Nissans, zwei Tage nach Jesu Tod, angesetzt. Das Ende wird durch das Zurückgehen der Jünger und den Wechsel des Erzählfokusses auf die am Grab zurückgebliebene Maria (Orts- und Figurenwechsel) bestimmt. Bis auf Marias Sprechhandlung zu Beginn ist die Szene frei von Figurenrede. Der Erzähler schildert, beschreibt und kommentiert das Geschehen, 129
Siehe auch 6.2. 20,1 wird als Auftakt für das ganze Kapitel (leeres Grab als Grundlage für alle Auferstehungserzählungen, Marias Kommen zum Grab als Voraussetzung für 20,11–17, Maria als Informantin der Jünger für 20,2–10) in die Analyse einbezogen, aber nicht der Szene 7 zugerechnet. 130
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wobei das Erzählen des Wettlaufs zum Grab eine bereits gerafft benannte Handlung wiederholt. So erscheint der Lauf der beiden Jünger zum Grab als Analepse (s. u.). Fortbewegung und Ortswechsel durchziehen die Szene wie keine andere von Simon Petrus. Gerade nach der Stagnation im zweiten Teil von Szene 6 fällt dies umso mehr ins Auge. Von neun Verben, die Petrus als Subjekt haben, drücken sieben Bewegungen aus. Die Ortswechsel und die Analepse in 20,4 betonen diese zusätzlich. Der einzig konkret benannte Ort ist dabei das Grab Jesu. Die Bewegung auf dieses zu ist zentral. Dabei weist der Ausdruck < + > auf die Zielrichtung, nicht auf den genauen Endpunkt der Bewegung. So wird er sowohl verwendet, um Figuren vor dem Grab als auch im Grab zu positionieren. Diese Uneindeutigkeit betont die Bedeutung des jeweils der Bewegung zugeordneten Verbs (v. a. und < ). Die Brüche innerhalb der Szene lassen sich durch ein Bewegungsschema (Abb. 17) veranschaulichen. Vers Ort
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11–17
18
Im Grab
Am/Im Grab
Am Grab
M
Auf dem Weg Unbekannter Ort M = Maria
GJ
Im Grab
M
SP
SP SP GJ SP = Simon Petrus
GJ = der Geliebte Jünger
ohne: Jesus; Engel
Abb. 17: Figurenbewegungen in Joh 20,1–18
Vier Auffälligkeiten im Bewegungsschema werden hier benannt: Die Bewegung Marias, die Gemeinschaft der beiden Jünger, die Einzelhandlungen der beiden Jünger und der Sprung zwischen 20,3 und 4. Maria spielt eine Nebenrolle in der Szene, die auf die Informationsweitergabe reduziert ist. So ist ihr Verbleib in 20,3–10 offen gelassen; ebenso wie und wann sie erneut ans Grab kommt und wo sie in 20,11 steht. Ihre Bewegung in 20,2 vom Grab zu den Jüngern, um Zeugnis zu geben, bildet ein Referenzmotiv für ihre Bewegung in der Folgeszene in 20,18 und wird so parallelisiert.
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Simon Petrus und der Geliebte Jünger wechseln den Ort überwiegend synchron. Im Übrigen verlaufen ihre Bewegungen zwar zeitlich versetzt, aber in der Richtung übereinstimmend (veranschaulicht: parallel). So scheinen sie eng miteinander verbunden. Obwohl beide Jünger in 4b–8 separat handeln, sind ihre Handlungsorte zwar zeitversetzt, aber dennoch identisch. Innerhalb der Rahmung in 20,3.10, die die gemeinsamen Wege des Aufbruchs und der Rückkehr zeichnen, ist das Bewegungsmuster chiastisch. Die Ankunft des Geliebten Jüngers am Grab ereignet sich vor der von Simon Petrus. Jener jedoch betritt vor dem Geliebten Jünger das Grab. Durch diesen Versatz in der Fortbewegung (und den Wechsel des Fokusses) erhält jeder der beiden Jünger einen eigenen Schwerpunkt in der Szene und die Möglichkeit, Einzelhandlungen zu vollziehen. Deutlich sichtbar ist die Analepse zwischen den Versen 3 und 4, die sich im Bewegungsschema in einem sprunghaften Wechsel des Handlungsorts manifestiert. Es wird jedoch nicht der Ort verschoben, sondern in der Zeit zurückgesprungen. So fasst 20,3b zusammen, was in 4–6a erneut, detailliert und zugleich variiert berichtet wird. Simon Petrus’ Erleben während Jesu Prozess, Kreuzigung und Begräbnis wird in der Erzählung ausgespart. War er stehend bei den Feinden Jesu verblasst, tritt er nun – wie selbstverständlich – neben dem als von Jesus geliebt ausgezeichneten Jünger auf, welcher als einziger Jünger131 bei Jesu Kreuzigung am Handlungsort anwesend war. Die Verleugnung hat ihn zumindest nicht aus dem Jüngerkollektiv ausgeschlossen. Auch dass Maria (u. a.) ihn aufsucht, lässt auf seine weiterhin bestehende Sonderfunktion im Kollektiv schließen. Bei der Szeneneinführung und nachdem der Erzählfokus in 20,4b f. auf dem Geliebten Jünger lag, wird Petrus mit seinem Doppelnamen benannt. Die übrigen Namensnennungen verwenden nur den von Jesus verheißenen Rufnamen ‚Petrus‘. Der Geliebte Jünger wird eingangs mit seiner quasi-namentlichen Bezeichnung (U * ) W " ' ) eingeführt. Darüber hinaus dient in dieser Szene der Ausdruck 5)) ! 4 zu seiner Identifizierung. Anders als in 18,15 f. wird der Ausdruck nicht variiert.132 Eine rückwirkende Identifikation des Jüngers in Szene 6 mit dem Geliebten Jünger aus Szene 7 bleibt möglich und wurde vielfach vorgenommen, ist aber aufgrund der sprachlichen Differenz nicht zwangsläufig.133 Simon Petrus wird diesem in allen gemeinsamen Nennungen vorangestellt, was der Bedeutung der Jünger, die sie jeweils in der Erzählung bislang bekommen haben, entspricht. 131 Für die ebenfalls anwesenden Frauen fehlt die Bezeichnung ‚Jünger‘, weshalb sie nicht in das Kollektiv eingeordnet werden. 132 Dort findet sich die indeterminierte Form bei der Ersteinführung sowie die Formulierung ! 5)) . 133 Siehe dazu 4.5.
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Marias archetypische Rolle ist in dieser Szene auf die eines Herolds reduziert. Sie ruft die Jünger zum Aufbruch und bietet den Auslöser für die Szene, ohne ein eigenes Gewicht zu bekommen. Dies wird ihr erst im Anschluss (20,11–18) zuteil. Zwischen 19,42 und 20,1 bleibt der Handlungsort – das Grab Jesu – konstant. Maria überführt die Handlung gewissermaßen zu den Jüngern, bevor diese erneut am Grab eintreffen. Bemerkenswert ist, dass Maria in 1. Person Plural spricht, ohne dass weitere Figuren benannt wären. Somit ergibt sich als Leerstelle, ob Maria innerhalb eines Kollektivs (wie in 19,25) auftritt und das Handlungssubjekt in 20,1 f. mehrere Figuren umfasst. Durch ein Kollektiv würde die Glaubwürdigkeit der Aussage noch verstärkt. In jedem Fall wird kein Zweifel der beiden Jünger am Wahrheitsgehalt der Behauptung und Selbstoffenbarung Marias deutlich. Sie reagieren nicht mit einer Sprechhandlung, sondern mit einer Bewegung (20,3). Durch die Folge von auf G wird der Weg, den die Jünger zurücklegen, elliptisch übersprungen. Ihre unmittelbare Reaktion auf Marias Sprechhandlung ist das Aufsuchen des Handlungsortes, auf den sie verweist. Wird Marias Figurenrede als Appell eingeordnet, folgen sie diesem, als Information eingestuft, überzeugen sie sich durch eigene Wahrnehmung. Der Lauf der Jünger wird als gemeinsam beschrittener Weg eingeführt (20,4a). Was die Eile motiviert, ist offen. Diegetisch ist es zunächst die Brisanz von Marias Nachricht. Darüber hinaus erzeugt die Schilderung eines Laufs eine Wettkampfmetaphorik, die ein konkurrierendes Verhältnis andeutet. Beide Jünger erscheinen im Ausdruck P ' zusammengehörig. Dieser und die gemeinsamen Nennungen in 20,2 f. etablieren sie als Parallelfiguren. Durch die Analepse (ab 20,4) wird ein eigener Schwerpunkt auf die Wegstrecke gelegt, die dem Leser zuvor als bereits überwunden dargelegt wurde (s. o.). Der gemeinschaftliche Lauf ist der Ausgangspunkt. Daraus bricht der Geliebte Jünger aus. Dreifach kommt ein Vergleich zwischen beiden Jüngern zum Ausdruck, wobei der Geliebte Jünger schneller läuft und vor Simon Petrus positioniert wird. Zunächst zeigt an, dass das gemeinsame Laufen aufgebrochen wird und der Geliebte Jünger sich lokal vor Petrus bewegt. Einen direkten Vergleich eröffnet der Komparativ . Dabei erscheint Petrus nur implizit als langsamer. Die besondere Geschwindigkeit des Geliebten Jüngers bleibt unbegründet. Die Konsequenz aus dem schnelleren Vorauslaufen ist die frühere Ankunft am Grab ( % ). Allein in seiner quasi-namentlichen Benennung wird durch die Liebe Jesu zu ihm eine besondere Hochschätzung ausgedrückt, die Petrus jedoch nicht explizit vorenthalten wird. Ferner wird diese Bezeichnung während der Erzählung des Laufes nicht verwendet. Die zweite Identifizierung des Geliebten Jüngers erfolgt in 20,8 als derjenige, der zuerst ( % ) ans Grab kam. Damit wird die kürzlich geschilderte Voranstellung des Geliebten Jüngers betont. Dort endet bereits die Wettkampfmetaphorik, da ausdrücklich kein Sieger und
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Verlierer verkündet wird.134 Bei aller Hervorhebung wird Petrus’ Position stets unverändert belassen. Petrus wird nicht als der langsamere oder spätere Jünger bezeichnet, sondern das Handeln des Geliebten Jüngers bewirkt den Vorsprung. Am Zielpunkt wartet jener auf den Nachkommenden. Im Gegensatz zu Petrus gewährt er diesem beim Betreten den Vortritt und ordnet sich ihm so unter. Erst nach Petrus ( 3 = ) betritt der Geliebte Jünger das Grab. Er ist in doppeltem Sinne der zuvorkommende Jünger. Durch das Vorauslaufen des Geliebten Jüngers gerät Simon Petrus in eine bemerkenswerte Position. Er folgt dem Geliebten Jünger nach. Explizit schildert der Erzähler seine Ankunft mit ( ) .! & T. Da ( ) .! bei Analyse der Lexemhäufungen besonders für die Nachfolge Jesu erscheint, ist darin auch Petrus’ Jüngerschaft thematisiert.135 Die Verheißung der späteren Nachfolge aus Szene 4 ist aber immer noch nicht erfüllt, denn das Objekt ist vertauscht. Petrus folgt dem Geliebten Jünger anstatt Jesus. Auch das Themenfeld ‚Kommen und Sehen‘ hat ein Referenzmotiv im Kontext der Jüngerschaft. Es erinnert an die erste Jüngerberufung unmittelbar vor Szene 1 (1,39). Dort hatte Jesus die beiden Johannesjünger zu beidem aufgefordert und ihr Befolgen hatte den Eintritt in die Jüngerschaft Jesu markiert. Hier kommen nun erneut zwei Jünger, um nach Jesu Verbleib zu sehen.136 Für den Geliebten Jünger führt dieses Sehen zum Glauben, für Simon Petrus fehlt eine vergleichbare Aussage. Erneut muss der Leser sich gedulden, wann Petrus’ Zeitpunkt gekommen ist.137 20,9 sticht aus dem Erzählverlauf heraus. Der Erzähler kommentiert das Ereignis. Dabei bewirkt das 6 eine Irritation, da so der Glaube des Geliebten Jüngers mit der Unkenntnis der Schrift begründet wird. Damit ist in Frage gestellt, was der Geliebte Jünger glaubt, wenn nicht, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Die einfachste Lösung, nämlich dass der Geliebte Jünger lediglich Marias Worten Glauben schenkt,138 wird dem Gehalt des Wortes 134 L. Schenke lehnt die Metaphorik deshalb vollständig ab: „Von einem Wettlauf sollte man nicht sprechen, sonst hätte Petrus ja verloren, und gerade das will der Autor am allerwenigsten zum Ausdruck bringen“ (ders., Johannes, 373). 135 Siehe dazu 5.2. 136 In 1,39 verwendet der Erzähler , hier zudem 7) und ! . Die Jünger sehen im Grab die Tücher mit denen Jesu Leichnam umwickelt war (19,40; vgl. 11,44). M. E. ist die detaillierte Beschreibung (20,7) für Simon Petrus (womöglich im Gegensatz zu dem Geliebten Jünger oder Maria) kaum von Ertrag. Deshalb wird sie hier übersprungen. Da sie bei einer narratologischen Analyse jedoch heraussticht, sei auf eine mögliche Deutung verwiesen: Die auffällige Betonung des gesonderten Platzes des Schweißtuchs (20,7) macht J. Frey als Argument gegen den von Maria vermuteten Leichenraub (20,2) plausibel (vgl. ders., Herrn, 275; ders., Leiblichkeit, 725 f.). Frey stützt sich zzgl. auf Lk 24 als Intertext, was für die Erklärung der auffälligen Beschreibung der Tücher m. E. nicht nötig ist. 137 Vgl. Schenke, Johannes, 368. 138 Vgl. Aug., Evangelium, 664 (=Aug., Lectures, 436).
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" nicht gerecht. Als Zentrallexem ist das Verb semantisch aufgeladen. Die geistliche Dimension des Glaubens an Gott, Jesus und das, was dieser sagt, muss mitgedacht werden – zumal es absolut steht. Vielleicht verweist das 6 lediglich auf die ausgesparte Erwähnung von Simon Petrus’ NichtGlauben angesichts des leeren Grabes. In jedem Fall weist das & auf eine Retrospektive, in der anhand der Schrift geglaubt wird. So gelesen ist das Handlungssubjekt auch als unbestimmtes Jüngerkollektiv verstehbar, welches sich nicht auf Petrus und den Geliebten Jünger beschränkt. Als Referenzmotiv kann dabei 2,22 dienen: „Als er dann auferstand von den Toten, erinnerten sich seine Jünger, dass er dieses sagte und glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus sagte.“ So fungiert die Kommentierung primär als Leseransprache und sogar als Appell an diesen, indem sie aus der Kenntnis der Schrift Glauben folgert. Nicht das eigene Sehen und Erfahren des leeren Grabes ruft den Glauben hervor,139 sondern das Wissen um die Zwangsläufigkeit des Sterbens und Auferstehens Jesu. Den Szenenschluss bildet die Rückkehr der beiden Jünger. Sie werden in dem Kollektiv P ! wieder vereint. Die Unterscheidung und Konkurrenzsituation wird damit aufgehoben. Wohin sie genau gehen, wird nicht expliziert. Der Ausdruck + & ist wohl am ehesten auf ihr Zuhause zu deuten. Ebenso kann er die Gemeinschaft der Jünger bezeichnen, die vielleicht in 20,9 gemeint war und in der Maria sie (zumindest mutmaßlich) in 20,18 antrifft. Über Simon Petrus sagt diese Bemerkung aus, dass er eine Bleibe in Laufweite des Grabes hat, an der er in Sicherheit ist und von anderen aufgesucht werden kann. 2.8 Szene 8 (21,1–14) Simon Petrus’ letzte beiden Szenen werden nach dem ersten Epilog erzählt. Die erste ist dabei in einer auffälligen Rahmung durch einen Einleitungs- und einen Abschlusssatz von ihrem Kontext abgegrenzt, welche die Begebenheit als Offenbarung Jesu vor den Jüngern zusammenfassen. Als Ort ist der See Tiberias140 in Galiläa genannt, wobei die Szene überwiegend am Ufer, zum Teil aber in einem Boot auf dem See spielt. Zeitlich 139
Wenn J. Frey im Gegensatz dazu den Glauben des Geliebten Jüngers aufgrund des leeren Grabes als mustergültigen Osterglauben ausweist (vgl. Frey, Herrn, 275 f.), greift er die absolute und uneingeschränkte Verwendung von " auf (s. o.), umschifft aber zugleich das irritierende 6 . Inwiefern für die Figur des Geliebten Jüngers Glaube (20,8) und Sehen zusammenhängen und zusammen mit seinem Unverständnis (20,9) ein stimmiges (oder anregendes) Bild ergeben, müsste eine genaue Analyse von diesem zeigen. Für Simon Petrus erscheinen Schrift-Verstehen und Glauben in einem notwendigen Zusammenhang, der durch die Kommentierung betont und hier ausgewertet wird. 140 Dieser wird auch als Galiläisches Meer oder See Genezareth (in den synoptischen Evangelien) bezeichnet. Intratextuell verweist die Ortsnennung auf 6,1 zurück.
2 Einzelanalyse der Szenen
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ist der 24. Nisan das frühestmögliche Datum.141 Der Beginn der Szene ereignet sich am Vorabend und in der Nacht vor der (erneuten) Begegnung mit Jesus, welche morgens stattfindet und den größten Raum in der Erzählzeit der Szene einnimmt. Die Rückverweise (21,1: ) ; 21,14: ) auf die zuvor geschilderten Jesusbegegnungen weisen auf 20,19–29 zurück. Dort war Jesus den versammelten Jüngern zweimal erschienen.142 Die Situation ist aber eine vollkommen andere, was insbesondere durch den Ortswechsel markiert wird. Wie selbstverständlich wird die Gemeinschaft der Jünger in Galiläa verortet. Die Szene ist von objektbezogenen Handlungen und Interaktion geprägt. Sprechhandlungen dienen ausschließlich als Aktionsimpulse. Der Erzähler beschränkt sich mit Ausnahme von zwei Einblicken in das Wissen der Jünger auf eine Darstellung der Ereignisse. Dabei veranschaulicht er die Begebenheit mit konkreten Zahlen und Details. Zur Rahmung der Szene und der Figureneinführung durch die Jüngerliste sei an dieser Stelle auf 2.5 innerhalb von Teil VI (Thomas) verwiesen. Die erstgenannte Figur in der Szene ist Jesus. Er wird als Einzelfigur dem Kollektiv der Jünger gegenübergestellt. Als die Handlung in 21,2 einsetzt wird aber zunächst das Kollektiv differenziert. Jesus ist noch nicht anwesend. An erster Stelle wird Simon Petrus erwähnt. Bei seiner Erstnennung in der Szene verwendet der Erzähler den Doppelnamen. Insgesamt verwendet der Erzähler diesen in Szene 8 viermal, also ungewöhnlich häufig. Die folgenden Jünger ergänzen das Kollektiv auf sieben Figuren, von denen zwei unbenannt bleiben. Innerhalb des Kollektivs ist auch der Geliebte Jünger verortet. Dies wird dem Leser aber erst rückwirkend in 21,7 offenbart. Parallel zu Szene 7 verwendet der Erzähler das Lexem ', um die Gemeinschaft auszudrücken. Hier sind nun aber nicht nur zwei sondern sieben Jünger zusammengestellt. Aus dem Siebenerkollektiv tritt Simon Petrus hervor. Erneut ist er es, der Initiative ergreift. Die übrigen, zuvor zum Teil namentlich benannten, Jünger werden fortan in Figurenkollektiven (z. T. durch Personalpronomina ausgedrückt) zusammengefasst. Allein dadurch bekommt er eine besondere Bedeutung. Im Gegensatz zu den anderen Jüngern hat er ein individuelles Gewicht für die Handlung. Seine Ansprache eröffnet die Ereignisfolge. Die Koppelung von zwei Verben in seiner Sprechhandlung betont dabei den Schwerpunkt auf dem Agieren, der der gesamten Szene und insbesondere der Figur Petrus innewohnt. Er kombiniert dabei Fortbewegung mit einer objektbezogenen
141 Innerhalb der Erzählung sind Datum und Wochentag allerdings völlig unerheblich. Anbetracht der zweifachen Erscheinung Jesu am ersten Tag der Woche, ist eine solche Datierung plausibel. Daraus ergibt sich eine Parallele zu Jesu erster Erscheinung, der vor Maria Magdalena. 142 Zu jener Episode Teil VI – Thomas: 2.3; 2.4.
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Teil III: Simon Petrus
Handlung. Dass Petrus fischen geht, ist innerhalb des Joh überraschend.143 Schließlich wurde er nicht als Fischer vorgestellt. Auch eine Sprechmotivation wird nicht erkennbar – abgesehen von der Möglichkeit des Fischengehens durch die Ortsangabe. Dennoch wird dieses Vorhaben als Selbstverständlichkeit präsentiert, indem innerhalb der Erzählten Welt kein Erstaunen deutlich wird und auch der Erzähler keine Kommentierung bietet. Die Antwort der Sechs erklärt sprachlich und inhaltlich sowohl die Zusammengehörigkeit als auch die Vorrangstellung von Simon Petrus.144 Zum einen bleibt die Gemeinschaft erhalten, indem die anderen Jünger Petrus nicht alleine weggehen (1 6 ) lassen, wobei die Wortstellung das explizit genannte Personalpronomen der Sechs Petrus zuordnet ( > "8 " ). Andererseits leisten die Jünger Petrus Vorschlag direkt Folge. Er gibt vor, was getan wird, und alle anderen stimmen zu. So ist auch das > der Sechs auf das " ausgerichtet. In einem Satz rafft der Erzähler die Ereignisse der Nacht. Simon Petrus’ Vorhaben bleibt erfolglos. War das unvermittelte Folgen der Sechs ein Fehler? Petrus ist vorangegangen und das Vorhaben ist gescheitert. Er ergreift zwar die Initiative und provoziert Handlung, bringt aber kein Ergebnis hervor. Nach der Raffung erfolgt eine neue Zeitangabe. Die meisten Ereignisse, darunter das zentrale der Szene, ereignen sich am Morgen des Folgetages, wo Jesus (wie in 21,1 angekündigt) auftritt. Der Erzähler gibt einen Einblick in das Wissen – oder vielmehr Unwissen – der Jünger. Dadurch wird deutlich, dass der Leser in seiner Kenntnis von Jesu Identität den Jüngern überlegen ist. So wird er in die Position eines Betrachters der Szene gehoben und die Identifikation mit den Jüngern geschmälert. In das kollektive Unwissen ist Simon Petrus eingeschlossen, da im Nachhinein eine Wissensänderung zu einer sofortigen Reaktion von ihm führt. So betont 21,7 sein voriges Nichtwissen (zum Vers s. u.). Zugleich wird Simon Petrus in der Nicht-Wissens-Kommentierung gemäß 21,1 wieder in das Jüngerkollektiv integriert. Somit verläuft die Gegenüberstellung der Figuren zwischen Jesus und den Jüngern, anstelle zwischen Petrus und den Sechs. Auch Jesu Anrede differenziert zwischen den Jüngern nicht. Eine Darstellung der gegenübergestellten Figuren veranschaulicht die Bezugsfiguren der einzelnen Figuren (s. Tab. 4). Die redeinternen Adressaten bezeichnet Jesus als und meint damit die Jünger. Dies drückt einer-
143
In den synoptischen Evangelien, welche hier als Intertexte fungieren können (insbesondere Lk 5,1–11), ist Fischer Simon Petrus’ Beruf. 144 Wird das als „und“ anstatt als „auch“ übersetzt, verstärkt sich die sprachliche Deutung zusätzlich.
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seits Unterordnung von ihnen, andererseits ein vertrauensvolles Verhältnis aus.145 Vers 1 2 3 4 5 f. 7a 7bf. 9 10 11 12 f. 14
Grammatikalische Subjekte und Objekte: Interagierende Figuren Jesus – Jünger Simon Petrus, Thomas, Nathanael, die Zebedaiden, 2 Jünger Simon Petrus – übrige Jünger (die Sechs) Jesus / Jünger Jesus – Jünger Simon Petrus Geliebter Jünger Simon Petrus / übrige Jünger (die Sechs) Jünger (inkl. oder exkl. Simon Petrus?) Jesus – Jünger (inkl. oder exkl. Simon Petrus?) Simon Petrus Jesus – Jünger Jesus (– Jünger)
Tab. 4: Grammatikalische Subjekte und Objekte in Joh 21,1–14
Deutlich wird in der tabellarischen Darstellung (vgl. Tab. 4), wie der Erzähler die Hauptbegegnung (Jesus zeigt sich den Jüngern) unterbricht und in das Jüngerkollektiv ‚hineinzoomt‘. Der erste Zoom schlüsselt das Jüngerkollektiv auf, ohne alle Identitäten aufzuklären. In den übrigen Abschnitten ohne Jesu Beteiligung tritt vorrangig Simon Petrus anderen Figuren gegenüber. Sein häufigster Interaktionspartner ist dabei das Kollektiv ‚die Sechs‘. Dadurch wird Petrus’ Kollektivzugehörigkeit betont. Indem er in 21,3.8 nicht in das agierende Jüngerkollektiv, das der Sechs, integriert ist, ist insbesondere seine Zugehörigkeit in 9 f. fraglich. Auffällig ist, dass Jesus nicht auf Petrus einzeln eingeht, obgleich er in den Erzählungsdetails eine so bedeutende Rolle innehat. Weiterhin ist der Auftritt des Geliebten Jüngers in der Figurenkonstellation vollständig auf Petrus ausgerichtet. In den Begegnungen zwischen Jesus und den Jüngern geht die Initiativhandlung stets von ersterem aus. Selbst dass die Jünger Jesus am Ufer sehen, ist nur impliziert, sodass Jesu Sprechhandlung mit den Jüngern als redeexterne Adressaten und somit als grammatikalisches Objekt, die erste Interaktion ausmacht. Die Sprechhandlungsbezogenheit von Jesu Frage spricht den Misserfolg der Jünger an. Sein anschließender Appell beauftragt sie unter konkreten Angaben. Als die Jünger nun Jesus Folge leisten, gelingt ihr Vorhaben. In dreifacher Hinsicht unterscheidet sich der erfolgreiche Fischzug146 von dem 145
Eine deutliche Aufwertung des Ausdruckes ergibt sich durch eine intertextuelle Lesart mit Röm 8,15. Wenngleich auf freundschaftlicher statt familiärer Ebene ist auch Joh 15,15 als Referenzmotiv Ausdruck eines besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Jesus und den Jüngern. 146 Zum metaphorischen Gehalt des Fischens (insbesondere bzgl. Mission) siehe Teil VI – Thomas: 2.5.
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Teil III: Simon Petrus
ersten Versuch. Erstens findet er zu einer anderen Zeit statt, zweitens ist er von Jesus beauftragt, anstatt von Simon Petrus initiiert, und drittens erfolgt der Fangversuch unter konkreten Angaben. Das Ergebnis ist anschaulich kontrastiert: War zuvor die lange Zeitspanne einer Nacht ( : . ) komplett erfolglos geblieben ( & ), folgt nun auf das Auswerfen der Netze unmittelbar (parataktisch gereiht: ) der größtmögliche Erfolg. Dieser wird ausführlich und ebenfalls unter Verwendung einer Negation dargestellt: & & + N) " Q" . ( + ' )4! . % < ! . Überraschend, weil in der eingangs gebotenen Jüngerliste fehlend und damit bislang nicht in der Figurenkonfiguration enthalten, tritt der Geliebte Jünger in Aktion. Obwohl der Leser nicht über seine Anwesenheit informiert wurde, wird er nicht in die Szene eingeführt. Seine Kollektivzugehörigkeit wird so noch verstärkt, da sie als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Als Jünger klassifiziert tritt er sogar determiniert auf – so ist er der Jünger. Seine wörtliche Rede „ 3 " “ spielt dabei das Referenzmotiv aus 13,25 „ H " X“ ein. Dort wie hier dient er Simon Petrus, um die Identität von Dritten aufzuschlüsseln. Wann der Geliebte Jünger ihren Auftraggeber als Jesus erkennt, wird nicht explizit gesagt – kontextuell scheint der wundersame Erfolg des Fischzugs als Sprechhandlungsbezogenheit die Erkenntnis zu bedingen. Jedenfalls gibt er sein neues Wissen wie selbstverständlich an Petrus weiter. Als Initiator des Fischereiunterfangens wird die neue Information nur ihm explizit als redeexternen Adressaten weitergeleitet. Ob die anderen Jünger als implizite Adressaten oder als Erlebensobjekte der Sprechhandlung des Geliebten Jüngers gelten dürfen, bleibt eine Leerstelle. Wird auch in der Beziehung zu Jesus jegliche Hierarchie unter den Sieben aufgehoben, scheint innerhalb der Erzählten Welt in den Jüngerbegegnungen (21,3.7) dennoch eine zu bestehen, in der Petrus den anderen Jüngern übergeordnet ist. Auf das neue Wissen reagiert Simon Petrus impulsiv. Ist i. d. R. im Joh davon auszugehen, dass an redeexterne Adressaten gerichtete Rede auch von diesen gehört wird, wird dies hier noch explizit erwähnt. Durch die Partizipialkonstruktion (, = ( " ) wirkt seine Reaktion besonders unmittelbar. Zwei Verben heben seine Aktivität hervor. Beide objektbezogenen Handlungen werden durch das Wissen motiviert, dass „der Herr“ am Ufer steht. Dass bezüglich des (erfolgenden) Erkenntnisprozesses der Jünger Jesus ausschließlich durch als quasinamentliches Attribut bezeichnet wird, entspricht der Ansprache der Jünger im gesamten Evangeliumsverlauf, erinnert an das Thomasbekenntnis (20,28),147 legt das hierarchische Verhältnis innerhalb der Figurenkonstellation fest und bezieht Petrus’ Handeln auf
147
Siehe dazu Teil VI – Thomas: 2.4.
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Jesu Rolle als Herr.148 Die beiden Handlungen, die Petrus ausführt, sind sich anzukleiden ( D; . ) und sich in den See zu werfen. Letzteres ist kontextuell sowohl Fortbewegung149 als auch objektbezogene Handlung. Als letztere gelesen, ist er selbst (bzw. sein Körper) das Objekt. Nach dieser Lesart ist es primär als Ausdruck der Hingabe zu deuten. Petrus erfährt, dass Jesus da ist, und will schnellstmöglich zu ihm. Dass er vor dieser Begegnung mit „dem Herrn“ seine Nacktheit bedeckt, lässt darauf schließen, dass es sich nicht ziemt, diesem nackt gegenüber zu treten.150 Gegenüber ‚den Sechs‘ ist die Nacktheit kein Problem – sie wird nicht einmal erwähnt. Ob die anderen Jünger ebenfalls nackt sind, ist erneut eine Leerstelle. Naheliegend ist es aber nicht, da ein Wiederbekleiden von ihnen nicht berichtet wird.151 Warum dieses Detail von Petrus erwähnt wird, wird in 5.4 reflektiert. Während der Erzähler den Fokus auf die Jünger richtet, kann der Leser nur mutmaßen, dass Simon Petrus ans Ufer schwimmt. Sein Ortswechsel vom See (200 Ellen vom Ufer entfernt) bis ans Ufer (in Jesu Hörweite) wird elliptisch ausgelassen oder er ist als Handlungssubjekt in den Ortswechsel der übrigen Jünger inkludiert. Die Entfernung von 200 Ellen (ungefähr 100m)152 wird als & ? ( + B 6B beschrieben. Ob damit auch das Schwimmen (in Kleidung) als wenig anstrengend und ungefährlich einzuordnen ist, bleibt durch den Bezug der Angabe auf die Jüngerbewegung im Boot eine Tendenz. Zu bemerken ist, dass Petrus offensichtlich schwimmen kann. Dies ist eine neue Information, die sowohl mit einer beruflichen Tätigkeit als Fischer als auch mit dem Aufwachsen in einer Stadt in Gewässernähe (s. Sz. 1) ein stimmiges Bild ergibt, aus diesen aber keinesfalls zwangsläufig hervorgeht. Implizit folgen die Jünger Simon Petrus in seiner Bewegungsrichtung. Ob dieser in 21,9 in das Kollektiv der Jünger integriert ist, die an Land gehen, ist ungewiss. Grammatikalisch beziehen sich die Verben im Plural (( 7 " und 7) ." ) und das Objekt in 21,10 ( & > ) auf P 5)) ! in 21,8 zurück. Zugleich kann der Plural aber auch ohne direkten Rückbezug auf das letztgenannte Subjekt wie schon in 21,3b das zu Szenenbeginn eingeführte Kollektiv meinen, welches Petrus einschlösse. Da Petrus in 21,11 auf Jesu
148
Denkbar ist auch, zum mehrfachen 3 " Jesu 6; < (insbesondere in Joh 18) als Referenzmotiv zu lesen. Dies wird aber hier wegen des fehlenden Lexems dort und der fehlenden Referenzformulierung nicht durchgeführt. 149 Da 7 )) im Joh abgesehen von dieser Belegstelle nie ausschließlich Fortbewegung bezeichnet, bekommt hier diese Klassifizierung wenig Gewicht. 150 Angemerkt sei hier, dass 6. 3 nicht vollständige Nacktheit bedeuten muss, vgl. 5.4. 151 Gegen Haenchen, Joh, 585. 152 Vgl. Bultmann, Evangelium, 548, Anm. 9. W. Bauer gibt genauer an: 96–97m (vgl. ders., Joh, 236).
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Teil III: Simon Petrus
Imperativ reagiert, muss er zumindest dort als Erlebensobjekt eingeordnet werden. Am Ufer erblicken die Jünger ein Kohlefeuer mit Fisch und Brot. Die Lexeme spielen durch ihre übrigen Belegstellen zwei Szenen des Evangeliums ein. Das ( ! war nur in Szene 6 genannt worden, @R und 5 fanden sich kombiniert in 6,9 beim Speisungswunder. Zu letzterem siehe unten, zu ersterem sei hier ein kurzer Vergleich angestellt. Szene 6 und 8 sind grundsätzlich verschieden. Gemeinsame Figuren in beiden Szenen sind Simon Petrus und ein unbekannter Jünger (sowie zu Beginn von Szene 6 Jesus). In 18,18, als die ( ! erwähnt wird, sind aber Jesus und der fremde Jünger bereits ausgeblendet. So ist Petrus als einzige Figur am Feuer im Vergleich zu untersuchen (s. Tab. 5). Szene (Vers) 6 (18,18.25)
Ort
Zeit
Gesellschaft Situation bedingt durch Knechte und Nächtliche Diener Kälte
Hof des Ho- Vor Morhepriesters gengrauen Ufer 8 Jesus und Einladung des Sees Am Morgen (21,9.12 f.) sechs Jünger Jesu Tiberias
Handlung von Simon Petrus Verleugnet Jesus Erfüllt Jesu Auftrag, empfängt Jesu Frühstück
Tab. 5: Vergleich der Situationen am ( !
Die gesamte Atmosphäre der Situation ist in Szene 8 deutlich positiver als in Szene 6. So ist hier das vorteilhaftere Umfeld für Simon Petrus zu finden. Insbesondere die Gesellschaft, in der er sich befindet und die sich aus der Figurenkonstellation ergibt, steht in einem positiven emotionalen Wechselverhältnis. Auch die Bedingungen der Situation und Petrus’ Handlungsmotivation sind durch Einladung und Freiwilligkeit anstelle von Rechtfertigungsforderung und klima-gemäßer Notwendigkeit geprägt. Sich in die Gemeinschaft der Feinde Jesu zu begeben, führt Petrus zur Verleugnung und an den Tiefpunkt seiner Entwicklung.153 Im Vergleich wird er auf die Gemeinschaft der Mitjünger und vor allem mit Jesus selbst verwiesen und ausgerichtet. Dass zudem die körperlichen Bedürfnisse prinzipiell oder zumindest das körperliche Wohlbefinden Jesu Appell untergeordnet wird, kann als Deutungsoption wahrgenommen werden. Jedenfalls richtet sich Jesu Auftrag154 erneut an alle Jünger (inklusive oder sogar exklusive Simon Petrus). Dennoch reagiert nur Petrus. Sein Einsatz 153
Siehe 2.6. Der Auftrag, die gefangenen Fische ans Land zu bringen, erscheint unsinnig, insofern auf dem vorbereiteten Feuer bereits Fisch angerichtet ist. Auffällig ist zudem der Vokabelwechsel von @R auf < ! zwischen dem Fisch, den Jesus bereitstellt und von dem er spricht, und dem, den die Jünger fangen und ihm bringen. U. Früchtel schließt daraus (m. E. nicht ganz schlüssig) eine Unterscheidung zwischen Ausrüstung („Zubrot“) 154
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kommt in zwei Verben und der Menge der Fische (< ! 6 ) ), die er alleine bewegt, zum Ausdruck. Erneut (wie schon in 21,3.7) werden Bewegung und objektbezogene Handlung kombiniert.155 Als Simon Petrus die Fische an Land gebracht hat, ruft Jesus zum Frühstück, indem er sich wieder an das Kollektiv wendet. Auf Petrus’ Einsatz folgt keine direkte Rückmeldung, selbst die Sprechhandlungsbezogenheit weist eher auf das präsentierte vorbereitete Essen aus 21,9 zurück als auf die (rohen) Fische, die Petrus brachte. Der Erzähler gibt einen zweiten Einblick in das Wissen der Jünger, die inzwischen alle die Identität des Fremden am Ufer als ihren auferstandenen Herrn erkannt haben. Von der Erzählreihenfolge (in der Erzählzeit) – innerhalb der Erzählten Welt (in der Erzählten Zeit) aber nicht eindeutig – hat Petrus die Erkenntnis vor den anderen Jüngern: Der Prozess verläuft in der Reihenfolge: Leser Geliebter Jünger Petrus übrige Jünger. Jesus verteilt das Essen an die Jünger. Die drei Verben der Handlung sind als Parallelismus (nach dem Schema ‚Verb – Substantiv‘) aufgebaut und mit verbunden: W " ' ) 7 + 5 " & > . So verdichtet sich die Handlung zunehmend, da jedes Verb auf mehr Bezugswörter zugreift: Das Subjekt W " ' bezieht sich auf , ) 7 und " , das 1. Objekt + 5 auf ) 7 und " , & > als 2. Objekt schließlich nur noch auf " . So steigert sich die Anzahl der Bezugswörter innerhalb des Parallelismus von einem zu drei. Gleichzeitig stützt die Parallelstruktur eine ritualstiftende Deutung. Erneut klingen 13,26 (7 R = + R ) 7 " = 8 5 . W a , W" ; .)156 und 6,11 ( ) 7 W " ' & " 4" > ( ) an. Letzterer Vers verdient durch die hier wie dort angehängte Parallelisierung des Fisches (@R ) mit dem Brot als Referenzmotiv ein besonderes Augenmerk. In beiden Szenen wird Simon Petrus erwähnt (6,8; 13,24). Beim Speisungswunder ist die Fülle von dem, was Jesus an die Menschen verteilt, (6,11: E" b! ) ) ein zentrales Motiv. Auch beim Fischzug wird die Unmenge der Fische (21,6) geschildert und später (wie auch Brote, Fische und Restekörbe in Joh 6) konkret beziffert. Simon Petrus erfährt hier wiederholt die Fülle der leiblichen Versorgung Jesu. Brot und Fisch sind dabei die Nahrung schlechthin, mehr bedarf es in beiden Szenen nicht. Trotz großer Schwerpunkte auf geistlichem Wissen und metaphorischer Deutung von allder Jünger als Repräsentanten der Gemeinde und ihrer Aufgabe („Menschen finden“) (dies., Bibel, 512 f.). 155 Zur metaphorischen Deutung der Zahl 153 und zum beinah wundersam erscheinenden Halten des Netzes siehe z. B. Bruner, Gospel, 1217–1219; Thyen, Joh, 785 f.; Bauer, Joh, 237. Zu Ersterer vgl. Culpepper, Designs, 383–394. 156 Das ) 7 ist nicht mit Sicherheit ursprünglich. Als zum Evangeliumstext zugehörig stärkt es die Intratextualität deutlich.
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täglichen Lebensbezügen im gesamten Joh bleiben die lebensnotwendigen Bedürfnisse berücksichtigt.157 Abgesehen von der Erkenntnis des Herrn ist das Frühstück in Szene 8 sogar das primäre Ziel der Erscheinung Jesu. In 13,26 erfolgt das Referenzmotiv, die Weitergabe von Nahrung, in einem völlig anderen Kontext. Sie dient der Aufdeckung der Identität des Überlieferers und geht der Satansbesetzung voraus. Beides kommt hier nicht in Frage, da die einzige unbekannte Identität (die Jesu) bereits bekannt geworden ist und eine satanische Präsenz nirgends angedeutet wird. Gemein ist beiden Szenen aber die Vollmacht, in der Jesus die Handlung ausführt. Wie er in Szene 3 über Judas’ Ergehen und seine Rolle entscheidet, liegt in seiner Offenbarung und Frühstückseinladung auch die Autorität über die Rolle der Sieben. Mit dem Brot und dem Fisch, die Jesus ihnen gibt, weist er ihnen eine Position in der nachösterlichen Gemeinschaft zu. (Dass die Jünger die Speisen annehmen, ist impliziert und in 21,15 bestätigt.) Im Gegensatz zu Judas werden sie nicht in die Nacht entlassen, sondern in die Gemeinschaft gestellt und gleichwertig auf Augenhöhe positioniert. Trotz Simon Petrus’ großem Einsatz reicht Jesus ihm nicht zuerst Brot und Fisch oder gibt es ihm zum Weiterreichen. Im gemeinsamen Frühstück ist eine Gemeinschaft am Feuer konstituiert, die auf Jesus als Herrn ausgerichtet ist und ihre Teilhaber hierarchielos zusammenbindet.158 Die Erzählerrahmung schließt die Szene ab. Sie fungiert als Zäsur zur Folgeszene, die das gerade geschilderte Frühstück aufgreift und im Anschluss analysiert wird. 2.9 Szene 9 (21,15–22) Diese Szene ist die letzte von Simon Petrus und schließt zugleich den Handlungsverlauf des Joh ab. Bezüglich Ort, Zeit und Figurenkonfiguration fügt sie sich beinahe nahtlos an Szene 8 an. 21,14 markiert aber eine deutliche Grenze. Expliziter Bestandteil der Figurenkonfiguration sind Jesus, Petrus und der Geliebte Jünger. Die anderen Jünger erscheinen aus dem Gespräch zwischen Petrus und Jesus ausgeblendet, was die Abgrenzung zu Szene 8 bestärkt. 21,20 vermittelt rückwirkend den Eindruck, als wären beide unter157
Vgl. insbesondere 4,7–15.31–34 sowie Teil IV – Samaritische Frau: 2.1. Natürlich hat auch die Weitergabe des Brotes eine metaphorische Dimension. Insbesondere mit dem sprachlich nahem 6,32 ( 4 . " 1 > + 5 ' & ' + () ! 3 ) und 6,35.48.51 ( 6; < 5 ) als Intratext werden Anteilhabe, Glaube und geistliche Sättigung an und durch Jesus mit in die Weitergabe der Speise eintragen. 158 Eine ritualisierte Weiterführung solcher Mahltradition ist gut vorstellbar, aber nicht im Text verankert. In vielen Motiven in 21,1–14 (z. B. das gemeinsame Mahl, der Fischzug, das nicht reißende Netz) sieht R. A. Culpepper eine ekklesiologische Dimension der Erzählung (vgl. ders., Designs, 375–383, 402). Die besondere Bedeutung von Simon Petrus in dieser Szene entspricht einer Deutung seiner Rolle als Leitfigur (vgl. 6.1).
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wegs und vom Frühstück aus 21,15 aufgestanden. Somit ist wohl ein Einzelgespräch zwischen Jesus und Petrus in der Nähe oder der Gegenwart der anderen Jünger dargestellt, wobei sie zumindest am Ende in der Nähe des Sees Tiberias umhergehen. Die Szene ist überwiegend als Dialog aufgebaut, wobei Jesus das Gespräch initiiert und lenkt. Die einzige nichtsprachliche Handlung ist ein Schulterblick von Simon Petrus. Zwei Erzählerkommentierungen – eine Erklärung und ein Rückverweis – unterbrechen den Handlungsverlauf. Erläuterungen des Erzählers in 21,23–25, die über das Erzählte zeitlich hinausgreifen und das Evangelium in einem zweiten Epilog abschließen, markieren das Ende der Szene. Der Plural (V " " ) zu Beginn der Szene greift die Situation der Szene 8 auf und fokussiert das dort zentrale Kollektiv der Sieben. Da kein Subjekt expliziert wird, bleibt offen, ob es sieben oder acht Figuren umfasst. Ob Jesus mitfrühstückt, ist unklar, da er im gesamten Evangelium nie explizit isst und in der Szene selbst die Einladung als Imperativ, nicht als Kohortativ, ausspricht. Zudem berichtet der Erzähler nur von der Weitergabe der Speisen, nicht davon, dass Jesus selbst etwas nimmt. Als grammatikalisches Subjekt kommen sowohl das Objekt aus 21,14 oder 21,15 (jeweils die Jünger) wie auch ein neues Kollektiv, aus Subjekt (Jesus) und Objekt (den Jüngern) in den jeweiligen Versen zusammen gesetzt, in Frage. Für die Analyse von Simon Petrus ist die Integration von Jesus in das Kollektiv hier aber nicht weiter von Bedeutung. Von dem Essen in der Gruppe lenkt der Erzähler den Fokus auf zwei Figuren: Jesus und Simon Petrus. Nachdem Jesus in der Vorszene ausschließlich das Jüngerkollektiv angesprochen hat, adressiert seine Sprechhandlung nun einzeln Petrus. Die bereits erwähnte Ungewissheit bezüglich der Anwesenheit der anderen Jünger bleibt bestehen. Die Ansprache eines Einzelnen und das Fehlen jeglicher Schilderung einer Reaktion übriger impliziert aber das Sechserkollektiv als irrelevant, sodass es hier nicht als Erlebensobjekt berücksichtigt werden soll. Während der Erzähler den Doppelnamen am Szenenbeginn nutzt, greift Jesus nicht auf den Zweitnamen zurück, den er Simon Petrus in Szene 1 verhieß. Die Erfüllung liegt damit zeitlich nach den erzählten Ereignissen innerhalb der Erzählten Welt. Jesus spricht ihn erneut mit seinem Vaternamen an (allerdings in Kurzform mit der Genitiv-Anbindung , W . statt mit , .P+ W . (1,42)). Die Figur Petrus erfährt damit eine Abrundung, indem am Ende auf den ersten Auftritt rückverwiesen wird. Zugleich wird sowohl Petrus als auch der Leser an dessen Identität vor Beginn der Nachfolge Jesu und die / *0 -Verheißung erinnert. Nach dem Scheitern in Szene 6 wird die Lesererwartung eines Einlösens der Felsmetaphorizität neu bestärkt.
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Teil III: Simon Petrus
Jesus fragt Simon Petrus mehrfach nach seiner Liebe zu ihm. Die erste Frage zielt dabei auf einen Vergleich. Der Komparativ ) macht Liebe scheinbar (quantitativ oder qualitativ) messbar und vergleichbar. Das Relativpronomen bezieht sich kontextuell auf die anderen Jünger der Frühstücksgemeinschaft.159 Dieser Verweis in Jesu Rede auf sie deutet gleichzeitig Nähe und Distanz an. Das Demonstrativpronomen setzt Sichtweite voraus. Da Jesus über die Jünger spricht, sie aber nicht anspricht, sind sie als implizite Adressaten seiner Worte ausdrücklich ausgeschlossen und in der Verortung distanzbedingt wohl nicht in Hörweite. Andernfalls wäre seine Frage Provokation oder Diffamierung für sie. Eine kleine Spitze behält der Vergleich aber auch, wenn er nur von Petrus vernommen wird. Immerhin nötigt Jesus diesen, seine Zuneigung mit der der anderen Jünger zu messen und trägt so einen Unterschied in die Gemeinschaft unter Gleichen herein. Außerdem folgt aus einer Antwort eine Überhebung über die anderen oder das Eingeständnis einer geringeren Liebe. Beides sind Nuancen, die an Petrus vorgeführt wurden: In Szene 4 beteuert er (als einziger) Lebensaufgabe für Jesus und in Szene 6 weicht er einem Bekenntnis zu seiner Jüngerschaft aus Angst um sein Leben aus. Durch 15,13 ( D (6 ) ist dies Verhalten als Liebesbeweis einzuordnen und hier als Referenzmotiv eingespielt.160 Petrus weicht der Provokation gewissermaßen aus. Sein scheint Jesu Frage zu bejahen, aber sein Antwortsatz modifiziert die Aussage. Simon Petrus klammert den Vergleich aus. Damit erkennt er seine Gleichstellung mit den Anderen innerhalb der Jüngergemeinschaft an und weicht der provozierten Unter- oder Überordnung aus. Außerdem wechselt er das Verb. Anstelle von (6 verwendet er * ) . Vieles spricht für eine synonyme Verwendung, da „kein Bedeutungsunterschied auszumachen“ ist.161 So kann die Liebe Gottes mit beiden Verben beschrieben werden (3,35; 5,20; 14,21.23; 16,27) und auch der Geliebte Jünger wird mit beiden Verben benannt (13,23; 20,2). Insbesondere setzt der Erzähler in 21,17 beide Verben gleich – behauptet gar Jesu ersten beiden „(6 c X“ seien „* ) > X“. Der Lexemswechsel kann als rein sprachliche Variierung verstanden werden oder als gezieltes Mittel, um verschiedene Konnotationen hervorzuheben oder um die Leseraufmerksamkeit zu lenken (zur Bedeutungsvarianz s. u.). Jesu Frage nach Simon Petrus’ Liebe weist auf 14,15.21.23 zurück und fragt intratextuell gelesen, ob Petrus Jesu Gebote hält. Damit ist zugleich auf 159
R. Cassidy nennt als Option für ein Bezugswort auch die Fischerutensilien (Boot, Netz, etc.). Auch er legt sich aber schließlich auf die übrigen Jünger fest (vgl. ders., Peter, 104). 160 Vgl. Thyen, Joh, 787. 161 Augenstein, Liebesgebot, 38, Anm. 87. Vgl. Segovia, Love, 133 f. (insbesondere Anm. 5) zur synonymen Verwendung im gesamten Evangelium.
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13,34 f. und 15,9–17 verwiesen.162 In den dortigen Liebesgeboten fordert Jesus (6 zu den anderen Jüngern als einen „Reflex der Liebe“ in Reaktion auf die erfahrene Liebe durch Gott bzw. Jesus.163 So hat Jesu Frage nicht nur eine Relevanz für Petrus’ Verhältnis zu Jesus und ist für die emotionale Figurenkonstellation der anwesenden Figuren von Bedeutung, sondern weist darüber hinaus. In diesem Kontext ergeht an Petrus dann auch Jesu Zusage: 73" ? ( .. Dieser Auftrag ist durch das Personalpronomen und den Aufgriff der Hirtenmetaphorik aus Joh 10164 keine Einteilung zum mühseligen Arbeitsdienst, sondern ein Vertrauenszuspruch. Dreimal stellt Jesus die Frage, dreimal antwortet Simon Petrus und dreimal spricht Jesus ihm seine Aufgabe zu. Dabei variieren Erzählereinführung, Jesu Formulierung von Frage und Zuspruch und die Reaktion von Petrus. Struktur, partielle Übereinstimmungen in den Formulierungen und eine Zählung durch den Erzähler ( ) , + ) betonen die Dreizahl des Gesprächsgangs. Eine rituelle Wirkung wird dadurch minimiert, dass Petrus nach der dritten Frage anders reagiert. Es wird kein gewisser Ritus vollzogen, in dem die Teilnehmer gewisse Formeln zu sprechen haben. Petrus wird nach seiner Einstellung und seinen Gefühlen gefragt. Anstatt wie gewohnt zu antworten, wird er beim dritten Mal traurig. Der Einblick ins Innenleben fällt angesichts der Sparsamkeit der expliziten Nennungen von Gefühlen im Joh insgesamt (und für Petrus insbesondere) auf. Da der Erzähler diese in seiner Kommentierung mit der dreifachen (wieder ) Frage nach Petrus’ Liebe begründet, eröffnen sich zwei Deutungsrichtungen für die Sprechhandlungsbezogenheit. Erstens wird Petrus’ Liebe zu Jesus von diesem bezweifelt, sodass er sie mehrfach anfragt. Als Grund zur Traurigkeit ist dies ausreichend. Es hebt den Anspruch Jesu auf ein Niveau, dem Petrus nicht zu genügen glaubt. So wirken Jesu Worte als die ewige Forderung eines ‚Noch mehr!‘. Zweitens wird an ein anderes dreifaches Geschehen rückerinnert. Von Jesus in 13,38 als dreifach ( ) angekündigt, verleugnete Petrus Jesus in Szene 6. Auch dort hatten Struktur (ebenfalls ) ) und Übereinstimmungen in den Formulierungen die Zählung bestärkt. In diesem Sinne greift Jesus das Geschehen aus Szene 6 auf,165 stellt die Gegenfrage zur Verleugnung der Jüngeridentität und rehabilitiert Petrus in der dreifachen Beauftragung. Dass Petrus traurig wird, kann so als nachträgliche Reue gedeutet wer162
F. Segovia betont zwei Dimensionen der Liebe in 15,1–17 und 13,34 f. (wie auch im 1 Joh), welche er im übrigen, von ihm literarkritisch abgetrennten Joh als fehlend markiert. Sie ist „a love which demands a correct christological confession as well as the execution of definite ethical norms“ (ders., Love, 195). Im Liebesgebot fallen „correct praxis“ und „correct belief“ zusammen (a. a. O. 196). 163 Baumeister, Anfänge, 142. 164 Zur Hirtenmetaphorik s. u. 165 Im Lexem ( ! parallelisiert der Erzähler die Situationen beider Szenen zusätzlich. Vgl. 2.8.
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Teil III: Simon Petrus
den. Hatte der Leser nach 18,27 eine Reaktion von Petrus vermisst, erfolgt sie hier endlich.166 Jesu Frage ruft damit die Reue für sein Fehlverhalten wach oder erzeugt sie gar erst. Hatte Petrus in Szene 7 und 8 (innerhalb der Jüngergemeinschaft) agiert, als sei nichts vorgefallen, führt Jesus ihn durch seine Frage zurück zum Scheitern – nicht jedoch, um ihn dafür zu beschuldigen (da im Inhalt keine Schuldzuweisung anklingt, kann diese schwerlich als Sprechmotivation gelten), sondern um ihn zu läutern und ihm neu eine Position als Jünger zuzuweisen. Für Petrus, wie für den Leser, dient das Gespräch der „Restitution des Verleugners“.167 „Liebst du mich?“, fragt Jesus Simon Petrus dreimal (21,15–17). Die Frage variiert er geringfügig. Der Zusatz ) in der ersten Frage wurde oben bereits behandelt. Da Petrus nicht auf diesen eingeht, ist er für die Wiederholungen irrelevant. Indem er weggelassen wird, verstärkt sich die Ausblendung der übrigen Jünger während des Gesprächs. Von der zweiten zur dritten Anfrage wechselt Jesus zudem das Verb für ‚lieben‘. Eine synonyme Verwendung wurde oben bereits erwogen. Bestreitet man diese, nähert sich Jesus an seinen Jünger an. Im ersten Schritt lässt er den Vergleich weg, den Petrus umging, behält aber (6 bei, obwohl Petrus mit * ) antwortete. Im zweiten Schritt vollzieht Jesus den Wechsel zum Verb des Petrus. Bereits auf rein sprachlicher Ebene ist dies markant und zeugt von keinem herrischen Festhalten an einem Standard, an dem das Gegenüber sich auszurichten hat. Wird beiden Verben eine unterschiedliche Konnotation eingetragen, ist (6 der qualitativ höhere Begriff. Jesus passt seinen Anspruch an das an, was Petrus zu geben im Stande ist. Die zugehörigen Substantive auf dritter Ebene der Lexemhäufungen * ) und (6 erhellen eine mögliche Bedeutungsdifferenz. Ersteres weist auf eine freundschaftliche Ebene und betont die Beziehung zwischen zwei Figuren, Letzteres hebt eine Haltung oder Eigenschaft hervor, die erst im zweiten Schritt ein Objekt benötigt und dabei mit Hingabe verbunden ist. Die Erwartung einer prinzipiellen Einstellung wird als überfordernder Anspruch zu Gunsten einer Liebe, die sich in der Beziehung zum konkreten Gegenüber zeigt, fallen gelassen. Simon Petrus’ Antwort rekurriert auf Jesu Wissen. Die Fremdoffenbarung entspricht dabei der Charakterisierung Jesu durch den Erzähler und hat somit volle Gültigkeit. Im Prinzip erklärt Petrus Jesu Frage als überflüssig, da dieser ja die Antwort kennt. Umso mehr überrascht das mehrmalige Nachfragen. Die Sprechmotivation der Frage kann nicht primär sein, dass Jesus feststellen 166
Ohne intertextuellen Vergleich mit Mt 26,75 lässt sich die Traurigkeit nicht als Erinnerung an die Tränen nach der Verleugnung deuten (so Thyen, Joh, 789 f.). 167 Augenstein, Liebesgebot, 38. Gegen Bockmuehl, Simon, 65. C. M. Conway lehnt Termini wie ‚Rehabilitation‘ ab, da sie aus Joh 1–20 ein ausschließlich negatives Bild von Simon Petrus herausliest. Demnach wird Petrus’ Status hier nicht wiederhergestellt, sondern mit einer „new dimension“ versehen, die seine vorige Darstellung kompensiert (dies., Men, 177). Vgl. Blaine, Peter, 128.
2 Einzelanalyse der Szenen
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möchte, ob Petrus ihn liebt. So geht es darum, dass dieser seine Liebe formuliert. Seine dritte Reaktion („du weißt alles“) kann als weiterer Bezug zur Verleugnung eingeordnet werden. Auch wenn Jesus bei dieser nicht dabei war, ist für Petrus deutlich, dass er davon weiß. Jesu Befehl lautet dreimal ein wenig verschieden: 73" ?( ., ? 37 ., 73" ? 37 .. Gleich bleibt bei allen Formulierungen das Personalpronomen. Es steht außer Frage, zu wem die Schafe gehören. Der Weideauftrag für die Lämmer (21,15) knüpft sprachlich noch nicht an Joh 10 an, da beide Lexeme hier erstmalig im Joh auftreten. Er ist jedoch mangels ‚wirklicher‘ Tiere, die mit Jesus assoziiert werden, eindeutig metaphorisch, sodass sowohl Simon Petrus als auch der Leser angeregt werden, zu fragen, wer Jesu ( sind und was 73" umfasst. Mit Jesu Selbstbezeichnung als Brot (6,35.48.51) und seiner Rede von immaterieller Speise (4,34) ist im Füttern nicht nur die Versorgung mit Nahrung enthalten. 21,16 greift auf die Lexeme der Hirtenrede zurück. Die ( sind also ebenso wie die 37 diejenigen, die Jesus hören, seine Stimme kennen und ihm folgen. Die Nachfolgenden – und auch Weiternachfolgenden (vgl. Szene 2) – sind im Joh die Jünger. Durch seine Kollektivzugehörigkeit ist Petrus dort eingeschlossen. Auch die nicht notwendige (schließlich ist er einziger redeexterner Adressat), dreimalige Namensanrede klassifiziert Petrus der Referenzszene in 10,3 entsprechend als Schaf. Die zugewiesene Aufgabe übersteigt aber die eines Schafes. In kommen Fürsorge und Leitung zum Ausdruck, die sprachliche Nähe (dritte Ebene der Lexemhäufungen) zum 4 (10,2.11 f.14.16) fällt auf. Petrus bekommt Aufgaben eines Hirten zugewiesen. Nach 10,12 wäre er als derjenige, dem die Schafe nicht gehören, als "! 3 zu bezeichnen, was zudem seinem Verhalten in Szene 6 entspricht. Er ist aber kein Gemieteter, sondern selbst ein Schaf. Nur als Schaf und Hirte zugleich wird ihm von Jesus die Verantwortung über seine Jünger übertragen. Den Ausdruck ‚Hirte‘ verwendet Jesus aber gerade nicht. Dieses Paradoxon lässt sich am besten in einer Differenzierung der Abhängigkeiten erhellen. Für die Jüngerschaft ist Petrus als Fürsorge-Beauftragter „Stellvertreter Jesu“168, der Hirtendienst ist aber an die Liebe rückgebunden. Sie qualifiziert Petrus, der Rolle des Miethirten enthoben (Szene 6, vgl. 10,12) und als Hirte eingesetzt zu werden.169 Jesus bleibt als absoluter ‚guter Hirte‘ unersetzbar.170 Der neue Auftrag gewährt Petrus keine besondere 168
Kügler, Jünger, 397. Vgl. Cassidy, Peter, 105. Für R. E. Brown, K. P. Donfried und J. Reumann ist Simon Petrus als Hirte eine „seelsorgerliche Autorität, die in der Liebe des Simon Petrus ihre Wurzel hat“, und drei Aufgaben mit sich bringt: zur Weide führen, schützen, Lebenshingabe (dies., Petrus, 125). Zum Letzteren siehe unten. 170 Damit ist auch ein universeller Anspruch von Simon Petrus’ Aufgabe entsprechend 10,16 zurückgewiesen. Der bestehenden Abhängigkeit von Jesus entsprechend formuliert 169
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Teil III: Simon Petrus
Macht171 – die war bereits allen Jüngern zuteil geworden (20,23) – sondern ist als Liebesdienst zu verstehen.172 Der dritte Auftrag kombiniert die ersten beiden Formulierungen ohne einen neuen Bezugspunkt zu eröffnen. Die Fortsetzung des Dialoges wird erneut von Jesus geleitet. Er sagt Simon Petrus etwas über seine Vergangenheit und erneut etwas über seine Zukunft. Die beiden Aussagen über sein Alter sind relativ und vermitteln somit keine konkreten Informationen für dessen Figurenattribute.173 Bezogen sind aber beide auf die Selbstständigkeit. Eine unbekannte Figur wird in Jesu Rede eingeführt und nicht identifiziert. Der Ausdruck 5)) erinnert dabei an die Jünger in den Szenen 6 und 7, ohne dass die Identität übereinstimmen muss. Stets war ‚der Andere‘ eine positiv belegte Figur, die Petrus nahesteht. So ist auch hier die Erstwahrnehmung positiv. Die Unterordnung unter den unbenannten Fremden schmälert aber die soeben zugesprochene Souveränität des Schafführers. Die relativen Zeitangaben implizieren einen Aufruf, die Zeit zu nutzen, die ihm zum selbstbestimmten Agieren verbleibt, da sie begrenzt ist. Noch hat Petrus die Gelegenheit, sich selbst zu gürten, wie Szene 8 gezeigt hat (21,7: D; . ).174 Jesus benennt als eine Gefahr von Hilfsbedürftigkeit, nämlich dass dem eigenen Willen nicht entsprochen wird (E . & ! ) ). Erst der Erzählereinschub konkretisiert die Voraussage auf ein anstehendes Martyrium. Das `! ` weist auf eine bestimmte Art des Todes, die unter historischer Perspektive einen Märtyrertod am Kreuz nahelegt, da er sich mit ausgestreckten Händen, eventuell gefesselt (D; . ) und gegen den eigenen Willen ereignet.175 Entgegen der überwiegend negativen Besetzung des Todes ist Simon Petrus’ Sterben hier positiv. Es dient der Ehre ( 3G ) Gottes. Beide Themenfelder (Tod und Ehre) wurden bereits mehrfach miteinander in Verbindung gebracht, aber stets kontrastiert (z. B. 11,4.40; 16,2 f.). Einzig in Bezug auf Jesus (bzw. seinen Tod) erfolgte eine Verschränkung. So wurde seine Kreuzigung als Erhöhung (3,14) und gemeinsam mit der Auferstehung und den Ereignissen in diesem Kontext als 3G (7,39; 12,16; 13,31) bezeichnet. Diese positive Deutung des Todes ist aber an die T. Wiarda, dass Petrus eine „new role of under-shepherd“ zugeteilt bekommt (ders., Peter, 140). 171 Anders als in Mt 16,19 bekommt Simon Petrus keine Schlüsselgewalt erteilt. 172 Vgl. 1 Petr 5,1–4. 173 Aus dem 6 " zu folgern, dass Simon Petrus „als alter Mann“ im Martyrium starb (Lietzmann, Petrus, 9 – als Aussage über den historischen Petrus), ist insofern wenig hilfreich, als dabei die Relativität dieses Begriffes nicht aufgehoben wird. Weder eine absolute Altersangabe noch eine Distanz zwischen Ankündigung und Erfüllung können so festgelegt werden. 174 Im Alter vermag Simon Petrus ‚nur‘ noch die Arme auszubreiten, um das Gürten zu ermöglichen. Vgl. Gnilka, Blutzeuge, 50. 175 Vgl. Gnilka, Blutzeuge, 47 f., 53. Gegen Bultmann, Evangelium, 553, Anm. 3.
2 Einzelanalyse der Szenen
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Figur Jesus gebunden und kann nicht verallgemeinert (und auf Sterben prinzipiell bezogen) werden. ‚Sterben für jemanden‘ wurde bereits als Zeichen der Liebe und Nachfolgebereitschaft etabliert (11,16; 13,37; 15,13). In der Erzählerkommentierung findet somit die vorbereitete Idealisierung des bedingten Getötet-Werdens ihren Abschluss.176 Bestärkt wird die Verbindung zwischen Nachfolge und Märtyrertod durch Jesu abschließenden Befehl: ( ) ! . Damit kann Simon Petrus endlich das bereits in Szene 4 gewünschte und ihm dort für später verheißene Verhalten umsetzen. Zudem erinnert es nochmal an die Doppelrolle des Petrus – dass er weiterhin Schaf Jesu bleibt. Die Reaktion von Simon Petrus überrascht. Zum Nachfolgen aufgerufen, wendet er sich (stattdessen?) um und wirft einen Blick zurück, wo er den Geliebten Jünger entdeckt. Anstatt dem Fortbewegungsappell Jesu zu folgen, führt er eine objektbezogene Handlung aus, die seine Wahrnehmung lenkt. Dabei wird Jesus als grammatikalisches Objekt des Nachfolgens gegen den Geliebten Jünger als Objekt des Sehens ausgetauscht. In dieser Aktion kommt Petrus’ Souveränität zum Ausdruck, die in der verheißenen Zukunft (altersbedingt) schwinden wird. Noch ist er jünger ( ; ) und kann über seine Bewegungen und sein Handeln selbst verfügen. Am Ende der Szene wird hier in die Zweierkonfiguration mit Jesus und Simon Petrus eine dritte Figur eingefügt. Waren ‚die Sechs‘ ab 21,16 ausgeblendet, tritt nun der Geliebte Jünger wieder in Erscheinung. Somit wird er auch in Petrus’ letzter Szene diesem als Kontrast- oder Parallelfigur gegenübergestellt und damit die wichtigste Bezugsfigur nach Jesus. Durch die Bewegung des Geliebten Jüngers (( ) .! ) wird die Situation, in der das Gespräch zwischen Petrus und Jesus stattfindet, erhellt. Da der Geliebte Jünger folgt, müssen beide in Bewegung sein. Ob sich dessen Nachfolge eher auf Jesus oder auf Petrus bezieht, kann nicht eindeutig entschieden werden, weil ein grammatikalisches Objekt fehlt. Veranschaulicht läuft er beiden hinterher. So bestätigt er einerseits Petrus’ Führungsposition, setzt aber andererseits bereits den Auftrag, den dieser gerade erhalten hat, um. Darin ist er für diesen ein Vorbild. Die Einführung des Geliebten Jüngers fällt auffällig ausführlich aus.177 Obwohl er schon in 21,7 genannt wurde, verweist der Erzähler nochmal auf dessen ersten Auftritt zurück und rundet damit auch ihn als Figur ab. Die eingespielte Szene ruft das vertraute Verhältnis der wortlosen Verständigung wach und betont die Nähe zu Jesus. Damit ist Simon Petrus in Weideauftrag, Nachfolgevorhaben und Weg ins Martyrium nicht allein, sondern der Geliebte Jünger geht ihm nach. Auch Petrus’ Frage spiegelt sein Interesse am Ergehen des anderen. Die Sprechmotivation und der Einblick ins Innenleben blei176 177
Vgl. 6.4. Siehe dazu auch Teil V – Judas: 2.5; 3.1.9.
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ben verborgen. Ob Petrus aus bloßer Neugierde, aus einer Unsicherheit über die eigene Rolle oder aus Sorge um ihn fragt, bleibt dem Leser überlassen. In jedem Fall misst Petrus der Zukunft des Geliebten Jüngers eine Bedeutung für sich selbst zu. Mit der Situation aus 21,20 f. wird an den Beginn von Jesu Wirken (1,38) angeknüpft. Mit anderen Lexemen des gleichen Wortfeldes beschrieben (" * statt " * und ! statt 7) und ) handelte Jesus dort ebenso. So scheint es, als wolle Simon Petrus diesem nun nacheifern. Dies wird ihm jedoch in Jesu Mahnung, sich auf seine Aufgabe zu kon+ " X“ fungiert als rhetorische zentrieren, verwehrt.178 Das schroffe „ Frage. Für Petrus ist nur das eigene Tun und Ergehen von Bedeutung. Damit entzieht Jesus ihm die Möglichkeit eines Vergleichs der Nachfolge, der Beziehung zu Jesus und der Jüngerschaft und verhindert ein Beurteilen anhand anderer Figuren. Jesu letzte Worte fokussieren den Leser auf die Beziehung zwischen ihm und Simon Petrus (" ), schärfen durch die Formulierungsübereinstimmung mit den Worten aus 21,19 dies als Petrus’ primäre Aufgabe ein und lassen diesen als Nachfolgenden erscheinen. Petrus ist in erster Linie auf Jesus hin ausgerichtet und in seinem Gegenüber zu verstehen. Keine anderen Figuren haben für ihn eine Bedeutung, wie sie Jesus zukommt. Die Hierarchie ist eindeutig in dem von Petrus und dem Imperativ Jesu festgehalten. Im letzten Wort erfüllt sich auch die Erwartung, die in der ersten Szene geweckt wurde. Endlich folgt Petrus Jesus. Folgt Simon Petrus? Der Erzähler spart die Formulierung dieser Handlung gerade aus. Als pointierte Leerstelle, darf der Leser ergänzen, ob Petrus Jesus nun tatsächlich gehorcht und Folge leistet. Die Szene schwenkt nach 21,22 auf ein Geschehen außerhalb des Rahmens der Erzählten Welt um. Damit steht Jesu Auftrag offen am Ende und fordert auch als Leseransprache diesen auf: Folge mir nach! 2.10 Szenen impliziter Nennung Trotz weniger Nennungen in der ersten Hälfte des Evangeliums ist Simon Petrus wohl ab 1,40 als anwesend vorausgesetzt. Der Abschnitt 18,28–19,42 ist die längste Episode, in der er nicht als implizit vorausgesetzt dem Figurenrepertoire zugeordnet wird. Insbesondere ist Petrus also bei Jesu Wundern, Reden, Streitgesprächen und seiner Abschiedsrede dabei. Die zwei expliziten Nennungen in diesen Abschnitten, ohne dass er als Figur auftritt (1,44; 6,8), wurden bereits in der Analyse von Szene 1 behandelt und werden hier nicht 178
Die Antwort Jesu deutet im Vergleich mit der Prophezeiung über Simon Petrus darauf hin, dass der Geliebte Jünger keinen gewaltsamen Tod finden wird, aber prinzipiell wird alles dem Willen Jesu unterworfen, welcher Petrus und auch dem Leser verborgen bleibt.
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gesondert betrachtet.179 Übrige Parallelen – insbesondere durch Referenzformulierungen und -motive wurden bereits in die Szenenanalysen eingeflochten, sodass hier keine der übrigen Szenen gesondert besprochen werden muss.
3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität 3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität
Simon Petrus’ Identität bleibt im Joh auf seine Namen konzentriert. Durch die Namensgebung durch Jesus und die Figurenbenennung wird insbesondere sein Rufname betont. Abgesehen davon erscheint lediglich seine ihm von Jesus final zugetragene Aufgabe identitätsstiftend zu sein. Ausführlicher gestaltet sich die Liste der Merkmale, die sich z. T. in Spannungsfeldern aufbauen und z. T. Tugenden herausstellen. Entsprechend der Anzahl der Auftritte, der Polyvalenz der Deutungen seines Verhaltens sowie ihrer Bewertungen kann das Porträt nicht vollständig sein.180 Hier sind die Merkmale herausgegriffen, die sich aus mehreren Werkzeugen ergaben und die Petrus von anderen Figuren unterscheiden. 3.1 Name und Identität Simon Petrus taucht auffallend häufig unter Nennung beider Namen auf. Der Rufname ‚Petrus‘ erscheint ausschließlich auf der Erzählerebene. In der Ansprache durch andere Figuren wird er stets Simon genannt (wobei ausschließlich Jesus ihn namentlich anspricht). Der Erzähler lässt in der Hälfte der Nennungen ‚Simon‘ weg (17mal ‚Simon Petrus‘, 17mal nur ‚Petrus‘). ‚Petrus‘ wirkt damit als stärkerer Identifizierungsbegriff. Der Wechsel der Benennung erfolgt nach einem gewissen Muster. Zur Einführung der Figur in eine neue Szene nutzt er grundsätzlich beide Namen.181 Einzig in 1,41 greift der Erzähler diegetisch bedingt auf ‚Simon‘ als Figurenbenennung zurück, da er erst im Anschluss seinen Zweitnamen von Jesus zugesprochen bekommt.
179
Insbesondere zu 6,8 ist eine Einordnung der Szene in einen Passionskontext durch die Erwähnung des Passafestes (6,4) eine Parallele, die aber wohl eher für die Brotrede, als für die Figur Simon Petrus fruchtbar zu machen ist. 180 R. F. Collins bezeichnet ihn als „the only ‚round‘ character in the entire narrative“ (ders., John, 366). 181 Vgl. Brown/Donfried/Reumann, Petrus, 224, Anm. 275. Als einzige Ausnahme kann höchstens 1,44 gelten, wo Petrus nur als Referenz angegeben wird (vgl. 2.1). Innerhalb von Szenen überwiegt nach der Erstnennung der einzeln gestellte Rufname ‚Petrus‘, insbesondere Joh 13; 21 bieten hier jedoch einige Ausnahmen. Gewissermaßen im Anschluss an dieses Muster werden in dieser Arbeit i. d. R. bei der Erstnennung von Simon Petrus innerhalb eines Absatzes beide Namen genutzt, während ansonsten nur ‚Petrus‘ verwendet wird.
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3.1.1 Simon, der Hörende, und Petrus, der Beständige? (1,42) Der Name Simon ist als griechische Variante des hebräischen Simeon182 weit verbreitet und bezeichnet allein im Joh zwei verschiedene Figuren: Simon Petrus und den Vater von Judas. Simon stammt vom hebräischen (hören) und wird mit ‚er hat gehört‘ übersetzt. Eine mögliche Deutung gemäß Gen 29,33 auf Gottes Hören hin wird hier nicht verfolgt. Petrus jedoch als denjenigen zu betrachten, der gehört hat, ist passend. Gerade in der ersten Szene spricht er nicht selbst, sondern hört: das Zeugnis seines Bruders und die Zusage Jesu. Auch die letzte Szene hebt den eigentlichen Vornamen durch die Rede Jesu hervor. Dadurch werden die Dinge betont, die Petrus gehört hat. Aus Jesu Mund sind das Zusagen, Kritik, Verheißungen und Aufträge.183 Das einzige Mal, dass Petrus als Einzelfigur explizit hört, ist jedoch das Zeugnis des Geliebten Jüngers in der vorausgegangenen Szene: 3 " . Petrus’ Reaktion ist sofortige Bereitschaft und Zuwendung zu Jesus, die sogar den Sprung ins Wasser nicht scheut. Dies als Grundlage von Jesu Liebesfrage zu erinnern, führt zu der Anrede und Antwort, die Petrus schließlich gibt. Simon Petrus’ Zweit- und (laut 1,42) späterer Rufname lautet , auf Aramäisch / *0 , was ‚Fels‘ oder ‚Stein‘ bedeutet.184 Die aramäische Version findet sich jedoch lediglich in der Figurenrede Jesu, sodass im Kontext dieser Arbeit von ‚Petrus‘ gesprochen wird. Eine Begründung für den Namen, wie sie sich im Intertext Mt 16,18 findet, fehlt im Joh. Mögliche Eigenschaften liegen sowohl im besonderen Wert eines (Edel-)Steins185 als auch in Standhaftigkeit, wie sie Petrus ggf. in Szene 2 zum Ausdruck bringt. Szene 6 veranschaulicht jedoch eher das Gegenteil. Auch sein schneller Meinungswechsel in Szene 3 steht zu einer Beständigkeit in Kontrast. Udo Schnelle deutet ‚Petrus‘ deshalb „nicht auf das Wesen des Menschen des Petrus“, sondern auf seine Bedeutung für die nachösterliche Jüngergemeinschaft, da Jesus „gerade mit dem wankelmütigen Simon etwas Endgültiges, Festes und Unerschütterliches zu schaffen“ beabsichtigt.186 Die stetige Nutzung des Doppelnamens durch den Erzähler kann schwerlich in der Gefahr der Verwechslung begründet liegen.187 Hingegen erscheint in der Kombination beider Namen das Jesuswort aus 1,42 fortlaufend erinnert und erfüllt, da Petrus tatsächlich – zumindest vom Erzähler – Petrus genannt wird. Abgesehen vom Namen bleiben die Figurenattribute von Simon Petrus im Hintergrund. Hinsichtlich seiner Verwandtschaftsbeziehungen ist Petrus einer 182
Vgl. Vollmer, Simon, 1242. Siehe dazu auch 4.1. 184 Vgl. Betz, Petrus, 1040. 185 Für diese Bedeutung argumentiert R. Pesch (ders., Simon, 30 f.). 186 Schnelle, Evangelium, 64. Vgl. Farelly, Disciples, 90 f. 187 Anders als Mk 3,18 parr. nennt das Joh keinen weiteren Simon im Jüngerkreis. 183
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der wenigen Familien des Joh zuzuordnen.188 Sein Vater ist durch Jesu Reden als Johannes bekannt. Andreas wird vom Erzähler in seinen Figureneinführungen als dessen Bruder vorgestellt. Letzteres entspricht auch der synoptischen Tradition.189 3.1.2 Hirte statt Fischer (21,3.15–17) Neben seinem Herkunftsort Bethsaida (‚Fischhausen‘, vgl. 2.1) ist Simon Petrus’ Fischvorhaben in 21,3 der einzige Hinweis auf eine mögliche Fischertätigkeit. So ist sein Beruf der Mutmaßung oder den Intertexten (Mk 1,16 parr.) überlassen. Dagegen zeichnet sich im Joh ein anderes (wenngleich metaphorisches) Berufsbild ab. Wirkmächtig geworden ist das Bild von Petrus als Hirten, welches in 21,15–17 angelegt ist.190 Gerade durch die Endstellung dominiert dieses Bild die Charakterisierung.191 Obwohl Petrus selbst nie als Hirte bezeichnet wird, ordnet der dreifache Hüt- und Weideauftrag Jesu ihm diesen Beruf zu. Bezeichnender Weise präsentiert der Erzähler unmittelbar zuvor Petrus’ Fischertätigkeit anschaulich. Als Berufsfelder der Alltagswelt im sozial-kulturellen Setting und durch den Umgang mit Tieren weisen sie eine gewisse Parallele auf. Eine Zusammenfügung beider Bilder im Sinne einer Kirchenleitung, die Mission und Diakonie umschließt, ist naheliegend. Betrachtet man die zeitliche Anordnung, legt eine solche metaphorische Deutung ein Nacheinander nahe. Nach erfolgreichem Gewinnen zahlreicher (153) Anhänger ist die Fürsorge für diese geboten. Das Bild von Simon Petrus als Hirte greift auf Joh 10 zurück, wo Jesus sich selbst als guten Hirten vorstellt und spiegelt zudem Szene 6 wider, welche ebenfalls auf Grundlage von Joh 10 interpretiert werden kann (vgl. 2.6). Mit dieser Deutung entfaltet Richard Cassidy das Bild von Petrus in Joh 18 als Miethirte („hireling“) aus Joh 10 und Francois Tolmie kennzeichnet ihn in dieser Spannung als „(not so) Good Shepherd“.192 Jesus ist als guter Hirte (10,11.14) Petrus als Vorbild vorangestellt.193 Ob als Nachfolger Jesu in der Hirtenschaft oder als Kontrast zu Jesus als einzigen guten Hirten: Petrus 188 Ferner sind nur Jesu Familie, die Bethanischen Geschwister (Joh 11 f.), die Zebedaiden (21,2) und der Vater von Judas zu nennen. 189 Mk 1,16 parr. 190 Intertextuell lassen sich im gesamtbiblischen Kontext sowohl die Darstellungen von Gott und Jesus als Hirten (Ps 23,1–4; 80,2; Jes 40,11; Ez 34,11–22; Mt 25,32; 1 Petr 2,25; 5,4; Heb 13,20) als auch die Bezeichnung der Leiter des Volkes Israel oder der Gemeinde (2 Sam 5,2; 7,7; Jes 44,28; Jer 23,1–4 (u. ö.); Ez 34,2–10.23; Sach 11,3–17; Apg 20,28 f.; 1 Petr 5,2 f.) hinzuziehen, siehe auch Lk 15,4–7. 191 Vgl. Böttrich, Petrus, 243. 192 Cassidy, Peter, 99; Tolmie, Shepherd, 353–367. Vgl. Farelly, Disciples, 104. 193 Ohne ambivalente Bewertungsmöglichkeiten gibt M. Davies als Hochschätzung Petrus als „devoted disciple“ Jesu an und folgert: „Peter is to imitate Jesus as the good shepherd.“ (dies., Rhetoric, 325).
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weist als Hirte auf Jesus hin. Gegenseitige Kenntnis zwischen Hirten und Schafen und die Lebenshingabe zu Gunsten der Schafe sind die Merkmale von Jesus als gutem Hirten. Wenn Jesus Petrus das Martyrium andeutet (21,18 f.), ist die Aufgabe an etwas anderes gebunden: Die Liebe zu Jesus. Dreimal erfragt und dreifach bestätigt, ist sie die zentrale Grundlage. Primär wird Petrus als Einzelfigur diese Aufgabe übertragen. Eine Weiterführung der Aufgabe ist diegetisch nicht in den Blick genommen, aber auch nicht explizit ausgeschlossen. Szene 9 ist als Amtseinsetzung, evtl. mit Primatsfunktion,194 oder als Qualifizierung geistlicher Hirtenschaft lesbar – liegt aber innerhalb der Leserreflexion über den Text. Vorgegeben ist so das Selbstverständnis, das die Einstellung und das Verhalten von Menschen in Leitungspositionen prägen soll. Durch Identifikation mit Petrus ist dieses zunächst eine Maßgabe zur Selbstprüfung, in einem zweiten Schritt kann es zur Korrektur und Kritik an anderen Leitern herangezogen werden. Gerade in der Kirche ist die Wahrnehmung des Pfarrers, Priesters oder Predigers als Hirten eine bedeutende Rollenzuschreibung, die u. a. durch Petrus im Joh bedingt ist195 und die an diesem Vorbild geprüft werden kann.196 Im Vordergrund stehen nicht Herrschaft, Entscheidungsbefugnis und Befehlsgewalt, sondern Versorgung, Schutz und Hingabe. Mit der Liebe zu Jesus ist zudem ein (freilich schwer messbares) Kriterium für die geistliche Leitung angegeben. 3.2 Merkmale und Identifikationsangebot Der Katalog an möglichen Merkmalen des Petrus ist umfassend und widersprüchlich, beruht er doch vielmals auf Lesarten des Ausdrucks der Figurenreden von Jesus und Simon Petrus sowie auf dem Füllen von Leerstellen. So stellt Alan Culpepper ihn als komplexeste Jüngerfigur dar, ohne genaue Eigenschaften zu benennen, und sieht die ganze Figur auf die Doppelfunktion von Hirtenamt und Martyrium hin ausgerichtet.197 Timothy Wiarda listet zehn Eigenschaften unter Nennung der Häufigkeit des Auftretens auf und beschreibt ihn als „coherent character“.198 Cornelis Bennema erschließt eben-
194
Zur Deutung von Simon Petrus als Typ des Amtsträgers siehe 6.1. Ein Primat schließt J. Kügler explizit aus und folgert: „Jeder kirchliche Hirte ist in diesem Sinne ein Nachfolger des Petrus“ (ders., Liebe, 235). 195 Vgl. z. B. Eph 4,11. 196 T. Wiarda sieht gar die gesamte Darstellung von Simon Petrus im Joh auf „church movements and leadership“ ausgerichtet (ders., Peter, 170), sieht aber auch durch die individuelle, menschliche Zeichnung („feelings nad personal expression“) Korrekturbedarf an rein kirchenpolitischen Deutungen (a. a. O. 178). 197 Vgl. Culpepper, Anatomy, 120 f. Dazu widersprüchlich gibt er Simon Petrus als Personifikation einer einzigen Eigenschaft, der Impulsivität, an (vgl. a. a. O., 102). 198 Wiarda, Peter, 117. Anhand von 18 Eigenschaften vergleicht T. Wiarda die PetrusDarstellung in den vier Evangelien (vgl. a. a. O., 117–119). Außer dieser vergleichenden
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falls zehn (geringfügig andere) Eigenschaften und ordnet ihn bezüglich Komplexität und Entwicklung in die höchstmöglichen Stufen ein.199 In seiner positiven Lesart der Figur Petrus betont Bradford B. Blaine die Eigenschaften „courage, zeal, loyalty, love, resourcefulness, and determination“.200 Vielfach ist Petrus’ unverständiges und impulsives Handeln als Grundlage seiner Persönlichkeit gedeutet worden.201 Hier werden einige Schlaglichter auf diese und weitere Eigenschaften und ihre Potentiale in einer ethischen Deutung geworfen. Dass die Figur Petrus sich in einem Spannungsfeld der Mehrdeutigkeit bewegt, wird in jedem der Abschnitte deutlich, die ihn zunächst zwischen Passivität und Aktionismus verorten, dann Mut und Geduld als Tugenden reflektieren und die eher kritischen Eigenschaften Unverständnis und Gewalttätigkeit in sein Merkmalspotpourri aufnehmen. Petrus’ Impulsivität klingt dabei in allen Unterkapiteln an. 3.2.1 Zwischen Passivität und Aktionismus Als drittberufener Jünger ist Simon Petrus von Beginn des Wirkens Jesu an anwesend und stets in dem Kollektiv ‚die Jünger‘ mitgedacht. Durch die Erzählung seiner Berufung ist er nicht – wie einige andere Jünger – erst retrospektiv darin zu verorten. Insbesondere durch den neuen Namen, den Jesus ihm gibt, und durch mehrfache Verweise auf ihn202 wird seine Bedeutung gestärkt und der Leser an ihn erinnert. Ob beim Wein- oder Speisungswunder, im Jerusalemer Tempel oder in der Synagoge in Kapernaum, beim Taufen am Jordan, bei Jesu Seewandel oder seiner Blindenheilung, Petrus ist implizit anwesend. Nach Jesus hat Petrus von allen Figuren die größte Anzahl von Szenen, in denen er präsent ist. Zu dieser Präsenz ergibt sich ein Kontrast. Im Vergleich zu anderen Figuren ist er bis Joh 12 erstaunlich passiv.203 Er ist der einzige Jünger, der in seiner Berufungsszene nicht explizit handelt. Nach der Auszeichnung durch Jesus mit dem Zweitnamen ‚Kephas‘ fehlt eine unmittelbare Reaktion und die Lesererwartung einer besonderen Rolle von Simon Petrus bleibt bis 6,68 unerfüllt. In der Zeit des öffentlichen Wirkens Funktion nutzt er die kumulative Auflistung jedoch nicht zur Entfaltung eines besonderen Charakterprofils. 199 Bennema, Encountering, 126. Vgl. auch ders., Theory in NT, 137 f. 200 Blaine, Peter, 2, 183. 201 Exemplarisch für die Fachliteratur sei hier aus drei Darstellungen zitiert, die bei „dem wankelmütigen Simon“ Petrus (Schnelle, Evangelium, 64) mit seiner „aufbrausenden Persönlichkeit, die oft die Stoßrichtung von Jesu Forderungen mißversteht“, (Brown/ Donfried/Reumann, Petrus, 117) die „Haupteigenschaften […] Unverständnis“ und „Unbesonnenheit“ (Simon, Petrus, 14) benennen. 202 1,40.44; 6,8. 203 Ein intertextueller Vergleich mit den synoptischen Evangelien bestärkt den Eindruck von Passivität von Simon Petrus im Joh.
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Jesu bleibt sein Ausspruch dort seine einzige Handlung. Stattdessen sprechen Andreas und Nathanael die ersten Jüngerbekenntnisse (1,41.49), agieren Andreas und Philippus während des Speisungswunders (6,5.8 f.), ruft Thomas zum Mitsterben auf (11,16) und bringt Judas einen Einwand vor (12,5).204 Abgesehen von den Bekenntnissen, in die sich Petrus zumindest einreiht, sind die Einzelauftritte der Jünger nicht positiv bewertet. Entweder kritisiert Jesus oder der Erzähler die Jüngereinwürfe oder sie bleiben kommentarlos der Leserbewertung überlassen. So gesehen ist Petrus’ Passivität kein Grund ihn abzuwerten. Im entscheidenden Moment (6,66) wendet er sich nicht ab. Allein dass er hervortritt, als einziger Jünger spricht und seine Sprechhandlung in Alternativlosigkeit und gedoppelter Bekenntnisgrundlage in Glauben und Wissen formuliert, drückt eine ‚Ganz-oder-gar-nicht-Haltung‘ aus. Bis Joh 12 überwiegt dabei das ‚gar nicht‘. Ab Kapitel 13 ist die Klassifizierung als passiv außer Kraft gesetzt – lediglich in 18,16 erscheint Petrus noch einmal als Objekt, dem etwas widerfährt ohne selbst in Aktion zu treten. Die passive Zeichnung von Petrus in der ersten Hälfte des Evangeliums (und damit dem Großteil der Erzählten Zeit) bietet sich als Kontrapunkt zur zweiten Hälfte an. Petrus ist eine Figur der Extreme. Bereits die erste Sprechhandlung von Simon Petrus weist auf ein hohes Maß an Impulsivität. In der Redesituation kommt das Bekenntnis auf Jesu Frage hin unvermittelt und der Ausdruck ist mit der Doppelung " 6 ; emphatisch. In der zweiten Hälfte des Evangeliums setzt sich dies fort. Mehrfach ergreift Petrus die Initiative und unterbricht damit das Geschehen oder treibt die Handlung voran (vgl. Szene 3, 4, 5, 8). Nach Jesus tritt er in Joh 13–21 als Figur am häufigsten in Aktion. Insgesamt finden seine Handlungen aber nicht die Konsequenz, die seiner jeweiligen Handlungsmotivation entspricht und führen in dieser Hinsicht zu keiner positiven Bewertung: Sein Einwand gegen die Fußwaschung bleibt ohne Erfolg; seine Neugier bezogen auf die Identität des Überlieferers erhält zwar eine Antwort, er versteht sie aber nicht; seine Frage nach Jesu Weggang bleibt unbeantwortet; seinem Lebensaufgabeversprechen wird von Jesus widersprochen; sein Schwertstreich verhindert die Gefangennahme nicht; die Verfolgung des Verhaftungstrupps mündet in die Verleugnung seine Jüngeridentität; sein Fischvorhaben bleibt erfolglos; trotz Sprung ins Wasser erreicht er Jesus nicht vor den anderen Jüngern. Ist damit sein Handeln prinzipiell kritisiert? Ein vorschnelles Urteil wird hier nicht gefällt. In der Spannung zwischen Mut und Übermut einerseits und Tatendrang und Zurückhaltung
204
Im Vergleich zu Episodenfiguren wie Johannes, Nikodemus, der Samaritischen Frau, dem Gelähmten, dem Blinden, Maria oder Martha führen diese jeweils mehr Handlungen aus als Simon Petrus. Aus der Aktivität allein lässt sich jedoch noch keine Bewertung ableiten.
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andererseits bewegt sich Petrus’ Charakterisierung. Dies wird in den folgenden beiden Unterkapiteln (3.2.2 und 3.2.3) diskutiert. Zur Charakterisierung zwischen Passivität und Aktionismus, Zurückhaltung und Impulsivität dominieren in jedem Fall die jeweils letztgenannten Begriffe. Entweder lässt sich Simon Petrus als Figur einordnen, die sich zur Impulsivität entwickelt oder dieses Merkmal kommt erst in den letzten Tagen der Erzählung zur Geltung. Bei einer Betrachtung der Situationen (und der jeweiligen Atmosphäre), in denen Petrus agiert, fällt auf, dass sich diese mit Ausnahme des Schwertstreichs und der Bewegungen und Reaktionen im Hof des Hohepriesters nicht in der Öffentlichkeit ereignen. So ist für Petrus vielleicht eine Vertrauenssituation Voraussetzung für seine Impulsivität. Zur Bewertung der Verhaltenstendenz zeichnet sich hier bereits eine Kritik am Aktionismus ab. In Szene 3 wird Petrus jedoch nicht für die Umkehrung seiner Meinung ins andere Extrem, sondern für seine jeweiligen Aussagen kritisiert. Jesu gesprächsbeendende Antwort mahnt dazu, das richtige Maß zu halten. Gewissermaßen dient Petrus so in vielen Szenen als Warnung vor dem Extrem, welches er verkörpert. Handlungen, die um ihrer selbst willen oder unüberlegt ausgeführt werden, werden abgelehnt. Der Leser kann von Petrus lernen. Wissen – insbesondere geistliche Erkenntnis – kann Fehler verhindern (vgl. 3.2.4), voreilige Handlungen führen nicht zum Erfolg, geboten ist Mäßigkeit statt extremen oder überstürzten Agierens. 3.2.2 Mut Bereits in der antiken Philosophie erscheint Mut (( ) als Kardinalstugend. Entsprechend klassifiziert Aristoteles das Verhalten als mutig, welches für das sittlich Gute Todesgefahr und Schmerz in Kauf nimmt.205 In diesem Sinne sind Simon Petrus’ Sprechhandlungen – sowohl das Bekenntnis (6,68) als auch der Einwand (13,6.8) wie auch seine Verheißung (13,37) – kaum als Mut zu bezeichnen. Anders jedoch steht es um seinen Schwerthieb (vgl. Szene 5). In der Situation großer Bedrohung setzt er sich für die Freiheit seines Freundes und Lehrers ein, was angesichts der überwältigenden Übermacht tatsächlich als Bereitschaft zur Lebensaufgabe begriffen werden kann. Dennoch gebietet Jesus Petrus in seinem Tun Einhalt und verdeutlicht, dass dieser
205 Vgl. Aristot. eth. Nic., III, 1115a, 1116a. Wenn hier ‚Mut‘ als Kardinalstugend der Antike angeführt wird und die joh. Darstellung von Simon Petrus aristotelischen Ausführungen gegenübergestellt wird, ist dies eine intertextuelle Lesart, die keine literarische Abhängigkeit voraussetzt – oder gar das Joh als Reflexion über Aristoteles versteht. Inwiefern eine solche Mutmaßung unplausibel ist, macht F. W. Horn (mit Schwerpunkt auf ( , allerdings am Bsp. der paulinischen Schriften) deutlich (vgl. ders., Kardinaltugenden, 361–363). Hier wird ( als Stichwort aufgegriffen, anhand dessen ethische Reflexionen vollzogen werden.
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„völlig falsch gehandelt hat“.206 Ist damit die Tugend außer Kraft gesetzt? Ist mutiges Verhalten nicht gefragt? Die situative Rahmung der Handlung vermittelt eine andere Perspektive. Durch Jesu Überlegenheitsdemonstration kann sich Simon Petrus auf der Seite des Stärkeren wähnen. Dementsprechend ist die Gefahr relativiert und schwerlich von Mut zu sprechen. Stattdessen scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Wie schon innerhalb der sicheren Jüngergemeinschaft verheißen, nutzt er hier die Gelegenheit, sich mutig zu geben ohne mutig zu sein. So ist Petrus’ Verhalten nicht nur durch Jesus, sondern auch narrativ kritisiert. Treffend formuliert Aristoteles solche Situationen: „Es scheint aber auch Tollkühne zu geben, die Prahler sind und Tapferkeit nur vorspielen […]. Sie zeigen sich kühn, wo es geht, halten aber das wirklich Furchtbare nicht aus.“207 Auf Petrus bezogen kann als das ‚wirklich Furchtbare‘ die Situation im Hof des Hohepriesters (Sz. 6) gelten. Dass er angesichts mutmaßlicher Gefahr seine Freundschaft zu Jesus und seine Jüngeridentität leugnet, zeugt von Feigheit. Insbesondere durch die Szenenanordnung erscheint Jesus als Kontrastfigur zu Petrus. Dieser weicht der Frage des Hohepriesters zu seinen Jüngern und seiner Lehre zwar aus, leugnet diese aber nicht und wird so unmittelbarer Gewalt und langfristig seinem Tod ausgeliefert. „Jesus steht zu seinen Jüngern“,208 während Petrus verleugnet. So werden durch Petrus beide Extreme Übermut und Feigheit verdeutlicht und er erscheint als Abgrenzung zur Veranschaulichung der Tugend.209 Neben der negativen und einschränkenden Lesart von Simon Petrus kann Mut als Charaktermerkmal bei ihm auch an die Gemeinschaft rückgebunden werden. In diesem Sinne ist Jesu Gegenwart oder die Gemeinschaft der Jünger für ihn notwendige Voraussetzung für mutiges Auftreten. Mit dem nötigen Rückhalt traut er sich einiges zu und vermag sogar Übermächtiges zu vollbringen. Wird nicht bereits der, seiner Ankündigung (13,37) entsprechende, Schwertschlag als ‚mutig‘ eingestuft, kann zumindest sein Einsatz beim Fischzug (See-Sprung und Netz-Ziehen; 21,7.11) als erfolgreiches Unternehmen von gefährlichen oder schwierigen Unterfangen gelten. Nicht zuletzt ist die doppelte Verheißung des späteren Folgens (13,36) und des Märtyrertodes (21,18 f.) ein Hinweis, der Petrus Tapferkeit attestiert. Jesu Einwand gegen seinen Schwertschlag ist nach dieser Lesart nicht auf diese Eigenschaft bezogen, sondern ordnet die Tugend in eine Hierarchie ein. Als Grund zur
206
Dschulnigg, Petrus, 128. Aristot. eth. Nic., III, 1115b [Übersetzung: Gigon, Olof: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, 166]. 208 Dschulnigg, Petrus, 130. 209 Ähnlich fasst M. Labahn die Auftritte von Simon Petrus in Joh 18 unter „Misguided Courage“ und „Losing his Courage“ zusammen (ders., Simon, 160). 207
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Kritik stellt Jesus den göttlichen Willen dar. Mutiges Handeln ist also einer Zweckmäßigkeit untergeordnet, die geistliche Einsicht voraussetzt. In der Gesamtschau der Szenen ist Simon Petrus eher als impulsiv denn als mutig zu charakterisieren.210 Deutlich wird dies vor allem in seinem direkten Handeln, der Wahl einer extremen Form des Handelns (18,10; 21,7) und dem Ausdruck in seinen Sprechhandlungen (6,68; 13,8 f.37). Vor- und Nachteile dieses Charakterzugs werden dem Leser narrativ vor Augen geführt. Vielfach ergreift er die Initiative und stößt eine Handlung an (allerdings nur in 18,10 in der Öffentlichkeit).211 Im Kreis der Jünger fällt er durch seinen Willen zum Handeln auf. Inwiefern der Erzähler anhand von Simon Petrus Mut als Tugend im Spannungsfeld zwischen Bedrohung und Sicherheit, Tollkühnheit und Feigheit reflektiert, ist schwer zu beurteilen. In jedem Fall fehlt eine klare Positionierung zu ( .212 Damit steht in Frage, ob Mut überhaupt eine Tugend ist. Dennoch liefert ( den Bewertungshintergrund für Szene 6. Durch die Verhaltensbewertungen und die (implizit ebenfalls wertenden) Situationsdarstellungen werden durch Petrus Grenzen aufgezeigt und der Leser zur weiteren Reflexion über Tapferkeit und Mut angeregt. 3.2.3 Geduld Simon Petrus’ direkten, impulsiven Agieren steht Jesu Ermahnung zur Geduld entgegen. Sowohl in 13,7 als auch in 13,38 verweist Jesus ihn auf einen späteren Zeitpunkt. Letztere Stelle findet sich in 21,19 aktualisiert. Petrus’ Wunsch, nachzufolgen, ist in 13,38 und selbst in 18,10.15 noch verfrüht. In Szene 5 unterbricht er mit seinem unvermittelten Eingreifen den von Jesus gesteuerten und kontrollierten Handlungsverlauf. Die Geduldsprobe besteht Petrus nicht. Dennoch zeigt Jesus ihm (in Szene 9) den Moment an, bis zu dem er warten sollte. Petrus’ Selbstüberschätzung weist auf die Grenzen menschlichen Vermögens und zeigt die Differenz zwischen Wollen und Vollbringen auf.213 Jesu Kritik ermahnt, den Mund nicht zu voll zu nehmen. Was
210
Vgl. 3.2.1. Auch F. Tolmie wählt den Ausdruck, den er jedoch als negativ klassifiziert (ders., Shepherd, 358; vgl. ders., Farewell, 138). Ähnlich charakterisiert M. Davies ihn als „impetuous“ (dies., Rhetoric, 326). 211 Siehe 6,68; 13,6.24.36; 18,10; 18,15; 21,3.7.11. 212 Der Begriff ( bezeichnet hier nicht die antike Kardinalstugend, sondern die oben skizzierte Einstellung, über deren Abhängigkeit zum antiken philosophischen Diskurs keine Aussage getroffen wird. Da weder das Lexem ( im Joh belegt ist noch ein Hinweis auf die antiken Kardinalstugenden vorliegt, wäre es absurd, eine Positionierung des Erzählers zu dieser anzunehmen. 213 J. Calvin leitet allgemein menschliches Verhalten aus 13,37 ab: „Deshalb zeigen diese Worte des Petrus, welcher Art unsere Selbsteinschätzung ist, die mit uns zusammen geboren wird: wir trauen unseren Kräften zuviel zu. Daher nehmen wir alles mögliche in
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von Petrus „gefordert ist, ist nicht heroische Tat, sondern wartende Bereitschaft“.214 Nicht das ernsthafte Ansinnen unterliegt Jesu Bewertung, sondern das konkrete Tun und Einhalten der getroffenen Ankündigungen. In dieser Hinsicht dient Petrus dem Leser als Mahnbild, dem es nicht nachzueifern gilt. Geduld ist eine Tugend, die Petrus fehlt. Vorteile bietet sein impulsives Verhalten in erster Linie für andere. Die anderen Jünger werden durch seine Rückfragen ermutigt, ebenfalls ihre Fragen zu stellen (13,36; 14,5.8.22), das Geschehen wird vorangetrieben (13,24; 21,3) und er kanalisiert Leserfragen (13,6; 13,36; 21,21). So wird auch der Leser ermutigt, in Vertrauenskontexten etwas zu riskieren, Fragen und Einwände auszusprechen. Doch durch dieses Verhalten muss sich Petrus der Kritik Jesu stellen (s. o.) und er gerät in eine Situation, in der er scheitert (18,15; vgl. 6.2). Über der Handlungsermutigung oder -einschränkung steht die Mahnung, auf den Zeitpunkt zu warten. Manche Handlung ist nicht grundsätzlich verkehrt, sondern ist nur zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer gewissen Situation unangebracht.215 Handlungsentscheidungen dürfen also nicht prinzipiell, sondern sollen kontextuell getroffen werden. 3.2.4 Unverständnis Auf Simon Petrus’ Wissen kann überwiegend nur aus seinen (und Jesu) Sprechhandlungen rückgeschlossen werden. Wie den Jüngern insgesamt kann Petrus in besonderer Weise Unverständnis als Eigenschaft zugeordnet werden.216 Dagegen spricht vordergründig sein Bekenntnis, in dem er auch sein Wissen (6 ;" ) zum Ausdruck bringt und Jesus als Heiligen Gottes versteht. Klassifiziert man Jesu abschließende Rückfrage allerdings inhaltlich als Einwand, so ist Petrus’ Erkenntnis zumindest eingeschränkt. Er vergisst Jesus und dessen Tun als Grund und Grundlage der Beziehung. Auch kann er Jesu Teufelsaussage nicht einordnen. Stärker noch kommt seine Unkenntnis in folgenden Auftritten zum Ausdruck: In 13,7 sagt Jesus ihm direkt, dass er die Bedeutung der Fußwaschung nicht versteht und er bestätigt es durch konträre Forderungen, die beide unerfüllt bleiben; in 13,28 begreift er Jesu Auftrag an den Überlieferer nicht; in 13,36.37 erkennt er das Ziel von Jesu Weggang Angriff, ohne Gottes Hilfe anzurufen, und dabei können wir doch nichts!“ (Calvin, Auslegung, 349). Vgl. auch Röm 7,18 f. 214 Bultmann, Evangelium, 461. 215 Vgl. auch Jesu Kritik an Judas bzgl. des Zeitpunkts des Almosengebens (12,8; Teil V – Judas: 5.2). 216 Anhand von Simon Petrus veranschaulicht C. W. Skinner exemplarisch, wie das Missverstehen von Figuren im Joh als Erzählstrategie genutzt wird (vgl. ders., Misunderstanding). N. Farelly untersucht Petrus in seinen neun (geringfügig anders eingeteilten) Szenen auf Glaube und Verständnis (vgl. ders., Disciples, 89–106) und resümiert: „Throughout the narrative, Peter’s faith is never explicitly denied, but […] it is accompanied by misunderstanding“ (a. a. O., 106).
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nicht und der Grund des Nicht-Folgen-Könnens bleibt ihm verborgen; Jesu Freiheitsgesuch für seine Jünger in 18,8 missversteht er ebenfalls; angesichts des leeren Grabs attestiert sogar der Erzähler ihm Unverständnis (20,9); in 21,4.7 stellt dieser schließlich heraus, dass Petrus Jesus nicht wiedererkennt. Dabei sind alle seine Verständnisprobleme auf Aussagen Jesu oder dessen Auferstehungswunder bezogen. Nicht in Fragen von praktischer Relevanz, aber in geistlichen Belangen versteht Petrus wiederholt nicht.217 In seinem Unverständnis ist Simon Petrus ein „exemplarischer Jünger“.218 Durch solch eine Rollenzuschreibung wird die Identifikationsmöglichkeit für Leser betont, da ‚Jüngerschaft‘ für diese prinzipiell positiv konnotiert ist. Neugierde ist kein Schlüssel zur Erkenntnis. So bleiben Petrus in 13,24–28 und 21,21 f. die Antworten auf sein neugieriges Nachfragen verschlossen. Bei der Auflistung von Petrus’ Begriffsstutzigkeit erstaunt die Bedeutsamkeit, die Jesus ihm in der ersten und insbesondere in der letzten Begegnung zuspricht. Vielleicht liegt in Szene 9 auch der Schlüssel zu Petrus’ Verständnisdefizit. Sein Unverständnis ist oft mit einem „noch nicht“ versehen (13,7.36; 21,9; vgl. 12,6) und in 21,17b richtet er sich schließlich an Jesus als Allwissenden. Vor allem durch ihn als Figur (aber auch durch die Lexeme 9 und 6 ;" , vgl. auch Jesus als )36 ) ist ‚Wissen‘ im Joh als erstrebenswertes Ideal entfaltet. In Jesus findet sich Wissen ultimativ verkörpert, in Petrus das Defizit als Pendant veranschaulicht. In der Szene seiner Berufung in die Leitungsposition (21,15–17) erkennt er dies an. So ist das Wissen um das eigene Nichtwissen dem Wissen vorgeordnet. Wissen ist nicht das höchste oder gar Gemeinschaft konstituierende Ideal. Das menschliche Bedürfnis, die Artikulation der Christusbeziehung und des Bekenntnisses sowie den Glauben auf Wissen zu gründen,219 findet in Petrus Ausdruck und zugleich einen Gegenpol. Vollständiges Begreifen oder umfassendes Wissen ist gerade keine notwendige Bedingung.
217 Simon Petrus’ Unverständnis wird vielfach betont und zu seiner Charakterisierung herangezogen. Vgl. z. B. Collins, John, 366; Dschulnigg, Petrus, 124, 128, 145. C. Bennema stellt in seiner Analyse von Simon Petrus 6,68 f. unter dem Schlagwort „Peter’s Understanding of Jesus“ den Szenen in Joh 13 und 18, die er mit „Peter’s Misunderstandings“ überschreibt, voran und gewissermaßen gegenüber (ders., Theory in Nt, 134 f.). Auch wenn Bennema Enthusiasmus und Impulsivität als Gründe für Petrus’ Missverstehen benennt, bleibt letzteres eine seiner zentralen Eigenschaften, Verständigkeit jedoch nicht (vgl. a. a. O., 135, 137, 139). 218 Schnelle, Evangelium, 249. Vgl. Culpepper, Anatomy, 115. Zu den joh. Missverständnissen vgl. Culpepper, Anatomy, 161 f.; Förster, Johannes, 338; Leroy, Rätsel. Insbesondere in das Miss- und Unverständnis des Jüngerkollektivs (z. B. 4,32) ist Simon Petrus eingeschlossen. 219 Vgl. neben 6,69 auch Teil VI – Thomas: 5.3.
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3.2.5 Gewalttätigkeit (18,10 f.) Mit Schwert und Schwertscheide als assoziierten Gegenständen bekommt die Figur Simon Petrus eine deutliche Nähe zu Waffengewalt. Abgesehen von Joh 21, wo ihm noch das Gewand und in gewisser Weise auch Boot, Netz und Fische zugeordnet werden, bleibt das Schwert sein einziger explizit benannter Besitz. Die Scheide wird ihm nur implizit durch Jesu Figurenrede zugeordnet, das Schwert jedoch hat er ( ) und setzt es auch ein. Die Situation, in der Petrus das Schwert zieht, zeichnet sich bereits durch eine Verdichtung der Gewalt aus.220 Petrus tritt in Szene 5 deutlich hervor. Gleich vier Verben beziehen sich auf ihn, beschreiben seinen Zustand, seine Handlung, seine Interaktion. Sein Schwertstreich kommt aus dem Affekt und zielt auf eine andere Figur. Absichtlich richtet er Personenschaden an. Die Konsequenz für diese Gewalttat ist doppelt negativ. Jesus unterbindet den Verteidigungsversuch und ein Verwandter des Verletzten führt später die dritte Verleugnung herbei. Petrus’ Angriff ist klar als „völlig falsch“221 eingestuft, aber worin liegt die Negativbewertung begründet? Vordergründig liegt sein Fehler darin, dass er Jesu Autorität untergräbt und Gottes Plan zu verhindern versucht. Moralisch bemerkenswert ist daran, dass so die Gewalt, das Blutvergießen – zumal gegen einen Mittelsmann – akzeptiert erscheint. Eine Entschuldigung, Bestrafung des Täters oder Heilung des Betroffenen bleibt aus. Doch Jesu Appell verhindert nicht nur weitere Gewalt, er weist Petrus’ Schwert an einen Ort, wo es zu bleiben hat. Sein Aufruf zum Einstecken korrespondiert mit dem Ziehen, macht die Aktion rückgängig. Jesus nimmt Gewalt als gegeben hin, unterstützt diese nicht und hinterfragt sie, aber er verbietet sie nicht. Auf die verschiedenen Tötungsversuche hin weicht Jesus zurück, eine Eskalation bei seiner Gefangennahme verhindert er, für die Ohrfeige des Dieners verlangt er Rechenschaft, dem Geißelungs- und Kreuzigungsgeschehen als Höhepunkt der Gewalt nimmt der Erzähler die Grausamkeit durch Ausblendung von Leid und Schmerzen und die Darstellung Jesu als Souverän, König und Tröster. Auch Simon Petrus’ Rufname gerät in Bezug auf Gewalttätigkeit in den Blick. Schließlich kann das Lexem (bzw. ) in das gleiche Wortfeld wie ) ! eingeordnet werden. Letzteres ist im Joh besonders mit Steinigungsversuchen und -vorhaben verknüpft (8,5–8.59; 10,31) und so eher negativ konnotiert und mit Gewalt assoziiert.222 Gerade die sprachliche Differenzierung weist jedoch eine Bedeutungsübertragung zurück. Auch Jesu Distanz zu Gewalt, die im Joh deutlich wird, spricht gegen eine Namenszu220
Vgl. dazu auch Teil V – Judas: 2.4. Dschulnigg, Petrus, 128. 222 Als Grabverschluss (in 11,38–41; 20,1) bezeichnen Steine primär die Manifestierung des Todes, in einem zweiten Schritt werden sie aber – sobald sie weggerollt sind – Sinnbild der Auferstehung. 221
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schreibung mit dieser Konnotation. Zudem ist gerade nicht in seiner Bedeutung festgelegt, sodass sich eine Engführung auf den besonders gewalttätigen Petrus verbietet. Als Gegenpol von Simon Petrus’ Gewalthandlung im Affekt ist festzuhalten, dass er später nicht erneut gewalttätig wird, obwohl sein Folgen in den Hof des Hohepriesters und Jesu Verhör dort einigen Anlass zu erneutem ‚Zum-Schwert-Greifen‘ bieten. So ist eine Gewaltbereitschaft vorhanden, die er situativ realisiert, aber Gewalttätigkeit verliert als Charakterzug von Petrus seine Plausibilität. Anhand von Petrus wird Gewalt nicht vollends abgelehnt oder eine prinzipielle Verurteilung von Gewalttätigen vollzogen. Szene 5 zeigt jedoch auf, das Gewaltandrohung nicht mit Gewalt zu begegnen ist und eröffnet eine geistliche Dimension, die Gewalt verbietet, auch wenn die Situation sie zu erfordern scheint. Gewalt bleibt Realität und Handlungsoption, verliert aber ihren Herrschafts-, Machtdurchsetzungs- und Dominanzanspruch. 3.2.6 Entwicklung und Identifikation Das aufgezeigte Spannungsfeld, in dem die Figur Simon Petrus steht, entwickelt sich während der Erzählung fortlaufend. Wie schon deutlich wurde, sind nicht alle Eigenschaften dauerhaft präsent. Im Versuch, eine Entwicklungslinie nachzuzeichnen, sind Jesu Kritik, Petrus’ Unverständnis, die Relativierung seiner Bedeutung durch den Geliebten Jünger und seine Verleugnung Tiefpunkte. Francois Tolmie entwickelt anhand einer dynamischen Charakterisierung eine Bewertung, die sowohl positiv beginnt als auch endet, aber einen gravierenden Tiefpunkt in Joh 13 und 18 findet.223 Detaillierter skizziert Richard Cassidy die Entwicklung. Er stellt nach geringen Auf- und AbBewegungen die Verleugnung (18,17–27) als klaren Tiefpunkt dar. Erst durch Jesu Eingreifen gelingt eine Aufwertung in den beiden Auferstehungskapiteln, die deutlich über alle vorigen Wertungen herausragt.224 Dagegen hält Lutz Simon fest: Im gesamten Evangelium „wird die Person des P[etrus] positiv geschildert und seine Entwicklung verläuft gradlinig.“225 Solche – differenzierten oder weniger differenzierten – Bewertungslinien nehmen Petrus jedoch ein Stück seiner Ambivalenz, in der er bis zum Ende steht. Auch bei seinem letzten Auftritt stehen Nachfolgeaufruf, Liebeserklärung und Hirtenauftrag der Erinnerung an die Verleugnung und der Kritik am Umwenden gegenüber. Ohne Frage entwickelt sich die Figur sowohl als Cha223
Vgl. Tolmie, Shepherd, 362. Vgl. Cassidy, Peter, 108. Wenn N. Farelly (im Anschluss an J. L. Resseguie) von einem „new Peter“ spricht, greift das diese Aufwertung in Sz. 9 auf, täuscht aber zugleich über die Kontinuität und anhaltende Ambivalenz (die auch Farelly benennt) der Figur leicht hinweg (ders., Disciples, 104 f.). Vgl. Resseguie, Gospel, 155. 225 Simon, Petrus, 196. 224
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rakter innerhalb der Erzählten Welt als auch als Bild in der Vorstellung des Lesers, jedoch nicht linear, sondern auf vielen Ebenen, die obige Kontrastierungen deutlich gemacht haben. Als am stärksten profilierte Jüngerfigur bietet Simon Petrus – auch besonders durch seine Vielschichtig- und Widersprüchlichkeit – dem Leser Identifikationspotentiale.226 Die hohe Komplexität und Spannung zwischen Selbsteinschätzung und tatsächlichem Verhalten, zwischen Wollen und Vollbringen führt zu großer Authentizität227 seiner Figur und so zu einem hohen Identifikationsgrad. Neben einer prinzipiellen Identifikation durch seine Jüngerschaft228 macht auch die Schilderung von Höhen und Tiefen und Petrus’ Durchleben von eben diesen ihn nahbar, stärkt die Leserempathie, macht Petrus zum Empathor. Auch die Situation der Bekenntnisforderung, der er nicht nachkommt, bietet einen hohen Identifikationsgehalt für christliche Leser in Gesellschaften und Gruppierungen, in denen Christsein nicht der Norm entspricht.229 Petrus wirkt besonders menschlich in dem Sinn, dass er nicht nur einen bestimmten Typ abbildet, sondern sehr individuelle Merkmale zeigt.230 Gerade seinem vorschnellen Agieren, dem Nicht-Abwarten-Wollen, wird Geduld als Tugend gegenübergestellt. Die erbauliche Grundbotschaft, die der Leser als Fazit über Petrus wahrnimmt, ist die grundsätzliche Annahme, die ihm begegnet – eine Botschaft, die nicht alles Tun und Lassen in Banalität auflöst, sondern die zum Handeln (Szene 8!) befreit.
4 Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik 4 Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik
Simon Petrus steht als – abgesehen von Jesus – am häufigsten hervortretende Figur mit vielen anderen Figuren in Beziehung oder Interaktion. Jesus steht bei der Betrachtung des jeweiligen Verhältnisses wie gewohnt am Beginn. Es folgen die Jüngerkollektive und die Einzelfiguren aus dieser Gruppe. Nebenfiguren aus Einzelbegegnungen schließen die Liste ab. 226
So folgert auch J. Hartenstein aufgrund der Bedeutung von Petrus, „dass die LeserInnen sich zu ihm verhalten müssen“ (dies., Charakterisierung, 211, Hervorhebung: FW) und L. Simon nennt als symbolische Deutung der Figur Simon Petrus die „Widersprüchlichkeit des Menschen an sich“ (ders., Petrus, 16). 227 So titelt B. B. Blaine „Peter in the Gospel of John. The Making of an Authentic Disciple“ (ders., Peter). Vgl. a. a. O. 180, 183. 228 Zum prinzipiell großen Identifikationspotential von Jüngergestalten siehe Teil II – Methodologie: 1.6.8; Teil VI – Thomas: 3.2. 229 P. Dschulnigg resümiert, dass Simon Petrus „tragisch versagt und sein Gesicht verloren [hat]. Für die Leser und Leserinnen des Evangelium wird er darin freilich auch zu Mahnung und Tröstung in ähnlichen Situationen des Versagens“ (ders., Petrus, 130). 230 T. Wiarda schließt aus seinen Beobachtungen, dass die Petruserzählungen (innerhalb aller Evangelien) dem heutigen Leser noch einen Eindruck von der (historischen) Person geben (vgl. ders., Peter, 228).
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4.1 Simon und Jesus Wie alle Figuren ist auch die Darstellung von Simon Petrus vollkommen auf die Hauptfigur Jesus ausgerichtet. So ist Jesus der häufigste Dialogpartner und auch die Szenen seiner Abwesenheit (Szenen 6 und 7) stellen Petrus in Bezug auf Jesus dar. Bereits in der Charakterisierung der Figur Petrus (v. a. 3.2.4) spiegelte sich ihre Beziehung zu und Ausrichtung auf Jesus wider. Das Verhältnis lässt sich getrennt als wechselseitige Einstellungen, als Verhalten Jesu gegenüber Simon Petrus und umgekehrt betrachten. Die Beziehung zwischen beiden baut auf ein Statusgefälle auf. Petrus ist Jesus als Schüler und Jünger untergeordnet. Jesu Positionierung gegenüber anderen Figuren ist ein wichtiges Bewertungskriterium für den Leser, da er als Protagonist, als göttlicher Logos und als personifizierte allwissende Wahrheit die Lesermeinung führt. Jesus verhält sich gegenüber Petrus auf zwei Weisen. Einerseits spricht er ihm individuell und im Kollektiv Wertschätzung, Vertrauen und Vollmacht, Erwählung und Liebe aus. So ist Petrus in das Vertrauensverhältnis (Sz. 8: „Kinder“; 15,15: „Freunde“) integriert. Andererseits kritisiert Jesus ihn mehrfach und weist seine Fragen und Versprechen zurück. Dabei hat Jesus – egal, was Petrus sagt oder tut – das letzte Wort. Alle Begegnungen und Dialoge enden mit einer Antwort, einem Einwand oder einem Kommentar Jesu (welcher zum Teil noch vom Erzähler erklärt wird). Dabei sind die Adressaten von Jesu Worten verschieden. Mehrfach beendet Jesus Gespräche mit Petrus, indem er sich alle Jünger wendet.231 So gibt es trotz viel Figurenrede in den Szenen nur drei Gespräche (in denen beide Figuren einander adressieren), die Jesus und Petrus allein miteinander führen (13,6– 10.36–38; 21,15–22). Betrachtet man diese genauer, wird deutlich, dass die ersten beiden Petrus initiiert. Im zweiten greift Jesus bereits lenkend in den Gesprächsverlauf ein und Petrus folgt diesem Gedankengang. Das letzte Gespräch obliegt schließlich Jesu vollkommener Federführung. Er beginnt und beendet (im Grunde dreimalig) das Gespräch und führt den Gesprächsverlauf. Petrus folgt seinem Redegang und seinen Sprachimpulsen. Der letzte Wortwechsel kritisiert ihn und weist ihn drei Verse – und damit auf den Gesprächsverlauf des dritten Dialogs – zurück. So kennzeichnen Zuwendung und Korrektur die Beziehung von Jesus zu Petrus. Aus Simon Petrus’ Perspektive gestaltet sich das Verhältnis etwas anders. Jedes Mal, wenn er Jesus anspricht, leitet er das mit der Anrede ein. Die einzige Ausnahme bildet 13,8. Die Anrede schwebt zwischen Hoheitstitel in der determinierten Form (6,23; 11,2; 20,25.28; 21,7 u. ö.) und
231
Nach Simon Petrus’ Bekenntnis, nach seiner Vollwaschungsforderung, auf seine Initiierung zur Identität des Überlieferers nach der Verleugnungsankündigung und in der Fischfang- und Mahlszene am See Tiberias richtet Jesus seine Rede nach dem Hervortreten von Petrus an alle Jünger.
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gewöhnlicher Ansprache (4,11.49; 5,7; 9,36; 12,21 u. ö.).232 Sie erkennt den höheren Status des Angesprochenen an und ordnet den Sprecher unter. Inwiefern gerade in der nachösterlichen Anrede der Hoheitstitel stärker zum Ausdruck kommt, lässt sich nicht mit Sicherheit festlegen. Die Bedeutsamkeit der Anrede macht Jesus selbst deutlich (13,13). Petrus ordnet sich so immer wieder neu unter. Ist das Fehlen des Herrentitels in 13,8 als Ausbruch aus dieser Hierarchie zu werten, verstärkt es den maßlosen Charakter seiner Forderung nach Unterlassung der Waschung. Dementsprechend klar weist Jesus ihn auf die Konsequenz hin, die eine völlige Aufhebung der Beziehung bedeuten würde. Petrus ordnet sich im Status Jesus unter, Jesu Wissensüberlegenheit akzeptiert er aber nicht. Mehrfach zweifelt er Jesu Aussagen und Tun an und greift ein. Stets setzt er dabei ein ‚Mehr an Wissen‘ bei sich voraus und wird diesbezüglich korrigiert. Szene 1 profiliert Jesu Allwissenheit, indem er Petrus umfassend kennt. Er nennt seinen Namen, weiß um seine Herkunft und darüber hinaus um seine Zukunft. Bei der Fußwaschung gilt Petrus’ scheinbares Mehrwissen zunächst dem Statusunterschied: Jesus darf als Höhergestellter nicht den niedrigen Dienst des Füßewaschens an ihm vollziehen. Direkt danach verkennt er die Bedeutung und Notwendigkeit der Waschung und möchte umfassender gewaschen werden. Die Unmöglichkeit des Nachfolgens möchte er in 13,37 nicht wahrhaben und unterliegt so einer Selbstüberschätzung. Schließlich versucht er, Jesu Selbstüberlieferung zu unterbinden und folgt Jesus, anstatt sich nach dessen Wunsch in Sicherheit zu begeben. Während Jesus im 6; < (Szene 5) seine Identität prägnant formuliert, stellt Petrus mit seinem & < (Szene 6) den Gegenpol dazu dar. Erst im letzten Gespräch erkennt er endlich Jesu Allwissenheit an und ist bereit, sich dieser unterzuordnen. Es ist dabei allerdings die einzige Stelle, in der diese Eigenschaft explizit formuliert wird. Bemerkenswert ist, dass an allen genannten Stellen Jesu Hoheit, Unversehrtheit und die Nähe zu ihm Auslöser für Petrus’ Handeln sind. Stets geht es Petrus nur um ihn. Bezeichnenderweise wird dies in der letzten Szene noch artikuliert. Petrus bestätigt seine Liebe, formuliert Jesu Allwissenheit und darf in der Nachfolge (und symbolisch in der Übernahme der Hirtenrolle) in Jesu Nähe verbleiben. Neben aller Ausdeutungsmöglichkeit für den Glauben ist dieses Verhältnis ein Beispiel für die Gestaltung einer Beziehung. Trotz der freundschaftlichen Liebe (* ) ) und Jesu Freundschaftszusage in 15,15, wird narrativ keine Beziehung auf Augenhöhe entfaltet.233 Vielmehr wird eine Beziehung im 232
Mit wird im Joh abgesehen von 12,21.38 (Philippus; AT-Zitat) ausschließlich Jesus (in 20,15 als vermeintlicher Gärtner) angesprochen. Genannte drei Belegstellen verhindern eine Engführung auf die titulierende Dimension. 233 Wobei eine Freundschaft zu Jesus im joh. Sinn ohnehin nicht unbedingt dem heutigen Verständnis von Freundschaft entspricht und ein Herrschaftsverhältnis einschließen kann (vgl. 15,14). R. Zimmermann entfaltet in religionsgeschichtlicher Perspektive ausgehend von Joh 11 eine Freundschaftsethik im Joh (die er im Gegensatz zu dem Vorwurf
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Autoritätsgefälle und Abhängigkeitsverhältnis vorgeführt. So handelt es sich um einen Fall von Freundschaftsethik. Alle Missverständnisse und Korrekturen vollziehen sich innerhalb der Freundschaftsbeziehung und führen nicht zu einem Abbruch selbiger.234 Jesus kombiniert als mustergültiger Herr dabei Anerkennung und Belehrung, Simon Petrus lernt in der Beziehung, dass nicht Selbsteinschätzung und eigene Vorstellungen vom Ausdruck der Liebe, des Respekts und der Zuneigung der Maßstab für Handeln sind, sondern das Vertrauen auf die Fähigkeit und Einschätzung des Herren. 4.2 Simon Petrus innerhalb der Jüngerschaft Jesu Innerhalb der verschiedenen Jüngerkollektive tritt Simon Petrus als Leitfigur auf. So erscheint er als Sprecher der Zwölf (6,68), als Initiator für Anfragen der Jünger an Jesus (13,24.36), als Anführer der Sieben (21,2 f.) und wird als Hirte der Glaubenden (21,15–17) eingesetzt. Überhaupt ist bemerkenswert, dass er in allen Jüngerkollektiven genannt ist.235 Durch den Zuspruch eines neuen Namens wird er bereits bei seiner Einführung innerhalb der Jüngerschaft durch Jesus hervorgehoben. Mehrfach orientieren sich andere Jünger an ihm und ordnen sich ihm unter. Maria sucht ihn und den Geliebten Jünger als erste Ansprechpartner nach ihrer vermeintlichen Leichenraubentdeckung auf. Zunächst tritt Petrus nur innerhalb des Jüngerkreises hervor, außerhalb von diesem gewinnt er allein bei Jesu Verhaftung Bedeutung. Trotz starker individueller Zeichnung ist er somit auch als Repräsentant der Jünger (insbesondere im Bekenntnis in 6,68 f.) vorgestellt.236 Die Beziehung ist durchgängig positiv dargestellt: Zum einen intervenieren keine Jünger gegen Petrus, zum anderen folgen sie seinem Impuls. Zudem ist er in 21,2 der erstgenannte Jünger. Weiterführend ist eine Differenzierung zwischen der Außenwahrnehmung (der Leser und anderer Jünger) und der Innenwahrnehmung von Petrus, soweit letztere dem Leser zugänglich ist. Als jemand Besonderes stellt sich Simon Petrus in 13,6–9 und 13,36 f. dar. Implizit grenzt er sich in beiden Szenen von den übrigen Jüngern ab, indem er die Fußwaschung, die andere bereits zuließen, zunächst verhindert und schließlich überboten haben möchte. In 13,36 lenkt zwar Jesus den Fokus auf einer Konventikelethik (vgl. Teil I – Einleitung: Kap. 2) als universell versteht) (vgl. ders., Narrative Ethik, 168 f.). Mit Blick auf antike Ethik bei Aristoteles erscheint Jesu Liebe (als der Liebe unter den Jüngern gleichende (13,34; 15,12)) außergewöhnlich, da die Freundschaft zwischen ihm und den Jüngern deutlich in einem Überlegenheitsverhältnis (als Freundschaft unter Ungleichen) präsentiert wird (vgl. Aristot. eth. Nic., VIII, 1158b). 234 Vgl. Wiarda, Peter, 141. 235 Abgesehen von ihm trifft das nur auf Thomas zu. 236 Evangelienübergreifend betonen das auch O. Cullmann und R. Pesch, die allerdings vornehmlich am historischen Simon Petrus interessiert sind (Cullmann, Petrus, 29; Pesch, Simon-Petrus, 22).
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Petrus allein, aber dieser kündigt die größtmögliche Hingabe an, ohne dies als Sprecher für alle zu tun.237 Jesus weist ihn in beiden Dialogen zurück und reiht ihn wieder gleichwertig unter die Jünger ein. Weder ein Weniger noch ein Mehr an Waschung ist er gewillt an Petrus zu vollziehen. Die schweigenden Jünger werden zum Vorbild für ihn. Die Ankündigung zur Lebensaufgabe hinterfragt Jesus und setzt ihr die Verleugnungsankündigung entgegen. Vom Glaubensappell (14,1) ist Petrus wieder mit allen Jüngern gleichsam betroffen. Ein drittes Mal grenzt sich Petrus von dem Kollektiv der Jünger ab. 18,15a impliziert, dass sich die übrigen Jünger dem Wort Jesu entsprechend (18,8) in Sicherheit begeben. Petrus folgt Jesus, was einerseits besondere Treue ausdrückt, womit er sich andererseits erneut, Jesu Worte ignorierend, von den anderen abhebt. Dadurch gelangt er in die Situation seines größten Scheiterns. Seine Verleugnung positioniert ihn in einer Bewertung sogar unter den abgewandten Jüngern des Kollektivs.238 Aus beiden Zurückweisungen Jesu und seinem eigenen Scheitern lernt Petrus. Auf Jesu Frage nach der größeren Liebe (21,15: (6 c ) ) antwortet er ohne Vergleich. Er wagt nicht mehr, sich über seine Mitjünger zu stellen. Das Hirtenbild kann ebenfalls den Zusammenhang von Szene 6 neu beleuchten. Ist die Jüngerschaft mit den Schafen Jesu bezeichnet, ist seine Abkehr von diesen im Garten jenseits des Kidron nur vor seiner Berufung als Hirte möglich. Nach seiner Einsetzung als Hüter und Versorger der Schafe ist eine solche Absonderung von den Jüngern undenkbar. Mit der Verpflichtung geht eine Unterbindung zuvor gezeigten Verhaltens einher. Als Erstgenannter, als Sprecher und Leiter der Gemeinschaft ist Simon Petrus dieser nicht übergeordnet. Leiter und Vorsteher christlicher Gruppen liegen in einer Bewertungsskala nicht vor anderen Mitgliedern. Für sie gilt es, sich an der Gruppe zu orientieren und bei dieser zu bleiben. Leitung entspricht Dienst239, Einordnung und Nähe zur geführten Gruppe. Das Verhältnis zu einzelnen Jüngergestalten wird in den folgenden Abschnitten gesondert betrachtet. Ausgeklammert werden dabei die Jünger, zu denen kein besonderes Verhältnis deutlich wird: Philippus hat lediglich die gleiche Heimatstadt wie er und sein Bruder und gelangt als vierter Jünger nach diesen beiden in die Nachfolge. Nathanael ist bei seinen beiden Auftritten jeweils nach Petrus genannt. Beide fallen während der Berufungserzählungen durch ein Mehr an Handlung gegenüber Petrus auf. Nicht als Individuen in Interaktion mit Petrus erscheinen Judas (14,22) und die Zebedaiden 237
Im Gegensatz dazu formuliert Thomas einen ähnlichen Appell an alle. Vgl. 11,16; Teil VI – Thomas: 3.1.1. 238 P. Cassidy sieht Simon Petrus in Szene 6 als einzigen Jünger dargestellt, der von Jesus flieht. Somit stellt er „the least of Jesus disciples, apart from Judas, in terms of the criteria of following and remaining“ dar (ders., Peter, 101). 239 Vgl. prominent 13,14 f.
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(21,2), sodass auch diese nicht näher untersucht werden. Zu Thomas siehe 3.1.1 in Teil VI (Thomas). 4.3 Simon und Andreas – Bruderschaft und Jüngerschaft (1,40; 6,8) Ein besonderes Verhältnis ist zwischen Simon Petrus und Andreas240 aufgezeigt, da diese Brüder sind. Der Erzähler verwendet diese rangfreie Formulierung ‚Brüder‘ jedoch nicht, sondern stellt jeweils Andreas als Bruder von Petrus vor.241 Dadurch ist eine Hierarchie aufgezeigt.242 Entweder ist Petrus bei den erwarteten Lesern bekannter oder er ist für die Erzählung wichtiger oder er ist im Sozialgefüge (z. B. durch das Alter) über Andreas gestellt. Innerhalb der Erzählten Welt wird die Brüderbeziehung nur einseitig – durch Andreas’ Verhalten – beleuchtet. Dieser bringt seinen Bruder zu Jesus, was eine positive Einstellung gegenüber Ersterem ausdrückt. Petrus hingegen lässt sich (als grammatikalisches Objekt von Andreas’ Tun) von diesem zu Jesus bringen, sodass vor Beginn der Jüngerschaft die positive Grundhaltung wechselseitig angelegt ist. Das Miteinander beider innerhalb des Jüngerkollektivs wird weder problematisiert noch hervorgehoben. Indizien für Konkurrenz oder besonderen Zusammenhalt gibt es nicht. Zu einem Vergleich ihres Verhaltens siehe 5.1. Markant ist, dass Andreas innerhalb des letzten Jüngerkollektivs fehlt, sofern er nicht unter die anonymen Jünger gerechnet wird,243 und dass er auch bei anderen Handlungen von Petrus (Sz. 6 und 7) nicht neben seinem Bruder auftritt. Wichtig für eine ethische Betrachtungsweise ist, dass familiäre Beziehungen innerhalb der christlichen Gemeinschaft nicht aufgehoben werden.244 Auch in der Jüngergruppe bleibt Andreas Simon Petrus’ Bruder. Beide Zugehörigkeiten werden in 6,8 gleichwertig nebeneinander gestellt. Unterstützt wird diese Deutung durch Jesu Anrede, die das dritte bekannte Familienmitglied, den Vater der beiden, erwähnt (1,42; 21,15–17). Eine größere Rolle als bei diesem Jüngerpaar bekommt das Geschwisterverhältnis bei den bethanischen Figuren Martha, Maria und Lazarus.245 Eine feindliche Einstellung zur biologischen oder sozialen Verwandtschaft wird nicht deutlich.246 So sind auch die Rede von ‚dem Sohn‘ und ‚dem Vater‘ sowie die quasinamentliche 240
Für eine gesonderte Analyse von Andreas als Figur siehe de Boer, Andrew. Vgl. 2.1. 242 Die konträre Darstellung der Hierarchie in Szene 1 durch Erzähler und erzähltes Geschehen ist narratologisch spannend, lässt sich ethisch aber nicht fruchtbar machen. 243 Zur Referenzformulierung % ! % & ' in 1,35 vgl. Teil VI – Thomas: 2.5. 244 Siehe als Kontrast Mt 10,35–37 parr.; Lk 14,26. 245 Fünf von acht Belegen von ( )*3 im Sg. zzgl. fünfmal ( )*4 in Joh 11. 246 Derartige Anklänge finden sich in den synoptischen Evangelien verheißen (vgl. Mk 13,12 parr.). 241
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Teil III: Simon Petrus
Figurenbezeichnung ‚Mutter Jesu‘ positiv einzuordnen. Einen Wandel vollzieht das Lexem ( )*3 dennoch. So bezeichnet P ( )* & ' in 2,12; 7,3.5.10 Jesu leibliche Geschwister, während nach Jesu Auferstehung Maria unter ‚Jesu Brüdern‘ ‚die Jünger‘ versteht (20,17 f.).247 Dementsprechend bezeichnet das Kollektiv P ( )* in 21,23 wohl auch eine geistliche Zusammengehörigkeit. Das Einsetzen einer geistlichen Familie nimmt Jesus selbst in 19,26 f. vor.248 Damit wird das gesamte Themenfeld ‚Familie‘ positiv aufgegriffen. Anhand von Petrus und Andreas zeigt sich, dass Geschwisterbeziehungen nicht in Konkurrenz zur Jüngerschaft stehen, sondern in dieser fortbestehen. So verdrängt die geistliche Familie die leibliche Familie nicht – vielmehr ist letztere Vorbild für erstere.249 4.4 Simon Petrus und der Geliebte Jünger Bei einer Betrachtung des Simon Petrus im Joh ist die Betrachtung einer weiteren Figur unausweichlich: ‚Der Jünger, den Jesus liebte‘ – hier kurz als Geliebter Jünger bezeichnet – ist mehrfach in enger Verbindung zu Petrus dargestellt. Fünfmal250 tritt er im Joh in Erscheinung (bei der Überlieferungsankündigung (13,23 ff.), unterm Kreuz (19,26 f.), beim Wettlauf zum Grab (20,2 ff.), beim wundersamen Fischzug (21,7 ff.) und in der Abschlussszene (21,20 ff.)), viermal zusammen mit Petrus. In der Forschung ist der Geliebte Jünger – oftmals ausgehend von der synoptischen Petrus-Darstellung – als Konkurrenz zu Petrus gesehen worden, welcher dessen Autorität und Leitfunktion einschränkt oder destruiert.251 Tatsächlich wird diesem bei seinem (relativ späten) Erstauftritt ein denkbar hoher Status attestiert, der alle übrigen Jünger überbietet. Neben der ausdrücklichen Liebe Jesu252, die sogar 247
Vgl. Mk 3,35 parr. Im intertextuellen Spiel von 4,4–42 mit Gen 29,1–20 (vgl. Teil IV – Samaritische Frau: 6.2) erscheint bereits die Gemeinschaft, die aus der Begegnung am Brunnen erwächst, als Glaubensfamilie parallel zu der israelischen Patriarchenfamilie (vgl. McWhirter, Bridegroom, 65). 249 Vgl. auch die Verwendung des Lexems ( )*3 in 1 Joh. 250 Zu Überlegungen, den Geliebten Jünger mit weiteren unbenannten Jüngern zu identifizieren, siehe 2.1; 2.6; 2.8; 4.5. 251 Vgl. Cullmann, Petrus, 26f; Hartenstein, Charakterisierung, 207 f. J. Hartenstein schließt darauf, dass Simon Petrus nur als Beispiel dafür dient, dass „Autorität überhaupt“ – wenn auch „nicht vollständig! – dekonstruiert“ wird (a. a. O., 208). Nach H. Thyen dient Petrus bis 21,15 ff. dazu „den geliebten Jünger zu profilieren und zu autorisieren“ (ders., Joh, 599). Dennoch sei nicht von einer „Subordination“ zu sprechen (a. a. O., 601). B. B. Blaine referiert die Positionierungen der beiden Jünger zueinander ausführlich und argumentiert gegen eine Unterordnung von Simon Petrus unter den Geliebten Jünger (vgl. ders., Peter, 8–23, 71–74, 103 f., 110–114, 117–124, 159, 181, 186–190). 252 Abgesehen von dem Geliebten Jünger (13,23; 19,26; 20,2; 21,7.20), den bethanischen Geschwistern (11,5) und dem Vater (14,31) wird Jesu Liebe nur Kollektiven zugesprochen (13,1: den Seinen; 13,34: den anwesenden Jüngern u. ö.). 248
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seinen Namen ersetzt, hebt die körperliche Nähe zu Jesus seinen Status.253 Petrus unterstreicht dies noch, indem er ihm das Sprechen überlässt, obwohl er bereits als Sprecher der Jünger etabliert ist.254 Andererseits befolgt der Geliebte Jünger gehorsam den Auftrag Petrus’, welchen dieser nicht einmal zu artikulieren braucht. Beim Wettlauf ist der Geliebte Jünger einerseits schneller, andererseits lässt er Petrus den Vortritt; er kommt zum Glauben, aber versteht wie Petrus die Schrift nicht. Beim Fischzug erkennt er Jesus, aber tritt nicht zu diesem in Verbindung, sondern leitet die Information nur an Petrus weiter, welcher daraufhin aktiv wird. In der Schlussszene wird sein Schicksal Petrus vorenthalten, aber zugleich läuft er hinter Petrus. Alle (intratextuell begründeten) Versuche, beide Jünger in einer Hierarchie überoder untereinander anzuordnen oder sie gar als Konkurrenten in der Erzählten Welt darzustellen, zeigen sich als schwer haltbar. Eher lassen sich beide Figuren unterschiedlichen Bereichen zuteilen, in denen sie in wechselseitiger Angewiesenheit die Hoheit innehaben.255 Das „wohltemperierte Miteinander“256 des Jüngerpaars spiegelt die Aufteilung in Leitung und Lehre. Petrus wird von Jesus die Fürsorge und Führung der Kirche anbefohlen, der Geliebte Jünger ist in Erkenntnis und bezüglich des direkten Zugangs zu Jesus vorgezogen.257 Bradford B. Blaine sieht in der Kombination beider Jünger das Bild eines idealen Christen nach dem Joh.258 Werden die beiden Jünger nicht auf eine historische Repräsentation von Strömungen im frühen Christentum reduziert, erscheint das Verhalten zueinander als besondere Zuwendung. Diegetisch werden die beiden Jünger in einer denkbar engen Beziehung gezeigt – der engsten Beziehung unter den Jüngern überhaupt: Wortlose Kommunikation (13,24), der gemeinsame Auf253 Der Geliebte Jünger lehnt T 3) ` ' W " ', so wie Jesus < + 3) ' 3 ist (1,18). J. Kügler betont, dass dieser Ausdruck (in der Antike) nicht nur auf Nähe oder Liebe hindeutet, sondern auch Machtübertragung beinhaltet (ders., Liebe, 226– 233). In diesem Sinne ist die Richtung der Liebe entscheidend: Der von Jesus Geliebte Jünger ist von Jesus bevollmächtigt, während Simon Petrus’ Liebe zu Jesus Gehorsam bedeutet (vgl. Kügler, Hirte, 223). 254 Dies betont auch Tolmie, Shepherd, 358. 255 In der Literatur wird vielfach die Anbindung von Simon Petrus (und seiner Leitung) an den Geliebten Jünger (und sein Zeugnis bzw. seine Lehre) betont (vgl. z. B. Kügler, Hirte, 223, 225). Letzterer ist „der ideale Jünger, […] dessen Glaube den des Petrus übertrifft“ (Gnilka, Joh, 109). Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Verhältnisbestimmungen zwischen den beiden Jüngern bietet Lutz Simon (ders., Petrus, 34–112). Sein Fazit, das beide Jünger als „Zeugen für die Wahrheit und Richtigkeit des Evangeliums“ einstuft (a. a. O., 282), ist von historischem Interesse geleitet und aus narratologischer Sicht m. E. nicht differenziert genug. 256 Böttrich, Petrus, 86. 257 Vgl. Dschulnigg, Petrus, 141. J. Gnilka stellt fest: Die „Autorität beider ist anerkannt“ (Gnilka, Joh, 108). 258 Vgl. Blaine, Peter, 124, 182.
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enthalt und Heimweg nach Jesu Tod (20,2.10), gegenseitiges Folgen (20,6; 21,20), das Warten auf den anderen (20,5), das Interesse am Ergehen des anderen (21,21) und Weitergabe des eigenen Wissens, Zuhören und Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit des anderen (21,7). In dem Umgang zwischen diesen beiden Jüngern findet sich ein Musterbild christlichen Miteinanders. In der Beziehung zu Simon Petrus kann der Geliebte Jünger als Vorbild dienen. So bietet er in Szene 7 (und Szene 8) eine Anleitung zur Demut. Obwohl er gegenüber Petrus im Vorteil ist, nutzt er diesen nicht aus und präsentiert sich – in Szene 7 – nicht als Sieger in einem Wettkampf, sondern nimmt sich zurück und lässt Petrus den Vortritt. Hervorgehoben ist, dass er – obwohl als erster am Grab – auf die Möglichkeit des ersten Betretens des Grabes verzichtet. In Szene 8 prahlt er nicht mit seiner Erkenntnis, sondern gibt diese recht schlicht an Petrus weiter. Auch in Szene 9 hält er sich im Hintergrund. Petrus macht dem Geliebten Jünger die Nähe zu Jesus nicht streitig, traut ihm zu, die richtige Frage zu stellen, vertraut dessen Urteil und zeigt Interesse an seinem Ergehen. Als Modell dient das Verhältnis dafür, wie aus Unterschieden in der Beziehung zu anderen, in der Glaubensbeziehung, im Können und Einsatz dennoch keine Konkurrenz, kein Gegeneinander erwachsen muss, sondern wie Hilfe, Akzeptanz, Zusammenarbeit und Zusammenhalt die Beziehung zwischen Jesus-Nachfolgenden bestimmt. Leser sind dazu eingeladen, ihre eigenen Beziehungen darauf zu prüfen und mit diesem Musterbild christlichen Miteinanders zu vergleichen. Extradiegetisch können Simon Petrus und der Geliebte Jünger als Kontrastfiguren wahrgenommen werden. Die durchgängige Positivzeichnung des Geliebten Jüngers legt dabei eine Abwertung von Petrus nahe. Er trägt keine quasinamentliche Bezeichnung, die ihm die Liebe Jesu attestiert, ist in keiner vertrauten körperlichen Nähe zu jenem (13,23), fehlt unter dem Kreuz, bleibt beim ‚Wettlauf‘ als Langsamerer zurück, bekommt keinen Glauben am leeren Grab bescheinigt (20,8), erkennt den Auferstandenen nicht eigenständig (21,7) und dient schließlich nicht als Garant für die Wahrhaftigkeit der Erzählung. Mögliche Defizite des Geliebten Jüngers, wie z. B. das Fehlen eines Bekenntnisses oder das von Reaktionen auf seinen Glauben (20,8 f.) und seine Identifizierung Jesu (21,7), relativieren das Bewertungsverhältnis kaum. Für eine Charakterisierung von Petrus etabliert diese Beurteilung – jenseits von symbolischen Lesarten der Gegenüberstellung (s. o.; vgl. 6.1) – den Geliebten Jünger als Vorbild von Petrus hinsichtlich jener Eigenschaften, die bei ihm kritisiert erscheinen.259 So mahnt er zu Zurückhaltung und Demut, Treue und Beständigkeit, Besonnenheit und Geduld (vgl. auch 3.2.2; 3.2.3; 5.2; 6.2). 259 Eine Analyse der ethischen Identität des Geliebten Jüngers muss an dieser Stelle unterbleiben. Die aufgezeigten Tugenden ergeben sich aus Simon Petrus’ Perspektive und sind ggf. nur durch diese als Merkmale ersichtlich.
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4.5 Simon Petrus und der Andere (18,15 f.; 21,18) Zu Beginn von Szene 6 tritt Simon Petrus zusammen mit einem Jünger auf, der vom Erzähler nicht benannt wird. Dieser 5)) ! 4 wird nur dadurch ausgezeichnet, dass er dem Hohepriester bekannt ist. Näheres über die Verbindung zum Hohepriester erfährt der Leser nicht. Ob der ‚andere Jünger‘ in 18,15 f. mit dem Geliebten Jünger zu identifizieren ist, wurde vielfach erwogen, zum Teil bestritten, zum Teil auch als selbstverständlich angenommen.260 Dafür spricht sicherlich, dass er Jesus folgt und (erfolgreicher noch als Petrus) bei ihm bleibt. Auch das Erscheinen des Geliebten Jüngers unter dem Kreuz kann als Indiz gewertet werden, dass er Jesus fortwährend (und eben auch in 18,15 f.) gefolgt ist. Zudem wird der Geliebte Jünger in 20,3 f.8 in fast wörtlicher Übereinstimmung als 5)) ! 4 bezeichnet.261 Andererseits wird er in allen Szenen eindeutig durch sein Geliebtsein charakterisiert und dies fungiert für ihn wie ein Name.262 Auch eine Bekannt- oder Freundschaft mit dem Hohepriester, welcher als Jesu Opponent dargestellt wird, fügt sich nicht problemlos in die übrige Darstellung des Geliebten Jüngers ein. Hier werden beide Möglichkeiten betrachtet, da beide bei verschiedenen Lesern überzeugen und so fruchtbar wirken können. Ist der andere Jünger der Geliebte Jünger, fügt sich diese Szene in die Beziehung zwischen Simon Petrus und ihm passend ein. Die gemeinsame Nachfolge nach Jesu Gefangenahme entspricht der nach Jesu Auferstehung (Szenen 7 und 9) und der Geliebte Jünger ist erneut bemüht, Petrus zu helfen (vgl. Szene 3 und 8). Diegetisch zeigt sich auch hier ein kollegiales Verhältnis. Auch die extradiegetisch wahrgenommene Spannung in der Hierarchie findet sich bestätigt, wobei der Geliebte Jünger hier als Petrus überlegen dargestellt wird, da er zum einen mit Jesus in den Palast gelangt und zum anderen Petrus nur durch dessen Hilfe Zugang bekommt. Diesen Vorzug erhält er aufgrund der Bekanntschaft zum Hohepriester. Die Verwendung des Begriffs 6 " 3 stützt (abseits der kontextuellen Verwendung) dabei die Mutmaßung, dass 260
Identifizierung mit dem Geliebten Jünger bieten z. B. Bennema, Encountering, 299; Böttrich, Petrus, 127; Cassidy, Peter, 93; Schultheiss, Petrusbild, 82 f.; bestritten wird diese Identifizierung z. B. von Bultmann, Evangelium, 499; Hartenstein, Charakterisierung, 166; Kügler, Jünger, 424–428. Zur Übersicht bezüglich Interpretationen der Identität des ‚anderen Jüngers‘ in Joh 18 siehe Bruner, Gospel, 1056 f.; von Vertretern contra und pro Identifizierung mit dem Geliebten Jünger bis 1985 Kügler, Jünger, 424, Anm. 2, 427 f., Anm. 4. 261 Zur Differenz siehe 2.7. 262 In 21,24 wird in der Retrospektive deutlich, dass der Geliebte Jünger zudem in 19,35 gemeint ist, wo er nur als N C bezeichnet wird. Weiter lässt sich argumentieren, dass er in 19,26 neben Jesus als einzige männliche Einzelfigur am Kreuz eingeführt wird, und ferner, dass 19,35 eine Prolepse ist und sich auf ein Geschehen bezieht, welches zeitlich nach dem der Haupthandlung der Erzählten Welt liegt – weshalb ein Aufbrechen der Figurenbezeichnung nicht verwundert (siehe Teil I – Einleitung: 4.1.2).
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dieser seinen Vorzug im Bereich der Erkenntnis und des Wissens erhält. Zur weiteren Deutung vgl. 4.4. Ist der andere Jünger nicht der Geliebte Jünger, bleibt seine Identität vollkommen im Dunkeln und auf die zwei Verse reduziert. Wer er ist und woher er kommt, bleibt offen. Eine Anwesenheit während Jesu Gefangennahme ist aber naheliegend. Dort wäre er dann mit der Schar der Soldaten oder – was wegen des Ausdrucks ! 4 (vgl. 18,1) wahrscheinlicher ist – mit Jesus in die Szene gekommen. Er kann also sogar als Jünger des intimsten Kreises um Jesus aufgefasst werden. Die Möglichkeit, den Palast des Hohepriesters zu betreten und die Türhüterin dazu zu bewegen, Simon Petrus Zugang zu gewähren, räumt ihm in der Erzählten Welt einen hohen Status im sozialen Gefüge ein. Petrus ist diesem untergeordnet. Bemerkenswert ist, dass er für Petrus die relative Nähe zu Jesus (zumindest kurzfristig) aufgibt. Für Jesus, dessen Verhör oder Petrus’ weiteres Ergehen hat er keine Funktion. Eine plotfokussierte Betrachtung lässt ihn als Mittel zum Zweck erscheinen. Er tritt lediglich auf, um Petrus Zugang zum Palast zu verschaffen, wo dieser Jesus dreimal verleugnet. So gesehen, führt dieser andere Jünger sogar die Verleugnung herbei. Petrus’ Nachfolgen (18,15) und sein Warten an der Tür impliziert zwar seinen Wunsch hineinzugelangen, ausdrücklich genannt wird dieser aber nicht. Im Betreten des Hofes ist er passives Objekt des anderen Jüngers. Was jener der Türhüterin sagt, ist eine Leerstelle. Dass er ihr einen Hinweis auf Petrus’ Jüngerschaft gibt – und so sogar die erste Verleugnungsanfrage initiiert –, ist nicht angelegt, aber denkbar. In einer solchen Metareflexion verschiebt sich das zunächst positiv erscheinende Verhältnis zwischen Petrus und ihm zum Negativen hin. Skepsis und Vorsicht sind für Petrus geboten, wenn er sich auf irgendeinen Jünger verlässt. Als vertrauenswürdig für Petrus haben sich im Erzählverlauf nur Andreas (Szene 1) und der Geliebte Jünger (Szene 3) erwiesen. Versagen ist die Folge vom Verlassen auf je! 4 kann als mand anderen.263 Eine derart skeptische Lesart des 5)) Gegendarstellung zu dem Vorbild christlichen Miteinanders in der Figurenpaarung ‚Simon Petrus – Geliebter Jünger‘ gesehen werden, hinterfragt unbedingtes Vertrauen untereinander und mahnt zur Vorsicht. Bemerkt sei hier noch ein weiterer ‚Anderer‘, der mit Simon Petrus in Interaktion tritt – allerdings nicht auf erster Erzählebene, sondern außerhalb der Erzählten Zeit in der Figurenrede Jesu. In 21,18 verweist Jesus Petrus (in einer Verheißung) auf eine unbestimmte Figur der Zukunft der Erzählten Welt, auf ‚einen Anderen‘. Der Vers vollzieht eine raffinierte Wendung. Nachdem Jesus die Fähigkeit des jungen Petrus zum eigenständigen Gürten und Gehen betont hat, beschreibt er, dass dies ihm im Alter abhandenkommen wird. Das Ausstrecken der Hände kann als Geste der Hilfsbedürftigkeit gelesen werden. So ist der ‚Andere‘, den Jesus benennt, zunächst eine positi263
Vgl. Kügler, Hirte, 222.
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ve Figur. Als Helfer gleicht er ein körperliches Defizit aus. Erst der Nachsatz kehrt die Bewertung um. Der ‚Andere‘ entspricht (anders als der Geliebte Jünger z. B.) nicht Petrus’ Willen. Die zunächst geweckte Lesersympathie ermöglicht Identifikation. Der plötzliche Umbruch in der Wertung der unbekannten Figur konfrontiert den Leser. Als selbst Helfender ist er gefragt, ob er in seinem Tun überhaupt dem Willen der Betroffenen entspricht. In diesem Sinne kann der ‚Andere‘ in 21,18 als Impuls zur Leserreflexion aufgefasst werden. Die Unbestimmtheit, die die beiden ‚Anderen‘ durch Namenlosigkeit, Kurzauftritt und Verzicht auf Entwicklung oder Einblicke ins Innenleben verbindet, erlaubt die Figuren beliebig zu füllen. Leser können sich selbst oder ihre Mitmenschen in ihnen gespiegelt sehen und Situationen abstrahieren und übertragen. Insofern sind ‚die Anderen‘ in ihrer Beziehung zu Simon Petrus Angebot eines Spielfelds und einer Projektionsfläche für ethische Reflexionen des Lesers. 4.6 Simon Petrus in Joh 18 – Sklaven, Diener, die Türhüterin, Malchus und sein Verwandter Verschiedene Figuren treten Simon Petrus als Einzelfigur oder als Kollektiv gegenüber, die der Dienerschaft des Hohepriesters zuzuordnen sind.264 Die Sklaven und Diener des Hohepriesters sind als Kollektiv nicht eindeutig festzulegen.265 Auch wenn beide Begriffe – P ') und P 1 – zum Teil unkombiniert fallen und durch die Singular-Plural-Variabilität ihres Herren ferner differenziert werden, seien sie hier als Einheit betrachtet. Bereits bei der Festnahme Jesu sind sie anwesend (18,3.10) und so als Helfer der Opponenten eingeführt. Bestätigt wird das im Verhör Jesu durch die Gewaltanwendung gegen diesen (18,22). Umso erstaunlicher ist die Nähe, die Petrus zu ihnen – wenn auch durch äußere Umstände erzwungen – sucht. Als Versammlung um das ( ! erscheinen sie im Nachhinein als Kontrastgruppe zur Jüngergemeinschaft in 21,9.12 f. Während erstere Petrus von Jesus distanziert, erlebt er in letzterer gerade dessen Gemeinschaft. In ersterer wird Petrus verleitet, seine eigene Jüngerschaft abzustreiten, aus letzterer heraus wird ihm zugesprochen, die anderen Jünger zu leiten. Archetypisch erscheinen erstere als Gehilfen des Bösen, während sich in letzterer die Mitstreiter des Guten versammelt finden. Erstere wirkt verlockend durch das wärmende Feuer, was letztere bietet (über das Feuer hinaus Brot und Fisch), ist aber um ein vielfaches besser. Als Petrus sich in erstere Gruppe gesellt, erlebt er den 264 Eine Analyse von Malchus und den anonymen Figuren im Hof des Hohepriester muss hier ausbleiben. Verwiesen sei aber auf die beiden folgenden Artikel (wobei in beiden verständlicher Weise die Figuren auch mit Schwerpunkt auf die Bedeutung für Simon Petrus gedeutet werden): Skinner, Malchus; Bond, People. 265 Siehe dazu prinzipiell Teil I – Einleitung: 4.1.2.
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Tiefpunkt seiner Entwicklung, letztere führt ihn zu seinem Höhepunkt. Erstere verursacht einen Bruch in seiner Identität und führt einen emotionalen Tiefpunkt herbei, letztere gibt der Emotion Raum und bringt in der Neuidentität (als Hirte) gewissermaßen Heilung. Eine solche Gegenüberstellung der Kontrastgruppen vermittelt eine Botschaft, die auf einen Appell reduziert wie folgt lauten könnte: Achte darauf, mit wem du dich umgibst! Die Türhüterin ist als " innerhalb des Sozialgefüges der Erzählten Welt auf niedrigem Status positioniert, in der Machtposition ist sie Simon Petrus jedoch noch überlegen. In intratextueller Lesart mit 10,3 verstärkt die Interaktion mit ihr Petrus Einordnung als Hirte (vgl. 3.1.2).266 Innerhalb des Handlungsverlaufs von Szene 6 spielt sie eine doppelte Schlüsselrolle. Sie ermöglicht Petrus Jesus doch zu folgen und zugleich ist sie diejenige, welche seine erste Verleugnung herbeiführt. Wie die Türhüterin auf die Idee kommt, Petrus anzufragen, ist nicht geklärt. Natürlich ist sein nächtliches Eintreffen, kurz nachdem Jesus hereingebracht wurde, ein kontextuelles Indiz, aber auch ein Hinweis durch ‚den anderen Jünger‘ ist denkbar (vgl. 4.5). Ist ein Wissen der Türhüterin darüber vorausgesetzt, dass ‚der Andere‘ ein Jünger Jesu ist, wäre zumindest das ihrer Figurenrede erklärt. Da jener unbehelligt passieren kann, ist vielleicht Petrus durch seine Zugehörigkeit zur Jüngerschaft Jesu auch nicht in Gefahr. Ihre Frage erwartet bereits eine Negation und ist somit nicht als Angriff zu werten. Die vorausgegangene Gefangennahme Jesu ordnet sie jedoch in einen bedrohlichen Kontext ein. In der Bezeichnung von Jesus als 5 ! drückt sich eine Distanz aus, welche dem Bekenntnis "8 9 F6 ' ! ' (6,69) entgegensteht. Ihre Formulierung fordert zum Zeugnis heraus, aber Petrus erklärt ihr nicht, was er „geglaubt und erkannt“ (6,69) hat. In der Konsequenz behält Petrus mit seinem & < die Freiheit, doch als Jünger scheitert er damit, verleugnet seine eigene Identität.267 So wird die Türhüterin Petrus zum Fallstrick. Gemeinsam mit den anderen Anfragenden stellt sie seine Nachfolge auf die Probe und zeigt die Schwierigkeiten in der Nachfolge und Jüngerschaft Jesu und der Ehrlichkeit im Allgemeinen auf. Vor dem Hintergrund von 15,18 f.; 16,33; 17,14 wird in der Begegnung mit der Türhüterin deutlich, wie Hass und Angst in weltlichen Zusammenhängen die Identität ins Wanken bringen. Die Türhüterin prüft Petrus auf seine Integrität, seine Zugehörigkeit und seine Haltung – und er scheitert an ihr. Gewissermaßen ist sie der ethische Spiegel, der Petrus vor266 Eine so betonte Parallellesart zwischen Joh 10 und 18 verstärkt den Kontrast zwischen Simon Petrus und Jesus, da nach dem Öffnen durch den Türhüter (!. 3 ) der Eintretende, laut Jesu Worten, die Schafe mit Namen ruft, herausführt (10,3) und vor ihnen hergeht (10,4). Auch in Joh 18 wird die Stimme des Eintretenden gehört – er wird sogar zum Sprechen aufgefordert. Petrus nutzt diese Gelegenheit aber nicht, sondern weist die Ansprache zurück, verharrt in der &)4 und kann erst in Joh 21 einen Weideauftrag zugesprochen bekommen (vgl. 3.2.1). 267 Zum Kontrast zu Jesu 6; < siehe 2.6.
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gehalten wird, und offenbart seine Verfehlung in einer konkreten Handlung oder seine Unaufrichtigkeit als Charakterschwäche. Die beiden weiteren hier zu besprechenden Figuren sind Malchus und sein Verwandter. Malchus trägt wohl den größten Schaden von Simon Petrus’ Aktionismus davon. Sein Name findet sich in 18,10 angehängt an Petrus’ Tat wie eine Würdigung seiner Person. Sie setzt ein besonderes Augenmerk auf ihn, was andeutet, dass er später noch von Bedeutung sein wird. Durch seinen Verwandten entspinnt sich in 18,26 eine Dreiecksbeziehung, bei der Malchus und sein Verwandter auf der Seite der Gegner Jesu Petrus gegenüberstehen. Erstaunlicher Weise fällt dort jedoch sein Name nicht erneut, sondern lediglich die Handlung an ihm identifiziert ihn. Die nachträgliche Namensnennung in 18,10 macht deutlich, dass er ein willkürliches Opfer von Petrus’ Angriff ist. Beide kennen einander zuvor nicht, beide sind Vertreter bewaffneter, verfeindet gegenüberstehender Gruppen. Der Schwertstreich verletzt Malchus, ohne dass dies für Petrus direkte Konsequenzen hat (abgesehen von der Ermahnung Jesu). Wenig später holt ihn diese Aktion jedoch ein. Malchus’ Verwandter löst Petrus’ dritte und letzte Verleugnung aus. Malchus ist durch Petrus außer Gefecht gesetzt. Deshalb vertritt sein Verwandter die Anklage für ihn. Tatsächlich wird in dieser Figurenbeziehung die Gerichtsmetaphorik besonders aufgegriffen. In der Parallele zu Jesu Befragung wird auch Petrus in der &)4 befragt. Während bei Jesu Verhör die Zeugen fehlen (18,21), tritt Petrus einer gegenüber. Trotz seiner niedrigen sozialen Stellung erscheint er als souveränes Gegenüber zum Jesusjünger. Seine Frage erwartet eine Bestätigung. Der Verweis auf seine eigene Wahrnehmung stärkt die Aussage in ihrer Glaubwürdigkeit. Der Erzähler steigert die dramatische Spannung zusätzlich. Durch die Erinnerung an Petrus’ Schwertstreich und die persönliche Betroffenheit des Anfragenden, ist Petrus doppelt in die Enge getrieben. Erstens ist die Anfrage der Jüngeridentität konkret und handfest begründet und zweitens impliziert der Erzähler eine mögliche Anklage wegen der Gewalttat an Malchus. Die offensichtliche Anklage lautet Jüngerschaft Jesu, die implizierte – zumindest bei der dritten Anfrage – Verletzung von Malchus. Somit holt Petrus seine Gewalttat, seine Schuld doch noch ein. Als Kläger, Zeuge und Anwalt des Opfers tritt ‚der Verwandte‘ Petrus gegenüber. Ein Perspektivwechsel über die Grenze der dualistischen (archetypisch begründbaren) Gut-Böse-Rollenverteilung hinaus, den der Leser in der Metabewertung vornehmen kann, zeigt ‚den Verwandten‘ als Vorbild auf. Einer der für den Wehrlosen, den Verletzten eintritt, der Gewalt nicht unkommentiert stehen lässt. Petrus’ Leugnung ist hier ohne Wiedergabe der Figurenrede erzählt, als wäre er angesichts dieser Situation sprachlos, nicht mehr in der Lage, ein & < zu formulieren. Das Ende dieses Prozesses ist nicht berichtet, aber der Hahnenschrei verkörpert ein umfassendes Scheitern von Petrus. Die Warnung an den Leser lautet, dass Handlungen – gerade zum Schaden anderer – nicht ohne Konsequenzen bleiben. Für Malchus ist es dennoch unbefriedigend, da
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der Täter davonkommt; eine Entschuldigung, Entschädigung oder Wiedergutmachung erfolgt nicht. Was die Erzählperspektive nicht verurteilt, kann der Leser übernehmen. Er hat die Möglichkeit, sich in einer Metabewertung der Positionierung auf Petrus’ Seite zu entziehen und die Initiative ‚des Verwandten‘ fortzuführen: Im Einsatz für Opfer die Täter zu einer Reaktion herausfordern, die Anklage zu führen und nicht vor einem Urteilsspruch nachzugeben. 4.7 Simon Petrus und Maria Magdalena (20,2) Innerhalb des Jüngerkollektivs kommt Simon Petrus mit mehreren Frauen direkt oder indirekt in Kontakt. Neben der Türhüterin (s. o.) ist Maria Magdalena die einzige, die als weibliche Einzelfigur mit ihm in Interaktion tritt. Im Gegensatz zu ersterer ist sie aber namentlich benannt und deutlich stärker profiliert. Maria Magdalena erscheint dreimal im Joh:268 Bei Jesu Kreuzigung ist sie unter mehreren Frauen genannt, am Ostermorgen überbringt sie Petrus und dem Geliebten Jünger die Nachricht vom leeren Grab und wenig später begegnet sie dem Auferstandenen und berichtet den Jüngern von ihrer Begegnung. In der Bewertung ist sie als Zeugin des Kreuzestodes und Erstzeugin der Auferstehung deutlich positiv einzuordnen. Sie überbietet sogar alle anderen (männlichen) Jünger in diesem Sinn – insbesondere Petrus. Doppelt wird dieser auf sie verwiesen, zweimal macht Maria sich zu ihm auf, um zunächst vom leeren Grab, dann vom auferstandenen Herrn zu berichten. Die zweite Begegnung widerfährt Petrus nur im Kollektiv, deshalb wird die erste hier fokussiert. Offenbar kennt Maria Simon Petrus, sucht ihn gezielt auf und bittet (indirekt) um Hilfe. Impliziert wird so eine von Maria anerkannte Sonder- oder Leitposition Petrus’ (zusammen mit dem Geliebten Jünger). Maria wird anschließend ausgeblendet und ist dies wohl auch für die Jünger. Zu zweit laufen sie zum Grab und gehen wieder heim, ohne Maria zu beachten. Diese erscheint in der Folgeszene allein (zurückgelassen?) weinend am Grab. Die kurze Begegnung in 20,2 degradiert sie von der Erstzeugin des leeren Grabes (20,1) zu einer Informantin für die beiden Jünger. Dennoch wird ihre Aussage in ihrer Glaubwürdigkeit nicht grundlegend bezweifelt. So klingt bereits hier (noch vor 20,18) ihre Zeugnisfunktion an. In historischer Perspektive, in dem Frauen z. T. nicht als Zeuginnen zugelassen waren,269 bedeutet dies eine Stärkung der Position von Frauen in der Gesellschaft. Innerhalb des joh. Figurenrepertoires reiht sich Maria in die Figuren ein, auf die Petrus angewiesen ist 268 Hier muss es bei einer Skizze der Figur belassen bleiben. Zur ausführlicheren Analyse siehe z. B. Clark-Soles, Mary. Clark-Soles stellt Maria Magdalena auf Grundlage eines erzähltheoretischen Hintergrunds als ausgesprochen komplexen, vielschichtigen und positiven Charakter und als Vorbild dar (vgl. a. a. O., v. a. 638–640). 269 Vgl. Thomas, Teilung, 170 f.; s. auch Teil IV – die samaritische Frau: 3.1.1.
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und bleibt: Andreas, der Geliebte Jünger, der andere Jünger, Maria Magdalena – sie alle verkörpern die Notwendigkeit von Gemeinschaft und Hilfsbedürftigkeit unabhängig vom Status der Figur. Bei einer geschlechtssensiblen Zusammenschau mit der Türhüterin als zweiter weiblicher Figur fällt Simon Petrus’ Umgang mit Frauen auf. Er nutzt, was er an Vorteil aus der Begegnung ziehen kann, ist aber an einer Fortführung der Beziehung nicht interessiert. Der Türhüterin antwortet er denkbar kurz und wendet sich dann dem Feuer zu, Maria antwortet er gar nicht; weder legt er vor der Türhüterin Zeugnis ab noch berichtet er Maria, was er im Grab gesehen hat. Für seine Jüngeridentität verhalten sich beide Frauen komplementär. Die erste setzt den Zersetzungsprozess in Gang, der mit der Trennung von Jesus endet, die zweite führt Petrus als Jünger (sogar Jünger besonderen Ranges) wieder ein. Wird von einem schwachen Frauenbild (als männlichen Figuren nicht gleichgestellt) ausgegangen, betont dies ihre Bedeutung. Die Auslieferung an und Angewiesenheit einer starken Identifikationsfigur wie Petrus auf sie, stärkt ihre Position. Auch als Frauen sind sie wahrzunehmen und als Gegenüber ernst zu nehmen270 – mehr als es Petrus selbst tut, aber wohl auch weniger als es aus heutiger westlicher Perspektive gefordert oder für selbstverständlich erachtet wird.
5 Handlungen der Figur – Handlungsethik 5 Handlungen der Figur – Handlungsethik
Im Figurenvergleich tritt Simon Petrus trotz anfänglicher Passivität (vgl. 3.2.1) erstaunlich oft als handelndes Subjekt auf. Er nickt, zieht ein Schwert, schlägt zu, schneidet, folgt, steht, wärmt sich, geht hinaus und hinein, rennt, kommt an, sieht, geht weg, hört, kleidet sich, springt ins Wasser, wird traurig, wendet sich um und vor allem spricht er. Eine Untersuchung der Sprechhandlungen weist auf eine Vielfalt von antworten, bekennen, fragen, einwenden, abwehren, bitten, versprechen, abstreiten, informieren und bestätigen. Auch die Sprechhandlungsbezogenheit und der Inhalt seiner Figurenreden weisen z. T. starken Handlungsbezug und Handlungswillen auf: 13,6–9.36 f.; 21,3. Petrus initiiert, wird aktiv und möchte handeln – und zwar direkt. Von den aufgezählten Handlungen werden hier vier ethisch entfaltet. Bekennen, nachfolgen, abstreiten und ankleiden werden entsprechend ihrer chronologischen Nennung ausgeführt. Andere Handlungen, wie z. B. die Gewalttat, wurden bereits im Kontext der ethischen Identität oder der Beziehungsethik ausgeführt. 270 Eine solche genderorientierte Lesart wird durch den Text m. E. nicht angeregt. Da das einzige gemeinsame Merkmal der beiden verglichenen Frauen ihr Geschlecht ist, welches im Erzähltext nicht hervorgehoben wird. Eine Thematisierung des Frau-Seins findet sich dagegen bei der samaritischen Frau (Teil IV), vgl. dort insbesondere 3.1.1., 4.5 und 6.2.
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5.1 Bleiben und Bekennen (6,68 f.) Simon Petrus ist der Jünger, der als Sprecher des Zwölferkreises dessen Bekenntnis formuliert. Sein erstes Aktivwerden lässt ihn durch die hohe Erwartungshaltung (ausgelöst durch den neuen Namen in Szene 1 und die gesteigerte Spannung durch seine Passivität dort sowie in fünf Kapiteln) als Vorbild erscheinen. Insgesamt sind die Zwölf ein Musterbeispiel, da sie bei Jesus bleiben. Der Leser ist eingeladen, dem Beispiel der Zwölf (repräsentiert durch Petrus) zu folgen. Das Bleiben bei Jesus und das Bekenntnis zu ihm sind die prägende Grundhaltung für ein Leben als Christ. Darin wird kein regelnormatives konkretes Verhalten vorgeschrieben, sondern eine Ausrichtung, die das gesamte Leben prägt. Petrus selbst scheitert an dieser Grundhaltung in Szene 6. Zu der dort geforderten Bekenntnissituation und der Bewertung von Petrus’ Verhalten vgl. 3.2.6, 4.1, 5.3, 6.2 und 6.3. Petrus’ Verleugnung erinnert an die Bekenntnisse, die dem Leser als Vorbild dienen. Eine Positivwertung der Worte Simon Petrus’ in Szene 2 fällt auch im Vergleich mit seinem Bruder auf. Beide Brüder treten in Joh 6 auf. Andreas mit explizitem Verweis auf Petrus am Anfang (6,8 f.) und Petrus als Sprecher der Zwölf am Ende (6,68 f.). Wird Petrus’ Erwähnung in 6,8 zu Beginn der Episode als „Fundierung von ihrer Kohärenz“ betrachtet,271 stehen sich Andreas und Petrus in ihren Aussagen gegenüber. Andreas stellt Jesu Möglichkeiten in Frage (())? ' " < " . X), Petrus bekennt Jesus als F6 ' ! '. In diesem Vergleich ist das Bekenntnis adäquat und vorbildlich. Petrus reiht sich dabei nach Johannes, Andreas, Philippus, Nathanael, der samaritischen Frau und den Samaritern in die adäquaten272 Bekenntnisaussagen des Joh ein, unter denen der Titel F6 ' ! ' ein Alleinstellungsmerkmal bietet. Dabei reicht dessen Repräsentationsfunktion über die Erzählte Welt hinaus. Formuliert Petrus die Antwort für die Zwölf, ist extradiegetisch auch der Leser zum Mitsprechen eingeladen. Der Sprecher der Zwölf wird zum Bekenntnisrepräsentanten aller Christen.273 So bekommt der Leser bereits einen Impuls zum Handeln vorgeführt: Aus der Menge hervortreten und bekennen. 5.2 Nachfolgen Das wohl bedeutendste Thema der Figur Simon Petrus ist ‚Nachfolgen‘. Die prädikative Formulierung weist bereits darauf hin, dass ein Akt, eine Bewe271
Thyen, Joh, 338. Vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 160. Für eine Auflistung aller Bekenntnisse im Joh siehe a. a. O., 93–96. Als adäquat gedeutetes Bekenntnis bestätigt es seinen neuen Namen, indem er sich als / *0 , als fester Grund für die Gemeinschaft der Jesusnachfolgenden beweist (vgl. Dschulnigg, Petrus, 141 f.). 273 Vgl. Koester, Symbolism, 70. 272
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gung stärker im Fokus liegt als ein Zustand. Das entsprechende Verb ( ) .! ist besonders für Petrus Inbegriff des Jüngerseins.274 Dabei wird es über mehrere Szenen hinweg anhand von und im Gegenüber zu Petrus entfaltet, dies wird im Folgenden nachgezeichnet. In der ersten Szene zeichnet das Partizip ( ) .! " die ersten Jünger Jesu aus. Diese Bewegung dient im Joh als Symbol für Jüngerschaft überhaupt und verbildlicht in 1,37 den „Glaubensanschluß“.275 Trotz der Kephas-Verheißung erscheint Simon Petrus aber in Szene 1 nicht als Subjekt dieses Verbs.276 Dies fällt umso mehr dadurch auf, dass im direkten Anschluss Jesus Philippus mit „( ) ! “ in die Jüngerschaft ruft. Viel mehr als Petrus wird Andreas277 als Musterbeispiel präsentiert. Er agiert so, dass sein Bruder zu Jesus gelangt. Wie später auch Philippus278 (1,45), führt er vor, wie Nachfolge und Berufung entstehen. Insofern ist hier eine missionarische Perspektive demonstriert. Petrus gelangt nur vermittelt durch seinen Bruder zu Jesus. Dies ist mit der nachösterlichen Situation aller Christen vergleichbar, die sich dem „Problem der nur ‚mittelbaren‘ Begegnung mit Jesus“ konfrontiert sehen.279 Der missionarische Appell, nahestehende Menschen in eine Jesusbegegnung zu führen, wird durch Petrus als Objekt vermittelt. Dass nicht nur Jesu Auftreten oder Ansprache, sondern auch das Zeugnis Anderer als Initiativmoment für die Nachfolge Jesu legitim ist, vermittelt Petrus – ebenso wie Nathanael (vgl. auch die Samariter in Joh 4). Dass Simon Petrus Jesus ‚nachfolgt‘ bleibt bis Szene 4 (also den Großteil der Erzählten Zeit) nur implizit. Dort spricht Jesus ihm durch die verneinte Verwendung des Verbs die Möglichkeit der Nachfolge ab. Petrus ist der Jünger, dem die Nachfolge (zunächst) versagt bleibt. Hatte der Leser Petrus implizit als Nachfolgenden eingeordnet, korrigiert Jesu Aussage hier diese Auffassung. Jesu unmittelbar anschließende Verheißung verlagert die Frage nach dem ‚ob‘ auf ein ‚wann‘. Zugleich werden die Voraussetzungen und der In274 Im gesamten Joh findet es sich bei 19 Belegen nur dreimal nicht auf Jesus als Objekt bezogen. ‚Nachfolge‘ ist i. d. R. also ‚Jesus-Nachfolge‘ im Joh. 275 Schnackenburg, Joh I, 308. Vgl. Barrett, Evangelium, 205; Brown, Gospel I, 78. Verwiesen sei hier auf A. Meyer, die dreizehn Verben in 1,35–51 (u. a. ( ) .! ) analysiert und in sämtlichen Verben Verbildlichungen von Glauben entdeckt (vgl. dies., Kommt, 144–305, 307). 276 So sieht T. Schultheiß Simon Petrus in seiner ersten Szene als „Prototyp[en] des missionierten Gläubigen“ anstelle eines „Prototypen der Nachfolge und Mission“, welchen nach ihr Andreas und der anonymen Jünger verkörpern (dies., Petrusbild, 90). 277 Zu einer eigenständigen Analyse von Andreas vgl. de Boer, Andrew. 278 Auch Philippus kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eigenständig analysiert werden, taucht aber (mit den meisten Nennungen und Auftritten nach Simon Petrus und dem Geliebten Jünger) im Kontext vieler Figuren (u. a. auch Judas und Thomas) auf. Hier sei auf P. N. Andersons Artikel verwiesen, der Philippus im Joh als „connective bridge between others and Jesus“ auslegt (ders., Philip, 187). 279 Klaiber, Aufgabe, 322.
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halt vom Nachfolgen hinterfragt. Bedeutet ‚Nachfolgen‘ mehr als eine räumliche Nähe zu Jesus (entsprechend 12,26)? Welche Eigenschaften muss man erfüllen, um zum Nachfolgen fähig ( – vgl. 13,37) zu sein? Bis auf Petrus’ (impliziten) Wunsch und Vorhaben nachzufolgen, wird die Handlung aber für ihn auch hier noch nicht explizit.280 Als Simon Petrus in 18,15 endlich auch folgt (( ) .! ), entspricht dessen Bild noch weitgehend dem aus Szene 4, wo ihm Nachfolge versagt blieb. Lediglich sein Gewaltakt gegen Malchus fügt eine neue, allerdings von Jesus kritisierte, Facette hinzu. So erweist sich Szene 6 als Scheitern in der Nachfolge. Erst durch das Tor gehemmt, dann zur Verleugnung getrieben, verbleibt er am Feuer. Sein Versuch, räumlich bei Jesus zu bleiben,281 scheitert. In seiner Verleugnung distanziert er sich auch öffentlich und emotional von Jesus. In Szene 7 folgt Petrus statt Jesus dem Geliebten Jünger, wodurch ‚nachfolgen‘ als Inbegriff von Petrus’ Jüngerschaftskonzept in Frage gestellt wird. Erst im letzten Auftritt (Sz. 9), durch Jesu letzte Worte an ihn erhält er den Auftrag. Endlich ist der Zeitpunkt des verheißenen Y" (Sz. 4) gekommen. Zugleich werden durch die Explikation in Jesu Appell, Petrus’ vorausgehenden Versuche als falsch erklärt. Ob dabei die Orientierung am anderen (oder im Speziellen: am Geliebten Jünger) einen wichtigen Zwischenschritt oder einen weiteren Irrweg seiner Nachfolge darstellt, darf offen bleiben. Warum Simon Petrus nun nachfolgen kann, liegt entweder in einer Veränderung seiner Figur, in einer Veränderung Jesu oder einer Veränderung der Situation begründet. Liegt es an Jesu Passion, seinem Sterben und Auferstehen, dass Petrus erst nach diesen Ereignissen nachfolgen kann, ist der Leser nur auf Jesus verwiesen. Dessen Veränderung beschreibt das Wesentliche der Situation in Szene 9. Die Anforderung an den Leser besteht darin, nicht seinen eigenen Willen durchsetzen zu wollen, wenn der Zeitpunkt dafür nicht gegeben ist. Wesentlich konkreter (weil weniger unverfügbar) klingt der Appell, wenn eine Veränderung in der Figur Petrus gesucht wird. Für Petrus ist das vorausgegangene Gespräch richtungsweisend. Sein Umgehen des Komparativs hat seinen Verzicht auf Anspruch auf eine Sonderstellung verdeutlicht. Seine Traurigkeit als Reue und Läuterung verstanden, kennzeichnet
280
In den an Szene 4 anschließenden Abschiedsreden wird Jüngerschaft hinsichtlich verschiedenster Inhalte thematisiert, wobei die Jünger dort laut T. Schultheiß als „Adressaten von […] dem Wesen der Nachfolge unter nachösterlichen Bedingungen“ erscheinen (dies., Petrusbild, 275). Ist Simon Petrus dort bereits adressiert, findet sich eine Umsetzung (zumal eine adäquate) bei ihm erst viel später (s. u.). 281 Vgl. auch die metaphorische Bedeutung von ‚bleiben‘ ( ) als Jüngerschaft in Sz. 1.
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Nachfolge als Weg, zu Fehlern zu stehen und einen Neubeginn zu wagen. So ist Demut die erlangte Eigenschaft, die ihm zur Nachfolge fehlte.282 Dies entspricht dem Wechselspiel zwischen dem letzten – und so betonten – Auftrag an Simon Petrus und dem vorausgehenden Weideauftrag und der dadurch bedingten Doppelrolle als Hirte und Schaf zugleich. So ist die Ausübung der Aufgabe des Hirten (dem die Schafe folgen (10,4: ( ) .! )) nur im eigenen Schaf-Sein, also in der Nachfolge des guten Hirten möglich.283 Die Leitungsposition wird in Relation gesetzt und die eigene Nachfolge und damit Ausrichtung betont. Entsprechend der gleichzeitigen Leitung und Unterordnung von Petrus spiegelt er als Figur Jesu Aufruf in 12,26 wieder: „Wer mir dienen will, der folge mir nach.“ Die Dienstbereitschaft, die Petrus in Szene 8 zum Ausdruck bringt, ist die Grundlage für seine Nachfolge. Dass ‚Nachfolge‘ für Simon Petrus ‚sterben‘ bedeuten kann, wird in Szene 4 angedeutet, in Szene 6 vorausgesetzt und in Szene 9 verheißen.284 Ob Petrus Jesu Aufruf zur Nachfolge letztendlich erfüllt, enthält der Erzähler dem Leser vor. Da Petrus innerhalb der Erzählten Welt nicht auf Jesu letzten Appell (21,22) reagiert, muss der Leser die Frage beantworten.285 Wird Petrus folgen? Die Erwähnung seines Todes zur Ehre Gottes und Jesu Voraussage (13,36) fordern ein ‚Ja‘. Dennoch regt die Leerstelle den Leser zur Empathie an. Zunächst muss er für Petrus entscheiden, sich in ihn hineinversetzen, seine Situation teilen. So (und ohnehin durch den Imperativ in Jesu Figurenrede) ruft das Fehlen einer geschilderten Reaktion den Leser zum Handeln auf. Als Leseransprache gilt ihm Jesu Aufruf: Folge mir! Für Simon Petrus ist Nachfolge ein persönliches Moment der Jüngerschaft, das an Voraussetzungen in seiner Einstellung (Demut) und an einen bestimmten Zeitpunkt geknüpft ist. Nachfolgen heißt nicht Sukzession, er folgt Jesus nicht durch Übernahme von Vollmachten oder einer Rolle nach, sondern wie narrativ vorgeführt in Ausrichtung und Bewegung. 5.3 „Wieder bestritt Petrus“ (18,27) – Wahrhaftigkeit und Lüge Simon Petrus’ Sprechhandlungen in Szene 6 werden hier in dem Spannungsfeld von Wahrhaftigkeit und Lüge untersucht. Gewissermaßen bieten sie den Gegenpol zu seinem Bekenntnis in Szene 2. Sein Abstreiten der Jüngerschaft ist eine der zentralen Handlungen der Figur Petrus, da es mit Ankündigung (Sz. 4) und ‚Aufarbeitung‘ (Sz. 9) drei Szenen prägt und zudem den größten 282
Dazu passt auch die Einschätzung von Jesu Wiederholung von Simon Petrus’ Worten (13,38) als Ironie, die Petrus’ Versprechen als Selbstüberschätzung oder Hochmut klassifiziert. 283 Vgl. Tolmie, Shepherd, 367. 284 Zur Bewertung des Sterbens siehe 6.4. 285 Vgl. Pesch, Simon-Petrus, 165 f.
320
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Tiefpunkt und Bruch in der Entwicklung der Figur darstellt (vgl. 3.2.6). Die Motive des Scheiterns in der Jüngerschaft und von Schuld und Vergebung, die ebenfalls mit Petrus’ Verleugnung zusammenhängen, werden in 6.2 und 6.3 untersucht. Hier liegt der Fokus auf seiner Falschaussage. Im Alten Testament sind Lüge und Falschaussage (markant innerhalb des Dekalogs: Ex 20,16; Dtn 5,20) abgelehnt, was im Neuen Testament aufgegriffen wird.286 Das Joh ordnet die Lügen von Simon Petrus im Hof des Hohepriesters nicht explizit als Gebotsverstoß ein. Mag dieses auch im Hintergrund stehen, so wird nicht auf eine solche Einordnung verwiesen. Stattdessen wird das Problem auf die Beziehungsebene verlagert. Petrus’ Fehler besteht (primär) nicht darin, gegen ein Gebot verstoßen zu haben, sondern darin, sich von Jesus entfremdet zu haben. Die Ankündigung ist mit Schwerpunkt auf der Beziehung zu Jesus geäußert (13,38: " . 1 M '; ( 4": ) und da Jesus die Verleugnung voraussagt und nicht verbietet, existiert nicht einmal eine sprachliche Parallele zu dem atl. Gebot. In Szene 6 wird Petrus’ Lüge durch die Augenzeugenschaft narrativ stark hervorgehoben. Ferner wird der größtmögliche Kontrast zwischen Jesus und Petrus aufgebaut. Nicht nur inhaltlich leugnet Petrus seine Beziehung zu Jesus, auch strukturell ist die Szene mit dem Verhör Jesu verzahnt und so diesem gegenübergestellt. Sprachlich kontrastiert Petrus’ zweifaches ‚ & < ‘ zu Jesu ‚ 6; < ‘. Dennoch klingt nirgends ein Vorwurf an, dass dieses Verhalten an sich verwerflich sei. Auch Petrus’ Reue ist erst im Gespräch mit Jesus geschildert und nicht im Anschluss an die Tat. Schließlich nimmt Jesus als Buße und Versöhnungstat ihm dreimalig eine Liebesaussage ab. Die eigene Identität und die Beziehung zu anderen,287 nicht der Verstoß gegen eine göttliche Ordnung, sind bei Petrus die ethische Problematik der Lüge. Simon Petrus’ Figurenrede ermöglicht als Referenzformulierung eine Parallelisierung mit Johannes, dem Zeugen. Ohne gemeinsamen Auftritt, mit lediglich gemeinsamer Kenntnis von Andreas und Jesus und unter Absehung auf die Erinnerung an Johannes durch den Vaternamen von Petrus288 bleibt die Parallelisierung der beiden Figuren auf ihre Sprechhandlung reduziert. Beide antworten mit „ & < “. Johannes verneint so die Anfrage, ob er Elia sei, Petrus die nach seiner Jüngerschaft. Beide werden auf ihre Identität befragt und so in eine Bezeugungssituation geführt. Die Bewertung des & < erfolgt aber diametral. Johannes’ Antworten sind als . klassifi286
Vgl. z. B. Lev 19,11; Spr 12,22; Mk 10,19 parr.; Apg 5,1–11. Insofern ließe sich dieser Abschnitt sowohl im Kontext der ethischen Identität als auch innerhalb der Beziehungsethik verorten. Die Thematisierung in Simon Petrus’ Handlungsethik ist durch den Auslöser dieser Reflexion, sein mehrfaches Bestreiten (( ), bedingt. 288 Innerhalb der starken Vater-Sohn-Metaphorik des Joh lässt sich eine besondere Bedeutung zwar nicht abstreiten, aber lediglich Szene 1 und 9 (in denen der Vatername fällt) lassen sich so als Erinnerung an Johannes, den Zeugen, lesen. 287
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ziert und weisen auf Jesus (1,23–34). Markant wird seine Sprechhandlung mit & V 4" beschrieben. In dieser Form erscheint ( nur in 1,20 und 18,25.27 – an letzteren Belegstellen allerdings mit Petrus als Subjekt und nicht negiert. Damit sind beide Szenen komplementär dargestellt und ( fungiert als Wertungssignal. Johannes’ Entwicklungslinie verläuft weniger profiliert als die von Petrus. Im Gegensatz zu diesem wird er zwar fulminant eingeführt, nimmt aber deutlich ab. (Die Textmenge und Anzahl der Erwähnungen spiegeln dabei seinen Ausspruch in 3,30: „Es muss jener wachsen, ich aber kleiner werden.“) Nach seinen Plot-initialisierenden Szenen in 1,6.15.19–40 folgt in 3,23–36 ein letzter Auftritt, der in 4,1 wieder auf Jesus überleitet. Zwei Rückverweise in 5,33.36 und 10,40 f. durch Jesus und den Erzähler schließen seine Figurennennungen ab. In einer Prolepse wird sein letzter Aufenthaltsort in einem Gefängnis verortet (3,24). Der bezeugende Johannes (vgl. 1,7 f.15.19.32.34; 3,26) endet im Gefängnis, während Petrus mit seinem & < der Gefangenschaft entgeht, in der sich Jesus zeitgleich befindet. Trotz des negativen Ausgangs für Johannes und des vordergründig positiven für Petrus verläuft die Bewertung entgegengesetzt. Das Leugnen der Wahrheit (( ) – nicht die Negation einer unterstellten Identität ( & < ) – ist das verurteilte Handeln. Dass Petrus’ Tod zur Ehre Gottes schließlich (21,18 f.) von Jesus vorausgesagt wird, deutet eventuell auf eine letztendliche Schicksalsgemeinschaft zwischen beiden verglichenen Figuren. Obwohl unangenehme Konsequenzen vorgeführt werden, weist der Leserappell auf ein Bezeugen der Wahrheit in Form eines Bekenntnisses zu Jesus.289 Führten die Suche nach expliziten Bezügen zur Wertung von Simon Petrus’ Lüge und der Figurenvergleich mit Johannes bereits zu unterschiedlichen Tendenzen, bietet der Kontext des Evangeliums noch einen weiteren Reflexionshorizont des Themenfelds ‚Wahrhaftigkeit – Lüge‘, der hier kurz umrissen sei. Explizit wird ‚Lüge‘ (R " ; R ' ) nur in Jesu Figurenrede in 8,44.55 thematisiert. Dort wird es durch eine Vaterschaftsmetapher mit dem Teufel verbunden und der Wahrheit entgegengestellt. So ist es stark negativ belegt. Jesu Selbstoffenbarung als personifizierte Wahrheit (14,6) verstärkt den dualistischen Kontrast. Wahrheit ist aber im Joh mehr eine existentielle Größe als nur ein wirklichkeitsentsprechendes Reden. So sagt Jesus selbst die Unwahrheit: Sein Verhalten in 7,10 entspricht nicht seiner Verheißung in 7,8 gegenüber seinen Brüdern. Entweder ist ‚seine Zeit‘ nach 7,9 plötzlich gekommen oder Jesus ändert seine Pläne. Letzteres ist die harmonischste Interpretation – schließlich wird auch Petrus’ Meinungsänderung in Szene 3 nicht kritisiert. Aber auch eine Lüge gegenüber den Nicht-Glaubenden könnte durch 7,3–10 legitimiert sein. Als Falschaussage gegenüber seinen Brüdern wird Jesu Verhalten weder problematisiert noch als Lüge klassifiziert. Das 289
Vgl. 9,22; 15,20 f.; 16,2.
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Joh bietet auch andere Möglichkeiten als die Entscheidung zwischen Lüge und Wahrhaftigkeit. Schweigen oder ausweichende Antworten sind eine Alternative, wenn die Wahrheit z. B. wegen äußerer Bedrohung problematisch ist. So gibt Jesus in 18,20 f. und 19,9 keine Antwort auf die gestellten Fragen. Erstere Belegstelle ist gerade im Vergleich mit Petrus als Kontrastfigur, der in seiner Anklagesituation stattdessen lügt, als Vorbild nahegelegt. Allerdings folgt auf die Nichtbeantwortung Jesu stets Gewalt oder Gewaltandrohung als Reaktion. Ein pauschales Urteil wird auch hier verworfen, da ein ähnliches Ausweichen bei anderen Figuren in der Kritik steht. Als in 9,19 ‚die Juden‘ die Eltern des Sehendgewordenen nach dessen Heilung befragen, verschweigen diese die Wahrheit aus Angst vor einem Synagogenausschluss. Die Erzählerkommentierung bringt eine Negativwertung solchen Verhaltens zum Ausdruck. In einer Gesamtschau werden Wahrhaftigkeit und Lüge nicht rein moralisch, sondern stets auf die Beziehung zu Jesus hin – quasi in Zusammenschau mit Glauben und Bekenntnis betrachtet. Prinzipiell ist ‚Lüge‘ negativ gekennzeichnet und verurteilt, hinsichtlich konkreter Lügen ist dieses prinzipielle Urteil jedoch relativiert. So ist im Einzelfall eine situationsbezogen Bewertung gefordert. Dabei sind Meinungsänderungen nicht unter dem Gesichtspunkt der Unwahrhaftigkeit zu beurteilen. Sogar ‚von jetzt auf gleich‘ sind Meinungswechsel zulässig. Der Leser kann solche jedoch in einer Metabewertung (insbesondere angeregt durch Simon Petrus’ Unbeständigkeit als Kontrast zu seinem ‚Fels-Sein‘) als wenig zielführend, unglaubwürdig und lächerlich machend einordnen. In der Betonung der Wahrheit als bedeutsamer Wert wird der Leser gleichsam zur Wahrhaftigkeit aufgerufen. Dies gilt gebunden an Bekenntnissituationen noch verstärkt. Die für Petrus unangenehme Situation der Bekenntnisforderung bietet Lesern eine Identifikationsmöglichkeit (vgl. 3.2.6). Petrus’ Scheitern (zumal auf Jesu Verheißung hin) dient Lesern als Ermutigung zu anderem Verhalten in ähnlichen Situationen. 5.4 Kleidsamkeit und Nacktheit (21,7) Wie selbstverständlich erwähnt der Erzähler in Szene 8, dass Simon Petrus nackt ist. Das verwendete Lexem 6. 3 bedeutet zwar primär ‚nackt‘, muss aber nicht auf den ganzen Körper bezogen sein.290 Warum – und wann und inwieweit – er sich zum Fischen entkleidet hat, bleibt eine Leerstelle. Stattdessen wird das Umwickeln des Obergewandes erzählt. Der Begriff 290
Vgl. Neyrey, Gospel, 335. Hier sei noch auf die Deutung verwiesen, die R. E. Brown favorisiert, nämlich dass Simon Petrus nur seine Arbeitskleidung ( ) trägt und darunter nackt ist, weswegen er diese nicht ablegen kann. Dementsprechend zieht Petrus diese nicht erst an, sondern gürtet sie, was das Lexem D; . durchaus hergibt (vgl. ders., Gospel II, 1072). Hier wird diese Deutung als kontraintuitive Lesart des Lexems 6. 3 nicht verfolgt.
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verweist auf eine nicht vollständige Entblößung, „er wird wohl, wie unter Fischern üblich, mit entblößtem Oberkörper seine Arbeit verrichtet haben“.291 Da das zusätzliche Kleidungsstück kaum als Schwimmhilfe angesehen werden kann, ist eine Deutung auf die bevorstehende Begegnung mit Jesus hin zwingend. Entsprechend der reichen Bildsprache des Joh und dem mutmaßlich hohen symbolischen Gehalt von Szene 8 kann Petrus’ Ankleiden auch als Sinnbild gelesen werden. Bspw. hat Ulrich Busse es als Symbol für „Arbeitsbereitschaft“ gewertet.292 Allerdings ist die Erwähnung seiner Nacktheit dann überflüssig. Zudem irritiert, dass er für das Gürten und Springen vielmehr seine Arbeit unterbricht als sich darauf vorbereitet. Ohne symbolische Obertöne abzulehnen, wird hier der Blick auf das tatsächliche Verhalten gelegt. Mit dem Ankleidevorgang wird durch die Figur Petrus ein gewisser Anstand bezüglich Kleidung aufgegriffen und situativ verortet.293 Im Alten Testament wird Nacktheit insbesondere auf unbekleidete Geschlechtsorgane bezogen und mit Scham und Schande verbunden.294 In der Begegnung mit dem Heiligen ist sie zu vermeiden (z. B. Ex 20,26). Nacktheit ist im Neuen Testament daran anschließend ein defizitärer Zustand, der bei anderen zu beheben und bei sich selbst zu vermeiden ist.295 Innerhalb des Joh ist 6. 3 nur in 21,7 belegt. Als einzige Parallele ist intratextuell das Entund Bekleiden Jesu vor und nach der Fußwaschung (13,4.12) heranzuziehen (zusätzlich durch das Lexem D; . verbunden). Innerhalb der Erzählung dient die (partielle) Nacktheit von Simon Petrus der Begründung seines Ankleidens. Dadurch wird Bekleidung als angemessen in gewissen Situationen dargestellt.296 Drei Dimensionen geraten hier in den Blick: 1. die Bedeutung der Beziehungsebene (sozio-vestimentär), 2. die Dif-
291
Thyen, Joh, 784. Busse, Joh, 288. 293 „Daß Petrus sich bekleidet, hat offenbar den Sinn, daß er schicklich vor Jesus erscheinen will“ (Bultmann, Evangelium, 548, Anm. 6). Auch H. Thyen verweist auf angemessene Kleidung (ders., Joh, 784). 294 Vgl. Gen 2,25; 3,7.10; Jes 47,3; Ez 16,57 u. ö. In Gen 9,20–25 wird narrativ entfaltet, dass das Ansehen der väterlichen Geschlechtsorgane als unangemessen gilt und verdammungswürdig ist. Auch in Gen 3,7 ist Scham für die Nacktheit des anderen möglicherweise inkludiert. Zur Bedeutung von Kleidung als Grundbedürfnis im AT, in der Antike (griechische Philosophie und Judentum) vgl. Leutzsch, Grundbedürfnis, 10–12. 295 Vgl. z. B. Mk 5,15; Röm 8,35; 1 Kor 4,11; 2 Kor 11,27; Offb 3,17. Mit starkem moralischem Imperativ: Mt 25,34–46. Als Bild für eschatologische Aussagen: 2 Kor 5,2 f.; Offb 16,15. 296 M. Leutzsch reflektiert die Bedeutung von Kleidung im NT, wobei er sie als Grundbedürfnis ausmacht und ihre Statusfunktion, ihre sozial-strukturelle Funktion und ihren symbolischen Gehalt hervorhebt. Auf 21,7 geht er nicht ein, sodass auch die hiesigen Ausführungen sich nicht in sein Schema einordnen lassen. 292
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ferenzierung zwischen Profanem und Heiligen (symbolisch), 3. die Pragmatik von Kleidung (pragmatisch).297 1. Im Umfeld der sechs anderen Jünger aus Szene 8 ist Simon Petrus’ Nacktheit so unerheblich, dass sie solange keine Erwähnung findet, bis Petrus den Zustand ändert. Ihnen gegenüber bedeutet die partielle oder vollständige Nacktheit keine Abweichung von einer Anstandsnorm. Die Sechs erscheinen im Fischen als Kollegen von Petrus, die ihn in seinem Vorhaben unterstützen. Hierarchisch sind sie mit ihm auf einer Ebene (oder unter ihm) positioniert.298 Jesus hingegen ist als Herr ( ) und Lehrer (vgl. 21,7; 13,13) seinen Jüngern übergeordnet. Nur in der Begegnung mit Jesus als Autorität gegenüber Petrus ist ein Kleidungsanstand gefordert. Innerhalb der Begegnung mit anderen ist auf keinerlei solche Norm verwiesen. Das Verhältnis zu den Menschen, denen jemand begegnet, entscheidet über Kleidsamkeit als Norm. In dieser Dimension ist Kleidung gegenüber hierarchisch höher gestellten Menschen ein Zeichen von Anstand. 2. Jesus ist im Kontext des Joh nicht lediglich der ‚Vorgesetzte‘ der Jünger. Spätestens seit 20,28299 ist nicht nur eine Bezeichnung, die ein hierarchisches Verhältnis ausdrückt, sondern ein absoluter Titel, der auf seine Göttlichkeit hinweist. Insbesondere gegenüber Simon Petrus ist diese Klassifikation durch dessen Bekenntnis als ‚Heiliger Gottes‘ (vgl. Szene 2) betont. Dadurch wird neben der Beziehungsebene auf eine Unterscheidung zwischen Profanem und Heiligem verwiesen. Während im Alltags- und Arbeitsgeschehen die Art der Bekleidung unerheblich ist (bzw. der jeweiligen Tätigkeit pragmatisch angepasst werden kann), gibt es in der Begegnung mit Jesus, als Begegnung mit dem Heiligen/Göttlichen in Person, ein Reglement der Schicklichkeit, welches Nacktheit für unzulässig erklärt. Dies entspricht dem atl. Bild aus Ex 20,26; 28,42 f.300 Dabei dominiert das Heilige das Profane, was darin deutlich wird, dass Petrus zum Ziehen des Netzes, was als Arbeitshandlung dem Fischen zuzuordnen ist, nicht erneut sein Gewand ablegt.
297 In ihrem religionswissenschaftlichen Ansatz unterscheiden D. Pezzoli-Olgiati und A.-K. Höpflinger „drei zentrale […] Aspekte“ von Kleidung, die sich gewissermaßen in den hier gewählten Dimensionen widerspiegeln: als Verhalten (sozio-vestimentär), als Repräsentation (symbolischer Gehalt) und als Produkt (Material, Optik, pragmatische Funktion etc.) (dies., Skin, 11). „[S]ozio-vestimentäres Verhalten“ meint dabei das situations- und lebensphasenbezogene Kleiden von Individuen oder Kollektiven in Interaktion mit dem gesellschaftlichen Umfeld (a. a. O., 12). 298 Zur Hierarchie siehe 2.8. 299 In 20,28 bekennt Thomas: 3 . ! 3 .. Vgl. dazu Teil VI – Thomas: 2.5; 5.4. 300 In der Festlegung der Priesterkleidung reicht die atl. Gesetzgebung natürlich weit über die joh. Ablehnung der Nacktheit heraus. Vgl. dagegen Ex 3,5, wo Mose seine Schuhe wegen der Heiligkeit des Erdbodens ablegen (!) muss (vgl. Jos 5,15).
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3. Warum Simon Petrus überhaupt nackt ist, erklärt der Erzähler nicht. Ob es der Arbeit als Fischer dienlich ist, kann erwogen werden. Da er sein direkt anziehen kann, hat er es entweder mitgenommen oder sich erst auf dem Boot entkleidet. Das Ablegen hat für Petrus wohl einen pragmatischen Nutzen. Ob tatsächlich hilfreich oder lediglich angenehmer für ihn, ist dabei nicht relevant. Insbesondere im Vergleich mit Szene 3 wird dies betont. Dort kleidet sich Jesus entsprechend der Aufgabe, die er ausführt, und das Gürten mit dem ) wird zur Notwendigkeit für ihr vollständiges Ausführen (13,5).301 Die Festlegung der Kleidung ist in dieser Dimension der Pragmatik untergeordnet. Kleidung ist nicht nach moralischen Anstandsnormen zu wählen, sondern der Praktikabilität entsprechend. Der mutmaßliche Einwand, dass sich das Schwimmen für Petrus durch ein zusätzliches Kleidungsstück erschwert, ist innerhalb der Leserreflexion legitim. Gerade durch Auslassung des Schwimmens im Erzählverlauf wird es erzählungsimmanent jedoch vernachlässigt und das Einkleiden verhindert auch das Zurücklassen des Obergewandes, was einer pragmatischen Nutzung (die mit Abschluss (bzw. Abbruch) der Fischtätigkeit endet) wiederum entspricht. Die drei vorgestellten Dimensionen des Bekleidens von Simon Petrus schließen sich keinesfalls aus und so sei auch hier gemäß der Deutungsoffenheit keine Hierarchisierung vorgenommen. Sowohl eine sittliche Kleidsamkeitsnorm gegenüber der Begegnung mit Autoritätspersonen oder dem Heiligen als auch eine pragmatische Nutzung von Kleidung als Zurückweisung der Anstandsnormen können sich in dieser Handlung gespiegelt sehen. Mehr als eine Positionierung des Erzählers liefert der kurze, deutungsoffene Hinweis eine Anregung des Lesers zur Reflexion über Nacktheit und Kleidsamkeitsnormen.
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik 6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
Simon Petrus ist aus der Jesuserzählung kaum wegzudenken. Im Joh treibt er den Handlungsverlauf vereinzelt voran (Sz. 2, Sz. 3 (13,24), Sz. 8), unterbricht diesen mehrfach oder eröffnet einen Nebenschauplatz. In dem Verleugnungsgeschehen mit Ankündigung, Vollzug und Rehabilitation wird gewissermaßen seine eigene Geschichte erzählt. Als nach Jesus am stärksten profilierte Einzelfigur wurde Petrus vielfach als Repräsentant betrachtet und auf seinen symbolischen Gehalt (insbesondere als Kirchenleiter) untersucht.
301 Aus 13,12 ferner abzuleiten, dass eine gewisse Bekleidung für eine Essenssituation als angemessen dargestellt wird, lässt sich nicht begründen. Da Jesus seine Kleidung nach der Waschung zwar explizit nimmt, aber das Ankleiden lediglich impliziert bleibt, liegt der Fokus auf der Sonderkleidung für die Dauer der Fußwaschung, nicht auf der Bekleidung vor oder nach dieser.
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Teil III: Simon Petrus
Dies wird im Folgenden dargelegt, bevor weitere rollenethische Aspekte reflektiert werden. 6.1 Simon Petrus als Leit- und (historische) Symbolfigur Durch seine evangelienübergreifend herausragende Rolle innerhalb der Jünger Jesu und sein besonderes Hervortreten in Joh 21, der Apg und der ntl. Briefliteratur wird die Figur Simon Petrus vielfach auf seine Leitfunktion untersucht. Dabei wird Petrus im Joh nicht nur als Leiter prinzipiell, sondern auch als Leiter oder Repräsentant verschiedener historischer Gruppierungen eingeordnet. Hier soll ein kurzer Überblick genügen. Oftmals genannt werden die Symbolfunktion von Petrus als Stellvertreter des Judenchristentums – gerade gegenüber dem Heidenchristentum, vertreten durch den Geliebten Jünger – sowie als Vertreter einer christlichen Großkirche gegenüber einer joh. Gemeinde.302 Die Plausibilisierung historischer Rekonstruktionen liegt allerdings außerhalb der Zielrichtung dieser Untersuchung. Eine ebenfalls symbolisch-historische Lesart vollzieht Hans von Campenhausen zu 13,6–10: „Der Petrus, der an den äußeren Formen hängt, weil er die wahre Absicht seines Meisters noch nicht verstanden hat, ist eine Verkörperung der Widerstände, die die Kirche beim Vorwärtsschreiten in ihren eigenen Reihen zu überwinden hatte.“303 Als biblische Referenzfigur für das Papsttum ist Petrus prädestiniert für eine Auseinandersetzung mit dem Amtsverständnis. Die historischen Ursprünge und Entwicklungen von Ämterstrukturen innerhalb der Kirche sind hier nicht im Fokus der Betrachtung. Ohnehin lassen sie sich schwerlich aus dem Joh ableiten. Da Simon seinen Zweitnamen Petrus (Fels) deutungsoffen, ohne Begründung, bekommt, da er von Jesus mit keiner besonderen Vollmacht ausgestattet und die Hirtenaufgabe einzig als Weide- und Hütauftrag formuliert wird, sind Amtsträgerschaft und Kirchenleitungsfunktion nicht im Erzähltext begründet.304 Ein universeller Anspruch oder eine Sukzession sind nicht angelegt. Aus ethischer Perspektive kann jedoch eine Reflexion auf das Verständnis von Simon Petrus im Joh als Amtsträger und in der „Funktion des Gemeindeleiters“305 fruchtbar sein. Sieht man Leitungsträger in Petrus gespiegelt, ergibt 302
Siehe dazu z. B. Simon, Petrus, 23, 33, 285–290. Von Campenhausen, Auslegung, 269. 304 Zum selben Ergebnis kommt L. Simon: „Im JohEv wird P[etrus] von Jesus kein Amt verliehen“ (ders., Petrus, 199). Zur ausführlichen Diskussion inklusive der Einordnung des Geliebten Jüngers und der Rekonstruktion der frühchristlichen Gemeindesituation als Entstehungskontext siehe a. a. O., 20–23, 197–203. Gegen C. Böttrich, der behaupet: „Das Interesse an einer Amtsfunktion bzw. einer Amtsautorität und ihrer Legitimation ist unverkennbar“ (ders., Petrus, 79). Unter Vorbehalt sieht P. Dschulnigg Simon Petrus als „Typos für das Amt und dessen Funktion im Volk Gottes überhaupt“ (ders., Petrus, 142). 305 Böttrich, Petrus, 79. N. Farelly spricht (historisch orientiert) von einer Beauftragung mit der „leadership role in the early church“ (ders., Disciples, 106). 303
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
327
sich dadurch ein Anspruch an Menschen in dieser Position. Die Würde durch ‚göttliche‘ Beauftragung ergibt keine größere Machtfülle und Befehlsgewalt, sondern Verantwortung und größtmögliche Rechenschaftsforderung. Wer in ‚Amt und Würden‘ ist, ist in erster Linie verpflichtet zum Dienst, der bis zur Lebenshingabe reichen kann. Bekenntnisse formulieren (Sz. 2), andere ins Gespräch mit Jesus führen (Sz. 3), Initiativen anstoßen (Sz. 8), sich für den Schutz der Anvertrauten einsetzen (Sz. 5 und 9) – dies können Aufgaben sein, die Amtsträger für sich von Petrus annehmen. Dies geschieht nicht in einer Vollmacht, die keine Rückfragen duldet. Das Tun von (kirchlichen) Leitern hat vielmehr einladenden Charakter, das um die Gemeinde wirbt und die Entscheidungsfreiheit der Einzelnen erhält (vgl. v. a. Sz. 8). Bereits die Verhältnisbestimmung zwischen Simon Petrus und den Kollektiven der Jünger haben seine Repräsentantenrolle betont (vgl. 4.2). Nicht nur – oder nicht einmal primär – als ihr Leiter, sondern als einer von ihnen. So hat seine Figur eine „symbolische Dimension in der Typisierung der Jünger um Jesus“,306 als ‚der Jünger schlechthin‘. Diese Zuschreibung verstärkt nicht nur das Identifikationspotential, sondern lässt auch seine Motive als zentrale Jüngerschaftsmotive erscheinen. So werden das Anstreben hoher Ideale (vgl. 6.4), Scheitern an diesen (vgl. 6.2) und Neubeginn (vgl. 6.3) in das Leben als Christ (im Sinne einer nachösterlichen Jüngerschaft) bewusst integriert. Auch das Zusammenleben und -stehen innerhalb christlicher Gemeinschaft wird durch die Lesart von Petrus als ‚Jünger schlechthin‘ verstärkt.307 Einem solchen Ansatz kann der Geliebte Jünger in seiner Anonymität entgegengestellt werden, da auch in diesem „ein Bild des idealen Jüngers und der idealen Jüngerin entworfen“ wird.308 Doch hier sollen nicht vorgeführte Jüngerideale gegeneinander ausgespielt werden.309 Beide Jünger führen auf unterschiedlichen Ebenen Jüngerschaft vor.310 Petrus zeigt dabei Jüngerschaft in verschiedenen Lebenssituationen: von Gemeinschaft (Sz. 2, 3 und 8) über Anfechtung und Scheitern (Sz. 4, 5, 6 und 8) bis hin zum missionarischen und gemeindlichen Einsatz (Sz. 8 und 9).
306
Simon, Petrus, 16. Siehe dazu 4.4. 308 Dschulnigg, Petrus, 147. 309 Eine Analyse des Geliebten Jüngers könnte auf eine positive Darstellung hinweisen, die ihn gegenüber Simon Petrus oder erst recht gegenüber Judas als idealen Jünger und Vorbild erscheinen lässt. Von Petrus’ Analyse wird dessen Ambivalenz zwar durch die Gegenüberstellung mit dem Geliebten Jünger gesteigert, ist aber nicht durch diese bedingt. 310 C. R. Koester regt ähnlich an: „Peter, like a number of other individuals in the Fourth Gospel, represents not just some Christians but all Christians“ (ders., Symbolism, 71). 307
328
Teil III: Simon Petrus
6.2 Scheitern in der Jüngerschaft: Judas Iskariot und Simon Petrus Aus Wechselwirkung mit der Analyse von Judas (Teil V) und Thomas (Teil VI) ergeben sich parallele Parallelisierungen und Kontrastierungen. Gerade in Bezug auf das Scheitern von Simon Petrus darf hier eine Gegenüberstellung nicht fehlen. Drei Jünger erhalten im Joh einen Zweitnamen – wenngleich mit jeweils unterschiedlichen Formulierungen: Petrus, Judas Iskariot und Thomas Didymos. Diese drei sind die einzigen, die dem Zwölferkreis mit Sicherheit zugeordnet werden können.311 In Bezug auf ihr Scheitern und ihr Ergehen im Anschluss bieten diese drei eine Vergleichbarkeit als Parallelfiguren.312 Judas Iskariot313 und Petrus werden in drei Szenen einander gegenüber gestellt. In Szene 2 ist Petrus Sprecher und Bekenner im Kreis der Zwölf, während Judas von Jesus als 7 ) bezeichnet wird. In Szene 3 initiiert Petrus die Aufdeckung von Judas als Überlieferer Jesu. In Szene 5 stehen sich beide bewaffnet gegenüber – Judas als Anführer der Armee, die Jesus festnehmen wird, Petrus als übereifriger Verteidiger Jesu. In den ersten beiden Szenen wird Petrus auf- und Judas abgewertet. In der letzten Gegenüberstellung präsentiert sich Judas zunächst mit einer auffallenden Dominanz. Auch ohne dass Jesus durch sein Eingreifen Petrus’ Angriff unterbricht, erscheint dieser kaum als Möglichkeit der Abwehr der Überlieferung Jesu. Gemein ist allen drei Szenen, dass Petrus in größerer Nähe zu Jesus geschildert wird als Judas.314 Drei Vergleichsmomente dienen hier der Gegenüberstellung der Entwicklung der beiden Figuren: Die Betitelung durch Jesus in ihrer ersten Szene, das Stehen bei den Sklaven der Hohepriester und der Nachsatz am Ende der Szenen 3 und 6. Die Erstnennung ist für die Charakterisierung einer Figur von besonderer Bedeutung. Beide Figuren sind in ihrer ersten Nennung rein passiv, sprechen und agieren nicht. Jesus hingegen macht Aussagen über beide: In Szene 1 stattet er Simon Petrus mit dem Ehrentitel / *0 aus,315 bei Judas’ ersten Auftritt (hier Szene 2) identifiziert er ihn mit einem 7 ) . Der Aus-
311
Siehe Teil I – Einleitung: 4.1.3. Zu den Parallelen zwischen Thomas und Simon Petrus sowie Thomas und Judas Iskariot siehe in Teil VI (Thomas) die Unterkapitel 3.1.1 sowie 3.1.2. B. Boothe zeichnet (ohne expliziten Bezug zur joh. Passionserzählung) Judas, Simon Petrus und die fliehenden Jünger als drei Modelle der „Selbstrettung auf Kosten der Loyalität“ nach (dies., Verrat, 173) und nutzt diese als Ausgangspunkt für eine psychoanalytische Untersuchung von Identitäts(um)brüchen in alltäglichen sowie politischen Kontexten (a. a. O.). Damit weist sie zwar auf, in welche Richtung eine identitätsstiftende Lesart biblischer Erzählungen weisen kann, nutzt aber den biblischen Text nur als ‚Sprungbrett‘ und nimmt ihn damit – aus exegetischer Sicht – nicht ernst genug. 313 Zu einer detaillierten Analyse der Figur Judas siehe Teil V – Judas. 314 Vgl. auch 13,1 f.10 f.18. 315 Zur Bedeutung und positiven Wertung des Rufnamens siehe 3.1.1. 312
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
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gangspunkt der Figuren ist also denkbar unterschiedlich, ohne dass beide einen Beitrag dazu geleistet hätten. Die Szenenanalyse hat bereits die Parallele zwischen 18,5 und 18,18 aufgezeigt. Durch die Wortwahl parallelisiert der Erzähler Simon Petrus und Judas. Ihre Situation ist gleich: Beide wechseln die Seite von der Jüngerschaft Jesu zu dessen Feinden. War bei Judas dies von vornherein vorbereitet, ist für Petrus, dem / *0 , ein Stagnieren in dieser Position schwer vorstellbar. In ihrem Scheitern sind sie einander gleich, die Konsequenz daraus ist jedoch völlig verschieden. Angedeutet wird diese unterschiedliche Entwicklung bereits durch die Licht-Finsternis-Metaphorik, die sich in zwei Nachsätzen zum Szenenende hin andeutet. In 13,30 verlässt Judas die Jüngerschaft, bricht mit ihr und beendet die Nachfolge Jesu. Der Erzähler schließt die Szene mit einer Zeitangabe ( M G). Judas’ Ende ist in der Finsternis festgehalten. Als Simon Petrus ähnlich wie Judas mit seiner Jüngeridentität bricht, indem er diese bestreitet, geschieht dies in der gleichen Nacht – der gewissermaßen finstersten Nacht des Joh. Die Szene endet ebenfalls mit einer, wenn auch indirekteren Zeitangabe ( &! () *; " ). Für Petrus bricht ein neuer Morgen an. Er wird nicht in der Finsternis bleiben. In dichter Abfolge aufeinander erzählt, scheitern Simon Petrus und Judas beide in Joh 18, doch die Konsequenz dieses Scheiterns ist konträr.316 Der Fortlauf der Erzählung lässt Judas in der Finsternis zurück und blendet ihn aus, Petrus erlebt die Auferstehung und wird von Jesus in Nachfolge und Hirtentätigkeit berufen. Der Umgang mit Scheitern ist der Vergleichspunkt, in dem Judas zur Warnung und Petrus zum Vorbild wird.317 Unter Absehung von dem Kontrast mit Judas lässt sich Simon Petrus’ Rolle als scheiternder Jünger wie folgt interpretieren: In der Erzählung der großspurigen Verheißung der Lebensaufgabe (13,37) und des Nicht-Erfüllens in 18,17 ff. lässt sich das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“ lesen. Auch Jesu Einwand (13,38) klingt wie eine konkretisierte Form des Sprichworts. Die hohe Leseridentifikation von Petrus’ ‚Fallen‘ durch die Situation des geforderten Bekenntnisses wurde bereits aufgeführt (vgl. 3.2.6). Was er selbst in Szene 2 vorgab, vermag Petrus in der Gefahrensituation nicht einzulösen. Anstatt Jesus als Heiligen Gottes oder seinen Herren und Lehrer zu bekennen, bestreitet er seine Anhängerschaft. In Szene 6 wird er zudem Jesus als Kontrastfigur gegenübergestellt (vgl. 5.3, 6.3), sodass der Fall umso tiefer erscheint. Petrus’ Bestreiten des Jünger-Seins stellt gewissermaßen das größtmögliche Scheitern in Jüngerschaft dar – nämlich das öffentlich Able316
Vgl. Böttrich, Petrus, 128 f. Noch deutlicher wird die Differenz in einer intertextuellen Zusammenschau mit den Synoptikern (v. a. Mt 27,3–10). 317 In Bezug auf das Scheitern in der Jüngerschaft lässt sich auch Thomas gut in den Vergleich einreihen. Siehe dazu Teil VI – Thomas: 3.1.1; 3.1.2.
330
Teil III: Simon Petrus
gen dieser Identität. Das joh. Pendant zur dreifachen Verleugnung findet sich im dreifachen Hirtenauftrag Jesu (21,15–17). Hier findet sich die emotionale Reaktion, die in Szene 6 der Leserempathie überlassen wurde. Auch der Ausspruch „Herr, du weißt alles“ (21,17) erinnert daran, dass Jesus von der Verleugnung weiß, sogar davon wusste, bevor sie sich ereignete (13,38). Der einstige (Über-)Mut (13,37; vgl. 3.2.2) weicht in 18,17 ff. der Feigheit, die Reflexion des Versagens führt zur Reue (21,17). Das erstaunliche an der Darstellung Petrus’ als Verleugner ist, dass dies ihn nicht für die Nachfolge disqualifiziert, sogar als Hirte der Gemeinde wird er trotz dieses Scheiterns in einer Bekenntnissituation eingesetzt. Lesern dient Petrus so gleichzeitig als Warnung und als Trost, zum Urteil und zur Hoffnung, „gibt ihnen Mut und […] vergrößert ihre Nachsicht und Milde.“318 Sein Scheitern ist nicht nachzuahmen, seine Rehabilitierung zeigt aber einen konstruktiven Umgang mit Scheitern auf. Auf allgemeinerer Ebene zeigt sich daran die joh. Einstellung zu Schuld und Vergebung, die im Folgenden untersucht wird. 6.3 Schuld und Vergebung Simon Petrus’ Verleugnung wird weder von Jesus noch vom Erzähler bewertet und dementsprechend auch nicht als ‚Schuld‘ klassifiziert. Insgesamt ist im Joh ‚Schuld‘ kein Zentrallexem. Lediglich im Kontext von gerichtlicher (endzeitlicher oder realer) Anklage finden sich 6 und < .319 Häufiger erscheint der weniger juristisch, sondern geistlich bedeutsame Begriff der Sünde (d ). Inwiefern kann Petrus’ Verleugnung als narrative Entfaltung von Sünde oder Schuld betrachtet werden? Neben Sünde als moralischem oder glaubenspraktischem Verstoß gegen das Gesetz (vgl. 8,3.11; 8,46; 9,16) wird im Joh auch das Nicht-an-Jesus-Glauben als Sünde deklariert (16,9). Das Abstreiten der Jüngeridentität fällt höchstens als Unwahrhaftigkeit in diese Kategorie (vgl. 5.3). Stärker ist es jenseits der Sündenthematik für die Freundschaft zu Jesus und hinsichtlich eines Bekenntnisappells von Relevanz (vgl. 4.1, 6.2, 5.3). In Bezug auf seine Freundschaft zu Jesus wird Petrus an jenem schuldig. Dies wird durch die Kontrastierung der beiden Figuren hervorgehoben. Jesus steht als Unschuldiger (und Sündenloser: vgl. 8,7.11.46; 9,16b.31–33) im Verhör. Später im römischen Prozess kann Pilatus keine Schuld erkennen, die vor Gericht ein Urteil rechtfertigen würde.320 Er selbst hat sich mit dem zweifachen ‚ 6; < ‘ in die Gerichtssituation ge318
Van Tilborg, Joh, 313. S. van Tilborg betont zusätzlich, dass Jesus als Lamm – laut der Bezeichnung, die ihm unmittelbar vor Simon Petrus’ erstem Auftritt zuteil wird – in 21,15–17 mit Petrus als Hirten zusammensteht (vgl. ebd.). 319 In 18,29.38; 19,4.6 erfragt und bestreitet Pilatus die Schuld Jesu, in 5,45 verheißt Jesus Mose als Ankläger vor Gott ( 6 ) und in 8,6 wird die Versuchung Jesu als Vorwand für einen Anklagegrund ( 6 ) eingeordnet. 320 Zum Unschuldsmotiv im joh. Prozess Jesu vgl. Parsenios, Rhetoric, 37–39.
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
331
bracht. Gegenüber der deutlichen Unschuld Jesu, der sich mit einer Absage an die Gerichtspraxis (implizierte Zeugenforderung) und die Gewalt gegen die Befragung wehrt, erscheint Petrus’ als Schuldiger in der Parallelszene. Wird die dreifache Befragung von Petrus der Situation Jesu entsprechend auch als Anklage eingeordnet, lautet der Vorwurf ‚Jüngerschaft Jesu‘. Ironischer Weise wird er gerade nicht für dieses ‚Delikt‘ schuldig gesprochen, sondern fällt durch die Leugnung von diesem das Urteil über sich, welches der Hahnenschrei unterstreicht. Sein zweifaches ‚ & < ‘, welches vordergründig die Schuld zurückweist, ist in Wahrheit das Schuldigwerden – so wie Jesu ‚ 6; < ‘, das gegenüber dem Fahndungstrupp in Szene 5 als Schuldeingeständnis wirkt, in Wirklichkeit seine Unschuld unterstreicht. Nicht nur an Jesus wird Petrus schuldig, auch sich selbst, seiner eigenen Einschätzung und Verheißung, ist er nicht gerecht geworden. Bedeutender als der Schuldspruch von Petrus ist der Umgang mit diesem. Simon Petrus’ Schuld und Versagen werden in der weiteren Erzählung nicht explizit angesprochen. Seine fortwährende Jüngerschaft ist selbstverständlich und innerhalb des Jüngerkollektivs bekommt er mit dem Heiligen Geist zugleich die Vollmacht über Sündenvergebung und -erlass zugesprochen. So zeigen die drei Epiphanien in Joh 20 f., dass Petrus’ Verleugnung nachösterlich nicht von Bedeutung ist. Die erste Eins-zu-Eins-Begegnung, das erste Zweiergespräch, das Jesus mit Petrus nach Szene 6 eingeht, spielt diese aber implizit ein. Der dreifache Hirtenruf Jesu rehabilitiert Petrus endgültig und stellt klar: Das Versagen in einer Einzelsituation klassifiziert Petrus nicht als Versager.321 Jesus führt Petrus in die Traurigkeit und mutmaßliche Reue über sein Verfehlen und erwidert seine Liebeszusage mit Vertrauen. Wird Vergebung im Joh kaum diskutiert (eher steht die Errettung im Vordergrund), macht Jesu Umgang mit Petrus deutlich, wie diese praktiziert wird. Die Leitnorm gegenüber der Situation des Wortbruchs und des Scheiterns wird so Barmherzigkeit. Konfrontation darf geschehen, aber aus der Perspektive der Barmherzigkeit, da diese Erfahrung als Teil des Jüngerseins und nicht als Versagen im Jüngersein betrachtet wird. Die narrative Schilderung eines Reue- und Gnadenaktes steht der Kausalitätskette von Mt 10,32 f. parr. entgegen. Jesus kehrt sich nicht von Petrus ab, sondern rüstet seinen einstmalig treulosen Nachfolger mit Vollmacht (20,23) und neuen Aufgaben aus (Szene 9). Vergebung bedeutet in erster Linie kein Verzeihen von Vergehen, sondern eine Restitution der zerbrochenen Beziehung. Die Liebesbeteuerung steht als Sinnbild für die Wiedergutmachung dafür, dass Petrus nicht zur 321 Nur situativ in Szene 6 gilt: „Im Gegensatz zum souverän handelnden Jesus und dem unbehelligt agierenden Lieblingsjünger erscheint Petrus als Versager“ (Schnelle, Evangelium, 294). U. Schnelle sieht in den anonymen Jüngerfiguren jeweils den Geliebten Jünger, was die Kontrastierung m. E. noch betont. Zu Simon Petrus’ Versagen vgl. Dschulnigg, Petrus, 124 f., 130.
332
Teil III: Simon Petrus
größten Liebe (15,13) bereit war. Jesu Auftrag ermöglicht die Wiederherstellung der Freundschaft (vgl. 15,14). Gemäß Szene 9 darf – oder muss in Petrus’ Fall sogar – auf eine neuerliche Treuebekundigung auch eine Neubeauftragung folgen. Vergebung bleibt demnach nicht bei einer Nivellierung der Vergangenheit stehen, sondern ist in Vertrauenszuspruch und Ermutigung auf die Zukunft ausgerichtet. 6.4 Liebe, Leben und Tod Freundschaft und Liebe werden in der Beziehung zwischen Simon Petrus und Jesus entfaltet und in seiner Verleugnung auf die Probe gestellt, wie die Ausführungen bereits zeigten (vgl. 4.1; 6.3). Hier seien sie nun als Werte im Zusammenhang mit dem Spannungsfeld zwischen Leben und Tod betrachtet. Simon Petrus artikuliert eine Hingabe bis in den Tod. Wird anhand der Figur Thomas, der mit Jesus (11,16: I & ') sterben möchte, eine Lebensethik entfaltet,322 verhält es sich bei Petrus anders. Er möchte sein Leben für Jesus (13,37: 1 M " ') geben. Inhaltlich liegen beide Jüngeraussagen nahe beieinander. Bei Thomas werden aber die Aspekte der Gemeinschaft und des Todes betont. Die Vermeidung der Worte ‚Tod‘ und ‚Sterben‘ in Petrus’ Aussage, heben den Aufopferungscharakter hervor. Er möchte für Jesus etwas geben ( ! ) und nennt dabei das wertvollste, was er besitzt: Sein Leben ( R. 4 .). Dies bleibt von Jesus nicht unkommentiert. Er hinterfragt diese Bereitschaft auf ihre Ernsthaftigkeit, kritisiert aber das Vorhaben als solches nicht. Stattdessen scheint in der vorausgehenden Nachfolgeverheißung (13,36) sogar eine Nachfolge in den Tod mit impliziert zu sein.323 Wird Tod so als Lebensaufgabe verstanden, ist er nicht ein überwindungsbedürftiges Übel, sondern ein unübertreffbares Zeichen der Liebe.324 So beschreibt Jesus sein eigenes Sterben mit gleicher Wortwahl als größtmöglichen Liebesakt: D (6 & HS R. & ' ! 1 M % *) & ' (15,13).325 Zugleich klassifiziert er dies als ‚gute‘ Bereitschaft, indem er sie dem guten Hirten ebenfalls zuordnet (10,11: )+ R. & ' ! " 1 M % 7 ; vgl. 10,14 f.) und als Grund für die Liebe Gottes zu ihm angibt (10,17). Primär ist so Jesu Sterben als Liebesakt für seine Jünger (als Schafe in der Nachfolge
322
Siehe dazu Teil VI – Thomas: 6.1. Siehe dazu 5.2. 324 R. Schnackenburg sieht im Joh prinzipiell die „göttliche Liebe“ in Jesu „selbstloser Hingabe“ verwirklicht und die Jünger zu solcher „verpflichtet“ (ders., Joh I, 143). 325 Ähnliche Aussagen finden sich häufiger in der Antike vgl. z. B. Arist. eth. Nic., IX, 1169a. Den antiken philosophischen Kontext diskutiert S. van Tilborg ausführlich (vgl. ders., Love, 150–154). 323
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
333
und als Freunde in der Gemeinschaft mit ihm) gedeutet.326 Einen weiteren Schwerpunkt hat das Lexem R. 4 in 12,24–27. Durch mehrere Themen ist dieser Abschnitt lexikalisch und inhaltlich mit anderen besprochenen Szenen verbunden: Die Stunde (13,1), Dienerschaft (13,4–14), Ehre ( 3G , 13,31 f.; 21,19) und das Sterben innerhalb der Weizenkornmetapher (12,24)327. Dort wird Sterben als Voraussetzung dafür genannt, viel Frucht zu bringen. Ohne dass ‚Frucht‘ ( 3 ) genauer im Joh erläutert würde, ist sie dennoch deutlich positiv bewertet. Sie fungiert als Erfolgs- und Belohnungsbegriff (v. a. 15,1–16) und findet in den Fischen in Szene 8 eine mögliche Veranschaulichung. In 12,25 wird die Liebe des eigenen Lebens verurteilt. Mit der Aufteilung des semantischen Feldes ‚Leben‘ auf zwei Ebenen wird der eigentlich positive Begriff ambivalent. Die Grenze verläuft entlang von Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit, weltlicher und geistiger Dimension: 328 . ‚Leben‘ wird begrenzt und relativiert. In R. 4 T 3" ` und L 0# ## wieder zu den Bewohnern Sychars, welche als durchgehendes Kollektiv die Szene zusammenhalten, die mit Zeitsprüngen und -raffungen, Ortswechseln und unterschiedlichen Figurenkonstellationen die Handlung nicht chronologisch zum Ende führt. Der Aufbruch Jesu und seiner Jünger nach Galiläa (grammatikalisches Subjekt der Handlung ist wieder nur Jesus) markiert in 4,43 den Beginn der nächsten Szene, sodass Szene 3 mit der Figurenrede der Samariter endet. Die Szene setzt beim Ende von Szene 2 ein und überbrückt eine Zeitspanne von zwei Tagen. Handlungsorte sind mutmaßlich der Brunnen außerhalb der Stadt (4,40a) und Sychar allgemein, ohne dass genaue Ortsangaben gegeben werden. Neben dem Samariterkollektiv werden die Samariterin und Jesus als weitere Figuren genannt. Die Jünger sind ausgeblendet, aber implizit ebenfalls anwesend und im Handeln Jesu inbegriffen. Die Struktur der Szene kombiniert erzählende (z. T. zusammenfassende) Passagen mit wörtlicher und indirekter Rede. Die Zeitstruktur überlappt sich mit Szene 2, sodass die Handlung aus 4,28– 30 ein weiteres Mal erzählt wird (vgl. Abb. 19). Dies knüpft in erster Linie an den durch 4,31–38 unterbrochenen Erzählstrang an. Durch Wiederholung und Umformulierung werden Details betont und der Wechsel der Perspektive auf die Samariter fokussiert ihr Verhalten statt das der Frau. Nachträglich werden die 5 aus Szene 2 mit den Samaritern identifiziert. Die Aussage der Frau wird partiell wiederholt, als Zeugnis bezeichnet und als Ursache für den Glauben vieler (zur Aufteilung des Samariterkollektivs s. u.) benannt. Glauben ( % 2 ) erscheint mehrfach genannt als zentrales Verb der Szene und damit als Ziel der gesamten Episode. Der Glaube der Samariter entspricht im Gespräch Jesu mit den Jüngern dem Bild der Ernte. So ist die Saat-Ernte-Rede (4,35–38) als Deutung der Samariaepisode im Sinne von Glaubenspflanzung und -wachstum lesbar.74 In jener Rede Jesu werden die Jünger zum Ernten ausgesandt. Wer dort ‚der andere‘ ist, der gesät hat, bleibt offen. Ob Jesus sich selbst meint, von der Samariterin spricht oder sich auf die einstige Ankündigung des Messias bezieht, die bei den Samaritern tradiert wird, bleibt offen. Die Jünger werden allerdings in Szene 3 nicht aktiv und werden nicht einmal erwähnt, sodass fraglich ist, inwieweit sie den Ernteauftrag wahrnehmen. Im Gegensatz zu dem Glaubensruf Jesu in Szene 1 ist in 4,39 vom Glauben an Jesus gesprochen, sodass die Samariter 74
M. Theobald verweist auf die gebräuchliche Verwendung des Bildes im missionarischen Kontext (vgl. ders., Evangelium, 333–35). Vgl. Okure, Approach, 165–168.
367
2 Einzelanalyse der Szenen
ähnlich wie die Jünger in 2,1175 (mit der Referenzformulierung . @ 0 ) das Leserziel (20,31) erreichen und vorführen. 28f. Frau berichtet 30 Samariter in Sychar gehen zu Jesus 31–38 Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern 39 Reaktion 40a Samariter bei der Samariter Jesus
%
2 Tage
40b Jesus bleibt zwei Tage 41 Reaktion der Samariter auf Jesus
Erzählte Zeit
%
Szene 2
Szene 3
42 Samariter reden mit der Frau
nicht analysiert
Abb. 19: Überlappende Erzählstruktur in Joh 4,28–42
Die Kategorisierung der Aussage der Samariterin als Zeugnis und ihre damit einhergehende Einordnung als Zeugin ( 2% ) bestärkt die nichtskeptische Lesart von 4,29. Damit schließt sie als Figur an Johannes (1,15.32) an. Durch diese Klassifikation wird sie positiv bewertet. Der wiederholte Wortlaut ihres Zeugnisses ( O % statt H% % ) lässt dabei die Gesalbten-Vermutung weg und beschränkt sich auf Jesu Wissen um ihr Verhalten. Einerseits ist dies eine schlichte Wiederaufnahme des bereits Erzählten, andererseits entsteht – insbesondere durch die Variation im Wortlaut – der Eindruck eines mehrfachen Bezeugens. Dies ist innerhalb der Erzählten Welt höchst plausibel, denn eine Aussage gegenüber einer (zumal nicht zentral versammelten) Menge muss i. d. R. mehrfach wiederholt werden, bis alle Kollektivmitglieder die Nachricht erhalten. Würde in der elliptischen Wiederholung das Wort genügen, um den Leser zurückzuerinnern und Jesu Allwissenheit als Erkennungsmerkmal des Messias zu betonen, wird das erneut erklärt: Die samaritische Frau bringt in ihrer Sprechhandlung ihre eigene Betroffenheit erneut ein. Dadurch steigert sie die Glaubwürdigkeit, da sie ihr eigenes Tun genau kennt und die Richtigkeit von Jesu Sprechen somit bestätigen kann. Dabei stellt sie Jesu Kenntnis ihres Tuns, nicht die Kenntnis ihrer Person, in das Zentrum ihrer Verkündigung. Bezeichnend ist, dass das Zeugnis der Samariterin genügt, um die Hörer zum Glauben an Jesus zu führen.76 Dies wertet zum einen ihr Zeugnis, zum
75
Vgl. auch die Verwendung von
in 4,40 und 1,39 sowie Teil III – Petrus: 2.1;
5.2. 76 Eine Unterscheidung in verschiedene Qualitäten des Glaubens, die eine Abwertung des Zeugnisses impliziert, wie sie z. B. E. Haenchen einträgt, findet sich nicht im Erzähltext belegt. Haenchen unterscheidet den zeugnisbasierten „Glauben an Jesus als einen
368
Teil IV: Die samaritische Frau
anderen sie als Sprecherin auf. Wenn die Samariter ihr nicht nur Gehör und Glauben schenken, sondern der Inhalt ihres Sprechens sogar eine Einstellungsänderung verursacht und zum Glauben an Jesus führt, ist die emotionale Figurenkonstellation zwischen der Frau und dem Kollektiv positiv geprägt. Das Figurenkollektiv der Bewohner von Sychar wird in 4,39 differenziert: Viele der Samariter glauben an Jesus.77 Dies entspricht der Gesamttendenz im Joh, in Bezug auf den Glauben an Jesus von vielen ( ## ) zu sprechen.78 Damit wird stets impliziert, dass es auch Figuren gibt, die nicht glauben, und dennoch der Anschein erweckt, bei den Glaubenden handele es sich um eine große Menge oder gar die Mehrheit. Hier unterstreicht das ## (im Gegensatz zu einem denkbaren ) die Wirkmächtigkeit des Zeugnisses der Frau. Dies fällt im Kontext der Gesamterzählung noch mehr auf, da i. d. R. Jesus selbst (oft durch seine Taten oder Worte) Grund des Glaubens ist. Einzig Lazarus (12,11) wird als weiterer Glaubensverursacher für viele ( ## ) benannt.79 Die Wiederaufnahme des Samariter-Kollektivs in 4,41 knüpft an zwei zuvor genannte Kollektive an: Zum einen lässt der direkte Anschluss mit dem P auf die glaubenden Samariter (4,39) schließen, zum anderen weist die Parallelität des Erzählten auf die 5 in 4,30 zurück. Durch den Anschluss an 4,39 werden die positiv konnotiert. Zugleich ersetzt das Kollektiv B das vorige ## ? = 1 1 . So sind aus vielen alle geworden. Innerhalb von Szene 3 ist dies (4,40: B ) das einzige Kollektiv, in das die samaritische Frau mittels Kollektivzugehörigkeit integriert werden kann,80 da sie ansonsten als Gegenüber und Gesprächspartner dargestellt wird. Die Vereinheitlichung des Samariterkollektivs deutet eine homogene Gruppe an. Implizite Nicht-Glaubende werden verschwiegen, sodass der Eindruck einer vollständigen Zuwendung zu Jesus (und sei es aus Neugierde) im Vordergrund steht. Stand in Szene 1 im Lexem & die Volkszugehörigkeit als Figurenattribut (und Identitätsmerkmal) im Vordergrund, wird in Szene 3 nun verwendet, um ein Kollektiv zu bezeichnen und agieren zu lassen. Damit fallen in Kollektivbenennung und Figurenattribut zusammen. So bilden die Samariter eine kollektive Identität, die Einzel- und Kollektivfiguren inkludieren kann, handelnd in Aktion tritt und zugleich an ihre Volkszugehörigkeit gebunden bleibt. In seiner Zuwendung zu Jesus überwindet das Kol-
Wundermann“ (4,39) von dem „dann ganz echt[en]“ Glauben nach der Begegnung mit ihm selbst (4,41 f.) (ders., Joh, 248). 77 Zur Differenzierung des Samariterkollektivs siehe insbesondere Kap. 4.2. 78 Vgl. 2,23; 7,31; 8,30; 10,42; 11,45; 12,11.42. 79 Vgl. zur Parallelität von Lazarus und der samaritischen Frau Kap. 5.1. 80 Vgl. die Überlegungen zu 4,30 in Kap. 2.2.
2 Einzelanalyse der Szenen
369
lektiv ‚die Samariter‘ gewissermaßen die Trennung von Volksgruppen, die im Figurennamen selbst deutlich wird. Jesus entspricht (dem Handlungssubjekt entsprechend mitsamt seinen Jüngern) der Bitte der Samariter und bleibt zwei Tage in Samaria.81 Damit verweilt das jüdische Kollektiv, welches nur durch Zwang (4,4: ) überhaupt durch die Region reist, dort erstaunlich lang. Eine volksgruppenübergreifende Gemeinschaft ist damit suggeriert. Im Anschluss wird die Konsequenz dieser persönlichen Gemeinschaft mit Jesus berichtet. Dabei wird vom Erzähler und in Figurenrede ein Vergleich zwischen Jesus und der Samariterin vollzogen (vgl. 4,39 mit 4,41 sowie 4,42). Jesu Wort überbietet die Wirkung der Frau quantitativ und qualitativ. Es führt zum einen erheblich mehr zum Glauben (4,41: ##F # – 4,39: ## ) und zum anderen wird die Glaubensursache ersetzt (4,41: * ' #0 @ + – 4,39: * ' #0 L ' 2% ). In 4,42 wird die Gegenüberstellung direkt vollzogen und durch das @ = Q betont. Der Vergleich drückt keine Geringschätzung der Samariterin aus!82 Er betont hingegen ihr vorausgehendes Wirken und schätzt ihr Handeln wert, indem ihr die absolut positive Figur Jesus gegenüber gestellt wird und ihre Wirkung nicht konträr zu seiner ist, sondern lediglich von geringerer Ausprägung. Dass die Frau am Ende der Episode nur noch als Objekt der Handlung erscheint, betont ihre Funktion als Botschafterin. Sie überbringt die Nachricht von Jesu Anwesenheit, seiner Identität als Messias und formuliert mit ihrem Zeugnis gleichsam einen Aufruf, zu Jesus zu gehen, um eben das SelbstHören zu bewirken, auf welches die Samariter ihr gegenüber verweisen. Sie selbst hat ihre Aufgabe damit erfüllt und macht ein darüber hinaus gehendes Auftreten als Handlungssubjekt unnötig. Die Sprechhandlung der Samariter beantwortet die Frage der Frau aus Szene 2. Bot 4,29 noch die Möglichkeit der Ablehnung von Jesu messianischer Identität, bestätigen die Samariter die Vermutung der Frau. Formal steht der Frage eine Aussage, der Vermutung das „ A = "# 1 “ (4,42) gegenüber. Die Wiederaufnahme von : erinnert den Leser an 4,22 und spielt das von Jesus vorgeworfene Unwissen als Referenzmotiv ein.83 Die von Jesus vorgeworfene inhaltliche Leere der samaritischen Religiösität (4,22) wird mit dem Bekenntnis zu Jesus als , % + 0% gefüllt. Mit der Bezeichnung von Jesus als Retter der Welt wird ein Bekenntnis ausgedrückt, welches Jesu Selbstbeschreibungen entspricht (3,17; später: 12,47). Ob dieser als Überbietung des ungenügenden traditionsgebundenen
81
Somit wird er parallel zu den atl. Brautwerbungsgeschichten (vgl. 6.2) in der Fremde als Gast aufgenommen. Vgl. McWhirter, Bridegroom, 74. 82 Zum gleichen Schluss kommt auch S. van Tilborg (vgl. ders., Love, 182 f.). 83 Beide Verwendungen treten innerhalb von an die Frau gerichteter Figurenrede auf.
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Messiastitels angesehen werden soll,84 ist angesichts Jesu Bestätigung letzteren Titels zu bezweifeln. Bedeutsamer ist die Aufnahme des Lexems % . Nach Jesu Aussage geht die Rettung von den Juden aus (4,22). Der Bezug auf den 0% als alle menschlichen Figuren umfassendes Kollektiv inkludiert übergreifend alle Nationen, im Erzählkontext insbesondere die Juden und die Samariter. Damit haben die Samariter Jesu umfassende Heilsbedeutung, die an ihnen exemplarisch vorgeführt wird, erkannt und bringen sie zur Explikation. Die traditionell gebundenen Vorstellungen werden überwunden und durch eine neue Klassifikation abgelöst. Die eingangs gestellte Frage, ob man bei der Begegnung zwischen Jesus und der Frau von % sprechen kann, ist abschließend in Jesu Bleiben ( als Zentrallexem) zu bejahen. Selbst wenn das Gespräch in Szene 1 noch nicht so bewertet wird, ist im zweitägigen Zusammensein von Jesus und dem Samariterkollektiv (4,40) die eingangs bestrittene Gemeinschaft zwischen Juden (Jesus und implizit seinen Jünger) und Samaritern (implizit inklusive der samaritischen Frau) bezeugt. Der Status quo der Trennung beider wird durchbrochen. In ihrer Funktion als Zu-Jesus-Rufende hat auch die Samariterin Anteil an dieser Wandlung.
3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität 3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität
‚Die samaritische Frau‘ vereint in einer quasinamentlichen Verwendung Merkmale und Identität. Ihre durch die Bezeichnung als ‚samaritische Frau‘ betonten Merkmale werden im ersten Abschnitt unter ‚Name und Identität‘ entfaltet. Ferner schließt dort eine Gegenüberstellung mit Nikodemus als Kontrast-Identität an. Weitere Merkmale der Frau erfahren im darauf folgenden Kapitel einzelne Ausführungen: Gesprächsbereitschaft, Traditionsbezogenheit, Pfiffigkeit und Pragmatismus. 3.1 Name und Identität Die samaritische Frau ist eine von sechs namenlosen (anonymen) Einzelfiguren, die im Joh eigenes Gewicht bekommen, das heißt im Zentrum einer oder mehrerer Szenen stehen.85 Bezeichnender Weise wird auch in Figurenrede weder Jesu Name noch der einer anderen anwesenden Figur genannt,86 sodass 84
Vgl. O’Day, Word, 51. Die übrigen fünf sind der I % # 0 (4,46–54), der Gelähmte (5,2–16), die Ehebrecherin (8,2–11), der Blinde (9,1–41) und der Jünger, den Jesus liebte (13,23–25 u. ö.). Wird die Mutter Jesu wegen ihrer Initiativhandlung in 2,1–12 (weiterer Auftritt in 19,25– 27) dieser Liste angefügt, sind sieben Namenlose im Joh zentral. 86 Insgesamt wird Jesus im Joh nie namentlich angeredet. In der Figurenrede kommt sein Name nur vor, wenn über ihn gesprochen wird. 85
3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität
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in der Samariaepisode eine Identität jenseits des Namens in den Blick gerät. Die Identifizierung ist bei anonymen Figuren i. d. R. eindeutig.87 So dient der Samariterin ihre Weiblichkeit als Identifizierung. Feminine Personalpronomen und die Bezeichnung als ( verweisen innerhalb von Joh 4 ausschließlich auf sie. Ihre Erstnennung ( L ) vereint die beiden Attribute, die als der offensichtliche Kern ihrer Identität aufgefasst werden dürfen und sich im Folgenden ausgeführt finden: weibliches Geschlecht und samaritische Volkszugehörigkeit. Zu Alter, Beruf oder Aussehen gibt der Text keinerlei Hinweise.88 Ihr eigenhändiges körperliches Arbeiten schließt eine gehobene soziale Stellung aus. Dass die beiden expliziten Figurenattribute beim Leser Stigmatisierungen wachrufen sollen, wurde vielfach erwogen.89 Die abschließende Bewertung der Samariterin steht solchen Verurteilungen und der anfänglichen Stereotypisierung jedoch genau entgegen. So werden anhand von ihr als Figur exemplarisch Vorurteile durchbrochen und sie wird zur Warnung vor ebensolchen. Mit den beiden Attributen ‚weiblich‘ und ‚samaritisch‘ gehen weitere Rollenzuschreibungen einher, die sich in einem doppelt bipolaren Spannungsfeld folgender Art entfalten (Abb. 20): Jesus Juden Samariter
Männer Frauen
Jesu Jünger Bewohner von Sychar Samaritische Frau
Abb. 20: Kategorisierung der Figuren nach Geschlecht und Nationalität
Bei der Einordnung der Figuren fällt die doppelte Gegenüberstellung zwischen Jesus und der Samariterin auf, die bereits in der Analyse von Szene 1 betont wurde (vgl. 2.1). Die Geschlechtlichkeit der beiden Kollektive sowie die Einstufung der Jünger Jesu als Juden sind z. T. mutmaßlich. Die Betonung des Juden-Samariter-Konfliktes anhand einer Nicht-Jünger-Figur und die Berufungen innerhalb von Galiläa lassen auf eine genuin jüdische Jüngergruppe schließen. Ihre Verwunderung über Jesu Gespräch mit einer Frau 87
Die einzigen Ausnahmen können im Zusammenhang mit dem Geliebten Jünger diskutiert werden. Vgl. dazu Teil III – Petrus: 4.4. 88 Eine Berufszuordnung als „Wasserträgerin“ oder eine über das normale Maß hinausgehende Wasserholtätigkeit lassen sich nicht aus dem Erzählten ableiten (gegen Schottroff, Samaritanerin, 122). 89 Bezeichnend schildert E. Krafft sie als „von ungeordneten Trieben bestimmt, der Typ der verachteten Heidin“ (dies., Personen, 20). Vgl. auch 3.1.3.
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(4,27) suggeriert zudem ein männliches Kollektiv.90 Das Bewohnerkollektiv ist als geschlechtergemischt anzunehmen, da die männliche Form gewählt wird und zugleich die Frau m. E. in 4,30.40 in das Kollektiv integriert ist. Die Implikationen der jeweiligen Feldzugehörigkeit werden im Folgenden einzeln ausgeführt. 3.1.1 Weibliche Geschlechtlichkeit Die Gegenüberstellung von weiblichen und männlichen Figuren im Joh wurde von feministisch-theologischer Perspektive aus bereits ausführlich unternommen.91 Die Samariterin ist jedoch die einzige Figur, anhand derer das Geschlecht derart thematisiert wird. Unter den sieben handelnden weiblichen Einzelfiguren92 (Jesu Mutter, eine Samariterin, eine Ehebrecherin, Maria, Martha, eine Türhüterin, Maria Magdalena) werden Maria Magdalena und Jesu Mutter je zweimal mit 2 als explizit weiblich angesprochen (20,13.15; 2,4; 19,26), wodurch ihr Frau-Sein betont ist. Letztere bildet zudem mit Mütterlichkeit eine typisch weibliche Eigenschaft ab, Maria und Martha als Schwestern eine weitere weibliche Familienrolle. Durch Anonymität und Betonung der Weiblichkeit wird noch bei der Ehebrecherin mit drei Bezeichnungen als ‚Frau‘ (8,3 f.10) das Frau-Sein hervorgehoben (vgl. 4.5). Insgesamt nehmen im Joh Männer einen deutlich größeren Raum ein als Frauen – nicht zuletzt, weil mit Jesus ein Mann die Hauptrolle besetzt. Die Samariterin ist nicht nur dadurch, dass sie primär über ( identifiziert wird, als weiblich betont, sondern auch durch die explizite Thematisierung ihres Frau-Seins in 4,9.16–18.27. Stets sind an den Belegstellen mit der Bezeichnung als Frau ein sozialer Status und eine Rolle in der Gesellschaft verbunden. Die gesellschaftliche Trennung der Geschlechter wird insbesondere in 4,9.27 deutlich. Als unüblich wird ein (Einzel-)Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau eingeordnet. Da die Ansprache eines geschlechtergemischten Kollektivs durch die Frau weder vom Erzähler noch von Figuren problematisiert wird (4,28 f.), sind zwei Deutungskontexte möglich, die 90
Gegen Schottroff, Samaritanerin, 122. Ausführlich thematisiert M. M. Beirne die Gegenüberstellung männlicher und weiblicher Jüngergestalten, die sie in sechs „Gender Pairs“ einander gegenüberstellt (wobei sie die Mutter Jesu doppelt einordnet und viele männliche Gestalten, wie z. B. Simon Petrus ausklammert). Ihr Ansatz zielt auf eine Ebenbürtigkeit, wie bereits der Titel deutlich macht: Women and Men in the Fourth Gospel – A Genuine Discipleship of Equals. C. Conway untersucht zehn Figuren des Joh unter der Gender-Thematik und in Gegenüberstellung der Geschlechter (vgl. dies., Men). Sie argumentiert auch dafür das ‚Geschlecht‘ im Joh als „major component of the narrative“ thematisiert wird (a. a. O., 109). Auch J. Hartenstein betont das Gleichgewicht von männlichen und weiblichen Figuren in ihrer Analyse (vgl. dies., Charakterisierung, 52). 92 Darüber hinaus werden nur die Frauen unterm Kreuz in 19,25 als weibliche Einzelfiguren benannt. 91
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einander nicht ausschließen. Erstens gehört es sich nicht, ein Einzelgespräch in der gegebenen intimen Atmosphäre ‚unter vier Augen‘ zu führen. Zweitens gilt das Gespräch zwischen einander fremden Männern und Frauen als unsittlich. Letzterem entspricht der zügige Aufbruch der Samariterin vom Brunnen, als die Jünger dort eintreffen. Eine gesellschaftliche Grenze entlang der Geschlechtszugehörigkeit birgt nicht zwangsläufig Wertung. Eine gewisse Geringschätzung kommt in Jesu Forderung, ihren Mann zu holen (4,16), zum Ausdruck, weil darin anklingt, dass sie das Lebenswasser ohne ihren Mann nicht empfangen kann. In der Gesprächsfortführung dient die Aufforderung aber eher einer Aufdeckung ihres (Fehl-)Verhaltens als einer geschlechterbedingten Diskriminierung. Insgesamt liegt auf der Trennung zwischen Mann und Frau ein stärkeres Gewicht als auf einer Hierarchisierung. Gerade diese Trennung wird in der Episode überwunden. Jesu Forcieren des Gesprächs und Initiative zum % kündigen bereits an, dass er die sittlich gebotene Distanz nicht einhält. Erzählerisch wird die Separierung in Szene 2 überwunden. Dort wird das Wort 5 , welches bereits im Prolog (1,4.9) zur Verhältnisbestimmung zwischen Jesus und den Menschen als Gesamtkollektiv benutzt wird, aufgegriffen.93 In der Begegnung mit Jesus und in Gemeinschaft mit ihm als Messias verliert die übliche Separation ihre Wirkmächtigkeit und wird überwunden. Die Norm, die das Verhalten gegenüber Menschen des anderen Geschlechts maßregelt, wird so benannt und zugleich in ihrer Gültigkeit eingeschränkt.94 Wie die Samariterin selbst ihr Frau-Sein versteht, lässt sich verschieden deuten. Ihr Bewusstsein dafür ist jedenfalls von Beginn des Gespräches an hervorgehoben. So ist ihr gesamter Anteil am Dialog allgemein als Rede einer Frau zu lesen. Gegenüber Jesus spricht sie souverän und scheut keine kritischen bis ironischen Anfragen (4,12). Allerdings ist nicht erkennbar, ob diese aus Naivität und Unverständnis oder als Provokation gesprochen sind. Insbesondere 4,17a („Ich habe keinen Mann“) lässt in seiner Kürze verschiedene Lesarten zu und ist vom Ausdruck der Sprechhandlung abhängig. Es kann das verschüchterte Eingeständnis einer Frau sein, der das Gegenüber zur vollen Teilhabe an der Gesellschaft fehlt. Ebenso ist es als selbstbewusstes Statement lesbar, mit der sie ihrem männlichen Gesprächspartner ihre Ungebundenheit vorlegt. Insbesondere in einer Lesart, die die sexuellen Konnotationen der Brunnen- und Wassermetaphorik betont, ist die Aussage ein Hinweis 93
Im Joh wird 5 sowohl in der geschlechtsunspezifischen Bedeutung ‚Mensch‘ als auch in der männlich konnotierten (u. a. für bestimmte Einzelfiguren) verwendet. Vgl. zur detaillierten Analyse 2.2. 94 M. M. Beirne sieht in dem Verhalten der Jünger bei ihrem Eintreffen und Jesu Gespräch mit der Samariterin die Seperation als Norm als wohlbekannt aufgegriffen und durch Jesus zugleich durchbrochen: „Jesus [is] portrayed acting directly counter to the attitudes and values of his time and culture“ (dies., Women, 100).
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darauf, dass sie ihren Dialogpartner als Mann anspricht und sich für eine Beziehung anbietet; gegebenenfalls kokettiert sie mit dem Mangel, den Jesus allein durch sein Geschlecht (und seine damit verbundene gesellschaftliche Rolle) füllen kann. Schließlich ist die Aussage als Befreiungsschlag lesbar, durch den sie sich von ihrer aktuellen Beziehung und der in ihr bestehenden Abhängigkeit lossagt.95 Nach letzterer Lesart ist Jesu positiv wertende Reaktion eine Bestärkung in ihrem soeben getroffenen Entschluss, die sie ermutigt, den neu eingeschlagenen Weg fortzusetzen. So behält die Selbstwahrnehmung der Samariterin als Frau eine große Offenheit, die in ihrer Vielfalt insbesondere weiblichen Lesern96 Identifikation (oder Ablehnung) ermöglicht. Bei aller Deutungsfreiheit ist Schüchternheit eindeutig kein Attribut der Frau. So macht sie Mut, (auch gegenüber Männern) im Gespräch eigene Fragen zu stellen, Themen einzubringen, Einstellungen vorzutragen und Meinungen kundzutun. Leser und v. a. Leserinnen werden angeregt, ihre Gedanken und Einschätzungen als einen wichtigen Beitrag für andere zu sehen, der diesen nicht vorenthalten werden sollte. Eine solche Forderung provoziert innerhalb westlicher, postmoderner Leserkreise weniger Verhaltensänderung und Umwertung als ihr in anderen Kontexten innewohnt bzw. innegewohnt hat.97 Aus historischer Perspektive (welche hier als Exkurs eingespielt wird) ist die Hochschätzung der Frau besonders in Bezug auf ihr Zeugnis bemerkenswert. Hatten Frauen in der Antike z. T. einen rechtlichen Status, der Zeugenschaft geschlechtsbedingt nur eingeschränkt möglich machte oder gar ganz verbot,98 wird die Frau in Szene 3 mit dem Partizip 2% wie Johannes (der Zeuge schlechthin im Joh) als Zeugnisgebende für Jesus eingestuft. Als Glaubensverursacherin wird ihrer Aussage damit eine hohe Glaubwürdigkeit zugesprochen. Wenn die Samariter ihrem Urteil so weit vertrauen, dass sie sich unmittelbar auf den Weg zum Brunnen machen, besitzt dieses keineswegs durch ihr Frau-Sein weniger Aussagekraft. Bei der Bezeugung von Jesu Tod und Auferstehung werden ebenfalls Frauen explizit genannt 95
Vgl. Schottroff, Samaritanerin, 126. Wenngleich jede Figur auf ihr geschlechtsspezifisches Identifikationsangebot untersucht werden kann, ist dies bei keiner anderen der untersuchten Figuren des Joh im Erzähltext so verankert wie bei der Samariterin. M. E. ist sie auch im gesamten Figurenrepertoire die Figur, mit der stärksten Betonung der Geschlechtlichkeit. 97 Wobei L. Schottroff zurecht beklagt, dass die in der Auslegungstradition z. T. anklingende Idealisierung, im Christentum gebe es – gegenüber anderen Religionen (z. B. dem Judentum) – einen gleichberechtigten Umgang von Männern und Frauen, eine Fehlwahrnehmung gesellschaftlicher Realität darstellt (vgl. dies., Samaritanerin, 124). 98 Vgl. Thomas, Teilung, 170 f. J. F. Gardner fasst die Situation im antiken Rom (mit Belegen um 200 n. Chr. bzw. 533 n. Chr.) folgendermaßen zusammen: „Frauen konnten zwar Zeuginnen vor Gericht sein, nicht aber Zeuginnen für ein Testament“ (dies., Frauen, 165). 96
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(19,25; 20,14–18). So erfahren Frauen gegenüber dem zeitgenössischen Umfeld eine deutliche Aufwertung. Eine so veränderte Rolle in der Gesellschaft fordert ein entsprechendes Verhalten, besonders von Männern. Beachtung und Wertschätzung von Frauen und dem, was sie einzubringen haben, sind geboten. Auf politischer (legislativer) und rechtlicher (judikativer) Ebene kann dies als Appell zur Stärkung der Rechte von Frauen aufgefasst werden. 3.1.2 Samaritische Volkszugehörigkeit Die Spannung zwischen Juden und Samaritern als Volksgruppen wird in der Episode besonders thematisiert.99 Innerhalb der Erzählten Welt richtet sich die Ablehnung einseitig von den Juden gegen die Samariter, sodass in 8,48 in der Figurenrede ‚der Juden‘ sogar Samariter-Sein mit Besessenheit zusammengedacht wird. In Szene 1 fungieren Jesus und die Frau, eingeführt durch die Rede der Samariterin, als Repräsentanten ihres Volkes.100 Die Distanzierung zwischen Juden und Samaritern bezieht sich auf Gemeinschaft oder 101 Benutzung derselben Gegenstände (% ) und impliziert ein Gespräch miteinander sowie die Reise einer jüdischen Gruppe durch Samaria. Im Erzähltext liegt die Ursache der Separation in einer Diskrepanz bezüglich der Glaubenspraxis. Bei Rückbindung an die gleichen Figuren als gemeinsamen Ursprung der Volksidentität (Jakob und seine Söhne) liegt der Unterschied im Ort und dem Adressaten – ‚dem Was‘ (4,22) – der Anbetung. Ersterer wird von der Samariterin angeführt, letzterer von Jesus.102 Die gleichwertig gegenüberstehenden Alternativen der äußerlichen Form Jerusalem und Garizim werden nicht an der Lokalität, sondern am mit ihnen verbundenen Inhalt gemessen. Jesus bewertet im C -Vergleich seine jüdischen Landsleute positiv, die Samariter negativ. Dabei korrigiert er die Einschätzung der Samariterin, dass der wesentliche Unterschied in der Wahl des Gebetsortes läge. In seinem Vergleich trifft die Samariter die gleiche Kritik, die Jesus an anderer Stelle auch den Kollektiven ‚Jerusalemer‘, ‚Juden‘ und ‚der Welt‘ vorwirft (7,28; 8,54 f.; 15,21; 17,25): Nicht-Kennen Gottes. Damit gereicht Jesu Schmähung nicht einer prinzipiellen Aburteilung im Vergleich zu anderen Kollektiven. Vielmehr sind sie darin verbunden und gleichsam auf Jesu Offenbarung angewiesen. Während die Samariterin auf die Trennung zwischen beiden Nationen verweist, ignoriert Jesus diese zunächst. Sein Angebot des Lebenswassers
99
T. Okures Deutung, dass die Frau Jesus als „an enemy“ identifiziert, markiert dabei einen Extrempol einer solchen Spannung (dies., Approach, 127). Okure übersieht dabei, dass eine Ablehnung der Juden von samaritischer Seite aus im Joh nirgends expliziert wird. 100 Diese Repräsentationsfunktion betont u. a. auch Wilckens, Evangelium, 84. 101 Vgl. dazu 2.1. 102 Zur Gegenüberstellung von Form und Inhalt siehe 3.2.2.
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endet nicht an Volks- oder Kulturgrenzen.103 Erst als die Samariterin dezidiert auf die unterschiedliche Gebetsortgebundenheit eingeht, spricht Jesus den Konflikt an. Seine Erklärung der Abgrenzungsursache ist aber nicht der Zielpunkt seiner Antwort. Vielmehr erscheint die Differenzaussage von einer Überwindungsverheißung gerahmt. Erzählerisch erfüllt sich Jesu Ankündigung der Überwindung in den Szenen 2 und 3. Während in Szene 2 die Wahl des Lexems 5 die Volkszugehörigkeit ausblendet, wird in Szene 3 die mehrtägige Gemeinschaft geschildert. Jesus als Jude bleibt (mit seinen Jüngern) bei den Samaritern. erinnert zwar an die Grenzmarkierung und die bestehende Unterscheidung, zugleich ist die Handlung des Samariter-Kollektivs eine an einen Juden gerichtete Bitte um Gemeinschaft – eine Umkehrung von 4,9. Mit der feststehenden Praxis des @ % wird durch Jesu Vorort-Bleiben gebrochen. Die neue Gemeinschaft, die sich um Jesus konstituiert, überwindet die nationale Trennung.104 Nachbarschaftliche (Erz-)Feindschaft ist innerhalb des Joh an dem Samariter-Juden-Konflikt aufgezeigt. So spiegelt der Konflikt die Problematik von traditionsgebundenen Feindbildern. Gemeinsame Ursprünge und regionale Nähe werden ignoriert oder verschärfen die Spannungen. Die Erzählung thematisiert den Konflikt und lässt die Bearbeitung sogar als Notwendigkeit erscheinen (4,4: ). Die Überwindung der Abwendung gelingt der Figur Jesus. Um ihn (als Person) konstituiert sich eine neue (christliche) Gemeinschaft, fügt sich zu „einer höheren Einheit“105, in der die ursprüngliche Ablehnung keinen Raum hat. Nicht nur das Ziel eines Umgangs mit solchen Konflikten wird vorgeführt; Jesu Handlungen verdeutlichen ein exemplarisches Vorgehen: Er kommt, setzt sich, spricht und bleibt. Das Gespräch nimmt dabei den größten Stellenwert ein – mit ‚Kommen‘ ist die Bewegungsrichtung, der erste Schritt zur Versöhnung, vorgezeigt. Die Bekenntnisse, die Erntemetapher und die Glaubensberichte unterstreichen das Ergebnis als deutlich positiv und empfehlen eine Nachahmung.
103 M. L. Coloe zieht Ez 37,16–27 heran und sieht in der Samariaepisode (und insbesondere Szene 1) die Vereinigung von Samaritern und Juden als Erfüllung der dortigen Prophezeiung, woraus sie ebenfalls die Judentums-überschreitende, Welt-umfassende Zielsetzung von Jesu Auftrag erkennt (vgl. dies., Woman, 193–96). 104 Bereits W. Heitmüller erkennt in der Episode „das Christentum […] [als] von allen nationalen und lokalen Schranken befreite […] Religion“ dargestellt (ders., Joh, 225). Indem er es aber als „rein geistige […] Religion“ einordnet (ebd.), entgehen ihm die ethischen Konsequenzen für das Verhalten gegenüber solchen Trennungen. H. Boers erkennt in der Trennung zwischen Juden und Samaritern den Wert „factional security“ und in der gebildeten Gemeinschaft zwischen beiden Kollektiven (und in Spannung zu Ersterem) „human solidarity“ dargestellt, verpasst aber in der zeitlichen Abfolge der Episode eine Entwicklung vom einen zum anderen auszumachen (ders., Mountain, 94 f.). 105 Van Tilborg, Joh, 58–62.
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Eine Anmerkung zu Jesu überheblich anmutendem Tonfall (4,22) ist noch notwendig. Für Konfliktlösungen scheint dieser eher weniger hilfreich. Dagegen ist der Hinweis auf eine mögliche gemeinsame Zukunft, in der die Konflikte der Vergangenheit ihre Bedeutung verlieren, zu betonen. Dieser rahmt Jesu Vorwurf. Im Dialog wird die Ursache der Abgrenzung nicht besprochen und zur Versöhnung geführt, sondern ein beidseitiger Verzicht auf die Beibehaltung der Tradition und eine übergreifende Gemeinschaft werden als Lösung vorgeschlagen. Wie Jesus die Messiaserwartung von Juden und Samaritern in sich vereint (1,41.45; 4,25) und mit der Anbetung in Wahrheit und Geist die örtlich an Jerusalem oder den Garizim gebundene ablöst, ist der konfliktverzerrte Blick auf eine gemeinsame Lösung zu richten. 3.1.3 Kontrastfigur Nikodemus Die ersten beiden ausführlichen Gespräche mit Einzelfiguren, die Jesus im Joh führt, sind die mit Nikodemus und der Samariterin.106 Die Parallelschaltung der Szenen in erzählzeitlicher Nähe liefert einen Vergleich, der eine Wahrnehmung beider als Parallelfiguren nahelegt. Der Kontrast entsteht nicht nur durch die Zeitangabe (3,2 nachts; 4,4: mittags) und Lokalisierung (Jerusalem und Sychar in der Nähe des Garizim: In 4,20 f. kontrastiert), sondern wird durch die Figuren selbst geboten: Den Figurenattributen der Samariterin entgegengesetzt ist Nikodemus ein männlicher Jude der Oberschicht (5 1 & ). In gebotener Kürze wird hier die vielfach vermerkte Gegenüberstellung vollzogen.107 Ausführlich unternimmt dies Margaret M. Beirne, welche beide Figuren zusammen als ‚Gender Pair‘ untersucht.108 Als Gemeinsamkeit sieht sie die Exemplifizierung vom Wachstum im Glauben an Jesus vom Moment der Erstbegegnung an und das Gegenüber in Gesprächen, die Jesu Selbstoffenbarung vorantreiben. Trotz großem Kontrast in der Typisierung (z. B. Geschlecht, sozialer Stand) betont sie die Möglichkeit der Identifikation mit beiden. Entscheidend ist für sie die Möglichkeit der und Anregung zur Reflexion der eigenen „faith journey“ für die Leser, welche zum
106
Für Literatur zu Nikodemus sei neben den entsprechenden Verweisen in diesem Abschnitt auch auf den Artikel von R. A. Culpepper verwiesen: ders., Nicodemus. Dort geraten entsprechend der beiden weiteren Auftritte von Nikodemus auch die Figuren ‚die Pharisäer‘ sowie Josef von Arimathäa in den Blick. Culpepper sieht Nikodemus zwar in einer Bewegung zu Jesus hin, aber in einer unaufgelösten Spannung und primär mit dem komplexen Thema „becoming one of the ‚children of God‘“ identifiziert (a. a. O., 259). 107 Vgl. z. B. Conway, Men, 103 f., 106 u. ö.; Koester, Symbolism, 45. Ausführlich zu einzelnen Motiven Beirne, Women, 69–80. 108 Vgl. Beirne, Women, 67–104.
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Zeugnisgeben ermutigt.109 Eine Bewertung des jeweiligen ‚Reiseziels‘ (der Samariterin und Nikodemus’) kann aber unterschiedlich ausfallen.110 Bei einem Vergleich der beiden Gespräche in Joh 3 f. schneidet Nikodemus in jedem Fall schlechter ab.111 Gegenüber den größeren Redebeiträgen der Samariterin und ihrem eigenen Auftritt in Szene 2 wird Nikodemus einfach ausgeblendet. So attestiert John Painter bei einer Parallele im Unverständnis nur der Samariterin einen positiven Gesprächsausgang.112 Nach Eva Krafft überbietet sie Nikodemus – gerade im Kontrast zu der Unterlegenheit bezüglich der Figurenattribute – in Umkehr, im Glauben und in Erkenntnis gemäß 1 Kor 1,27 f.113 Raymond F. Collins’ Bezeichnung als „unlikely heroine“114 macht dabei gut deutlich, wie in der Parallelisierung mit einer Lesererwartung gespielt wird. Unscheinbar und namenlos eingeführt, vermag sie den zu übertrumpfen, an den selbst Jesus hohe Erwartungen richtet (3,10). Auf dieser Reflexionsebene wird sie demnach nicht nur zum Vorbild, sondern hinterfragt auch die Lesereinschätzung. Eine Bewertung und Einschätzung der Menschen gemäß ihrer äußeren, leicht sichtbaren Attribute wird somit in Frage gestellt. 3.2 Merkmale und Identifikationsangebot Zwei Merkmale der Samariterin, die zugleich ihre Identität markieren, wurden bereits genannt und ausgeführt. Weniger explizit ergeben sich weitere Charaktereigenschaften, die ihr als Figur zugeordnet werden können. So werden hier ihre Gesprächsbereitschaft, Traditionsbezogenheit, Pfiffigkeit und ihr Pragmatismus, welcher von einer mutmaßlichen Faulheit abzugrenzen ist, diskutiert. Dass sie insbesondere für Leserinnen ein Identifikationsangebot darstellt, wurde bereits unter 3.1.1 ausgeführt. Darüber hinaus können die in diesem Kapitel dargelegten Merkmale der Identifikation dienen. Als Situation mit gesteigertem Identifikationsgehalt wirkt ihre Glaubenserfahrung aufgrund des Offenbarungserlebnisses im Übergang zwischen Szene 1 und 2. Insbesondere weil der Leser in seiner Lektüre des Joh ebenfalls zu solchen Erfahrungen eingeladen ist, kann er sich mit der Samariterin identifizieren. Ihr 109
Beirne, Women, 103. So kontrastiert R. F. Collins, dass das Gespräch mit Jesus die Samariterin zum Zeugnisgeben führt, Nikodemus hingegen zum Grab (ders., John, 363). Eine Reisemetaphorik bietet sich in der Interpretation dieser Episode an, da diese als eine Etappe einer Reise Jesu eingeführt wird. Von daher überrascht es wenig, dass die ‚Glaubensreise‘ der samaritischen Frau, die primär zur Erkenntnis der Identität Jesu führt, in der Sekundärliteratur vielfach herausgearbeitet wurde (vgl. dazu Coloe, Woman, 183). 111 Eine prinzipielle Bewertung der Figur Nikodemus wird damit nicht vorgenommen. Dies muss seiner Figurenanalyse vorbehalten bleiben. 112 Vgl. Painter, Quest, 203 f. 113 Vgl. Krafft, Personen, 20 f. 114 Collins, John, 364. 110
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impulsives Weitertragen des Erlebnisses gilt aufgrund der Bewertungsschemata als vorbildlich. Bei der Verbklassifikation treten in der Samaria-Episode Formen von häufig auf, um Fortbewegungen zu kennzeichnen. Insbesondere die 3. Pers. Sg. Präs. parallelisiert Figuren. Mit 38 Belegstellen der Form im gesamten Joh sticht diese in den Lexemhäufungen nicht unbedingt hervor. Dennoch ergibt sich eine interessante Mikroerzählung bei der Untersuchung der Belegstellen in Joh 4. Fünfmal wird verwendet, wobei die Subjekte variieren. Zunächst treten die Figuren auf – erst Jesus, dann die Samariterin – später kündigt Jesus einen bestimmten Zeitpunkt ( ) mit an (4,21.23) und schließlich spricht die Frau vom kommenden Messias. Dieser Handlungsverlauf entspricht einer Mikroerzählung des Joh: Jesus, der Logos, kommt, dann treten die verschiedenen Figuren als Gegenüber in der Welt auf (an die Jesu Glaubensruf und Lebensangebot ergeht), in Joh 13–19 kommt ‚die Stunde‘ als Wendepunkt der Welt, nach welcher sich der Auferstandene als Christus (= Messias) erweist (vgl. 20,31). Nimmt man das sechste in Joh 4 hinzu, wird zudem die kommende Ernte (4,35: % 0 ) angekündigt, welche sich im Fischfang in 21,6–11115 narrativ verbildlicht findet und über die Erzählte Welt hinaus den Leser erreichen möchte (20,31; 21,23). Nach dieser Parallellesart von Evangelium und der Mikroerzählung der in Joh 4, wird die Samariterin zur Vertreterin aller Figuren der Erzählten Welt, die mit Jesus in der Zeit vor dem Kommen ‚der Stunde‘ in Interaktion treten. Damit wird sie zur zentralen Identifikationsfigur aller Menschen für eine Jesusbegegnung. 3.2.1 Gesprächsbereitschaft Innerhalb des Joh fällt der Anteil von Figurenrede seitens der Frau deutlich auf. Ein ähnlich langes Gespräch mit so viel eigenem Gesprächsanteil führt keine andere Figur mit Jesus. Im Gesamtredeanteil rangiert sie nach Jesus, Johannes, dem Blindgeborenen und Pilatus (sogar noch vor Simon Petrus) ‚weit oben auf der Skala‘.116 Auch wenn Jesus die Samariterin zuerst anspricht, ist sie die Figur, die daraus ein Gespräch initiiert: Sie kommt Jesu Aufforderung nicht nach, sondern fordert ihn stattdessen mit einer Frage zum erneuten Sprechen heraus. So ist sie nicht lediglich zum Gespräch mit Jesus bereit, sondern forciert dieses. Insgesamt hat sie großen Anteil an der Weiterführung des Gesprächs, sodass Mary L. Coloe sie sogar als „perfect dialogue
115
Zur Szene und ihrem metaphorischem Gehalt vgl. Teil III – Petrus: 2.8. M. Pfister schlägt eine Charakterisierung von Figuren hinsichtlich „Geschwätzigkeit, Beredtheit oder Wortkargheit“ anhand ihres „Sprachverhaltens“ durch Abweichung vom gemittelten Redeanteil aller Figuren vor (ders., Drama, 200). Jesus ist bei einer solchen Charakterisierung m. E. auszuklammern. 116
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partner with Jesus“ charakterisiert.117 Auch bei der Betrachtung ihrer Handlungen ist # das ihr bei Weitem am häufigsten zugeordnete Prädikat. So ist die Samariterin als redefreudiger oder geschwätziger Charakter dargestellt. Einzig in Bezug auf ihren Beziehungsstand ist sie wenig mitteilsam. Im Joh ist etwa die Hälfte des Erzähltextes durch Figurenrede (insbesondere in Rede Jesu) abgedeckt. Demnach ist Sprechen prinzipiell nicht negativ bewertet. Dennoch kann nicht rückgeschlossen werden, dass Redseligkeit prinzipiell gut einzuschätzen ist. Zum Sprechen der Samariterin sind drei Bewertungssignale einzubeziehen: 1. Jesu Reaktion auf ihr Sprechen, 2. Erzählerkommentare, 3. Konsequenzen auf den Handlungsverlauf sowie Figurenmeinungen und -einstellungen, die aus ihrem Sprechen folgen. Jesus nutzt die Gesprächsbereitschaft der Samariterin, um sie – und damit zugleich den Leser – zur Erkenntnis seiner Identität, zu einer Lebensveränderung und zum Glauben zu führen. Wenngleich er inhaltlich ihren Fragen zum Teil ausweicht, nimmt er diese doch positiv auf und setzt den Dialog fort. Auch die Länge des gesamten Dialogs, die Anzahl der Wortwechsel und die Relation der Gesprächsanteile weisen auf ein beidseitiges Interesse am Gespräch hin. Inhaltlich weist er die Frau nur einmal direkt zurück (4,22) und nutzt dabei den Plural (C ), sodass die Kritik der persönlichen Ebene enthoben ist. Seine explizite Wertschätzung der Aussage der Samariterin in 4,17 ist mit der Klassifizierung als #1 und "# ( auf den Inhalt bezogen. Diese Wertschätzung Jesu wertet ihr Sprechen positiv, wobei eine mögliche ironische Lesart die Deutung hier in ihrer Validität einschränkt. Im Zentrum steht das Verhältnis ihrer Aussage zur Realität und nicht ihr Sprechen oder gar ihre Redseligkeit. Auch ohne die würdigende Bewertung in 4,17 einzubeziehen, ist Jesu Reaktion auf ihr Reden als positiv einzuordnen. Der Erzähler begründet oder bewertet die Gesprächsbereitschaft der Samariterin nicht explizit und geht auf diese Eigenschaft implizit nur marginal ein. Sofern 4,9b als Erzählereinwurf gedeutet wird, plausibilisiert er dort den Einwand der Samariterin. Das begründet und unterstützt somit das von ihr Gesagte. Die inhaltliche Erklärung bezieht sich aber nicht auf ihr Reden als solches. Darüber hinaus sind lediglich die von ihm geschilderten Reaktionen anderer Figuren auf das Sprechen der Samariterin bezogen. Da die Samariterin im Gespräch einen Erkenntnisprozess durchläuft und ihre Erkenntnis abschließend äußert, ist dieses für sie als gewinnbringend einzuordnen. Dass sie Jesus als Messias erkennt, ist Jesu Ziel des Gesprächs 117
Coloe, Woman, 191. Vgl. Conway, Men, 125; Okure, Aproach, 128. Die Gesprächsbereitschaft der Samariterin betont auch P. Dschulnigg und sieht sie darin als „Vorbild glaubender Offenheit“ (ders., Jesus, 133). M. M. Beirne charakterisiert sie als schlagfertig: „quick-witted and articulate“ (dies., Women, 99). L. Schottroff kritisiert die konträre Wahrnehmung der Samariterin als „mißverstehende Stichwortgeberin“ in der Auslegungsgeschichte (dies., Samaritanerin, 118).
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(vgl. 4,10) – selbst wenn die Identität Jesu als Messias überbietbar (durch die Identifizierung von Jesus mit Gott) und anzweifelbar (als Frage gegenüber den Samaritern geäußert) dargestellt ist. Das Wundern der Jünger ist auf Jesu Zuwendung gegenüber der Frau bezogen und lässt damit kein Urteil über die Gesprächsbereitschaft der Samariterin zu. Aussagekräftiger ist die Reaktion der Samariter, die schon in Anschluss an Szene 2 positiv erscheint. Noch deutlicher ist sie in Szene 3 geschildert. Dass das Zeugnis der Frau Menschen zum Glauben führt, ist die größtmögliche Aufwertung ihres Redens. Auch die spätere Ersetzung des Zeugnisses der Frau durch das Wort Jesu schränkt dies nicht ein – zumal erst ihre Botschaft die Samariter zu Jesus bringt und so die überbietende Erfahrung mit Jesus selbst ermöglicht. Als Figur, die das Gespräch sucht, ist die Samariterin als Vorbild dargestellt. Damit ist kein Lob der Geschwätzigkeit verbunden, denn das Gespräch, welches Jesus und sie führen, zeigt Interesse am anderen und nimmt diesen als Gegenüber wahr. Die Samariterin verkörpert kein selbstbezogenes Mitteilungsbedürfnis. Selbst in ihrem Erlebnisbericht weist sie von sich auf Jesus. Insofern beinhaltet Gesprächsbereitschaft als Eigenschaft der Samariterin eine Offenheit für den anderen als Person, für sein Wissen und seine Meinung. Somit ist eine Bewertung des Redens an den Inhalt und den Umgang mit dem Gesprächspartner gebunden. Anhand der Frau werden Wahrhaftigkeit und Bezeugen als positive Bewertungskategorien vorgestellt. Ist das Reden wahrhaftig und bringt die Wirklichkeit zum Ausdruck, so ist es als gut einzuordnen (vgl. 5.3); zeugt es von Jesus und weist andere auf diesen hin – führt gegebenenfalls sogar zum Glauben an Jesus, ist es ideal; macht es den Dialogpartner zum Gegenüber, ist es adäquat. 3.2.2 Traditionsbezogenheit Die gesamte Episode wird durch den Ort der Begegnung an atl. Traditionen zurückgebunden. Innerhalb des Dialogs in Szene 1 betont die Samariterin die Verbundenheit mit identitätsstiftenden Überlieferungen und tradierter Glaubenspraxis. Ihr Wissen um diese Traditionen und ihr Einbringen von diesen in das Gespräch charakterisieren sie als traditionsbewusst, traditionsverbunden oder gar traditionsverhaftet118. Zu nennen sind die Legende über die Brunnenstiftung durch Jakob, der Vergleich von Jesus mit diesem und der Verweis auf die samaritische Anbetungspraxis auf dem Garizim. Signalwort für den Traditionsbezug ist in ihrer Rede ( . In diesem Wort kommt zugleich die persönliche Verbundenheit und – in der Bedeutung ‚Vorfahre‘ – der Hinweis auf die Vergangenheit zum Ausdruck. Darüber hinaus benutzt sie mit 3( , / %% und % 0 Titel und Bezeichnungen, die (atl.) 118
So führt G. R. O’Day z. B. ihre Reduzierung Jesu auf seine jüdische Nationalität auf ein anfängliches Gefangensein in ihren Traditionen zurück (vgl. diess., Word, 34).
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Traditionen aufgreifen und durch diese mit einer Erwartungshaltung gefüllt sind. Mit der Traditionsbezogenheit der Samariterin geht ein Bewusstsein für die gesellschaftlichen Normen, für einen Wertemaßstab und für richtiges religiöses Verhalten einher. So ist ihr erster Satz Ausdruck der doppelten Trennung zwischen ihr und Jesus und verweist auf eine Grenze, die Jesus überschritten hat. Auch die Hochschätzung des Brunnenwassers und der unterschiedliche Gebetsort von Juden und Samaritern werden von ihr mit Verweis auf die Tradition begründet. Auf ihre Verweise auf vergangene Ereignisse geht Jesus nicht ein. Er beschränkt sein Reden auf Gegenwart und Zukunft. Einer traditionsbezogenen Normen- und Wertebegründung stellt er eine auf sich selbst bezogene (also christusbezogene119) entgegen. Zur Überwindung der Tradition nutzt er das gleiche Lexem wie die Samariterin ( ( ) – jedoch mit anderem Bedeutungsinhalt. An Stelle der Vorfahren als Traditionsgaranten zieht Jesus Gott als Bürgen seiner Autorität heran.120 Jesus überbietet Jakob, erfüllt die Messiasverheißung und erklärt den Gebetsortkonflikt für abgelöst. Damit beansprucht er als Person die Stellung, die zuvor die Tradition im Reden der Samariterin eingenommen hat. Der Leser bekommt vorgeführt, dass religiöses und gesellschaftliches Verhalten an Jesus ausgerichtet und auf ihn bezogen sein müssen. Sein Tun, seine Verkündigung und Person ersetzen traditionelle Gepflogenheiten, Legitimationen und Autoritäten. Während die Samariterin sich in ihren Äußerungen über eine Verhaltensnorm auf die äußerliche Form bezieht, die es zu wahren gilt, betont Jesus den inhaltlichen Gehalt. Ihm geht es um einen Austausch von Wasser als Lebenskraft, während die Frau noch an den Bedingungen ihrer Begegnung festhält. Jesus kennt die Identität und Lebensgeschichte des Einzelnen (4,10.18; vgl. 4,29)121, während sie nur die gesellschaftlichen Rollen und Status sieht (4,9.11 f.). Als sie nach einer Festlegung des richtigen Gebetsortes fragt, stellt er ihr die Anbetung des Vaters in Wahrheit und Geist als innere Haltung und Ausrichtung auf einer Beziehungsebene vor.122 Die Betonung der Äußerlichkeiten macht Jesus gleichsam den Samaritern als Kollektiv zum Vorwurf. Damit ist ein Wechsel der Glaubenspraxis von äußerlichen Formen zu Inhalten vorgegeben. Dieser wird von Jesus gefordert und von der Samariterin schließlich in Szene 2 vollzogen. In ihrem Bekenntnis passt sie ihr Handeln an den Inhalt an. Die Botschaft von der Begegnung mit Jesus und seine Iden119
Da Jesus in dieser Episode stärker mit dem Titel Messias/Christus identifiziert wird als mit seinem Namen, wird hier bewusst nicht von Jesusbezogenheit gesprochen. 120 Vgl. dazu auch 5,37;8,18. 121 Belegstellen außerhalb dieser Episode sind z. B. 1,42.47; 2,24 f.; 6,70. Vgl. Teil III – Petrus: 2.1; Teil V – Judas: 2.1. 122 Vgl. auch das Ersetzen des Tempels durch Jesus in 2,21.
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tität als Messias muss unmittelbar und ohne Einschränkung (an alle, " determiniert) weitergegeben werden. So lässt sich sogar das Zurücklassen des Kruges metaphorisch deuten. Im Krug lässt sie symbolisch die Form zurück und nimmt nur den Inhalt – das lebendige Wasser – mit, was aus ihr heraussprudelt: + A … (4,29). Die eigene Umsetzung der ‚wahren Anbetung‘ fehlt allerdings in der Episode völlig. Erst der Blindgeborene folgert aus der Selbstoffenbarung Jesu (dort allerdings als Menschensohn) Anbetung von ihm (9,38). 3.2.3 Pfiffigkeit Auch wenn die Samariterin vielfach als unverständiges Gegenüber Jesu erscheint,123 wird hier eine andere Sichtweise stark gemacht: Ihre Pfiffigkeit.124 Zu dem erstgenannten Gegenpol sei nur Folgendes angemerkt: Wie die meisten Figuren im Joh begreift die samaritische Frau Jesu Worte nicht und offenbart in ihren Rückfragen, dass ihr der metaphorische oder geistliche Gehalt von Jesu Antworten entgeht. Eventuell ist sie mit Jesus als Gesprächspartner überfordert.125 Diese Naivität bietet – wie die Missverständnisse im Joh prinzipiell – dem Leser die Möglichkeit, seinerseits zu einem tieferen Verständnis zu gelangen.126 Zugleich zeichnet sich die Samariterin aber durch einen Sinn für pragmatischen Nutzen und geschickte Gesprächsführung aus. Wird die Gesprächssituation auf Möglichkeiten der Identifikation befragt, so erschließt sich ihre vorsichtige, skeptische Grundhaltung, die ihr Gegenüber hinterfragt. Zwar am helllichten Tag, aber dennoch allein und ungeschützt begegnet sie einem Fremden, der sie anspricht. In diesem Setting ist die anfängliche Skepsis verständlich. Dass sie trotz aller Vorbehalte eine gewisse (und im Gesprächsverlauf zunehmende) Offenheit zum Ausdruck bringt, ist durch den schließlich positiven Verlauf des Gesprächs als gut gekennzeichnet. So kann ihre Einstellung, die Offenheit und Skepsis vereint, (gegenüber Verschlossenheit oder Gutgläubigkeit) als beispielhaft gelten.
123
Vgl. z. B. Painter, Quest, 203. C. Bennema attestiert der Samariterin als „Moral Agent“ das Höchstmaß an Klugheit, einer der vier platonischen Kardinalstugenden (ders., Virtue, 180), welche der Eigenschaft ‚Pfiffigkeit‘ nahe steht. Er begründet sein Urteil allerdings lediglich mit einem Satz: „In her ability to make correct decisions about Jesus and engage in correct actions, the woman shows much prudence“ (a. a. O., 177). C. Conway charakterisiert sie in ähnlicher Lesart als „practical, bold“ (dies., Men, 125) und H. W. Attridge betont ihre „curiosity“ (ders., Woman, 268). 125 G. R. O’Day liest das Vorenthalten des Wassers auf Jesu Bitte hin als Fassungslosigkeit (dies., Word, 33). 126 Vgl. Frey, Drewermann, 141; ders., Eschatologie III, 127. Zur Funktion der joh. Missverständnisse prinzipiell und in der Auslegung von Joh 4 vgl. z. B. Theobald, Evangelium, 26f, 311–313; siehe auch Teil III – Petrus: 3.2.4. 124
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Für die Charakterisierung der Samariterin als pfiffig, ist der Gesprächsverlauf – die Inhalte und ihre Sprechhandlungsbezogenheit – zu betrachten. Zunächst überträgt sie eine bestehende Norm auf ihre Situation und spiegelt Jesus den Bruch mit dieser. Dass Jesus in 4,10 die 1. Person meidet, stört sie keineswegs. Direkt identifiziert sie Jesu Aussage als Selbstoffenbarung und hinterfragt diese. Der Hinweis auf den fehlenden Eimer mag Unverständnis gegenüber dem metaphorischen Gehalt von Jesu Rede sein, ist aber die adäquate Reaktion auf sein Angebot. Sie nimmt den von ihm vorgeschlagenen Rollentausch nicht leichtfertig an, sondern stellt die pragmatischen Begrenzungen dar. Auch ihre Begründung der Bitte um das lebendige Wasser Jesu spiegelt ihren pragmatischen Sinn wider. Die Arbeitsersparnis, die mit einem Erhalt von Jesu magischem Wasser einhergeht, bringt ihr zeitlich und ‚kräftemäßig‘ einen enormen Vorteil. Ihre Begründung scheint geradezu wirtschaftlich gedacht. Dass sie die Wahrheit mit ihrem @ 5 verkürzt, kann ebenfalls als gewitzt angesehen werden. So versucht sie, ohne explizite Falschaussage das ihr unangenehme Gesprächsthema abzuwenden und zugleich den Weg zwischen Zuhause und Brunnen, den sie zu vermeiden sucht, nicht gehen zu müssen. Schließlich erkennt sie die Begegnung mit Jesus als einmalige Gelegenheit. Sie sieht in ihm einen Propheten und nutzt seine Anwesenheit für eine Frage, für die sie ein fachkundiges Gegenüber braucht. Diese Frage spiegelt auf drei Ebenen die Gewitztheit der Samariterin: Die Anfrage kann als Test Jesu Prophetenseins gelesen werden. Zugleich wechselt die Frau das Thema zu einem weniger persönlichen Bereich. Ferner gelingt es ihr, Jesus damit zum ‚Samariter-Juden-Konflikt‘ Stellung beziehen zu lassen, was er zuvor vermied. Insgesamt lenkt also nicht nur Jesus das Gespräch auf die Offenbarung seiner Identität hin, sondern ebenso lotst auch die Samariterin das Gespräch zu dem tradierten Nationalitätskonflikt – und erreicht sogar, dass Jesu breiteste Ausführung während des gesamten Gesprächs diesen thematisiert. Zudem gelingt es ihr, das längste Einzelgespräch (in Bezug auf Sprecherwechsel und Textmenge zwischen erstem und letztem Sprecherwechsel) mit Jesus im Joh überhaupt zu führen. Sie zeigt ein hohes Bewusstsein für die Gesprächssituation, die sie gerade erlebt, und vermag es, diese in Bezug zu ihrem Wissen um Traditionen und Normen zu stellen. Ihre Antworten beziehen sich stets direkt auf Jesu Aussagen – insofern ist sie nicht unverständig – und erscheinen wohlüberlegt. Leichter noch als bei Jesu Reaktionen, dessen Sprechhandlungsbezogenheit weniger klar ist, lassen sich ihre Gedankengänge nachvollziehen. Die Pfiffigkeit der Samariterin, die große Aufmerksamkeit, die Jesus ihr schenkt, und die Überraschungsmomente, die das Gespräch bietet, tragen dazu bei, dass der Leser der Figur Sympathie entgegenbringt. Allerdings ist Pfiffigkeit nicht zwangsläufig positiv besetzt. Jesu Wiederholung und Ausdeutung der Aussage in 4,17, keinen Mann zu haben, drückt ironisch gelesen
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anstatt Anerkennung möglicherweise eine Geringschätzung des Versuchs aus, die ‚ganze Wahrheit‘ vertuschen zu wollen. Zwar führen ihre Einwände insgesamt das Gespräch fort, aber nicht zum Ziel der Szene. So ist ihr gewitztes Rückfragen zugleich ablenkend.127 Damit steht die Eigenschaft ‚Pfiffigkeit‘ in einer Ambivalenz zwischen Erzählerverlauf und Leser. Für den Leser wird durch Unterhaltsamkeit und Beispielfunktion Sympathie erzeugt, für den Erzählverlauf und Jesus stellt diese Eigenart eine Störung dar, erzwingt einen Umweg. In dieser Uneindeutigkeit der Wertung bietet sich eine Hierarchisierung an. Als Eigenschaft ist Pfiffigkeit weder negativ noch positiv zu bewerten, sondern in das richtige Verhältnis zu anderen Kategorien zu setzen. Jesus stellt ihr als Größen des Anbetungsverhaltens „Wahrheit und Geist“ entgegen. Diese sind für die Samariterin, die die Wahrheit zu umgehen sucht und an der weltlichen Existenz orientiert erscheint, als Korrektur ihrer Pfiffigkeit empfohlen. So ist ein Rahmen für die Entfaltung pfiffigen Denkens, Fragens und Antwortens vorgegeben, welcher auch dem Leser zur stetigen Prüfung des Verhaltens dient. 3.2.4 Pragmatismus oder Faulheit? Entfaltung von Pausieren und Müßiggang (4,6.15) Schließlich werden zwei Dimension des gleichen Phänomens, nämlich des Ruhens, in Szene 1 ausgebreitet. Durch das doppelte Aufgreifen werden so Reflexionen über Faulheit als Laster angeregt und der Eigenschaft ‚Pragmatismus‘ sowie der Handlung ‚Kraftschöpfen‘ gegenübergestellt. Als Randthema in der Samariaepisode und im Gegenüber von Jesus und der Samariterin dargestellt, ist diese Thematik wegen ihrer Unauffälligkeit besonders reizvoll. Die pragmatisch denkende Samariterin möchte Jesu Wasserangebot annehmen, um den Weg zum Brunnen nicht mehr gehen zu müssen. Für sie ist das Wasserholen eine leidliche Notwendigkeit, eine Arbeit, auf die sie gerne verzichten würde. Durst ist ihr Antrieb zur stetigen Ausführung. Ihre Betonung von Weg und Schöpfvorgang heben die Anstrengung des Tuns hervor. Jesu Wasser verspricht die Beseitigung von Mangel und Mühe. Die Samariterin versteht die Verwandlung des Wassers im Menschen in eine Quelle nicht als Auftrag, dieses Wasser weiterzugeben, sondern als Erfüllung ihres Wunsches nach Erleichterung des alltäglichen Lebens. Ihr Wunsch bewegt sich 127
Wenn die Szene in der Aufdeckung von Jesu Identität und der mutmaßlichen Weitergabe des ‚Lebenswassers‘ an die Frau zum Abschluss kommt (was zugleich Jesu Gesprächsziel entspricht), beinhaltet das Gesamtziel der Episode zudem die nationalitätsübergreifende (Glaubens-)Gemeinschaft. Da diese aber erst durch das Zeugnis der Samariterin von Jesu Identität zustande kommt, können ihre Rückfragen in dieser Hinsicht auch als nicht zielführend eingeordnet werden. Eine solche final-orientierte Lesart erschließt sich dem Erstleser erst in der Retrospektive.
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dabei auf der Grenze zwischen Pragmatismus und Faulheit. Wurde der pragmatische Blickwinkel oben hinsichtlich ihrer Pfiffigkeit ausgewertet (vgl. 3.2.3), sei nun eine Perspektive eingenommen, die das Begehren der Samariterin als Faulheit deutet. Der gewünschten ‚Bequemlichkeit‘ erteilt Jesus eine Absage. Er fordert die Frau genau zu dem Weg auf, den sie zu meiden sucht. Insgesamt richtet Jesus dreimal Appelle an die Samariterin. Immer wieder fordert er sie zum Tun auf. Ihr Unterlassen gerät damit in die Kritik. Das Handeln der Samariterin in Szene 2 und 3 veranschaulicht, dass sie schließlich der Aufforderung nachkommt. Anstatt ihrem ursprünglichen Vorhaben nachzugehen und sich mit dem geschöpften Wasser zu Hause Pause und Erholung zu gönnen, lässt sie sich von Jesus in Bewegung bringen. Sie geht den von ihm aufgetragenen Weg und bringt (anstelle ihres Mannes) ‚die Samariter‘ zu Jesus. Dieses Verhalten ist durch die positive Konsequenz (viele Glaubende und deren Bekenntnis) als vorbildhaft dargestellt. So verkörpert die Samariterin einen Aufruf zur Überwindung der Bequemlichkeit. In der eingeschobenen Szene des Jüngergesprächs (zwischen Szene 2 und 3) stellt Jesus Arbeit positiv dar. Für ihn ist sogar Nahrung und somit Kraftquelle. Dort wird die notwendige Kontextualisierung von Arbeit besonders deutlich. Wie Jesus das Werk des ihn Sendenden (also das Werk Gottes) zur Speise wird, ist auch die Samariterin zu dem von Jesus beauftragten und zu ihm führenden Tun angehalten. Gegen eine übereifrige Interpretation zum stetigen Tun ist in Szene 1 ein Kontrapunkt gesetzt. Jesus hält zu Beginn der Szene inne. Nach vielfachem Handeln und Bewegen leitet sein Hinsetzen ein Innehalten ein. Dass dieses nicht erneutes Handeln vorbereitet, zeigt der Einblick in Jesu Befinden. Seine Müdigkeit legitimiert eine Pause. Er überlässt den Jüngern den Einkauf von Nahrung in der Stadt. Selbst wenn Jesus am Brunnen schließlich nicht untätig ist (sondern im Sinne von 4,36–38 sät), begründet seine Erschöpfung das Hinsetzen am Brunnen – nicht die sich daraus ergebene Arbeitsmöglichkeit. Jesus ist als Protagonist die höchste Bewertungs- und Legitimationsinstanz innerhalb der Erzählten Welt. Da er mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet ist, fällt seine menschliche Erschöpfung hier besonders auf. So sind Erholungsphasen wichtig und legitim. Wie Jesus seinen Jüngern Arbeit überlässt, muss auch der Leser nicht alles Tun selbst übernehmen. Wie Jesus Rast macht, ist auch dem Leser Erholung gegönnt.
4 Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik 4 Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik
Der Hauptinteraktionspartner Samariterin ist Jesus. Darüber hinaus treten innerhalb des Szenentextes lediglich das Kollektiv der Samariter (dem sie m. E. selbst angehört) und das der Jünger Jesu (wenngleich eher indirekt) mit ihr in Beziehung. Wird die erweiterte Figurenkonfiguration in den Blick ge-
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nommen, ergibt sich, dass nicht alle Horizontfiguren für die Samariterin ertragreich sind. Horizontfiguren sind ‚die Juden‘, Josef, Jakob, dessen Söhne und Tiere, die Männer der Samariterin, die Väter und der Vater (= Gott): Erstere sind nur im Zusammenhang mit ihrer Kollektiv- und Volkszugehörigkeit mit ihr zu vergleichen.128 Josef ist als Referenzfigur nur für die räumliche Einordnung genannt und außerhalb seiner Verweisfunktion auf das AT (Gen) für die Analyse der Samariterin nicht von Interesse. Jakob, ‚die Väter‘ sowie Jakobs Söhne und Tiere werden in der Figurenrede von ihr selbst genannt. Letztere Kollektive dienen aber lediglich der Veranschaulichung der Bedeutung Jakobs, sodass es ausreicht, sich auf Jakob und ‚die Väter‘ zu konzentrieren (s. 4.4). Da diese als Figuren der Vergangenheit der Erzählten Welt der Samariterin nicht gleichgewichtet gegenüber stehen, kann diese Beziehung nur in ihrer referentiellen Dimension von der Perspektive der Samariterin aus betrachtet werden. Die Männern der Samariterin dienen der Entfaltung der Themen ‚Beziehung und Ehe‘. Gott als ‚der Vater‘ wird von Jesus in das Gespräch eingebracht. Die begrenzten Aussagen, die über ein Verhältnis zur Samariterin möglich sind (z. B. dass sie ihn anbeten wird), fließen in 4.4 ein. 4.1 Die Samariterin und Jesus – Seelsorge und Überwindung der Fremdheit Die Beziehung zwischen Jesus und der Samariterin offenbart sich beinahe ausschließlich in den Sprechhandlungen der beiden Figuren. Initiator der Beziehung ist Jesus, der durch sein Ansprechen den Erstkontakt herstellt. Die sozial-strukturelle Distanz zwischen beiden Figuren wird zunehmend überwunden. Dabei ist auffällig, dass mit der Separation ein Statusunterschied verbunden ist, welcher Jesus über der Samariterin hierarchisiert. So ist auch Jesus derjenige, der die Trennung aufhebt.129 In Jesu Fokussierung auf sein Angebot und seine Identität kommt zugleich eine unbedingte Wertschätzung zum Ausdruck.130 Mögliche Bedingungen wie Nationalität, Geschlecht, sozialer Status, Traditionen oder Lebensführung stellt er hinter das Interesse am Gespräch mit der Samariterin zurück. In der Lebenswassermetaphorik kommt die heilsspendende Dimension des Angebots Jesu zum Ausdruck. Aber nicht nur im Inhalt von Jesu Sprechhandlungen, sondern auch in seiner Gesprächsführung zeigt sich Jesu heilsames Handeln. Durch sein wiederholtes Anknüpfen an die Sprechhandlungen der Samariterin, durch das gleichzeitige Umlenken des Gesprächsinhalts sowie mit seiner Eröffnung neuer Denkhorizonte wird er zum Vorbild seelsorgerlicher 128
Vgl. 3.2.2 und 4.2. Vgl. 3.1.1 und 3.1.2. Dementsprechend bezeichnet F. D. Bruner Jesus als „the great Barrier Breaker“ (ders., Gospel, 246). 130 R. A. Burridge stellt in seiner ethischen Betrachtung des Joh Jesus, „the friend of sinners“, in dem Gespräch mit der Samariterin (aber auch mit neun weiteren Figuren) als nachzuahmendes Vorbild dar (ders., Imitating, 334–339). 129
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Gesprächsführung. Das Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin zeigt ein Muster für ein seelsorgerliches Gespräch131: Szene 1 bietet den längsten Dialog in vertrauter, expliziter Zweisamkeit. Im übrigen Erzähltext sind lediglich die Dialogkette zwischen Jesus und Pilatus (18,33–19,12) und das letzte Gespräch zwischen Simon Petrus und Jesus132 von ähnlicher Ausführlichkeit. Liest man die Szene mit Jesus als seelsorgerlichem Vorbild, sammeln sich viele Aspekte. Das Setting ist in öffentlicher Intimität angesiedelt. Jesus setzt sich und signalisiert dadurch zeitliche Verfügbarkeit. Allerdings ist der Rahmen nur begrenzt geschützt, was dadurch deutlich wird, dass die Rückkehr der Jünger (trotz deren Zurückhaltung) das Gespräch gewissermaßen abbricht. Inhaltlich lenkt Jesus zwar den Gesprächsverlauf, verfolgt aber immer wieder die Gedankengänge der Samariterin. Er durchbricht festgefahrene Denk- und Rollenmuster – sowohl hinsichtlich ihrer Selbstwahrnehmung als auch in Bezug auf das ‚richtige‘ religiöse Handeln. Im Zentrum des Gesprächs steht die Aufdeckung der verborgenen Wahrheit über die Lebensweise der Frau. Ein Urteil über die Verantwortung für die Lebensführung gibt Jesus nicht ab. Sei diese als Schuld oder als Verletzung eingeordnet, Jesus spricht sie an, legt offen ohne zu verurteilen. Dabei dient die genaue Benennung der Zahl der Konkretion und die Schilderung des Ist-Zustandes schafft gegenwärtige Relevanz. Eingefasst wird das Aufdecken jedoch vom Angebot auf Lebensveränderung. Er verspricht der Frau, nie mehr Durst zu haben, und gibt sich in einer Selbstoffenbarung als der Messias zu erkennen. Jesus bettet in Annahme und Zuspruch den Korrekturhinweis ein, wodurch das Lebenswasser als Alternative zu ihrer bisherigen Lebensführung erscheint. Das Gespräch wirkt positiv auf die Samariterin. Sie sucht nicht nur anstelle ihres ‚Nicht-Mannes‘ die übrigen Bewohner Sychars auf, sie berichtet sogar positiv von der Begegnung und (explizit) Jesu Sprechen. Als erfahrene Befreiung können das symbolische Zurücklassen des Wasserkruges und die Bereitschaft zum Gehen des Weges zwischen Brunnen und Stadt gewertet werden. Die positive und verändernde Kraft eines solchen Gesprächs wird in Szene 2 (und 3) deutlich. Die Frau nutzt ihre frühere Lebensweise, um Zeugnis zu geben. So wird sie zu einem „model of transformative encounter with Jesus.“133 Darüber hinaus kann im Sinne einer mimetischen Ethik eine Orientierung an Jesus als Seelsorger vollzogen werden. Das Verhältnis zwischen beiden Figuren beginnt als Begegnung zwischen Fremden.134 Fremdheit wird auch durch atl. Intertexte in die Analyse einge131
U. Wilckens staunt über 4,17b: „Er [Jesus] sagt nicht: ‚Du lügst‘, sondern: ‚Zu Recht hast du das gesagt‘: Welche seelsorgerliche Liebe und Weisheit!“ (ders., Evangelium, 83). Gegen Bauer, Joh, 69. 132 Vgl. Teil III – Petrus: 2.9. 133 Attridge, Woman, 268. 134 Als bedeutende Werte innerhalb der Episode arbeitet auch H. Boers Fremdheit und Integration heraus, wobei seine Gegensatzpaarung die Ebene der gegenseitigen Kenntnis
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tragen. In Gen 24,17 f. bittet der fremde Knecht Abrahams Rebekka mit dem gleichen Wortlaut um Wasser.135 Auch Elia fragt in 1 Kön 17,10 f. die fremde Witwe in Sidon nach etwas Trinken. In all diesen Intertexten ist der Mann der Fremde, den die Frau nicht kennt und der diese in ihrer Heimat anspricht. In Gen 26 rücken mehrere Brunnen als Ortsangaben in den Mittelpunkt, um die sich Streitigkeiten zwischen Heimischen und Fremden um das ‚lebendige Wasser‘ entfesseln. Brunnenbegegnungen sind im atl. Kontext spannungsgeladen. Sowohl als Begegnungspunkt als auch als Streitgrund markieren sie den Umgang mit Fremden und Gästen. Die Frauen in Gen 24 und 1 Kön 17 reagieren sofort und entsprechen der Bitte. In Joh 4 bittet Jesus die Samariterin. Diese stellt stattdessen eine Gegenfrage. Enthält damit die Samariterin Jesus Gastfreundlichkeit vor?136 So gelesen ist die ohnehin vorhandene Fremdheit durch Distanz seitens der Samariterin noch gesteigert. Die dynamische Figurenkonstellation stellt dabei im Nachhinein in Jesu Fremdoffenbarung (4,17 f.) diese Fremdheit als einseitig heraus. Obwohl insbesondere Jesu Identität eines der wesentlichen Gesprächsinhalte ist, bleibt eine namentliche Vorstellung aus. Während Jesus für die Samariterin zunächst nur „ein Jude“ ist, kennt Jesus ihre Lebensumstände in Vergangenheit und Gegenwart. Der Leser nimmt eine Zwischenposition ein. Jesus wurde ihm bereits über drei Kapitel hinweg vorgestellt und er ist damit der Samariterin deutlich überlegen. Die Samariterin ist für ihn aber eine Fremde, die in jedem Wortwechsel stärker Profil gewinnt. Diese Wissensunterschiede zwischen Jesus, Samariterin und Leser bauen Spannung auf.137 Die Beziehung zwischen beiden Figuren zeichnet einen Prozess des Bekanntwerdens nach, in den der Leser eingeschlossen wird. Wie der Leser die Samariterin kennenlernt, erfährt diese, wer Jesus ist. Leser und Samariterin nähern sich so in einer Parallelbewegung dem Wissen Jesu an. Einander vertraut werden, um die Fremde, die jeder Erstbegegnung innewohnt, abzulegen, ist das Ziel. Schließlich wird Jesus vom Samariterkollektiv zum Bleiben gebeten und so als Gast empfangen, was die Fremdheit vollständig aufhebt, wie der Szene 3 abschließende Satz bezeugt. Im Gegensatz zu vielen flüchtigen Begegnungen zwischen Jesus und einzelnen Figuren wird hier eine ‚Ent-Fremdung‘ dargestellt, die in Gastfreundschaft138 und Gemeinschaft führt. Durch die Einbeziehung des Lesers in den Prozess des Kennenlernens fungiert die Beziehung, nicht von der der Zugehörigkeit differenziert (vgl. ders., Mountain, 99–104). ‚Integration‘ wird in dieser Arbeit nicht als Thema der Samariterin aufgefasst (vgl. stattdessen Teil VI – Thomas: 4.2; 7). 135 Zur ausführlicheren Behandlung von Gen 24 als Intertext vgl. Kap. 6.2. 136 Vgl. O’Day, Word, 33; Thyen, Joh, 247. 137 Vgl. Hofmann, Drama, 42. 138 Auch S. van Tilborg entfaltet die Episode hinsichtlich „der samaritanischen Gastfreundschaft“, wobei er eher intertextuell (mit Bezug auf das AT) als narratologisch argumentiert (ders., Joh, 59 f.).
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die sich zwischen Jesus und der Samariterin entspinnt, als Einladung zum mimetischen Nachvollziehen.139 4.2 Die Samariterin und die Samariter Während in 4,9 das Samariterkollektiv140 eine unbestimmte Größe ist, die mehr auf eine Volkszugehörigkeit als auf eine Figurengruppe abzielt, nimmt es in Szene 2 und 3 Gestalt an. Die Bezeichnungen für das Kollektiv sind dabei – wie so oft bei Kollektiven – nicht trennscharf. So können innerhalb der Menge aller Samariter (als Volksgruppe) die Bewohner von Sychar als Untergruppe festgelegt werden. Innerhalb von dieser existieren vier weitere Kollektive, die ggf. mit der Gesamtbewohnerschaft übereinstimmen können oder untereinander deckungsgleich sind – nämlich die Menschen, die die Samariterin anspricht, dann die ## , die daraufhin glauben, drittens die Samariter, die zu Jesus hingehen und schließlich diejenigen, die nach der Begegnung mit Jesus an ihn glauben. So variieren auch die Begriffe, die das jeweilige Kollektiv bezeichnen. Die Unschärfe in ihrer Abgrenzung gegeneinander lässt die Kollektive verschwimmen, sodass eine Fixierung nicht notwendig – vielleicht sogar gegenläufig zum Text – erscheint. Sind die vier Kollektive nicht als deckungsgleich einzuordnen, sind jeweils Gegenkollektive – z. B. die Nicht-Angesprochenen oder die Zunächst-nicht-Glaubenden – zu bilden. Schon die hier versuchte Benennung verdeutlicht in der Stützung auf Negationen, dass dies keine in der Erzählung erwähnten Kollektive sind. Sie sind hypothetische Konstrukte in der Erzählten Welt, welche der Erzähler ausklammert. Auch wenn deren Existenz angenommen werden darf, kann bei einer Betrachtung des Samariterkollektivs von ihnen abgesehen werden, da keine Beziehung zu der samaritischen Frau erkennbar ist. In diesem Unterkapitel wird von ‚den Samaritern‘ als einem Kollektiv in jeweils unterschiedlichen Schattierungen gesprochen.141 Die Samariterin steht mit diesem Kollektiv als Teil desselben und gleichzeitig als Gegenüber in Beziehung. Verbunden werden Kollektiv und Samariterin durch die widerfahrene Ablehnung durch die Juden, den gemeinsamen 139
Die Überwindung der Fremdheit kann auch mit missionarischer Ausrichtung gelesen werden. Somit ist das Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin nicht nur hinsichtlich Seelsorge und ‚Ent-Fremdung‘ mimetisch ethisch, sondern auch ein Vorbild für den Beginn einer Missionsbewegung. T. Okure zeigt diese Lesart auf und parallelisiert dafür Sz. 1 (zzgl. 4,31–38) mit Sz. 2 und 3 (vgl. dies., Approach, 174 f.). Der missionarische Impuls wird in dieser Arbeit aber hinsichtlich des Zeugnisses der Samariterin untersucht (vgl. 5.1). 140 Vgl. zum Kollektiv (insbesondere als Chor im griechischen Drama gelesen) Phillips, Samaritans. 141 Eine Analyse der Samariter als Handlungssubjekte bietet B. Olsson, wobei die Beziehung zur Samariterin als rahmende Struktur deutlich wird (vgl. ders., Structure, 157 f.). Hier wird diese Analyse nicht wiederholt, sondern dagegen die Beziehung in der Figurenkonstellation eigens entfaltet.
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Glauben, die Messiaserwartung und durch die quasinamentliche Bezeichnung. Von Seiten der samaritischen Frau ist die Beziehung ausdrücklich positiv. Dies wird bereits in ihren Pluralaussagen deutlich, in denen sie sich mit dem Kollektiv identifiziert. Ferner sind die Samariter die erste Figur, die sie nach der Begegnung mit Jesus aufsucht. Ihnen gilt das primäre (und zugleich einzige erzählte) Zeugnis von Jesus, welches im Episodenkontext ein Hinweis auf den Lebenswasserspender ist. Zudem sind die Samariter von ihr als Korrektiv hinsichtlich ihrer Erkenntnis akzeptiert, wie die Formulierung des Zeugnisses als Frage deutlich macht. Die Reaktion der Samariter auf die Frau ist ebenfalls positiv. Dass sie (als Frau oder als Ausgesonderte) nicht in der Position ist, Appelle an ihre Mitbürger zu richten, wird nirgends angedeutet. So folgen die Samariter ihrem Aufruf und glauben auf ihre Aussage hin. Letzteres wird sogar doppelt formuliert (4,39.42). Dass schließlich ihr eigenes Sehen und Erkennen das Zeugnis der Frau überbietet, bringt stärker einen Vergleich zwischen Jesus und der Samariterin zum Ausdruck, als dass es als Absage oder nachträgliche Ablehnung fungiert.142 Dieses harmonische Verhältnis ist ein Ideal für (nationalen) Zusammenhalt. Gerade der Vergleich mit ‚den Juden‘, die als zerrissene Gruppe im Joh dargestellt werden (sich in Bezug auf Jesus zerstreiten und aufspalten und sogar ihren König töten (19,14 f.19 f.)), erhebt die Samariter zum Vorbild. Die Überwindung des Bruches zwischen den Nationen, den Jesus als Jude und die Samariterin als Vertreterin ihrer Volksgruppe im Gespräch vollziehen, mündet nicht in einer Isolation der Frau aus dem Kollektiv, dem sie angehört. Stattdessen öffnet sich eine große Menge für die Botschaft der Frau und vollzieht ihre Bewegung aus der Abgrenzung heraus nach, sodass das abschließende Bekenntnis mit der Nennung des 0% nationsübergreifend formuliert ist. Das Figurenverhältnis reflektiert demnach nationalen Zusammenhalt innerhalb einer nationsübergreifenden (Glaubens-)Gemeinschaft. 4.3 Die Samariterin und Jesu Jünger Die Jünger Jesu und die Samariterin begegnen einander kaum, sprechen nicht miteinander und treten auch nicht anders in Interaktion. Bereits bei der Einführung der Frau in die Erzählung fällt der nachträgliche Hinweis auf den Fortgang der Jünger auf. Das Jüngerkollektiv ist aber nicht überflüssig.143 Sonst hätten sie, wie in dem Gespräch mit Nikodemus und in vielen weiteren 142
Nebenbei bemerkt funktioniert das Motiv des glaubenswirkenden Zeugnisses als Bindeglied zur vierten Auferstehungsepisode. Dort glaubt Thomas dem Jüngerkollektiv nicht und will selbst sehen und berühren (sinnlich wahrnehmen), hier glaubt das Samariterkollektiv aufgrund des Zeugnisses der Samariterin, lässt diesen Glauben nur durch den durch eigenes Hören und Erkennen (ebenfalls sinnliche Wahrnehmung) entstandenen ersetzen. Vgl. Teil VI – Thomas: 4.2; 6.3. 143 Gegen Painter, Quest, 202.
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Szenen, einfach verschwiegen werden können. Ihre Abwesenheit erscheint als Bedingung des Gesprächsverlaufs. Damit ist bereits hier eine Spannung zwischen beiden Figuren angelegt, die sich innerhalb der Samaria-Episode weiter entfaltet. Durch die analeptische Kommentierung (4,8) bekommt die Samariterin die Rolle der Jünger zugeschrieben. Jene sind gegangen, sie kommt – und soll die Versorgung Jesu übernehmen. So ersetzt sie die Jünger gewissermaßen. Im wechselseitigen Verhalten bei der Erstbegegnung findet sich diese vorbereitete Spannung belegt (4,27 f.). Wie das Verschwinden der Jünger wird auch ihre Rückkehr im Nachhinein berichtet. So erscheint ihr Auftreten als Beendigung des Gesprächs, obwohl sich diese gerade im Hintergrund halten. Ein Einblick in ihr Innenleben offenbart Skepsis gegenüber der Frau. In der negierten Darstellung ihrer Verhaltensmöglichkeit drückt sich eine Distanz aus. Ob diese durch Höflichkeit, Unsicherheit oder Ablehnung motiviert ist, bleibt offen. Die Reaktion der Samariterin ist ähnlich distanziert. Die Erzählreihenfolge begründet ihren Aufbruch gar mit der Ankunft und distanzierten Positionierung der Jünger. Sie sind der äußere, situative Grund dafür, dass sie nicht weiter mit Jesus redet. Diese Spannung nötigt den Leser zu einer Positionierung. Die Jünger sind als gewohnte Identifikationsfigur und in Jesu Nähe verortet grundsätzlich positiv konnotiert – zumal bislang v. a. ihre Berufung, ihr Glaube (2,11) und ihre stellvertretende Tauftätigkeit geschildert wurden. Aber gerade aus der Perspektive der Jünger kann man von der Samariterin lernen: zum einen, dass Jesu Wahl seiner Gegenüber überraschend sein und eigenen Erwartungen widersprechen kann, zum anderen, wie sie die Verkündigung Jesu vorantreibt. Führten auch einige der Jünger (Andreas und Philippus) bereits eine andere Figur zu Jesus,144 streut die samaritische Frau die Botschaft viel großflächiger. Ist Jesu Aussendung der Jünger (4,38) auf die zum Glauben an Jesus kommenden Samariter bezogen, ist mit ‚dem anderen‘, der gesät hat, eventuell die Samariterin gemeint. So gelesen ist sie den Jüngern von Jesus als Vorarbeiterin vorangestellt und in ihrem Verkündigungseifer ein Vorbild.145 Schließlich bleibt zur Beziehung der beiden Figuren noch anzumerken, dass durch die Abgrenzung der Samariterin von dem Jüngerkollektiv sie selbst nicht zu einer Jüngerin wird. Aus diesem Kollektiv ausgeschlossen bleibt sie – trotz Zeugnisgebens und Zum-Glauben-Führens – unter den Nicht-Jüngern. Ähnliches scheint für das Samariterkollektiv gegeben. Damit ist der Glaube an Jesus als Messias und Weltretter nicht an Nachfolge und 144
Beachte auch die Parallele von 1,41 und 4,25 als einzige Belegstellen für das Lexem im Joh. 145 U. Früchtel formuliert m. E. zu vorsichtig: „Die Jünger sind in ihrem Erkennen oft nicht weiter als diese Frau.“ (dies., Bibel, 418). / %%
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Jüngerschaft gekoppelt. In der Positivwertung der samaritischen Figuren ist dies dem Leser als adäquate Einstellung vorgeführt.146 Für den Leser, den das Joh zum Glauben führen möchte (20,31), werden so zwei Alternativen des adäquaten Jesus-Glaubens vorgeführt: die Nachfolge in Jüngerschaft und die Verkündigung der lebensverändernden Erfahrung. Diese dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Bezüglich der Vorbehalte gegenüber anderem Ausdruck des Glaubens weist Jesus den Jüngern die Samariterin als Vorbild aus. 4.4 Jakob und die Väter (4,12–14.20–24) Als Horizontfiguren sind Jakob und die Väter in ihrer Beziehung zu der samaritischen Frau nur einseitig analysierbar. Die familiären Bezeichnungen , 1 & -I und B 1 drücken Nähe und Abhängigkeit, nicht eine biologische Kindschaft, aus. Das Lexem ( ist hier im Sinne von ‚Vorfahr‘ oder ‚Ahn‘ gebraucht. Beide Figuren (Jakob und das Väterkollektiv) erkennt die Frau als Autoritäten an. So ordnet sie sich ihnen unter und befragt ihr Gegenüber darauf hin. Das Kollektiv ‚die Väter‘ bleibt als Größe wenig differenziert. Weder lassen sich Einzelfiguren zuordnen noch ist eine zeitliche Einordnung möglich. Nur der Aorist ( % 2 % ) weist im Gegensatz zu den folgenden Präsensformen m. E. in die Vergangenheit. Das Anbeten der Väter wird von der Samariterin aufgegriffen und legitimiert für sie richtiges Verhalten. Jakob wird ebenfalls als väterliche Referenz angeführt. Das zugehörige Personalpronomen im Plural schließt weitere Figuren in die Vater-Kind-Beziehung und das Autoritätsverhältnis ein. Denkbar ist sowohl, dass das Samariterkollektiv, als auch, dass Jesus einbezogen ist. So hat Jakob als Referenzfigur entweder eine verbindende oder eine abgrenzende Funktion. Die legendarische Erzählung der Samariterin schreibt Jakob übernatürliche Fähigkeiten zu. Diese verstärken dessen Autorität. So muss sich Jesus als Fremder an diesem messen. Beide Figuren weisen auf ein traditionsbezogenes Wertesystem der Samariterin hin.147 Die Anbindung an Figuren der Vergangenheit wirft dabei die Frage nach den Garanten für die Richtigkeit des Verhaltens auf. Auch der Leser ist gefragt, wem er die Position einer Legitimierungsinstanz gewährt. Vater Jakob und die Väter werden auf verschiedenen Ebenen als Beurteilungsinstanz eingesetzt. Letztere sind ein Verhaltensvorbild. Ihr Tun legitimiert das Handeln der Nachahmenden. Jakob hingegen wird als Maßstab für andere vorgestellt. An ihm und seinen Taten müssen sich diejenigen messen, die Anspruch auf Autorität erheben (und sei es nur die Vollmacht, Zugang zu besonderem Wasser gewähren zu 146
So kennzeichnet auch C. Bennema die Glaubensantwort der Samariterin als adäquat, benennt sie aber zugleich als Jüngerin und verknüpft beides: „her discipleship is her beliefresponse“ (ders., Encountering, 169). 147 Siehe dazu 3.2.2.
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können). Damit bestimmt er die Einstellung und das Verhalten gegenüber Dritten. Bei der Samariterin liegt darin anfängliche Skepsis gegenüber Jesus begründet. Beide Autoritäten entmachtet und überbietet Jesus. Damit hinterfragt er nicht nur das prinzipielle Festklammern an Traditionen und rückt seine eigene Position in den Vordergrund. Er setzt auch verstorbene Autoritäten zu Gunsten lebender ab. Indem er Gott gegenüber der Samariterin als Vater (ebenfalls , ( ) bezeichnet und als Ziel der Neuausrichtung angibt, relativiert er weltliche Instanzen im Vergleich mit der göttlichen. Zudem wird die geistliche und inhaltliche Dimension allen religiösen Lebens betont, die er als Messias und Heiland der Welt stärker zu bestimmen vermag als alle historischen oder legendarischen Größen der Vergangenheit. 4.5 Die Samariterin und die Männer – Beziehung und Ehe (4,16–18) Bereits mehrfach wurde auf die Anspielungen auf Beziehung und Ehe eingegangen. Einerseits durch die Betonung des Geschlechts (vgl. 3.1.1), andererseits durch Hochzeitsmetaphorik, die besonders durch die atl. Intertexte eingespielt wird, wird das Themenfeld der ehelichen (und sexuellen) Gemeinschaft in die Episode eingetragen. In der Figurenkonstellation birgt das Kollektiv ‚die Männer‘ der erweiterten Figurenkonfiguration eine Verknüpfung mit diesem Thema und ist zugleich beinahe der einzige Hinweis auf eine Relevanz innerhalb der Erzählten Welt.148 In welchem Verhältnis stehen ‚die Männer‘ und die Samariterin, wie wird die Beziehung bewertet, welche Moralvorstellungen werden so reflektiert? Sechs Männer werden in der Figurenrede genannt, wobei sie eher summarisch zusammengezählt werden, als dass sie als (gar gemeinsam agierendes) Kollektiv auftreten.149 Verbunden sind die Männer durch ihre Beziehung zu der Samariterin. Fünf der Beziehungen sind laut Jesus in der Vergangenheit verortet und lassen sich als Ehen einordnen (vgl. 2.1). In der Gegenwart besteht keine von ihnen fort. Die sechste erscheint gegenwärtig, ist aber durch die Formulierung R @ % % " ( kaum greifbar (s. u.). Die zentral positionierte und zugleich überraschende Fremdoffenbarung der Beziehungen der Samariterin durch Jesus haben wirkungsgeschichtlich breite Aufnahme gefunden, die meisthin mit einer moralischen Abwertung der samaritischen Frau („Flittchen“150) einherging. Solche Einordnungen betonen 148
Lediglich durch die Gruppierung von Eltern als Kollektiv (6,42; 9,18–23) und durch die Ehebrecherin (8,3 f.) wird Ehepartnerschaft als sozial-kulturelles Setting eingespielt. 149 Zum Kollektiv (inklusive Überlegungen zu ihrem Verhältnis zur Samariterin und ihrer Einbettung in die soziale Struktur der Erzählten Welt sowie symbolischer Deutungen) vgl. Hunt, Men. 150 Unter diesem Ausdruck subsummiert L. Schottroff eine Linie innerhalb der christlichen Rezeption (dies., Samaritanerin, 115). Vgl. auch Conway, Men, 116 f.; Zimmer-
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die sexuelle Komponente der Beziehungen. Abgesehen von 4,17 f. ist Sexualität innerhalb der Erzählten Welt des Joh nahezu ausgeklammert.151 Auf metaphorischer Ebene können selbstredend viele Begegnungen und Handlungen erotisch konnotiert gelesen werden.152 Dies sei hier aber nicht vertieft. Dass Sexualität die Triebfeder für den ‚Männerwechsel‘ der Samariterin ist, wird zwar nicht ausgeschlossen, ist aber eine einseitige, m. E. dem gesellschaftlichen Umgang der Leser mit ‚Sexualität‘ geschuldete Wahrnehmung. Als Alternativen wurden bereits mehrfache Verwitwung oder Scheidung durch die Männer erwogen. In jedem Fall wird die gesellschaftliche Bedeutung einer Ehe in einer rein sexuellen Lesart unterschätzt. Die Bewertung der Beziehung zwischen der Samariterin und den Männern verläuft subtil und uneindeutig. Sowohl Jesus als auch der Erzähler nehmen keine explizite Wertung vor. Jesus lobt die Ehrlichkeit der Frau und nimmt keinerlei Kritik an ihrem Verhalten vor. Wird Jesu „ + "# > A “ ironisch gelesen, ist damit primär ihre Lüge aufgedeckt und ihr Sprechverhalten abgewertet. Eine Übertragung auf den Inhalt der Aussage – und damit auf ihre Beziehungen – ist dadurch nicht zu plausibilisieren. Auf dreifache Weise wird eine Wertung erzählungsintern impliziert: zum einen durch das Sprechen der Frau über die Beziehungen, zweitens durch Jesu Formulierung und drittens durch den Gesprächsverlauf, welcher einer Negativdeutung entgegensteht. Zum Ersten: Die Frau verschweigt die Details, die Jesus ausspricht. Zwar war durch Jesu Appell keine Rechenschaft über ihren Ehestand in Gegenwart und Vergangenheit gefordert, dennoch kann ihr Schweigen darüber – und ihre Erkenntnis Jesu als Prophet aufgrund dieses geheimen Wissens – als schambehaftet und gesellschaftlich nicht akzeptiert gedeutet werden. Zudem greift sie Jesu Aussage nicht auf und meidet den Gesprächsinhalt. Stattdessen führt sie ein neues Thema in den Dialog ein, was diese Deutung stützt. Auch ihre Rede von ihren Taten gegenüber den Samaritern drückt eine Distanzierung und damit eine Negativwertung des Verhaltens aus. Die Wahrnehmung der Frau, dass Jesus ihr Tun aufgedeckt habe, bestimmt dabei den Eindruck des Lesers. Durch das sozial-kulturelle Setting wird diese Wertung gestützt. So sind Wechsel des Lebenspartners in den wenigen Nennungen (Elternpaare in 6,42; 9,2.18) nicht vorgesehen. Intertextuell ist im NT Ehe als lebenslanges Konzept vorgestellt153 und Luise Schottroff erschließt aus christlichen und mann/Zimmermann, Brautwerbung, 40. Eine kritische Sicht dieser Wertung begründen Letztere im Verweis auf genaue Textbeobachtungen und zeitgenössische (u. a. rabbinische) Literatur (vgl. a. a. O., 43 f.). 151 Lediglich die textkritisch sekundäre Szene in 8,3–11 thematisiert Ehebruch (was wohl Sexualität impliziert). Vgl. McWhirter, Bridegroom, 68. Zur ‚ehebrecherischen‘ Frau in Joh 8,3–11 siehe ferner Phillips, Woman. 152 Bspw. legt R. Zimmermann in Joh 4 „Wasser als Liebessymbol“ aus und führt atl. Belegstellen an, die auf Intimkontakt hinweisen (ders., Christologie, 144). 153 Vgl. z. B. Mk 10,9 par.; Röm 7,2 f.
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römischen Quellen in der Antike eine Diskriminierung von Frauen, die Kettenehen eingingen.154 Zum zweiten benutzt Jesus gewissermaßen eine Antiphrase: + R @ % % " ( . Indem H auf eine männliche Figur weist, die der Frau mit dem als zugehörig zugeordnet wird, spricht das Nicht-ihr-Mann-Sein dieser Figur die Eigenschaft ab, die sie eigentlich auszeichnet. In diesem Sinne durchbricht die Beziehung zwischen der Samariterin und diesem Mann dessen erzählungsbedingte Identität. So gesehen ist sie destruktiv und folglich abgewertet. Drittens ist der Kontext, in dem das Männerkollektiv genannt wird, als Hemmnis in Bezug auf die Lebenswassergabe zu lesen. Anstatt dass Jesus – trotz vorhergehender Verheißung – der Samariterin das lebendige Wasser gibt, thematisiert er ihren Beziehungsstatus – zunächst durch den Appell, den (Ehe-)Mann zu holen, dann durch die Darlegung ihrer gesamten Geschichte. Sind ihre Beziehungen also ein Hinderungsgrund für die Umsetzung von Jesu Angebot (und lassen das Zurücklassen des Kruges, das Nicht-Aufsuchen eines Mannes und das Sprechen der Frau von vergangenem Verhalten auf eine erfolgte Wasserübergabe und Lebensänderung155 schließen), ist damit eine Negativwertung ausgedrückt. Die oftmals intuitiv gezogene Wertung scheint also im Text konfiguriert zu sein. Wird nicht die Samariterin als Figur, wohl aber ihre Beziehung zu den Männern abgewertet, spiegelt dies ein Beziehungsethos wider. Zum einen ist eine Ehe auf Dauer und nicht auf einen Wechsel angelegt. Unerheblich ist dabei, ob gesellschaftliche Not, sexuelle Begierde oder etwas anderes einen solchen auslöst. Ebenfalls offengelassen wird, ob der Wechsel wegen einer moralischen Norm oder wegen dem Ergehen der Beteiligten ungut ist. Für Ersteres spricht die Lesart des Beziehungsstatus als Hinderungsgrund für die Lebenswassergabe, für Letzteres bietet Empathie mit der Frau mehr Raum als der Text selbst Anhaltspunkte. Zum anderen wird eine nicht-eheliche Beziehung verworfen. Die Identität des sechsten Mannes ist dadurch gebrochen, dass die Samariterin ihn hat, ohne dass er ihr zugehörig erscheint. Die Beziehung zu diesem Menschen ist in der Ambivalenz zwischen Haben (4,17) und Nicht-Haben (4,18) nicht intakt. In welcher Form die Abkehr von dem Beziehungsstatus erfolgen soll, wird nicht festgelegt. Die Frau geht eher einen Schritt in Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung ohne Partner als in die Wahl einer stabilen Ehe-Beziehung. Letztere ist eventuell im Glauben aufgehoben (vgl. zur symbolischen Lesart 6.2). Vorgeführt und angeregt ist zu dem Thema Ehe am Beispiel der Samariterin und ihren Beziehungen eine Veränderung hin zur Stabilität.
154 155
Schottroff, Samaritanerin, 120. „[T]he focus of her life shifts from eros to mission“ (Attridge, Woman, 268).
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5 Handlungen der Figur – Handlungsethik 5 Handlungen der Figur – Handlungsethik
Die Handlungen der Samariterin sind in erster Linie Sprechhandlungen. So sind von den dreizehn Verben auf erster Erzählebene, deren Subjekt sie ist, neun verba dicendi. Neben der prinzipiellen Gesprächsbereitschaft (vgl. 3.2.1) ist innerhalb dieser Verben unter den häufigen Einführungen von Figurenrede (insbesondere durch # S das Verb hervorzuheben. Lassen sich die anderen Sprechhandlungen (abgesehen von 4,17) nur inhaltlich als Frage, Behauptung, Einwand, Selbstoffenbarung oder Verweis einordnen, ist ihre letzte wiedergegebene Figurenrede strukturell klassifiziert. Da der Dialog zwischen Jesus und der Samariterin sehr handlungsbezogen ist, werden auch die in Figurenrede angesprochenen Handlungen in diesem Abschnitt hinzugezogen. 5.1 Bezeugen – die überzeugende Glaubensbotschaft (4,29.39) / ist ein Zentrallexem. Bereits im Prolog wird es (in 1,7) als zweites Verb figuraler Handlung eingeführt. So reiht sich die Samariterin nach Johannes, dem Täufer, in die Menge der Zeugen ein.156 (Ferner sind insbesondere Jesus, der Vater, Jesu Jünger insgesamt (15,27) und der Geliebte Jünger als Zeugen zu nennen.) Besonders an ihrer Zeugenrolle ist, dass sie nicht aufgrund einer zugeschriebenen Autorität oder einer Beobachtung für Jesus eintritt, sondern ihre persönlichen Erfahrungen referiert. Sie gibt mit einem Verweis auf ihre Lebensführung ein glaubhaftes Zeugnis, was seine Wirkung nicht verfehlt. Kann Lazarus als ähnlicher Zeuge klassifiziert werden (12,9–11), sticht die Samariterin im Vergleich durch ihre Aktivität und Sprachfähigkeit hervor. Sie ist deutlich aktiver, indem sie den Kontakt zu anderen sucht, während Lazarus diesbezüglich nur als Objekt erscheint. Ferner verweist sie ausdrücklich auf ihre Taten (4,39: O % ), während bei Lazarus das Ergehen im Vordergrund steht. Jener wird auch nicht explizit als Zeuge benannt, sondern wirkt lediglich glaubensweckend ohne eigenes Zutun. Die Zeugnisse im Joh qualifizieren sich durch ihr Objekt (als Akkusativ oder mit H oder angefügt). Die Samariterin weist auf Jesus hin, woraus sich eine Positivwertung ihrer Person ergibt. In ihrer Formulierung stellt sie mit Jesus als Subjekt der Handlung diesen in den Vordergrund und tritt hinter 156
Die Bedeutung der Zeugen-Figuren im Joh für die Subjektkonstitution untersucht K. Dronsch (mit Schwerpunkt auf Jesus, Johannes, den Parakleten und den Geliebten Jünger) und wertet „die Figur des Zeugen […] als eine soziale Rolle, die von ethisch-politischen Bedingungen und Anerkennungsmechanismen geprägt ist“ (dies., Zeugen, 210; vgl. a. a. O.). Ihr Verständnis vom Zeugen als „Keimzelle von Gemeinschaft“ (a. a. O., 210) und seine zugleich verbindende und distanzschaffende Funktion wird hier nicht auf die Samariterin appliziert.
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ihn zurück. Auch der Imperativ in ihrer Erstansprache der ‚Mitbürger‘ (Szene 2) zielt auf Jesus (grammatikalisches Objekt). In beiden Figurenreden nutzt sie die Aufmerksamkeit, die sie als Sprechende bekommt, um auf Jesus hinzuweisen und dessen Bedeutsamkeit mit ihrem eigenen Erleben zu unterstreichen. Letzteres ist nicht Ausdruck ihrer Mitteilsamkeit, sondern dem Bezeugungszweck untergeordnet. Ihre Handlung lässt sich so als Missionshandlung lesen.157 Die spätere Reaktion der Samariter (4,42) entspricht genau ihrem Zeugnis: Sie ist so weit hinter Jesus zurückgetreten, dass ihre Zeugenschaft auf eine zeitlich begrenzte Funktion reduziert werden kann. Die Bewertungsrichtung verläuft hier eher von der Handlung auf die Figur als umgekehrt. Die Positivwertung des Bezeugens wird in dieser Episode aufgegriffen und dient der Aufwertung der Samariterin. So wird ZeugnisGeben zwar positiv aufgenommen und in einer vorbildlichen Handlung veranschaulicht, der ethische Impuls erfolgt jedoch stärker über die Art und Weise der Ausführung als durch die Handlung an sich. Wie auch Johannes oder der Geliebte Jünger innerhalb der Erzählten Welt wirken, ist der Leser zum mimetischen Bezeugen aufgerufen. Die samaritische Frau ermutigt dabei zu einem großen Adressatenkreis und einem persönlichen inhaltlichen Bezug.158 Als Teilhaberin des Kollektivs spricht sie zu Menschen, zu denen sie bereits in Beziehung steht. Dennoch ist keine sorgfältige Einzelauswahl der Adressaten vorgenommen. Durch die Kollektivbenennungen „ " “ und „ > L 0# ## “ (4,28.39) wirkt ihre Sprechhandlung auf einen großflächigen Adressatenkreis gerichtet. Im Erzähltempo kommt zudem eine Unmittelbarkeit zum Ausdruck. Alle, die der Frau begegnen, scheinen die Botschaft zu erfahren. Das Zeugnis für Jesus ist keine Geheiminformation, die Ausgewählten zukommt, sondern eine Nachricht, die breit gestreut werden kann. Darüber hinaus verwendet die Samariterin in ihrem Hinweis auf Jesus einen Verweis auf ihr eigenes Handeln und ihr Erlebnis der Begegnung mit Jesus. Nicht Jesu Verheißung der Einheit der (jüdischen und samaritischen) Anbeter oder sein Lebenswasserangebot dient ihr als Referenz. Sie greift den persönlichsten Moment aus dem Dialog heraus – den Teil, der sie als Person am stärksten betrifft. Dies ist insofern erstaunlich, als dieses Thema in ihrem Gespräch mit Jesus (insbesondere bei der Analyse ihrer Redebeiträge) quantitativ geringen Anteil hat. Zeugnis-Geben im Sinne der Samariterin bedeutet, sich als Person einzubringen und eigenes Erfahren und Erleben zu spiegeln. Nicht die theologische oder geistliche Erkenntnis, sondern die lebenspraktische Erfahrung und Veränderung bieten die Grundlage für ein wirksames Zeugnis.
157
Vgl. 2.2; 2.3; 4.1. C. Bennema kennzeichnet das Zeugnis der Samariterin als „an act of courage“ (ders., Virtue, 177). 158
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5.2 Offenheit für Entscheidungswechsel Die übrigen, nichtsprachlichen Handlungen der Samariterin verknüpfen Bewegung und objektbezogene Handlung. Dabei entsteht eine kontrastierende Paarung. Sie kommt, um zu schöpfen und lässt den Krug zurück, als sie wieder weggeht. Sowohl der Weg zwischen Stadt und Brunnen als auch der Krug sind als Handlungsobjekte betont. Bezeichnenderweise werden diese beiden Elemente in den Sprechhandlungen thematisiert. Die wertfreie Schilderung ihrer Ankunft unter Offenbarung ihrer Handlungsintention wird in ihren Sprechhandlungen ausgeführt. Der Krug und ihre Schöpfmöglichkeit dienen ihr als Mittel der Überlegenheit gegenüber Jesus. Den Weg zum Brunnen klassifiziert sie hingegen als unliebsam. Nicht zwangsläufig, aber eventuell ist der Schöpfakt, der die Motivation für das Zum-Brunnen-Gehen angibt, in die Negativwertung der Samariterin eingeschlossen. Das Gespräch mit Jesus – oder gar Jesus selbst – kehrt die ursprünglichen Planungen der Samariterin (und ihre Einstellung zu Jesus sowie zur Wegstrecke) um. Ohne ihr Schöpfungsvorhaben umgesetzt zu haben (oder zumindest ohne dass es für sie noch relevant ist), tritt sie den Rückweg in die Stadt an. Ihr Machtinstrument, den Krug, überlässt sie Jesus und den Jüngern. Den Weg, den sie gerade meiden wollte, geht sie dennoch (und mutmaßlich sogar besonders schnell). Anschließend an ihre Verkündigung legt sie die Strecke zwischen Dorf und Brunnen evtl. sogar ein drittes Mal zurück.159 Sie ist Jesu Intentionswechsel gefolgt, hat seine Umwertung übernommen. Sie ändert ihre Einstellung von Skepsis (4,11) zur angeratenen Anfrage (4,15).160 In der Offenheit, vormalige Planungen zu revidieren, von intendiertem Tun abzuweichen, Machtansprüche fallen zu lassen und für vormals abgelehnte Haltungen eine neue Motivation zu finden, wird sie als Vorbild dargestellt. 5.3 Gutes Sprechen – Die Samariterin als Wahr-Sagende (4,17 f.) Die einzige Handlung der Samariterin, die explizit bewertet wird, ist ihre Sprechhandlung in 4,17. Jesus bezeichnet diese als #1 . Das Demonstrativum in Jesu Figurenrede schränkt die Wertung auf die explizite Aussage der Frau ein. Das Wertungswort #1 stuft sie somit nicht prinzipiell als GutSprechende ein. Jedoch ist ihre Sprechhandlung in 4,29.39 narrativ als wirkungsvoll – und damit nicht unbedingt als #1 im Sinne der Verwendung in der Erzählten Welt (s. u.), aber gemäß der Bewertungsschemata des Joh als gut – dargestellt. Auf ihr Wort hin glaubt ein (großes) Kollektiv an Jesus. Das Adverb #1 wird im Joh viermal verwendet und ausschließlich mit verba dicendi verbunden. In 8,48 führt das Judenkollektiv einen Vorwurf an Jesus damit ein („Sagen wir nicht gut ( #1 ), dass…?“), in 13,13 bezeich159 160
Vgl. dazu die Überlegungen zu 4,30 in 2.2. Vgl. Painter, Quest, 203.
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net Jesus die Jüngeranrede an ihn als Herrn als #1 und in 18,23 fordert Jesus Rechenschaft von dem Knecht, der ihn zuvor schlug, indem er sein eigenes Reden als #1 einordnet, sofern der Knecht es nicht als 1 begründen kann. So sind gutes und schlechtes Sprechen einander gegenübergestellt. An allen Belegstellen ist der Inhalt bewertet und nicht die Art des Vorbringens der Worte. Auch Jesu Wiederholung der Worte der Samariterin mit gleicher Wortwahl und veränderter Satzstellung hebt den Inhalt gegenüber möglichem Ausdruck hervor. Er ahmt ihren Ausspruch und ihre Sprechweise nicht nach, sondern spiegelt den Inhalt. Das Bewertungskriterium für gutes Sprechen ist bei Betrachtung der Lexemhäufungen die Angemessenheit der Darstellung eines Sachverhalts.161 Das gute Sprechen wird also anhand der Sprechhandlungsbezogenheit eingestuft. Damit erscheint es als synonyme Formulierung zu Jesu + "# > A (4,18): Wahrheitsgemäßes Sprechen ist gut. So ist auch der Knecht in 18,23 einer Fehleinschätzung überführt. Damit wird die Beziehungsebene zwischen Sprecher und Adressaten ausgeklammert (sofern sie nicht Inhalt des Gesprächs ist, wie in 13,13). Nicht die Situation und das Gegenüber dienen der Bewertung, sondern die Übereinstimmung mit einem Sachverhalt. Beruft sich in 18,22 der Knecht auf den Status des Hohepriesters und tadelt Jesu ausweichende, freche Antwort gegenüber diesem, wird dies als Bewertungsmaßstab abgelehnt. Wurde ‚Wahrheit‘ auch hinsichtlich der Eigenschaft Pfiffigkeit (3.2.3) als Maßstab profiliert, verlangt dieser Begriff noch eigens Entfaltung. Die Frage nach der Wahrheit nimmt im Joh eine Zentralstellung ein, die in Jesus eine personifizierte Darstellung findet.162 Entsprechend des Umfangs in der Gesamterzählung sei diesbezüglich hier nur ein Schlaglicht auf Lexem und Themenkomplex geworfen, der von der Samariaepisode in das Gesamtbild eingetragen wird.163 Über Sprechhandlungen wird, von der Samariaepisode abgesehen, nur in Bezug auf drei Figuren innerhalb der Erzählten Welt nach dem Kriterium ‚wahr‘ bzw. ‚wahrhaftig‘164 geurteilt. Zentral ist die Diskussion um die Wahrheit des Zeugnisses Jesu und deren Betonung (5,31 f.; 8,13–18.45 f.; 16,7; 18,37). Darüber hinaus werden Johannes, dem Zeugen, von Jesus (5,33; 10,41) und dem anonymen Überlieferer der Erzählung vom Erzäh-
161
Besonders deutlich wird dies in 13,13, wo Jesus seine Bewertung begründet: T U, % # V U, 2 V ? #1 # U . ? W 162 Vgl. 1,17; 14,6. 163 Zu dem Spannungsfeld zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge vgl. Teil III – Petrus: 5.3. 164 Die beiden Wörter ‚wahr‘ und ‚wahrhaftig‘ werden hier synonym verwendet, da sie in Bezug auf Sprechhandlungen m. E. das gleiche bedeuten und auch die griechischen Lexeme "# ( und "# 0 im Joh (zumindest partiell) synonym verwendet werden (s. u.). Beide sind zudem positive Wertungswörter. 3
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ler(kollektiv) (19,35; 21,24) wahrhaftiges Bezeugen attestiert.165 Begrifflich variieren die Formulierungen zwischen Substantiv- und Adjektivverwendungen: "#( , "# ( und "# 0 .166 Bei dieser Zusammenschau wird i. d. R. nicht eine Einzelaussage einer Figur, sondern stets ihre Glaubwürdigkeit insgesamt diskutiert. Der Erzähler und sein Protagonist argumentieren für eine Vertrauenswürdigkeit der genannten Figuren. Nach diesem Überblick stellt Jesu Bewertung der einzelnen Sprechhandlung der Samariterin ein Unikat im Joh dar. Jesus bestätigt der Samariterin, dass sie wahr ("# ( ) redet, als sie vorgibt, keinen Mann zu haben. Für die Sprechhandlung der Samariterin ist die Klassifizierung als gutes (4,17: #1 ), wahrhaftiges (4,18: "# ( ) Sprechen überraschend, denn Jesus legt die Unvollständigkeit ihrer Aussage offen. Sofern Jesu Aussage nicht als Ironie eingeordnet wird, ist Vollständigkeit kein Kriterium für Wahrheitsentsprechung. Wer gut redet, gibt einen Sachverhalt korrekt wieder, beantwortet aber nicht zwangsläufig eine Frage richtig, spricht nicht ausführlich und kann durchaus nur einen Ausschnitt präsentieren. Wenn Wahrheit nicht an Vollständigkeit gebunden ist und Aussagen, wie die der Frau gut geheißen werden, die eine Fehleinschätzung des Gegenübers provozieren, ist damit Sprechenden ein großer Freiraum in der Informationsweitergabe zugestanden. Ein entsprechendes Ethos läuft Gefahr, mit Verkürzungen und täuschenden Teilwahrheiten die Realität verzerrt darzustellen. Ggf. ist vor einer Universalisierung von Jesu Bewertung doch die Situation hinzuzuziehen. Dafür spricht die zweite Belegstelle für die Bewertung einer Aussage als wahr, die sich in die Samariaepisode eingebettet – in Jesu Gespräch mit seinen Jüngern – findet. In 4,37 klassifiziert Jesus einen Ausspruch als kontextuell wahr ("# 0 ). Durch das 2 G wird der situative Kontext betont, der dem Ausspruch zur Gültigkeit verhilft. Gibt es eine situative Legitimation dafür, die ‚Halbwahrheit‘ der Samariterin (und Jesu Ausweichen vor einer direkten Antwort in 18,20 f.) als „gut gesprochen“ einzuordnen? Nach der soziostrukturellen Figurenkonstellation sind Jesus und die Frau einander fremd. Eine mögliche Legitimation wäre folglich, dass die Samariterin mit ihrem „ @ 5 “ versucht, ihre Privatsphäre vor einem Fremden zu schützen. Jesu Ausweichen in 18,20 f., das er nachträglich als #1 verteidigt, ist angesichts von Bedrohung, Gefahr und Gewalt gerechtfertigt. Unter Berücksichtigung der Situation sind diese Passagen also 165
Ferner formuliert Jesus in seinem Gebet (17,17), dass das Wort des Vaters wahr ist, wobei diese Aussage durch das Lexem #0 ggf. wieder auf die Personifizierung der Wahrheit durch Jesus und nicht auf das Sprechen des Vaters als Figur hinweist. Hier wird dieser Einzelbeleg ausgespart. 166 Das Adverb "# 1 wird nicht in Bezug auf den Wahrheitsgehalt von Sprechhandlungen verwendet.
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keine bedingungslose Rechtfertigung für die Proklamation von beliebigen Teilwahrheiten, sondern ein Vorbild für situationsgebundene Reaktion, die Lügen ablehnt, aber den Schutz des Sprechenden über Vollständigkeit und Direktheit anordnet. 5.4 Der moralische Appell: Konkrete Reflexionsanregung statt prinzipieller Vorschrift Die größte Leerstelle, die sich zugleich auch wirkungsgeschichtlich am stärksten entfaltet hat,167 ist wohl die nicht ausgeführte Beziehungsvergangenheit der Frau. Erzählerisch ist diese in ihrer Zentralpositionierung, mit ihrem Überraschungsmoment, mit der großen Offenheit an möglichem Ausdruck und der Referenz für die Propheten- und spätere Messiaserkenntnis der Samariterin wirkungsvoll inszeniert. Auch das Zeugnis der samaritischen Frau ruft ihre Vergangenheit noch einmal in Erinnerung. Dort betont die aktive Beteiligung der Frau und schließt die Möglichkeit eines schicksalhaften Erlebens aus.168 Was der genaue Inhalt des Machens ist, bleibt eine Leerstelle, da Jesus das Getane der Samariterin innerhalb des Gesprächs kaum anspricht. Die einzigen auf die Vergangenheit zielenden Verben in 2. Person Singular in Jesu Figurenrede sind % , : und A .169 Letztere dienen jedoch der Bewertung der unmittelbar vorausgegangenen Sprechhandlung, nicht der Offenbarung von Unbekanntem. Als Grund für seine Messianität fallen beide deshalb aus. Inwiefern ‚Männer-Haben‘ als Tat aufgefasst werden kann, bleibt dem Leser überlassen. Hier sei allgemein der Partnerwechsel in ihrer Beziehungsführung als Verhalten betrachtet. Das Zeugnis der samaritischen Frau verlagert dieses in die Vergangenheit und erklärt es zum abgeschlossenen Teil ihrer Biografie. Sie sucht ihren aktuellen, unehelichen Mann nicht erneut auf. Ihr Handlungsmuster, welches sich im Wechsel der Partner ausdrückte, wird durchbrochen. Nach dieser Lesart tritt eine Verhaltensänderung ein. Die Samariterin hat dabei die Relevanz des eigenen Tuns selbst erkannt und doppelt zum Ausdruck gebracht (4,29.39). Eine Aufforderung zur Handlungsänderung ist in Jesu Worten höchstens impliziert. Er fordert gerade keine Rechtfertigung der Frau ein. Durch das Aufzeigen eines Mitwissers bezüglich all ihren Tuns und der Aufforderung, 167
Vgl. 4.5. L. Schottroff schließt stattdessen, dass sie die „gesellschaftliche Verurteilung“ akzeptiert hat und sich in ihrem selbstbewussten Zeugnis daraus befreit (dies., Samaritanerin, 121). Da sich innerhalb des Textes weder Anzeichen für die Verurteilung der Frau durch andere noch für ein Verfallen in eine vom sozial-strukturellen Setting vorgegebene Rolle finden, ist diese (durchaus sinnstiftende Lesart) als Metabewertung einzuordnen. 169 Die Anschuldigung des Anbeten des Unbekannten (im Plural: % ) wird weder von einer Erkenntnis der Samariterin gefolgt noch ist ein kollektives Tun im Zeugnis der Samariterin angesprochen. Somit entfällt diese Handlung als Füllung der Leerstelle. 168
5 Handlungen der Figur – Handlungsethik
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ihren Mann zu holen, der die Samariterin nicht entsprechen kann, wird dennoch eine Relevanz des Handelns für die geistliche Dimension und (konkret) den Erhalt des Lebenswassers deutlich. Dieser Gedankenprozess wird nicht argumentativ dargelegt, sondern angeregt. Jesu Mitwisserschaft erlebt die Samariterin aber keineswegs als Bedrohung, die sie verängstigt.170 Ihre Botschaft an die Bewohner Sychars lautet dementsprechend nicht: „Passt auf, was ihr tut. Es gibt einen, der weiß alles.“ Sie wird zur Handlungsänderung ermutigt und bezieht ihre Erfahrungen nur auf sich. Jeder Hörer ist aufgefordert, eigene Schlüsse zu ziehen. Entsprechend richten sich Jesu (explizite) Appelle zum Nicht-mehr-Sündigen (5,14; 8,11) stets an sein direktes Gegenüber. So betrifft der Appell zur Änderung immer nur die angesprochene Person (die Samariterin und den Leser) und gilt nicht für Dritte (die Männer der Frau oder die Samariter und die Personen im Umfeld des Lesers). In diesem Sinne wird eher eine Verhaltensanfrage als moralischer Appell an konkrete Personen gerichtet als eine prinzipielle Verhaltensnorm aufgestellt. Wird dies als metaethisches Konzept verstanden, bietet es eine Erklärung für den Mangel an prinzipienethischen Aussagen, den Exegeten des Joh vielfach hervorgehoben haben.171 Das Joh präsentiert keine konsistente Normenhierarchie, kommuniziert kein Verhaltensreglement und liefert keine ethischen Argumentationsketten. Stattdessen werden narrativ und situationsbezogen Verhaltensweisen vorgeführt, Verhaltensänderungen nahegelegt, Werte eingeordnet und moralische Anfragen gestellt. Der moralische Appell des Joh zielt auf eine Verhaltensreflexion des Lesers, nicht auf die Präsentation eines geschlossenen ethischen Systems. 5.5 Aktivität Ausgehend von der Analyse der Handlungssubjekte gerät das Aktivitätsverhältnis innerhalb der Figurenrede in den Blick. War der Wechsel des Fokus zwischen der Samariterin und Jesus in der Analyse der Dialogstruktur deutlich aufgefallen, spiegelt sich dies inhaltlich vor allem in dem Motiv des Wassergebens. Ist die Rollenverteilung situativ (und ggf. auch gesellschaftlich) eindeutig festgelegt, wird diese hinterfragt und umgedreht. Mit dem Krug ausgestattet und von niedrigerem sozialen Status wird die (heimische) Frau zunächst beauftragt, Jesus (als Mann und Gast) mit Wasser zu versorgen. Dieses Setting wird zwar eingeführt, die Handlung selbst jedoch nicht durchgeführt. Vielmehr nutzt Jesus die erste Gelegenheit, um die Rollen zu vertauschen. Er nimmt die Position des Wasserspendenden ein. Das Durch170 Jesus tritt selbst dann nicht als drohend in Erscheinung, wenn er in Parallele zu Pilatus (vgl. 2.1) als Richter und Urteilsfällender betrachtet wird. Beachte zur Richtermetaphorik insbesondere Jesu Zuspruch in 12,47: „Denn ich kam nicht, damit ich die Welt richte, sondern damit ich die Welt rette“. 171 Vgl. Teil I – Einleitung: Kap. 2.
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brechen der sozialen Schranken wurde bereits als bedeutsames Thema dieser Episode verdeutlicht.172 Als Parallele kann 13,4–17 gelten.173 Auch wenn dort Füße gewaschen und nicht Getränke weitergegeben werden, sind die Szenen über das Motiv des Wassers, die Heilsmetaphorik und die Aufsprengung des sozialen Settings verbunden. Dort wird der hier angebotene Rollentausch narrativ durchgeführt und im Dialog zwischen Simon Petrus und Jesus diskutiert. Beide Szenen lehren die Relativität sozialer Normen und veranschaulichen die Aktivität Jesu. Obwohl Jesus die Samariterin implizit und explizit mehrfach zum Handeln auffordert, bleibt er die aktivere Figur. Für eine geistliche Dimension wirkt dies entlastend, da Jesus (und sogar Gott (4,23)!) die Schaffenden und Wirkenden sind. Somit kann richtiges Handeln, wie die Samariterin es vorführt, aus einer entlastet, befreiten Grundhaltung heraus vollzogen werden. In diesem Sinne wird hier die Grundlage einer Ethik gelegt, die die Kraft und Motivation für menschliches Handeln aus Jesu bzw. dem göttlichen Handeln schöpft.
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik 6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
In diesem Kapitel wird schließlich noch der symbolische Gehalt der Samariterin aufgefächert. Im Vergleich zu ihrer Charakterisierung, ihren Beziehungen und ihren Handlungen fällt dieses Unterkapitel kurz aus.174 Diese Gewichtung spiegelt eine realistische Figurendarstellung wider – „she is certainly no cardboard stereotype.“175 In den folgenden beiden Abschnitten wird die samaritische Frau einerseits als Inbegriff einer Sinnsuchenden verstanden, was besonders durch die Durstmetapher angeregt wird, zum anderen wird die vor allem durch atl. Intertexte eingetragene Brautmetaphorik ausgewertet.
172
Vgl. Kap. 3.1.1; 3.1.2. Vgl. zur ausführlichen Analyse Teil III – Petrus: 2.3. 174 Im Sinne des 4. Ansatzes von R. Zimmermanns impliziter Ethik (vgl. Teil I – Einleitung: 1.3.2) ließe sich in diesem Kapitel auch das Wertesystem der Episode aufgreifen, das H. Boers entfaltet (vgl. ders., Mountain, 109–113). Da seine Ergebnisse allerdings auf eine semiotische und nicht auf eine narratologische Analyse aufbauen, sei es bei den bereits gegebenen Hinweisen in 3.1.2, 4.1 und 6.1 belassen. 175 Stibbe, John, 66. Wenn M. W. G. Stibbe in Szene 2 und 3 eine Zeichnung als „representative character“ behauptet (ebd.), wird dieser Einschätzung insofern nicht gefolgt, als eine symbolische Lesart einzelner Handlungen (wie Stibbe sie präsentiert und wie sie auch in der hier vorgestellten Interpretation vielfach durchgeführt wurde) nicht auf die Darstellung der gesamten Figur in einem Erzählabschnitt generalisiert wird. 173
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
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6.1 Durst und Leben (4,13–15) Eine der zentralen Empfindungen der Szene 1 ist Durst.176 Zunächst nur implizit in dem Schöpfvorhaben der Samariterin und Jesu Bitte um Wasser eingespielt, wird es in 4,13–15 mehrfach benannt. Durst ist eng mit Verlangen oder Sehnsucht verbunden. Auf Durst hin muss notwendigerweise eine Handlung erfolgen. So wird Jesu Selbstoffenbarung am Kreuz (19:28 „Ich dürste“) als Appell aufgefasst und ihm etwas Trinken (Essig) gereicht. Auch die übrigen Belegstellen von 4 im Joh sind mit dem zwingenden Bedürfnis verbunden, etwas zu trinken. Durst ist eine negative Empfindung, die beseitigt (und zwar gelöscht) werden soll. Auf metaphorischer Ebene stellt Jesus sich als wirklicher und dauerhafter ‚Durstlöscher‘ dar. Wie Jesus in 6,35 den an ihn Glaubenden niemals wiederkehrenden Durst verheißt und in 7,37 die Durstigen zum Trinken zu sich ruft, begegnet er auch der Samariterin und bietet ihr lebendiges Wasser an. Die Deutung von lebendigem Wasser bleibt dem Leser überlassen. Das lebendige Wasser kann bspw. mit einem erfüllten Leben, Gottes Nähe (vgl. Ps 42,2 f.), einer übernatürlichen Kraftquelle, dem Geist (vgl. 3,34),177 mit Lebenssinn (z. B. durch die Aufgabe, auf Jesus hinzuweisen178) oder mit Glauben assoziiert werden. Auf metaphorischer Ebene stillt es eher ein seelischpsychisches als ein körperliches Bedürfnis. Es ist ein Bedürfnis, was Jesus nicht hat, die Samariterin aber verspürt – ggf. ohne es zu wissen. Dass bereits in ihrem Schöpfvorhaben (4,7a) zum Ausdruck kommt, dass sie Lebensdurst hat,179 ist nur durch eine stringente Übertragung der Wassermetaphorik zu lesen. Angesichts der Verortung am Brunnen und Jesu nicht metaphorischer Redeeröffnung ist dies kaum als primäre Lesart zur Charakterisierung der Samariterin heranzuziehen. Was jedoch bietet Jesus ihr, wenn er ihr lebendiges Wasser verspricht? Welches Verlangen der Frau möchte er stillen, sofern nicht das körperliche Empfinden gemeint ist? Mit ‚Durst‘ geht gewisserma176
Eine interessante (wenngleich Theologie-kritische (Theologie als Wissenschaft)) psychoanalytische Interpretation der gesamten Samaria-Episode legen F. Dolto und G. Severin vor, die deutlich macht, wie anregend ein biblischer Erzähltext (auch für die eigene Weltdeutung) sein kann und zugleich wie leicht der Bezug zum Text bei methodisch nicht abgesichertem Vorgehen verloren geht (dies., Weg, 33–55). Ersterer projiziert bspw. die Erfahrung der „primäre[n] Kastration“ (Entdeckung der eigenen Geschlechtlichkeit als Unmöglichkeit das andere Geschlecht haben zu können; a. a. O., 50) in die Beziehungen der Samariterin zu ihren Männern (vgl. dazu 4.5), deutet ihren Krug als Symbol für ihre weiblichen Geschlechtlichkeit und wertet Jesu Durst-Lösch-Angebot so als Hinweis auf Liebe und Gottesbegegnung anstelle von körperlicher Bedürfnisbefriedigung (vgl. a. a. O., 44–55). 177 Vgl. Schenke, Johannes, 86; Theobald, Evangelium, 315. 178 In diesem Sinne versteht F. D. Bruner Durst: „perhaps our deepest desire in life is to be of help, to make a difference“ (ders., Gospel, 250). 179 Vgl. Painter, Quest, 202, 207.
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ßen eine defizitäre Figurendarstellung einher. Das an die Bitte der Samariterin anschließende Gespräch über ‚ihre Männer‘ ermöglicht einen Deutungskontext. So sieht Ursula Früchtel im Durst der Frau „das Verlangen nach Liebe“.180 Das Nicht-Eingehen der Samariterin auf die Bildsprache Jesu offenbart dagegen eher, dass ihr Verständnis und Glaube fehlen. In jedem Fall zeigt die Verknüpfung mit ( eine existentielle Dimension auf, die (im Nicht-mehr-Dürsten) die Möglichkeit einer gesteigerten Lebensqualität beinhaltet.181 Wenn die Samariterin Menschen verkörpert, die – ggf. in eigenem Unwissen – einen Durst verspüren, den Jesus zu stillen vermag, bekommen Sehnsucht und Verlangen eine Zielrichtung aufgezeigt. Die Begegnung mit Jesus verändert die Frau.182 Ihre Lebensumstände und -bedingungen bleiben dabei bestehen. Sie bekommt jedoch eine neue Perspektive. Sie kann das „eigene […] Leben neu erleben“.183 So wird ‚Durstlöschen‘ zum Schlüsselmotiv für Lebensveränderung. Dem Leser wird die Frage nach eigenen Sehnsüchten gestellt. Gerade die Deutungsoffenheit des metaphorischen Gehalts von ‚Durst‘ und ‚lebendigem Wasser‘ macht die Frau zur Identifikationsfläche und ihren Durst offen für Leserprojektionen. Sehnsucht wird mit dem Verweis auf Jesus als Triebfeder für Verhaltensweisen ausgehebelt und die Suche nach einem guten Leben mit dem Hinweis auf Jesus beantwortet. Wer ein gutes Leben haben möchte, muss seinen Lebensdurst – sein Verlangen und seine Sehnsüchte – bei Jesus stillen. 6.2 Jesu Braut Eine vielfach in Szene 1 eingetragene Lesart ist die von der samaritischen Frau als Braut. Insbesondere atl. Intertexte motivieren eine solche Lesart.184 Durch Josef und Jakob als Referenzfiguren wird der Verweis angeregt. In Gen 24,10–61; 29,1–20 werden deren Mütter jeweils als Frauen und schließlich Bräute von Jakob und Isaak eingeführt. Robert Alter erkennt in der Brautwerbung am Brunnen („encounter with the future betrothed at a well“) 180
Früchtel, Bibel, 416. Leben wird auch von H. Boers als zentraler Wert der Episode betrachtet und von ihm zu verschiedenen anderen Werten (wie Gehorsam oder universelle Errettung) ins Verhältnis gesetzt (vgl. ders., Mountain, 97–104). 182 Vgl. Kap. 5.2. 183 Balz, Frau, 143. 184 Bereits Origenes zieht einen Vergleich zu Gen 24,17 (vgl. Or. Jo., 13, XXIX, 177 f.). Vgl. Zimmermann/Zimmermann, Brautwerbung, 42 f. R. und M. Zimmermann deuten die Hochzeitsmetaphorik sinnstiftend im Kontext der Wasser-Thematik, der Frage nach dem Anbetungsort und dem Messiasbekenntnis (a. a. O., 46–48). Eine Darstellung und Auswertung der Hochzeitsmetaphorik im Joh auf Grundlage atl. Texte hat J. McWhirter in ihrer (überarbeiteten) Dissertation vorgelegt (vgl. dies., Bridegroom); zur hier untersuchten Szene vgl. a. a. O., 58–76. 181
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
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einen biblischen Szenen-Typos („biblical type-scene“), der bestimmte Muster aufweist und Lesererwartungen steuert.185 Auch Ex 2,15–22 (Mose begegnet Zippora) kann als eine solche Brautwerbung eingeordnet werden.186 Das Setting der Szene 1 entspricht diesem atl. Szenen-Typos in gewissen Punkten: Ein fremder Mann trifft eine Frau am Brunnen (nahe ihres Heimatortes) und spricht diese an. Wie in Gen 24 findet diese Begegnung in Joh 4 unter vier Augen statt und enthält die Bitte des Fremden um etwas Trinken. Im Gegensatz zu Gen 29 und Ex 2 ist in Gen 24 allerdings nicht der Bräutigam selbst am Brunnen (die Begegnung mit diesem ereignet sich jedoch auch am Brunnen (Gen 24,62–67)). Das Hochzeitsmotiv, das in den atl. Intertexten anklingt und die Samariterin als Braut (und Jesus als Bräutigam) erscheinen lässt, tritt in Joh 4 nicht unvermittelt auf. Auch in der Weinstiftung bei der Hochzeit zu Kana vertritt Jesus den Bräutigam,187 indem er eine Aufgabe des Bräutigams (die Bereitstellung des Weines) übernimmt (2,10).188 Explizit wird Jesus in 3,29 in Johannes’ Figurenrede zum Bräutigam.189 Allerdings bleibt dort ungefüllt, wer oder was dessen Braut ist, die ihm gerade zum Bräutigam macht: , 2 3 3 % . Die nächste weibliche Einzelfigur, die auftritt, ist die Samariterin, wo zudem oben ausgeführtes Brautwerbemotiv eingespielt wird. Die Hochzeit (oder Verlobung) zwischen Jesus und der Samariterin bleibt allerdings aus. Auch eine Tränkung (welche in allen atl. Erzählungen vorkommt) wird nicht – zumindest nicht explizit – vollzogen. Des Weiteren zeichnet ihr Gespräch sich nicht durch eine persönliche Annäherung aus, die auf einen Ehebund zielt. So ist die Hochzeitsmetaphorik nur fruchtbringend, wenn sie eben als Metaphorik verstanden wird, die mögliche inhaltliche Bereiche einspielt. Wird die Christus-Erkenntnis der Samariterin als Erhalt des Lebenswassers (als ‚Tränkung‘) und als Verlobung gedeutet, ist damit ein geistliches Geschehen umschrieben: Der Beginn des Lebens im Glauben. Was sich bei Nikodemus in einer Geburtsmetapher ausgedrückt findet, wird bei der Samariterin durch Hochzeitsmetaphorik ausgedrückt. So ist der eigentliche Sinn der Mann-Frau-Beziehung relativiert und diese wird zu einem Sinnbild für die Christus-Beziehung (ähnlich der Mutter-Sohn-Beziehung in 19,26 f.). Die 185
Alter, Art, 51. Vgl. a. a. O. 51–56; vgl. Staley, Print’s, 98–103. Vgl. Alter, Art, 56–58. Zu weitere Variationen des Brautwerbungsmotivs im AT vgl. a. a. O., 58–62. Eine ausführliche Untersuchung der sprachlichen und inhaltlichen Parallelen dieser drei Intertexte zu Joh 4 bietet McWhirter, Bridegroom, 60–64. J. Painter hingegen bestreitet eine Brautwerbung in Joh 4 (ders., Quest, 201). 187 Vgl. Koester, Symbolism, 48. 188 Vgl. Coloe, Woman, 185. R. Zimmermann hat mehrfach zur Metapher von Jesus als Bräutigam gearbeitet. U. a. entfaltet er sie in „Joh 2,1–11 als Beispiel eines narrativen Christusbildes“ (ders., Christologie, 203–215) und untersucht sie traditionsgeschichtlich in ihrer Verwendung als Hoheitstitel (vgl. ders., Bräutigam). 189 Im weiteren ntl. Kontext vergleicht z. B. Mk 2,19 parr. Jesus mit einem Bräutigam. 186
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Verhaltensänderung der Frau fußt dementsprechend auf einem christologisch Fundament. Diese Deutung liefert auch einen plausiblen Grund dafür, dass zwar die Männerbeziehungen der Samariterin abgewertet werden, aber keine Ehemoral daraus abgeleitet wird (vgl. 4.5).190 Diese geistliche Hochzeit bietet Anschluss für verschiedene Implikationen. Eine Möglichkeit liegt in der Grenzüberwindung, die bereits in der Charakterisierung der Frau (3.1.1; 3.1.2) ausgeführt wurde. Das Brautmotiv unterstützt nach einer solchen Lesart die Annäherung der Figuren aneinander, die geschlechtliche oder nationale Trennungen überwindet. So lässt sich die Samariterin als Stellvertreterin aller Samariter lesen, die sich durch Jesus (im Glauben an ihn) mit den Juden versöhnen.191 Nur geringfügig anders liegt die Deutung der Metaphorik, wenn Jesus nicht primär als Jude, sondern als Gott aufgefasst wird. Im AT dient das Brautmotiv auch als Bild für die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel.192 Eingespielt wird dieses Motiv jedoch nicht durch eine Referenz im joh. Text. Solche Lesarten, die stärker die Integration in eine Glaubensgemeinschaft als eine Völkerversöhnung betonen, sind demnach hinter ersterer zurückzustellen. Ursula Früchtel macht die atl. Brunnenerzählungen (insbesondere Gen 24) als „Liebesgeschichten“ stark.193 Diese Deutung wirkt sich auf die Beziehung zwischen Jesus und der samaritischen Frau aus und harmoniert mit dem Modellcharakter des Dialogs für ein seelsorgerliches Gespräch. Liebe ist damit die Basis und Grundhaltung für das Miteinander, das sich zwischen Jesus und der Frau als Individuen (nicht als Stellevertreter für bestimmte Kollektive) ereignet. Eine völlig andere Perspektive ergibt sich, wenn Hochzeit als Sinnbild für Glauben verstanden wird und das Ziel nicht die Liebesbeziehung, sondern eine Familiengründung ist.194 Auf der geistlichen Ebene, die Jesus in das Gespräch einbringt, wird die Hochzeit als geistliches Geschehen, als Grün190 So gesehen lassen sich die Perspektiven der Figur als fiktives Wesen und als Symbol (vgl. Teil I – Einleitung: Kap. 3) in der Christologie des Joh zusammenführen. 191 Coloe, Woman, 194. Vgl. Ez 37,15–28. Das Verständnis der Samariterin als Repräsentantin der Samariter findet sich vielfach in der Sekundärliteratur. 192 Vgl. z. B. Jes 62,4 f.; Jer 2,2; Hos 2,21 f. Beachte auch die Deutungen des Hld. So sieht U. Busse in 3,29 „dass Jesus sich hier mit Israel vermählt“ (ders., Joh, 319). Im Gegensatz zur Brautwerbung ist prophetische Ehebruchsmetaphorik, die Gott und Israel ebenfalls als Ehepaar auffasst (z. B. Hos 2,4–15), nicht eingespielt (vgl. Schottroff, Samaritanerin, 117). 193 Früchtel, Bibel, 398–405. 194 McWhirter, Bridegroom, 65, 75 f. Inwiefern M. L. Coloes Deutung, die Brautmetaphorik aus Joh 4 aufgreift ist nicht schlüssig. Sie parallelisiert die verschiedenen Szenen in 1,36–3,5 mit einer antiken Familiengründung durch Verlobung (Jüngergewinnung), Hochzeit (in Kana), Haushaltsgründung (Tempelszenen) und Geburt (Gespräch mit Nikodemus), welche in Joh 4 vom Judentum auf die Samariter ausgeweitet wird (vgl. Coloe, Woman, 185 f.).
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dung einer geistlichen Familie verstanden. Abhängig von der Familienkonzeption sind damit gegebenenfalls Hierarchien oder verschiedene Einstellungen verbunden.195 Im Joh wird die Beziehung zwischen Eltern nicht thematisiert. In 19,26 f. kommt ein Fürsorge-Auftrag in der geistlichen Familie zum Ausdruck. Von all diesem ist in der Samaria-Episode wenig zu lesen. Wird jedoch Nachwuchs als Ziel oder zumindest Perspektive einer Familie angesehen, lassen sich ‚die Samariter‘ als Kinder einordnen. Geistliche Vater- bzw. Kindschaft ist sowohl im Joh wie auch im übrigen NT ein geläufiges Bild.196 Auf Joh 4 übertragen erscheint die Samariterin als geistliche Mutter der Bewohner Sychars. Sie ist als ‚Braut‘ Jesu und ‚Mutter‘ der glaubenden Samariter der Ursprung der samaritischen Glaubensfamilie, die Jesus als Messias und Retter der Welt bekennt. In ihrem Führen zu Jesus und durch ihr Zeugnis stiftet sie Nachwuchs. Werden Hochzeit und Familie in einem solchen Finalzusammenhang gesehen, wird das Verhalten der Samariterin nach ihrer Begegnung zum einzig richtigen Handeln. Ihr Einlassen auf Jesus bleibt unvollständig, wenn nicht daraus eine Familie entsteht. Dadurch ergibt sich ein notwendiges Verhaltensmuster, welches eigenes Zum-Glauben-Kommen mit einem missionarischen Impuls verbindet. Als Leseranregung verstanden, ist die Frage nach Jesu Braut mit der Begegnung mit der Samariterin am Brunnen noch nicht abgeschlossen. Gerade das Fehlen einer Verlobungshandlung lässt hier eine Leerstelle. In Vertretung der Samariterin, die auf Jesu Wasserbitte nicht adäquat eingeht und mit ihm den atl. geprägten Verlobungsritus vollzieht, können Leser diese Rolle einnehmen. Als „in Wahrheit und Geist“-Anbetende dürfen sie sich als Jesu Braut verstehen. So wird die Grundlage für ein Bild gelegt, das über das der Synoptiker hinausgeht,197 und welches ggf. die Offb im Bild des ‚neuen Jerusalems‘ als Braut Jesu aufgreift.198
7 Bündelung – ethischer Gehalt 7 Bündelung – ethischer Gehalt
Unscheinbar taucht die anonyme Frau in der Mittagszeit alleine am Brunnen auf. In Jesus trifft sie einen Fremden an, der sie mit einer kleinen Bitte nach Wasser behelligt. Beiläufig setzt die Samiraepisode ein, als Übergangsge195
Vgl. z. B. Eph 5,21–33. Vgl. z. B. 1,12; 3,3–6; 4,12; 8,33.39–44.53–56; 13,33; 20,17; 21,5; Röm 8,16 f.; 1 Kor 4,14; Phlm 10 (!); Jak 1,18; 1 Joh (u. a. 2,1). Wird im Joh die Vater-Kind-Beziehung als Motiv in erster Linie für das Verhältnis zwischen Gott und Menschen bzw. Jesus und seinen Jüngern genutzt, werden bspw. in den joh. Briefen andere Gläubige vom Adressaten als Kinder bezeichnet. 197 In Mk 2,19 parr. sind die Jünger Jesu (und in der Identifikation mit ihnen die Leser) Hochzeitsgäste des Bräutigams Jesus. 198 Z. B. Offb 19,7; 21,9. Vgl. Bennema, Encountering, 171. 196
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schichte, die vordergründig lediglich Jesu Weg nach Galiläa, seine Flucht aus Judäa illustriert. So sind die Erwartungen an die Frau zu Beginn der Episode nicht hoch – umso erstaunlicher ist, was sich an dieser Figur entfaltet. Dieser Überraschungscharakter ist das markanteste Merkmal der SamariaEpisode. Im Spiel mit (intra- und intertextuellen) Lesererwartungen wird durch die Samariterin ein Votum gegen Vorurteile positioniert. Mehrfach werden Traditionen und Normen, Rollenmuster und Verhaltensvorgaben eingespielt, aufgegriffen, legitimiert und thematisiert. Die Einführung der Samariterin verläuft als Stereotyp: Als Frau und als ‚Samaritische‘. Sie selbst ist in diesen Rollen verhaftet, versteht sich und ihr Gegenüber dadurch definiert. Verhaltensregelungen, die auf diese Rollen Bezug nehmen und Trennungen manifestieren, hat sie verinnerlicht. Für sie bieten diese Orientierung. Traditionen sind ihre Legitimationsinstanz. Diese Rollenvorgaben, Stereotype und Festschreibungen werden im Gespräch mit Jesus inhaltlich entfaltet und im Gesamtverlauf der Samariaepisode narrativ aufgebrochen. Die Samariterin überrascht in ihren Antworten und ihrem Verhalten, entwickelt sich zu einem individuellen, komplexen Charakter. So profiliert sich die Samariterin nicht als ethisches Modell, sondern macht eine Individualethik stark, die situationsbezogen urteilt und traditions- und normbezogene Regeln hinterfragt. Natürlich bleiben Verhaltensweisen einer Beurteilung ausgesetzt, jedoch werden die (narrative) Entfaltung der Situation und die handlungstreibende Motivation ins Zentrum gestellt und dominieren das Verhalten als Regelbefolgung. Die Grenzen von verschiedenem Geschlecht und unterschiedlichen Nationalitäten werden ebenso überwunden wie die gegenseitige Fremdheit. Dabei ist nicht die Abschaffung der Merkmalsausprägungen, keine ‚Gleichmacherei‘ angestrebt, sondern ein Zusammenfinden in Gemeinschaft. Ist also Gemeinschaft die ‚neue Norm‘ anstelle der Geschlechter-, Nationalitäts- und Traditionsgrenzen? Wohl kaum! Gemeinschaft ist ein hohes, aber kein unbedingtes Ideal im Joh. Die nationale und übernationale Gemeinschaft konstituiert sich stets um Jesus, sie kann also nicht absolut und unabhängig von ihm als Prinzip aufgestellt werden, sondern bleibt an ihn als Person rückgebunden und damit unverfügbar. Dies ist ein weiteres Merkmal der ethischen Lesart der Samariterin: Normen und Werte, die eingesetzt werden, sind stets relational. Dies spiegelt sich in allen Nebenthemen, die im Kontext der Samariterin Gegenstand der ethischen Leserreflexion geworden sind: in Pfiffigkeit, in einer Ausgewogenheit zwischen Aktivität und Pausieren, in Wahrheit und Wahrhaftigkeit sowie in der Beständigkeit in den eigenen Entscheidungen. Damit kommt anhand der Samariterin der Aspekt joh. Ethik zum Ausdruck, der schon häufig im Forschungsdiskurs betont wurde199: Joh. Ethik 199
Jüngst durch K. Weyer-Menkhoff in seiner Dissertationsschrift (vgl. ders., Ethik, 34–41, 261). Vgl. auch Teil VII – Fazit, 2.1.
7 Bündelung – ethischer Gehalt
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findet sich in der Christologie (und der Theologie) verankert. Alle Verhaltensbezüge der Samaria-Episode steuern auf Jesus (und Gott) zu. Das Gespräch zielt auf seine Identität als Christus, der Aufruf, ihren Mann zu holen, auf eine Weitergabe des Lebenswassers an sie, die Überwindung des Anbetungsortes auf ein Gebet zum Vater, das Zeugnis der Samariterin auf ein Glauben an Jesus, die Gemeinschaft in Samarien auf ein Bekenntnis. Jesus wird jedoch nicht nur Ziel- sondern auch Ausgangspunkt allen Verhaltens. Seine Zuwendung, seine Selbstoffenbarung und seine Lebenswassergabe motivieren und begründen nicht nur konkretes Handeln, sondern sogar eine Veränderung des gesamten Lebenswandels, was sich besonders im Bild des Durstes ausdrückt. Zudem ist Jesus die höchste Bewertungsinstanz für alle normativen Maßstäbe: Er vermag geltende Normen außer Kraft zu setzen und Begründungsketten zu durchbrechen. Damit zeigt sich an der Samariterin eine vollkommen christuszentrierte Ethik. Die oben aufgezeigte Situationsethik wird zugleich mimetisch vollführt. Im Gegensatz zu der Analyse von Simon Petrus rückt dabei Jesus als Gegenüber der Fokusfigur verstärkt ins Blickfeld. In seiner Annäherung (‚EntFremdung‘) und in der Lesart der Szene 1 als seelsorgerliches Gespräch wird der Leser zum Nachahmen eingeladen. Im Bezeugen hingegen wird die Samariterin zum Vorbild (der Jünger und der Leser). Hier ist der persönliche Erfahrungsbezug hervorgehoben, den jeder Leser selbst füllen muss, bevor er (mit der Samariterin in 4,29) mitsprechen kann: „Seht den Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe.“ Dieser Satz spiegelt die lebensverändernde Kraft der Jesusbegegnung, die sich als grundsätzliche Einstellung (oder Lebenshaltung) in allen Handlungen niederschlägt. In diesem Sinne lässt sich dieser Satz als mimetischer moralischer Appell begreifen. Und die Männer? Welche Bedeutung hat das ethisch am wirkmächtigsten gewordene Detail der Samariterin? Eine eindeutige Antwort auf diese Beziehungsebene der Frau liefert die ethische Reflexion nicht. Werden Partnerbeziehungen implizit auf Beständigkeit hin ausgerichtet, wendet sich die Samariterin ihrem ‚Nicht-Mann‘ nicht wieder zu. Natürlich ist dies als Appell für die Monogamie und Ehe auf Lebenszeit lesbar, aber gerade diese Leitnorm wird ja gemieden. Insgesamt erscheint das Thema der ehelichen und außerehelichen Beziehungen in der Episode nicht wesentlich zu sein. Wesentlich ist der Glaube an Jesus als Weltenretter, quasi die symbolische Deutung der Partnerbeziehung auf die Christusbeziehung. Dieser Glaube, das christologische Lebensfundament, durchdringt auch die lebensweltlichen partnerschaftlichen Beziehungen und führt zu einer Veränderung, die alle Rollen- und Verhaltensmuster zu durchbrechen vermag – ob er aber zu einem neuen Selbstbewusstsein in der Beziehung, einer Verfestigung der partnerschaftlichen Bindung oder einer Trennung führt, ist situations- und erfahrungsbezogen zu entscheiden.
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Teil IV: Die samaritische Frau
Der anfangs unscheinbare Auftritt der Samariterin hat sich als voluminöses Paket der Entfaltung einer ethischen Letztbegründung in Jesus erwiesen. Anhand einer anonymen, sozial niedrig positionierten sowie moralisch teils fragwürdigen Nebenfigur zeigt sich ein Kernpunkt joh. Ethik. Das Spiel mit den Lesererwartungen wird dabei zum reflexionsinitiativen Moment. Nachträglich erscheint diese samaritische Frau als deutlich positiv gewertet, sodass sie sogar den Jüngern ein Vorbild sein kann – mehr noch: An ihr zeigt sich eine Möglichkeit des (bekennenden, missionarischen) Christus-Glaubens, die außerhalb der Nachfolge in der Jüngerschaft verortet und trotzdem legitim ist. Dieser Glaube ist es, an dem sich alle Bewertungen und Normen zu messen haben, und durch den ihnen Absolutheit versagt bleibt. Dieser Glaube ist es, der den Leser in seinen Haltungen und Einstellungen, in seinen Lebensvollzügen herausfordert und zur Veränderung aufruft. Dieser Glaube ist es, der dort Veränderung und Gemeinschaft ermöglicht, wo Lebenskonzepte festgefahren sind und verhärtete Rollenzuschreibungen und Barrieren trennen. Dieser Glaube ist es, der Grenzen überwindet.
Teil V
Judas: Verworfen. Verurteilt. Verstanden? 1 Einordnung der Figur 1 Einordnung der Figur
Judas Iskariot ist wohl die tragischste Figur im Joh und zugleich für den Handlungsverlauf neben Jesus eine der bedeutsamsten.1 In allen vier kanonischen Evangelien ist er ein Jünger aus dem engsten Jüngerkreis um Jesus (einer ‚der Zwölf‘) und zugleich derjenige, der Jesus verrät. Im nicht kanonischen apokryphen Judas-Evangelium hat er dieselbe Rolle, wenngleich sie ggf. völlig anders gedeutet und bewertet wird.2 Schon in der Alten Kirche war der Name mit einer negativen Konnotation behaftet, die sich während des Mittelalters noch verstärkte und sich u. a. in antisemitischer Instrumentalisierung niederschlug.3 Judas wird in allen kanonischen Evangelien bereits bei seiner Erstnennung als Verräter Jesu eingeführt. Nach seinem Verrat ist er nicht mehr in das Kollektiv der Jünger inbegriffen. Die Synoptiker beschränken seine Auftritte auf die Nennung in der Zwölferliste, den ‚Verkauf‘ von Jesus an die Hohepriester, die Ankündigung des Verrats durch Jesus beim 1 K. Barth urteilt: „Judas ist neben Jesus selbst in gewissem Sinn die wichtigste Figur des Neuen Testaments“ (ders., Dogmatik, 558). Ähnlich, aber stärker am Rezipienten orientiert, bezeichnet D. F. Tolmie Judas als „one of the most fascinating figures“ im NT (ders., Narratology, 50). 2 Das Judasevangelium wurde mutmaßlich im 2. Jh. n. Chr. verfasst und ist in einer Abschrift im Codex Tchacos in Koptischer Sprache überliefert. Um 1978 wurde es in Ägypten entdeckt und 2006 schließlich veröffentlicht. Ob Judas dort fundamental dämonisiert oder als engster Vertrauter und wahrer Jünger idealisiert wird, ist umstritten. Vgl. Kasser/Wurst, Gospel, v. a. 1–6, 24 f.; DeConick, Apostle, v. a. 45–61; Pagels/King, Evangelium, v. a. 9– 11. 3 Vgl. Meiser, Judas, 123 f., 147–151; Maccoby, Judas, 79–126. Die negative Konnotation ist im deutschen Sprachgebrauch (mit entsprechenden Synonymen in anderen vom christlichen Kulturraum geprägten Sprachen) auch in Worten wie ‚Judaskuss‘ oder ‚Judaslohn‘ erhalten. Weitere zahlreiche Belege bietet Krieg, Judas, 29–32, sowie Dieckmann, Judas, 14 f., 88–103 (inkl. Einblicken ins europ. Brauchtum). Als Beleg für Positivzeichnungen der Figur Judas sei auf eine mögliche Lesart des Judasevangeliums verwiesen (vgl. Pagels/King, Evangelium, 13 f., 23), wenngleich diese Wertung umstritten ist (s. o.). Eine ausführliche Interpretation unter Aufnahme der fachwissenschaftlichen Diskussion findet sich bei Jenott, The Gospel of Judas. Zur literarischen Wirkungsgeschichte bietet die Sammlung von M. Krieg und G. Zangger-Derron inspirierende Lektüre: Dies. (Hgg.), Judas. Ein literarisch-theologisches Lesebuch.
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Passamahl und den Verrat durch einen Kuss im Garten Gethsemane.4 Im Joh variiert diese Darstellung. Im Gegensatz zu den Synoptikern spielt der joh. Jesus das Verrats- und Aussonderungsmotiv mehrfach ein, wobei der Erzähler dies zum Teil als auf Judas bezogen erklärt.5 Einen eigenen Schwerpunkt bekommt Judas in drei Szenen: In 12,4 f. stellt er eine kritische Anfrage gegen die Salbung Jesu durch Maria, in 13,21–30 kündigt Jesus Judas’ Überlieferung6 an und Judas verlässt die Jüngergemeinschaft, in 18,3–6 schließlich führt Judas die Soldaten zu Jesus, damit diese ihn gefangen nehmen. Zudem wird innerhalb der Szene des Bekenntnisses der Zwölf sowie im Kontext der Fußwaschung unmittelbar vor der Überlieferungsankündigung z. T. namentlich auf ihn verwiesen. Insgesamt finden sich neun namentliche Erwähnungen von Judas und durch das Überlieferungsmotiv wird zusätzlich auf ihn verwiesen. Abzugrenzen ist er von einem anderen Judas, der im Joh im engsten Kreis um Jesus – allerdings nur einmalig – benannt wird (14,22).7 Entsprechend der eingangs erwähnten Negativkonnotation von Judas, die in der kanonischen Evangelienüberlieferung ihren Ursprung hat, ist zu erwarten, dass eine Figurenanalyse von Judas keine ‚leichte Kost‘ wird. So folgt nun mit den Szenenanalysen ein ‚düsteres‘ Kapitel, was sich in der ethischen Bündelungskapiteln fortsetzt.
2 Einzelanalyse der Szenen 2 Einzelanalyse der Szenen
2.1 Szene 1 (6,67–71) Judas Erstnennung erfolgt als Ausdeutung eines Ausspruchs Jesu durch den Erzähler. Als nach der sogenannten Brotrede Unmut innerhalb der Jüngerschaft aufkommt, kritisiert Jesus diese dafür und bezichtigt sie, einige Un4 Mk 3,16–19; 14,10 f.18–21.42–46 parr. Anzumerken ist, dass im Mk und Lk bei der Verratsankündigung Judas nicht namentlich erwähnt wird, die lukanische Gefangennahme ohne Nennung von ‚Gethsemane‘ auf dem Ölberg stattfindet und Mt 27,3–5 noch Judas’ Reue und Selbstmord schildert. Insgesamt erscheint Judas als Figur im Mt etwas stärker ausgebaut. 5 Z. B. 6,70a: „Aber er sprach von Judas, dem des Simon Iskariot“ (vgl. 2.1). 6 In dieser Arbeit wird i. d. R. mit ‚überliefern‘ wiedergegeben, da dieser im Gegensatz zu der üblichen Bezeichnung ‚verraten‘ neutral konnotiert ist und den Fokus stärker auf die Handlung (die Übergabe) als auf die Beziehung zu Jesus (den Treuebruch) legt. Seine negative Konntoation erhält erst im Kontext der Erzählung und ist in dem Wort nicht immanent angelegt (vgl. Bennema, Judas, 361). Die Alternative ‚ausliefern‘ wurde wegen der Konnotation für das entsprechende Objekt nicht gewählt, denn als Judas Jesus überliefert (18,3–12), geht damit im Joh gerade nicht einher, dass Jesus der Situation ausgeliefert ist (vgl. 3.1.2). 7 Im Mk und Mt heißt zudem auch ein Bruder Jesu Judas (Mk 6,3 par.). Der Judasbrief nennt als Verfasser „Judas, Jakobus’ Bruder“ (Jud 1,1).
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gläubige unter sich zu haben (6,64), was der Erzähler mit einem Einblick in Jesu Wissen begründet. Daraufhin trennen sich viele Jünger von Jesus und die hier betrachtete Szene entfaltet sich als kurzer Dialog zwischen Jesus und den gebliebenen Zwölf, vertreten durch Simon Petrus. Die explizit anwesenden Figuren sind damit Jesus und ‚die Zwölf‘. Unter letzteren ist Petrus anwesend und durch Kollektivzugehörigkeit auch Judas (sowie nachträglich durch 20,24 Thomas). Der abschließende -Ausspruch Jesu wird wiederum vom Erzähler ausgelegt, bevor er in 7,1 die nächste Szene und Handlung einführt. Zur genauen Abgrenzung (Ort, Zeit, Figurenkonstellation) und Einordnung siehe Teil III – Petrus, 2.2.8 Diese Szene beinhaltet nicht nur den ersten Auftritt von Judas Iskariot, sondern auch den des Figurenkollektivs ‚die Zwölf‘, wodurch ihr für beide Figuren durch den Primäreffekt besondere Relevanz zukommt. Die Zwölf erhalten einen besonderen Status innerhalb der Jünger Jesu, indem sie offensichtlich im Gegensatz zu vielen anderen Jüngern (6,66) bei Jesus bleiben. Der Erzähler erklärt nicht, wer die Zwölf sind. Als seien sie dem Leser selbstverständlich bekannt, wendet sich Jesus an sie. Das signalisiert dabei, dass sich Jesu Anfrage auf das zuvor Geschehene bezieht. Auch inhaltlich schließt sie an die Abwendung der vielen Jünger an. Das „auch ihr“ stellt die Zwölf in Relation zu den Jüngern, die fortgegangen sind. Dadurch ergibt sich eine Leerstelle innerhalb der Figurenkonstellation – und damit in der Jüngerschaft. Haben alle übrigen Jünger, abgesehen von den Zwölf, Jesus verlassen? Oder existiert noch eine dritte Gruppe von Jüngern, die bei Jesus bleibt, aber nicht zum Zwölferkreis gehört?9 Dann wäre fraglich, warum Jesus nicht auch sie anspricht oder sie zumindest erwähnt – z. B. indem er die Zwölf mit dieser Gruppe gleichsetzt. In jedem Fall kommen auch noch nach 6,66 Menschen zum Glauben. Inwiefern diese allerdings als ‚Jünger‘ zu bezeichnen sind, bleibt ungewiss. So ist in 9,2; 11,7 etc. sowohl denkbar, dass ‚nur‘ die Zwölf gemeint sind, als auch, dass ein unbestimmtes Kollektiv, welches über diese Anzahl hinausgeht, auftritt. Auffällig in dieser Szene ist die Wortkombination , die im Joh mehrfach erscheint. Vor allem in Joh 13 f. gibt es Lexemhäufungen. Jesus nutzt sie, um eine Parallele zwischen ihm und den angesprochenen Jüngern herzustellen. Dort ist mit diesem Ausdruck stets ein Zu- oder Anspruch verbunden. In Fragen taucht die Kombination nur dreimal, jeweils mit einem vorgestellten auf.10 Der erste Beleg findet sich in der hier untersuchten Szene, der zweite in 7,47 in der tadelnden Anfrage der Pharisäer und der letzte in 9,27 stammt aus dem Mund des Blindgeborenen bzw. Sehendgewor8
Simon Petrus’ Redebeitrag wird ebenfalls dort analysiert und deshalb hier ausgespart. So Schenke, Johannes, 142. 10 Eine indirekte Frage ist zudem in 4,20 enthalten, wo die Samariterin Jesus auf widersprechende Lehren hinweist, um seine Position dazu zu erfahren. 9
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denen. Jeweils bildet eine stark polarisierende Positionierung zu Jesus – durch Ablehnung oder Nachfolge – den inhaltlichen Kontext der Sprechhandlungen. Während die Pharisäer ihre Knechte kritisieren, von Jesus verführt worden zu sein, begegnet der Sehendgewordene den Skeptikern mit Ironie. Seine Anfrage ist im Wortlaut der in 6,67 auffallend ähnlich ( ), steht der Anfrage Jesu (6,67) als Referenzformulierung aber diametral gegenüber. Jesus fragt nach dem Abwenden aus seiner Jüngerschaft, der Blindgeborene nach dem Eintritt. Beides mal bleibt der Status quo erhalten, wie das bereits impliziert. Zusammen gelesen spannen die beiden Fragen einen Dualismus auf, der eine Reaktion auf die Begegnung mit Jesus fordert: entweder Jünger werden oder weggehen. Eine dritte Alternative gibt es nach dieser Lesart nicht. So muss jede Figur – und jeder Leser – entscheiden, was er will ( ). Allerdings scheint ein zeitliches Aufeinanderfolgen der Reaktionen nicht ausgeschlossen (vgl. Judas’ Hinausgehen in die Nacht in Szene 3). Jedwede Entscheidung wird erst durch das Ende der Erzählung endgültig. Während der Erzähler in 6,66 die Vokabel für ‚weggehen‘ benutzt, verwendet Jesus . Dies ist (wie die Lexemhäufungen zeigen) das bevorzugte Wort für Jesu Fortgang aus der Welt. Mit dieser Konnotation wurde es allerdings bis dahin erst einmal (im Gespräch mit Nikodemus in 3,8) verwendet.11 Dennoch wird so eine doppelte Dimension des Weggehens in die Szene eingetragen. Auf einer Wortfeldtafel lässt sich als positiv konnotiertes Antonym ‚bleiben‘ ( ) kontrastieren, welches insbesondere in 15,1–16 (15,6!) eine Zukunfts- und Heilsrelevanz bekommt. Die physische Trennung kann im Joh eine metaphysische symbolisieren. Nicht nur die körperliche Bewegung wird thematisiert, sondern damit einhergehend auf bildlicher Ebene eine Glaubensdistanz, die lebens- und heilsrelevant wird. Auf Jesu Frage (6,67) reagiert Simon Petrus, der aus 1,40–42 und 6,8 bekannte, drittberufene Jünger: Er beantwortet Jesu Frage stellvertretend für die Zwölf (6,68 f.). Doch nicht sein Bekenntnis steht am Ende der Szene. Jesus stellt eine Rückfrage und bringt darin seine Erwählung der Zwölf zum Ausdruck.12 Der anschließende Satz steht im Kontrast dazu. Überraschend schroff wirkt die Teufelsbezeichnung im Kreis der Auserwählten und der Atmosphäre der Vertrautheit. Sie schränkt die mit der Erwählung vorgenommene Aufwertung ein, nimmt diese jedoch nicht zurück. Das bis dahin einheitliche Kollektiv der Zwölf wird aufgebrochen. Innerhalb der Gruppe der zwölf Erwählten wird einer abgesondert und mit dem starken, negativen Begriff
11
Ferner nutzte Jesus
in 4,16, um die Samariterin ihren Mann holen zu schi-
cken. 12
Siehe zu Simon Petrus’ Ausspruch und Jesu Reaktion Teil III – Petrus, 2.2.
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belegt.13 An den beiden übrigen Belegstellen dieses Wortes findet es sich determiniert und könnte eine konkrete (in 8,44 eventuell metaphorisch gemeinte) Teufelsgestalt bezeichnen – in 13,2 wird dieser m. E. sogar zum Handlungssubjekt.14 Hier weist die indeterminierte Form auf eine Stigmatisierung durch eine Art Titel oder eine Zuschreibung von negativen Eigenschaften.15 Welche Eigenschaften, Handlungen oder Assoziationen mit dem Begriff verknüpft sind, wird durch Jesu Aussage nicht deutlich. Nach Bekenntnis und Erwählungsgedanken erfolgt diese harte Verurteilung in jedem Fall unvermittelt und überraschend. Die genaue Festlegung auf eine Figur suggeriert, dass die übrigen Elf nicht als solche zu bezeichnen sind. Als Gegenkollektiv erscheinen sie profiliert. Das ! " stellt das Verhältnis eins zu elf her. Einer der Zwölf ist abgesondert. Das ! weist dabei auf 6,64 zurück.16 Was für den großen Kreis der Jünger gilt, findet sich im engsten Jüngerkreis gespiegelt. Unter den Jüngern in 6,64 sind „einige, die nicht glauben“ ( ! # $ % & '% ), unter den Zwölf ist „einer ein Teufel“ ( ! " ). Dieser sprachliche Rückverweis bietet eine Deutung des Wortes , da der Erzähler dort bereits die Überlieferung von Jesus erwähnt.17 Innerhalb der Erzählten Welt ist Jesus die einzige Figur, die weiß, wer unter den Zwölf mit dieser Aussage gemeint ist, für die anwesenden Zwölf ist der Sprechhandlungsbezug ein Rätsel. Im Folgevers wird Jesu Rätselspruch durch den Erzähler für den Leser aufgelöst. Sprachlich ist nicht eindeutig, ob Jesus den Anwesenden den Namen des Ausgesonderten nennt oder der Erzähler lediglich für den Leser Jesu Worte interpretiert.18 Wörtliche Rede fällt durch den Akkusativ ( ( 13 An dieser Stelle sei auf die synoptische Parallele verwiesen, wo Jesus Petrus – allerdings erst in der Szene, die auf sein Bekenntnis folgt und nicht unmittelbar – mit dem inhaltlich ähnlichen Begriff als % ) bezeichnet. (Mk 8,33 par.). Dass hier nicht Simon Petrus gemeint ist, klärt 6,71. 14 Vgl. 2.3. 15 J. Gnilka versteht unter Teufel einen „unter der Herrschaft des Bösen Stehende[n]“ (ders., Joh, 56) und nimmt somit im Grunde die teuflische Befehlsgewalt über Judas aus 13,2.27 vorweg. 16 Darüber hinaus erinnert nur der plötzliche Numeruswechsel (und der damit einhergehende Fokuswechsel) in Jesu Rede ( ) zu " ) an den Erzählerkommentar in 6,64 ( * zu * ). Während der Plural eine jeweils unterschiedliche Gruppe bezeichnet, bezieht sich der Singular beide Male auf Judas. Die eindeutige Identifizierung beider miteinander wird jedoch erst im 6,71 möglich. 17 Zu weiteren Parallelen zu 6,64 s. u. im Folgenden. 18 Im Deutschen entsprechen dem die Übersetzungen von als „nennen“ oder „sagen“. Dementsprechend meint + entweder ein Geschehen zeitlich nach dem Vorausgegangenen und ( , & gibt den Inhalt einer indirekten Rede wieder oder + bezeichnet eine Deutung des Vorausgegangen (zeitlich mit dem Ereignis kongruent) und das Akkusativobjekt nennt den semantischen Gehalt.
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, & ) und die 3. Pers. Sg. im Folgesatz ( $ - ) aus. Gegen indirekte Rede sprechen die übrige Verwendung von im Joh und das Ausbleiben einer Reaktion oder Veränderung innerhalb der Zwölf sowie die spätere Jüngerreaktion in 13,22, welche sonst schwer verständlich wäre. Folglich wird die erste Lesart hier verworfen. Auch das Imperfekt weist nach den erzählenden Aoristen auf einen Wechsel, in diesem Fall von Handlungswiedergabe (Erzählen) zur Deutung (Kommentierung).19 Diegetisch bedeutet dies, dass durch das Erleben des Ausspruchs Jesu innerhalb der Jüngerschaft eine Ungewissheit entsteht, die für sie erst in 13,26 aufgelöst, aber selbst dort nicht verstanden wird. Der Leser bekommt an diesem Wissen durch den Erzähler bereits hier Anteil, indem er Judas als den Bezeichneten identifiziert (6,70). Judas wird in 6,70 erstmalig genannt und durch den Genitiv .* ,% / ', die übliche Zuordnung zum Vater,20 näher bestimmt. Durch den Vaternamen verbunden stehen sich in dieser Szene so zwei der zwölf Jünger, nämlich Simon Petrus und Judas, gegenüber. Auch bei Petrus wurde in seiner Einführungsszene der Vatername genannt. Während Judas jedoch alleine und nur für sich steht, vertritt Petrus die Zwölf (vgl. Teil III – Petrus: 4.2). Um in der Figurenkonstellation als wirkliches Gegenüber zu erscheinen, müsste Judas aus der Zwölfergruppe ausgeklammert und Petrus’ Vertreterrolle in Bezug auf ihn revidiert werden. Judas bleibt aber ausdrücklich inkludiert. Chiastisch zu Jesu Worten ( ! " ) kennzeichnet der Erzähler Judas als einen der Zwölf ( " ! / )21. Diese ausdrückliche Integration wird abgesehen von Judas nur noch Thomas zuteil.22 Auffällig ist die Stellung dieses Ausdrucks als prädikatloser Nachsatz, welcher die Szene dadurch mit einer Beschreibung abschließt. Inhaltlich teilt er dem Leser zudem keine neue Information mit. Vom Erzählverlauf unterstreicht der Satz an dieser Stelle noch einmal den dramatischen Moment. Die bittere Erkenntnis, dass der Überlieferer zum engsten und sogar ausgewählten Vertrautenkreis Jesu gehört, steht am Ende der Szene. Verwunderlich ist, dass die Zwölf nicht zu reagieren scheinen. Haben sie Petrus’ Bekenntnis hingenommen, so nehmen sie auch den Vorwurf einer Teufelsidentität hin. Weder über den seman19
Vgl. Frey, Eschatologie II, 91 f. Vgl. 1,42 mit 21,15–17. 21 U. Schnelle weist als intratextuelle Referenzformulierungen von „ " mit partitivem “ folgende Belegstellen aus: 6,8.71; 11,49; 13,21.23; 18,26; 20,24 (ders., Christologie, 156). Dabei übersieht er jedoch 1,40; 6,70; 7,50; 12,2[.4]. Aus diesen Belegstellen ergibt sich m. E. keine narratologisch relevante Deutung (Schnelle nutzt sie als Indiz für den redaktionellen Charakter von 20,24 (ebd.)). 22 Siehe dazu Teil VI – Thomas: 3.1.2. W. Vogler betont, dass trotz der formalen Kollektivzugehörigkeit sich Judas „faktisch jedoch von diesem abhebt“ (ders., Judas, 29). Die Reduktion auf eine rein formale Zuordnung greift allerdings zu kurz. Die Spannung, die im Verhältnis zwischen Judas und dem Zwölferkollektiv aufgebaut wird, wird szenenübergreifend in 3.1.3 und 4.2 entfaltet. 20
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tischen Gehalt von Jesu -Bezeichnung noch darüber, wer ‚der Eine‘ ist, mutmaßen die Jünger – zumindest wird nichts dergleichen erzählt. Nur der Erzähler reflektiert Jesu Aussage. Der Erzählerkommentar gibt dem Leser nicht nur die Identität des preis, sondern begründet die Bezeichnung Jesu noch mit dessen Überlieferungsabsicht. Judas erscheint als Handlungssubjekt von + $ - . Dabei lässt das griechische + offen, ob Judas die Ausführung dieser Handlung eigenmächtig gewählt hat oder fremdbestimmt dazu auserkoren wurde. Die Vokabel kann sogar einen hemmenden Aspekt beinhalten, nämlich dass Judas zögert, Jesus zu überliefern. Ferner kann das Futur in zum Ausdruck kommen. Der Erzähler würde demnach dem Leser in einer Art Prolepse eine zukünftige Handlung ankündigen, ohne etwas über die Initiative auszusagen. Mit der semantischen Vielfalt ist die Ungewissheit verbunden, inwiefern Judas selbst von dieser zukünftigen Handlung weiß. In jedem Fall ist diese Handlung die für Judas zentrale. Bei jedem Auftritt von Judas wird sie erwähnt und von den fünfzehn Verwendungen von beziehen sich neun sicher auf ihn. Das Verb deckt das semantische Spektrum von ‚überliefern‘ oder ‚abgeben‘ über ‚überlassen‘ bis hin zu ‚verraten‘ ab. Einen Schwerpunkt bildet die Verwendung in der Gerichtssprache,23 wo sie auch im Joh auftritt. Sieht man von Jesu Geistaufgabe in 19,30 ab, ist Jesus stets das Objekt der Überlieferung. Mindestens drei Überlieferungsakte sind voneinander abzugrenzen. Antichronologisch sind das: Pilatus übergibt Jesus den Hohepriestern zur Kreuzigung (19,16), die Hohepriester liefern Jesus zur Verurteilung an Pilatus aus (18,35; evtl. 18,30; 19,11) und Judas’ Überlieferungstat (6,64.71; 12,4; 13,2.11.21–26; 18,2.5; 21,20; evtl. 18,36). Die beiden Erstgenannten lassen sich gut in die Prozesssprache einordnen. Ob der Schwerpunkt beim Letztgenannten auf der aktiven Ausführung einer Handlung, der Beziehung zwischen den betroffenen Figuren (als Treuebruch24) oder einem passiven Ermöglichen liegt, bleibt hier offen. Als Wertungswort ist negativ konnotiert – vor allem, weil ein negativ bewertetes Geschehen benannt ist: der in 18,1–12 beschriebene Akt, in dem Jesu Gefangennahme erfolgt.25 Mit der Bezeichnung von Judas als Überliefernden wird durch diesen Rückverweis die Leerstelle aus 6,64 geschlossen. Unvermittelt fügt dort der Erzähler an die Interpretation der Worte Jesu den Halbsatz an, dass Jesus seinen Überlieferer kennt ( * % 0 /% $ - ). Dem Leser bleibt diese Identität hier noch verborgen – ebenso die Handlung, die sich 23
Vgl. Popkes, Christus, 135; 181f; Vogler, Judas, 30. Den Treuebruch wertet W. Vogler (unabh. vom Joh) als ursprüngliche Bedeutung von in Bezug auf Judas (vgl. ders., Judas, 35). 25 Vgl. Barth, Dogmatik, 533. Zur weiteren Analyse der semantischen Füllung von siehe 2.4; 3.1.2. 24
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hinter dem Überliefern verbirgt. Unvermittelt wirkt diese Leserinformation, weil Jesus zuvor lediglich den Unglauben einiger Jünger offen anspricht. Der Erzähler führt dieses Motiv hier also über den Erzählzusammenhang innerhalb der Erzählten Welt hinaus nur für den Leser ein. Was bedeutet die Erstnennung von in diesem Kontext für das Verständnis? An dieser Stelle entstehen (mindestens) drei Kontextbezüge, die kurz skizziert werden: Erstens bereitet in 6,64 Jesu -Ausspruch in 6,70 vor. Die Andeutung der Überlieferung ohne Enthüllung der Identität weckt beim Leser Neugierde. Der Erzähler und Jesus haben dem Leser etwas voraus. Dieser wird gezwungen, darauf zu warten, dass einer von ihnen das Geheimnis enthüllt. Beide lassen den Leser nicht lange warten. Jesu heftiger Vorstoß gibt bereits preis, dass die Identität im engsten Vertrautenkreis Jesu zu suchen ist, was der Erzähler unmittelbar im Anschluss durch die Szenenabschlussstellung ausdrücklich betont. Zweitens fällt die Erstnennung von durch die Positionierung in 6,64 im Zusammenhang des Unglaubens. Es wird sogar als Erläuterung zu Jesu Offenlegung verwendet, welche besagt, dass innerhalb des Jüngerkreises einige nicht glauben. Damit ist Judas implizit als Nicht-Glaubender kategorisiert. So erscheint das * als inkludierend, nicht als disjunktiv. Es kann sogar klimatisch verstanden werden. Nach dem Unglauben ‚der Juden‘ (5,18.38) bzw. des Volkes (6,24.36) glauben nun auch seine Jünger nicht (6,61.64) und schließlich gar einer der Zwölf.26 Die dritte Implikation entsteht durch das anschließende Jesuswort in 6,65. Wenn Jesus proklamiert, dass der Glaube von Gott gegeben ist und die Entscheidung zwischen Glauben und Nicht-Glauben damit den Zuhörern – implizite Adressaten sind die Jünger – abgenommen ist, so gilt das vielleicht auch für die Überlieferungsaussage. Das Futur in 6,64 und die Formulierung mit + in 6,71 unterstreichen die Möglichkeit dieser Deutung. Judas’ erste Szene zeigt eine Diskrepanz zwischen zwei Bewertungen einer Figur auf und hierarchisiert diese. Zwei Grundlinien zur Figur Judas werden so aufgezeigt, die im weiteren Verlauf zu beachten sind: zum einen die äußere (Kollektiv-)Zugehörigkeit zum engsten Jüngerkreis, die sich in Jesu Wahl bestätigt findet, zum anderen die stärker gewichtete, weil nur ihn betreffende, Verteufelung, die bereits mit dem Überlieferungsmotiv verbunden ist. Es ist im Erzählverlauf zu verfolgen, ob dieses Spannungsfeld aufgelöst wird. Judas steht von Anfang an zwischen zwei Extrempolen, in einem Widerspruch von Schein und Sein. Die Unterordnung des öffentlich Sichtbaren 26 Vgl. Klauck, Judas, 72. P. Dschulnigg urteilt in Bezug auf 6,64b über Judas, dass er „der Ungläubige in Person“ ist (ders., Jesus, 158). Entsprechend seiner Strukturanalyse der hier zentralen Episode, die er einen Vers vorher ansetzt (6,66–71), kann er im ersten und letzten Vers eine Rahmung erkennen und so die Jünger, die Jesus verlassen, und Judas parallelisieren (a. a. O. 160) und so Judas als Ungläubigen noch stärker profilieren.
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unter die Identität ist aber keine Absage an moralisches Handeln, sondern verschiebt das Bewertungskriterium auf die Person. Weitergeführt erhöht diese ‚Verschiebung‘ die Notwendigkeit der Reflexion für den Einzelnen, da es nicht genügt, sich irgendwo anzuschließen und sich gleich zu verhalten (wie Judas, der mit den anderen Elf bei Jesus bleibt), sondern jegliches Tun eigens und ehrlich motiviert sein muss. 2.2 Szene 2 (12,1–8) Judas’ zweite Nennung und der erste Auftritt, bei dem seine Anwesenheit explizit formuliert wird und er in Aktion tritt, erfolgen in 12,1–8. Hier ergreift er erst- (und ein-)malig das Wort und erfährt eine deutliche Negativcharakterisierung durch den Erzähler. Diese Dreierszene 12,1–11 bildet den Abschluss der Lazarusepisode und ist durch die explizite Zeit- und Ortsangabe in 12,12 deutlich vom Kontext abgegrenzt. Die Verse 9 und 10 f. nehmen andere Figuren in den Blick und 9a und 10 setzen offensichtlich einen anderen Ort als 12,1–8 voraus, weswegen sie formal eigenständige Szenen darstellen. Wegen ihrer Kürze und ihrem direkten Bezug auf den vorigen Schauplatz können sie ebenso als Abschluss der Szene 2 betrachten werden. Hier werden die Verse 9–11 wegen der formalen Kriterien und da sie keinen Bezug zu Judas herstellen als eigene Szenen angesehen und nur partiell in die Analyse einbezogen. Waren am Ende von Joh 11 der Tempel, die Gespräche dort und die Hohepriester im Fokus, setzt die Szene in 12,1 mit Jesu Kommen nach Betanien ein. 12,2 weist zudem daraufhin, dass Jesus bei den drei Geschwistern zu Gast ist, sodass wohl das Haus von Martha, Maria und Lazarus den konkreten Ort darstellt.27 Die Szene spielt sechs Tage vor dem Passafest (12,1). Explizit genannt sind Jesus, Lazarus, Martha, Maria und Judas Iskariot. Das 1 ! in 12,2 deutet auf weitere Tischgäste hin. So ist der ohnehin seit 6,67 in steter Gegenwart Jesu mitzudenkende Zwölferkreis implizit anwesend, was durch die explizite Erwähnung von Judas bestärkt wird. Weitere Gäste sind möglich. In den Versen 9–11 werden zudem eine große jüdische Menge, die Hohepriester und noch einmal ‚viele Juden‘ genannt. Die Szene stellt Jesu zweiten (und letzten) erzählten Besuch in Betanien dar. Durch die Prolepse in 11,2, die das Salbungsgeschehen erwähnt, ergibt sich mit dieser Szene die Rahmung der Lazarus- (oder Betanien-)episode (11,1–12,11). Nach Jesu letztem und größtem Wunder (11,39.43 f.) erfolgt eine doppelte Reaktion. Einerseits kommen viele Juden zum Glauben, andererseits beschließen die Pharisäer und Hohepriester Jesus zu töten. Jesus hin27
Ob die drei Geschwister in einem gemeinsamen Haus wohnen (auch 11,19 f. weist darauf hin), bleibt ungeklärt, ist aber auch nicht entscheidend. Dass Martha die Gäste bedient, ist ein Indiz dafür, dass zumindest sie dort wohnt. Ausgenommen von der Ortsfestlegung sind wie oben angemerkt 12,9b.10.
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gegen geht für eine unbestimmte Zeit mit seinen Jüngern nach Ephraim, bevor er zu Beginn der Szene 2 nach Betanien zurückkehrt. Der Todesbeschluss (11,53), der Fokus auf das Passafest und Jerusalem (11,55) sowie der Haftbefehl (11,57) deuten stark auf die Passion Jesu hin. Die Erwartung einiger Pilger, dass Jesus nicht in die Stadt gehen wird (11,56) steigert zudem die Spannung. Im Anschluss an die Lazarus-Episode (12,12) wird zeitgleich mit Enttäuschung der Pilgererwartung deutlich, dass nun der Ort, an dem Jesus sterben wird, erreicht ist. Umjubelt reitet Jesus in Jerusalem ein, wo er und seine Jünger bis zu seinem Tod bleiben. Die Spannung zwischen der von Lazarus’ Auferweckung begeisterten Menge und den jüdischen Obrigkeiten verdichtet sich zunehmend. 12,37–50 stellt schließlich den Scheideweg zwischen den Glaubenden und den Nicht-Glaubenden dar. Danach ist Jesus nur noch mit seinen Jüngern (mutmaßlich den Zwölf) zusammen und die Gruppe ‚der Juden‘ taucht erst wieder – und dort zugleich initiativ – zur rechtskräftigen Verurteilung Jesu zum Tode auf (18,28 ff.). Der Szenenbeginn (12,1), der primär als Orts- und Zeitangabe fungiert, bringt zugleich die Nähe zum Passafest zum Ausdruck. Durch 11,55–57 sind mit dem Passafest die unmittelbare Gefahr und der drohende Tod Jesu verbunden. Verstärkt wird dies durch die Nennung Betaniens. Als Referenzort weist Betanien auf das vorausgehende Kapitel, welches mit dem Todes- und Auferstehungsmotiv und dem in diesem Ereignis begründeten Todesbeschluss inhaltlich und darüber hinaus auch sprachlich28 auf Jesu Sterben hindeutet. Der Verweis auf Joh 11 – und zum Passionsmotiv – wird durch die explizite Nennung der Referenzfigur Lazarus und dessen Totenauferweckung verstärkt. Die Ortsbezeichnung in 12,1 gibt einen Hinweis auf das nicht benannte Subjekt des Folgeverses. Jesus wird von einer 3. Person Plural zu einem Essen geladen. Diese Leerstelle durch das fehlende Subjekt ist aber naheliegend zu füllen, da die einzigen dem Leser bekannten Betanier die drei Geschwister aus Joh 11 sind. So werden auch sie die Handlungssubjekte und damit die Einladenden sein – offen bleibt jedoch, ob eventuell nur zwei von ihnen, z. B. die Schwestern, gemeint sind. Explizit wird die Gastgeberschaft für Martha bestätigt, Lazarus wird unter den Gästen eingeordnet, Maria tritt im Anschluss in Aktion. Anwesend ist somit zumindest das gesamte Geschwistertrio. Jesus wird hier erstmalig bei einer Mahlzeit geschildert. Auch wenn die Hochzeitsfeier in Kana (2,8) und die Speisung der 5000 (6,11–13) mit einem Essen bzw. Trinken verbunden werden, isst Jesus nicht explizit – und auch hier wird eine explizite Nahrungsaufnahme verschwiegen. In 4,32.34 weist Jesus leibliche Speise sogar zurück. In 12,2 wird nun für ihn ein zubereitet. Dieses Lexem wird hier erstmalig genannt. Es setzt jedoch nur das 28
Vgl. die Analyse in Teil VI – Thomas: 2.1.
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Setting für das eigentliche Ereignis fest, während ihm später29 noch eine größere Bedeutung zukommt. Worin Marthas Dienst in 12,2 besteht, bleibt unbestimmt. Durch diese Handlung ordnet sie sich jedoch den Anwesenden unter. So entfaltet sich in der Figurenkonstellation eine soziale Hierarchie. Wie in Joh 2 die Diener, nimmt hier Martha die unterste Position ein. Jesus, dem das Mahl gilt, steht an der Spitze der Rangordnung. Dies ist nun nicht überraschend, da Jesus erzählerisch die höchste Autorität unter allen Figuren besitzt. Marthas Bruder Lazarus wird im Gegensatz zu ihr mit den Gästen (den Zu-Tisch-Liegenden) auf eine Stufe gestellt. Durch eine besondere Nähe zu Jesus (%2 $ 3 nicht bloß 4 $ 5) erfährt er eine hierarchische Aufwertung. Wenn dadurch Maria in den Plural von *6% eingeschlossen ist, steht sie mit Martha auf einer Stufe. Somit ist ein hierarchisches Setting zu Beginn der Szene installiert. Innerhalb der Gäste sind keine Unterschiede festgestellt und ob über den Zwölferkreis hinaus Gäste anwesend sind, bleibt eine Leerstelle. In der so beschriebenen Situation setzt die Handlung ein. Maria salbt Jesu Füße und trocknet sie mit ihrem Haar. Dabei ist dem Leser dieses Geschehen bereits bekannt. In 11,2 wurde Maria durch diese Handlung vorgestellt, die hier nun ausführlicher geschildert wird. Auffällig ist in 11,2 die Verwendung von Imperfekt und Aorist, was in die Vergangenheit zu weisen scheint. Hier wird nun deutlich, dass das dort genannte Ereignis noch bevorstand. Als erstes Signalwort fungiert & , welches nur in der Schilderung dieses Ereignisses im gesamten Joh vorkommt.30 Auch wenn Marias Handlung an sich wegen der Prolepse nicht mehr überrascht, so weist die konkrete Darstellung Neuerungen auf. Scheut sich der Erzähler sonst nicht vor wörtlichen Doppelungen, formuliert er hier neu, ändert Satzbau und Grammatik und fügt Details hinzu. Besonders auffällig sind die sinnliche Ausschmückung, die Steigerung der persönlichen Geste durch mehr Verben und die Betonung von Menge31 und Wert des assoziierten Gegenstands, des Salböls. Durch den olfaktorischen Ausdruck wird der Leser stärker in die Situation hineingenommen.32 Insgesamt wirkt die Szene – zumindest für heutige Ohren – etwas 29
Die Lexemhäufungen verweisen auf Sz. 3. Die vier Belegstellen befinden sich in der Prolepse in 11,2 sowie in dieser Szene zweimal in der Ereignisschilderung in 12,3 und in Judas’ Anfrage in 12,5. 31 M. Theobald gibt 327,25 Gramm als umgerechnete Menge eines damaligen Pfundes an (ders., Evangelium, 775). Es handelt sich also nicht nur um eine symbolische Geste, sondern die Menge reicht aus, zwei Füße (zur Reinigung und/oder Pflege) vollständig einzuölen. 32 Auffällig ist, dass die einzige andere Geruchsnennung im Joh von Marias Schwester Martha ausgesprochen wird (11,39). Die Gegenüberstellung von dem Duft des Salböls mit dem Gestank des verwesenden Leichnams trägt eine Verbindung des Wohlgeruchs mit dem Thema Leben in die Erzählung ein. (Eine ähnliche Gegenüberstellung findet sich in 2 Kor 2,15 f.). 30
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befremdlich, aber durch die ausgedrückte Wertschätzung Jesu in jedem Fall positiv. Indem sich Judas zu Wort meldet (11,4 f.), kündigt sich ein Umbruch an. Er wird als Kontrastfigur zu Maria profiliert.33 Durch seine Negativzeichnung in Szene 1 ist hier nun nichts Positives zu erwarten. Die Negativkonnotation wird sogar noch explizit betont, indem 0 $ ( auf das Referenzmotiv aus 6,71 verweist. Bei einem Vergleich von Judas’ Nennung hier mit seiner Erstnennung fällt auf, dass die drei Attribute, die ihn in 6,71 näher bestimmen, sich sämtlich wiederholt finden, aber in ihrer Ausprägung alle variiert werden. So ist sein Namenszusatz abgekürzt. Anstelle des zweigliedrigen Vaternamens im Genitiv findet sich nur noch der Zusatz 0 ,% / 6 im Nominativ, der wie eine Namensergänzung als Figurenattribut zur eindeutigen Identifizierung angefügt wird. Die Zuordnung in den Jüngerkreis erfolgt als zweites. Dabei ist der Terminus ‚die Zwölf‘ durch den offeneren Begriff des übergeordneten Kollektivs ‚Jünger‘ ersetzt. Dass sich darin eine größere Distanz zu Jesus ausgedrückt findet, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Mit der gleichen Wortwahl (Referenzformulierungen) wurde bereits Andreas als Jünger Jesu gekennzeichnet (6,8) und wird später der Geliebte Jünger eingeführt (13,23). Dieser Ausdruck ordnet Judas also in das Jüngerkollektiv gleichwertig ein. Zudem verdeutlicht er die stets mitzudenkende Anwesenheit der Jünger bei Jesus – in diesem Fall unter den Gästen in impliziter Kollektivzugehörigkeit subsummiert. In der Hierarchie nimmt Judas in diesem Ausdruck seine Position also auf mittlerer Ebene innerhalb des Figurenkollektivs ‚Gäste‘ ein. Nach Name und Gruppenzugehörigkeit wird wieder sein wesentliches Merkmal benannt. Sein Überlieferungsvorhaben34 wird mit einer Partizipialkonstruktion angefügt. Der gleichzeitige, durative Aspekt des Präsens drückt die Konstanz des Vorhabens aus und lässt es dadurch als einen Wesenszug des Judas erscheinen. Für den Leser wirkt dies als Botschaft: Dass Judas der Überliefernde ist, soll auch bei dem, was er redet, mitgedacht werden. Judas’ Frage adressiert niemanden konkret. So scheinen alle Anwesenden als implizite Adressaten angesprochen, nicht nur die beiden als Handlungssubjekt und Erlebensobjekt direkt beteiligten Figuren Maria und Jesus. Darüber hinaus richtet sich seine Frage als Leseransprache an den Leser und bewegt ihn dazu, dass Erzählte zu reflektieren: Ist Marias Wertschätzung gegenüber Jesus uneingeschränkt positiv, wie die Darstellung es vermuten 33
P. Dschulnigg sieht das gesamte bethanische Geschwistertrio als Gegenüber zu Judas ausgeformt (vgl. ders., Jesus, 166). Aufbau und Handlungsanteil der Szene fokussieren jedoch nur Maria. Als Figurenkollektiv werden die Geschwister nicht genannt und als einzelne Figuren wäre eine Kontrastierung zu Judas ebenso möglich wie zu Maria oder Jesus. Die Kontrastierung des Kollektivs findet keinen textuellen Anhaltspunkt. 34 Zur Deutungsoffenheit von siehe 2.1.
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ließ? Judas formuliert eine Alternativhandlung und fragt, warum diese nicht gewählt wurde.35 Der Rückgriff auf das Passiv klammert Maria aus. Als Handlungssubjekt ist sie allen bekannt, wird aber durch die Formulierung nur indirekt angesprochen. So bleibt auch offen, ob sie den Verkauf und die Almosenverteilung hätte unternehmen sollen. Ist vielleicht Jesus primär adressiert oder Lazarus oder gar Martha? In Judas’ sachlicher Rückfrage schwingt Kritik mit. Er verlangt eine Begründung für das, was zuvor geschehen ist, formuliert eine Rechtfertigungsforderung für unumkehrbares Handeln. Wird die Rückfrage nicht wertneutral gelesen, ergibt sich ein anderes Bild: In dem vom Duft angefüllten Haus ergreift Judas das Wort und wertet Marias Salbung ab. Er bringt sie, die sich bereits erniedrigte, subtil in die Rolle einer Angeklagten. Mit einem plausiblen Einwand ist sie und ihr Liebesdienst diffamiert und alle Anwesenden erwarten ihre Rechtfertigung.36 Ob nun abwertend oder neutral – Judas fordert eine Stellungnahme, die einleuchtend klingt. Doch der Leser ist bereits vorgewarnt, dass er kritisch lesen soll. Wenn der negativ stigmatisierte Judas die Frage stellt, kann sie nicht rechtmäßig sein. Einen Hinweis bietet der bislang unbekannte Gegenwert der Salbe. Neben dem Ausdruck des Unverständnisses, das Judas darüber äußert, dass ein solcher immenser Wert37 nicht anders verwendet wurde, signalisiert die Nennung dem Leser zweierlei. Zum einen steigert er die Jesus entgegenbrachte Wertschätzung Marias. Sie hat sich diesem in ihrer dienenden Geste nicht nur untergeordnet und ihm etwas „Kostbares“ (12,3) gewidmet, sondern einen unglaublich großen Wert – mutmaßlich sogar ihren kostbarsten Besitz – an ihn verschenkt. Das finanzielle Verhältnis im sozial-kulturellen Setting der Szene ist kaum zu erahnen.38 Da Reichtum im Joh insgesamt spärlich thematisiert wird, kann auch über den Besitz der Betanischen Geschwister kaum eine Aussage getroffen werden. Anzeichen für gewissen Besitzstand sind das Haus, die Möglichkeit der Bewirtung, das Vorhandensein eines Grabes, die 35
Als Intertexte seien Dtn 14,24–29; 15,11 genannt, die das Motiv der (finanziellen) Fürsorge der Armen benennen. Im NT bieten sich z. B. Mt 6,3 f.; Mk 10,21 f. parr.; Lk 19,8; Röm 15,26 als intertextuelle Referenzen an. 36 Wenngleich Maria weniger schwerwiegend beschuldigt wird, bietet sich Joh 8 in der tradierten Form des Joh als Referenzmotiv an: Eine Frau steht als Angeklagte im Mittelpunkt, die Blicke der Anwesenden ruhen auf ihr und sie soll sich zu etwas äußern, was unumkehrbar vor aller Augen (oder zumindest vor denen von Zeugen) geschehen ist. 37 Durch sozialgeschichtliche Forschung kann der Wert detailliert errechnet werden. Bei einem Denar Tageslohn für Tagelöhner entspricht der Gegenwert mit 300 Denaren beinahe einem Jahresgehalt (vgl. Theobald, Evangelium, 775; Schnelle, Evangelium, 222, Anm. 8; Mt 20,2). H. Schröder gibt sogar an, dass 300 Denare dem 1½-fache Jahresgehalt eines Facharbeiters entsprechen (ders., Jesus, 223). Intratextuell wird der Gegenwert dadurch deutlich, dass nach 6,7 die Jünger zusammen wohl nicht mehr als 200 Denare besitzen. 38 Zur Herstellung und zum Wert des Öls vgl. Schröder, Jesus, 218–221.
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Möglichkeit, jemanden zu Jesus zu senden und schließlich die Salbe. Wohlstand kann daraus jedoch nicht geschlossen werden. Deutlichstes Indiz gegen Reichtum ist, dass Martha das Bedienen übernimmt und keine Bediensteten wie bei der Hochzeit (2,1–11) oder dem % - (4,51) erkennbar sind. Neben der Wertsteigerung von Marias Tun fällt Judas’ Kenntnis des Gegenwertes auf. Der (allwissende) Erzähler überlässt es ihm in einer Figurenrede, diese Information zu vermitteln. Deutlich wird, dass Judas den Geldwert fixiert. Er kann einschätzen, wie viel ein Verkauf der Salbe einbringen würde und auch die große Summe von 300 Denaren ist ihm nicht fremd. Oder ist die Nennung der Summe nur eine Hyperbel und soll das Ausmaß der Verschwendung verdeutlichen? Dann wird Judas’ Aussage aber ironisch und sein Anliegen, das Geld den Armen zu geben, wirkt lächerlich. Judas konkretisiert die indeterminierten Armen nicht, sodass wohl keine konkrete, gar dem Gästekollektiv zugehörige Zielgruppe gemeint ist. Diese Leerstelle, die unbekannte Anzahl der Anwesenden, ist nur schwerlich aufgrund einer Sprechhandlungsbezogenheit mit einem anwesenden Armenkollektiv zu füllen. Vielmehr scheint Judas auf eine gewohnte Sitte, das Almosen geben (s. o.), Bezug zu nehmen. Somit setzt er der konkreten Handlung Marias an Jesus eine abstrakte allgemeine gute Tat entgegen. Wirkt der Inhalt von Judas’ Aussage, obwohl von ihm, dem , ausgesprochen, noch moralisch gut, wird der Transfer auf Judas’ Charakter vom Erzähler in 12,6 unterbunden. Er gewährt Einblick in Judas’ Intention und belegt ihn in einer beschreibenden Kommentierung mit einem weiteren negativen Merkmal. Judas ist ein Dieb. Explizit wird ihm die Sorge um das Ergehen der Armen abgestritten. Dass er stattdessen das Geld für sich (oder für die Jünger) habe hinterziehen wollen, legt der Ausdruck Dieb (s. u.) nahe – wird aber im Folgenden nicht eindeutig gesagt. Zumindest scheint er der ‚Kassenwart‘ der Jüngergruppe um Jesus zu sein. Das determinierte Wort %%wurde zuvor noch nicht erwähnt.39 Die Determination weist somit darauf, dass es nur eine bestimmte ‚JüngerJesu-Kasse‘ gibt, die mit Judas assoziiert wird. In 6,7 hatte allerdings wohl auch Philippus Einblick in die Finanzbestände. Wie die finanzielle Situation der Jünger vorzustellen ist, bleibt weitgehend unklar. Sie scheinen sich sowohl selbst zu versorgen (4,8) als auch von anderen versorgt zu werden (2,2; 6,9; 12,2). Vor allem über regelmäßige Einnahmen fehlt jegliche Auskunft. Mutmaßlich bezeichnet 7 Geldspenden durch andere.40 Jesus
39
Das Lexem taucht außerhalb des Joh nicht auf, findet aber in übrigen antiken Quellen reichlich Belege und bezeichnet zunächst irgendein Behältnis (vgl. Bauer, Joh, 159). 40 O. Hofius überträgt in 12,6 mit „Geld in eine Kasse u. ä. einlegen“ (ders., , 458; vgl. Bauer, , 264).
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wirkt dabei an den Finanzgeschäften unbeteiligt.41 Den Umgang mit Geld überlässt er seinen Jüngern. Die Verknüpfung der Figur Judas mit dem Motiv ‚Geld‘ ist markant. Als Kassenträger, Geldsammler und Werteinschätzer ist er die Figur mit der stärksten Affinität zum Geld (auch wenn die synoptische Tradition der Bezahlung für die Überlieferung Jesu42 im Joh nicht erwähnt wird). Jesus hingegen hält auffälligen Abstand zum Geld – in 4,8 begleitet er die Jünger beim Einkauf nicht und in 6,5 f. nutzt er den Einsatz von Geld zur Prüfung des Philippus. Judas’ Negativzeichnung kann also als Negativkonnotation für Finanzielles gelesen werden. Der Erzählereinschub verschärft die Negativzeichnung des Judas deutlich. Das Lexem 6 ist bereits durch die Belegstelle in 10,1–10 vorbelastet. Im Doppelbild von Tür und Hirte wird er dort Jesus, dem Hirten, gegenübergestellt. Drei Informationen reichern das Bild des Diebes durch die Referenz auf Joh 10 mit Eigenschaften an. Der Dieb verschafft sich illegitimen Zugang zum Schafstall (10,1). Die Schafe befolgen nicht, was er anordnet (10,8). Er kommt ausschließlich, um zu stehlen, zu schlachten und umzubringen (10,10). Jesus hingegen bezeichnet sich als guten Hirten, der den Stall rechtmäßig betritt, dem die Schafe folgen und der sogar für die Schafe stirbt. Der Dieb verkörpert in der Hirtenrede eine der Negativfolien, von denen sich Jesus als guter Hirte abhebt.43 Zweimal wird der Dieb mit dem Wort 8% 9 zusammen genannt. Dies stellt vom semantischen Gehalt an sich durch den Aspekt der Gewalt noch eine Verschärfung dar. Der Erzähler verwendet es aber eher synonym. Während 6 zur Bezeichnung des Judas dient, erscheint 8% 9 erst in 18,40, um Barrabas einzuführen. Dort kennzeichnet es ihn als einen zum Tode verurteilten Verbrecher. Vor dem Hintergrund von Joh 10 erscheint die Bezeichnung von Judas als Dieb noch abwertender als sie im Kontext von 12,6 ohnehin wirkt. Auf Judas’ Anfrage ist noch eine diegetische Antwort zu erwarten. Eine Reaktion von Maria oder den anderen Anwesenden bleibt aus. Weder Zustimmung noch Rechtfertigung erklingen. Stattdessen weist Jesus – als höchste Autorität – Judas scharf zurecht (12,7). Er deckt jedoch nicht Judas’ wahres Ansinnen oder seine Heuchelei (sein Innenleben) auf, was ihm aufgrund seiner Allwissenheit möglich wäre, sondern verteidigt Maria, begründet ihr Tun und nivelliert Judas’ Alternativvorschlag. Die Hierarchie der Szene wird durch Jesu Eingreifen aufgehoben. Marias demütige Geste zu Beginn der Szene positioniert sie am unteren Ende einer Hierarchie. Judas, der als Gast über Maria steht, stärkt seine Position durch 41
Allerdings schließt sich Jesus in das grammatikalische Subjekt der Kaufhandlung in 6,5 ein und wird in 13,29 als Initiator für finanzielle Angelegenheiten wahrgenommen. 42 Vgl. Mk 14,10 f. parr. 43 Weitere Negativfolien sind ‚der Fremde‘ und ‚der Gemietete [Hirte]‘.
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die Rechtfertigungsforderung in 12,5. Mit seinem scheinheiligen Vorschlag ist ihm die Zustimmung der Anwesenden eigentlich sicher. Auch als Leser wäre man geneigt ihm zuzustimmen, wenn nicht der Erzähler zusätzliche Informationen mitgeteilt hätte. Durch seinen Einwurf festigt Judas seine hierarchische Position. Jesus jedoch wertet Maria auf und durch die harsche Antwort an Judas diesen ab. Er durchbricht die konventionelle Hierarchie, auf der Judas Maria dominieren kann. Indem Jesus sich in 12,7 mit einem Imperativ an Judas richtet, wird bereits eine Gegenrede markiert. Das :; $ 9 beinhaltet ein weites Spektrum, das die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Judas und Maria festlegt: lass sie in Frieden, lass sie gehen, lass sie fortfahren, gestatte es ihr, verzeih ihr. Die negative Einbettung von Judas als Figur deutet dabei eher auf die ersteren Übersetzungen – auch weil letztere Judas eine Autorität zugesteht, die sich nirgends sonst bestätigt findet, scheiden diese aus. Ist so der Angriff auf Maria bereits abgewehrt, erklärt Jesus ihre Handlung trotzdem noch. Das < gibt einen Zweck an, das = einen Grund. Schließt insbesondere die erste der beiden Konjunktionen grammatikalisch an den an Judas gerichteten Imperativ an, sind beide inhaltlich auf die Handlung Marias bezogen. Jesus erklärt Marias Salbung als Begräbnisvorbereitung. Dies kann nur als prophetische oder metaphorische Handlung verstanden sein, da Jesus ja nicht an diesem Tag (sechs Tage vor Passa) begraben wird. Zum Begräbnis Jesu (19,38–42) erscheint Maria dann auch nicht erneut. Ist der Tag für Jesu Begräbnisvorbereitung (in metaphorischer Hinsicht) schon an dem Tag der Szene gekommen,44 dann stellt sich die Frage, was damit gemeint ist. Vielleicht spricht Jesus von seinem Abschied von den betanischen Geschwistern vor seinem Tod. Erneut wird durch diese Zwecknennung Jesu Tod angedeutet – und erneut wird dieser nicht explizit benannt. Durch die Einordnung von Marias Handlung (als auf seinen Tod bezogen), wird sie auch Judas gegenübergestellt. So fungieren Maria und Judas als Kontrastfiguren in Musterrollen einer möglichen Vorbereitung auf Jesu Tod. Maria salbt ihn, Judas plant, ihn auszuliefern.45 Die zweite Begründung Jesu (12,8) stellt einen Vergleich über die zeitliche Situierung der beiden thematisierten Alternativhandlungen an. Judas’ Einwand wird so nicht prinzipiell widersprochen, er wird nur für unzeitig erklärt. Marias Handlung ist nur in einem bestimmten Zeitfenster möglich – dem von Jesu leibhaftiger Gegenwart. Die Präsenz von Armen wird über einen konkreten Zeitraum hinaus für immerwährend ( ) erklärt. Somit würde die daraus abgeleitete Forderung lauten: Solange Jesus da ist, ist ihm Gutes zu tun, sobald er nicht da ist, sind Arme zu versorgen. Als Leseransprache ver44 Vgl. Thyen, Joh, 552 f. – allerdings ohne Deutung, was damit inhaltlich ausgesagt sein kann. 45 Siehe dazu 3.1.2.
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standen, wäre dies ein Aufruf zum Almosen geben, da Jesus ja nicht mehr (leibhaftig) anwesend ist. Doch so einfach lässt sich Jesu Satz nicht pauschalisieren. Erstens legitimiert Jesus nur die konkrete Tat Marias an ihm und ruft nicht in narzisstischer Egozentrierung zu weiteren ‚Liebestaten‘ auf. Zweitens beinhaltet die Aussage der dauerhaften Präsenz von Armen nur die Möglichkeit des Almosengebens, nicht jedoch den Aufruf dazu – die Entscheidung scheint er den Hörern (und Lesern) vielmehr selbst zu überlassen. Die Wahl zwischen Marias Verhalten und Judas’ Vorschlag, die sich aus der Kontrastierung der beiden ergibt, ist nicht zwingend die sinnvolle Alternative. Tatsächlich ist eine weitere Möglichkeit denkbar und durch die Kontrastierung zwischen Maria und Judas sogar narrativ angelegt. Es ist denkbar, dass das Handlungssubjekt Maria das Salböl und damit den immensen Wert für sich behält. Dies wird für Maria aber innerhalb der Erzählung nicht einmal erwogen. Über Judas wird hingegen berichtet, dass er das Geld für sich haben möchte. Somit ist eine dritte Geldverwendung in die Szene eingetragen: Der Luxus. Judas’ Frage muss umgedreht werden: Was ist eine legitime Alternative zum Almosen geben? Diese Frage beantwortet diese Szene narrativ. Die Alternative zum Spenden ist nicht Luxus sondern „Liebeswerk“.46 Dabei greift Jesus in seinem Parallelismus das gleiche Verhältnis von Abstraktion und Konkretion auf, das bereits Judas in seiner Anfrage deutlich werden ließ. Der unspezifischen Größe der Armen stellt er sich als Individuum gegenüber. Die Bewusstmachung der abstrakten Formulierung ist wichtig, da konkrete Arme schließlich ja gerade nicht ewig leben, aber die soziale Gruppierung fortwährend besteht. Dieser Sammelbegriff wird Jesu Hinwendung zum Einzelnen, der kontinuierlich erzählt wurde, nicht gerecht. So scheint er sogar das Almosengeben als solches zu ironisieren. Wenn es Judas nur darum geht, Armen Geld zu geben und er keine konkrete Situation, kein konkretes Notleiden, nennen kann, ist dies zumindest nicht akut wichtig. Eine solche Lesart rückt das ‚immer‘ ( ) der Möglichkeit der Armenversorgung nah an ein ‚nie‘ der Notwendigkeit der Armenversorgung. Im Kontext von narrativer Ethik kann dies als Plädoyer dafür gelesen werden, dass ein allgemeines Prinzip ohne Anbindung einer konkreten Situation seine Gültigkeit insofern verliert, als seine Relevanz nachgeordnet wird. Mit Jesu Sprechhandlung in 12,8 endet die Szene. Jesus behält das letzte Wort. Weitere Reaktionen oder Diskussionen von Anwesenden, insbesondere Maria oder Judas, werden verschwiegen. Vielmehr lässt der Erzähler Judas’ Einwand verblassen. Jesus hat ihn abgetan und damit kann der Blick auf weiteres Geschehen gerichtet werden. Jesu Anwesenheit und Lazarus’ Auferste46
Dieses Urteil fällt ohne narrative Entfaltung, sondern anhand historischer Einbettung J. Jeremias zur markinischen Parallele in Mk 14,3–9 (ders., Salbungsgeschichte, 82). Zur Einbettung des Begriffes „Liebeswerk“ in den Kontext von AT, NT und rabbinischer Literatur vgl. a. a. O., 77–81. Vgl. 3.1.4; 5.2.
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hung dienen vielen Juden als Grund ebenfalls nach Betanien zu kommen. Den Hohepriestern gereicht dies zum Anlass, auch Lazarus’ Tod zu beschließen. Dramaturgisch erhöht sich so die Spannung und das Thema von Jesu Tod wird wieder als reale Gefahr in die Geschichte eingetragen. Die Umsetzung des Tötungsvorhabens an Lazarus fehlt allerdings innerhalb der Erzählung. Dass der Grund zur Tötung erst nach dem Beschluss zu diesem erzählt wird, führt dazu, dass der Glaube an Jesus die Episode abschließt. Dies ist das zentrale Thema. Gerade diese gestraffte Nennung dramaturgisch relevanter Ereignisse und Betonung szenenübergreifend wesentlicher Motive, überdeckt Judas’ Auftritt. Zurück bleibt die Negativstigmatisierung. 2.3 Szene 3 (13,1–30) Die dritte Szene, in der Judas genannt wird, umfasst beinahe ein ganzes Kapitel. Zur Abgrenzung, Einordnung und den Rahmendaten der Szene siehe Teil III – Petrus, 2.3. Da diese Szene somit eine enorme Textmenge umfasst, werden in ihr einige Schwerpunkte, nämlich auf die Verse 1–3.10 f.18.21–30, gesetzt. Insgesamt fällt auf, wie stark Judas’ Überlieferungstat und Aussonderung aus dem Jüngerkreis in diese Szene hineingewoben ist.47 Die nächtliche Versammlung zum gemeinsamen Essen findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, in der sich Jesu voriges Wirken ereignete (Joh 2–12), und setzt allein durch diesen Kontext der Jüngergemeinschaft (eventuell im Kreis der Zwölf) eine Begegnung unter Vertrauten voraus.48 Dies bestimmt die Atmosphäre von Judas’ drittem Auftritt. Die Szene setzt mit einer erzählerischen Vorbemerkung ein. Unter der Nennung der Zeitangabe (vor dem Passafest) referiert der Erzähler Jesu Wissen, welches erneut über das menschliche Wissen anderer Figuren hinausgeht. Die zeitlichen Termini binden den heilsgeschichtlichen Moment ( - , > ) an die historische Erzählte Zeit ( ) an. Die zwei wesentlichen Themen sind das Kommen von Jesu Stunde, welches seinen Weggang zum Vater bedeutet – somit ein punktuelles Ereignis – und Jesu Liebe zu den Seinen, welche in einen dauerhaften Zustand überführt wird. Verbunden sind beide Motive durch das Lexem -% , aus dem Jesus weggeht und in dem die Seinen sind. ‚Die Welt‘ ist im Joh doppeldeutig als Ort und personifiziert als Figur verwendet und ambivalent als Jesus abweisend und doch von ihm zu retten bewertet.49 13,2 konkretisiert die Situation. Zum zweiten Mal findet ein statt. So wird hier an Judas’ zweite Szene angeknüpft. Wieder kommt Judas im Mahlkontext eine Bedeutung zu – hier jedoch eine, die dem Leser nicht mehr 47
Ein Vergleich mit den synoptischen Evangelien unterstreicht diesen Eindruck noch. Mk 14,18–21 parr. liefert die Darstellung in sehr kompakter Form. 48 Beachte die Verwendung von 2 ? * ' in 13,1. 49 Vgl. als Belegstellen z. B. 1,9; 7,7 mit 3,17; 6,33.51; 12,47.
2 Einzelanalyse der Szenen
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neu ist: Judas wird Jesus überliefern. Neu ist allerdings die Begründung (und Motivation) für diese Handlung. War diese bisher offen gelassen, wird nun ein übernatürlicher Auslöser genannt. Der , mit dem Judas in seiner ersten Szene gleichgesetzt wurde, tritt handelnd in Aktion. Dabei wird das Ereignis nur aus der Retrospektive, vom Ergebnis her betrachtet, was die perfektische Formulierung unterstreicht. Gerade in Kombination mit 6 ? * klingt die Aussage beinahe sprichwörtlich oder zumindest so mythisch abstrakt, dass keine konkrete Handlung gemeint zu sein scheint. So kann dies auch als sprachliches Bild für das Treffen einer bösen Entscheidung, das Fassen seines teuflischen Überlieferungsplanes, fungieren. Mit dieser Interpretation bleibt offen, ob der Teufel wirklich als Figur auftritt. In 8,44 hat Jesus eine Kurzcharakterisierung von ihm geboten.50 Er wird dort als Mörder und Lügner bezeichnet und Gott und Jesus gegenübergestellt. Diese beiden Eigenschaften wortwörtlich auf Judas zu übertragen, ist nur schwierig möglich. Sie spiegeln sich in Judas nur insofern wider, als er Jesu Tod verursacht ( Mörder) und ihm die Treue bricht ( Lügner). Durch die Betroffenheit seines Herzens wird Judas verstärkt in die Sphäre des Bösen eingeschrieben. Die * ist als Zentrum des Inneren, von Leben und Gefühlswelt, Entscheidungen und geheimer Erkenntnis der entscheidende Kern des menschlichen Selbst.51 Die Negativstigmatisierung des Judas wird also weiter untermauert. Offen gelassen wird allerdings der Anteil an persönlicher Schuld und bewusstem Wissens. Hatte schon in Szene 1 die Formulierung mit offengelassen, ob nicht eine höhere Bestimmung Judas zu diesem Verhalten zwingt, empfängt er nun seine Eingebungen von einer dämonischen Macht. Ist Judas eine willenlose Figur, eine Marionette übernatürlicher Mächte? Auch zu Beginn der dritten Szene wird Judas wieder mit seinem Vaternamen als Attribut eindeutig identifiziert und mit der Überlieferung Jesu als seiner wesentlichen Eigenschaft verbunden (13,2). Jesus wird allerdings nur durch ein Personalpronomen genannt. Dadurch wird die Nebeneinanderstellung beider Namen, was Nähe zum Ausdruck bringen könnte, vermieden. Die akute Bedrohung, die aus der Situation der ‚Teufelseingebung‘ erwächst, wird vom Erzähler postwendend entschärft (13,3). Jesu (vom Vater autorisierte) Hoheit über alles Geschehen wird erklärt und sein Weg von Gott herkommend und zu Gott hin als vorherbestimmt eingeordnet. Damit ist selbst alles böse, bevorstehende Handeln seiner Macht untergeordnet. Die Einordnung in das kosmische Geschehen als zweite raum-zeitliche Dimension verstärkt den Eindruck von Judas’ Schuldlosigkeit.
50 Bemerkenswert ist der Kontext von 8,44. Jesus bezichtigt dort die Juden, die laut Erzähler an ihn glauben, den Teufel zum Vater zu haben und nicht an ihn zu glauben. 51 Vgl. Lescow, Herz, 559 f.; Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 33–40.
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Ab 13,4 setzt die konkrete Handlung ein. Jesus wäscht seinen Jüngern (und damit auch Judas) die Füße. Zwar kann das Füßewaschen auch als „Freundschaftsdienst“ aufgefasst werden, ist aber zugleich „niedrigster Sklavendienst“.52 Jesus selbst bringt sich in die Dienerposition, die bereits aus Joh 2,1–11 und 12,2 bekannt ist. Dort war Jesus jedoch jeweils Gast und ihm wurde gedient. Diese symbolisch stark aufgeladene Szene wird von Jesus gleich doppelt gedeutet. Im Gespräch mit Simon Petrus erklärt er die Fußwaschung als Akt zur Anteilhabe an ihm (6–10) und nach Abschluss der Waschungen deutet er sie als Beispielhandlung (13–18).53 An beiden Stellen erfolgt ein Verweis auf Judas, der diesen aus dem Jüngerkollektiv ausschließt. Allerdings verschweigen sowohl Jesus als auch der Erzähler dessen Namen, sodass die Nennung nur implizit erfolgt. In 13,10 spricht Jesus den Jüngern zu, rein zu sein. Nach dem vorausgehenden Dialog zwischen Jesus und Simon Petrus kennzeichnet das Jesu Zuwendung an alle Versammelten. Er vergleicht sie durch ein Bild mit den Gebadeten, denen nur die Füße gewaschen werden müssen. Doch die äußerliche Sauberkeit enthält einen metaphorischen Sinn, welcher auch im Deutschen im Wort ‚rein‘ mitschwingt. Dabei geht es um eine kultische oder moralische Unbeflecktheit. Entsprechend der bisherigen Charakterisierung und Bewertung von Judas würde es verwundern, Judas so bezeichnet zu wissen. Dementsprechend eröffnet Jesus einen scharfen Gegensatz. Durch abgegrenzt und durch $ pointiert verneint bestreitet er, dass sein Zuspruch Gültigkeit für die gesamte anwesende Jüngerschaft hat. Wen er mit seinem Nachsatz adressiert und wie viele Jünger ausgenommen sind, lässt seine Einschränkung offen, aber dass Judas unter ihnen ist, liegt nahe. Eine Reaktion der Jünger wird nicht berichtet. Der Erzähler lässt die Offenheit der Aussage Jesu für den Leser nicht bestehen, sondern greift mit einer Kommentierung erneut erklärend ein. Jesu Kenntnis seines Überlieferers wird als Begründung für Jesu Ausspruch angeführt. Die mehrfache Verknüpfung von Judas mit dem Verb bewirkt die Möglichkeit einer synonymen, quasinamentlichen Verwendung. Das Partizip Präsens reduziert Judas damit auf seine eine Handlung, die durch das Präsens nicht auf den einmaligen Akt in der Zukunft bezogen wird, sondern als grundlegender Charakterzug erscheint. Mit seiner monokausalen Begründung schließt der Erzähler implizit aus, dass weitere Jünger mit dem „nicht alle“ in Jesu Rede gemeint sind. Dass Jesus seinen Überlieferer kennt, ist dem Leser schon seit 6,64 bekannt. An dieser Stelle liefert der Erzählereinwurf also keine neue Information. Folglich wird
52 53
Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 155. Siehe zu beiden Abschnitten Teil III – Petrus: 2.3.
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2 Einzelanalyse der Szenen
der Ausschluss von Judas aus dem ‚ganz reinen‘ Jüngerkollektiv noch verstärkt.54 Jesu zweite Deutung der Fußwaschung, nämlich als vorbildliche Beispielhandlung, schließt mit einer Seligsprechung der Tuenden.55 Der nachfolgende Satz (18a) ist ein Kommentar seiner eigenen Aussagen, in dem er angibt, über wen er spricht. Wiederum schränkt Jesus den Adressatenkreis innerhalb der anwesenden Zuhörer durch ein „nicht alle“ (diesmal: $ ! ) ein. Die Parallele zu 13,10 ist auffällig. Wieder wird Judas gemeint sein.56 Sprechhandlungsklassifikation und Sprechhandlungsbezogenheit sind dabei nicht eindeutig (s. Abb. 21). Das Fehlen eines Objektes legt nahe, dass das Folgende (18b) kommentiert wird – der Satz quasi als Ankündigung fungiert – und mit einem Doppelpunkt schließen müsste (gepunktete Pfeile). @$
Kommentar zu 13,14.15.17
!
A
Ankündigung ( Betonung und Einschränkung von 18b )
B C
*
Begründung/ Behauptung/ Selbstoffenbarung
6 A
Behauptung/ Selbstoffenbarung
Abb. 21 Alternativen d. Sprechhandlungsklassifikation u. -bezogenheit v. Joh 13,18a
Doch inhaltlich liegen die vorausgehenden Kollektivaussagen näher: „Ihr müsst einander die Füße waschen“ (14), „damit ihr tut, wie ich an euch tat“ (15), „selig seid ihr…“ (17) (gestrichelte Pfeile). Die anschließende Erwählungserklärung kann also nicht nur als Behauptung oder Selbstoffenbarung klassifiziert werden, sondern auch als Begründung. Gegen die zunächst vorgestellte Deutung (gepunktet), gibt es folgende logische Einwände. Als Ankündigung greift die Negation des ersten Satzes nicht nur für das grammatikalische Objekt ! , sondern auch für den betonten Folgesatz. Wenn Jesus so sein eigenes Wissen einschränken würde, entspräche das nicht der Darstellung Jesu als Allwissendem, die mehrfach betont wird.57 Die 54 K. Barth erscheint Judas pointiert „als der Repräsentant und Träger der Unreinheit aller Apostel“ (ders., Dogmatik, 513; vgl. a. a. O., 516; 523 f.). Die Abwälzung der Unreinheit auf Judas vollzieht Barth über eine Fußmetaphorik, die auf die kulturelle Einschätzung der Füße zurückgreift. Weiterhin ist ihm intertextuelles Zusammenspiel Beleg (v. A. Joh 12,4 f. mit Mt 26,8; Mk 14,19). Dass die Unreinheit der anderen anwesenden Jünger durch Judas repräsentiert ist, greift über den joh. Text hinaus. Eher ist eine Trennung beider Figuren (Kollektiv und Judas) aufgezeigt als eine Repräsentation angelegt. 55 Vgl. dazu auch Teil VI – Thomas: 2.2. 56 So manifestiert Jesus die „Scheidung […] des Jüngerkreises“ in zwei Gruppen: „Reine bzw. Gesegnete und (den) Verräter“ (Augenstein, Liebesgebot, 28). 57 Vgl. Teil II – Methodologie: 1.5.8.
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Teil V: Judas
Folgerung, dass Jesus nicht sein Wissen, sondern die Erwählung einschränkt, steht in Widerspruch zu 6,70. Dort waren Erwählungszusage der Zwölf und Aussonderung des Einen unter ihnen, nämlich Judas Iskariot, verbunden worden. So ist dieses Motiv schon in Judas’ erster Szene eingeführt worden. Eine nachträgliche Einschränkung ist zwar möglich, aber durch 18c verliert diese Deutung an Plausibilität. Demnach ist Judas gemäß der zweiten Deutung (gestrichelt) aus den Handlungsanweisungen und der Seligkeitsverheißung (14–17) exkludiert. Damit ist B C * 6 also nicht betont und eingeschränkt. Als Begründung gelesen, wird Judas auch hier in den Kreis der Erwählten inkludiert.58 Weil Jesus weiß, wen er erwählt hat und aus der Erwählung gefolgert vor sich hat, muss er seine Appelle und Verheißung einschränken, da Judas sonst unter den impliziten Adressaten bliebe. Eine Selbstoffenbarung Jesu schwingt darüber hinaus natürlich mit und hebt die Beziehung zwischen Jüngern und Jesus als bewusste Entscheidung hervor. Durch die Analyse der Lexemhäufungen von gerät 15,16.19 in den Blick. Dort spricht Jesus die Anwesenden bewusst als von ihm Erwählte an. In jener Szene ist Judas nicht anwesend; da auf ihn aber nicht verwiesen wird, ist seine Abwesenheit, und folglich ein impliziter Ausschluss aus der Gruppe der Erwählten, nicht betont. Durch Jesu Aussage in 15,19 über die angesprochenen Erwählten, dass ‚die Welt‘ sie hasst, wird ein Bogen zu Judas vierter Szene (vgl. 2.4) geschlagen. In dieser (18,3 ff.) findet sich zwar der Hass auf die Erwählten Jesu nicht bestätigt, aber dort ist die narrative Entfaltung und Vollendung des Jesus-Hassens, welches sich nach 15,18 vor dem Hass auf die Jünger ereignet, priorisiert.59 Judas tritt in jener Szene als Aggressor den Erwählten gegenüber und kann als Verkörperung des Hasses ‚der Welt‘ interpretiert werden.60 Bis 13,18 blieb die Frage offen, warum Jesus jemanden erwählt, von dem er weiß, dass er ihn überliefern wird und der sogar „ein Teufel“ ist. Die Begründung, die Jesus hier angibt, ist die Erfüllung einer atl. Prophezeiung. Das Psalmzitat (Ps 41,10) in 13,18b ist auf mehreren (Bild-)Ebenen zu deuten. Wenn mit dem Jesu-Brot-Essenden Judas gemeint ist, knüpft das an die gegenwärtige Mahlsituation an. Judas muss also an dem Mahl teilnehmen, um ‚die Schrift‘ zu erfüllen. Natürlich hätte das Zitat bereits an anderer Stelle als eingetreten gedeutet werden können, hier aber zwingt es Judas in die Szene. Er kann diese erst verlassen, wenn er Jesu Brot gegessen hat. 58 Die Ambivalenz von Erwählung und Verwerfung in der Figur Judas entfaltet auch K. Barth theologisch (ders., Dogmatik, 508 f.). 59 Erst 20,19 gibt (abgesehen von dem Tötungsbeschluss gegen Lazarus (12,10), der aber in Joh 15 nicht zu den implizit anwesenden Figuren zählt) einen Hinweis auf feindliche Einstellung gegenüber den Jüngern. 60 Vgl. 2.4. H.-J. Klauck sieht in 18,3 die Welt symbolisch auftreten („Römer und Juden repräsentieren die Gesamtheit des feindlichen Kosmos“), wobei Judas als ihr Anführer vom Satan besessen ist, sodass der „Fürst dieser Welt“ in ihm auftritt (ders., Judas, 89).
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Weniger wörtlich gelesen zeigt das Brotessen nur die Abhängigkeit und Vertrautheit zwischen Jesus und den Jüngern. Diese Deutung stützt auch der Kontext der intertextuellen Referenz (Ps 41), dem das Zitat entnommen ist. Dort wird der Brotessende explizit als Freund und Vertrauter eingeführt. Auch die heuchlerische Freundschaft und Nähe, die sich gegen das sprechende Subjekt – im Psalm den Beter, im Joh Jesus – richtet, wird angesprochen und beklagt. Dies macht die psychische Dimension der Überlieferung deutlich (allerdings abgemildert gegenüber Ps 41 durch Jesu Wissen um diese und seine bewusste Herbeiführung durch Erwählung). Dennoch: Judas gehört zu dem engsten Kreis und damit ist die Überlieferung ein umso härterer Schlag – oder im Zitatwortlaut: Tritt. Der Fersenstoß drückt sowohl Geringschätzung als auch Gewalt aus. Der Wechsel der Vokabel von & auf verhindert einen direkten Bezug zur Fußwaschung. Die körperliche und symbolische Reinheit – von der Judas ohnehin ausgenommen wurde – kann nicht als Milderung herangezogen werden. Stattdessen spielt der Gewaltausdruck als Referenzmotiv bereits das Gewaltgeschehen der Passion ein. Nicht nur ein Vertrauensbruch, sondern auch die Zufügung körperlicher Schmerzen werden Jesus durch Judas ausgelöst begegnen (vgl. 18,22; 19,1). Das Zitat weist neben der intertextuellen auch auf eine intratextuelle Belegstelle hin: Im Kontext von Joh 6 wurde Brot mehrfach erwähnt. Auch wenn es keine wörtliche Parallele des zitierten Halbverses gibt, knüpft das Vokabular deutlich an. Mehrfach begegnen dort Belegstellen von : und dem Partizip 0 / . In seiner Rede erklärt Jesus sich selbst zum Brot (6,35.48.51) und verspricht denjenigen ewiges Leben (6,51.54.57 f.) und Anteilhabe (6,56), die dieses Brot (ihn selbst) beziehungsweise sein Fleisch essen. Insofern ist das Zitat metaphorisch aufgeladen. Derjenige, der an Jesu Lebensspende Anteil haben will (indem er sein Brot isst), zeigt keine Dankbarkeit, im Gegenteil, er behandelt ihn abwertend und brutal. Für solch ein Verhalten bleiben bei den Leseremotionen weder Mitgefühl noch Sympathie für Judas übrig. Aber erhält Judas nach dieser metaphorischen, intratextuellen Lesart Absolution, ewiges Leben und die Anteilhabe an Jesus? Dies ist schwerlich zu bejahen, da er unmittelbar zuvor in der Fußwaschung von deren sakramentalen Gehalt ausgeschlossen wurde – die Anteilhabe wurde ihm zwar nicht direkt abgestritten, aber die Reinheit, die dort als Bedingung oder Ausdruck der Anteilhabe erscheint. Auch über Judas’ Glauben wurde bislang geschwiegen und von dem Trinken Jesu Blutes ist hier keine Rede. Beides erscheint im Kontext des Referenzmotivs in Joh 6 (40.47.53–56) parallel zum Brotessen. In 13,19 kündigt Jesus glaubensweckende Verheißungen an. Der Folgevers (13,20) wirkt daraufhin eher eingeschoben, denn er ist (indem er ein – wenngleich in der Zukunft liegendes – Ereignis interpretiert) eher ein Kommentar als eine Verheißung. Es steht nicht im Vordergrund, dass Jesus jemanden senden wird, sondern was es für die Jünger bedeutet, den Gesendeten aufzu-
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nehmen. Der Inhalt der Sprechhandlung ist in der doppelten Repräsentation – der von Jesus Gesendete repräsentiert Jesus und Jesus repräsentiert seinerseits den ihn Sendenden (den Vater) – kaum zu fassen: Wie könnte eine solche Aufnahme narrativ veranschaulicht werden? Dementsprechend ist das ‚Eintreten‘ des hier gedeuteten Ereignisses im fortlaufenden Evangelium nicht berichtet. Daraus ergibt sich, dass 13,19 sich nicht auf 13,20 bezieht. Demnach ist der nachfolgende Textbestand auf Verheißungen innerhalb der Figurenrede Jesu zu untersuchen. Dabei kann eine Texteinschränkung vorgenommen werden: Zum einen verlangt die Ankündigung (13,19), dass die entsprechende Aussage bald erfolgt, damit eine Sprechhandlungsbezogenheit für die Adressaten nachvollzogen werden kann, zum anderen findet sich in 14,29 in partiell wörtlicher Übereinstimmung eine Referenzformulierung, die allerdings mit dem Perfekt D 6 auf das bereits Gesagte zurückweist. Möglich ist natürlich dennoch, dass 13,19 und 14,29 sich auf verschiedene Aussage beziehen. Zwischen 13,19 und 14,29 finden sich jedenfalls (mindestens) drei Verheißungen in Jesu Figurenrede, die sich auf Ereignisse beziehen, die innerhalb des Joh nach 14,29 narrativ präsentiert werden: die Überlieferung durch Judas (13,21.26; 18,2 f.5), die Verleugnung des Simon Petrus (13,38; 18,17.25–27) sowie Jesu Sterben und Auferstehen, welches aber stets in Metaphern (v. a. in der des Weggehens) ausgedrückt wird. Gegen einen Bezug von 13,19 auf Letzteres sprechen die Uneindeutigkeit der Metaphern für die Jünger, die große Distanz in Erzählzeit (und Erzählter Zeit) zwischen 13,19 und der Erstnennung dieses Themas in 13,33 sowie die öffentlichen Ankündigungen vor 13,19, die nicht nur an die Jünger ergingen.61 Was die Sprechhandlungsbezogenheit von 14,29 betrifft, ist dort eine Ankündigung von Tod und Auferstehung (in bildlicher Sprache) direkt vorangestellt, sodass der Bezug sehr wahrscheinlich ist. Auch die narrativ breiter entfaltete, glaubensweckende Wirksamkeit des Auferstehungsereignisses (Joh 20) spricht dafür, dass 13,19 sich doch auf Sterben und Auferstehen bezieht (vgl. 13,19: < % &%6 ). Dies gilt umso mehr, weil im Joh nicht geschildert wird, dass Jesu Wissen um Judas’ Überlieferung oder um Petrus’ Verleugnung zum Glauben der Jünger führt. Die Überlieferungsankündigung ist jedoch die nächstgenannte Verheißung, sodass im Sinne der Sprechhandlungsbezogenheit sich 13,19 auf diese bezieht. Die Mehrdeutigkeit muss an dieser Stelle nicht aufgelöst werden. So oder so – Judas ist in keinem der Fälle adressiert. Die Verleugnungsankündigung und die weiteren Metaphern über Jesu Sterben und Auferstehen verpasst er, Jesu Kreuzigung und Auferstehung erst recht, und dass Jesus die Überlieferung voraussagt, läutet lediglich sein vollständiges Abwenden von diesem ein (s. u.). Judas entgeht die glaubensstiftende Erfüllung der Verheißung.
61
Vgl. z. B. 8,21; 12,24.32. Siehe auch Teil VI – Thomas: 2.2.
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Hat der hier reflektierte Vers also keine Bedeutung für Judas? Bevor diese Frage beantwortet wird, sei zum ‚Glauben-Wecken‘ Jesu ein kurzer Exkurs geboten. Entlang der Belegstellen des < % &%6 entwickelt sich im Joh eine eigentümliche Verbindung von negativen Ereignissen und positiver Wirkung. So freut sich Jesus über den Tod seines Freundes Lazarus, der seinen Jüngern zum Glauben dient.62 In 13,19 bekommen ggf. ein Vertrauens- und Treuebruch dank Jesu Ankündigung glaubensschöpfenden – also positiven – Gehalt. In 14,29 gilt m. E. Ähnliches für Jesu Kreuzestod, allerdings ohnehin in der beschönigenden Metapher des Zum-Vater-Gehens geäußert. In 19,35 und 20,31 wird der Ausdruck < % &%6 transferiert. Dort richtet sich der Erzähler in Leseransprachen an seine Leser und nimmt diese in den Glaubensprozess hinein. Alle Ereignisse sowie die gesamte Erzählung dienen dem Leserglauben. Auch alles negative Erleben der Jünger ist in diesem positiven Ziel aufgehoben. Selbst Leid, Tod und menschliches Versagen können Glauben hervorbringen. Glauben ( % & ) wird in 13,19 in der Erkenntnis von Jesus als / ? konkretisiert und als positives Wertungswort an den Glaubensinhalt rückgebunden, der mit 20,31 korreliert. Die absolute Verwendung von / ? dient (unter intertextuellen Lesart von Ex 3,14 und der Lexemhäufung in Joh 18,5–8) als Gottesprädikat. In diesem Sinne fasst erst Thomas in seinem Bekenntnis (20,28) adäquaten Glauben.63 Damit hat 13,19 diegetisch keine Relevanz für die Figur Judas. Extradiegetisch ergeben sich jedoch mehrere Horizonte in der Leserreflexion: Hier werden eine kontrastierende und eine meta-bewertende Lesart vorgestellt. Wird Judas aus dem Kreis der Adressaten von 13,19 ausgeschlossen, ist er damit ein weiteres Mal von den anderen Jüngern separiert und diesen gegenübergestellt. Stärker als diese (implizite) Kontrastierung ist aber die zu Jesus selbst. Indem Jesus sich selbst (mit dem markanten / ? hervorgehoben) zum Inhalt des Glaubens macht, der Judas vorbehalten bleibt, wird jener zu einem Musterbeispiel für das Nicht-Eintreten des Erzählziels (vgl. 20,31). Judas steht im Kontrast zu Jesus und dient als Veranschaulichung dafür, was es bedeutet, Jesu / ? nicht zu erkennen. In einer metabewertenden Lesart kann das oben skizzierte Motiv des < % &%6 aufgegriffen werden. Wird der Analyse der Sprechhandlungsbezogenheit gefolgt und 13,19 auf die Ankündigung von Judas’ Überlieferungstat verstanden, bekommt diese ein positive Wirkung zugestanden, da sie (freilich nur durch Jesu Verheißung im Voraus) glaubensweckend ist. Dass die Überlieferung für Jesus als ‚gut‘ bewertet wird, ist insofern verständlich, als dadurch seine Verherrlichung (am Kreuz) ermöglicht und der Tod ohnehin durch die Auferstehung überwunden wird. Für Judas kann eine Positivwertung der Überlieferung als glaubensweckendes Ereignis aber unterschiedlich 62 63
Siehe zur Stelle Teil VI – Thomas: 2.1. Vgl. Teil VI – Thomas: 2.5.
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gedeutet werden: Entweder bekommt er eine Rehabilitationsmöglichkeit oder er dient als Rechtfertigung für Gleichgültigkeit gegenüber anderen. Judas kann durch 13,19 als rehabilitiert gelten, wenn er doch in die Adressaten der Sprechhandlung eingeschlossen wird. Jesus kündigt demnach an, dass seine folgende Verheißung auch Judas zum Glauben dient. Die folgende Verheißung sagt Judas’ Überlieferungshandeln voraus (13,21), welches in 18,1–12 erfolgt. Judas kann sich im Anschluss an die Ereignisse dort an Jesu Vorauswissen erinnern und dadurch (13,19 entsprechend) zum Glauben finden – für diese Spekulation gibt es allerdings keine textinternen Anhaltspunkte in der narrativen Entfaltung des Überlieferungsgeschehens (vgl. 2.4). Die zweite Deutungsmöglichkeit sucht nach keinem positiven Ausgang für die Figur Judas. So bezieht sie Judas in den Adressatenkreis von 13,19 nicht ein, sondern versteht die Sprechhandlung als Leseransprache. Demnach wirkt Judas’ Überlieferung für den Leser glaubensstiftend. Es gibt einen höheren guten Zweck, der dieses vordergründig negative Geschehen der Überlieferung und damit Judas’ ultimative Verurteilung (vgl. 13,27.30; 18,5 sowie die entsprechende Analysen) in seiner Negativwertung relativiert. Eine solche (gewissermaßen optimistische) Haltung befördert das Ausschauhalten nach Mehrwert von Leid und Schrecken und versucht jeder Situation einen sinnvollen und guten Gehalt abzugewinnen. Was hier positiv klingt, hat eine Kehrseite: Der Leser zieht aus Judas’ Verdammnis einen Nutzen, der durch Jesu Ankündigung in 13,19 sogar gerechtfertigt ist. Judas’ Schicksal wird ihm gleichgültig, da es gegenüber einem wichtigeren Ziel unbedeutend ist. Verallgemeinert bedeutet dies, dass in jedem furchtbaren Geschehen etwas Gutes gefunden werden kann, was nicht nur Gleichgültigkeit gegenüber den Betroffenen legitimiert, sondern auch Untätigkeit befördert, indem es Intervention für unnötig erklärt. Insofern mag es aus ethischer Sicht beruhigend sein, dass eine solche Einstellung zwar in der Reflexion über das Joh entfaltet werden kann, nicht aber innerhalb von diesem vorgeführt oder angeraten wird. Nach diesem ausführlichen Exkurs zur Interpretation von 13,19 sei nun wieder der Handlungsverlauf aufgegriffen. 13,21 setzt mit einer Stimmungsänderung Jesu neu ein. Dabei unterbricht die Erzählerrede Jesu Monolog, der diegetisch nicht unterbrochen erscheint. So gelingt eine Zäsur ohne Szenenwechsel. Stimmungen und Gefühle sind im Joh insbesondere in Bezug auf Jesus eine Seltenheit. Abgesehen von Joh 11 kann der Leser höchstens indirekt durch seine Rede und Handlungen darauf rückschließen. So erscheint dieser Einblick ins Innenleben betont. Auch hier ist nicht genau erklärt, was es bedeutet, dass Jesus 6 3 & . In jedem Fall ist es eine Gemütsbewegung. Was nun folgt, ist bedeutsam und betrifft ihn persönlich. Dieser Eindruck wird durch die doppelte Redeeinführung (zwei verba dicendi: „bezeugte und sagte“) und die Ankündigungsformel zu Beginn („Amen, amen, ich sage euch“) verstärkt. Martin Meiser deutet aus den übrigen Belegstellen des Lexems %% (11,33; 12,27), dass
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„diese Erschütterung […] das Schwere des Vergehens des Judas“ hervorhebt.64 Die weitere Abwertung der Figur Judas wird dramatisch inszeniert. Was der Leser längst weiß und auch Jesus „von Anfang an“ wusste (6,64), teilt er nun seinen Jüngern mit: Einer von ihnen wird ihn überliefern. Dabei erinnert der Ausdruck " ! an die ähnliche Formulierung in Szene 1 ( ! " ). Nur an diesen beiden Stellen wird das ! mit einem konkreten Zahlwort präzisiert.65 Dort war die Schilderung einer Jüngerreaktion ja erstaunlicher Weise ausgeblieben. Auch fehlte sie nach 13,10 (s. o.). Hier folgt sie endlich. Dabei ist der semantische Gehalt (das „wie“ und „was genau“) des /% entweder unerheblich oder direkt klar. Jedenfalls beunruhigt die Identität des Einen die versammelten Jünger. In dieser Unsicherheit wenden sie sich zunächst nicht an Jesus, sondern innerhalb des Kollektivs einander zu. Diese Handlung wird wirkungsvoll dargestellt. Der Erzähler berichtet von einer nonverbalen Kommunikation durch Blicke. Durch den Einblick ins Innenleben ( & * ) verschiebt sich die Klassifikation von als Wahrnehmungsverb hin zur Kommunikation. So erscheint die Stille im Raum nach Jesu Ankündigung greifbar. Die angespannte Stimmung Jesu ( 6 3 & im Sg.) hat auf den ganzen Raum übergegriffen ( & im Pl.). Ist sich nach 13,2 Judas bewusst, dass er derjenige ist, der Jesus überliefern wird, so braucht er sich die Frage des Kollektivs (13,22) nicht zu stellen. Auf diegetischer Ebene ist er also aus der Ungewissheit der anderen Jünger ausgeschlossen. Da der Erzähler explizit die Jünger ( E 6 *) erwähnt, wird Judas demnach nicht unter das Kollektiv gefasst. Erzählerisch ist er so bereits nicht mehr als Jünger gefasst, bevor sich dies narrativ durch sein Fortgehen bestätigt (s. u.). Verweist die bildliche Sprache von 13,2 dagegen nicht darauf, dass Judas weißt, dass er Jesus überliefern wird, so erscheint er als besonders tragische Figur. Dann bliebe er bis zu Jesu Offenbarung seiner Identität der zwar kriminelle (12,6), aber doch treue Nachfolger Jesu, den die Botschaft seiner Überlieferungs- und Verratstat und das Einfahren des Satans völlig überrascht.66 Diese Alternativlesart, die Judas als unschuldig, unwissend und unbewusst auffasst, lässt sich anhand der Negativstigmatisierung durch den Erzähler nur schwer innertextlich plausibilisieren, kann aber als Metabewertung vom Leser vollzogen werden.
64 Meiser, Judas, 81. Vgl. Vogler, Judas, 106. Die Belegstellen 5,7; 14,1.27 beziehen beide nicht ein. 65 Der Ausdruck ! wird ausschließlich von Jesus (insgesamt sechsmal) verwendet. In 6,64 deckt er den Unglauben einiger murrender Jünger auf; in 7,19 wirft er den Juden vor, dass niemand nach dem Gesetz handle; in 8,46 fragt er glaubende Juden, wer ihn einer Sünde überführe; in 16,5 wirft er seinen Jüngern vor, dass ihn niemand frage, wohin er gehe. 66 Siehe dazu 3.1.2.
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In der angespannten Situation von 13,22 wird eine neue, bisher nicht bekannte Figur eingeführt: Der Jünger, den Jesus liebte. Er gehört zu dem Jüngerkollektiv ( " ! 6 ! $ 5) und zeichnet sich durch eine besondere (körperliche) Nähe zu Jesus aus. Eine Untersuchung der Lexemhäufungen ergibt, dass das Zahlwort " im Nominativ Maskulinum gewöhnlich (14 Mal) benutzt wird, um eine Einzelfigur aus einem Kollektiv hervorzuheben.67 Dreimal bezieht sich dabei auf Judas, u. a. bezieht sich das unmittelbar zuvor geäußerte " ! (13,21) auf ihn und bei seiner Erstnennung wurde Judas mit " ! / eingeführt (6,71; vgl. 2.1). Durch diese Referenzformulierungen und den Erstauftritt in der für Judas zentralen Szene wird der Geliebte Jünger als Gegenüber zu Judas in Szene gesetzt.68 Er ist eine der wenigen Figuren des Joh, dessen Name ungenannt bleibt. Nach der Figureneinführung des Geliebten Jüngers wird jedoch zunächst eine andere Einzelfigur aktiv: Simon Petrus (13,24). Neben Judas ist dieser der Jünger, der Joh 13 am stärksten prägt. Petrus und der Geliebte Jünger bewegen Jesus zur Aufdeckung der Überlieferer-Identität. Jesus reagiert nicht mit der Nennung eines Namens, sondern verwendet , das er durch eine Handlung zu explizieren verheißt. Diese sehr subtile Antwort wird aus diegetischer Sicht der drängenden Wissbegierde der Jünger nicht gerecht, hält aber die Spannung69 der Situation aufrecht. Kein Name, kein Fingerzeig platzt in die Stille, sondern eine geheimnisvolle Handlung. Jesu Ankündigung (oder Verheißung), ein Stück Brot einzutauchen und dem ihn überliefernden Jünger zu geben, hat neben der Beantwortung der Jüngerfrage – also der Aufdeckung der Identität – noch andere Funktionen. Jesu / betont seine aktive Position. Er selbst kontrolliert die Situation. In einer beinah eucharistisch anmutenden Geste70 taucht er das Brot ein und gibt
67 Insgesamt ist " 18-mal belegt. Von den 14 Nennungen, die Einzelfiguren Kollektiven zuordnen, ist achtmal ein Name beigefügt und sieben betreffen Jüngerfiguren (zweimal Andreas, dreimal Judas, einmal der Geliebte Jünger und einmal Thomas). Die übrigen vier Belege dienen der Betonung einer Einzahl oder Einheit (für letzteres häufiger F ). 68 Vgl. 3.1.9. 69 Die Spannung meint hier die diegetische Anspannung der Jünger. Da der Leser die erfragte Identität längst kennt, kann er nur Spannung bezüglich des ‚Ob‘ und ‚Wie‘ der Aufdeckung der Identität empfinden. 70 Eine solche Einschätzung kann nur wirkungsgeschichtlich oder intertextuell (vgl. Mk 14,20) begründet werden. Die Einsetzung der Eucharistie (oder gar eines heute geläufigen Eintauchens (Intinctio)) wird narrativ nicht entfaltet. Nur eine Metabewertung kann dies als positive Geste gegenüber Judas einführen und damit die explizit geäußerte negative Absicht und Konsequenz ablehnen. Als eucharistische Geste gelesen, kann diese Szene als Warnung für den Leser fungieren, die Eucharistie – so wie Judas – mit „falscher Gesinnung“ zu empfangen (Klauck, Judas,
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es weiter. Ein lexikalischer Verweis auf die Lebensbrotrede (Joh 6), die im Joh die stärksten Eucharistiemotive enthält, wird jedoch vermieden. Judas ist der reagierende Rezipient der Handlung. Jesu Aktion (13,26b) verwebt die vorausgehende Anspielung auf Judas (13,26a) mit diesem als handelnde Figur und weist zugleich auf 13,18 zurück. Dort wurde im Psalmzitat der Brotessende ausgesondert. Dass Judas gemeint war, war bereits klar (s. o.) – hier findet die Anspielung gewissermaßen ihre erzählte Erfüllung. Begrifflich erhält Judas zwar weder Brot71 noch isst er, aber beides ist durch Referenzmotive in der Bissensdarreichung impliziert. So wird auf die (atl. belegte) Vorherbestimmung für Judas’ Tun und sein Erwähltsein in den Kreis der Vertrauten Jesu rückverwiesen. Ferner fährt nach Erhalten des Stücks Brot, das Jesus Judas gibt, der Satan in ihn. Damit wird Judas letztgültig mit dem Bösen identifiziert. Der Ausdruck des Hineinkommens erinnert intertextuell stark an die Vorstellung von dem Besessenen, in den ein Dämon ein- (und aus-)fährt.72 Wenn Satan von nun an „in“ Judas ist, bedeutet das eine große Einflussnahme oder gar vollkommene Kontrolle. Zudem implizieren Referenzmotive, dass der Paraklet und Jesus als „in ihm“ ausgeschlossen werden (vgl. 14,17.20; 15,4). Offen bleibt das Urteil, inwieweit Judas so zu einer Art Marionette Satans herabgestuft wird (wobei Satan dann als Figur verstanden würde). Dass Jesus ihn noch mit Handlungsanweisungen adressieren kann, spricht eher gegen eine vollkommene Willenlosigkeit. Durch die Identifizierung ist jedenfalls mit Judas’ Anwesenheit nun stets die Satans mitzudenken. Da der Satan nur einmalig – nämlich an dieser Stelle – im Joh erwähnt wird, ist eine Charakterisierung schwierig.73 Als Gegenspieler Gottes gedacht würde er sich in die dualistische Konzeption des Joh einfügen. Ob 0 % ) überhaupt personifiziert zu denken ist oder vielmehr bildlich eine Veränderung von Judas beschreibt, bleibt offen. Eindeutig jedoch ist die damit einhergehende Negativstigmatisierung des Judas. Die Weitergabe von geistlichen Größen (oder gar Figuren) durch Jesus erfolgt im Joh zweimal. Wird hier Satan als negative Gestalt von Jesus durch den Bissen auf Judas übertragen, erhalten in 20,22 als Referenzmotiv die Jünger – mutmaßlich die Zwölf mit Ausnahme von Judas und Thomas – den Heiligen Geist. Als Parallelen zwischen beiden Szenen (13,26 f.30 und 20,21 f.) können die Übertragung nicht-sichtbarer spiritueller Größen (0 % ) und 5 G ), Jesus als Handlungssubjekt, Jüngerfiguren 83). Zur dogmatischen Problematik, die sich aus einer Teilnahme des Judas am Abendmahl ergibt, siehe Klauck, Judas, 62 f. 71 Zur Begriffsanalyse des Wortes H * s.u. 72 Vgl. Mt 12,43–45 u. ö. 73 Möglich ist auch eine Gleichsetzung mit dem als Synonym (vgl. Thyen, Joh, 382).
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(Judas und ‚die Zehn‘) in der Rolle der Rezipienten und als Erlebensobjekte, der intime Vertrauenskontext der Situation, der Appell Jesu (im Imperativ), der eine Sendung impliziert, und das Lexem , das die empfangenden Figuren kennzeichnet, gelten. Unterschiedlich sind die Szenen insofern, als in Joh 13 ein Individuum angesprochen und darüber hinaus verschwiegen wird, ob Jesus den Satan explizit – oder gar beabsichtigt – weitergibt, da der Erzähler dies nur als ein mit der Weitergabe des Bissens verbundenes, unmittelbar anschließendes Ereignis referiert. Auch die Art der Darstellung des Ereignisses (Bericht durch den Erzähler in 13 und Figurenrede in 20) ist grundlegend verschieden. Hier sei die Interpretation aufgrund der Referenzialität kurz ausgeführt. Durch eine Parallelisierung werden Judas und die anderen Jünger einander gegenübergestellt und entsprechend der zugeordneten spirituellen Größen positiv bzw. negativ bewertet. Die Geste der Geistesübergabe ist im Anhauchen (zumindest mit Gen 2,7 als Intertext) an die Übertragung eines Wesenszugs angelehnt. Die Satansweitergabe ist dagegen viel materieller. Dort nimmt Jesus etwas, das außerhalb von ihm liegt. Während seine Atemluft aus ihm herausströmt, ist der Bissen lediglich in seiner Hand. Eine besondere Identifizierung des Bissens mit Jesus vermeidet der Erzähler auffallend. Er wiederholt das Wort H * sogar viermal, obwohl er es außerhalb dieser Szene nicht verwendet. Die Worte % und : , die inhaltlich nahe an dem Begriff liegen, fallen nicht. Der Leser soll nicht auf Joh 6 verwiesen werden – oder gar eine Identifikation des Bissens mit Jesus als Lebensbrot erwägen.74 Die Sendung der Jünger entspricht Jesu eigenem Gesendet-Sein, Judas jedoch wird zum baldigen Handeln aus der Gemeinschaft in die Nacht hinaus fortgeschickt. Erstaunlich ist, dass die Jünger als Erlebensobjekte nicht auf die Fremdoffenbarung der Überlieferidentität reagieren. Warum gibt es keinen Aufschrei der Empörung gegen Judas oder der Erleichterung über die eigene Unschuld? Die Antwort ist einfach: Keiner ( $ * ) kann die Geste Jesu deuten. Auch der Leser ist kaum der Adressat dieser ‚Aufdeckung‘. Die Bezeichnung von Judas als Überlieferer ist für ihn irrelevant, da er längst darüber informiert ist. Somit ist Judas die einzige Figur für welche die Handlung bedeutsam ist. Er erfährt, dass Jesus von seinem Vorhaben (spätestens seit 13,2 ist es ja mehr als eine Bestimmung) weiß. Nach der Lesart, die Judas als bis dahin unwissend versteht, erfährt Judas auch hier erst sein eigenes Tun, welches ihm nicht bewusst war. Der Appell zum schnellen Handeln treibt den Erzählverlauf voran und veranlasst Judas, die Szene zu verlassen und so durch die neue Figurenkonfiguration den größten und intimsten Vertrauenskontext zwischen Jesus und den Jüngern bis zu Jesu Tod zu ermöglichen. Die Zeitstruktur zeigt, dass die Reihenfolge der Ereignisse in 13,26–30 nicht konsequent der Erzählreihenfolge entspricht. Die Annahme, dass Judas 74
Gegen Beckmann, Funktion, 187 f.
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den Bissen in 13,26 bereits nimmt (was in 13,27a gestützt wird), wird in 13,30 korrigiert. Dort wird berichtet, dass Judas den Raum, unmittelbar ( $ & ) nachdem er den Bissen nimmt, verlässt. Wann also nimmt Judas den Bissen – vor Jesu Handlungsaufforderung oder danach? Damit ist die Frage verbunden, wann der Satan in Judas fährt. Auch dies kann vor oder nach Jesu Appell geschehen (s. Abb. 22). 26: Jesus gibt Judas den Bissen
27b: Jesus: „Handle schnell!“
27a: Satan fährt in Judas
28 f.: Erzähler berichtet vom Nicht-Verstehen
?
30b: Judas verlässt den Raum
? 30a: Judas nimmt den Bissen
Abb. 22: Zeitstruktur von Joh 13,26–30
Bedeutsam ist dies, da Jesus vom Tun ( ) spricht. Offensichtlich für den Leser – zugleich unersichtlich für die anwesenden Jünger – ist damit Jesu Überlieferung gemeint. Schließlich ist das die Tat des Judas schlechthin (und zudem die einzige bekannte Tat von ihm, die noch bevorsteht). Richtet sich Jesu Rede nun an Judas, bevor oder nachdem der Satan in ihn eingefahren ist? Jesu Rede wird vom Erzähler mit eingeführt, welches eine Nachzeitigkeit suggeriert. Demnach erfolgt Jesu Sprechhandlung nach der dem Hineinfahren des Satans. Daraus folgt, dass doppelt berichtet wird, dass Judas den Bissen nimmt.75 Es liegt also der Effekt einer Parallelerzählung gleichzeitiger Ereignisse vor. Jesus reicht Judas den Bissen und als dieser ihn nimmt, fährt (a) der Satan in ihn und (b) sagt Jesus (quasi gleichzeitig), Judas solle das ZuTuende bald erledigen. Direkt im Anschluss verlässt Judas den Raum, er gehorcht Jesus also unmittelbar. Die mehr oder weniger personifizierte, aber zumindest infigurierte Anwesenheit des Satans wird durch diese Erzählweise auf ein zeitliches Minimum begrenzt. Dass die Jünger Jesu Hinweis (zunächst die Geste und dann folgerichtig auch den Handlungsappell) nicht verstehen, spricht entweder dafür, dass Jesus Judas vor Bloßstellung vor den anderen Jüngern bewahren möchte, oder gegen eine klare Beantwortung von Fragen durch Jesus. Obwohl die Jünger (insbesondere Simon Petrus und der Geliebte Jünger) Jesu Antwort und 75 Explizit wird die Annahme des Bissens erst in 13,30 benannt, in 13,27a ist sie aber vorausgesetzt. Das Lexem zur Beschreibung des Vorgangs ( / ) findet sich in der konjugierten Form nur viermal im Joh. Vgl. dazu 2.4.
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Handlung auslösen, sich Jesu Sprechhandlung also zunächst auf sie bezieht, drückt ihr Unverständnis aus, dass nicht sie, sondern vielmehr Judas der implizite Adressat ist. Dass Jesus Fragen unklar beantwortet – oder zumindest so, dass sie unverstanden bleiben – ist ein wiederkehrendes Motiv im Joh. Die Kommunikation zwischen Jesus und seinen Jüngern (sowie Jesus und anderen Figuren) gelingt vielfach nicht, sodass sogar von „typischen johanneischen Missverständnissen“ gesprochen wird.76 Dabei sind die Szenen vielfach so angelegt, dass der Leser Jesu Worte versteht, die Jünger sie jedoch nicht begreifen. I. d. R. wird nicht Jesus kritisiert (für seine missverständliche Ausdrucksweise), sondern die Jünger für ihre Resistenz gegenüber Jesu Offenbarung und seiner göttlichen Verkündigung. Für den Leser haben die Missverständnisse in mehrfacher Hinsicht weiterbringende Funktion. Er ist den Jüngern überlegen und wird dadurch via Leseransprache dazu angehalten, die Konsequenzen aus diesem Verstehen zu ziehen, ohne dass die Jünger, die ja (noch) nicht verstehen, diese vorführen müssten. Außerdem bekommt er viele Fragestellungen weiter ausgelegt, als es bei einem dauerhaften ‚Abnicken‘ der Worte Jesu der Fall wäre. Nach diesen kurzen Ausführungen über das Referenzmotiv der Missverständnisse im Allgemeinen sei nun noch die konkrete Situation des Missverständnisses in 13,28 f. betrachtet. Das Unverständnis der Jünger hat einen doppelten Effekt. Erstens ermöglicht es ein Verschwinden des Judas aus dem Jüngerkreis ohne eine Verurteilung, Ausgrenzung oder Schuldzusprechung durch die anderen Jünger. Die emotionale Figurenkonstellation bleibt diesbezüglich unverändert. Damit ist der Leser eingeladen, die Leerstelle einer möglichen Reaktion auf die Aufdeckung von Judas’ Identität als Überlieferer zu schließen. Von ihm wird dabei kein voreiliges Handeln gefordert, da er nicht an die Erzählte Zeit gebunden ist. Es wird keine Reaktion leichtfertig in den Raum geworfen, die diese Gedanken unterbindet. Zweitens kann der Erzähler durch einen Einblick ins Innenleben der Jünger zwei Themen aus Judas’ zweiter Szene erneut einspielen: Judas’ Verbindung zum Geld und die Armenfürsorge. Jesu Aufforderung zum schnellen Handeln wird von einigen ( ) auf Judas’ Funktion als Kassenwart gedeutet (13,29a). Diese Deutung betont die starke Verbundenheit von Judas mit dem Geld, was durch die Wiederholung des assoziierten Gegenstands ( ( %%) durch den Erzähler verstärkt wird. Aus der Perspektive anderer Jünger ist Judas’ Handeln nahelie76 Förster, Johannes, 338. H. Leroy untersucht zehn (z. T. mehrfach bezeugte) joh. Missverständnisse und ihre Bedeutung im Joh ausführlich (ders., Rätsel). A. Culpepper bezeichnet die Jünger als Musterbeispiel für „typical misunderstandings“ (ders., Anatomy, 115) und listet (unter Verweis auf verwandte Belegstellen) insgesamt 18 joh. Missverständnisse auf (vgl. a. a. O., 161 f.). Die hier besprochene Stelle ist als Jünger-Unverständnis und wegen der fehlenden expliziten Aufdeckung und Metaphorizität in Jesu Worten bei beiden nicht aufgenommen. Trotz dieser Abweichungen bilden die ‚typischen Missverständnisse‘ ein Referenzmotiv.
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gender Weise auf Finanzen bezogen – Alternativen werden nicht genannt. Das Bild aus Szene 2 findet sich verstärkt: Wenn Judas etwas macht, hat es mit Geld zu tun. Ob die Jünger ihre Mutmaßungen äußern, ist unsicher. Das Verb weist eher darauf hin, dass dies nicht der Fall ist, da es primär kognitive Meinungsbildung bezeichnet (Verbklasse: Denken & Fühlen), welche zwar verbal geäußert werden kann (Verbklasse: Kommunikation), aber nicht zwangsläufig muss.77 Zwei Handlungsoptionen werden Judas von den Jüngern zugestanden (13,29b). Er soll, so mutmaßen sie, entweder Festutensilien kaufen oder den Armen Geld geben. Ersteres weist noch einmal auf die zeitliche Einordnung hin, das bevorstehende Passafest, welches Jesus allerdings nicht mehr begehen wird. Die semantischen Konnotationen des Einkaufs innerhalb des sozialkulturellen Settings werden im Text nicht reflektiert. Ob ein Festeinkauf Ausdruck von Luxus oder Hedonismus einerseits oder von religiösem Pflichtbewusstsein andererseits ist, bleibt offen, wobei das Lexem * eher auf Letzteres hindeutet.78 Den Festbesorgungen gegenübergestellt findet sich jedenfalls die (in Szene 2 zurückgewiesene) Geldspende an Arme. Dabei tritt in der Erzählreihenfolge und durch Verwendung des Konjunktivs die Spende hinter dem Kauf zurück. Diese Reihenfolge der Themennennung innerhalb der Jüngermutmaßung lässt sich aber situativ begründen. So ist am Vorabend des Passafestes der Einkauf die naheliegende Option in einer direkt ersichtlichen Gedankengangsbezogenheit. Umso mehr erstaunt die erwogene Alternative: Das Almosengeben. Wenn einige der Jünger Jesus eine solche Forderung zutrauen, ist damit die prinzipielle Ablehnung des Almosengebens zurückgewiesen. Vielmehr erscheinen die beiden Optionen (Almosen geben oder Einkauf) sogar als die einzigen, die die Jünger überhaupt erwägen. Neben der Abdeckung des konkreten Eigenbedarfs ist die Weitergabe von Geld an Arme die prinzipielle, vielleicht gar gewohnte Alternative. Bemerkenswert ist, dass die mildtätige Handlung des Almosengebens im Gedankengang der Jünger benannt wird, es jedoch im gesamten Joh nicht zu deren Umsetzung kommt. Weder treten Arme auf noch werden sie konkret bedacht. Was Judas als Kassenwart der Jünger mit dem Geld macht, bleibt unerzählt. Eine Weitergabe an Arme wird jedenfalls nicht berichtet. So gehen diese erneut leer aus. Einerseits sind Almosen eine theoretische Option, aber keine praktische Notwendigkeit. Andererseits sind sie die gewohnte Verwendung, wenn Geld zum Einsatz kommt. Wenn auch einige der Jünger darüber, was es mit Jesu Appell an Judas auf sich hat, im Dunkeln tappen, so weiß zumindest eine anwesende Figur die Worte zu deuten. Judas verlässt den Kreis der Jünger und verpasst so den 77
Vgl. 5,39.45; 11,56; 20,15. Die Deutung, Festeinkäufe seien ein Ausdruck von Luxus, findet unter historischer Perspektive m. E. keine Plausibilisierung. 78
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Großteil der Informationen, Verheißungen und geistlichen Wahrheiten, die Jesus seinen Jüngern im weiteren Verlauf in der vertraulichen Atmosphäre offenbart. Die Szene endet mit einer temporalen Einordnung, die in einem Nachsatz an Judas’ Verlassen angehängt wird: 1 I & . Dabei ist ‚Nacht‘ ein stark metaphorisch aufgeladener Begriff und ein Wertungswort.79 Im Joh werden ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ als Gegenpole aufgebaut. Die Nacht ist der Finsternis zugeordnet, der Sphäre des Unglaubens, der Gottesferne und Verlorenheit.80 Damit ist Judas als schwarze Kontrastfolie vollständig81 – und das erstaunlicher Weise, bevor er Jesu Handlungsappell gefolgt ist, bevor er überhaupt etwas getan hat. Er ist verloren, stigmatisiert und verurteilt, ohne dass dies an vollzogenen Handlungen begründet würde. Er ist der Anti-Jünger par excellence. Bei dem anschließenden Kommentar Jesu (13,31) wird Judas’ Verlassen des Raumes als Verherrlichung ( J ) von Menschensohn und Gott bezeichnet. Worin die Verherrlichung genau besteht, erklärt Jesus nicht. Die übliche Verwendung von - im Joh und die direkt anschließende Verlagerung des Verherrlichens in die Zukunft weisen auf die Kreuzigung, die mit der Überlieferung durch Judas einsetzt. Beim folgenden Liebesgebot ist Judas nicht mehr anwesend. In die Liebe der Jünger „untereinander“ (13,34 f.; 15,12.17) ist er somit nicht mehr eingeschlossen.82 Die hier untersuchte Szene sowie Joh 13 insgesamt bieten zahlreiche ethische Bezugspunkte. Mit Jesu Beispielhandlung, dem Umgang Jesu mit seinen Jüngern, dem Handlungsappell an Judas und schließlich dem im Anschluss an die Szene vermittelten Liebesgebot stellt das Kapitel ein Zentrum joh. Ethik dar (vgl. auch Teil I – Einleitung: Kap. 2). Für Judas ist sie der zentrale, wenngleich nicht finale und auch nicht aktivste Auftritt. In dieser Szene wird seine Rolle unumkehrbar festgeschrieben. Doch ein letzter Auftritt steht noch bevor. 79
Bspw. sei hier W. Voglers Formulierung wiedergegeben, die dem von den meisten Exegeten vollzogenen Urteil entspricht: „der Weg des Judas ist: der Weg in das Dunkel – das Ausgeschlossensein vom Heil – das Nichts“ (ders., Judas, 107). 80 Vgl. u. a. Joh 1,5; 8,12; 11,10. 81 Die Terminologie ist hier nicht zufällig (vgl. 6.3). Auch M. Beirne sieht Judas explizit im Kontrast zu Maria von Bethanien als Repräsentant der Dunkelheit (vgl. dies., Women, 141). J. Gnilka sieht schon Judas’ Überlieferungsankündigung als „dunkle Folie zum Petrusbekenntnis“ in 6,60–71 (ders., Joh, 56; vgl. Heitmüller, Joh, 246). Vgl. Dschulnigg, Jesus, 162, 173. 82 Vgl. auch die Ausführungen zur gegenseitigen Liebe im 1 Joh (2,10; 3,10–23; 4,7– 21; 5,1–3). Ggf. erklärt auch die Figur Judas, warum im Joh keine umfassende Liebe geboten werden kann – der negativ stigmatisierte Judas müsste jedenfalls in einer konsistenten Erzählung explizit ausgeschlossen werden, insbesondere wenn er zuvor als Figur des Figurenrepertoires in Erinnerung gerufen wurde.
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2.4 Szene 4 (18,1–12) Bevor Judas aus der Erzählung verschwindet, tritt er in Joh 18 noch einmal in Aktion, bleibt aber nach seiner Ankunft erstaunlich passiv. Zur Abgrenzung und Einordnung der Doppelszene vergleiche entsprechende Angaben in 2.5 innerhalb von Teil III (Petrus). Ort der Handlung ist eine unbestimmte Stelle jenseits des Baches Kidron außerhalb eines Gartens. Als Zeit ist die fortgeschrittene Nacht aus Szene 3 vorgegeben. Neben Jesus und seinen Jüngern treten in dieser Szene Judas und eine Schar Soldaten und Knechte auf. Der Schwerpunkt der Szene liegt im dramatischen Geschehen, welches die Haupthandlung des Joh weiterführt. Nach der ausgedehnten Szene der Abschiedsreden, in welcher der Erzähler fast vollkommen zurücktrat, setzt er mit der Angabe des Ortswechsels in 18,1 erneut ein und bereitet ein dramatisches Geschehen vor. Mit der Nennung von Judas wird die (durch Erzähler und Jesus) mehrfach angekündigte Handlung der Überlieferung aktualisiert. Wie gewohnt wird er wieder mit seiner geläufigen, quasinamentlichen Haupteigenschaft charakterisiert. Hier erscheint das Verb erstmalig im Indikativ, ohne ein Modalverb und zudem im Präsens. Das Überlieferungsgeschehen setzt ein, Judas führt seinen Plan bzw. seine Bestimmung aus. In 18,2 begründet der Erzähler, was die Überlieferung im Setting der Erzählten Welt ermöglicht, indem er einen Einblick in Judas’ Innenleben gewährt: Judas kennt den Ort, den Jesus aufsucht und dieses Wissen ist die Grundlage für sein Handeln. Zumindest dem internen Jüngerkreis ist der Garten als häufiger Aufenthaltsort Jesu geläufig. Dem Leser ist diese Information neu, da er erstmalig von dem Ort (K ( ) erfährt. Die Erklärung des Erzählers plausibilisiert nicht nur das Zusammentreffen von Jesus und Judas in besagtem Garten und gibt Einblick in Judas’ Wissen, sondern gibt auch eine mögliche Handlungsmotivation für Jesu Verhalten an. Selbst ohne sein übernatürliches Wissen weiß Jesus, dass Judas diesen Versammlungsort kennt. Sein Gang dorthin ist also eine bewusste Bewegung in die Gefahr hinein und auf die Überlieferung zu. Wie in 13,30 handelt Judas in 18,3 aktiv. Nahm er dort den Bissen von Jesus entgegen, nimmt er hier (wieder mit dem Lexem ausge) und zudem Diener der Hohepriesdrückt83) eine Kohorte Soldaten (% ter und Pharisäer mit, um sie zu Jesu Aufenthaltsort zu führen.84 Er hat die
83
Insgesamt gibt es vier Belegstellen für das Part. Aor. Akt. Nom. Sg. Mask. / im Joh: 3,33; 13,4.30; 18,3. 84 Mit % wird eine große Menge von Soldaten vorausgesetzt, die genaue Anzahl variiert in der Kommentarliteratur: Dietzfelbinger: „knapp 500“ (ders., Evangelium 2, 255). Siegert: „eine Tausendschaft (auch wenn es weniger waren)“ (ders., Evangelium, 542) oder „das Drittel einer Hundertschaft, also nur etwa 30 Mann“ (ebd., Anm. 11).
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Gabe Jesu (13,30: B ( H * ) gegen die Bedrohung Jesu (18,3: 0 , & B % … 7…L ) eingetauscht. Der Singular in + (18,3b) unterstreicht sein federführendes Handeln. Er taucht nicht in der Menge (dem Handlungssubjekt) unter, sondern seine Ankunft ist das relevante Element. Der Singular entspricht darüber hinaus dem von Jesu Kommen (und dem der Jünger) in 18,1 ( M bzw. ?%N ). Hier treten zwei Gegenspieler als Kontrastpaar auf. Jesus kommt in Gemeinschaft mit (%& ) seinen Jüngern, Judas bewaffnet mit ( ) Waffen und Fackeln in Begleitung eines großen Angriffstrupps. Die Dimensionen sind geradezu maßlos. Jesus und Judas treten sich nicht als gleichwertige Kontrahenten gegenüber. Von Anzahl, Bewaffnung und Gewaltpotential steht Judas’ Seite der Jesu als unüberwindbar gegenüber. Doch mit dieser Aufstellung endet Judas’ Aktion. Seine Überlieferung wird nicht weiter beschrieben. Jesus ist das nächste grammatikalische und handelnde Subjekt und im gesamten weiteren Verlauf agieren die Soldaten und Jesus unabhängig von Judas. Jesu Handeln löst Judas’ ab, seine Ansprache an das gesamte eingetroffene Kollektiv ( $ ) hebt Judas aus seiner Verantwortung für das Geschehen, mit seinem Hervortreten übernimmt er die für Judas verheißene Überlieferung. Ein wenig ironisch liest sich Judas’ Ausrüstung. Die Gegenstände Lampen, Fackeln und Waffen werden mit ihm assoziiert. Die Doppelung von Lichtquellen durch die Ausdrücke ; ! und verweist auf Jesu Anspruch, Licht der Welt zu sein (8,12). Da Judas Jesus seit dem Ende von Szene 3 nicht mehr nachfolgt (und in 18,1 nicht zum Handlungssubjekt gehört), wandelt er in der Finsternis (vgl. 13,30b) und ist auf irdische Lichtquellen angewiesen. Die Gegenstände weisen trotz vermeintlicher positiver Wertung durch die Nähe zum Wortfeld ‚Licht‘ im Kontrast hier eine Negativbewertung auf. Nach 11,10 wäre nun ein Stoßen oder Stolpern nicht überraschend. Das Zu-Boden-Gehen der gesamten Schar weist eine gewisse Parallelität auf, stimmt aber nicht im Vokabular überein. Der Schwerpunkt liegt dort an anderer Stelle. Jesu ultimative Allwissenheit bezüglich der zukünftigen Ereignisse wird in 18,4a erstmalig durch den Erzähler verbalisiert. Der Leser weiß dies längst.85 Die explizite Nennung an dieser Stelle offenbart die intentionale Dimension seines Handelns. Jesus tritt den kommenden Geschehnissen bewusst und geplant entgegen. Damit kommt seine Souveränität zum Ausdruck. So ist diese einzelne Szene in den Gesamtzusammenhang der Verherrlichungserzählung eingebettet und nur ein Baustein für das Gesamtwerk. Jesus gerät nicht Die Zusammenfassung von dem jüdischen ( 6 ) und römischen (% ) Figurenkollektiv sieht H.-J. Klauck als Symbolisierung der „Gesamtheit des feindlichen Kosmos“ (ders., Judas, 89). Vgl. Koester, Symbolism, 74; Vogler, Judas, 114. 85 Vgl. nur 13,1.3.19.21.38.
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in die Hände seiner Gegenspieler, sondern begibt sich hinein. Judas’ ‚Überlieferung‘ drückt keinerlei Macht aus, sondern ist von Jesus kalkuliert. Jesu Frage an die Hinzugekommenen (18,4b) wirkt ebenso berechnend. Sie provoziert eine Antwort, die ihm den Ausspruch des absoluten / ? ermöglicht. Die zuvor explizierte Allwissenheit Jesu verstärkt diesen Eindruck. Natürlich weiß er, dass sie ihn suchen.86 Mit diesem Wort zentriert Jesus die Szene um seine Person. War diese Szene als großer Auftritt für Judas angelegt, wendet Jesus die Darstellung. Zugleich drückt er darin seinen Gottesanspruch87 aus und ruft die sieben identifizierenden Ich-bin-Worte in Erinnerung. Judas ist von den Verheißungen der Ich-bin-Worte ausgenommen und ein Negativbeispiel für das Verhalten gegenüber Jesus.88 Bei zwei der Ichbin-Worte war er – im Gegensatz zu den (anderen) Jüngern – nicht einmal anwesend. Nach Jesu Ich-bin-Wort erfolgt Judas’ letzte Nennung im Evangelium. Auch hier wird seine primäre Eigenschaft genannt: Er überliefert Jesus. Die gerade geschilderten Ereignisse zeichnen jedoch ein konträres Bild: Jesus überliefert sich selbst! Judas muss den Soldaten und Dienern nicht zeigen, wer Jesus ist, da dieser sich ihnen selbst zu erkennen gibt. Es muss also in einer Metabewertung gefragt werden, ob Judas, der stigmatisierte Überlieferer, überhaupt ein solcher ist. Das letzte Judas zugeordnete Prädikat ist ein statisches: E% 9 . Judas verharrt unbeweglich an seiner persönlichen Endposition, das Plusquamperfekt weist auf das Resultat. Diese Figur stagniert hier. Wird Glauben durch Verben der Bewegung wie ‚nachfolgen‘ und ‚gehen‘ ausgedrückt, entspricht dies dem genauen Gegenteil.89 Ferner positioniert es Judas eindeutig unter den Gegenspielern Jesu. Sie sind Jesu Gegenüber im Dialog und in der Figurenkonstellation die Vertreter der Opposition, die Jesu Tod herbeiführen wird. Der Erzähler wiederholt Jesu Ich-bin-Wort im Anschluss, sodass Judas von diesem gerahmt erscheint. Das folgende Geschehen betrifft auch ihn, der bei den Angesprochenen ( 4 $ ! ) steht. Beinahe magisch wirkt die Darstellung der Reaktion auf Jesu Wort. Die deutlich überlegene Schar bei Judas weicht zurück und sinkt zu Boden. Alle Waffen sind wirkungslos gegen das Offenbarungswort Jesu. Doch die Szene endet nicht mit der Machtdemonstration Jesu und seinem Sieg über die bewaffnete Schar. Stattdessen wiederholt dieser seine Frage und seine Selbstauslieferung. Gemäß seiner Verheißung gegenüber den Jüngern in 16,32 fordert er den ungehinderten Rückzug der 86
Zur Suche nach Jesus als zentrales Thema des Joh vgl. Painter, Quest, 6–10, 27–31, 212; zu Szene 4 a. a. O., 378 f. 87 Vgl. Ex 3,14. J. Painter bestreitet einen Bezug auf Ex 3,14 im Joh prinzipiell, gründet sein Urteil allerdings auf der Autorenintention (ders., Quest, 205). 88 Vgl. 6.4. 89 Das Lexem ‚bleiben‘ als Ausdruck für Glauben ist stets an Jesus gebunden. Wollte man dies als Parallele heranziehen, so bliebe Judas wohl bei den Feinden Jesu.
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Jünger. Implizit setzt Jesus damit seine eigene Gefangennahme voraus, da er offensichtlich nicht mit seinen Jüngern zu fliehen gedenkt. Auch das Bild des zu trinkenden Kelchs in 18,11 bezieht sich auf die kommenden Ereignisse, die in Jesu Tod münden. Verstärkt wird dies durch die Lexemhäufung von * 90 in 6,53–56, wo Jesu Tod auf der Bildebene eine notwendige Voraussetzung (oder Konsequenz) ist. Wenn hier Jesus für seine Jünger eintritt, gehört Judas dabei dem Kollektiv nicht an. Im Erzählzusammenhang von 18,1 wird die Vokabel 6 * genutzt, ohne dass Judas inbegriffen ist. Folgerichtig gehört er auch in 18,8 nicht zu den & ' . Der Erzählerkommentar in 18,9 erinnert an die Referenzmotive in 17,9.12.91 Bei einem Vergleich von 18,9 und 17,9.12 gelangen zwei Bezüge zum Vorschein. In 17,9 wird den Von-Gott-Gegebenen ‚die Welt‘ gegenüber gestellt. Diese wirkt dadurch wie eine Figur, obwohl sie primär nur einen Ort (oder eine Sphäre) darstellt. Wird die Welt als Figur begriffen, ist sie ein Kollektiv, dem bei einer Parallelisierung beider Szenen die Soldaten, die Diener und auch Judas zugeordnet werden. Bei einer Zusammenschau von 17,12 und 18,9 ist neben kleineren Umformulierungen92 die Auslassung der Einschränkung ? 0 'E( N * auffällig. Innerhalb der Erzählung kann mit diesem Ausdruck nur Judas Iskariot gemeint sein, was durch den Verweis auf die Erfüllung der Schrift gestützt wird.93 Sofern dieser Ausdruck als Bezeichnung für Judas angenommen wird, handelt es sich in 17,12 um eine Szene impliziter Nennung. Da aber 18,9 auf die Nennung dort zurückweist, wird diese hier im Folgenden besprochen. Als Zuschreibung dient der Ausdruck 'E( N * der weiteren Charakterisierung Judas’. Das Wort / wird nur einmal im Joh verwendet, sodass diese Bezeichnung Judas primär in keinen weiteren Kontext einordnet.94 In 17,12 wirkt es in Rückbezug auf das stammverwandte Lexem, das Verb O ' , als Legitimation der Ausnahme vom Schriftzitat: Natürlich ist der ‚Sohn der Verlorenheit‘ bzw. ‚der Zerstörung‘ vom Nicht-Verlieren bzw. Nicht-Zerstört-Werden durch Jesus ausgenommen. Über diese argumentative Funktion hinaus ist der Terminus ein eindeutig negatives Wertungs-
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Die größte (und zugleich positiv konnotierende) Lexemhäufung von * findet sich allerdings in 4,7–15 (vgl. Teil IV – Samaritische Frau: 2.1. 91 Zur Bedeutung dieses Rückverweises für das Jüngerkollektiv vgl. Teil III – Petrus: 2.5. 92 Die Formulierungen aus $ $ ! / 17,12 und $ / % $ ! $ aus 18,9 decken sich semantisch und bilden Referenzmotive mit stark korrelierenden Lexemhäufungen. Der Wechsel vom Passiv zum Aktiv ändert das Handlungssubjekt und Erlebensobjekt nicht. 93 Vgl. 13,18 und 2.3. 94 Vgl. aber - ' in 11,50; 17,12; 18,9.
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wort.95 Der Ausdruck ‚Sohn‘ wird dabei metaphorisch gebraucht. Im Joh tritt – neben der absoluten Verwendung als Pendant zu ‚dem Vater‘ – das Wort 'EO nur durch Genitive erläutert auf. Neben der Näherbestimmung durch Possessivpronomina oder Eigennamen und den Titeln (0 'E( 5 5 und 0 'E( 5 / ') gibt es nur zwei Abstrakta: 'E ; O (12,36) und 0 'E( N * (17,12). Der Genitiv kann hier eine Herkunft bezeichnen oder als genitivus qualitatis seine Beschaffenheit beschreiben. Eine scharfe Abgrenzung ist weder möglich noch nötig. Beide Genitivverwendungen münden letztendlich in einer Bestimmung des Wesens, in einer grundle/ die Herkunft – genden Charakterisierung.96 Beschreibt in 17,12 vielleicht gar als personifizierte Vaterschaft –, schwingt im Sinne der Sohnschaftsaussagen in 8,41a.44 zudem ein Handeln mit, das diesem Wesen entspricht. Auf wen die Zerstörung wirkt ist dabei offen. Sowohl Jesus als auch Judas selbst sind mögliche Ziele. Da dieser ‚Titel‘ sich in der Erzählung eingebettet findet, sind beide Deutungsmöglichkeiten zu verfolgen. In Bezug auf Judas wird sie mit seiner hervorgehobenen Eigenschaft, welche zugleich Handlung ist (die Überlieferung Jesu), verbunden. Innerhalb der narrativen Entwicklung wird Jesu Ergehen als Verherrlichung und Vollendung geschildert. Folglich verweist der Ausdruck eher auf Judas’ eigenen Untergang, der sich im Überlieferungsgeschehen manifestiert.97 Doch warum wiederholt der Erzähler den Ausdruck 0 'E( N * im Überlieferungsgeschehen nicht? Drei Interpretationen bieten sich an. Die erste ist die naheliegende: Im Rückverweis auf die unmittelbar vorausgehende Szene genügt die verkürzte Darstellung und der Leser soll im Zitat die Ausnahme von Judas als Ellipse mithören. Eine zweite Deutung kann Judas aus dem Kollektiv derjenigen, die Gott Jesus gegeben hat, ausgeschlossen sehen. Mit dem Vollzug der Überlieferung wird jedwede Zugehörigkeit zu Jesus-nahen Kollektiven annulliert. Die dritte Interpretation verläuft konträr. Nach ihr ist der Ausdruck bewusst ausgelassen, da Jesus Judas seine Überlieferung durch seine Selbstoffenbarung abnimmt. Judas ist auch einer derjenigen, die Gott Jesus gegeben hat. Selbst ihn hat Jesus nicht verloren. Der Titel 0 'E( N * gilt nicht mehr für ihn. Letztere Lesart ist allerdings schwer zu plausibilisieren, da zum einen Jesu Worte revidiert würden und die Figur Judas keine narrative Rehabilitierung erfährt. Die Szene endet, ohne dass Judas noch einmal genannt wird. Eine Gewalttat von Simon Petrus an Malchus, einem der Diener, wird von Jesus unterbunden. Erneut wird auf die Vorherbestimmung von Jesu Schicksal durch 95 Für die Negativkonnotationen kann hier W. Vogler prägnant zitiert werden, der / als Bereich des „Antichristen“ mit folgenden Begriffen verbindet: „der Verdammnis – dem Verderben – dem Tod“ (ders., Judas, 109). 96 Vgl. nur die Geburtsmetapher in 3,5 f. 97 Vgl. Vogler, Judas, 106.
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‚den Vater‘ verwiesen. Im Anschluss beendet der Erzähler die Szene. Jesus wird verhaftet und gefesselt. Unter den drei handelnden Subjekten (Kohorte, Kommandeur, Diener ‚der Juden‘) ist Judas nicht genannt. An der Gefangennahme ist er nicht beteiligt. Lediglich als Erlebensobjekt nimmt er die Gefangennahme wahr. Seine Wahrnehmung und sogar seine Anwesenheit werden nicht mehr thematisiert.98 Ebenso ist nicht ersichtlich, wie er die Szene verlässt. Für die Jünger sind 18,8 und 16,32 als erfüllt vorausgesetzt: Sie werden nicht gefangen genommen und verlassen Jesus (die Ausnahme von Petrus und einem weiteren Jünger wird erst in 18,15 berichtet). Judas aber wird nicht mehr erwähnt, er bleibt auf der Seite der Soldaten und Feinde Jesu stehen ( E% 9 ) – vielleicht sogar über die Erzählte Zeit der Szene hinaus. Sein Ende wird dem Ersinnen des Lesers überlassen. 2.5 Szenen impliziter Nennung Neben den Szenen, in denen Judas innerhalb des Jüngerkollektivs als anwesend vorausgesetzt ist – und zwar insbesondere ab seiner Erstnennung in 6,71 – sind hier die Szenen von Relevanz, in denen der Erzähler oder Jesus auf Judas verweist, auch ohne dass sein Name genannt wird (s. u.). Innerhalb des Jüngerkollektivs bekommt Judas diverse Monologe und Dialoge mit. Durch die Nennung der Jünger in der Blindenheilungs- und in der Auferweckungsepisode ist deutlich, dass er diese beiden Wunder miterlebt. Die Jüngerreaktion auf die Heilung und die Auferweckung wird aber nicht berichtet. Ferner ist Judas in 11,54 als Teil des Jüngerkollektivs bei Jesus in Ephraim in sicherer Distanz zu den Hohepriestern und Pharisäern, die Jesus töten wollen und an die er Jesus schließlich ‚überliefert‘. Als Hintergrund zur Interpretation und zum Aufzeichnen einer Entwicklungslinie sind diese Szenen von Bedeutung. Für eine Einzelanalyse genügt aber in diesem Kapitel eine Betrachtung der Szenen, in denen ohne Namensnennung auf Judas verwiesen wird: 6,64; 17,12; 21,20. Während bei den Synoptikern das Überlieferungsmotiv (als Motiv der Preisgabe Jesu an seine Gegner) auf die Judasszenen beschränkt bleibt,99 98 In seiner Passivität kann Judas auch als zwischen den handelnden Figuren (Soldaten und Jesus) positioniert aufgefasst werden, was seine Rolle ambivalenter erscheinen lässt, als die hier betonte (negative) Deutung. Da jedoch auch von den Jüngern (mit Ausnahme von Simon Petrus) kein Verhalten berichtet wird, ihre Zugehörigkeit zu Jesus (trotz mutmaßlicher Flucht) aber schwerlich hinterfragt werden kann, ist die Passivität bei Judas m. E. kein Indiz für eine neutrale Haltung oder Bewertung von ihm. 99 Innerhalb der synoptischen Evangelien wird Judas an keiner Belegstelle ohne das Überlieferungsmotiv (bei Lk - 6 ) genannt. Nur innerhalb der Leidensankündigungen (Mk 9,31 parr.; 10,33 f. parr.) taucht das Passiv des Verbs auf Judas’ Überlieferungshandlung bezogen auf. Dort ist es in die Liste der Verben eingereiht, die die kommenden Ereignisse beschreiben. Durch die Passivformulierung rückt dort das Hand-
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bekommt es im Joh ein eigenes Gewicht. Unmittelbar vor Judas erster Nennung verweist der Erzähler auf Jesu Wissen darüber, wer ihn überliefern werde (6,64). Dies ist insofern überraschend, als der Wechsel von den Ungläubigen – die das eigentliche Thema der Szene sind – zum Überlieferer einen Gedankensprung voraussetzt. Die Szene wurde im Kontext von Szene 1 bereits berücksichtigt, sodass hier auf eine Einzelanalyse verzichtet werden kann. Innerhalb seines Gebets gebraucht Jesus den Ausdruck 0 'E( N * (17,12), der sich auf Judas bezieht. So wird hier eine neue Bezeichnung für ihn verwendet, die darüber hinaus nicht weiter aufgegriffen wird. Explizit verwiesen wird auf diese Passage in Judas’ Szene 4, in der sich diese implizite Szene verhandelt findet.100 Eine letzte Anspielung auf Judas findet sich in 21,20, im sechstletzten Vers des Evangeliums. Dort nutzt der Erzähler einen Rückverweis auf die Überlieferungsankündigung (13,21–30) zur Beschreibung des Geliebten Jüngers. Aus zwei Gründen ist diese Szene für die Figur Judas wichtig. Erstens ist die Analepse nicht notwendig, um die Identität des Geliebten Jüngers zu erklären. Schließlich war er bei den übrigen Nennungen auch nicht zusätzlich erklärt worden und sogar kurz zuvor (21,7) in Erscheinung getreten. Ferner hätte auch eine verkürzte Variante der Rückblende ausgereicht, die lediglich das Liegen des Geliebten Jüngers an Jesu Brust erwähnt, um die Szene einzuspielen. Stattdessen wird sogar die Frage wiederholt, die explizit nach dem Überlieferer fragt. Zweitens fällt auf, dass diese Frage gegenüber der in 13,25 zwar nicht inhaltlich, aber im Wortlaut variiert und den Ausdruck zur eindeutigen Identifikation von Judas (0 & % ) ergänzt. Dementsprechend ist diese Szene (21,19b–23) für die Figur Judas von Bedeutung und wird im Folgenden analysiert. Die Szene spielt am Ufer des Sees Tiberias zu einer unbestimmten Zeit nach Jesu Auferstehung. Lediglich die Tageszeit ist als Vormittag einzuordnen, da Jesus den Jüngern zuvor zum Frühstück Brot und Fisch weitergegeben hat. Implizit anwesend sind neben Jesus damit die sieben Jünger aus 21,2. Explizit werden jedoch nur Simon Petrus und der Geliebte Jünger genannt.101 Nach dem Dialog zwischen Simon Petrus und Jesus, der den Hirtenauftrag und die Ankündigung des Todes von Petrus beinhaltet, rückt der Geliebte Jünger ins Blickfeld. Ohne Zeit- und Ortswechsel gehen die Szenen ineinander über. Der einzige Unterschied ist, dass Jesu Aufruf am Ende von 21,19 eine Figurenbewegung einleitet, die rückwirkend eventuell das gesamte Gelungssubjekt (Judas) nicht ins Zentrum. Weitere Belegstellen des Lexems im Mt, Mk und Lk werden hier nicht besprochen. 100 Vgl. 2.4. 101 Zur ausführlichen Analyse der Szene, insbesondere hinsichtlich Simon Petrus, vgl. Teil III – Petrus: 2.9.
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spräch in einem gemeinsamen ‚Spaziergang‘ einordnet. Ferner ändert sich durch den Blick auf den Geliebten Jünger die Thematik. Interessanterweise ist die Handlung im Grunde auf einen Wortwechsel zwischen Petrus und Jesus beschränkt, zu dem jeder nur einen Beitrag leistet. Der Erzähler hingegen nimmt mit erklärenden Ergänzungen viel Raum ein. So endet die Szene mit einer Prolepse, deren Inhalt die Erzählte Welt, die bislang Gegenstand des Evangeliums war, verlässt. Er kommentiert den gesprochenen Satz Jesu und führt die Kommentierung in eine Abschlussbemerkung über, die einen Verweis auf die Autorenschaft und eine Reflexion des Geschriebenen beinhaltet. Für Judas bedeutet diese Einspielung im letzten Kapitel, dass er als Kontrastfigur zu den nun Jesus nachfolgenden Jüngern herangezogen wird.102 War er mit seinem Verschwinden nach 18,6 vielleicht in Vergessenheit geraten, wird die Erinnerung an ihn noch einmal reaktiviert. Wenn es um Fragen der Nachfolge geht, ist er die bestmögliche Konkretion von falschem Handeln, das eben nicht in der Gegenwart Jesu endet (vgl. Szene 4). Außerdem wird die Parallelisierung (oder eher Kontrastierung) zwischen Judas und dem Geliebten Jünger verstärkt, denn bei dessen Erst- und Letztnennung wird auf Judas verwiesen. Das verbindende Element zwischen beiden ist dabei die Überlieferung Jesu. Dies ist die Tat, die Judas auszeichnet und nach welcher der Geliebte Jünger fragt. Verändert dieser letzte Hinweis die Einordnung der Figur Judas? An dieser Stelle ist der Leser gefragt. Zum einen wird einer möglichen Positivbewertung der Figur Judas die Basis entzogen, indem am Ende (21,20) noch einmal seine Stigmatisierung betont wird: Er ist derjenige, der Jesus überlieferte, was ihn zum Teufel und Sohn der Verlorenheit macht, der in der Finsternis der Nacht bleibt und letztendlich dem Kollektiv der Jünger nicht angehört. Zum anderen ist aber Jesus auferstanden und sein Tod ist als Verherrlichung dargestellt worden. In unmittelbarem Umfeld des Verweises auf Judas wird dieser als lebendige, sprechende und handelnde Figur gezeigt. Judas’ Überlieferung ist ein notwendiger Baustein in Gottes Plan, welcher in einem guten Ende mündet. Wie schon in der von Judas miterlebten Auferweckung des Lazarus ist in der Auferweckung Jesu der Tod, zu dem Judas Jesus überlieferte, überwunden und außer Kraft gesetzt. Damit wird die gesamte Negativzeichnung des vorausgehenden Evangeliums aufgehoben. Im Spannungsfeld dieser Extrempositionen ist der Leser zur Metabewertung herausgefordert.
102
In dieser Hinsicht interpretiert N. Farelly seine Rolle im gesamten Evangelium (vgl. ders., Disciples, 106–117).
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3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität 3 Charakter und Eigenschaften – ethische Identität
Judas ist eine der Figuren des Joh mit den meisten expliziten Charakterisierungen. Dabei wird er mehr als jede andere Figur (abgesehen von Jesus) mit zusätzlichen substantivischen Ausdrücken belegt. Da viele dieser Ausdrücke wertend sind und neben der Identitätszuschreibung Eigenschaften implizieren, vermischen sich an dieser Stelle Benennung und Merkmale, Identität und Identifikationsangebot (und folglich 3.1 und 3.2). Dadurch, dass die Merkmale erst in einem zweiten Schritt aus den Bezeichnungen für Judas abgeleitet werden, wird der Schwerpunkt auf das erste der beiden Unterkapitel gelegt. Dort finden sich neun Identitäten, die als Mosaiksteine ein Gesamtbild seiner Identität im Joh ergeben. Im zweiten Unterkapitel werden nur die nicht bereits durch die Identität ausgedrückten Merkmale sowie zwei Kurzreflexionen zu Judas’ ethische Identität dargelegt. 3.1 Name und Identität Judas erhält neben seinem eigentlichen Namen ‚Judas’ verschiedene Beinamen oder Bezeichnungen, die verschiedene Teile seiner Identität widerspiegeln, sodass dieses Kapitel entsprechend der Bezeichnungen gegliedert ist.103 Auffallend sind die verschiedenen Bereiche, welche die zusätzlichen Identifizierungen abdecken: Insgesamt erhält man die Kategorien Name, Beiname, Einzelhandlung, Gruppenzugehörigkeit, Funktion innerhalb der Gruppe, Titulierung durch Erzähler, Titulierung durch andere Figuren, Kontrastfigur. Der Figurenname Judas ist die griechische Variante des hebräischen Namens Juda104 und war im 1. Jahrhundert weit verbreitet105. In der Auslegungsgeschichte wurde zudem die besondere Nähe zu dem Kollektiv ‚die Juden‘ festgestellt, die Judas zu einem Repräsentant von diesem machte106 und im Antisemitismus verheerende und erschreckende Wirkung entfaltete. Stimmen das Kollektiv ‚die Juden‘ und die Einzelfigur ‚Judas’ auch in einigen Eigenschaften überein (z. B. Unglaube) und wird über die Figur des Teufels eine Verbindung (jedoch keine Gleichsetzung) erzeugt, 103
Vgl. auch die ähnliche Wahl der Überschriften bei Bennema, Encountering, 232–
237. 104
Vgl. Vogler, Judas, 18. Die Spur möglicher Intertexte im AT (z. B. Gen 35,23; 49,8– 10) sei hier nicht verfolgt. 105 Man beachte die auffallende Menge verschiedener Personen mit Namen Judas innerhalb des Neuen Testaments: Mk 6,3 parr.; Lk 6,16; Apg 5,37; 9,11; 15,22; Jud 1. Vgl. Klauck, Judas, 137. 106 Evangelienübergreifend formuliert K. Barth: „Er und ganz Israel, er, Judas und mit ihm und in ihm die Juden als solche!“ (ders., Dogmatik, 515; vgl. a. a. O., 517). Judas ist aber bei Barth zudem Repräsentant der Apostel! Vgl. Kap. 1. Gegen eine Repräsentation wendet sich auch P. Dschulnigg (ders., Jesus, 161).
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bleibt doch das wesentliche gemeinsame Merkmal der ähnliche Klang durch die gleiche etymologische Wurzel (vgl. , & und , ' ). Letztere Überschneidung lädt zwar zu einer Parallelisierung ein, begründet aber keine Stellvertreterposition – zumal im Joh mit Judas2 explizit ein Namensvetter auftritt (14,22).107 Diese Einsicht ist nicht bloß exegetisch tragfähig, sie bringt darüber hinaus eine Positionierung gegen die Instrumentalisierung der Figur Judas für antisemitische Zwecke zum Ausdruck. „Die Verbindung, die die Tradition zwischen Judas und den Juden herstellte, war unheilvoll und ist entschieden zu verwerfen.“108 So werden hier neun andere Identitätsbilder des Judas beleuchtet und werden sämtlich unter Überschriften vorgestellt, die dem Namen ‚Judas’ eine Identität zuordnen. Ein Kapitel ‚Judas – der Jude‘ o. ä. findet sich darunter nicht! 3.1.1 Judas – der Iskariot Innerhalb der Reihe von zusätzlichen Identitätsbezeichnungen ist Iskariot der einzige Beiname. Der Erzähler verwendet viermal diesen Namen zur spezifischen Bezeichnung der Figur. Bei der Erst-, Zweit- und Letztnennung bezieht sich Iskariot allerdings nicht auf Judas selbst, sondern auf dessen Vater Simon. Judas wird in 6,71, 13,3 und 13,26 mit dem Attribut .* ,% / ' beschrieben. Der Genitiv ist die übliche Bezeichnung, um die Sohnschaft anzuzeigen.109 Aus dieser Perspektive dient der Name eher einer Beziehungszuordnung als einer Charakterisierung.110 Über Simon Isakriot wird nichts innerhalb des Joh berichtet. Der Zweitname Iskariot kann verschieden gedeutet werden. Ob Simon als Mann aus Kerijot (hebr.: iš qerijjot111), als meuchelmordender Zelot (röm. Ausdruck: sicarius112), als Färber (entsprechend eines aramäischen Nachnamens) oder nichts derglei-
107
Der Index markiert, dass hier nicht die Fokusfigur Judas Iskariot gemeint ist. Dabei ist Judas2 als Jünger mit nur einem Auftritt kaum charakterisiert, durch seine fortbestehende Zugehörigkeit zum engsten Jüngerkreis um Jesus aber positiv bewertet. In der Auslegungsgeschichte wurde eine Stellvertreterposition von Judas2 für ‚die Juden‘ – im Gegensatz zu Judas Iskariot – m. E. nicht behauptet. 108 Dieckmann, Judas, 261. 109 Vgl. 1,42 mit 21,15–17; Teil III – Petrus: 2.9. 110 Gegen Vogler, Judas, 24. W. Vogler sieht anhand traditionsgeschichtlicher Überlegungen durch die Bezeichnung von Judas’ Vater als ‚Iskariot‘ im Joh (im Gegensatz zu den synoptischen Evangelien) sogar „dessen ‚Sippe‘ als verdammungswürdig“ charakterisiert (a. a. O., 116). 111 Diese Ortsbezeichnung findet sich (nicht einen identischen Ort meinend) in Jos 15,25; Jer 48,24 und Am 2,2. 112 Zu den Sikariern (und dem einzig bei Josephus belegten griechischem Äquivalent % ) vgl. Hengel, Zeloten, 48–53.
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chen bezeichnet wird,113 bleibt innerhalb des Joh unklar und wird deshalb nicht weiter verfolgt. Von diesen ausführlichen Ergänzungen ausgehend, wirkt der Beiname in 12,4 wie eine Verkürzung des eigentlich dargestellten Sachverhalts. Dort wird Judas selbst als Iskariot bezeichnet, wobei die Namen nicht wie ein Doppelname (anders als bei seinem Vater Simon Iskariot oder auch dem Jünger Simon Petrus) zusammengefügt werden. Stattdessen tritt ein 0 vor den Beinamen ,% / 6 . Dadurch wird Iskariot zu einer Spezifizierung, die Judas unverwechselbar markiert. Der Vatername kann also unproblematisch auf den Sohn übertragen werden, wird dort allerdings transformiert.114 Der Zweitname wird zu einer Bezeichnung. Hier sei noch auf einen Deutungsversuch des Beinamens verwiesen: In der LXX wird die Wurzel sagar ( ) bzw. sakar ( ) in wenigen Fällen mit wiedergegeben. Zumindest der i-Anlaut und der Wegfall des ersten ‚a‘ sind mit einer Hif ilBildung erklärbar.115 Dennoch bleibt eine solche Lesart sehr spekulativ und auch ohne Kenntnis des Hebräischen ist der Name verständlich – als eindeutige Bezeichnung gegenüber anderen gleichnamigen Figuren. Der Auftritt eines weiteren Judas2116 erfolgt jedoch erst nach den vier besprochenen Belegen, nämlich in 14,22. Obwohl Judas selbst in der Szene nicht einmal anwesend ist, wird ihm der Name ‚Iskariot‘ noch stärker zugeordnet als in den vorigen Szenen, denn der Name dient der Abgrenzung eines anderen Jüngers mit gleichem Namen. Dadurch wird jener zum ‚Judas2, nicht der Iskariot‘. Hier ist als Merkmal zur Identifikation von Judas dessen Beiname und nicht eine der folgenden Alternativen gewählt. 3.1.2 Judas – der Überliefernde Eine Bezeichnung kennzeichnet Judas beinahe wie ein Name. Judas überliefert Jesus. Das Wort ist denkbar eng mit der Figur Judas ver113
Vgl. Bennema, Encountering, 229 f.; Meiser, Judas, 33–36; Klauck, Judas, 41–43. Letzterer nennt zudem weitere Möglichkeiten, die Iskariot auf aramäische/hebräische Verben rückführt, die sämtlich im Zusammenhang mit Judas’ Überlieferung stehen (a. a. O., 44) und so als Vatername ausscheiden. Möglich bleiben diese Deutungen in einer textkritischen Ablehnung des Genitivs ,% / ' (auch in 13,2.26) oder in einer nachträglichen Übertragung von Judas’ Tun auf den Vater entsprechend der Vater-Sohn-Einheit bezüglich ihres Handelns im Joh (vgl. 8,39–44). 114 Eine Dämonisierung der gesamten Sippschaft durch die Erwähnung des Vaters wird durch diese Transformation widerlegt, muss aber schon wegen der großen Deutungsoffenheit des Wortes ,% / 6 ausfallen. Gegen Vogler, Judas, 24 (s. o.). 115 Vgl. dazu Klauck, Judas, 44; Popkes, Christus, 20, 177. Letzterer hält fest: „Sicheres und Genaues lässt sich also vom Beinamen her für unsere Fragestellung [die Bedeutung von in der Judas-Tradition] nicht gewinnen“ (a. a. O., 178). 116 Der Index dient der Abgrenzung des in 14,22 genannten Jüngers vom hier besprochenen Judas.
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bunden.117 Es ist zugleich Identität, Kennzeichen der Beziehung zu Jesus und bedeutendste Handlung der Figur Judas. Gebündelt wird der Gehalt dieses Ausdrucks nur in diesem ersten der vier ethischen Entfaltungskapitel aufgefächert. Ohne eine Flexion von und Ergänzung von Jesus als Objekt (meist durch $ - ) wird Judas nie erwähnt.118 Im Gegenteil genügt dieses Verb sogar als Hinweis auf Judas, ohne dass sein Name genannt werden muss.119 Bis 18,30 ist Judas das einzige Handlungssubjekt dieses Wortes. Dabei werden die Adressaten der Überlieferung nie explizit genannt. Aus dem Erzählzusammenhang von 18,1–12 ergeben sich Soldaten und Diener von Hohepriestern und Pharisäern als Adressaten. Explizit nennt 18,36 rückwirkend dagegen das variable Kollektiv ‚die Juden‘ als Ziel von Jesu Überlieferung. Das Passiv schweigt aber dort über ein Handlungssubjekt und der Konjunktiv Aorist ermöglicht auch eine Deutung auf die bevorstehende Überlieferung durch Pilatus (19,16). Wenn diese Handlung Judas sogar stärker identifiziert als sein Name, muss sie für seine Identität von besonderer Bedeutung sein. Was also meint ?120 Die übliche Bezeichnung ‚verraten‘121 wurde während der Analyse bewusst umgangen. Der neutralere Ausdruck ‚überliefern‘ sucht aber einen Adressaten. Im Sinne einer Prozesssprache ist dieser die jüdische Obrigkeit, verkörpert durch Soldaten, Pharisäer, Hohepriester, deren Diener und den Ausdruck ‚die Juden‘.122 Judas wird zum Auslöser oder Verantwortlichen für Jesu Kreuzigung, da er mit seinem Tun den Prozess einleitet. Ab wann der Figur Judas auf diegetischer Ebene diese Identität bewusst ist, bleibt unsicher. Durch den Erzähler ist nahegelegt, dass er es bereits früh weiß oder gar plant. Möglich ist aber, dass ein Leser mehr über eine Figur weiß als diese selbst. Der spätmöglichste Zeitpunkt der Erkenntnis des Judas, dass er selbst Jesus überliefern wird, ist die Überreichung des Bissens in 13,26 f. Da aber ein 117
M. Beirne betont, dass Judas trotzdem nicht zu dem Stereotyp eines Überlieferers degradiert werden darf, sondern vielmehr eine tragische Figur ist (vgl. diess., Women, 167 f.). 118 Abgesehen wird natürlich von dem anderen Judas2 (14,22). Vgl. 3.1.1. 119 Siehe 2.5. 120 Bauer, , 1242–1244, nennt ‚überliefern‘, ‚übergeben‘, ‚ausliefern‘ und ‚überlassen‘ als Hauptbedeutungen. ‚Verraten‘ findet sich dort nicht als Übersetzung. . K. Beckmann versucht eine „Theologie der Hingabe“ anhand dieses Lexems zu verdeutlichen, die Judas durch seinen Anteil am Heilsgeschehen positiv wertet (ders., Funktion, 182). Vgl. auch Barth, Dogmatik, 510 f., 537 f., 542f, 558 (dieser beurteilt Judas’ Tat dennoch als „Sünde und Schuld“: a. a. O., 560). Narratologisch lässt sich diese Positivdeutung für das Joh nicht stützen, sie ist allein in einer Leserreaktion oder -reflexion zu verorten. 121 Vgl. z. B. Luther 84, EÜ. 122 In diese Richtung (zwischen alltags- und gerichtssprachlichen Gebrauch) ordnet W. Popkes den Begriff ein: „Paradidonai meint dann etwa: Judas lieferte Jesus seinen Gegnern aus, spielte ihn den Häschern in die Hände“ (ders., Christus, 219).
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Erschrecken oder eine andere Reaktion von Judas fehlt und die Formulierung in 13,2 auf ein früheres Wissen hindeutet, sei von dieser Lesart hier Abstand genommen. In einem alltagssprachlichen Gebrauch von ‚überliefern‘ kommen drei Ebenen der Handlung in den Blick (vgl. 2.1): Die aktive Ausführung, die passive Ermöglichung oder die Betonung der interfiguralen Beziehung. Die Darstellung von Judas als Überlieferer durchläuft verschiedene Modi und Tempi. Ist in den ersten Nennungen die Handlung jeweils durch ein Modalverb ( ) oder ein Futur noch als optional oder zukünftig verortet, findet sie sich im Partizip Präsens in 18,2.5 aktualisiert.123 Bis dahin ist Judas der, der irgendwann handeln kann oder wird. Der Leser weiß den hohepriesterlichen Befehl in 11,57 (Jesu Aufenthaltsort mitzuteilen) so Judas zuzuordnen. Vor diesem Kontext kann das in 12,4 als Planung verstanden werden. So bereiten Maria124 und er Jesu Tod in oppositionaler Weise vor. In Joh 18 schließlich ereignet sich das Überlieferungsgeschehen. Vorbereitet wird diese Handlung durch Jesu Auftrag zum schnellen Tun (13,27). Schon das Verb markiert dabei, dass Judas das handelnde Subjekt der Überlieferung ist. Gemäß 11,57 ist der konkrete inhaltliche Gehalt der Überlieferung Jesu die Auskunft über Jesu Aufenthaltsort. Die Überlieferung ist nicht ein sich ereignendes Geschehen, sondern eine Tat des Judas.125 Judas ist derjenige, der Jesus in die Hände seiner Gegner spielt, der die Begegnung im Garten herbeiführt und dessen Ankunft dort die Überlieferung markiert. Es erscheint beinahe wie eine Archetyp: Judas ist der Überlieferer.126 Doch überliefert Judas Jesus tatsächlich? Der Erzählbefund steht dieser Annahme entgegen. Hat die Szenenanalyse schon aufgezeigt, dass Judas generell auffällig selten (grammatikalisches und Handlungs-)Subjekt aktiver Verben ist, findet sich Jesus innerhalb dieser Sammlung von Judas’ expliziten Handlungen nur bei Flexionen von als Objekt. Dieser Begriff meint ein komplexes Geschehen, das in Jesu Gefangennahme (fesseln und abführen) mündet, findet sich aber in keiner konkreten Handlung gespiegelt: in keinem Fingerzeig, keiner wörtlichen Rede, erst recht nicht in einem Kuss127. Nachdem Judas im Garten bei Jesus angelangt ist, nimmt ihm dieser 123 Gegen Vogler, Judas, 111. W. Vogler sieht in 0 2 $ O (18,2) eine „– für Johannes ganz und gar untypische, im Kontext des JohEv zudem ausgesprochen überflüssige – Apposition“ (ebd.) und verkennt damit die Entwicklung, die durch Modi und Tempi ausgedrückt wird. 124 Vgl. Marias Salbungshandlung an Jesus sowie dessen Deutung in 12,3.7. 125 Vgl. Barth, Dogmatik, 517. So bezeichnet W. Vogler Judas’ „Denunziation (18,2)“ als eines der „‚Werke‘ des Unglaubens“ (ders., Judas, 118). 126 Vgl. Farelly, Disciples, 117. Im Kontext von apokalyptischem Denken sieht W. Popkes Judas „zu einer bestimmten Figur im endzeitlichen Drama“ [Hervorhebung: FW] ausgearbeitet (ders., Christus, 179). 127 Vgl. Mk 14,44–46 parr.
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jegliches Tun ab. Wie schon in Kap. 2.4 dargelegt, ist dies als mögliche Entmachtung von Judas zu sehen, vielleicht sogar als Entschuldung. Er ist zwar derjenige, der die Situation vorbereitet, aber dank Jesus nicht vollzieht. Stattdessen wird Jesu Selbsthingabe betont. Er ist souverän in seinem Tun, insbesondere in seinem Sterben (10,18). Darin führt er – und nicht irgendeine andere Figur, sei es Judas, Pilatus, die jüdische Obrigkeit oder der ‚Fürst der Welt‘ – den Willen des Vaters aus (10,18; 14,30 f.; 18,11; 19,11). Diesen Gedanken weiterführend ist das in Szene 1 und 2 als Vorherbestimmung und Judas’ Passivität und Dämonenbesetzung in 13,2.27 als übernatürliche Führung, gewissermaßen als Determination, verstehbar.128 Auf die Spitze getrieben wäre Judas damit als Marionette im Spiel übernatürlicher Mächte einer Leserbewertung enthoben. Sein Charakter wäre irrelevant, seine Handlungen fremdgesteuert. Beide Motive (Jesu Selbsthingabe und Judas’ Überlieferungsermöglichung) stehen jedoch unverwoben nebeneinander.129 Das Lexem für die Selbsthingabe Jesu ist allerdings * 6 (und keine reflexive Verwendung von ). So ist die Einschätzung schwierig, Judas sei eine rein passive Figur, und findet auch für die Dichte der quasi-namentlichen Bezeichnung als Überlieferer keine Erklärung. Die aktive und die passive Sinnlinie lassen sich am besten auf der Beziehungsebene erklären. Da diese in den Bereich der Beziehungsethik fällt, wird sie dort verhandelt.130 An dieser Stelle wird festgehalten, dass Jesus auf Judas ausgerichtet bleibt, während Judas Jesus zu hintergehen sucht. Jesu Vormachtstellung und Judas’ Handlungsfreiheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Die vollkommene Freiwilligkeit Jesu, sich in die Situation der Gefangennahme und Kreuzigung hineinzubegeben, hebt nicht Judas’ Verantwortung für seinen Beitrag dazu auf.131 3.1.3 Judas – Einer der Zwölf Betrachtet man die Kollektivzugehörigkeit von Judas, erscheint er zweimal direkt den Jüngerkollektiven zugeordnet und doch aus diesen herausgehoben. In Szene 1 wird er explizit als „Einer der Zwölf“ und in Szene 2 als „Einer seiner [Jesu] Jünger“ bezeichnet. Diese Zugehörigkeit kann zunächst als Sympathie weckend eingeordnet werden, da beide Kollektive eine besondere 128
Vgl. Vogler, Judas, 115. J. Gnilka sieht Judas als „Werkzeug“ des Teufels dargestellt (ders., Joh, 105, 109). C. R. Koester sieht darin Christi Verhalten gegenüber dem Bösen dargestellt, welcher es so wendet, dass es zu „God’s saving ends“ führt (ders., Symbolism, 75). 129 Vgl. Popkes, Christus, 282. 130 Siehe 4.1. 131 Dementsprechend verallgemeinert A. T. Lincoln: „In this Gospel, pointing to the cosmic dimension of events, whether tot he divine initiative or to Satanic influence, is never a means of diminishing human responsibility“ (ders., Gospel, 381).
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Nähe zu Jesus aufweisen. Dabei sind ‚die Zwölf‘ das stärker eingegrenzte Kollektiv, welches als feste Gruppenbezeichnung konstant bleibt, während ‚Jünger‘ eine Bezeichnung für ein Kollektiv unbestimmter und wechselnder Größe ist. Zudem zeigt sich innerhalb des Jüngerkollektivs in 6,60–66 auch Ablehnung Jesu und Jesus erzeugt in 8,31 mit der Formulierung 6 ! 6 * & % implizit die Möglichkeit einer nicht wahrhaftigen Jüngerschaft. Die Darstellung von Judas innerhalb dieser Kollektive zeigt eine Entwicklung auf: Einer der Zwölf einer von Jesu Jüngern keiner von den Jüngern Jesu (18,1 f.). Obwohl Judas ohnehin innerhalb des Zwölferkollektives von den übrigen abgegrenzt wird und eher als schwarzes Schaf132 erscheint, zeigt auch diese Entwicklung ein Wegbewegen von Jesus an. Die grundsätzliche Lesersympathie, die diese Kollektivzugehörigkeit mit sich bringt, muss also für Judas angezweifelt werden. Bemerkenswert ist in Bezug auf Judas’ Kollektivzugehörigkeit, dass seine Erwählung durch Jesus nicht aufgehoben wird. Im Gegenteil, sie wird in 6,70 explizit betont. Die daraus zu schließende Positivbewertung der betroffenen Figuren wird für Judas aber aufgehoben und mit einer heilsgeschichtlichen Deutung unter Bezug auf ein Erfüllungszitat in 13,18 begründet.133 3.1.4 Judas – der Kassenwart (12,6) Die beiden folgenden Bezeichnungen ordnen Judas einem Themenfeld zu, das darüber hinaus im Evangelium wenig zur Sprache kommt: Geld. Mit seiner Funktion innerhalb des Jüngerkollektivs als der, der die Geldtasche hat, werden verschiedene Dinge über ihn ausgesagt – bspw., dass die anderen Jünger ihm vertrauen. Dieser naheliegende Rückschluss wird aber nicht benannt. Eine Beauftragung oder Amtseinsetzung fehlt. Vielmehr war in 4,8 und 6,5–7 bei der Erwähnung von Einkäufen ein Kassenwart verschwiegen worden und an letzterer Stelle Philippus und nicht Judas angesprochen. Wie viel Geld sich in der ‚Jüngerkasse‘ befindet und welche Ausgaben und Einnahmen Jesus und seine Jünger haben, wird nicht ausführlich berichtet. Nahrungsmittelkauf (4,8; 6,5; 13,29) und Almosengeben (13,29; vgl. 5.2) werden zwar genannt, aber Umfang und Häufigkeit werden aus den Angaben nicht deutlich. Auch die Menge des Geldes in der Kasse – und vor allem der Gegenwert – ist nach 6,7 höchstens zu erahnen.134 Da die Größe des Jüngerkollektivs offen bleibt, ist fraglich, wie viele Menschen ggf. mit dem Geld regelmäßig versorgt werden mussten. Die Verwaltung der ‚Jüngerkasse‘ wird nicht thematisiert und nur angedeutet. So ist in 12,6 die Funktion eines Kassenwarts erstmalig erwähnt. Ob beauftragt oder eigenmächtig an sich genommen, Judas hat (+ ) die Kasse. Er ist damit eine der wenigen Figuren, 132
Vgl. Bennema, Encountering, 229. Vgl. 2.3. 134 Vgl. dazu Schröder, Jesus, 113–17 sowie 2.2. 133
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die explizit mit Besitz ausgestattet sind. Auffällig ist, dass einige der anderen Jünger Judas auf diese Eigenschaft reduzieren, als dieser von Jesus zum Handeln aufgefordert wird (13,27–29). Außerdem vermag er den Gegenwert des Salböls einzuschätzen, was (sofern nicht als Hyperbel aufgefasst) ein finanzielles Verständnis offenlegt. Dass er überhaupt einen finanziellen Gegenwert erwähnt, verstärkt seine Ausrichtung auf diesen Bereich. Auch seine Sprechhandlung (12,5) und die Handlungserwartung der Jünger (13,29) ordnen Judas ‚Kaufen und Verkaufen‘ als Themenfeld zu. So ist auch über den Handel das Thema ‚Geld‘ Judas als Figur zugeordnet. In 12,6 beschreibt der an die Diffamierung als Dieb anschließende, wertneutrale Nachsatz ( … % J ) eine Handlung von Judas. Das Imperfekt deutet auf eine durative, iterative oder habituative Bedeutung hin,135 was letztendlich herausstellt, dass Judas das Geld nicht nur in dem Erzählmoment trägt. Ob in 7 % J ein raffgieriges Sammeln oder die demütige Ausführung einer notwendigen Arbeit angelegt ist, bleibt offen. Auch sind die implizierten indirekten Objekte von % J nicht eindeutig. Was sind Ausgangs- und Zielpunkt der Handlung? Möglich ist, dass Judas Geld sammelt und es der Kasse zuführt oder dass er sich an dem Geld in der Kasse bedient und es zu Privatbesitz macht. Durch die vorausgehende Titulierung als Dieb (vgl. 3.1.5) ist die zweite Alternative naheliegender und dieser an sich neutrale Vorgang erhält eine negative Konnotation. Judas ist kein rechtschaffender Kassenwart, sondern unehrlich und raffgierig. Der Interpretation H.-J. Klaucks „Geldgier treibt ihn zu seinem Tun, Geldgier wird ihn zu Fall bringen“ kann man allerdings in dieser Form nur vor dem Hintergrund der synoptischen Tradition folgen.136 Die vorgeführten Überlegungen sind an eine bestimmte, nämlich kausale oder instrumentale, Lesart von ( %%+ gebunden. Die partizipiale Umschreibung lässt jedoch auch eine temporale Deutung zu. Somit wäre Judas die Funktion eines Kassenwarts abzusprechen und eher eine Wanderkasse, welche die Obhut wechselt, vorausgesetzt. Judas erscheint dann als Gelegenheitsdieb, der der Jüngergruppe zur Verfügung gestellte Spenden illegitim in privates Eigentum überführt, wenn sich ihm die Möglichkeit bietet. Die Übersetzung des Verses von Ludger Schenke trifft den Gedankengang deutlich: „Als Verwalter der Kasse unterschlug er die Spenden.“137 Auch wenn man Judas die Funktion eines dauerhaften Kassenverwalters abspricht, so ist er doch der einzige Jünger, dem die Geldtasche explizit zugeordnet wird und dies gleich zweifach. Ereignet sich das Passionsgeschehen gerade in der Phase von Judas’ Kassenführung, so ist dies nicht als ‚zu-
135
Vgl. zu möglichen Aspekten des Imperfekts im Joh Frey, Eschatologie II, 89 f. Klauck, Judas, 80. 137 Schenke, Johannes, 239 (übersetzt Joh 12,6b). 136
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fällig‘ einzustufen, sondern bringt eine besondere Affinität zu Geld zum Ausdruck. Zur Bewertung und Einordnung des Themenfeldes ‚Geld‘ ist (mangels Erzählerbewertungen) v. a. Jesu Position zu diesem zu berücksichtigen. Jesus verhält sich zwar zurückhaltend zu Geldgeschäften, nimmt diese aber als Normalität wahr.138 Auch duldet er die Jünger-Kasse offensichtlich und 13,29 suggeriert, dass er die Hoheit über den Haushalt innehat.139 Bei der ‚Tempelreinigung‘ steht eher der Ort als das prinzipielle Verkaufsgeschehen in Jesu Kritik (2,14–17). Wohlhabende Leute treten mit Jesus in Kontakt, ohne auf ihr Vermögen angesprochen zu werden (z. B. Maria (12,1–8) und Nikodemus (3,1 ff.; vgl. 19,39))140. Eine Verurteilung von Besitz, Wohlstand oder Umgang mit Geld kann somit nicht prinzipiell erschlossen werden. Die Bewertung von Judas und seine Affinität zum Geld fügt aber eine zusätzliche Perspektive hinzu. In seiner Figur spiegelt sich eine Warnung vor dem Umgang mit Geld. Damit ist keine prinzipielle Ablehnung gemeint, vielmehr eine Sensibilisierung. Der Kassenwart ist gleichzeitig Dieb und Verräter. Geld wird für Judas zum Antrieb für Heuchelei (vgl. 3.1.6), sein Ausbrechen aus der Gemeinschaft mit seiner Funktion als Kassenverwalter assoziiert. So vollführt Judas eine Negativentfaltung des Themas ‚Finanzen‘, die dem Leser als Prüfstein dienen kann. Wozu verwendet er Geld – um anderen Gutes zu tun, für den persönlichen Luxus oder für wohltätige Zwecke? Zu was treibt Geld ihn an – motiviert Geld ihn zur Unehrlichkeit? Somit erfolgt– im Gegensatz zu den synoptischen Intertexten – keine Abwertung von Judas wegen seines Bezugs zum Geld oder aus seiner Funktion als (wenn auch nur zwischenzeitlicher) Kassenwart. Vielmehr verläuft die Konnotationskette in entgegengesetzter Richtung. In der Leserreflexion kann durch Judas’ negative Charakterisierung141 finanzieller Besitz und die Anregung zu Geldgeschäften (kaufen und verkaufen) als kritisiert wahrgenommen werden. Dies geschieht durch die Figur Judas im Joh viel subtiler als in synoptischen Parallelen mit dem dortigen Ethos der Besitzlosigkeit.142
138
Siehe auch 2.2. Vgl. Davies, Rhetoric, 331. 140 Inwiefern der mit Maria und Nikodemus assoziierte Besitz von Salböl diese prinzipiell als ‚wohlhabend‘ kennzeichnet, müsste jeweils eine Figurenanalyse herausstellen. Gegenüber Judas (und einem Gros der anderen Figuren) ordnet der (z. T. explizit geäußerte) finanzielle Gegenwert der assoziierten Salben Maria und Nikodemus jedoch im Vergleich als ‚reichere‘ Figuren ein. 141 Vgl. dazu die Kap. 3.1.5 bis 3.1.9, 3.2.4. 142 Vgl. z. B. Mt 6,19; Mk 6,8 f. parr.; 10,21–27 parr.; 11,15–17 parr.; Lk 6,20; 10,4; 12,15–21. 139
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3.1.5 Judas – der Dieb (12,6) Gegenüber den bislang vorgestellten uneindeutigen oder neutralen Bezeichnungen erscheint die kriminelle Benennung als 6 deutlich negativ. Obwohl Diebstahl als moralisch verwerflich angesehen werden kann, ist die Klassifizierung als Dieb in einer Erzählung nicht zwangsläufig abwertend oder diffamierend.143 Im Joh ist dies allerdings der Fall, was durch den Kontext, indem Judas nicht die Wahrheit sagt,144 und den Gebrauch des Wortes in Joh 10 festgelegt wird. Als Dieb entzieht sich Judas moralisch und juristisch dem Raum der Rechtschaffenheit. Zudem wird er in 10,1.10 f. Jesus, als dem guten Hirten, entgegengestellt.145 Damit wird Eigentum grundsätzlich anerkannt und dennoch nicht positiv bewertet. Mit Maria wird die Weitergabe von Besitz positiv bewertet, zumal sie sich Jesus zuwendet. In gewisser Weise bekommt der Leser hier den Leitsatz „Geben ist seliger als Nehmen“ (in Apg 20,35 als Jesuswort überliefert) vor Augen geführt. Judas stellt dabei die unrechtmäßige Aneignung dar. Vgl. dazu 3.1.4, 4.3, 5.2. Vor dem Hintergrund der Hirtenrede erscheint der ‚Dieb‘ a) mit Räuber ( 8% 9 ) (10,1.8) zusammengefügt, b) Jesus gegenübergestellt, c) als keines der Schafe Jesu, d) als Einbrecher dargestellt, e) zeitlich Jesus vorgeordnet, f) von den Schafen ungehört und g) in seinem Kommen dreifach motiviert: stehlen, schlachten, verderben (< H8 &%8 %8 (10,10)). Als einzige intratextuelle Referenz von 6 bietet die Hirtenrede den Hintergrund, vor dem Judas im Folgenden gelesen wird. a) Die Zusammenfügung mit Räuber ( 8% 9 )146 eröffnet die Dimension von Gewalt und zugleich einen rechtlichen Raum, da später Barabbas als verurteilter Räuber in Jesu Prozess (18,40) erscheint.147 Durch die Mitnahme von Waffen und Führung von Soldaten wird Judas in Szene 4 direkt mit 143
In Erzählungen, in denen Diebe die Hauptfigur sind (z. B. Aladin oder Robin Hood), kann aus einer Bezeichnung als Dieb keine Wertung abgeleitet werden. Z. T. ist dort das Stehlen negativ bewertet, aber (z. B. durch Armut) legitimiert. In biblischen Erzählungen ist ‚Dieb‘ stets negativ belegt (beachte aber, dass Jesu Kommen/der Tag des Herrn mit dem Kommen eines Diebes verglichen wird: Mt 24,34 par.; 1 Thess 5,2; 2 Petr 3,10; Offb 16,15). 144 Vgl. das folgende Unterkapitel (3.1.6). 145 Vgl., wenn auch vorsichtiger formuliert, Dschulnigg, Jesus, 166. 146 Der Ausdruck 8% * bezeichnet laut M. Hengel eher einen „Gewaltverbrecher“ als einen „Räuber von fremden Eigentum“ (ders., Zeloten, 25). Zu den 8% * prinzipiell vgl. a. a. O., 25–48. Bemerkt sei hier die inhaltliche Nähe zwischen 8% * und % (s. 3.1.1), die Hengel betont (vgl. a. a. O., 48, 50). So ist eine Deutung des Beinamens hier als negative Konnotation wieder eingespielt. 147 M. Hengel ordnet Barrabas als Zeloten und politischen Mörder mit großem Bekanntheitsgrad ein (ders., Zeloten, 340).
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b)
c)
d)
e)
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Gewalt assoziiert (vgl. 3.2.2). Insofern ist von Szene 2 zu Szene 4 eine Klimax angelegt, die sich in dem Wortpaar ‚Dieb und Räuber‘ spiegelt. Das Vergreifen am Eigentum anderer wird gesteigert zur Überlieferung eines Menschen in den Tod. Während sein diebischer Charakterzug vor den Figuren der Erzählten Welt noch verborgen bleibt, tritt seine Gewaltbereitschaft148 bei seinem letzten Auftritt offen zu Tage (18,3). Betrachtet man Judas als Parallelfigur zu Barabbas, zeigen sich zwei Vergleichsmöglichkeiten: zum einen dessen erwirkter Freispruch zu Lasten Jesu und zum anderen die Zugehörigkeit zu dem weltlichen Raum (bzw. dem Kollektiv ‚die Welt‘) durch die Positionierung zwischen ‚den Juden‘ und der römischen Obrigkeit (Pilatus). Erstere auf Judas gedeutet, gibt Hoffnung, dass Judas über sein eigenes Handeln hinaus gerettet werden kann, da auch Barabbas ohne eigenes Zutun diese Gunst erfährt. Soteriologisch kann mit so einer Lesart sogar entgegen aller Negativstilisierung auf Judas’ Rettung gehofft werden. Die zweite Parallelisierungsmöglichkeit verwurzelt Judas in dem Umfeld, in dem er in Szene 4 erscheint. Dort bleibt er im dualistischen Bild auf der Seite der Finsternis. Eine Gegenüberstellung mit Jesus findet sich nicht nur in der Hirtenrede, sondern auch in Szene 4. Durch diese Doppelung ist die Kontrastierung verstärkt und kann mit Jesus als positivem Protagonisten nur eine völlige Negativstigmatisierung bedeuten. Judas ist weitmöglich von einem positiven Vorbild mit Identifikationsmöglichkeit und Nachahmungsappell entfernt. Die Verortung von Judas in der Hirtenrede als Dieb schreibt ihm nicht nur eine Rolle zu, sondern auch eine Rolle ab. Während die Schafe für die Hörer der Rede in Joh 10, die Jünger und die Leser das größte Identifikationspotential anbieten, nimmt Judas dieses nicht wahr. Als Dieb ist er gleichzeitig keines der Schafe. Eine Zuordnung als Nicht-Schaf ist zwar analytisch logisch und folgerichtig, aber gerade angesichts der Uneindeutigkeit der Bilder in Joh 10 und der Inkongruenz der Deutungen (Jesus ist sowohl Tür als auch Hirte) muss diese Nicht-Identität von Judas unter Vorbehalt gesehen werden. Lediglich in der Aussage des Ungehorsams der Schafe gegenüber dem Dieb und in diesem Bezug ist Judas vor dem Hintergrund der Hirtenrede sicher kein Schaf. Judas selbst ist nicht als Einbrecher dargestellt. Selbst ein illegitimes Eindringen in den Zwölfer- bzw. Jüngerkreis wird durch Jesu explizite Erwählungsaussage widerlegt. So ist die Einbruchmetaphorik schwerlich auf ihn zu übertragen. Ähnlich verhält es sich mit einer zeitlichen Vorordnung vor Jesus. Auf welche „historischen Gestalten“ dieser Ausspruch bezogen ist, ist ohnehin
148
Expliziter greift aber Simon Petrus zur Gewalt. Vgl. 18,10; Teil III – Petrus: 3.2.5.
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schwierig und nach Bultmann sekundär.149 Innerhalb des Joh wird abgesehen von Jesus auch keine Einzelfigur oder Figurengruppe mit Messiasanspruch etabliert.150 Judas stellt jedenfalls keine solche dar. f) Mit der vorausgehenden Bemerkung entfällt die Übertragung der nichthörenden Schafe auf die Figuren, die Judas hören bzw. nicht auf ihn hören entsprechend 10,8b. Prinzipiell käme dafür nur Szene 2 in Frage, da Judas ansonsten keine Sprechhandlung vollzieht. Ein Anhören und Ernstnehmen des einzigen Redebeitrags von Judas in 12,5, welcher sich in der Tat an alle Anwesenden (also auch die Schafe im Sinne von Joh 10) richtet, wird durch Jesu Einspruch unterbunden. Nimmt man den Leser als Schaf durch eine Leseransprache als Adressaten hinzu, wird der Leser in den Bewertungsmechanismus einbezogen. So bestätigt sich nur die fortwährend vom Erzähler vorgebrachte Ablehnung von Judas’ Worten, Taten und seiner Person – in diesem Fall explizit Ersteres. g) Die Verknüpfung mit den drei Handlungen (stehlen, schlachten, verderben) ermöglicht eine besondere Parallele zu Judas. Der Dreiklang wird bezüglich des ersten und dritten Verbs durch die entsprechenden Substantive Judas direkt zugeordnet ( 6 12,6; / 17,12; vgl. 3.1.8). Zu & fehlt allerdings eine substantivierte Entsprechung. Überhaupt ist dieser Wortstamm ein Hapax legomenon im Joh. Wenngleich die Opferthematik – insbesondere durch das zeitliche Zusammenfallen von Jesu Kreuzigung und der Schlachtung der Passalämmer – soteriologisch eine große Bedeutung entfaltet, ist sie nicht mit diesem Lexem zum Ausdruck gebracht. Der Ausdruck meint das Töten von Tieren im Rahmen eines Opfers und impliziert sowohl das Sterben des zugehörigen Akkusativobjekts als auch eine gewisse Brutalität, die durch die starke Bedeutung des Blutes im Opfergeschehen gegeben ist. Zugleich wohnt ihm eine religiöse und rituelle Bedeutung inne. Eine prinzipiell positive Konnotation des Opfergedankens (z. B. Wirkung von Entsühnung151) wird durch die beiden rahmenden Verben in Frage gestellt. Innerhalb der Hirtenmetaphorik erscheint der semantische Gehalt des Schlachtens als Töten betont. Die Figuren, die als stärkste Empathoren in 10,1–29 gelten können, sind die Schafe. Für sie bedeutet der Opfervorgang keinesfalls Heil. Wird Judas als Schlächter begriffen, ist sein ‚Opfertier‘ Jesus. In 10,10 werden diese drei Handlungen zum ausschließlichen Zweck des Kommens des Diebes. Positive Nebenziele werden kategorisch ausgeschlossen. Als solcher ist Judas vollkommen verbrecherisch, mordend, zerstörerisch. Alle drei 149
Bultmann, Evangelium, 286. Der Bezug auf jüdische Regenten, Hohepriester und Pharisäer (vgl. Haenchen, Joh, 388 f.; Schenke, Johannes, 195) ist intratextuell zumindest nicht als vorzeitig, sondern eher als zeitgleich dargestellt. 151 Vgl. die Opfervorschriften z. B. in Lev 4; 9; 16; 23. 150
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Handlungen werden als negative Wertungswörter in das Judasbild inkludiert. In der Zusammenfügung mit dem Begriff Räuber warnt Judas’ Beispiel vor dem sittlichen Verfall. Das Vergreifen an fremdem Eigentum ist kein Finalpunkt, sondern ein Übergangsstadium, welches weit Schlimmeres nach sich zieht. Als Konsequenz des Diebesdaseins folgt das Räuberdasein. Im Sinne eines ‚Wehret den Anfängen‘ ist Judas’ negatives Verhalten mit der Bezeichnung als Dieb in einen Steigerungsprozess eingebettet und dem Leser als warnendes Beispiel vor Augen geführt.152 3.1.6 Judas – der Heuchler (12,5 f.) Eine weitere nicht explizite Eigenschaft, die ebenfalls im Zusammenhang von Szene 2 zum Ausdruck kommt, ist, dass Judas vorgibt, etwas anderes zu meinen, als er tatsächlich meint. Nach seinem Vorschlag zum Almosengeben unterstellt ihm der Erzähler in seiner allwissenden Autorität, dass er sich nicht um diese schere, sondern sie als Vorwand für kriminelles Tun missbrauche. Gerade durch das große Gewicht des Terminus ‚Wahrheit‘153 ist die Falschaussage von Judas besonders verwerflich.154 Da Szene 2 die einzige Figurenrede von Judas enthält, findet sich keine Parallele in seiner Darstellung in anderen Auftritten. Allerdings kann mit diesem Aufdecken seiner einmaligen Unehrlichkeit auch seine Zugehörigkeit zum engsten Jüngerkreis kommentiert werden.155 Im Spiegel von Ps 41,10, den Jesus als Intertext in 13,18 einspielt und kontextuell auf Judas bezieht, ist dieser als Nutznießer diffamiert. Im Kontext des Psalms gibt er sich als Freund aus, um von Jesus (und ggf. sogar seiner Lebensbrotgabe) zu profitieren. Sein ‚wahres Gesicht‘ wird aber in seiner Identität als Überlieferer und in seinem aggressiven Vorgehen gegen Jesus (18,3) deutlich. Ist Heuchelei ein Charakterzug von Judas, 152
Verwiesen sei noch auf Karl Barths Ausdeutung des Diebesbegriffs, der nicht eine materielle Entwendung als Grundlage dieser Bezeichnung aufzeigt, sondern Judas’ Eigenständigkeit im Agieren: „Er behält sich Jesus gegenüber vor, […] eben diese Freiheit seines eigenen Entscheidens und Verfügens Jesus gegenüber, diese Freiheit, ‚unterschlagen‘ zu dürfen, meint und will er im Grunde: […] nicht das gute Werk, sondern das eigene Werk, nicht die Hilfe, die er Anderen bringen wollte, sondern seine eigene Initiative zu solcher Hilfe“ (Barth, Dogmatik, 513). Hier zeigt sich deutlich, wie Reflexionen und Metabewertungen des Lesers die Bewertungsschemata umkehren (vgl. 3.2.3) und über ein metaphorisches Verständnis den Begriff ‚Dieb‘ mit ‚Entscheidungsfreiheit‘ in Bezug setzen – wenngleich die Entscheidung des Judas bei Barth kritisiert und damit negativ bewertet bleibt. 153 Vgl. v. a. 14,6. 154 Vgl. jedoch zur differenzierteren Auseinandersetzung mit ‚Wahrheit‘ im Joh 2.1 im Fazit (Teil VII) sowie die Verweise dort. 155 Vgl. Vogler, Judas, 116.
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so steht er nicht in ernsthafter Nachfolge wie die anderen Jünger, sondern gibt nur vor, Anhänger und Jünger Jesu und an ihn Glaubender zu sein. Unter diesem Vorzeichen spielt er mit der gesamten Jüngergemeinschaft ein falsches Spiel, welches in Szene 4 aufgedeckt wird. In seiner Negativbewertung ist er als Heuchler auch in diesem Bereich ein Mahnbild. Aufrichtigkeit ist gerade gegenüber der Gemeinschaft, der man angehört, und in Bezug auf gute Werke geboten.156 3.1.7 Judas – ein Teufel (6,70 f.; 13,2) Der indeterminierte Ausdruck ‚Teufel‘, mit dem Jesus Judas kennzeichnet, ist eindeutig negativ und fungiert als Charakterisierung von Judas. Diese wird ihm zugeschrieben, bevor er selbst etwas über sich sagen oder zeigen kann. In schwingt eine metaphysische Dimension mit. Judas erscheint so Jesus, dem Heiligen Gottes, gegenübergestellt und von diesem getrennt. In einer dualistischen Einteilung der joh. Figuren in gute und böse, zur Seite Gottes oder der des Teufels gehörige, stellen Judas und Jesus die Gegenpole dar. Der Ausdruck ist unter den zahlreichen Negativstigmatisierungen der schärfste. Judas ist so mit dem eindeutig Bösen identifiziert. Verbunden wird diese Einordnung mit seiner Funktion als Überlieferer Jesu, wodurch die Überlieferung gemäß der Bewertungsschemata ebenfalls als eindeutig böse Tat klassifiziert wird. Insbesondere kommt das durch die teuflische Eingebung dieses Vorhabens in Judas’ Herz zum Ausdruck (13,2). In 8,44 wird der Teufel genauer charakterisiert. Dort finden sich in Jesu Rede die Ausdrücke ‚Mörder‘ und ‚Lügner‘. Letzterer korreliert mit Judas Eigenschaft als Heuchler (die sich in 12,5 f. erweist), ersterer ist durch die Überlieferung (18,3 ff.), die in Jesu Tod endet, ebenfalls mit Judas verbunden. An gleicher Stelle wird über die Teufelsbezeichnung die Parallele zu dem Kollektiv ‚die Juden‘ reaktiviert, da dieser von Jesus als ihr Vater bezeichnet wird (8,44),157 was hier jedoch nicht diskutiert wird. Dort wird die Verbindung der Kindschaft über die Taten vollzogen, sodass erneut Judas’ wesentliche Handlung, das Überliefern, betont erscheint. Dennoch zeichnen alle drei Nennungen des ein unterschiedliches Bild (6,70: indeterminiert, als Wesensbeschreibung; 8,44: determiniert, als metaphysische Vaterfigur; 13,2: determiniert, als konkreter Eingeber eines bestimmten Vorhabens). Die Unterschiede in den ‚Figurennennungen‘158 seien als Argument gegen eine
156
Einen ähnlichen ethischen Appell, aber stärker narrativ entfaltet, enthält Apg 5,1–11. Vgl. Klauck, Judas, 75. 158 Insbesondere 6,70 kann kaum als ‚Auftritt‘ des Teufels gewertet werden, da er lediglich zur Identifizierung und Bewertung von Judas verwendet wird. M. E. bezeichnet dort nicht eine Einzelfigur, sondern einen Menschentyp (ähnlich wie die Bezeichnungen ‚Lamm‘, ‚Dieb‘ oder ‚Hirte‘). Zum Teufel als Figur im Joh vgl. Mathewson, Devil. 157
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Stellvertreterrolle für ‚die Juden‘ genannt.159 Insbesondere ist eine solche Deutung dadurch erschwert, dass in 8,44 Jesu Gegenüber die ‚an ihn glaubenden Juden‘ sind, ein Kollektiv von dem Judas als Nicht-Glaubender gerade abgesetzt erscheint. Wird % ) als Synonym gelesen, ist die Einheit zwischen der vom Bösen kontrollierten Figur und dem personifizierten Bösen noch verstärkt. Wer vom Teufel besetzt (und gelenkt) wird, ist selbst ein Teufel.160 Damit ist jegliches Verhalten pauschal negativ stigmatisiert. So wird das Wesen dem Handeln übergeordnet und die Bewertung von Handlungen auf das Handlungssubjekt verlagert. Gemäß einer solchen Wesensethik ist Judas verdammt. Der Leserappell lautet dann nicht „Handle nicht so wie Judas“, sondern „Sei oder werde nicht so wie Judas“. Im Lexem spiegelt sich auch ein Charakterzug (oder eine Funktion) der Figur Judas. Die etymologische Bedeutung des ‚Durcheinanderwerfers‘ wird nicht nur theologisch in Judas’ Überlieferung dargelegt, sondern auch ethisch. In Szene 2 wird Judas z. B. für die Verdrehung einer moralisch guten Konvention. Die Aufforderung zur Mildtätigkeit gegenüber Armen wird nicht prinzipiell kritisiert, sondern nur in der Situation als unangebracht abgetan. Judas will einen falschen Dualismus erzeugen. Aber Liebe zu Jesus steht nicht der Liebe zu den Armen entgegen.161 Stattdessen hat beides seinen Raum in der Nachfolge.162 Judas bringt die Dinge durcheinander: Er verwendet das Gute als ‚Waffe‘ gegen die Gute (Maria). Damit wird dies als mögliche Argumentation, die auch dem Leser begegnen kann,163 vorgestellt und zugleich kritisiert. 3.1.8 Judas – Sohn des Verderbens (17,12) Der Judas in 17,12 implizit zugeordnete Ausdruck ‚Sohn des Verderbens‘ (vgl. 2.4) schildert sein Schicksal, in dem keine Hoffnung verbleibt. In ihm klingt weniger ein Wesenszug als ein Ergehen an, welches dem Leser durch Jesus mitgeteilt wird, noch bevor es seine narrative Entfaltung erfährt (Szene 4). ‚Verderben‘ bedeutet „endgültige[r] Heilsverlust“.164 So findet Judas in 159 Vgl. auch P. Dschulnigg, der Judas vielmehr „als Repräsentant der nicht glaubenden Jesusjünger“ einordnet (ders., Jesus, 161, 163, 165). 160 Diese Identifizierung hebt auch C. Bennema in seiner Analyse von Judas besonders hervor: „[Judas] becom[es] a disciple of the devil. Judas mimics the characteristics and actions of the devil […]. Judas is an instrument and embodiment of the devil, in that the devil uses him for his evil purposes and indwells him“ (ders., Judas, 370 f.; vgl. ders., Encountering, 232, 238). 161 Vgl. Beirne, Woman, 155. 162 Siehe zum Almosen geben 5.2 und zu Maria und Judas als Kontrastfiguren 4.3. 163 Vgl. dahingehend die gewissermaßen synoptische Parallele der Versuchung Jesu (Mt 4,1–11; Lk 4,1–13). 164 Klauck, Judas, 87. Gegen K. Beckmann, der in diesem Ausdruck nur „die ihm im Heilsplan zugedachte Funktion“ ausgedrückt sieht (ders., Funktion, 189).
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diesem Begriff seinen negativen Abschluss. In einer intertextuellen Lesart kann der Ausdruck in dem Dualismus der Figurenbewertung, den auch die Bezeichnung als Teufel eintrug (3.1.7), ebenfalls Jesus gegenübergestellt werden – denn in 2 Thess 2,3 wird dieser zum Titel für den Antichrist. Ein weiterer Horizont, in dem der Begriff wirkmächtig wird, ist das Sohnschaftsmotiv. Neben Jesus als absoluten Sohn (der hier wiederum kontrastierend gegenübersteht), bietet die Kreuzigungsszene eine Parallele.165 In 19,26 f. stiftet Jesus eine geistliche Familie, die im konkreten Leben Ausdruck findet. Der Geliebte Jünger wird dort zum Sohn der Mutter Jesu, quasi der Sohn an Jesu statt. Zwar ist diese geistliche Familie nur exemplarisch und es werden nicht alle Glaubenden in der narrativen Darstellung in sie eingeschlossen, aber dennoch erscheint Judas bewusst exkludiert. Stärker noch tritt dieser Ausschluss in der Vaterschaft Gottes zum Ausdruck.166 In 1,12 wird die Gotteskindschaft allen Glaubenden zugesprochen (vgl. 20,17), Judas als Nicht-Glaubender ist darin nicht integriert. An ihm wird gespiegelt, was die Alternative ist. Er ist als Sohn des Verderbens der Verlorenheit überlassen. Damit ist diese Konsequenz ethischer Antrieb für den Leser. In der Abschreckung durch Judas wird er zur Abgrenzung gegenüber diesem motiviert. 3.1.9 Judas – der ungeliebte Jünger Die letzte Bezeichnung ist weniger explizit im Text genannt als die vorausgehenden. Das Handlungssubjekt dieses Partizips, die nicht-liebende Figur, ist dabei Jesus. Judas als ungeliebten Jünger zu bezeichnen, ergibt sich aus zwei Methodenschritten der narratologisch-ethischen Analyse: Zum einen aus einer Kontrastierung mit dem von Jesus geliebten Jünger,167 zum anderen aus der Analyse von Judas’ Szenen seiner impliziter Nennung. Die Kontrastierung mit dem Geliebten Jünger erfolgt durch dessen Erstund Letztauftritt.168 Der Erstauftritt des Geliebten Jüngers erfolgt in Judas’ 165
Weitere Deutungsmöglichkeiten sind die ‚Kinder des Lichts‘-Metaphorik (12,36), die Ansprache der Jünger durch Jesus als Kinder (13,33; 21,5) und die Kontroverse zur Abrahams- und Teufelskindschaft (8,33–44). 166 Als intertextuelle Parallele sei (auch in Bezug auf 8,44) auf 1 Joh 3,10 verwiesen. 167 Vgl. Vogler, Judas, 104. Nebenbei bemerkt sei hier, dass auch E. Pagels und K. L. King den joh. geprägten Begriff ‚Lieblingsjünger‘ nutzen, um die Judasdarstellung im Judasevangelium in ein Spannungsfeld zwischen zwei Rollen („Verräter oder Lieblingsjünger?“) einzuordnen (dies., Evangelium, 23–46). Die Figur des ‚Geliebten Jüngers‘ im Joh reflektieren sie trotz der Begriffswahl aber nicht. Sie sehen im Joh eine Tendenz, die Judas aufgrund von Jesu Aktivität im Überlieferungsgeschehen entschuldet, welche im Judasevangelium weiter ausgebaut ist (a. a. O., 40–42, 46), vgl. 3.1.2. 168 Als Spannungsfeld zeigen auch E. Pagels und K. L. King anhand des Judasevangeliums Judas zwischen den Rollen als „Verräter“ und „Lieblingsjünger“ auf (dies., Evangelium, 23–46). Die spiegelt eine breitere wirkungsgeschichtliche Entfaltung der Kontrastierung, die auch das Joh anregt.
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zentraler Szene innerhalb von Jesu Überlieferungsankündigung in 13,21–30. Hier erfolgt die diegetische Kennzeichnung von Judas als Überlieferer und er verlässt die Jüngergemeinschaft. An seiner Stelle ist nun aber ein neuer, bisher unbekannter Jünger vorgestellt. Dieser zeichnet sich durch eine besondere Nähe zu Jesus und dessen Liebe zu ihm aus. Die Einführung erfolgt dabei über den gleichen Ausdruck, mit dem auch Judas in seiner vorausgehenden Szene benannt wurde: " P Q ! 6 ! $ 5.169 Die letzte Erwähnung des Geliebten Jüngers verweist noch einmal explizit auf diese Szene zurück und spielt das Überlieferungsmotiv – und damit Judas – ein. Im Gegensatz zu der räumlichen und emotionalen Nähe rückt Judas in Szene 3 „in die denkbar größte Distanz“.170 So bildet Judas eine deutliche Kontrastfigur zum Geliebten Jünger. Dieser ist neben Jesus die positivste Figur des gesamten Evangeliums, er repräsentiert ein Nachfolgeideal. Die höchste Bestätigung ist die Liebe Jesu. Als negativster aller Jünger bildet Judas den Gegenpol. Dass ihm diesem Gegenpol entsprechend auch Jesu Liebe vorenthalten bleibt, ist keine zwangsläufige, aber eine mögliche Folgerung. Judas’ Verlassen der Jüngergemeinschaft in 13,30 schließt ihn aus den sogenannten Abschiedsreden Jesu aus. Diese längste Szene des Evangeliums beinhaltet zahlreiche Informationen, Zusprüche und Voraussagen Jesu. Dass Judas diese nicht hört, wird explizit genannt (13,31). Gleich dreimal bestätigt Jesus die Liebe zu den Anwesenden: 13,34; 15,9.12. Außerdem sagt Jesus hier (in 15,14) den Jüngern die zum Wortfeld ‚Liebe‘ gehörende Freundschaft (;* ) zu. Judas als Abwesender ist damit von beidem ausgeschlossen.171 Zwar sagt Jesus in diesen Szenen nicht, dass er Nicht-Anwesende nicht liebt, aber Judas nimmt dennoch einen Sonderstatus ein. Im Gegensatz zu allen anderen abwesenden Figuren hätte er entsprechend seiner Kollektivzugehörigkeit dabei sein können. Auch ist er die einzige Figur, die explizit als nicht anwesend abgegrenzt wird. Betont wird dies noch in 14,22. Nur an dieser Stelle im gesamten Evangelium auftretend. meldet sich hier ein anderer Judas zu Wort. Durch die Abgrenzung „nicht der Iskariot“ wird der Leser daran erinnert, dass Judas Iskariot nicht anwesend ist. Der inhaltliche Kontext, in dem diese Information steht, ist (neben Jesu Offenbarung) erneut die Liebe. Hier ist die Liebe des Vaters und die Liebe Jesu an die Liebe zu ihm und das Halten seiner Geboten gebunden. Die allgemeine Regel, die Jesus in 14,21 formuliert, ist durch den Kontext nicht bloß universell. Die anwesenden Jünger sind direkte Adressaten und damit in dieser Liebesbeziehung inbegriffen. Wenn auch (an dieser Stelle) nicht bedingungslos, sind sie diejenigen, die erfahren, wie sie Ziel der doppelten Liebe von Jesus und dem Vater werden. 169
Das Fehlen des in einigen Textzeugen löst die Gültigkeit als Referenzformulierung nicht auf. 170 Vogler, Judas, 104. 171 Gegen Gollwitzer, Holz, 282.
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Dass direkt im Anschluss an Judas Iskariots Abwesenheit erinnert wird, verstärkt den Ausschluss von ihm aus der scheinbar universell gültigen Regel. Auch durch Verpassen dieser Liebeszusagen ist Judas der ungeliebte Jünger. Die beiden vorgestellten Lesarten, die Judas Iskariot als ungeliebten Jünger erscheinen lassen, unterstreichen die Negativfärbung der JudasDarstellung. Insbesondere indem Jesus als uneingeschränkt positive Figur Subjekt der Liebe ist, dient diese Identifizierung der Stigmatisierung von Judas als negativer Figur. Wird für diese Identität argumentiert, so entfaltet das eine besondere Wirkung, die im Evangelium selbst nicht explizit genannt wird: Jesu Liebe ist bzgl. der Objekte begrenzt und damit auch für den Leser keine Gewissheit. Insbesondere die Kombination der Identität aus Nichtgeliebt-Sein und Jüngerschaft erzeugt ein Spannungsfeld. Wenn nicht die Zugehörigkeit zum Jüngerkollektiv als Garant für Jesu Liebe herangezogen werden kann, ist fraglich, was an diese Stelle treten kann. Innerhalb der Abschiedsreden erscheinen Handlungen anstelle von Zugehörigkeiten: Einander lieben, Jesu Gebote und sein Wort halten (14,21.23; 15,9–12). Auf der joh. Werteskala ist Jesu Liebe hoch eingeordnet. Durch eine Einschränkung ihrer Gewissheit gar innerhalb des Jüngerkreises (durch Ausschluss eines Individuums) wird die Besonderheit noch gesteigert. So ist Jesu Liebe das Ziel, welches das Handeln motiviert. Die Gesamtschau zeugt von einer durchgängigen Abwertung der Figur des Judas durch den Erzähler und den Protagonisten Jesus. Judas erscheint von allen Figuren des Joh als am negativsten dargestellte. Obgleich einige Einzelfiguren (Hohepriester) oder Kollektive (Pharisäer) ebenfalls negativ geprägt sind, ist die Negativbelegung bei keiner anderen Figur so vielfältig und facettenreich wie bei Judas. Die Auswirkungen auf die Leseridentifikation liegen auf der Hand, werden aber im Zusammenhang mit seinen Figurenmerkmalen besprochen (vgl. 3.2.4). 3.2 Merkmale und Identifikationsangebot Die meisten Merkmale von Judas sind bereits in seiner Identität ausgeführt. So werden hier lediglich die Merkmale Unreinheit und Gewaltbereitschaft ausgeführt. Darüber hinaus wird die Charakterisierung von Judas entsprechend seiner Handlungen reflektiert sowie sein Identifikationspotential eruiert. 3.2.1 Unreinheit (13,10 f.) In Szene 3 wird Judas durch Jesus implizit, aber durch den Erzähler eindeutig (wenn auch nicht namentlich) als unrein bezeichnet. Durch die metaphorische Sprache in Jesu Ausführungen steht nicht Hygiene im Vordergrund, sondern
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die Gesinnung.172 Judas’ Unreinheit wertet ihn unabhängig von seinem Tun ab. Jesu Reinheitsaussage bildet den Kontrapunkt zur Fußwaschung als Beispielhandlung. Aus der Perspektive von Judas’ Figurenanalyse ist das Ziel keine Imitation von Jesu Dienst, kein gegenseitiges Füßewaschen. Jesus ruft nicht zu einer Verhaltensnorm auf. Der Appell dringt tiefer. Judas wird wegen seiner Einstellung gegenüber Jesus kritisiert. Der innere Wandel ist die Voraussetzung für richtiges Verhalten. Eine Veränderung nur auf der Tatenebene ist nicht tiefgreifend genug. Äußerliches Waschen – gute Taten oder korrektes sittliches Verhalten – ist auf dieser Ebene möglich, bewirkt aber keine Veränderung. Selbst Jesu Waschdienst an Judas führt diese Veränderung nicht herbei. Damit ist Judas ein Gegenbild für eine joh. Regel- oder Handlungsethik. Dies entspricht seiner prinzipiellen negativen Charakterisierung (vgl. 3.1). Joh. Moral beginnt – dies zeigt Judas – bei der Einstellung. 3.2.2 Gewaltbereitschaft (18,3) Als mit Judas assoziierte Gegenstände erscheinen die Waffen in Szene 4. Insbesondere da Judas als grammatikalisches Subjekt die Waffen mit sich führt (und nicht das mutmaßliche Handlungssubjekt der Soldaten und Knechte), signalisiert er die Bereitschaft, seine Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Ausführlicher wurde das Thema ‚Gewalt‘ im Zusammenhang mit Simon Petrus untersucht, da dieser mit dem konkreten Gegenstand ‚Schwert‘ ausgestattet ist und dieses auch für eine Gewalthandlung einsetzt.173 Judas hingegen trägt die Waffen in die Szene hinein und baut so eine Bedrohung auf, setzt die Waffen aber nicht ein (sodass er zumindest nicht gewalttätig wird). Hier sei aber als Schlaglicht aufgeführt: Sowohl in Jesu freiwilliger Auslieferung gegenüber Judas als auch im Einwand gegen Petrus’ Handeln tritt Jesus für Gewaltverzicht ein. Dabei gibt sich Jesus nicht der Gewalt hin und lässt sie über sich ergehen, sondern spricht diese an und verhindert sie. Die Waffen, die Judas mit sich führt, kommen nicht zum Einsatz. Gewalt wird als Mittel zur Durchsetzung von Interessen abgelehnt. Judas lässt sich aber kaum dahingehend wertschätzen, dass seine Gewaltbereitschaft rein theoretisch, ohne praktische Ausführung bleibt – er also der Einstellung Jesu gewissermaßen entspricht. Das Urteil über ihn als Waffenträger ist im negativen Bewertungsfeld angesiedelt, obgleich es weniger stark verurteilt wird als das des Waffenanwenders. Auch umgekehrt ist hier die Argumentationslinie möglich: Weil gerade Judas derjenige ist, der die Waffen trägt, werden diese zusätzlich negativ belegt. Was ‚der Böse‘ mit sich herumträgt, ist auch moralisch verwerflich. Dabei ist seine Handlung, eine etwaige Verwendung der Waffen zum Verletzen von Jesus oder seinen Jünger bspw., zweitrangig. In beiden 172 173
Zu möglichen Deutungen der Fußwaschung vgl. Teil III – Petrus: 6.5. Vgl. Teil III – Petrus: 3.2.5.
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Argumentationsrichtungen wird deutlich: Schon die Bereitschaft zur Gewalt ist falsch. 3.2.3 Zwischen Zuschreibung und Verhaltensrückschluss – Einspruch der Metabewertung In der Charakterisierung von Judas wird der Leser durch eine Diskrepanz zwischen den Zuschreibungen durch den Erzähler und Jesus einerseits und die Rückschlüsse aus Judas’ Handlungen andererseits zu einer Metabewertung angeregt. Der Erzähler versucht gar nicht erst, nachvollziehbare Gründe für Judas’ Überlieferung zu ermöglichen. Das Bild von Judas bleibt durchgängig negativ, eine Entwicklungslinie vom positiven, glaubenden Zwölferjünger zum negativen, unehrenhaften Verräter174 ist extradiegetisch nicht zu entdecken. „Es gibt in der Gestalt des Judas keine Entwicklung mehr.“175 Allerdings findet sich dieses negative Bild nur durch die Erzählperspektive (durch die zugeschriebenen Charaktermerkmale) gezeichnet. Judas’ Verhalten spiegelt diese Abwertung nicht wider. Er selbst zeigt viel weniger schlechte Verhaltensweisen. An äußerlichem Tun ist nur das Führen der Soldaten zu Jesus negativ. Auf diegetischer Ebene ist Judas bis dahin nicht als böse zu erkennen. Das Figurenkonzept von Judas, das der Erzähler dem Leser vermittelt, ist ausnahmslos finster gezeichnet. Sogar ‚die Welt‘ (der Kosmos) schneidet im Vergleich zu der Negativskizzierung von Judas vergleichsweise besser ab (1,29; 3,16 f.; 4,42; 6,51; 12,46 f. als positive Einstellung Jesu zur Welt).176 Empathie gewinnt Judas lediglich aus der unbarmherzigen und ungerechten Abwertung, die ihm scheinbar schuldlos widerfährt.177 Hier kann sich der Leser emanzipieren und für Judas eintreten.178 Gerade die Ungerechtigkeit, dass der Erzähler und Jesus Judas keine Chance bieten, wirkt fruchtbar. Da Judas selbst seine Absichten erst in (m. E. 13,30 und) 18,2 f. zum Ausdruck bringt, kann dies als diegetischer Anhaltspunkt genommen werden, Judas’ Vorverurteilung durch den Erzähler und Jesus nicht zuzustimmen. So kann die Erzählte Zeit zwischen 6,71 und 12,1 als Verwandlungsjahr von Judas verstanden werden.179 Innerhalb der Erzählung bleibt Judas verloren. 174
Vgl. Bennema, Encountering, 239 f. Klauck, Judas, 73. 176 Vgl. Klauck, Judas, 91. 177 Siehe insbesondere 2.2. 178 So bspw. K. Beckmann, der sich gegen die Tradition der negativen Figurendeutung von Judas erhebt und aus dem Textbefund eine positive Deutung von Judas zu plausibilisieren sucht (ders., Funktion, 181–200). Seine Deutung untergräbt allerdings den Erzähler und müsste somit auf Leserebene angesiedelt werden. 179 Diese Möglichkeit zeigt H.-J. Klauck im Anschluss an Roman B. Halas auf (Halas: Judas Iscariot. A Scriptural and Theological Study of his Person, his Deeds and his Eternal Lot, Washington D.C. 1946), verwirft sie jedoch, da er für diese Deutung keine erzählungsinternen Anzeichen sieht (vgl. Klauck, Judas, 76). 175
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Da Lesen jedoch ein aktiver Prozess ist, kann der Leser gestalterisch einwirken. Während Judas’ Geschichte narrativ in der Gefangennahme Jesu außerhalb der Jüngerschaft endet, kann der Leser diese frei weiterdenken. Er kann Judas’ Verhalten unabhängig von seinen Erzählerzuschreibungen betrachten und ihm so eine Möglichkeit zu Alternativhandlungen geben, die er in der Erzählung nicht bekommt. Die Ungerechtigkeit der Vorabverurteilung von Judas kann den Leser aufrütteln.180 Verstärkt wird dies in einer Reflexion von Judas’ Funktion im Plot des Joh. Judas’ Überlieferung wird entsprechend des Archetyps bzw. Aktanten zur dramaturgischen Unabdingbarkeit. Das rollengebundene (Fehl-)Verhalten kann von ihm als Charakter abgetrennt werden und Räume für eine Sichtweise aus seiner Perspektive eröffnen. So wirkt auf Rezipientenebene der Fall Judas anregend, als Schicksal einer diskriminierten Person, eines Opfers von Vorurteilen, eines Beispiels von Chancenlosigkeit. Dieser Impuls kann außerhalb der Erzählung Leser dazu animieren, in einem ersten Schritt für Judas einzutreten und zumindest Chancengleichheit und die Möglichkeit zur Rehabilitation zu verlangen und in einem zweiten Schritt, diese Forderung in ihre eigenen Lebensbezüge hineinzutragen. Wenn so ein prinzipielles Eintreten gegen Vorabkategorisierungen erwächst, ein Einspruch gegen Situationen, in denen Menschen chancenlos verurteilt werden,181 hat die Lektüre des Joh ein ethisches Ziel erreicht, was weit über die Erzählung als solche hinausgeht. 3.2.4 Judas als Mahnbild Eigenschaften, die Judas durch den Erzähler zugeordnet werden sind Unglaube, Habgier und Heuchelei (vorgebliche Sorge um die Armen). Als einziges positives Merkmal kann Folgsamkeit gesehen werden, da er Jesu Appell (13,27) direkt folgt. Die negative Identität, die Judas erhält, unterbindet jedoch die Identifikation des Lesers mit ihm, sodass ein positives Merkmal nicht in den Blick kommt. Als Nicht-Schaf (vgl. 3.1.5; 6.4) ist er zudem aus dem Kollektiv der Nachfolgenden ausgeschlossen. Als Kontext einer intertextuellen Lesart bieten sich für Judas die Johannesbriefe an.182 Insbesondere kann Judas als narrativ entfalteter Kontrast zu den Forderungen und Themen des 1 Joh gesehen werden: die Lichtmetaphorik (1 Joh 1,5; 2,8–11), das Tun und Erfülltsein von der Wahrheit (1 Joh 1,6; 180 Zur theologischen Diskrepanz zwischen der Gnadenbotschaft des Neuen Testaments und der restlosen Verurteilung von Judas spiegelt K. Barth folgende Leserreaktion in Bezug auf diesen: „Gerade er, angesichts dessen man an der Erkenntnis, daß es auf dem Boden des Neuen Testaments keine nur Verworfenen gibt, gänzlich irre werden möchte, weil er doch inmitten der erwählten Apostel eindeutig als Verworfener und nur als das zu handeln scheint“ (ders., Dogmatik, 558 f.). 181 Vgl. 2.3. 182 Vgl. Dschulnigg, Jesus, 174.
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2,4), die Reinheit durch Jesu Wirken (1 Joh 1,7.9), die Gotteskindschaft (1 Joh 3,1 f.10), persönliche Bereicherung (1 Joh 3,17), der Zusammenhang von Taten und Gesinnung bzw. geistlicher Zugehörigkeit (1 Joh 3,7–10; 3Joh 11) und besonders das Liebesgebot (u. a. 1 Joh 3,11.23) lassen sich als Gegenpole zu den Merkmalen und der Charakterisierung von Judas herausarbeiten.183 Eine Synopse der einander ergänzenden Stellen fällt jedoch in den Bereich der Intertextualität und muss deshalb an anderer Stelle unternommen werden. Mit der Schwarz-Weiß-Zeichnung ohne „Grautöne“, die ein ausschließlich finsteres Bild von Judas zur Anschauung bringt, verfehlt die Judasdarstellung einen „wesentliche[n] Bereich menschlicher Wirklichkeit“.184 So eine einseitig negative Selbstwahrnehmung kommt für keinen Leser in Frage und dadurch bietet die Judas-Figur trotz seiner Jüngerkollektivzugehörigkeit kein Identifikationsangebot. Was können Leser aus der Figur Judas dann lernen? Er fungiert als abschreckendes Beispiel und weist den Leser darauf hin, sich in Verhalten und vor allem in Einstellungen von diesem abzugrenzen.185 Er ist als Negativfigur ein ‚Anti-Vorbild‘, ein Mahnbild, dem nicht entsprochen oder nachgeeifert werden soll. Gegentugenden zur Figur Judas können Glaube, Genügsamkeit und Aufrichtigkeit sein.
4 Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik 4 Verhältnis zu anderen Figuren – Beziehungsethik
Judas ist primär als Jesus-Überlieferer charakterisiert. Dieser Ausdruck hat einen großen Einfluss auf Judas’ Beziehung zu Jesus einerseits und ‚den Elf‘ andererseits. In seinem Ausbrechen aus dem Vertrautenkreis (13,30) und seiner Zuwendung zu Jesu Feinden (18,3.5) verrät er Jesus und die Jünger. Eine intrinsische Motivation findet sich nicht,186 der einzige Grund ist die satanische Eingebung. Neben Jesus ist als einzige Einzelfigur, mit der Judas in Beziehung tritt, in diesem Kapitel Maria zu untersuchen. Als Kollektive kommen neben den Jüngern, die (partiell deckungsgleiche) betanische Tischgemeinschaft und das Kollektiv, das Jesus verhaftet, in den Blick. Trotz der
183
Vgl. auch 3.1.5, 5, 6.3 und 6.4 zu einigen der hier genannten Themenbereiche. Klauck, Judas, 91. 185 Etwas metaphysisch aufgeladen folgert W. Vogler, dass durch Judas als Figur im Passionsgeschehen, das er als Kampf, „den die Finsternis (Satan) gegen das Licht (Gott) führt“ und „in den auch die Leser sich gestellt wissen“ dessen Schicksal „seine Leser zur Standhaftigkeit gegenüber dem sie umwerbenden Satan [ermutigt]“ (ders., Judas, 117). 186 Gegen die häufige (zwar plausible, aber intratextuell kaum zu stützende) Annahme, Judas sei von Jesu Messianität enttäuscht gewesen und habe Jesu Tod nicht als notwendig akzeptieren können. So z. B. Klauck, Judas, 80. 184
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starken Negativzeichnung von Judas – auch im Verhältnis mit anderen Figuren – sind diese Beziehungen z. T. voller Ambivalenzen.187 4.1 Judas und Jesus Judas und Jesus sind von Anfang an in eine ungleichgewichtige Beziehung gestellt, die durch die soziostrukturelle Figurenkonstellation bedingt ist. Wird der Fokus auf Jesus gelegt, erscheint die Beziehung einseitig. Jesus weiß alles über Judas, vielleicht sogar mehr als dieser selbst (6,64). Er benennt die Sonderrolle innerhalb der Jüngerschaft und kritisiert Judas, ohne dessen Identität vor dem Kollektiv aufzudecken. Auch im Überlieferungsgeschehen hält er die Fäden in der Hand (13,27; 18,4) und lässt Judas passiv erscheinen. Obwohl er Judas unter seinen Jüngern duldet und sogar bewusst erwählt hat, spricht er über ihn zahlreiche Verurteilungen aus: Unglaube (6,64), Verteufelung (6,70), Unreinheit (13,10) und Verlorenheit (17,12).188 Dabei sind all diese Aussagen in einen spirituellen oder metaphysischen Bereich einzuordnen. Judas wird von Jesus nicht offensichtlich – in der Welt – diffamiert, aber in geistlicher Hinsicht – das bedeutet auf der entscheidenden Ebene – verurteilt. Ist dieser Umgang mit Judas verallgemeinerbar, bedeutet das, dass die Bewertung der Motivation und des Verhaltens des Lesers als ethisches Subjekt nicht öffentlich zu erwarten ist. Das entscheidende Urteil wird nicht vor oder von anderen Menschen gefällt und so bleibt dem ethischen Subjekt im Umkehrschluss das Beurteilen anderer Personen vorenthalten. Mit einem Perspektivwechsel auf Judas ist dieser derjenige Jünger Jesu, der unter allen negativ heraussticht. Er kritisiert eine Liebesgeste, die an Jesus vollzogen wird (12,5), und liefert ihn an dessen Feinde aus, worauf seine ganze Figur zielt.189 Er nutzt sein Wissen, das er im Vertrautenkreis erworben hat, gegen Jesus (18,2 f.). Er kündigt die Loyalität auf, wendet sich von ihm ab und wechselt die Seite, wobei er Jesus bewaffnet gegenübertritt. Judas wechselt vom Feind im eigenen Lager zum offenen Opponenten. Er löst das Geschehen aus, das in Jesu Tod mündet. Dass dies dessen Verherrlichung
187
W. Vogler hingegen sieht Judas Jesus, ‚den Elf‘, einzelnen Jüngern und Maria einseitig „in scharfer Antithese“ gegenübergestellt (ders., Judas, 116). Völlig konträr interpretiert H. Gollwitzer (allerdings nicht auf das Joh reduziert): „Judas Ischarioth hat zentrale Bedeutung, weil seine Tat ihn von den übrigen nicht unterscheidet; mit dem, was sie getan haben, sind sie ihm alle nah. Sie sitzen alle auf einer Bank: die Jünger, die fliehen, Petrus, der sich lossagt, Saulus-Paulus, der verfolgt, die pietistischen Pharisäer, die Priester, die Eliten, die Plebs“ (ders., Holz, 272). 188 Der Barth sche Gegensatz zwischen Judas und Jesus (Judas sei gegen Jesus und Jesus für Judas), welcher Judas zur Identifikationsfigur des Menschen in seinem VerworfenSein macht (vgl. ders., Dogmatik, 528 f.), findet sich für das Joh zumindest innerhalb der Erzählten Welt nicht bestätigt. 189 Siehe dazu die Entwicklung von von Szene 1 zu Szene 4 (vgl. 3.1.2).
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bedeutet, weiß er nicht. In seiner Einstellung zu Jesus ist Judas lediglich ein abschreckendes Beispiel.190 An dieser Stelle sei auf Jesu Handeln in Bezug auf Judas innerhalb von Szene 4 eingegangen. Jesus kehrt die Verhältnisse um, bricht Judas’ Machtposition und tritt der Bedrohung entgegen. Im Gegenüber der Figuren Jesus und Judas findet der Leser zwei mögliche Verhaltensweisen vorgestellt. Judas präsentiert Bedrohung, versucht einzuschüchtern und tritt mit physischer Übermacht auf. Jesus hingegen entschärft die Situation, bleibt Herr der Lage und antwortet mit Worten auf die Gewaltpräsenz. Dass die Gefangennahme Jesu dessen Scheitern in dieser Gegenüberstellung darstellt, ist doppelt vermieden: Judas ist nicht der Gefangennehmende und 18,6 schildert deutlich den Sieger vor dem eigentlichen Ende der Szene. So ist in einer bipolaren Gegenüberstellung Judas als Negativvorlage und Jesus dem Leser als Vorbild für sein eigenes Verhalten vor Augen geführt. In der Beziehung zwischen Judas und Jesus entfalten sich durch Judas’ Haltung und Tun Möglichkeiten, wie Beziehungen gefährdet und zerstört werden können. Jesus hingegen fokussiert, dass sich die Einstellung zum Gegenüber auch in Taten spiegelt. In diesem Sinne bietet Jesus in Bezug auf Judas keinen Gegenpol, der den Erhalt oder Aufbau von Beziehungen proklamiert, sondern eine Offenlegung der Haltung. Die Ablehnung von Judas’ Agieren in seiner Beziehung kommt in der dramatischen Entwicklung und der Tragik der Figur Judas sowie im Ende der Beziehung zwischen Jesus und Judas zum Ausdruck. 4.2 Judas und die Jünger Judas’ Beziehung zu den anderen Jüngern wird nicht betont, implizit (durch Kollektivzugehörigkeit und gemeinsame Anwesenheit) ist sie aber stets präsent. Gerade in Szene 3 wird Judas in eine Sonderrolle innerhalb des Zwölferkreises hineingewoben. Immer wieder spielen der Erzähler und Jesus für den Leser den Sonderstatus ein, bevor dieser in 13,21–30 zur vollen Entfaltung gelangt und mit Judas’ Selbstausschluss endet. Nur von Jesus wird er dem Jüngerkollektiv gegenübergestellt. Sie erkennen ihn nicht als Verräter und reagieren nicht auf seine offensichtliche Anfeindung in 18,3. Er jedoch hintergeht mit seiner Überlieferung Jesu auch sie, bricht ihre Gemeinschaft auf und setzt sie einer Gefahr aus (18,8). Diese zwischenmenschliche Beziehung gerät nicht in den Blick des Erzählers. So wird die Bewertung an den Leser abgegeben. Er soll an Stelle der Jünger reagieren; Enttäuschung, Verunsicherung und Entsetzen bleiben ihm überlassen. Das Verhältnis zwischen Judas und den Jüngern ist kein Vorbild für gemeinschaftliches Leben. Es ist eine Karikatur von nicht gewachsener Gruppenidentität. Es gibt keine tragende gemeinsame Basis, andere werden (hinsichtlich ihrer Identität, ihrer Ein190
Siehe auch 3.2.4.
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stellungen und Absichten) falsch eingeschätzt (13,29), das Ergehen der anderen wird gleichgültig hingenommen (18,2 f.). Trotz äußerer Zusammengehörigkeit sind die Zwölf einander entfremdet und keine Einheit.191 Durch Missverständnis und Leerstellen bezüglich der Jüngerreaktionen kann der Leser zur Reflexion der eigenen Beziehungen hinsichtlich der gemeinsamen Identität, des Interesses am und der Kenntnis des Anderen animiert werden. Für den Gemeindekontext bietet die Figur Judas zugleich Kontrollkriterien dafür, „wer wirklich und wer nur scheinbar zu ihr [der Gemeinde] gehört.“192 Diese sind in den Fehlhandlungen geboten, die sich aus Judas’ Charakterisierung ableiten lassen (z. B. Verrat, Denunziation, Habgier, Diebstahl, Heuchelei). 4.3 Judas, Maria und die betanische Tischgemeinschaft (12,1–8) In Szene 2 treten Maria193 und Judas gemeinsam auf. Judas ist als Teil der Tischgemeinschaft eingeführt und seine Sprechhandlung adressiert diese implizit. Dabei bezieht sich Judas’ Sprechhandlung auf Maria, während ihr Tun auf Jesus ausgerichtet ist. Beide Einzelfiguren sind prinzipiell als Anhänger Jesu gekennzeichnet, werden aber deutlich kontrastiert (vgl. 6.2). Judas’ Verhältnis zu Maria wird ebenso wie das zu der übrigen Tischgemeinschaft (inklusive anderer Jünger und Lazarus) nur in seiner Sprechhandlung ausgedrückt, sodass beide Beziehungen recht blass bleiben. Ohne redeexternen oder redeinternen Adressaten stellt Judas seine Rechtfertigungsforderung gegenüber Marias Salbung in den Raum. In dieser klingt an, dass Judas Zustimmung seitens der Tischgemeinschaft erwartet. Er hat sich selbst zum Sprecher der Beobachtenden der Salbung gemacht. Das kollektive Schweigen zu seinem vordergründig plausiblen und moralisch argumentierenden Einwand gibt ihm Rückendeckung, Marias Tun zu hinterfragen. Er erzeugt damit eine Situation, in der Maria alleine den übrigen Figuren gegenübersteht. Dieses Ungleichgewicht färbt die Beziehung zwischen Maria und Judas negativ und drückt Judas’ Dominanz über sie aus. In seinem moralischen Argument klingt ein Schuldspruch an. So kritisiert er Maria auch als Person. Ohne sie anzusprechen, erscheint er als Aggressor. Marias Haltung zu Judas ist vollkommen offen. Da sie nicht auf Judas reagiert, bleibt es dem Leser überlassen, ihr Schweigen zu deuten. Ist sie eingeschüchtert oder baut sie sich gerade
191 Insbesondere „Joh 13 legt bei der Schilderung des Verrats starken Nachdruck auf eine Scheidung innerhalb des Jüngerkreises“ (Augenstein, Liebesgebot, 28), sodass das Kollektiv trotz der positiven Einführung (6,67–70a) ambivalent erscheint. Bezeichnender Weise wird die Uneinigkeit und Trennung unter Jesu Jüngern oder an ihn Glaubenden mehrfach im Joh thematisiert (markant 6,66). 192 Vogler, Judas, 118. 193 Zu Maria als Figur sei auf 6.2 sowie als eigenständige Analyse auf den Artikel von S. Miller verwiesen: dies., Mary.
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für ein angemessenes Paroli auf, als Jesus ihr zuvorkommt?194 Eine positive Haltung zu Judas ist jedenfalls schwer vorstellbar. Die Beziehung ist zusätzlich belastet, wenn Maria (neben ihrer Schwester) als Gastgeberin eingeordnet wird. Dann führt Judas seine Gastgeberin vor ihren Gästen vor, überreizt sein Gastrecht. Er baut eine Spannung innerhalb der Figurenkonstellation auf, die Maria unter Rechtfertigungsdruck für ihre Handlung setzt. Zu dieser Situation liefert 8,3–5 ein Parallelmotiv. In der Wertung durch Jesus und den Erzähler verfehlt Judas – auch in seiner Einstellung gegenüber Maria – gelingendes Miteinander. Jesus durchbricht das Verhältnis ‚alle-gegen-eine‘. Er weist Judas’ Forderung mit seinem :; $ 9 zurück, wertet Marias Position auf und belehrt die weiterhin schweigende Tischgemeinschaft über Judas’ Fehleinschätzung. Zugleich enthebt er Judas seiner Position, Rechtfertigung fordern zu dürfen, und nimmt Maria aus der Pflicht, der Forderung nachzukommen. Jesus mischt sich in die Beziehung zwischen beiden ein, verortet beide in ihr neu und hebt die Aggression auf. Zugleich verortet er Judas in der Tischgemeinschaft, indem er das Kollektiv und ihn gemeinsam anspricht und hebt zugleich die vermeintliche Rückendeckung der Menge gegenüber Judas auf. Die Szene lässt durch die vielen Leerstellen bzgl. des Verhaltens der Figuren und der Einstellungen von ihnen zueinander einen großen Spielraum, sich als Leser in der Situation zu positionieren und mögliche Reaktionen abzuschätzen. So dient die Szene als ethisches Spielfeld, um eine Konfliktsituation mit Aggression, Rechtfertigungsforderung, Verteidigung, Gruppendynamik und Hierarchiegefälle zu erleben. 4.4 Judas und der Verhaftungstrupp (18,3.5) Das Verhältnis zwischen Judas und dem Kollektiv der Feinde Jesu in Szene 4 lässt sich kaum bestimmen. Bestehend aus den Soldaten (% ) und Dienern von Hohepriestern und Pharisäern, ist der Verhaftungstrupp heterogen zusammengesetzt und von der Anzahl kaum zu fassen. Zweifelhaft ist die Hierarchie, in der Judas und das Kollektiv zueinander stehen. Ist in 18,3 noch Judas Subjekt, welches den Trupp mit sich nimmt, agiert dieses ab dem Eintreffen im (oder beim) Garten ohne ihn. Bei der Gefangennahme tritt statt Judas der * als Einzelfigur hervor. So wird Judas in der Beziehung zu diesem Kollektiv innerhalb der Szene 4 von einem Anführer mit großer Macht zunächst zu einem Mitläufer und Statisten (18,5: E% 9 4 $ ! ) und schließlich zu einer unbeteiligten, nicht einmal erwähnenswerten Figur degradiert. Durch Jesus und das Kollektiv büßt er jegliche Macht und Situationskontrolle ein. Er wurde als Mittel zum Zweck missbraucht und 194
Eine Klärung dieser Frage – oder zumindest eine genauere Reflexion – wäre m. E. durch eine Figurenanalyse Marias möglich.
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bleibt sich selbst überlassen. In dem rasanten Abfall seiner Bedeutung für die Szene und seines Einflusses auf den Verhaftungstrupp ist aufgezeigt, wie eine übermächtige Größe (als machtpolitische Instanz oder als kollektive Menge) die Kontrolle über die Beziehung und die Situation dem Initiator entreißt und vollständig übernimmt. Ohne Dank, Anerkennung oder Einfluss verbleibt Judas allein.
5 Handlungen der Figur – Handlungsethik 5 Handlungen der Figur – Handlungsethik
Trotz Jesu direkter Aufforderung zum Handeln (13,27), ist Judas keine Figur, deren Handlungen besonders ausgezeichnet wären. Die entscheidende Handlung, die Überlieferung, wird ihm vielmehr abgenommen (vgl. 3.1.2). Bei Judas zeichnet sich besonders ab, dass Identität und Verhalten, Sein und Handeln zusammenfallen und nicht unabhängig voneinander bewertet werden können. Dabei ist Letzteres bereits durch Ersteres geprägt. So sind vordergründig ehrenwerte Ansinnen, wie der Aufruf zum Almosen geben (12,5), durch die Intention abgewertet. Auch die Charakterisierung, die sich aus dem Figurenverhalten ergibt, wird durch Zuschreibungen dominiert (vgl. 3.2.3). Judas’ Tun ist unabhängig von konkreten Handlungen prinzipiell verurteilt.195 5.1 Viele böse Taten Abgesehen von als die Figur dominierende Handlung (vgl. dazu 3.1.2) werden für Judas folgende Handlung expliziert: Er spricht über Marias Salbung und trägt 7 bei sich (Szene 2), er nimmt den Bissen und geht hinaus (Szene 3), er nimmt Soldaten, kommt zu Jesu Aufenthaltsort und steht bei Jesu Gegnern (Szene 4). Zudem werden durch 12,5; 13,18b.29 mit ihm Kauf und Verkauf, Almosen geben sowie Essen und Treten verbunden.196 In der Übertragung von Ps 41,10 auf Judas in Jesu Rede werden Judas zwei Handlungen zugeschrieben. Dabei ist der bildliche Gehalt besonders hoch, da das Brotessen auch als Sinnbild für einen Nutznießer und das Treten für Anfeindung jeglicher Art dienen kann (vgl. 3.1.6). Die objektbezogenen Handlungen und Bewegungen in Szene 3 und 4 stehen im Kontrast zueinander. Verbunden über das Lexem / sind deren Kontexte und Richtungen gegensätzlich: Judas nimmt in Szene 3 das geheime Zeichen der Überlieferungsidentität und verlässt die Jüngergemeinschaft. In Szene 4 bringt er durch das Mitnehmen der Soldaten und Knechte sein Über195 Vgl. Lk 6,45 parr.: Ein böser [Mensch] bringt Böses hervor aus dem bösen [Schatz seines Herzens]. 196 Zu der Sprechhandlung in Szene 2 vgl. 4.3. Zum Geldtragen (was lediglich in einer Kommentierung eingespielt und nicht als einzelne Handlung in einem situativen Kontext erzählt wird) vgl. 3.1.5 und 3.1.4. Siehe dort auch zum Themenfeld ‚Kauf und Verkauf‘.
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lieferungsvorhaben offen zur Darstellung und begibt sich zur Gemeinschaft zurück – allerdings in einer konträren Rolle. Ungeachtet der dramaturgischen Wirkung dieser Handlungen und ihrer Notwendigkeit für den Plot sind die Handlungen sämtlich negativ bewertet. Das Bissennehmen zieht die Teufelsbesetzung nach sich, das Verlassen der Gemeinschaft führt ihn in die Nacht, das Mitnehmen des Verhaftungstrupps ist eine Verbindung mit dem Helferkollektiv von Jesu Gegenspielern und die Rückkehr erfolgt nicht zu Jesus oder in die Gemeinschaft, sondern nur zum Aufenthaltsort und dient als Verrat. So erscheint Judas in all seinen Handlungen nicht ambivalent, sondern konsequent als schlecht beurteilt. Die wenigen kontextuell neutralen Taten sind durch die stetige Abwertung von Judas (zumindest durch seine Intention) negativ bewertet. Judas dient als Negativfolie für eine bestimmte Ausrichtung, die sich in Verhaltensformen wie Heuchelei, Diebstahl und Verrat spiegeln. Auch wenn ein Leser sich kaum mit Judas prinzipiell identifizieren wird, kann er durch ihn Handlungsoptionen durchleben, kann Judas ihm als Warnung gelten.197 Da im Lebensvollzug niemand einen moralisch perfekten Lebenswandel vorweisen kann, entdeckt sich der Leser womöglich in einzelnen Verhaltensweisen. Der Erzähler verhindert Selbstrechtfertigung und Versuche eines Schönredens. Die Bewertung ist durch die Assoziation mit Judas eindeutig: Diebstahl, Habgier, Heuchelei und Verrat sind falsch und böse. In Situationen, in denen ein christlicher Leser sich selbst wie Judas handeln sieht, wird dessen Schicksal zu seinem warnenden Mahnbild. Auch in der Nachfolge Jesu sind Christen nicht davor gefeit. Hans-Josef Klauck formuliert: Judas ist „als Jünger des Herrn, verstrickt in einen tiefen Widerspruch, der jederzeit der unsrige werden kann.“198 5.2 Almosen geben (12,5; 13,29) Das Versorgen der Armen199 erscheint im Joh als gewohnte Tradition, da sowohl Judas es als Grund zur Kritik an Verschwendung anführen kann (12,5) als auch einige Jünger annehmen, Jesus beauftrage Judas zu diesem (13,29). Letzteres weist darauf hin, dass sie Jesus einen solchen Auftrag zutrauen, oder sogar, dass er Weitergabe von Almosen an Arme öfter initiiert.200 Die Weitergabe von Geld ist bereits im Alten Testament in Form des Zehnten (Dtn 14,24–29) und im Kontext des Erlassjahres (Dtn 15,11, vgl. die Nähe zu 197
Vgl. auch 3.2.4. Klauck, Judas, 147. 199 Wer als arm gilt, wird mit dem Verweis auf die Existenz dieses Kollektivs nicht gesagt. Vgl. zu entsprechenden Ausführungen (bezogen auf 30 n. Chr.) die Ausführungen von H. Schröder (ders., Jesus, 160 f.). 200 J. Gnilka erwägt gar, dass die Geldtasche in Judas Obhut eine „Armenkasse“ ist (ders., Joh, 97). 198
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Joh 12,8) angelegt201 und findet sich im Neuen Testament als gängige Glaubenspraxis belegt.202 Die Weitergabe von Geld an Arme ist ein Ausdruck tätiger Barmherzigkeit und Nächstenliebe, wie er in vielen biblischen Schriften gefordert wird. Diese Forderung fehlt im Joh, ist aber die Grundlage, auf der die Jüngerfiguren agieren und auf die sie sich beziehen. Die erste Erwähnung des Geldverteilens an Arme wird im Joh von Judas ausgesprochen. In seiner Kritik erscheint es zunächst als Konkretisierung von „accepted standards for human conduct.“203 Durch die Zuordnung zu dieser negativ dargestellten Figur kann der Leser jedoch zu einer Abwertung seiner Aussage kommen, denn moralische Aussagen, ausgesprochen von abzulehnenden Figuren, können als ebenfalls abzulehnend gedeutet werden. Einen solchen Schluss von Bewertung der Figur auf die Bewertung des Inhalts der Figurenrede fängt der Erzähler jedoch ab. Er distanziert die Figur intentional von ihrem eigenen Appell, entlarvt ihn als scheinheilig und lässt so die Aufforderung zur Armenfürsorge eher positiv erscheinen. Dass Judas sich nicht um die Armen schert, wird nämlich im Kontext der Bezeichnung als Dieb als schlechte Eigenschaft an die Figur herangetragen. Auch Jesu Abwehr von Judas’ Einwand ist keine prinzipielle Ablehnung der Armenspende. Vielmehr festigt Jesus ihre Legitimation durch den Hinweis auf die überzeitliche Möglichkeit, in dem ein Appell zur Wahrnehmung derselben mitschwingt.204 Am stärksten verdeutlicht die Jüngerannahme in 13,29 die Einstufung von Geldspenden an Bedürftige. Zwei Alternativhandlungen zur Verwendung des Geldes aus der Jüngerkasse stellt der Erzähler als von den unwissenden Jüngern erwogen dar. Neben dem Einkauf für das Passafest ist dort ein Almosen an Arme genannt und als prinzipielle Verwendungsmöglichkeit von Geld betont. So wird insgesamt am Almosengeben festgehalten, aber ein direkter Appell dazu erfolgt nicht. Armut und Bedürftigkeit sind im Joh ein Randthema und finden keine Figur, die diese eigens repräsentiert. In Abgrenzung von der Negativfigur Judas sind sie immerhin erwähnt, Reflexionen über diese ethischen Themen müssen sich damit begnügen. Ausgehend von Jesu Kritik in 12,7 f. sowie seiner Gegenüberstellung einer (besseren) konkreten Tat (eines Liebeswerkes) an ihm und der allgemein formulierten, abstrakten Forderung von Geldweitergabe eröffnet die ethische Reflexion, wie Bedürftigenhilfe gehandhabt werden kann und soll. Gegenüber einer prinzipiellen Forderung wird betont, dass eine besondere Situation zum Helfen auszuwählen und eine konkrete Handlung am Einzelnen zu voll201
Vgl. auch das Verbot der Nachlese zur Sicherung der Armen Lev 19,9 f.; 23,22 und das Sabbatjahr Ex 23,11. 202 Mt 6,1–4; vgl. auch 1 Joh 3,17 und den brieflichen Aufruf zur Kollekte z. B. in 2 Kor 8 f. 203 Koester, Symbolism, 73. 204 Vgl. Schenke, Johannes, 240.
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ziehen ist. Dementsprechend ist die bloße Weitergabe von Geld einer Geste der Zuwendung, die Zeit in Anspruch nimmt, den Geber als Person fordert und eine Beziehung aufbaut, nachgeordnet. Der Leser wird angeregt, sich nicht mit einer anonymen Geldweitergabe der Pflicht zu entziehen oder sein Gewissen zu beruhigen, sondern konkrete Möglichkeiten der Zuwendung zu ersinnen. Auch das unbestimmte Kollektiv ‚die Armen‘ muss der Leser füllen. Das Ziel einer Geldweitergabe ist nicht gleichgültig, sondern muss in Einzelpersonen konkretisiert werden. ‚Wer ist derjenige, dem ich mit meinem Almosen helfe oder dem ich mich in meinem Liebesdienst zuwende?‘205 Diese Frage, die Maria in ihrer Handlung mit ‚Jesus‘ beantwortet, kann für Judas nicht gefüllt werden. Sie bleibt diegetisch offen und stellt sich so auch dem Leser in seiner eigenen Lebenswelt.
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik 6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
Judas spielt eine wesentliche Rolle in der Jesuserzählung, da er das Passionsgeschehen auslöst. Er ist damit notwendiger Bestandteil der Erzählung. Seine Funktion in der Plotstruktur und – theologisch gesprochen – in der Heilsgeschichte206 rechtfertigt nicht die durchgängige und vielfältige Abwertung, die Judas widerfährt. Auf diegetischer Ebene fungiert er als Gestaltwandler207. Durch seine Intimität mit Jesus und den Jüngern und seine gleichzeitige böse Identität, ist er unberechenbar. Unsicher ist, wann ‚der Überliefernde‘ diese Überlieferung vollziehen wird. So trägt er besonders zur dramatischen Spannung bei. Für den Leser ist sein doppeltes Spiel negativ belegt. In einer Erzählung ist seine Rolle reizvoll, in der Realität verheerend. 6.1 Judas als Repräsentant – Verurteilung von vielen Wird Judas nicht in seiner einmaligen Funktion als Überlieferer in der Erzählung und Heilsgeschichte oder als Individuum in der Erzählten Welt verstanden, ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, Judas als Repräsentanten zu sehen, die innerhalb dieses Unterkapitels aufgefächert werden. Dabei markiert die Stigmatisierung, welche die Figur Judas erfährt, meist den bedeutenden Übertragungsmoment, wodurch die Gruppen oder Institutionen, die er repräsentiert, verurteilt werden. Kirchengeschichtlich hat die Repräsentation ‚der Juden‘ durch Judas den größten Raum eingenommen. Fernab von narratologischer Legitimität oder Illegitimität wird diese hier wegen der vorge205 Als Intertext, der die Reflexion über den Liebesdienst im Joh bereichern kann, sei an dieser Stelle auf Lk 10,29–37 verwiesen. 206 Zur positiven und notwendigen Funktion von Judas in der Heilsgeschichte siehe Beckmann, Funktion, 186–189. 207 Vgl. Teil I – Einleitung: 4.1.1.
6 Symbol und Funktion der Figur – Rollenethik
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nommenen hermeneutischen und interpretativen Begrenzung208 nicht diskutiert (vgl. 3.1). Judas kann als Repräsentant für diejenigen gelten, die sich zur Anhängerschaft Jesu zählen – also in christlicher Gemeinschaft aufhalten – aber nicht an Jesus glauben.209 Damit wird eine Trennung in äußerliche und innerliche Jüngerschaft provoziert, wobei Judas nur erstere erfüllt. Durch 6,64 wird eine Parallelisierung zwischen Judas und den Ungläubigen angeregt (vgl. 2.1), sodass er als Pendant derjenigen fungiert, die sich äußerlich und physisch von Jesus abwenden (was als Handlung im Joh bereits stark negativ belegt ist). Im Gegensatz zu jenen erfährt Judas eine noch stärkere Verurteilung.210 Damit sind Nicht-Glaubende innerhalb der Kirche in Judas verurteilt. Für Leser wird Judas zum Prüfstein der eigenen Glaubenseinstellung.211 Zugleich legitimiert Judas eine Verurteilung derjenigen, die aus der (Glaubens-)Gemeinschaft ausbrechen und sich von ihr abkehren.212 Für das Verhalten der Gläubigen gegenüber diesen ist damit aber keine Gewalt oder Verfolgung solcher ‚Ketzer‘ oder ‚Häretiker‘ geboten oder auch nur erlaubt. Auch Judas’ Ergehen wird weder den anderen Jüngern anbefohlen noch von diesen in die Hand genommen. Die Verurteilung der ‚Abtrünnigen‘ erfolgt von höherer Warte aus und mag eine ablehnende Einstellung begründen. Ein eigenmächtiges Vorgehen gegen sie ist nicht gerechtfertigt. Judas kann auch als Repräsentant der Kirchenfeinde verstanden werden. Diese Rolle auf Christenverfolger im Allgemeinen auszuweiten, ist jedoch kaum möglich. Schließlich richtet sich sein Agieren nur gegen Jesus und nicht gegen die Jünger. Gegen eine solche Repräsentation spricht auch, dass Judas überwiegend passiv bleibt. Sofern er die Kirchenfeinde repräsentiert, sind diese nicht sonderlich aktiv. In dieser Lesart schwingt aber die Bedrohung mit, die Judas in Joh 18 gegen Jesus aufbaut. Angesichts solcher Übermacht und Gewaltandrohung sind die Leser dazu aufgerufen, auf Jesus zu vertrauen, der sich als mächtiger und stets überlegener Souverän profiliert, wie die narrative Entfaltung der Szene 4 zeigt. Als „Anführer und Repräsentant der Gegner Jesu“213 vermittelt Judas Trost und Standhaftigkeit für bedrohte Leser, da in der Verurteilung der Feinde durch ihren Repräsentanten und in ihrem Verbleiben in der Dunkelheit Gerechtigkeit verheißen wird. Angesichts von Bedrohungs- und Verfolgungssituationen sind die Leser ge208
Vgl. dazu die Ausführungen zur Shoa in der Einleitung (Teil I: 4.1.2). Vgl. Dschulnigg, Jesus, 161, 181. Darin klingt eine Unterscheidung an, die einen Bereich der dogmatischen Auseinandersetzung um die sichtbare und unsichtbare bzw. geglaubte und erfahrene Kirche betrifft. Vgl. dazu z. B. Ebeling, Dogmatik, 348–358. 210 Dies brachte schon Judas’ Charakterisierung zum Ausdruck (vgl. Kap. 3). 211 Angemerkt sei hier, dass damit Zweifel nicht prinzipiell verboten werden (vgl. Teil VI – Thomas: 3.1.2). 212 Vgl. Dschulnigg, Jesus, 183; Culpepper, Anatomy, 125. 213 Dschulnigg, Jesus, 182. 209
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gen die übermächtig erscheinenden ‚Judasse‘ zu Hoffnung und Vertrauen auf Jesus aufgerufen.214 Judas als Stellvertreter der Kirche einzuordnen, ist durch sein Verlassen der Nachfolgegemeinschaft narratologisch schwer haltbar. Dennoch ist der Gedanke reizvoll, in ihm „die Solidarität der Kirche mit der Welt“ zu sehen.215 So könnte über die Erzählung hinausgehend die Antwort eines Lesers lauten: Judas müsste als Botschafter in die Nacht entsandt werden (13,27b.30) und als unbewaffneter Zeuge die Soldaten zu Jesus führen, in eine für sie heilsame Begegnung mit ihm (18,3). Eine solche kreative Umgestaltung birgt Potentiale für missionarisches Handeln und eine Ethik, die für Annäherung an Glaubensferne eintritt. Innerhalb des Joh wird diese in der Figur Judas aber nicht entfaltet und der Repräsentation der Kirche durch Judas ist v. a. durch dessen Negativbewertung widersprochen. 6.2 Personifikation von Moral – Maria und Judas im Kontrast (12,3-8) In Szene 2 treten Judas und Maria216 nicht nur gemeinsam auf und (indirekt) miteinander in Interaktion, sondern werden auch als Kontrastfiguren zueinander aufgebaut, sodass sie als Personifikationen von Tugenden bzw. Lastern erscheinen. Wahre Jüngerschaft zeichnet sich demnach nicht durch Gruppenzugehörigkeit aus, sondern durch Haltungen und Taten. Daran orientiert sich die Bewertung. Zwei Taten werden einander gegenübergestellt: der Liebesdienst Marias und die Überlieferung des Judas. Der offensichtliche Jünger Judas täuscht die Jüngeridentität nur vor und ist in Wahrheit ein Feind Jesu.217 Sich in einem entsprechenden christlichen Umfeld zu bewegen, reicht nicht für eine positive Bewertung aus – das Verhalten (gegenüber Jesus) ist der Maßstab. Durch die Gegenüberstellung von Judas und Maria werden hier grundsätzliche Einstellungen kontrastiert. Judas repräsentiert die Habgier, Maria die Großzügigkeit.218 Indem Jesus Judas zurückweist, durchbricht er die Hierar214
An dieser Stelle sei auf Möglichkeiten einer fruchtbaren Lesart mit der Offb als Intertext verwiesen. 215 Beckmann, Funktion, 197. Mit der Apg als Intertext ist Judas auch durch Paulus als sein Nachfolger im Apostelkreis als Vorbereiter der Heidenmission interpretierbar. Zu einer solchen Lesart vgl. Barth, Dogmatik, 530–532, 536 f. 216 Da in diesem Kapitel Maria lediglich ausgehend von Judas ethisch gedeutet wird, sei auch auf die Analyse S. Millers verwiesen, die diese (u. a.) als Repräsentantin für „the members of the community who mourn the loss of a loved one and trust in Jesus to reunite them“ und für „those whose suffering touches Jesus“ versteht (dies., Mary, 485). 217 Vgl. Beirne, Women, 149. 218 K. Barth spitzt diesen Gegensatz theologisch zu, indem Judas ‚Eigensinn‘ (vgl. 3.1.5) und Maria ‚Verschwendung‘ gegenüber Jesus veranschaulicht. Verschwendung ist für Barth so ausschließlich positiv und meint vollständige Hingabe an Jesus (vgl. ders., Dogmatik, 513).
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chie. So wird Großzügigkeit als vorbildliches Motiv zur Anschauung gebracht. Die Umordnung der Hierarchie spielt eine weitere Gegenüberstellung ein. Maria äußert Demut in ihrer Salbung der Füße Jesu, da sie nicht den Kopf wählt, was der Königssalbung durch Propheten entspräche.219 Judas hingegen erhebt sich über Maria und meint, für ihr Verhalten Rechtfertigung einfordern zu dürfen. So werden zwei weitere Haltungen kontrastiert. Jesus sprengt diese Hierarchie auf. So wird Hochmut (in Gestalt von Judas) der (in Maria personifizierten) Demut untergeordnet. 6.3 Finsternis-Metaphorik Judas wird mehrfach in einem Licht-Finsternis-Dualismus auf der Seite der Dunkelheit eingeordnet.220 Diese symbolisiert die Gottesferne, die Verlorenheit und das Verfehlen des eigentlichen Ziels. Auch der Begriff ‚Söhne des Lichts‘ (12,36) als Verheißung für die Glaubenden schließt Judas als ‚Sohn des Verderbens‘ aus. Vollendet wird Judas’ Zugehörigkeit in seinem Hinaustreten in die Nacht (13,30). Judas geht nicht als gesendeter „Träger verborgener Herrlichkeit in die Finsternis“221, um ein Licht in die Nacht zu tragen, sondern verschwindet in dieser und geht in dieser auf. Auch sein Rückgriff auf die irdischen Lichtquellen ( 7; ! 18,3) ruft das Themenfeld Licht (;! ) wach, sodass auch in der nächtlichen Verhaftungsszene Judas in der metaphorischen Finsternis verbleibt.222 Das Zentrallexem Licht und das zugehörige Themenfeld wird im Evangelium in unterschiedlichen Kontexten entfaltet. Gehäuft wird es im Prolog (1,4–9), in Jesu Rede zu Nikodemus (3,19–21) und in seiner letzten Rede vor ‚der Menge‘ (12,35 f.) verwendet. Mit Leben assoziiert und der Finsternis gegenübergestellt ist das Licht ein eindeutig positiv etabliertes Wertungswort. Menschen verhalten sich auf zwei Ebenen zu dem Licht: Zum einen durch Glauben, der nicht konsequenzlos bleibt – durch Glauben an Jesus als Licht findet eine Bewegung aus der Finsternis in das Licht statt (12,46; vgl. 8,12). Zum anderen setzt Jesus die beiden Äquivalenzformulierungen ‚Finsternis lieben‘ und ‚Licht hassen‘ mit bösen Taten in Verbindung (3,20). Interessanterweise sind dort den schlechten Taten nicht die guten (wie in 5,29 im Gerichtskontext) gegenübergestellt, sondern die Wahrheit. So erhält der Begriff ‚Wahrheit‘ Erst im Kontrast mit Maria kann Judas auch als „Geizhals“ (Vogler, Judas, 116) bezeichnet werden, da innertextlich nicht das Nicht-Abgeben, sondern nur das Mehr-HabenWollen ausgedrückt wird. 219 Vgl. 1 Sam 10,1. 220 Innerhalb der Passion als Konflikt metaphysischer Gegenspieler „steht Judas als Repräsentant der Finsternis […] Jesus als dem Repräsentanten des Lichtes in scharfer Kontrastierung gegenüber“ (Vogler, Judas, 115). 221 Beckmann, Funktion, 192. 222 Vgl. auch Gnilka, Joh, 134.
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eine praktische, tätige Dimension, die sich nicht auf eine abstrakte Größe beschränkt. Innerhalb der Finsternismetaphorik rückt so das Handeln von Judas wieder in den Vordergrund. Der Wahrheit widersprechend heuchelt er Armenfürsorge. Seine Unehrlichkeit spiegelt sich noch stärker in seiner Überlieferung. Diese offenbart seine nicht rechtmäßige Zugehörigkeit zu den engsten Vertrauten Jesu und sein doppeltes Spiel wird so diegetisch als heimtückisches Eindringen entlarvt. Lügen und das Brechen von Treue und Solidaritätsverhältnissen sind böse Werke, die nur in der Finsternis Raum haben. Eine derart starke Abwertung und Einordnung in den Bereich der absoluten Gottesferne kann auch für ein Verhalten gegenüber Menschen legitimierend wirken, die der Leser in seinem eigenen Umfeld ebenfalls diesem Bereich zuordnet. Eine Ablehnung solcher Menschen, die sich von der Gemeinschaft abgewendet haben, ist damit einfach zu rechtfertigen. Wenn Judas als „Repräsentant der dissidenten Jünger“ angesehen wird,223 ist eine Abwendung von solchen ‚Kindern der Finsternis‘ nicht nur legitim, sondern vielleicht gar geboten.224 Eine solche Ablehnungs- und Ausgrenzungsethik spiegelt sich vielfach in der Figur Judas – ein Ansatz, den der Leser durchaus hinterfragen darf. 6.4 Judas und Jesu Narrativ wird Judas als Kontrast zum Ich-Bin Jesu etabliert.225 Diese Identität scheint auf den ersten Blick eine rein theologische zu sein. Ethischen Gehalt erhält sie dadurch, dass sie das Selbstverständnis eines Christen reflektiert, welches im Joh in einem ganzheitlichen Verständnis zur Basis jeglichen Handels wird.226 Zahlreiche Bezüge zu den Ich-bin-Worten wurden bereits in den Szenenanalysen genannt. Explizit werden sie in Szene 4 durch das absolute „Ich bin“ Jesu (18,5 f.), das Judas’ letzte Nennung rahmt, reaktiviert. In ihrer chronologischen Reihenfolge seien sie hier noch einmal gebündelt. In der Brotrede (Joh 6) unmittelbar vor Judas’ erster Nennung verkörpert Jesus das Brot des Lebens. Judas hat als Nicht-Glaubender keinen Anteil an ihm. Trotz der Identifikation mit dem Brotessenden im Psalmzitat Jesu (13,18) und einer beinahe eucharistischen Geste in 13,26 f. wird eine Parallele vermieden.227
223
Dschulnigg, Jesus, 166. Vgl. 6.1. Vgl. Dschulnigg, Jesus, 171. 225 Eine umfassende Angabe der Literatur über die Ich-Bin-Worte muss hier entfallen. Hingewiesen sei aber auf D. Rusams Aufsatz, der diese als Relecture der synoptischen Evangelien liest (vgl. ders., Joh). 226 Vgl. auch Teil IV – Samaritische Frau: Kap. 7. 227 Siehe 2.3., 3.1.6. Vgl. auch 13,8.10 f., wo Jesus die Anteilhabe an ihm an die Waschung knüpft und für Judas den Effekt der Waschung aufhebt. 224
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Als personifiziertes Licht (8,12) erhellt Jesus den (Lebens-)Wandel der Nachfolgenden. Judas wendet sich aus der Nachfolge ab und der Nacht zu (13,30) und greift deshalb auf weltliche Lichtquellen zurück (18,3). Innerhalb der stark dualistischen Licht-Finsternis-Metaphorik wird er als Modell der Zuwendung zum falschen Pol etabliert. Die kontextuell miteinander verknüpften Ich-Bin Worte von Tür und Hirten (Joh 10) werden über den Begriff des 6 (nur hier und als Bezeichnung für Judas in 12,6) auf diesen bezogen.228 Als Dieb geht Judas nicht durch die Tür und verpasst so die Seligkeit. Als Gegenüber zum Hirten ist er keines der Schafe und wird nicht beim Namen genannt. Sogar in der daraufhin drängenden Szene 3 (13,25 f.) vermeidet Jesus seine Namensnennung. Auch folgt er als ‚Nicht-Schaf‘ dem guten Hirten nicht nach, sondern geht von ihm weg und tritt ihm gegenüber.229 In Joh 11 (als Episode von Judas’ implizierter Anwesenheit) proklamiert Jesus seine Identität als Auferstehung und Leben. Als personifizierte Auferstehung durchbricht Jesus Judas’ Machtstreben, welches in Szene 4 zum Ausdruck kommt und darin besteht, Jesus in die Hände seiner Feinde (und damit zum Tod) zu überführen. Der Lebenszuspruch für die Glaubenden betrifft Judas nach 6,64 nicht. Vielmehr verpasst Judas sogar Jesu Auferstehung im Gegensatz zu seiner Parallelfigur Thomas, dem anderen expliziten Jünger des Zwölferkreises.230 Seine Sendung ist weder mit dem Heiligen Geist verbunden noch mit Vollmacht ausgestattet (Jesus bricht Judas’ Macht in 18,4–6). Die letzten Ich-Bin-Worte spricht Jesus in Judas’ Abwesenheit. Judas’ Weg wird ohne Ziel offengelassen. Er gelangt weder zum Vater231 noch zu einem anderen benannten Ziel. Er verblasst und verschwindet einfach. Als Heuchler (12,5 f.) ist er fern von der Wahrheit. Dass er keinen Anteil am Leben hat, wurde bereits zu den übrigen Ich-Bin-Worten ausgedrückt und muss hier nicht wiederholt werden. Schließlich markiert das Weinstockgleichnis (15,1–6) Judas völlige Verwerfung. Er ist unrein (13,10 f.), bringt keine Frucht und ist derjenige, der ausgerissen wird. Schon präsentisch ereignet sich in Jesu Wegschicken Judas’ Aussonderung gemäß der Ankündigung in 15,6. Auch Judas’ Versuch, ohne Jesus etwas zu tun (13,27b), muss gemäß 15,6 scheitern. Jesus übernimmt Judas’ Überlieferungshandeln. So findet sich Judas in allen Ich-Bin-Worten negativ gespiegelt. Der Leser entdeckt in ihm den Stereotyp eines Nicht-Nachfolgenden. Judas’ Sein und Handeln entfaltet narrativ, was es bedeutet, wenn Jesu Ich-Bin nicht gehört 228
Zur detaillierten Interpretation siehe 3.1.5. Als Verlorener ist er somit keinesfalls eine Illustration der „Universalität des Heilsgeschehens“ (so Beckmann, Funktion, 193). Vgl. zur Hirtenrede auch 3.1.5. 230 Vgl. zur Parallelisierung besonders Teil VI – Thomas: 3.1.2. 231 Vgl. auch die Sohnschaftsmetapher in 3.1.8. 229
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oder abgelehnt wird. Gerade die Gegenüberstellung zum Ich-Bin Jesu lässt sich natürlich (als vermeintlich rein von theologischem Belang) leicht aus einer ethischen Betrachtung ausklammern. Bei Judas ist jedoch eine Figurenethik aufgezeigt, die gerade das Handeln in den Schatten des Seins stellen möchte. So ist die Identität die unverrückbare Grundlage jedes Handelns. Das führt zu keinen konkreten moralischen Regeln, rückt aber nah an die Lebenswirklichkeit des Lesers heran, der sich im Gegenteil zu Judas als Gegenüber zu Jesu Ich-Bin verstehen darf. Aus dieser Grundhaltung erwächst die Einstellung, die sich im Lebensvollzug konkretisiert, z. B. ein Wissen um die eigene Abhängigkeit (von Jesus), eine Orientierung an ihm und auf ihn hin, Gehorsam, Ehrlichkeit oder ein Verhalten, welches das eigene Christsein für andere erkennbar macht.232
7 Bündelung – ethischer Gehalt 7 Bündelung – ethischer Gehalt
Ein finsteres Kapitel geht zu Ende. An Judas wurden die Abgründe theologischer Verwerfung, menschlicher Ablehnung und moralischer Verurteilung aufgetan und durchschritten. Obwohl Judas selbst nur in vier Szenen namentlich genannt wird und dabei kaum handelt, vernetzen ihn intratextuelle Bezüge mit Negativwertungen im gesamten Evangelium. Für ihn ist die Erzählung kein $M R .233 Im Joh gibt es für Judas keine gute Botschaft. Als Figur des engsten Vertrautenkreises ist Judas zugleich aus diesem ausgesondert. Nicht durch sein Verhalten, sondern durch den Erzähler und Jesus wird Judas in vielfacher Hinsicht abgewertet. Von seiner Kollektivzugehörigkeit ausgehend hat er viel Potential als Auserwählter und prinzipiell eine große Möglichkeit zur Sympathiegewinnung, versagt aber völlig.234 Der Erzähler schöpft ein erstaunliches Repertoire aus, um Judas zu stigmatisieren und die Leserempathie gegen ihn zu lenken: Benennungen und Kontrastierungen (u. a. mit starken Leserempathoren), moralische, metaphysische und metaphorische (Finsternismetaphorik) Urteile, Verbindungen zu Gegnerfiguren (‚Schatten‘) und widergöttlichen Mächten, Vorverurteilung vor dem ersten Auftritt und negatives Behaften des letzten Eindrucks. Auf der ästhetischen, sittlichen und empathischen Ebene wird Judas dem Leser entfremdet. Auch der Missbrauch von moralisch guten Forderungen in der Argumentation gegen gute Taten wird von Judas vollzogen. Diese Verdrehung moralischer Konvention ist sowohl eine Warnung vor dem Einlassen auf solche Argumen232
Eine eigene Ethik der Ich-Bin-Worte ist ein sicherlich spannendes Unterfangen, welches durch figurenanalytische Erkenntnisse aus intratextuellen Referenzen angereichert und konkretisiert werden kann, hier allerdings den Rahmen der Figur Judas sprengt. 233 In Bezug auf Judas lässt sich das Joh damit eher als ‚Kako-Angelium‘ bezeichnen. Der sprachästhetische Wert solcher Neologismen wird hier aber nicht diskutiert. 234 Vgl. Beirne, Women, 168.
7 Bündelung – ethischer Gehalt
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tationslinien als auch ein Mosaikstein in der Legitimation von Judas’ Verwerfung. Die Negativzeichnung nutzt der Erzähler, um eine moralische Positionierung zu vielen ethischen Themen von Judas auf die jeweiligen Themen zu übertragen (oder gar eine bestimmte Position umfassend zu verurteilen). So wird durch sie z. B. eine kritische Haltung zu Waffengewalt und Geld ins Joh eingetragen. Entlang der Figur Judas verläuft eine Trennlinie, welcher Verhaltensweisen und Haltungen als Laster zugeordnet oder an welcher Tugenden oder Werte als Gegenpole entdeckt werden können. Sei es Habgier gegen Großzügigkeit, Hochmut gegen Demut, Heuchelei gegen Aufrichtigkeit oder Illoyalität gegen Treue: Im Joh fungiert Judas als moralischer Trigger, als Abwertungsschlüssel, der sittliche Fehler markiert. Falls sich der Leser selbst in Judas gespiegelt findet, kann ihm dies als Korrekturfolie dienen, sich entsprechend zu verändern und so eine Umgestaltung des Lebenswandels vorzunehmen, die Judas verwehrt bleibt: eine Umkehr zum Glauben, in die Gemeinschaft, metaphorisch gesprochen: von der Finsternis ins Licht. Dabei fällt eine Rückführung vom Verhalten auf Einstellungen und Motivationen auf, die der Bewertung zu Grunde gelegt werden. Ethik heißt in Bezug auf Judas also nie, Handeln losgelöst von der Identität des Handelnden zu betrachten – auch Prinzipien werden nicht unabhängig vom Individuum, das sich an ihnen orientiert, und der Situation, in der sie als Argument angeführt werden, beurteilt. Das Wesen, die Identität eines Menschen, dominiert die Bewertung seiner konkreten Handlungen und deren Ergebnis. Vorbild ist dabei eine Orientierung an Jesu Ich-Bin, gegenüber dem sich Judas als Mahnbild verhält. Letzterer steht dabei im Spannungsfeld zwischen Determination und Willensfreiheit235 – eine Spannung, die nicht aufgelöst wird, den Leser somit in die Reflexion drängt und durch Judas’ vollständige Verurteilung als dramatisch wirkungsvolle Inszenierung noch gesteigert ist. Gewissermaßen ist in der Wesensbewertung des Judas ein Gegenpol zur Situationsethik der samaritischen Frau gesetzt. Einzelhandlungen sind bei Judas nicht von der Situation des Individuums und seinen konkreten Lebensumständen abhängig. Eine Begründung oder Rechtfertigung anhand einzelner Erzählungen ist ausgeschlossen. Vielmehr erfolgt eine prinzipielle Beurteilung des Subjektes anhand seiner Identität. Die Identität wird dabei nicht durch eine Gruppe gestiftet, der man sich zugehörig erklärt. Auch in der Gemeinschaft ist der Einzelne einer individuellen Bewertung erstens seiner Taten und zweitens – wesentlicher – seiner Haltung und Identität ausgesetzt. Eine solche grundlegende Beurteilung kann einerseits durchaus bedrohlich wirken und einschüchtern. Andererseits vermag sie aber durch die narrative Entfaltung
235 Ein Spannungsfeld, in dem im Übrigen auch Jesus gewissermaßen steht, nur dass er seine Determination im Willen des Vaters begründet sieht und zu seinem eigenen Willen erklärt. Judas’ Wollen findet dagegen m. E. kein Gehör.
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Teil V: Judas
eines möglichen Ergebnisses an Judas (das Urteil über Judas’ Identität führt zu seiner Verdammnis), den Leser zum Protest zu animieren. Der Leser steht gegenüber Judas in der Spannung, dem Urteil des Erzählers zu folgen, der Judas keine Chance lässt, oder gegen diese Vorverurteilung aufzubegehren. Hat der Leser von der Samariterin gelernt, dass Kategorisierungen und rollenbezogene Werturteile nicht vorschnell übernommen werden dürfen, kann er dies in einer Metabewertung auf Judas anwenden und aus dieser Emanzipation heraus auch im realen lebensweltlichen Umfeld Verständnis entwickeln und gegen solche Stigmatisierungen eintreten. Gerade in Situationen, wo ein Bewertungskonsens über einen Menschen besteht, ist die Einnahme einer Metaebene zur Reflexion und Neubewertung angeraten. Steht damit am Ende ein Freispruch für Judas? Wird der Stigmatisierte zum Helden erhoben, das dunkle Kapitel ‚Judas‘ im Joh überstrahlt, die Finsternis einfach als Licht neudefiniert? Wohl kaum. Ob tragisch oder gerechtfertigt: Judas bleibt verworfen, bleibt verurteilt. Doch im Verstehen muss der Leser als ethisches Subjekt selbst entscheiden: Ihm bleibt überlassen, ob eine solche Verurteilung – wenn schon im Joh, zumindest nicht in seiner eigenen Lebensrealität – das letzte Wort behält.
Teil VI
Thomas und der Weg in die Glaubensgemeinschaft 1 Einordnung der Figur 1 Einordnung der Figur
Thomas ist eine der typisch joh. Jüngergestalten. In den synoptischen Erzählungen wird er in der Auflistung des Zwölferkreises um Jesus benannt, spielt aber außerhalb der Auflistung keine explizite Rolle.1 Im Joh hingegen bekommt er durch mehrere Auftritte ein eigenes Gewicht. Auch hier wird er ‚den Zwölf‘ zugordnet (20,24) und ist damit Teil des Figurenkollektivs ‚die Jünger‘, welches allerdings nicht konstant stabil ist. Inwiefern Thomas diesen Gruppen zugeordnet wird, wird in den jeweiligen Szenen besprochen. Im Joh wird Thomas siebenmal namentlich in fünf Szenen erwähnt. Dabei liegen vier der Nennungen in 20,24–29, sodass diese Episode als Schwerpunkt der Figur festgehalten werden kann. Thomas Ersterwähnung erfolgt in 11,16 im Verlauf der Episode der Erweckung des Lazarus. In 14,5 stellt Thomas innerhalb von Jesu ‚Abschiedsrede‘ eine Frage. 20,24 stellt einen Nachtrag zur vorausgehenden Szene dar und eröffnet die Episode vom beinah idiomatisch gewordenen ‚ungläubigen Thomas‘, binnen derer er weitere viermal genannt wird. Seine letzte Erwähnung findet sich in 21,2 innerhalb der Aufzählung des Jüngerkollektivs, welches dem auferstandenen Jesus am See Tiberias begegnet. Insbesondere ist anzumerken, dass eine Berufungserzählung fehlt.
2 Einzelanalyse der Szenen 2 Einzelanalyse der Szenen
2.1 Szene 1 (11,7–16) Thomas’ erster Auftritt erfolgt unvermittelt in 11,16. Nachdem Jesus in 10,42 auf die östliche Seite des Jordans geht, wo viele zum Glauben kommen (10,42), wechselt der Erzähler den Schauplatz. Er führt den Leser nach Betanien und stellt die Geschwister Lazarus, Maria und Martha vor. In 11,3 wird mit der Botschaft der Schwestern an Jesus der Fokus wieder auf diesen verlagert. Jesu Reaktion wird berichtet, die darin besteht, dass er noch zwei Tage vor Ort bleibt. Mit seinem Aufruf zum Aufbruch (11,7) setzt die Szene ein, in 1
Mt 10,3; Mk 3,18; Lk 6,15; Apg 1,13.
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Teil VI: Thomas
der Thomas erstmalig genannt wird. Anschließend, in 11,17, erreicht Jesus Betanien, wo er Lazarus verstorben und beide Schwestern trauernd vorfindet. Der Ortswechsel markiert das Szenenende, sodass sich Szene 1 klar abgrenzen lässt. Die Episode (11,1–45) enthält das fünfte, durch Martha provozierte Ich-bin-Wort Jesu „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (11,25) und gipfelt in der Auferweckung des Lazarus von den Toten (11,43 f.). Auch 11,46–12,11 sind in besonderem Maße mit der Episode verbunden, da nicht nur in 12,1–3 das Geschwistertrio Lazarus, Martha und Maria erneut auftaucht und 12,9–11 auf 11,44 f. rückverweist, sondern 11,2 sich sogar in einer (analeptisch formulierten)2 Prolepse auf 12,3 bezieht. So bildet 11,1–12,11 den Kontext von Thomas’ erstem Auftritt.3 Für die Einzelszene 11,7–16 ist der Ort der Handlung in 11,6 angegeben, da Jesus „an dem Ort“ bleibt. Somit ist die letzte Ortsnennung der einzige Anhaltspunkt: die „andere Seite des Jordans“, der „Ort, wo Johannes war“ (10,40). Zeitlich bietet 10,22 einen Hinweis durch den Aufenthalt Jesu in Jerusalem zum Tempelweihfest4 im Winter. Wie viel Zeit seitdem vergangen ist, wird nicht ausgeführt. 11,55 weist jedoch darauf hin, dass das Passafest kurz bevor steht; 12,1 setzt 6 Tage vor dem Passafest ein. Als Jahreszeit ist also Frühling (vor dem 14. Nisan, Jesu Todestag nach dem Joh) anzunehmen.5 Über die Tageszeit wird keine explizite Auskunft erteilt, aber der Morgen oder zumindest Vormittag ist naheliegend, da Jesus andeutet, bei Tageslicht reisen zu wollen (11,9 f.) und der Aufbruch unmittelbar bevor steht. Die Figurenkonfiguration besteht aus Jesus und seinen Jüngern. Die Situation ist damit umrissen, dass Jesus nach einem Steinigungsversuch durch ‚die Juden‘ (10,31) vor diesen aus Judäa zum jenseitigen Jordanufer flieht (10,39 f.) und dort viele Menschen zum Glauben kommen. 11,3 schildert die Botschaft von Maria und Martha aus Betanien, dass ihr Bruder Lazarus schwer erkrankt ist. Eine Bitte um Jesu Kommen scheint in dieser Nachricht impliziert (vgl. 11,6.11.17.21.32). Den Moment des Aufbruchs zur Reise nach Betanien (zwei Tage später) schildert die zu untersuchende Szene. Bis auf 11,13, wo der Erzähler einen Einblick in die Gedanken der Figuren bietet, ist die Szene dialogisch strukturiert und lediglich Erzählereinwürfe zur Nennung der Sprecher unterbrechen die Figurenrede. Markant ist die zeitliche Abgrenzung am Szenenbeginn. Während 11,6 bereits mit „zwei Tage“ als Dauer von Jesu Aufenthalt endet, setzt 11,7 mit (später) ein. Das anschließende markiert die zeitliche 2
Die Erklärung zur Figur Maria (im Aorist) weist auf ein noch nicht erzähltes Ereignis hin. Das Tempus ( ) und Erwähnung bei der Figureneinführung suggerieren, dass das Ereignis in die Vergangenheit einzuordnen ist oder dass der Leser bereits von ihm weiß. 3 Zur Bedeutung von dem Thema dieser Episode für Thomas vgl. 3.1.4; 6.1. 4 Vgl. dazu Theobald, Joh 1–12, 690 f. 5 Vgl. Ruckstuhl, Chronologie, 13, 20 f.
2 Einzelanalyse der Szenen
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Abgrenzung explizit. Neben dem Zeitsprung – Jesus wartet, nachdem er die Erkrankungsnachricht erhalten hat, sodass er Lazarus auferwecken und nicht lediglich heilen muss, als er Betanien erreicht6 – betonen die dreifachen Zeitangaben zweierlei. Erstens grenzen sie die folgende Szene deutlich von der vorausgehenden ab und erlauben, unabhängig von der dringlichen Bitte der Schwestern, die den Fokus auf das Themenfeld Krankheit-Heilung rückte, ein anderes zu etablieren (s. u.). Zweitens gewinnt ‚Zeit‘ als eigenes Thema Bedeutung. Jesu Appell zum Aufbruch in 11,7 knüpft logisch an 11,1–6 an. Aufgrund der fünfmaligen Lexemhäufung von / (11,1.2.3.4.6) ist, nachdem Jesu Heilungsmächtigkeit bereits mehrfach erzählt wurde (4,46–54; 5,5.8 f.15; 9,7.11b.14b), eine Heilung durch Jesus zu erwarten. Jesu Aufbruchsvorhaben kann so als Auftakt einer Heilungserzählung vermutet werden. Unterstrichen wird die Heilungserwartung durch die – bis dahin innerhalb der emotionalen Figurenkonstellation des Joh einzigartige – persönliche Beziehung der Hilfesuchenden zu Jesus (11,2.3.5). Die zwei Handlungen, die Jesu Reaktion auf den Erhalt der Nachricht der Schwestern ausdrücken, stützen diese Vermutung. Jesus sagt, dass die Krankheit nicht „zum Tode“ ( ) ist (11,4) und verzögert seinen Aufbruch, sodass keine Dringlichkeit gegeben zu sein scheint. Gleichzeitig steigert sich die Erwartung auf die Heilung, sodass V. 7 vorausdeutend wie ein Auftakt zur Heilungserzählung klingt. Der Einwand der Jünger bezieht sich hingegen auf 10,31.39 zurück, wo die versuchte Steinigung durch ‚die Juden‘ erzählt wird. Einleuchtend ist dieser Bezug vor allem, weil Jesus als Ziel ihrer Reise nicht explizit den Ort Betanien, sondern allgemein Judäa nennt. Ferner ist nicht klar, ob den Jüngern der Bezug zu Lazarus deutlich ist, da Jesu Aufbruchsankündigung nach zwei Tagen für sie nicht mehr in dem situativen Kontext steht, in dem sie der Leser vorfindet. Der Jüngereinwurf ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen kontrastiert das Zeitwort die vom Erzähler bewusst ausgedehnte Zeitspanne. Zum anderen ist das Prädikat des zweiten Satzes bemerkenswert. Die konjugierte Form reduziert den Plural in Jesu Aufforderung auf eine Person, Jesus selbst. Damit wird primär ausgedrückt, dass Jesus derjenige ist, der in Gefahr ist. Darüber hinaus kommt in der Reduktion des grammatikalischen Subjekts auf ihn und dem Umgehen der Ortsnennung eine Zurückhaltung zum Ausdruck, mit Jesus nach Judäa (explizit: ) zu gehen. Ferner ist das Lexem, das im Joh bereits mehrfach Jesu Weggang aus der Welt, seinen Weg zum Vater, ausdrückte (7,33; 8,14; vgl. 14,28; 16,5a.10.17). Somit führen die Jünger gleich doppelt den Tod Jesu in die 6
Gegen Thyen, Joh, 515. Ihm ist aber insofern zuzustimmen, als die Wartezeit nicht diegetisch bedingt ist (Lazarus hätte auch ohne Jesu Warten gestorben sein können und Jesu Handeln hängt nicht vom Ergehen anderer ab). Stattdessen dient die Wartezeit dem Spannungsbogen und ermöglicht das Lesermissverständnis (11,11.13).
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Teil VI: Thomas
Lazarusepisode ein. (Jesus selbst spielt dieses Motiv bereits vor der untersuchten Szene in 11,4 durch das Lexem „Verherrlichung“ in diese Episode ein.7) Ein völlig unerwartetes Thema birgt Jesu Bildwort in 11,9 f. Jesus antwortet damit explizit auf den Vorwurf der Jünger. Vordergründig ist es ein beschwichtigender Einwand, der aussagt, dass sie bei einer Reise am Tag nichts zu befürchten haben. Das Stolpern wäre demzufolge eine Litotes für die tödliche Gefahr. Doch eine Reduktion auf diesen situativen Kontext greift zu kurz. Zum einem wird das ständige Thema, Zentrallexem und gleichzeitige Wertungswort ‚Licht‘, welches seit 1,5 im Dualismus von Licht und Finsternis steht, doppelt erwähnt. Hier eröffnet sich ein weiter Interpretationsraum, der auf drei Szenen rückverweist. Erstens weist der Ausdruck ! " # – hier spezifiziert durch $ # – auf die Referenzformulierung im Ich-bin-Wort in 8,12 (und 9,5) zurück. Zweitens wird der Tag-NachtDualismus, der bereits in 9,4 anklang, in anderer Metaphorik aufgegriffen.8 Drittens wird die Metapher des Sehens aufgeworfen, welche anhand der Heilung des Blindgeborenen ausführlich behandelt9 und mit der Frage nach der Sünde verknüpft wird (9,2.39.41). Die vordergründige, sofort einleuchtende Aussage „am Tag stolpert man nicht, in der Nacht schon“, wird durch die Wortwahl, durch die (eigentlich nicht notwendige,) jeweils durch % eingeleitete Begründung der Thesen und durch die Darbietung einer allgemeinen Regel statt einer auf die konkrete Situation bezogenen Antwort metaphorisch aufgeladen. Eine vollständige Ausdeutung von 11,9 f. muss an dieser Stelle unterbleiben.10 Zwar ist über das Verb ‚sehen‘ eine gewisse Nähe zu Thomas’ drittem Auftritt (seiner Einforderung gegenüber den anderen Jüngern, Jesus zu sehen, bevor er glaube) suggeriert, jedoch differenziert der griechische Text zwischen &'( in 11,9 und ) in 20,25, sodass diese Nähe auf den ersten drei Ebenen der Lexemhäufungen nicht gestützt wird. Durch den Hin-
7 L. Schenke deutet Jesu Aussage als Leseransprache mit Deutungsanweisung der Gesamtepisode (10,40–11,54 nach seiner Gliederung) (vgl. ders., Johannes, 210). 8 Während 9,4 von einem einmaligen Nacheinander von Tag und Nacht (Tag jetzt, Nacht in unbestimmter Zukunft) spricht, deutet 11,9 f. eine repetitive Folge an. Hier ist eine allgemeine Regel formuliert, welche überzeitlich allgemeingültig ist und das Subjekt in seiner Entscheidung, am Tag oder nachts umherzugehen, fokussiert. 9 Neben der inhaltlichen Veranschaulichung durch die ausführliche Schilderung eines Blindenheilungswunders kommt auch das Lexem &'( 13-mal in der gesamten Episode (Kap. 9) vor. 10 Siehe dazu u. a. Bultmann, Evangelium, 304 und Schenke, Johannes, 222 (Jesus muss seine begrenzte, bereits festgelegte Zeit ausnutzen); Haenchen, Joh, 401 (Betonung des Reiserisikos); Thyen, Joh, 516 (an die Jünger gerichteter Mutzuspruch); Wengst, Joh II, 17 f. (Nachfolge als „‚Lebenswandel‘ im Lichte Jesu“ angesichts der Passion).
2 Einzelanalyse der Szenen
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weis auf die zeitliche Einteilung des Tages in zwölf Stunden11 ist erneut das Thema Zeit, diesmal als Strukturierungsmerkmal, benannt. In 11,11 greift Jesus die konkrete Situation wieder auf. Auffällig ist, dass der Erzähler Jesu Figurenrede erneut einführt, obwohl er bereits unmittelbar zuvor der Sprechende war. Dies strukturiert die Szene. Sprachlich gliedert das an dieser Stelle die vorliegende Szene in zwei Teile. 11,7–10 ist somit der erste, 11,11–16 der zweite Dialog. Durch die Wiederholung des in V. 11a wird ein Themenwechsel eingeleitet, der den zweiten Dialog bestimmt: Lazarus’ Tod. Dieses wird aber für Jünger und Leser gleichsam uneindeutig durch eine metaphorische Rede Jesu eingeführt.12 Dabei werden zwei Numerus-Wechsel vollzogen. Lazarus wird von ihm als „unser Freund“ (11,11) bezeichnet, sodass nun – im Gegensatz zur Einführung der persönlichen Beziehung in 11,3 durch die Schwestern – die Jünger in der Figurenkonstellation in das Freundschaftsverhältnis integriert werden. Zugleich spricht Jesus in Abgrenzung zu seinem Kohortativ in V. 7 hier im Singular. Innerhalb der erzählten Situation unterstreicht Jesus so sein festes Vorhaben, zu Lazarus nach Judäa zu gehen, unabhängig vom Einwand der Jünger und die Apposition ‚unser Freund‘ verstärkt die appellative Funktion in Bezug auf das Mitgehen der Jünger. Diese begegnen Jesu Aussage ausweichend, als sei der Gang nach Judäa unnötig, da Lazarus sich bereits auf dem Weg der Genesung befände. Die Verwendung des Futurs bei * scheint sogar eine zwangsläufige Folge unabhängig von Jesu Besuch (und dem der Jünger) zu implizieren. Andererseits kann auch Jesus als Handlungssubjekt des passiven * angesehen werden.13 Somit ist der Einwurf der Jünger nicht eindeutig. Nach der ersten Lesart scheint er zunächst zwar positiv die Rettung des Kranken zu proklamieren, bringt aber als Einwand eine weitere Hemmung zum Ausdruck.14 Nach der zweiten Lesart greifen die Jünger Jesu Verheißung in 11,11 auf und drücken Zuversicht darüber aus, dass Lazarus gesund wird, wenn Jesus ihn heilend aufsucht. Konträre Sprechmotivationen sind also möglich. Dass sie den Schlaf und nicht Jesu Aufsuchen als Bedingungen nennen ( + , - ), ordnet die erste Lesart als plausiblere vor. Zugleich fällt auf, dass sie nicht von Heilung oder Genesung, sondern von ‚Rettung‘ sprechen. Damit wird ein heilstheologisch aufgeladener Begriff eingeführt (1,17), der durch übrige Belegstellen direkt mit Jesus (und seiner Weltrettung) verknüpft ist. Da den Jüngern diegetisch – insbesondere durch die Darlegung des Jün11
12 Stunden umfasst die Zeitspanne von Sonnenaufgang bis -untergang unabhängig von der eigentlichen Länge des Tages. Eine Stunde ist folglich keine festgelegte Zeitspanne. Vgl. auch Barrett, Evangelium, 390. 12 C. Barrett sieht die Metapher Jesu als für den Leser deutlich verständlich (vgl. ders., Evangelium, 391). 13 Vgl. Förster, Johannes, 347–349. 14 Vgl. Schenke, Johannes, 222.
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germissverständnisses15 durch den Erzähler (11,13) – diese Ebene nicht deutlich sein kann, fungiert es als Signal für den Leser.16 Die vordergründige Ebene abseits der bemerkenswerten Numerus-Verwendung liegt in einem metaphorischen Ausdruck Jesu. Jesus berichtet den Jüngern, dass Lazarus eingeschlafen sei, was seine Jünger missverstehen, indem sie die Metapher wörtlich nehmen und nicht die Sinnebene des Sterbens, welche Jesus meint, erkennen. Diese Diskrepanz thematisiert der Erzähler in 11,13 nach Schilderung der Jüngerreaktion. Bemerkenswert ist dies, da der Erzähler selten in Kommentierungen die Bedeutung von Figurenaussagen für den Leser entschlüsselt.17 Ferner erhält der Leser hier erstmalig die explizite Information, dass Lazarus gestorben ist, was die Erwartung einer Heilung (s. o.) zerschlägt. Zugleich erscheint durch den Erzählerkommentar das in V. 11 mitgeteiltes Vorhaben Jesu, Lazarus aufzuwecken, gesteigert. Wenn Jesus dort Lazarus’ Tod meinte, kann das .# , (11,11) im Sinne dieser Metapher nur als ‚Auferwecken vom Tod‘ verstanden werden.18 Dadurch wandelt sich das Thema der gesamten Episode. Hatten die ersten Verse des Kapitels noch auf ‚Krankheit-Heilung‘ als Themenfeld hingedeutet, ist nun offenkundig, dass ‚Tod-Auferweckung‘ das zentrale Themenpaar sein wird. Der Wissensvorsprung des Lesers wird im Folgevers diegetisch aufgeholt, indem Jesus seinen Jüngern „offen“ – d. h. nicht-metaphorisch – sagt, dass Lazarus gestorben ist.19 In zwei Worten vermittelt Jesus seinen Jüngern die neue Situation, die für die gesamte folgende Episode grundlegend ist. Die Kürze der Aussage und das Fehlen einer unmittelbaren Reaktion reduzieren den Satz auf die inhaltliche Komponente. Angesichts der einzigartigen persönlichen Beziehung Jesu zu Lazarus (s. o.) und wohl auch der Jünger (vgl. V. 11) lässt die schlichte Schilderung der Todesbotschaft Emotionen vermissen. Das Innenleben der Figuren bleibt verborgen. Jesus füllt diese Leerstelle bezüglich seiner Emotionen jedoch unmittelbar und zugleich sehr überra15 H. Förster begründet, dass 11,11–14 als „typisches johanneisches Missverständnis“ gelten kann (ders., Johannes, 355–357). 16 Vgl. Thyen, Joh, 517. 17 Dies tut der Erzähler nur in 7,39; 11,13; 21,19. Ähnlich einzuordnen sind 4,9; 6,6; [8,6;] 9,22; 12,6; 13,11; 20,15, wo der Erzähler Kontextinformationen bietet oder Einblick in die Sprechmotivationen von Figuren gibt, die jedoch keine zusätzlichen Informationen über die Aussageinhalt liefern. 18 Nach 5,21 war eine Erzählung mit solchem Inhalt bereits ermöglicht, wenn nicht sogar zu erwarten. 19 Die schrittweise zunehmende Klarheit von Jesu Worten gegenüber seinen Jüngern (V. 9 f.11.14 f.) versteht T. Brodie als Sprechbewegung Jesu zu den Jüngern parallel zu der Reisebewegung zu Lazarus. Sie werden damit zum eigentlichen Ziel der Reise (vgl. ders., Gospel, 390). Dass 11,9 f. inhaltlich nicht der Schlafensmetapher entspricht, dass diese Bewegung auf die Jünger zu von Thomas nicht verstanden wurde und dass weiterhin die Jünger missverstehen und ihr Glaube in 11,45 und 12,11 unerwähnt bleibt, schmälert die Plausibilität dieser Deutung.
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schend: Er freut sich. Als Grund gibt er nicht Lazarus’ Tod an, sondern die Jünger und als Zweck seiner Freude ihr Glauben (als Verb), weil er „nicht dort war“. Inwiefern Jesu Abwesenheit in Betanien und Lazarus’ Tod dem Glauben der Jünger dienen, wird hier nicht deutlich. Die diegetische Auflösung wäre, dass Jesus, wenn er dort gewesen wäre, heilend eingegriffen hätte und so eine Auferweckung (im Sinne eines größeren Wunders) unmöglich gewesen wäre, da diese Lazarus’ Tod durch die Krankheit voraussetzt. Die groteske Deutung, dass Jesu Freude sich auf Lazarus Versterben bezieht, steht im Kontrast zu der vom Erzähler eingeführten emotionalen Figurenkonstellation und muss deshalb ausscheiden. Eine eingehende Analyse von Jesu Innenleben in der Betanien-Episode (insbesondere 11,33.35) muss hier unterbleiben. Jesu erneuter Appell zum Aufbruch (wieder im Kohortativ) unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von seiner Sprechhandlung in 11,7. Zum einen konkretisiert er das Ziel durch das / 0 , welches den Zielort Judäa durch eine Zielfigur ersetzt. Zum anderen leitet '' die Aufforderung ein. Dadurch wird jeglicher weiterer Einwand der Jünger unterbunden. Sie werden erneut integriert und die zuvor angesprochenen Themen (Lazarus’ Tod, Jesu Freude, das Glauben der Jünger) werden durch das '' beendet. An dieser Stelle ist nun die Erwartung des Wunders wieder präsent. Jesus beendet den Dialog, um zu Lazarus zu gehen, welcher inzwischen nicht nur der Heilung, sondern der Auferweckung bedarf. Doch mit dem Ende des Dialogs bricht die Szene noch nicht ab. Überraschend tritt Thomas aus dem Jüngerkollektiv, welches seine Einwände und sein Wissen kollektiv einbrachte, hervor. Bislang nicht in der Erzählung eingeführt, wird er auch hier dem Leser nicht ausführlich vorgestellt. Einzig die Nennung seines Rufnamens 1, # und das Lexem # - * , welches ihn als Jünger zu erkennen gibt, erläutern die Figur näher. Der Name ‚Didymos‘ bedeutet ‚Zwilling‘ und wurde bereits im frühen Christentum zu deuten gesucht.20 Mit seinem ersten Auftreten verbleibt die Ausdeutung aber im Unklaren.21 Dass Thomas zu seinen ‚Mitjüngern‘ spricht, scheint bewusst gewählt. Dieser Terminus taucht als Hapax legomenon im gesamten Neuen Testament einzig hier auf und erfolgt nicht zwangsläufig. Auch ein einfaches Personalpronomen / , wie sonst sooft vom Erzähler verwendet, oder der Ausdruck ‚den anderen Jüngern‘ hätten das Objekt eindeutig zugeordnet. Als Kombination aus der Vorsilbe # 2 und der geläufigen Vokabel für Jünger wird ein enges Verhältnis suggeriert. Ob das Mit-Sein eine emotionale oder soziostrukturelle Nähe ausdrückt, ist dabei nicht zu entscheiden. Während das 20
Insbesondere wird Thomas als Zwillingsbruder Jesu eingeordnet. Eine breite Darstellung der frühen Thomas-Traditionen (inklusive der ihm zugeordneten Namen Judas und Didymos) bietet Hartenstein, Charakterisierung, 224–241. Vgl. Theobald, Joh 1–12, 730. 21 Zu weiteren Überlegungen zu diesem Beinamen siehe 3.1.
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Lexem - * evtl. stärker die Beziehung zu Jesus (bzw. dem entsprechenden Lehrer) betont, richtet # - * (zumal im Plural) den Fokus auf die Gemeinschaft der Jünger untereinander. Wird die Figurenrede als Leseransprache verstanden, richtet sich Thomas nicht nur an die anwesenden Elf und der Ausdruck # schließt auch die Leser ein, die sich als Jünger verstehen. Thomas ergreift das Wort und erzeugt mit seinem Satz mehrere Leerstellen. Er spricht in der ersten Person Plural und fordert die Jünger mit demselben Kohortativ zum Gehen auf wie Jesus in den 11,7.15. Damit durchbricht er die zurückhaltenden Einwände der Jünger, die das Vorhaben hemmten.22 Er wiederholt jedoch nicht das lokale Ziel des Weges, sei es Judäa oder Lazarus. Stattdessen betont er das Subjekt: wir. Sein 3 umfasst die Gruppe der Jünger, nicht aber Jesus. Dass Jesus aus diesem Gespräch ausgeschlossen ist, wird mehrfach deutlich. Erstens hatte dieser den Dialog mit dem durch '' eingeleiteten Ruf zum Aufbruch beendet (s. o.). Zweitens sagt der Erzähler explizit, dass sich Thomas an die Jünger richtet. Drittens setzt das „auch“ ( ,) in Thomas Rede voraus, dass jemand definitiv geht oder bereits (los)gegangen ist, was nach der Erzählsituation nur Jesus sein kann. Bedeutet diese Aufforderung, dass Jesus bereits geht und die Jünger noch zögern?23 Oder ist Thomas’ Reaktion eine verspätete auf V. 11, wo Jesus sein Gehen im Singular ankündigt? Möchte Thomas lediglich Jesu Worte unterstreichen? Nicht die Klärung solcher diegetischen Leerstellen erfolgt hier, sondern die Sinneröffnung für den Leser, die ggf. trotz oder gerade wegen solcher offenen Fragen, aber auch unabhängig von ihnen Wirkung entfaltet. In jedem Fall scheint Thomas den vorausgegangenen Dialog misszuverstehen,24 denn er ergänzt statt eines lokalen Ziels ein finales: zu sterben mit ihm. Als Bezugswort des 4 / ist zunächst sowohl Lazarus als auch Jesus denkbar. Lazarus liegt nahe, da dessen Tod unmittelbar zuvor thematisiert wurde. Allerdings ist ein gemeinsames Sterben mit ihm nicht mehr möglich, da er bereits tot ist, und ein 4 / 0 als „nach ihm“-Sterben wäre einleuchtender. So ist Jesus die wahrscheinlichere Bezugsperson.25 Der Ausspruch erinnert zudem an den ersten Jüngereinwand, der die Gefahr der Steinigung und damit des Sterbens zum Ausdruck brachte. Tatsächlich hat Jesus diese Bedenken nicht explizit für nichtig erklärt. Dennoch ging es in der
22 Auch J. Hartenstein liest so Thomas’ Einwurf als Widerspruch gegen den Jüngereinwand aus V. 8 (dies., Charakterisierung, 216). 23 In diesem Sinne ist Hartensteins Deutung von Thomas als „verlängerter Arm Jesu“ zu lesen (dies., Charakterisierung, 216). 24 Vgl. Barrett, Evangelium, 392; Bennema, Encountering, 288; Farelly, Disciples, 120. F. Moloney unterstreicht die Gegensätzlichkeit von Thomas’ und Jesu Aufbruchsintentionen: Jesus suche Glauben, Thomas Tod (vgl. ders., Gospel, 327). 25 Gegen Siegert, Evangelium, 435.
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zweiten Hälfte des Dialogs nicht mehr um diese Gefahr.26 Hat Thomas die zweite Hälfte des Dialoges verpasst? Zeugt der Aufruf von übersteigertem Eifer? Weiterhin ist nicht deutlich, was der Ausdruck „mit ihm sterben“ konkret bedeuten soll. Schließlich war bislang stets nur Jesus das Ziel von Angriffen, sodass der Tod der Jünger bislang innerhalb der Erzählung nicht erwähnt wurde. Vermutlich ist keine konkrete Vorstellung eines Sich-Dazwischenwerfens, eines kollektiven Selbstmords oder eines Sterbens im Kampf an Jesu Seite im Blick.27 Dass Thomas’ Missverstehen dennoch im direkten Bezug zu Jesu vorausgehendem Satz verstanden werden soll, signalisiert das 5 , welches an dieser Stelle zum dritten Mal in der Szene vorkommt und jeweils eine direkte Reaktion in Bezug auf das Vorausgegangene betont.28 Jedenfalls führt Thomas so das Wort ‚sterben‘ ein, welches in der gesamten Episode bedeutsam bleibt.29 Innerhalb des weiteren Erzählverlaufs findet sich der Kohortativ jedoch nicht bestätigt. Keiner der Jünger stirbt mit Jesus. Selbst der Tod von Simon Petrus, der sein Leben für Jesus geben will (13,37), wird nicht erzählt, wenn er auch angedeutet wird (13,36; 21,19). Ferner vernachlässigt eine ‚Sterbenachfolge‘ den Aspekt des ‚Mit-Sterbens‘ und entspräche also nicht dem Thomas’schen Aufruf. Wenn nun 11,16 weder innerhalb der Erzählung eine Erfüllung findet, noch eine Reaktion darauf erfolgt oder die Figurenrede einen notwendigen Abschluss des zuvor Erzählten bietet, stellt sich leicht die Frage, warum er überhaupt angegeben wird. Durch seine Handlung ist es möglich, Thomas überhaupt zu erwähnen und eine erste Vorstellung von seinem Charakter aufzubauen. Besonders der Kontext der Erstnennung und die Ermöglichung einer Entwicklung der Figur, die hier ihren Startpunkt hat, erscheinen als Gründe für seinen Appell. Die zahlreichen Andeutungen auf Jesu Tod lassen die Episode als Parallelund Vorwegerzählung zu Jesu Passion erscheinen.30 Weil Thomas sowohl Jesu Sterben impliziert als auch in dieser Episode auftritt, die als Parallelepisode zu Jesu Auferstehung fungiert, ist auf intratextueller Ebene Jesu Passion eingespielt.
26
R. Schnackenburg sieht in Thomas’ Aussage die beiden Gesprächsmotive „Gang nach Judäa-Jerusalem, der zum Tod Jesu führt, [11,7–10] und Gang zu Lazarus, um ihn vom Tod aufzuerwecken [11,11–15]“ zusammengeführt (ders., Joh II, 406). 27 U. Wilckens deutet den Satz als kollektive Bereitschaft der Jünger zum Martyrium (vgl. ders., Johannes, 177). 28 Vgl. V. 12. 29 Das Verb 6 kommt in Joh 11 neun Mal vor (im gesamten Joh 28 Nennungen). 30 Vgl. auch 5,21: 7 ) 8 , 9 9 […]: ; < ) #= […] >? . C. Barett betont die stärkere Parallele zur Auferweckung am Jüngsten Tag (vgl. ders., Evangelium, 387, 391).
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Da in der gesamten Szene (sowie im gesamten Kapitel) die Jünger lediglich als Kollektiv auftreten, agieren sie so homogen wie eine Einzelfigur. Insbesondere der Dialog lässt die Jüngergruppe zu einer Figur verschmelzen. Aus dieser tritt Thomas hervor, allerdings nicht, um sich von ihr abzugrenzen, sondern sie einigend. Bei der Analyse der Dialogstruktur erscheint er sogar als Vertreter der Jünger: Bei einer Gegenüberstellung stehen die drei Figurenreden Jesu in 11,7.9–11.14 f. drei Reaktionen gegenüber, von denen die ersten beiden von den Jüngern ausgeführt werden (11,8.12) und die letzte von Thomas (11,16). Unter dem Aspekt der Beziehungsethik ist – auch aufgrund des ausgefallenen Vokabulars, das die übrigen als „Mitjünger“ bezeichnet – dieser Befund zu berücksichtigen. 2.2 Szene 2 (14,2–6) Thomas zweite namentliche Nennung erfolgt in 14,5. Da die Szene nach den Abgrenzungskriterien Zeit, Ort und Figurenkonfiguration eine enorme Textmenge umfasst,31 ist eine Einteilung in Binnenszenen notwendig. Dafür bietet sich inhaltlich das Motiv von Jesu Weggang an. 13,33 eröffnet die Problematik von diesem. Nach der Anordnung des Liebesgebots (1. Unterbrechung) nimmt Simon das Motiv erneut auf und fragt nach dem Ziel von Jesu Weggang.32 Jesus beantwortet seine Frage nicht, sondern entgegnet nur, dass Simon ihm noch nicht folgen könne, worauf die Ankündigung der Verleugnung Simons (2. Unterbrechung) folgt. Nach einer Aufforderung zum Glauben (oder einer Feststellung des Glaubens)33, nimmt Jesus das Motiv wieder auf (14,2). Dies wird als Beginn der Szene festgelegt. Mit 14,7 leitet Jesus ein neues Motiv ein: das Erkennen des Vaters. Die Szene wird folglich auf 14,2– 6 eingegrenzt. Kontextuell ist die Szene wie folgt eingebettet:34 In 12,12–14 zieht Jesus in Jerusalem ein, wo er bis zu seinem Tod bleibt, obwohl 12,36b erneut (vgl. 11,54) Jesu Verstecken (diesmal vor dem Volk) schildert. In 13,2 beginnt ein gemeinsames Abendessen von Jesus und mutmaßlich (s. u.) seinem Zwölfer31 In der Episode 13,31–14,31 gibt es kein Anzeichen für die Änderung von Ort, Zeit oder Personenkonstellation. Der Erzähler gibt einen Ortswechsel erst in 18,1 an, wobei Jesus in 17,1 bereits gen Himmel blickt, was ein Verlassen des Hauses nach Jesu Aufruf dazu (14,31) implizieren könnte. In Joh 17 sind auch die Jünger als in Jesu unmittelbarer Nähe befindlich ausgeblendet. 32 Vgl. dazu Teil III – Petrus: 2.4. 33 Das Verb @ in 14,1 kann sowohl als Indikativ als auch als Imperativ gelesen und übersetzt werden, wobei letztere Lesart die häufiger gewählte ist. Mit doppeltem Imperativ übersetzen u. a. Brown, Gospel II, 6,17 f.; Moloney, Gospel, 392; Schnelle, Evangelium, 250; Thyen, Joh, 616; Wilckens, Johannes, 219; mit Indikativ (glauben an Gott) und Imperativ (glauben an Jesus) Schenke, Johannes, 280. 34 Für eine ausführliche Analyse der vorausgehenden Szenen in Joh 13 vgl. Teil III – Petrus: 2.3; 2.4; Teil V – Judas: 2.3.
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kreis. In 13,30 verlässt Judas die Gemeinschaft und geht ‚hinaus‘. So ist wohl die zu untersuchende Szene in einem Jerusalemer Haus anzusiedeln. Ebenfalls in 13,30 erhält der Leser die Information, dass es Nacht ist. Der Erzählverlauf erklärt im Nachhinein, dass es die letzte Nacht vor Jesu Kreuzigung (die Nacht auf den 14. Nisan) ist. Auffällig ist die Entschleunigung der Erzählzeit, die ab Joh 13 einsetzt. Sind zuvor oft mehrere Stunden, Tage oder Monate gerafft oder durch Ellipsen ausgespart worden, nimmt das Erzähltempo nun ein starkes Ritardando ein.35 Die Kapitel 13–19 spielen innerhalb von rund 24 Stunden, 13,30–18,27 sogar in derselben Nacht. Durch die nahezu ausschließliche Wiedergabe von Figurenrede in 13,31–17,26 sind Erzählzeit und Erzählte Zeit überwiegend synchron. Neben dem Erzähltempo ändert sich mit 13,1 auch die Situation grundlegend: Lange im Erzählverlauf vorbereitet, ist nun Jesu ‚Stunde‘ gekommen. Ohne dass es explizit erwähnt wird, ist Jesus bis zu seiner Gefangennahme (18,3–12) ausschließlich mit seinen Jüngern zusammen (Anwesenheit der Jünger in 13,5 u. ö.). Er isst mit ihnen, wäscht ihnen die Füße, kündigt den Verrat durch einen der Jünger an und hält seine sogenannten Abschiedsreden, zu denen auch die hier abgegrenzte Binnenszene gehört. Es sind in der Gesamtszene (13,31–14,31 bzw. 18,1a)36 Jesus und elf37 Jünger anwesend, die nicht alle namentlich bekannt sind. Die gesamte ‚Mammutszene‘ ist durch Monologe Jesu geprägt, die lediglich durch wenige Einwürfe der Jünger (und einen kurzen Erzählereinwurf in 16,19) unterbrochen werden. Hinsichtlich des in der zu untersuchenden Szene zentralen Motivs (‚Jesu Weggang‘) sind noch drei Verse zu benennen: In 14,12b beantwortet Jesus schließlich Simon Petrus’ und Thomas’ Frage: „Ich gehe zum Vater.“ In gewisser Weise wird damit das Motiv ‚das Erkennen des Vaters‘ als ‚zum Ziel des Weggangs Jesu gehörig‘ in dieses Motiv eingebettet. In den Versen 14,19.28 bezieht sich Jesus jeweils erneut auf dieses Motiv, ohne es auszuführen. Bemerkenswert ist, dass Jesus in 16,5 seinen Jüngern vorwirft, dass sie nicht fragen, wo er hingehe, obwohl Petrus diese Frage bereits in 13,36 explizit formuliert hat. Diese kontextuellen Verankerungen werden bei Bedarf in die Analyse einbezogen. Nachdem Jesus nach Simon Petrus’ Anfrage („Wohin gehst du?“) mit diesem einen kurzen Einzeldialog führte (13,36–38), wendet er sich in 14,1 mit einem Imperativ wieder an alle Jünger. Der Einzeldialog mit Petrus beinhaltet dessen Vorhaben, sein Leben für Jesus geben zu wollen. Obwohl die Formu35
Vgl. auch die Gliederung von T. Brodie gemäß der Erzählten Zeit (ders., Gospel, 73–
75). 36
Zur Problematik der Abgrenzung s. o. Die genaue Anzahl der anwesenden Jünger ist eine Leerstelle. Nur fünf Jünger sind benannt, mehr als elf sind durchaus möglich. Eine Begründung für die Annahme der Elfzahl findet sich innerhalb der Einleitung (Teil I) in 4.1.3. 37
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lierung eine gänzlich andere ist, bietet sich 11,16 als Referenzmotiv an. Erneut wünscht sich ein Jünger einhergehend mit Jesu Sterben den Tod. Petrus spricht jedoch – anders als Thomas zuvor – nur für sich. Dass Jesus in 14,2 behauptet, er habe gesagt, er gehe um den Jüngern die Stätte zu bereiten, ist zumindest dem Leser neu, da es keine Referenzformulierung gibt und sich das Motiv hier erstmalig findet.38 Obwohl Jesus sein eigenes Zitat für die Wahrhaftigkeit seiner vorausgegangenen Behauptung heranzieht, soll wohl nicht suggeriert werden, dass diese dementsprechend nicht stimmt. Vielmehr schärft sie die Aufmerksamkeit des Lesers, genau auf Jesu Worte zu achten oder regt an, „zurückzublättern und nachzudenken“.39 Prinzipiell ist durch die raffenden und elliptischen Erzählpassagen nicht vorausgesetzt, dass jede Aussage Jesu erzählt wurde (vgl. insbesondere 20,30). Das Verb @ , das Jesus hier für ‚gehen‘ verwendet, ist nicht unbedingt typisch für sein Gehen zum Vater, findet sich aber in Joh 14 besonders häufig.40 Weniger häufig als , wird es nahezu synonym verwendet.41 Aufschlussreicher als die Untersuchung der Lexemhäufungen auf zweiter Ebene (Lexem in Grundform) ist die der konkreten Form. In der 1. Pers. Sg. wird sie nur fünfmal im gesamten Evangelium und zwar ausschließlich von Jesus gebraucht. Die drei weiteren Belege (14,12.28; 16,28) innerhalb der Abschiedsreden sind dabei mit der adverbialen Bestimmung ‚zum Vater‘ verknüpft. Die erste Verwendung findet sich in 11,11, wenige Verse vor Thomas’ erstem Auftritt. Im Gegensatz zu 14,2 verwendet Jesus in 11,4 , das er ausschließlich für seinen Weggang aus der Welt gebraucht.42 Damit ist das Gespräch spätestens dort der irdischen, nicht-metaphorischen Rede vollständig enthoben. Durch die Wortwahl dominiert die bildliche Sinnebene die wörtliche. Dass Jesu Gehen sein Sterben impliziert, ist dem Leser bereits klar.43 In die38
U. Wilckens verweist auf Jesu Verheißungen in 12,26.32; 13,33.36 (vgl. ders., Johannes, 223). 39 Schenke, Johannes, 282. 40 Vier von insgesamt fünfzehn Belegen (inkl. drei Belegen innerhalb von 7,53–8,11; zuzüglich zweimal @ ). 41 G. Fischer argumentiert überzeugend für einen bewussten Wechsel des Verbs in Joh 14, indem er als negativen Ausdruck, der die Trennung betont, und @ als positiven Ausdruck der Verherrlichung und des Heils für die Jünger darstellt (vgl. ders., Wohnungen, 75–80). Für räumliche, nicht primär metaphorische Figurenbewegungen werden am häufigsten Formen von A und & , verwendet. 42 In 21,3 benutzt ferner Simon Petrus das Lexem, um den Jüngern mitzuteilen, dass er fischen geht. 43 Abseits einer mutmaßlichen Kenntnis des Lesers vom Plot der Jesus-Erzählung gibt es auch textinterne Indizien: Vgl. z. B. 2,21 f.; 6,51b; 7,1.32; 8,20b; 10,11.15b; 11,51–53; 12,7.33; 13,1. E. Ruckstuhl und J. Pfammatter betonen die Verbindung zur Himmelfahrt und stellen bei 35 Belegen einen Schwerpunkt in den Abschiedsreden fest (vgl. dies.,
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getischer Perspektive zeigen die Jünger ein solches Verständnis jedoch nicht (s. u.; vgl. 16,17 f.29). In 14,3 verheißt Jesus den Jüngern seine Rückkehr und ein zweites Fortgehen. Dies ist ein neues Motiv, das bislang nicht mit dem Thema ‚Jesu Weggang‘ verknüpft war44 und was das zu erwartende diegetische Ende verändert – Jesus wird letztendlich nicht in der Welt bleiben. Die Formulierung, dass er die Jünger ( ) bei sich haben möchte, erinnert an 12,26.32.45 An letztgenannter Stelle kündigte er bereits an, dass er „alle“ zu sich ziehen werde. Die Gemeinschaft von Jesus und seinen Jüngern wird seit Kapitel 13 zunehmend betont. Die Abgeschiedenheit der Situation, das gemeinsame Essen, die Fußwaschung mit der metaphorischen Ebene der Anteilhabe an Jesus, die Möglichkeit für ehrliche Worte (Ankündigung von Verrat und Verleumdung) und das Verlassen des Verräters der Gemeinschaft bauen schrittweise eine Atmosphäre der Intimität auf. Die chiastische Wortstellung in V. 3b ( + < B < ) verbindet auch durch den Satzbau unterstrichen das ‚ich‘ mit dem ‚euch‘. Zugleich erinnert der Chiasmus an V. 1, wo Jesus Gott und sich – ebenfalls vom gleichen Verb gerahmt – zentriert nebeneinander stellt. So verdichtet sich durch den Kontext, die Atmosphäre, die Figurenkonfiguration und den Inhalt von Jesu Sprechhandlung an dieser Stelle das im ganzen Evangelium bedeutsame Motiv der doppelten Einheit: Einerseits zwischen Jesus und Gott bzw. dem Sohn und dem Vater und andererseits zwischen Jesus und seinen Jüngern.46 Jesu Rede innerhalb der Binnenszene ist durch eine starke Ausrichtung auf die Jünger geprägt, wenngleich er selbst das Subjekt der beschriebenen Handlungen ist. Deutlich wird ersteres durch die vielen Personalpronomina in der 2. Pers. Pl. Allein in den ersten drei Versen finden sich sieben Formen von . Gerade im Vergleich zu dem vorausgegangenen Einzelgespräch mit Simon wird durch das grammatikalische (und Erlebens-)Objekt betont, dass das Jüngerkollektiv im Blick und als Dialogpartner gedacht ist. In 14,4 verschiebt sich das Gesprächsthema vom Zweck und den Folgen von Jesu Weggang auf das Ziel und den Weg von diesem47. Beide Bereiche Auferstehung, 188, 198 f.). Obige Auflistung klammert die Nennungen, die im Erzähltext nach dieser Szene (also nach 14,6) erfolgen, bewusst aus. 44 10,17 f. spielt auf die Auferstehung Jesu an, nicht aber auf ein zweites Verlassen der Welt. 45 Ein detaillierter Rückbezug auf 12,26 muss hier ausbleiben. V. a. ist anzumerken, dass das Motiv des Dienens nach 13,4–16 grundlegend anders zu betrachten ist als zuvor. Vgl. ferner 10,28. 46 Exemplarisch seien 10,30 und 17,21 genannt. 47 J. Hartenstein erwägt, dass sich ) " auf die Jünger bezieht und also ihren Weg meint (vgl. dies., Charakterisierung, 218). So urteilt auch Wengst, Joh II, 119. Dies ist erst in einem zweiten Schritt aus dem Kontext zu lesen, da insbesondere die Verben der Bewegung ausschließlich auf Jesus (als Subjekt) deuten. Da die Jünger als Nachfolgende (vgl.
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werden in das Wissen der Jünger einbezogen, wobei der Weg das direkte Bezugsobjekt ist.48 Dabei betont das % # als unbestimmte Ortsangabe die Raummetaphorik. Im Anschluss an 14,2 ist der Ort mit dem ‚Haus des Vaters‘ erklärt.49 Der Weg dorthin wird nun erstmalig thematisiert.50 Welche Relevanz die Kenntnis des Weges Jesu für die Jünger hat, wird von diesem nicht genannt. Sowohl Befriedigung von Neugierde als auch die Notwendigkeit der Kenntnis für die Nachfolge auf diesem Weg sind nach 13,36 plausible Begründungen. Innerhalb der Sprechhandlungsbezogenheit scheint Jesus die Bemerkung jedoch eher nebenbei zu machen und ein anderes Thema fokussieren zu wollen, da er sich auf das Jüngerwissen bezieht und den Inhalt nicht eigens darlegt. Jesus gibt damit einen Einblick in das Wissen der Jünger. Eine solche Äußerung ist, sofern sie nicht von dem Erzähler als allwissender Instanz oder einer Figur als Selbstoffenbarung stammt, zunächst zu bezweifeln. Durch Jesus als Sprecher erscheint der Wahrheitsgehalt allerdings hoch,51 sodass ein Rückschluss auf das Innenleben des Jüngerkollektivs zulässig ist (vgl. aber untere Ausführungen). Wenn im Joh über eine Kenntnis gesprochen wird, finden sich die Verben C und D , zum Teil äquivalent eingesetzt, deren Lexemhäufungen hier als für Thomas zentrales Wortfeld (s. u.) zu untersuchen sind. Ersteres wird verstärkt benutzt, wenn es um das Erlangen von Wissen oder das Kennen eines Menschen (bzw. einer anderen Figur) geht. Das Lexem D betont das Wissen um einen Sachverhalt. Ein spezieller Sachverhalt ist mit D besonders häufig verknüpft, nämlich die Kenntnis von Jesu Herkunft. Mit dieser Kenntnis sind seine Glaubwürdigkeit und seine Legitimation verbunden. Diese werden mehrfach von Figurengruppen in Frage gestellt, die sich jeweils in ihrer Kollektivzugehörigkeit dem Kollektiv ‚die Juden‘ (in negativer Wertung als Gegenfigur zu Jesus innerhalb der Figurenkonstellation) zuordnen lassen (z. B.: 6,42; 7,27; 8,14; 9,29). Das Verb D taucht 60mal in Figurenrede auf und wird im Wesentlichen dazu benutzt, das eigene Wissen und das Nicht-Wissen der oder des Gesprächspartner(s) zu offenbaren.52 v. a. 13,36) aufgefasst sind, könnte der Weg der Jünger aber dem Jesu entsprechen (vgl. obiger Abschnitt zur Ausrichtung von Jesu Rede auf die Jünger). Vgl. auch Barett, Evangelium, 448; Moloney, Gospel, 395; Thyen, Joh, 622. 48 Dadurch erscheint der Satz in sich gebrochen. C. Barrett stuft ihn demzufolge als „grammatikalisch unmöglich“ ein (ders., Evangelium, 447). 49 Der Leser ist bereits seit 13,1.3 darüber informiert, dass Jesus aus der Welt zum Vater gehen wird (s. o.). 50 Abgesehen von dem Jesajazitat Johannes, des Täufers, in 1,23 kommt die Vokabel ) 0 nur in dieser Szene vor, sodass durch die Untersuchung der Lexemhäufungen keine weiteren Referenzstellen entstehen. 51 Bzgl. Jesu übernatürlichen Wissens vgl. Teil II – Methodologie: 1.5.8. 52 Diese primäre Funktion stützen 32 explizite und 2 als Fragen formulierte Belegstellen im gesamten Evangelium. Ausnahmen, in denen D in der 3. Pers. vorkommt, sind
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Eigenes Nicht-Wissen als Selbstoffenbarung gestehen lediglich in Joh 9 der Blinde und seine Eltern im Gespräch mit ihren Kritikern ein (9,12.21.25), die Jünger im Gespräch mit Jesus (14,5; 16,18) und Maria Magdalena in 20,2.13. Außerdem nutzen die Pharisäer (ebenfalls in Joh 9) ihr Nichtwissen zur Argumentation gegen Jesu Autorität (9,30). Da E nur viermal im Evangelium nicht verneint vorkommt, dienen diese Belegstellen als Referenzformulierungen. Dabei ergeben sich zwei Ebenen: Die inhaltliche und die funktionale. Inhaltlich geht es in 7,28 um Jesu Identität (erste Belegstelle) und seine Herkunft (zweite Belegstelle). Jesus wiederholt mit seinem Verweis die Behauptung seiner Vorredner (kritische Jerusalemer), beides von ihm zu kennen. Durch Einbringen des Gesandtschaftskonzepts belegt er jedoch das Gegenteil. Die Funktion von D verweist auf kein übernatürliches Wissen Jesu, da er (ernst gemeint oder ironisch) lediglich wiederholt, was die Jerusalemer zuvor sagten. Jesus kann über das Wissen der anderen also aufgrund ihrer vorausgehenden Selbstoffenbarung Auskunft geben. In 13,17 funktioniert D ähnlich. Jesus knüpft in der Sprechhandlungsbezogenheit an ein Wissen an, das er unmittelbar zuvor seinen Jüngern mitgeteilt hat und auf das er sich direkt („dieses“) bezieht. Inhaltlich ist das Motiv des Sendenden verbindend, liegt der Fokus hier auch auf der Bedeutungsrelation innerhalb von hierarchischen53 Strukturen. 13,17 ist durch einen doppelten Bedingungssatz geschachtelt, wobei die beiden Bedingungen die Konsequenz („selig sein“54) rahmen. In den Bedingungssätzen sind (durch + und eingeleitet) ‚wissen‘ und ‚handeln‘ kontrastiert. Durch den Konjunktiv des -Bedingungssatzes wird das Seligkeitsversprechen direkt an diesen geknüpft. Somit erscheint das Wissen des ersten Bedingungssatzes wie eine allgemeine Grundlage. Da diese bereits erfüllt ist, erscheint sich eine Kausalität zu ergeben. Eine schematische Veranschaulichung findet sich in Abb. 23. In 14,4 begegnet E in einer anderen Funktion. Jesus erklärt, dass die Jünger den Weg wissen, ohne ihnen diesen zuvor mitgeteilt zu haben oder es von ihnen gehört zu haben. Inhaltlich schwingt unter Voraussetzung von 7,28 und 13,17 auch hier der Aspekt mit, dass dieses Wissen in doppelter Hinsicht nur ein erster Schritt sein kann. Das Wissen um Jesu Weg ist, wie das um seine Herkunft und Identität, an den geknüpft, der ihn gesandt hat. Ferner
lediglich 10,4 f.; 15,15.27; 18,21. Dass anderen Figuren Wissen zuerkannt wird, geschieht nur in zwei Konstellationen: Jesus als Empfänger durch Jüngerfiguren (16,30; 21,15–17) oder Jesus als Sprechender (zweimal in 7,28 an einige Jerusalemer sowie 13,17 und 14,4 an die Jünger). 53 Die beiden Paarungen sind Knecht und Herr, Apostel (=Gesandter) und der, der ihn gesandt hat. 54 Angemerkt sei, dass die Vokabel neben ihrer Nennung hier im Joh einzig am Ende von Thomas’ Szene 4 (20,29) zu finden ist.
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genügt das Wissen, welches Jesus den Jüngern vermittelt, nicht, sondern es wird eine Reaktion der Jünger verlangt. Durch Jesus erfüllt
1. Bedingung
Wissen Handeln Seligkeit
Durch Jünger zu erfüllen
2. Bedingung
Abb. 23: Zwei Bedingungen zur Seligkeit
Diese bietet Thomas, der erneut aus dem Jüngerkollektiv hervortritt. Im Gegensatz zu Simon Petrus’ Rede bezieht er – entsprechend der redeinternen Adressaten Jesu – seinen Kommentar nicht nur auf sich, sondern auf alle Jünger, indem er in der 1. Pers. Pl. spricht. Erneut scheint Thomas also vollständig mit der Jüngergruppe identifiziert. Er widerspricht Jesu Behauptung über ihr Wissen hinsichtlich beider Bereiche: Mit einem Einwand negiert er die Kenntnis des Zieles und in einer daraus abgeleiteten Frage zieht er die Möglichkeit der Kenntnis des Weges in Zweifel.55 Sein Vokabular knüpft dabei direkt an das Jesu an, sodass ‚wissen‘ ( D ), Jesu ‚Weggehen‘ ( ) und ‚der Weg‘ () 0 ) hier die für seine Sprechhandlung zentralen Lexeme sind. Als Anrede wählt Thomas den Titel ‚Herr‘ ( @ ). Dieser entspricht der gewöhnlichen Anrede56 Jesu als redeinternem Adressaten und deutet eine Unterordnung an. Dass diese Hierarchie zweifelnde Anfragen nicht verbietet, macht Thomas exemplarisch deutlich. Dass Thomas Jesus mit seinem Einwand widerspricht, bedeutet diegetisch, dass Jesus sich geirrt hat. Was dieser als den Jüngern bekannt voraussetzte und sogar in einer Fremdoffenbarung verkündete, wissen diese nicht. Zwar gibt der Text keine Auskunft darüber, ob die anderen Jünger Thomas’ Einschätzung teilen, doch der Wahrheitsgehalt der (auch für das Kollektiv ausgesprochenen) Selbstoffenbarung ist höher als der der Fremdoffenbarung. Hat 55
J. Hartenstein erwägt, Thomas als Weg-Suchenden im Gegensatz zu einem WegKennenden zu charakterisieren (vgl. dies., Charakterisierung, 252; ebenso Dschulnigg, Jesus, 324). Siehe dazu auch 6.2. F. Moloney deutet Thomas’ Einspruch als Verdeutlichung des Unwillen, Jesu Fortgang zum Vater und sein Ende im Tod wahrhaben zu wollen (vgl. ders., Gospel, 394 f.). Da aber Jesu Redeweise über seinen Weggang gerade die Verbalisierung seines Todes vermeidet (Moloney setzt zum Teil Leserwissen als Jüngerwissen voraus) und zudem Jesu Antwort neues Wissen mitteilt, scheint eher Missverständnis als Unwille im Vordergrund zu stehen. 56 Der Titel @ wird von verschiedenen Figuren als Anrede Jesu genutzt (z. B. 4,11; 5,7; 6,68; 11,3.12).
2 Einzelanalyse der Szenen
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Jesus damit bewusst das Eingeständnis des Nicht-Wissens provoziert (s. u.)? Zumindest greift Jesus Thomas’ Anfrage auf, um ihm (als redeexternem Adressaten) das sechste nicht-absolute Ich-Bin-Wort zuzusprechen. Auch wenn der vom Erzähler genannte Adressat Thomas ist, sind alle Jünger als implizite Adressaten (und nach 14,7 sogar als redeinterne Adressaten) in den Dialog einbezogen. Nach dem vorausgehenden Ich-Bin-Wort in 11,25, welches bereits zwei Identifikationen enthielt, bietet dieses nun drei: Weg, Wahrheit und Leben. Der Weg ist dabei die inhaltlich naheliegende Vokabel, obwohl zugleich eine Diskrepanz zum vorausgehenden metaphorischen Gehalt entsteht.57 Wurde in 14,4 der Weg von Jesus noch gegangen, ist er dieser in 14,6 nun selbst. ‚Die Wahrheit‘ ist ein Thema, das seit dem Prolog als Zentrallexem durch die Erzählung entfaltet wird, hier jedoch unvermittelt auftaucht. Die absolute Identifizierung Jesu mit ihr relativiert seinen vorausgehenden Irrtum oder lässt diesen als bewusst formuliert erscheinen. Schließlich wird erst durch Thomas’ Einwand Jesu Ich-Bin-Wort provoziert. Dass Jesus das Leben ist, ist dem Leser bereits aus dem vorausgehenden Ich-Bin-Wort bekannt. Neben Thomas ist dieser Begriff das zweite verbindende Element zwischen Joh 11 und 14. An Thomas gerichtet, kritisiert das Ich-Bin-Wort im Nachhinein Thomas’ Aufforderung ‚mit zu sterben‘– und auch Simon Petrus’ Wunsch der Lebenshingabe. Die drei unabhängig voneinander stehenden Begriffe werden im Nachsatz verbunden. Dass außer durch Jesus ( + 8 4 ) niemand zum Vater kommt (14,6b), impliziert (erstens) sein WegSein, da er mit seinem Weg zum Vater (und damit zur Verherrlichung am Kreuz) die mögliche Verbindung zum Vater darstellt, fordert (zweitens) sein Wahrheit-Sein, da der Glaube (das Für-wahr-halten) nur an ihn zum Vater führt, und bringt (drittens) sein Leben-Sein zum Ausdruck, da so der Tod überwunden wird und beim Vater ewiges Leben ist (vgl. 3,16; 5,24; 6,51; 11).58 Im Anschluss bringt Jesus seine Identifikation mit dem Vater erneut zum Ausdruck. Das Kennen Jesu wird mit einem Kennen des Vaters gleichgesetzt, welches sich über das Sehen den Menschen erschließt. Dass Philippus direkt im Anschluss Jesus ebenfalls nicht versteht, drückt erneut das Missverständnis zwischen den Jüngern und Jesus aus.59 Im Gegensatz zu Simon Petrus und
57 „Die räumlichen Elemente (Weg, Haus, Wohnung) wurden durch personhafte Größen – Jesus, Vater – ersetzt; das Räumliche wurde also personal interpretiert“ (Dietzfelbinger, Evangelium 2, 46). 58 Den weltumfassenden Anspruch sieht F. Bruner bereits in dem Ich-bin-Wort, nicht erst im Folgesatz, ausgedrückt: „The East has perennially longed for “the Way” (the Tao), the West for “the Truth” (Veritas), and the whole world […] for “the (real) Life“ (ders., Gospel, 812). 59 Zum Parallelaufbau der Dialoge 14,4–6 und 14,7–9 vgl. Brodie, Gospel, 473.
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Teil VI: Thomas
Philippus, wird Thomas nicht direkt kritisiert und bleibt in Jesu Antwort ins Kollektiv der Jünger integriert. Neben Themen des ersten Auftritts – Passion Jesu (im Bild vom Gehen zum Vater), Leben (unter Aussparung des Themas ‚Tod‘!) und Zugehörigkeit zur Jüngergruppe – bietet Thomas’ zweiter Auftritt, insbesondere durch die Weg-Gehens-Metapher und den Widerspruch gegen vermeintliches Wissen, weitere ethische Anknüpfungspunkte, die in den Bündelungskapiteln unter verschiedenen Perspektiven aufgegriffen werden. 2.3 Szene 3 (20,24 f.) Die dritte Szene von Thomas60 ereignet sich nach dem dramatischen Höhepunkt der Erzählung und bildet den Auftakt zu der für die Figur Thomas bedeutsamsten Episode. Nach Jesu Kreuzigung und Auferstehung erscheint dieser den Jüngern am Abend des Ostermorgens und verleiht ihnen den Heiligen Geist und die Vollmacht zur Sündenvergebung (20,19–23). Die angehängte Information (20,24) gibt an, dass Thomas in der erzählten Szene nicht anwesend war und bereitet die Episode (hier Szene 3 und 4) vor. Abgegrenzt ist die zu untersuchende Szene durch zwei Zeitsprünge61 – nach 20,23 implizit durch einen Wechsel der Situation und den Aufgriff der vorigen Situation als abgeschlossen (% ' F) und in 20,26 explizit ( 43 G C). Handlung ereignet sich allerdings nur in dem zweiten der beiden Verse (20,25). Als Ort wird Jerusalem angenommen, da dort alle Ereignisse seit Kapitel 13 lokalisiert sind und erst 21,1 eine neue Ortsangabe anführt. Ein konkreter Ort kann aber nicht benannt werden. Zeitlich ist eine unmittelbare Nähe zu der vorausgegangenen Szene unter sprachlichen und inhaltlichen Gesichtspunkten wahrscheinlich, da zum einen das griechische 5 (20,25) direkt an die Feststellung von Thomas’ Fehlen anknüpft und zum anderen die übrigen Jünger die Begegnung mit dem Auferstandenen als mitteilungswürdiges (oder vielmehr sensationelles) Erlebnis mit dringlicher Relevanz für den nicht anwesenden Jünger wohl unmittelbar weitererzählen. Auch die Zeitangabe in 20,26, die auf acht verstrichene Tage hindeutet, lässt auf den Abend des Auferstehungstages (16. Nisan) schließen, da somit Jesu nächste Erscheinung genau eine Woche später (erneut an einem Sonntag) angenommen wäre.62
60
Zur Analyse dieser Episode (Sz. 3 und 4) insbesondere hinsichtlich Referenzformulierungen sei auch auf U. Schnelles Ausführungen verwiesen (vgl. ders., Christologie, 156– 161). 61 Gegen F. Moloney, der in 20,24 „no indication of a change in time or place“ sieht (ders., Gospel, 536). 62 In der jüdischen Zeitzählung zählt nicht der Folgetag, sondern der Tag des Beginnes der gezählten Zeitspanne als erster. Somit entspricht die Angabe ‚acht Tage später‘ dem
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Zur Situation ist zu erwähnen, dass die Jünger (mutmaßlich ‚die Elf‘) seit dem Erreichen des Gartens (18,1), in dem Jesus festgenommen wird, nicht mehr im Kollektiv erwähnt wurden.63 Erst nach der Auferstehung werden die Jünger wieder benannt, ihre Situation ist aber durch den Tod Jesu völlig verändert.64 Die Botschaft von Jesu Auferstehung ist den Jüngern durch Maria Magdalena bekannt (20,18).65 Ob diese Nachricht auch Thomas erreicht und inwiefern die Jünger Maria glauben, bleibt offen. In jedem Fall sind sie (mit Ausnahme von Thomas) abends in einem (aus Furcht vor ‚den Juden‘ verschlossenen) Raum versammelt. Da Thomas’ Fehlen im Nachhinein im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zu ‚den Zwölf‘ genannt wird, sind ‚die Jünger‘ mit dem engsten Kreis um Jesus zu identifizieren. Folglich sind zehn Männer anwesend. Jesus erscheint ihnen, zeigt seine Seite und seine Hände (als Körperteile mit Wundmalen seiner Kreuzigung) und die Jünger freuen sich ( A ). Die Szene endet mit einem doppelten Zuspruch Jesu, unterbrochen durch sein Anhauchen als Geste der Übermittlung des Heiligen Geistes. Danach erfolgt Thomas’ dritte Nennung. Die Szene dient als Eröffnung der Episode, die Thomas zum berühmten Zweifler66 gemacht hat. Indem sie mit seinem Namen als erstes Wort beginnt, wird er sofort als Einzelfigur hervorgehoben. Da der Zeitsprung erst nachträglich in Vers 24b deutlich wird, erscheint diese Stelle parallel zu Joh 11 und 14: Wieder tritt Thomas aus dem Jüngerkollektiv hervor (vgl. Abb. 24). Das nachgestellte ( deutet zwar eine Einschränkung an, doch erst nach zwei weiteren Charakterisierungen des Thomas bietet der Erzähler67 die Auflösung: Die Begegnung mit Jesus ist bereits abgeschlossen und Thomas war nicht anwesend. Die beiden Appositionen sind auffällig. Die erste ordnet als Kollektivzugehörigkeit Thomas der Gruppe der Zwölf zu. Dies war durch Szene 1 und 2 Ausdruck ‚eine Woche später‘ im Deutschen. Vgl. Schnackenburg, Joh III, 394; Schnelle, Evangelium, 331; Wilckens, Johannes, 315. 63 Ausnahmen sind folgende Einzeljünger: Petrus (während der Gefangennahme (18,10) und während des Verhörs Jesu (18,15–18.25–27)), ein anderer unbenannter Jünger (während des Verhörs Jesu (18,15 f.)), der Geliebte Jünger unter dem Kreuz (19,26 f.) und der heimliche Jünger Josef von Arimathäa, welcher allerdings keiner der Zwölf ist (18,38–42). Vgl. zur Analyse der Szene Teil III – Petrus: 2.5. 64 Der Leser hat die Jüngergestalten bislang nur als Nachfolgende Jesu und auf seine Person (ihn als Figur) ausgerichtet kennen gelernt. 65 Simon Petrus und der Geliebte Jünger verstehen das leere Grab nicht als Zeichen für Jesu Auferstehung zu deuten, wenngleich der Glauben des Geliebten Jüngers bezeugt wird (20,8 f.); vgl. zur Szene Teil III – Petrus: 2.7. 66 Vgl. Bennema, Encountering, 287. 67 Dass zu Beginn der Szene der Erzähler und nicht mehr Jesus spricht, wird dadurch deutlich, dass ‚Thomas‘ nicht im Vokativ steht. Dass Jesus auch nicht über Thomas spricht, ist spätestens ab seiner Nennung in der 3. Pers. Sg. am Versende unmissverständlich.
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Teil VI: Thomas
zwar bereits suggeriert, wird hier aber erstmalig explizit. So wird der Effekt verstärkt, dass Thomas als Teil der Jünger der vorausgehenden Szene erscheint. Dass die Kollektivzugehörigkeit überhaupt formuliert wird, erklärt sich im Nachhinein durch den (für den Leser bis dahin nicht deutlichen) Wechsel der Szene. Ferner steigert sie die Wirkung der folgenden Aussage, dass er nicht bei der Versammlung der Jünger dabei war. Da der Ausdruck ‚die Zwölf‘ im Joh nur wenig verwendet wird, sticht er umso mehr hervor. Die einzige bisherige Nennung erfolgte in 6,67–71. In dieser Szene spricht Jesus ihre Erwählung durch ihn an, Simon Petrus bekennt ihn als den Heiligen Gottes und Judas wird als Verräter eingeführt.68 Bezeichnender Weise ist Judas der einzige andere Jünger, der explizit der Gruppe der Zwölf zugehörig erklärt wird und das sogar mit demselben Wortlaut wie Thomas hier, sodass mit 6,71 als Referenzformulierung beide Jünger parallelisiert erscheinen. Verstärkt wird die Parallelisierung mit Judas durch die zweite Apposition. Der bereits aus 11,16 bekannte Beiname 1, # wird erneut (in wörtlicher Übereinstimmung mit 11,16) Thomas zugeordnet. Innerhalb der Spekulation um das Auffinden des Thomaszwillings wird hier durch die vorausgehende Parallelisierung Judas ins Spiel gebracht.69 Darüber hinaus bietet das Figurenattribut keine Informationen, die über die in Szene 1 hinausgehen, zögert jedoch die Auflösung des bereits vorausgesetzten Szenenwechsels und den damit einhergehenden Bruch zwischen Thomas und ‚den Zehn‘ hinaus. Jüngerkollektiv
Thomas
22 H
/
Erzählte Zeit, s. S. 115 DIEGESE: Alles innerhalb der Welt der Erzählung – also das, was zum erzählten Inhalt gehört, s. S. 20 DIEGETISCH: Adjektiv zu Diegese ELLIPSE: Zeitsprung in der Erzählten Zeit, s. S. 115 EMPATHOR: Figur mit hohem Identifikationsgehalt, s. S. 197 EPISODE: Zusammenstellung mehrerer Szenen nach inhaltlichen Gesichtspunkten EREIGNIS: Alles, was sich in einer Erzählung ereignet, Überbegriff für Handlung von Figuren und Geschehnissen in der Erzählten Welt, s. S. 95 ERZÄHLGESCHWINDIGKEIT: Verhältnis von Erzählter Zeit und Erzählzeit, s. S. 116 ERZÄHLTE WELT: Welt, die in einer Erzählung vom Erzähler kreiert wird, s. S. 57 ERZÄHLTE ZEIT: Zeit, die in der Erzählung verstreicht, s. S. 91, 114 f. ERZÄHLZEIT: Dauer des Erzähl-/Leseprozesses, s. S. 91, 114 f. EXTRADIEGETISCH: Alles, was jenseits der erzählten Welt liegt, s. S. 20 FIGUR: Handlungsträger der Erzählung, meist Menschen s. S. 56–64 FIGURENKOLLEKTIV: Figurengruppe; mehrere Figuren, die mit einer Bezeichnung (z. B. Jünger) benannt werden, s. S. 64 f. FIGURENKONFIGURATION: Alle explizit genannten und implizit erschlossenen Figuren, die in einer Szene anwesend sind FIGURENREDE: Klassifikation von Textabschnitten, in denen eine Figur spricht, s. S. 96, 100, 102–105 FIGURENREPERTOIRE: Alle Figuren, die in einer Erzählung auftreten oder (ggf. ausschließlich in Figurenrede) benannt werden FOKUSFIGUR: Figur im jeweiligen Analysefokus, s. S. 89 GESCHEHNIS:
Ereignis ohne aktive Figurenbeteiligung, s. S. 95
HANDLUNG ALS TEXTKLASSIFIKATION: Klassifikation von Textabschnitten, in denen sich etwas ereignet, gegenüber Figurenrede, Kommentierungen und Beschreibungen, s. S. 97, 100
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Anhang
HANDLUNG VON FIGUREN: Ereignis mit aktiver Figurenbeteiligung, s. S. 95 HAUPTHANDLUNG: Unverzichtbarer Inhalt der Erzählung, zur H. des Joh s. S. 93 HORIZONTFIGUR: Figur, die in einer Szene (z. B. als Referenz) benannt wird, aber nicht anwesend ist, s. S. 132 INFIGURIERTE ENTITÄT: Entität, z. B. Figur, die in einer anderen verortet ist, s. S. 126 KOLLEKTIVFIGUR: s. Figurenkollektiv, s. S. 154 KOMMENTIERUNG: Klassifikation von wertenden und erklärenden Textabschnitten gegenüber Figurenrede, Beschreibungen und Handlung, s. S. 96 f., 100 LEERSTELLEN: Unbestimmtheitsstellen in Erzählungen, s. S. 27–29 LESER: zur Definition s. S. 24 f. MAHNBILD: Abschreckungsbeispiel, Antonym zu Vorbild NARRATIV: abgeleitet von dem lat ‚narrare‘ (=erzählen) NARRATIVER TEXT: Erzählung NARRATOLOGIE: Lehre von den Erzählungen und dem Erzählen, s. S. 2 PAUSE: Stillstand der Erzählten Zeit, S. 115 f. PLOT: Haupthandlungsstrang ( Haupthandlung), Ereignisverlauf einer Erzählung PROLEPSE: Vorausblende, s. S. 187 f. RAFFUNG:
Erzählzeit